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German Pages 308 Year 2014
Günter Gödde, Jörg Zirfas (Hg.) Takt und Taktlosigkeit
Ästhetik und Bildung | Hg. von Eckart Liebau und Jörg Zirfas | Band 6
Günter Gödde, Jörg Zirfas (Hg.)
Takt und Taktlosigkeit Über Ordnungen und Unordnungen in Kunst, Kultur und Therapie
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Inhalt
Einleitung Günter Gödde & Jörg Zirfas Die Kreativität des Takts. Einblicke in eine informelle Ordnungsform……….….…............
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Kunst und Kultur Eckhard Roch Takt und Taktlosigkeit in der Musik…….………......................... 33 Leopold Klepacki Aus dem Takt kommen. Ein phänomenologischer Versuch über die anthropologische Bedeutung einer tänzerischen Fehlleistung... 57 Johannes Oberthür Intaktheit. Schiller, das Schöne und die Menschheit des Menschen............ 69 Karin Dannecker Taktlose Kunst……………....………………..………..……........... 95
Ethik und Pädagogik Martin Vöhler Taktlosigkeit in der Antike. Zu den Charakteren von Theophrast….……...………................. 129 Andreas Brenner Der richtige Abstand. Takt trumpft Ethik…………………...…. 147
Jörg Zirfas Pädagogischer Takt. Zehn Thesen……........................................ 165 Bina Elisabeth Mohn Blick und Takt. Präsenz und Absenz von Takt in Schule, Kita und beim Forschen…………….……………….. 189
Psychotherapie Günter Gödde Takt als emotionaler Beziehungsregulator in der Psychotherapie..................................................................... 213 Michael B. Buchholz Takt in der Konversation. Mit Bemerkungen zu Rücksicht und Respekt, Verletzungen und Rhythmus.…................................................... 247 Gabriele Dorrer-Karliova Der musikalische Takt. Eine implizite Struktur im Beziehungsgefüge der Musik. Wirkung und Anwendung in der Musiktherapie.…………..... 277
Autorinnen- und Autorenverzeichnis.……..……………….….. 305
Einleitung
Günter Gödde & Jörg Zirfas
Die Kreativität des Takts Einblicke in eine informelle Ordnungsform
Ein Beginn mit Marcel Proust Am Anfang des 20. Jahrhundert erscheint in einem großen literarischen Werk eine kleine Betrachtung, die einen schönen Einblick in das Taktgefühl des Fin de siècle liefert. Diese Betrachtung entstammt dem zweiten Band von Marcel Prousts fiktivem Lebensroman „A la recherche du temps perdu“ mit dem Titel: „A l’ombre des jeunes filles en fleurs“ (1918). Den Hintergrund seiner Beschreibungen bildet ein Sommeraufenthalt des jugendlichen Marcel in Balbec, einer fiktiven Stadt an der Atlantikküste der Normandie. Hier lernt er eine „kleine Schar“ Mädchen kennen, zu der unter anderem auch ein Mädchen namens Andrée gehört. Von ihr zählt der Icherzähler nun mehrere, „ganz gewöhnliche Äußerungen des Takts“ auf: „Gleichwohl besaß Andrée eine viel größere Einsicht in die Dinge des Herzens und ein feiner ausgebildetes Zartgefühl“; sie konnte nämlich „den Blick, das Wort, die Handlungsweise finden, die möglichst durchdacht Vergnügen machen könnten, eine Überlegung verschweigen, die Schmerz hätte zufügen können, das Opfer (mit der Miene, als sei es keins) einer Stunde des Spiels, einer Nachmittagseinladung, eines Gartenfestes zu bringen, um bei einem Freunde oder einer Freundin zu bleiben, die gerade traurig waren, und ihnen auf diese Weise zu zeigen, dass sie ihre Gesellschaft bloß oberflächlichen Vergnügungen vorzöge“ (Proust 1981: 651).
Zu diesen taktvollen Eigenschaften und Verhaltensweisen kommt bei Andrée hinzu, dass sie dem Ich-Erzähler nie die „unangenehmen“ Reden anderer über ihn, sprich den öffentlichen Klatsch und Tratsch, weitererzählt, und sollte jemand eine solche Geschichte zum besten geben, so äußert sie ihre Ungläubigkeit und liefert eine diesbezüglich harmlose Erklärung. Die Gesamtheit dieser Eigenschaften der Identifikation, der Feinfühligkeit, der Rücksicht-
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EINLEITUNG
nahme, der Vermittlung von Freude und der Schonung anderer machen das aus, was Proust mit „Takt“ bezeichnet, wobei er vor allem auf die Identifikation mit dem anderen und darüber hinaus auf die Schonung des anderen abhebt. Er macht diese beiden Takteigenschaften aus dem Blickwinkel des Protagonisten Marcel noch einmal am Beispiel des Duells deutlich. In diesem Sinne besitzen diejenigen Leute Takt: „die, wenn wir zu einem Duell gehen, uns beglückwünschen und hinzufügen, es sei doch gar nicht nötig gewesen, die Forderungen anzunehmen, um in unseren Augen den Mut noch größer erscheinen zu lassen, den wir bewiesen haben, ohne dazu gezwungen zu sein. Sie sind das Gegenteil der Leute, die unter denselben Umständen sagen: ,Es war sicher sehr ärgerlich für Sie, dass Sie sich schlagen mussten, aber andererseits durften Sie ja eine solche Beleidigung nicht einfach hinnehmen. Sie konnten wirklich nicht anders‘“ (ebd.: 653).
Hier finden wir auf der einen Seite die mitfühlenden, taktvollen Zeitgenossen, die befürchten, dass den Duellierenden ein Leid zugefügt werden könnte, und auf der anderen Seite diejenigen Taktlosen, die dem potenziellen Schmerz und Tod die Etikette einer Gesellschaft der Ehre entgegenhalten. Doch, wie Proust bzw. der Ich-Erzähler vermerkt, hat alles zwei Seiten, so auch der Takt bzw. die Taktlosigkeit: Denn wenn so genannte Freunde vergnüglich oder gleichgültig die Kränkungen anderer wiederholten, und damit „spitze Nadeln und Messer in uns versenkten, als wäre es in Werg“, so zeigten sie, dass sie nicht in der Lage oder willens sind, sich „in uns hineinzuversetzen“ und dass sie unser Wohl und Wehe letztlich nicht berührt. Anderseits kann aber auch die von Andrée ausgeübte taktvolle Kunst, die Kunst des „Herzenstaktes“, „eine starke Dosis von Täuschungsgabe beweisen“ (ebd.: 654). Denn auch ein permanent taktvolles Verhalten kann dann unangenehme Empfindungen zeitigen, wenn es dazu führt, dass uns alle Informationen darüber, wie „über unsere Handlungen gesprochen wird“ oder wie diese auf den Überbringer der Nachrichten gewirkt haben, vorenthalten werden (ebd.). Grundsätzlich sind aber die „Freunde mit Herzenstakt“ zu begrüßen, „wenn diese Freunde tatsächlich nichts Böses denken könnten, und das, was man von uns sagt, sie selbst in dem Maße schmerzt, wie wir darunter leiden würden“ (ebd.).
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GÜNTER GÖDDE & JÖRG ZIRFAS: DIE KREATIVITÄT DES TAKTS
In diesen wenigen Zeilen wird hier die sozialpsychologische Kunst eines Taktes zusammengefasst, wie er in adligen Kreisen, im großindustriellen Bürgertum oder politisch-elitären Kreisen in Frankreichs um die Jahrhundertwende verstanden und praktiziert wurde. Wenn uns heute auch die Frage der Ehre, wie sie im Beispiel des Duells anklingt, im Rahmen des Taktverständnisses vielleicht nicht mehr ganz zeitgemäß anmutet (vgl. Speitkamp 2010: 129ff.), so beschreibt Proust mit den Aspekten der Diskretion, der Schonung oder der Perspektivenübernahme, aber auch mit der Dialektik von Authentizität und Verstellung Momente des Takts, die auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch Bestand haben dürften.
Moderne Gesellschaften Gerade in den letzen Jahren haben die Diskussionen um Fragen des Anstands, der Höflichkeit und des Takts augenfällig zugenommen. Und das scheint nicht zufällig so zu sein, gibt es doch eine ganze Reihe gegenwärtiger Erfahrungen, die eine Besinnung auf den Takt nahe legen. Gehen wir von geläufigen Beschreibungen der aktuellen Situation in unserer Gesellschaft und Kultur aus, so finden wir in den einschlägigen Debatten in Feuilletons sowie in Sozial- und Kulturwissenschaften etwa folgende Skizze: Die moderne Kultur wird beschrieben durch eine Individualisierung und Biographisierung, durch eine räumliche Universalisierung und Globalisierung, durch eine zeitliche Dynamisierung und Beschleunigung, durch eine Pluralität generativer und milieuspezifischer Werte- und Habitusformen, durch einen Wandel von der Wissens- über die Spaß- in die Sinngesellschaft, durch Flexibilitäten und Freisetzungen aller Art (sozialer, politischer, kultureller etc.), aber auch durch die mit der modernen Technik verbundenen Vertaktungen des Lebens durch Maschinen in Arbeit und Freizeit. Sodann wird gerade in inter- und multikulturellen Situationen, in unterschiedlichen Situationen der Zusammenarbeit auf nationaler wie internationaler Ebene, aber auch in banalen Alltagssituationen konstatiert, dass man in einer Gesellschaft zunehmender Fremdheiten lebe. Kurz: Je unübersichtlicher die moderne Kultur gerade auch im alltäglichen zwischenmenschlichen Leben wird, desto eher werden Formen der Toleranz und Anerkennung eingefordert und Politiken sozialer Schonungen reklamiert. Die modernen
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EINLEITUNG
Menschen werden sensibel für Anerkennungsdefizite, Verletzungen und Diskriminierungen. Ohne hier den Takt als das Allheilmittel für moderne Gesellschaften propagieren zu wollen, so lässt sich schon fragen, inwieweit taktvolles Verhalten und Handeln eine Brückenfunktion zwischen Individuen, Gemeinschaften oder auch Kulturen in einer weltgeschichtlichen Situation übernehmen kann, in der ein transkultureller Werte- und Tugendhorizont sowie ein entsprechendes Verhalten und Handeln noch nicht bereitsteht. So scheint der Takt eine Kompensation für die mit der modernen Welt einhergehenden Verlust- und Wandlungserfahrungen von Konventionen und Werten, von moralischen Haltungen und sozialen Anstandsformen darstellen zu können. Das bedeutet, den Takt als moderne Antwort auf die Tendenzen des Individualismus, der Globalisierung, der Erosion sozialer und kultureller Systeme und der Beschleunigung und Chronokratie moderner Gesellschaften zu verstehen. In diesem Sinne hat der Takt, wie sein Gegenspieler, die Taktlosigkeit, seine historischen Stunden. Ungeachtet seiner enormen kulturellen und historischen Variabilität, und seines über die Kulturen- und Epochengrenzen hinweg beobachtbaren hohen Verbreitungsgrades sowie ungeachtet seiner kasuistischen Variabilität und Plastiziät – Dimensionen, die hier auch nicht annähernd rekonstruiert werden können – scheint der Takt sozial immer dann besonders gefordert, wenn Gesellschaften und Kulturen Umbrüche erleben, die nicht mehr rituell aufgefangen werden können. Takt gibt es vor allem dort, wo sich Brüche in den gesellschaftlichen Konventionen bilden und traditionelle Umgangsformen nicht mehr greifen. Die Besinnung auf den Takt impliziert somit das Eingeständnis einer (potenziellen) Krisen-, Schädigungs- und Verletzungssituation, die in je spezifisch kultureller Weise Bedrohungen und Gewalteffekte für die einzelnen Beteiligten heraufbeschwört bzw. heraufbeschwören könnte. In diesem Sinne lässt sich der Takt als eine anthropologische Konstante definieren, die immer dann gefordert ist, wenn die eingespielten sozialen Schonungsmechanismen nicht mehr und die neuen rituellen Anerkennungshandlungen noch nicht greifen. In diesem Zwischenzustand ist die Kreativität des Takts erforderlich, um als ein höchst unscheinbares, dafür aber äußerst wirksames Instrument, Normen
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GÜNTER GÖDDE & JÖRG ZIRFAS: DIE KREATIVITÄT DES TAKTS
und Regulative für die Schonung des anderen (seien es Menschen, Tiere oder Gegenstände) in die Tat umzusetzen. Man kann sich die These, dass der Takt vor allem in historischen Umbruchsituationen seine große Rolle spielt, am Übergang vom Absolutismus zur bürgerlichen Gesellschaft verdeutlichen. Mit dem Zusammenbruch des Absolutismus wird nämlich das bürgerliche Individuum frei von Standes- und Zeremoniedünkeln, findet sich aber in rituellen Formen wieder, die nur noch als Parodie funktionieren. Der Takt ist, historisch gesehen, deshalb erforderlich, weil die überkommenen konventionellen rituellen Formen nicht mehr ausreichend das menschliche Verhalten disziplinieren und gleichzeitig zukünftige Umgangsformen noch (immer) nicht greifen. In der Moderne bedingt der Übergang von der Ständegesellschaft zur bürgerlichen Gesellschaft zugleich die Herausbildung der Individuen. Und hier stellt der Takt den Versuch dar, die individuellen „Fehlleistungen“ mit der diffusen objektiven Etikette in Einklang zu bringen (vgl. Plessner 1924). Das ist nicht immer einfach, denn gelegentlich weiß man nicht, und weiß auch z.B. ein Adolph Freiherr Knigge (1752-1796) in seinem Buch „Über den Umgang mit Menschen“ (1788) nicht, was in den einzelnen Situationen wirklich geboten ist, und oftmals erfährt man von der Existenz einer diesbezüglichen sozialen Regel erst dann, wenn man sie verletzt hat. Doch nimmt die Sensibilität für die Verletzlichkeiten der Individuen zu. So schreibt Knigge betont taktvoll: „Enthülle nie auf unedle Art die Schwächen Deiner Nebenmenschen, um Dich zu erheben! Ziehe nicht ihre Fehler und Verirrungen an das Tageslicht, um auf ihre Unkosten zu schimmern!“ (Knigge 1788: 34). Und er weist zudem darauf hin, dass „die Kunst des Umgangs mit Menschen“ erlernt werden kann: „Der, welchen nicht die Natur schon mit dieser glücklichen Anlage hat geboren werden lassen, erwerbe sich Studium der Menschen, eine gewisse Geschmeidigkeit, Geselligkeit, Nachgiebigkeit, Duldung, zu rechter Zeit Verleugnung, Gewalt über heftige Leidenschaften, Wachsamkeit auf sich selber und Heiterkeit des immer gleich gestimmten Gemüts; und er wird sich jene Kunst zu eigen machen; doch hüte man sich, dieselbe zu verwechseln mit der schändlichen, niedrigen Gefälligkeit des verworfenen Sklaven, der sich von jedem mißbrauchen läßt, sich jedem preisgibt; um eine Mahlzeit zu gewinnen, dem Schurken huldigt, und um eine Bedienung zu erhalten, zum Unrechte schweigt, zum Betruge die Hände bietet und die Dummheit vergöttert!“ (ebd.: 14f.)
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EINLEITUNG
Es erscheint in der Moderne grundsätzlich schwierig, zwischen den Abweichungen des Individuellen und den Normen des Allgemeinen zu vermitteln, denn hier läuft man Gefahr, weder diesen noch jenen Genüge zu tun. Denn der Takt als Kompensation des notwendig Konventionellen verfehlt natürlich das strikt Individuelle, wie das Eingehen auf den ungebärdigen Anspruch des Einzelnen durchaus das hinreichend Soziale tangiert. Hier kann man ein instruktives Beispiel von Theodor W. Adorno einfügen: „Die Frage nach dem Befinden, nicht länger von Erziehung geboten und erwartet, wird zum Ausforschen oder zur Verletzung; das Schweigen über empfindliche Gegenstände zur leeren Gleichgültigkeit, sobald keine Regel mehr angibt, worüber zu reden sei und worüber nicht“ (Adorno 1984: 38). Der Takt dient in der Moderne dazu, Selbstdarstellungen, kommunikative Beziehungen, emotionale Betroffenheiten und individuelle wie kollektive Entwicklungen zu ermöglichen. So lässt sich z.B. unter der Peinlichkeit eine inkorrekte Selbstdarstellung interpretieren, die mittels des Takts aufgehoben werden kann. Der Takt ist eine wunderbare menschliche Erfindung, da er die kleinen und großen Schwächen des Alltags mühelos zu übersehen scheint. In dieser Situation der Unübersichtlichkeit bietet der Takt, so rudimentär er auch sein mag, immer noch ein kleines Geländer über dem Sumpf der Peinlichkeiten. So sollte man sich daran erinnern, dass die Peinlichkeiten überall lauern, als tabuisierte Themen, als desavouierte Ausdrucksformen oder als unter Verbot gestellte Sachverhalte. Vor dem Hintergrund des kommunikativen Axioms, dass man nicht nicht kommunizieren kann, erscheinen kommunikative Situationen daher enorm taktbedürftig wie anfällig für Taktlosigkeiten (vgl. den Beitrag von Michael Buchholz). Immer gilt hier, dass man die falschen Ansprüche zur falschen Zeit äußern und damit sich und die anderen blamieren kann. Den Takt gibt es dabei in verschiedenen Varianten, vom klassischen Überhören: „War da was?“, über die Ablenkung: „Was für ein Wetter heute“, das Herunterspielen: „Das war doch alles nicht so gemeint“, die Uminterpretation: „Das kann man auch so sehen“, die Einordnung in eine Reihe von Zufällen: „Eigentlich ist es ganz anders“ etc. Dabei dienen diese taktvollen Korrekturmaßnahmen der Aufrechterhaltung der sozialen Situation, man bleibt im Gespräch, ermöglicht kommunikative Anschlüsse und emotionale Schieflagen wie Verlegenheit und Betroffenheit werden ausgegli14
GÜNTER GÖDDE & JÖRG ZIRFAS: DIE KREATIVITÄT DES TAKTS
chen. Der Takt ist somit die Handlung statt dessen, die Korrektur des Eigentlichen. Der Takt greift bei Peinlichkeiten ein, wenn sich die soziale Situation aufzulösen droht oder wenn das Individuum Gefahr läuft, sich oder den anderen bloßzustellen (vgl. Goffman 1996). In diesem Sinne lässt sich nicht nur wissenschaftlich die These festhalten, dass die Notwendigkeit des Taktes dort besonders deutlich wird, wo er gebrochen wird: Diesen Sachverhalt kann jeder mit den sog. „Krisenexperimenten“ von Harold Garfinkel (1963) auch im Alltag nachvollziehen. Zur Erinnerung: Garfinkel wollte mit Hilfe der Krisenexperimente herausfinden, welche Strukturierungen und Generationsprinzipien sozialen Ordnungen zugrunde liegen. Dabei ging er davon aus, dass diese Ordnungen interaktiv durch tagtägliche Aktivitäten der Abstimmung mit anderen, in denen jeweils kulturelle Werte und Normen in die Situationen hinein vermittelt werden, hergestellt werden. Ruft man bewusst durch sprachliche Äußerungen (indem man z.B. penetrant darauf beharrt, jemanden nicht zu verstehen) oder Handlungspraktiken (indem man z.B. jemandem die Tür ostentativ vor der Nase zuschlägt) anomische Situationen und Desorganisation im Alltäglichen hervor, so kann man aus den Reaktionen der Beteiligten sozusagen ex negativo erschließen, was diese eigentlich als Verhalten in dieser Situation erwartet haben. In diesem Sinne kann man durch Verfremdungen von Situationen zeigen, wie prekär soziale Interaktionen und Kommunikationen strukturiert sind. Bezogen auf den Takt: Wenn man durch Krisenexperimente den erforderlichen Takt bewusst aus dem sozialen Spiel lässt, wird deutlich, wie nötig er für dieses Spiel als ungeschriebene Regel ist. Doch ist der Takt immer und überall positiv zu verstehen? Gibt es nicht auch Situationen, in denen es peinlich ist, taktvoll zu sein bzw. der Takt es einem nahe legt, sich taktlos zu verhalten? (vgl. den Beitrag von Karin Dannecker). Der Begriff der Peinlichkeit deutet besser noch als der Begriff der Taktlosigkeit an, dass es im Takt um Fragen der Verletzlichkeit, der Integrität und Fragilität individuellen menschlichen Lebens geht. In der Regel schützt der Takt davor, dem anderen zu nahe zu treten, ihn in seiner Integrität, vielleicht sogar in seiner Würde, zu beeinträchtigen und Gefühle der Beschämung zu erzeugen. Doch lassen sich nicht nur unter extremen politischen Bedingungen, sondern auch im Alltag Situationen vorstellen, in denen man ein taktvolles Verhalten seitens 15
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der Unterdrückten und Diskriminierten, aber auch seitens unserer Mitmenschen, wohl nicht nur nicht erwarten kann, sondern selbst als taktlos empfinden würde. Von Menschen, die entführt und gefoltert wurden, von Personen, die ständig von Hunger, Armut und Verfolgung bedroht sind, von Individuen, denen man fundamentale Menschenrechte vorenthält usw., erscheint es ebenso taktlos, ein taktvolles Verhalten gegenüber den für diese Situationen Verantwortlichen einzufordern, wie es auch taktlos sein kann, den Patienten nicht über den medizinischen Befund aufzuklären oder seinem Freund nicht seine wahre Meinung zu sagen. Darüber hinaus stellt sich auch die Frage, ob es Situationen gibt, in denen man zu taktvoll sein kann, oder allgemeiner betrachtet, stellt sich die Frage nach einem Maß des Taktes. Scheint es nicht gelegentlich durchaus peinlich zu sein, jemandem mit „übertriebener“ Diskretion zu begegnen, ihn „mehr“ als anständig zu behandeln und „rückhaltlose“ Zurückhaltung zu üben? Oder besteht die Kreativität des Taktes gerade in seinem jeweils der Situation angemessenen Maß an Einstellungen, Wahrnehmungen und Verhaltensformen? Wird der Takt somit dem anderen immer gerecht? Bildet er für sich selbst seinen eigenen Maßstab der Angemessenheit? Zu fragen ist hier auch nach dem sozialen Gefälle im Takt. Besteht in spezifischen, sozial-asymmetrischen Situationen, wie sie in Arzt-Patienten- oder auch in Erzieher-ZöglingsVerhältnissen vorliegen, eher die Gefahr, Taktlosigkeiten zu begehen oder finden wir hier „nur“ andere Peinlichkeiten? Haben Menschen, die sich gegenüber anderen in privilegierten Positionen der Macht, des Wissens, der rechtlichen Befugnisse usw. befinden, eine größere Verantwortung für ein taktvolles Verhalten? Stehen sie eher in der Gefahr, Unpassendes, Abgeschmacktes und Indiskretes zu äußern? Oder finden wir die Taktlosigkeiten eher am „unteren Ende der sozialen Leiter“, bei den Underdogs, die sich durch Ruppigkeiten, Unhöflichkeiten und Unverschämtheiten aller Art auszeichnen? Ist Takt also eine Frage der sozialen Schicht und der mit ihr einhergehenden Erziehung? Erving Goffman hat die Frage des Taktes vor allem im Kontext seiner Überlegungen zur Rollentheorie vorangetrieben (Goffman 1973). Zu jeder Rollenausübung gehört für ihn ein Fingerspitzengefühl, das die Art und Weise der Darstellung der Rolle innerhalb einer spezifischen Situation reguliert. Takt wird so situiert zwischen den sozialen Rollenanforderungen einerseits und den fakti16
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schen Rollenausübungen andererseits (ebd.: 129). Da sich diese beiden Momente fast nie zur Deckung bringen lassen, ist ein Takt der Abweichung erforderlich, oder anders formuliert, ein Takt, der die Distanzierung von den Verpflichtungen der Rolle durch Rollendistanz ermöglicht. Takt ordnet somit die Beziehungen zwischen der Rolle und dem „wirklichen Ich“ (ebd.: 133), das in sozialen Situationen und Interaktionen immer wieder durchblitzt. Ein Beispiel für diesen Sachverhalt bietet Goffman durch den Verweis auf das widerständige Verhältnis des Patienten zu seinem Psychoanalytiker. Denn der Widerstand des Patienten macht aus Sicht einer Theorie der Rollendistanz deutlich, dass der Patient nicht gewillt ist, relevante Informationen zu liefern oder den Therapeuten als solchen überhaupt funktionieren zu lassen (ebd.: 128f.). Der Patient weigert sich, seine Rolle anzunehmen, was er dem Therapeuten immer wieder taktvoll mitzuteilen versucht. Der Takt lässt sich auch in sein Gegenteil verkehren. Zwar begehen wir im Alltag durchaus Taktlosigkeiten, die wir als für die Situation unstimmig, als taktlos empfinden, ohne dass man hier an die Degenerierung des Takts zur Fassade und zur Ideologie denken muss. Doch kann der Takt durchaus auch zur Oberflächlichkeit, zum reibungslosen Funktionieren verkommen, zur Durchsetzung egoistischer Interessen verwendet werden, sich zur Gewohnheit, zu habitualisierten Denk- und Handlungsschemata verstetigen, als Rigorismus sittlicher Forderungen benutzt werden und als nackte Verfügungsgewalt in der herrschenden Industriegesellschaft auftreten (Adorno 1984: 36). Hier gilt der Takt als Täuschungsmanöver, als Manipulation des Gegenübers oder als Mittel zum Zweck der Durchsetzung von individuellen Interessen in subtiler Form. Deutlich wird hier, dass der Takt zwar in einer historischkulturellen Situation bedeutsam wird, in der eine intersubjektiv verbindliche Handlungspraxis und Etikette im Umbruch begriffen ist, und insofern eigentlich keine intersubjektive Verbindlichkeit reklamieren kann, diese aber doch impliziert. Takt und Taktlosigkeit sind nicht vorab objektiv gegeben, sondern werden in der Situation als solcher von den Beteiligten wahrgenommen; ggf. auch von einem dritten, der wahrnimmt, dass diese die Situation überhaupt nicht als taktlos empfinden. Taktvolles Verhalten ist ein Verhalten des als ob: man unterstellt, dass man selbst und der andere eine gemeinsame Basis des Schonenswerten hätten. Der Takt 17
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als taktvolles Verhalten zielt auf ein Maß des Menschlichen, für das es keine intersubjektive Verlässlichkeit gibt. Und diese maßvolle Basis kann durchaus taktlos durchbrochen werden, wenn sie von anderen Menschen verletzt wird, oder auch, wenn andere Werte wie Wahrheit, Freundschaft etc. dies erfordern. Dabei ist der soziale Takt ein Vermögen des impliziten, des nicht gewussten, nicht von den Subjekten reflektierten, Wissens. Man weiß eben, wie man sich zu benehmen hat, kann diesen modus operandi aber kaum benennen bzw. fängt wohl gelegentlich erst dann an, ihn zu reflektieren, wenn es zu Taktlosigkeiten gekommen ist. Menschen sind wohl eher „Mieter und nicht Eigentümer ihres eigenen Know-how“ (de Certeau 1988: 146). Takt verknüpft unbewusst eine praktische Handlung mit einer ästhetischen Dimension und einer kreativen Schöpfung. Wahrscheinlich würde man einer Situation im Sinne des Taktes auch nicht gerecht, wenn man jedes Mal seine Wahrnehmung und Voraussicht, sein Fingerspitzengefühl und Gespür für bestimmte Gelegenheiten sowie diverse Fertigkeiten und Erfahrungen neu reflexiv abstimmen müsste: Man handelt eben und spürt (wenn man denn dazu habituell geprägt wurde – siehe Proust), ob es taktvoll war oder nicht.
Definitionen, Begriffe, Bedeutungen und Dimensionen Ein Versuch, den Begriff Takt zu definieren, führt über die Etymologie. Das lateinische tactus, auf den der Takt in der Regel zurückgeführt wird, bezeichnet nicht nur die „Berührung“, den „Schlag“, sondern auch die „Wirkung“, den „Einfluss“ sowie den „Gefühlssinn“ und das „Gefühl“ (vgl. Sünkel 1998). Von Voltaire soll der Begriff Takt 1776 erstmals verwendet worden sein. Im „Wörterbuch“ der Brüder Grimm, das 1854 begonnen wurde, wird dann der Takt bei Kant, Goethe, Matthisson und Seume erwähnt. In diesem „Wörterbuch“ wird unter dem Lemma Takt festgehalten: „1) die berührung, der thätige gefühls- und tastsinn: tact, berĪrung. […] 2) darnach das innerliche feine gefühl für das rechte und schickliche, ein feines und richtiges urtheil […]. 3) das nach bestimmten verhältnissen abgemessene zeitmasz einer rhythmischen bewegung“ (Grimm/Grimm 2006, Bd. 21, Sp. 92f.).
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GÜNTER GÖDDE & JÖRG ZIRFAS: DIE KREATIVITÄT DES TAKTS
Im Englischen wird der Takt mit „tact“ oder auch „delicacy“, im Französischen mit „tact“ oder „délicatesse“ übersetzt. Es ist aber durchaus möglich, dass auch griechische Begriffe noch in den Bedeutungsumfang von „Takt“ eingehen, etwa das gr. „ǕƽǏNJǓ“ (taxis), das mit „(An-)Ordnung“, „Stand“, „Stellung“ oder „Schlachtund Marschordnung“ übersetzt werden kann; aber auch „ǕƽǘǞǓ“ (taxus), „schnell“ und „plötzlich“ oder auch „ǕǞǑǕdžNJǎ“ (tuptein), der „Schlag“ oder „Stoß“ könnten hier eine Rolle spielen. Es würde nicht einer gewissen Ironie entbehren, wenn der etymologische Ursprung des „Takts“ im militärischen Umfeld zu finden wäre, als Schlachtordnung oder Marschmusik, die taktvoll ein- und durchgesetzt wurde (vgl. den Beitrag von Eckhard Roch). Mit den seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gewonnenen Bestimmungen des Takts sind allerdings Merkmale verbunden, die auch heute noch den Takt in sozialen Situationen auszeichnen: das Austarieren von (körperlicher) Nähe und Ferne, ein emotionales Urteil bzw. ein evaluatives Gefühl und das richtige Zeitmaß bzw. der richtige Zeitpunkt („timing“) für das Handeln. In der Gegenwart wird der soziale Takt oftmals in Verbindung gebracht mit dem Diskreten, Behutsamen, der Distanzwahrung und – gelegentlich auch – mit dem Höflichen. Taktlosigkeit wird mit einem Zunahetreten, mit Verletzungen und Kränkungen und dementsprechend mit Unhöflichlichkeit identifiziert. Worte wie „tangieren“ (von lat. tangere, in Berührung kommen), „taktil“ (den Tastsinn betreffend) und „Kontakt“ (Zusammenspiel) zeigen an, dass der Takt eine körperlich-leibliche und eine soziale Seite hat, die etwa auch bei der „Taktik“, der Kunst der Ordnung und Aufstellung, eine Rolle spielt. Es sei daher an dieser Stelle angemerkt, dass man die Thematik des Takts wohl nicht zufällig in einem Werk wieder findet, in dem man sie zunächst nicht vermutet, nämlich in Carl von Clausewitz’ „Vom Kriege“ (1832), in dem an vielen Stellen vom „Takt des Urteilens“, den „schnellen und treffenden Entschlüssen“ des Takts oder dem Sichhineinversetzenkönnen in eine Situation als Takt (ebd.: 12, 65ff., 97, 194) die Rede ist. Gerade das Handwerk des Krieges scheint einiges an Takt zu erfordern: „Dieser Takt des Urteils besteht unstreitig mehr oder weniger in einer dunklen Vergleichung aller Größen und Verhältnisse, wodurch die entfernten und unwichtigen schneller beseitigt und die nächsten und wich-
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tigsten schneller herausgefunden werden, als wenn dies auf dem Wege strenger Schlussfolge geschehen sollte“ (ebd.: 298).
Es wäre hier ein durchaus lohnenswertes Unterfangen, die theoretischen Vorläufer des Taktbegriffs zu rekonstruieren, etwa Aristoteles mit seiner Mesotes-Lehre (Maß, Mitte) und seinem Begriff der Billigkeit, Cicero mit seinem Begriff des decorums (Schicklichkeit), Locke mit dem Konzept des good breeding (Lebensart), Knigge mit dem Zartgefühl, Schiller mit seinen Begriffen von Anmut und Grazie und Schleiermacher mit seinem Konzept des geselligen Betragens (Ansätze dazu finden sich unter dem Begriff Anstand bei Göttert 2009). Mit Theophrast wird in diesem Band der zentrale antike Vertreter einer naturwissenschaftlichen Charakterologie des Takts vorgestellt (vgl. den Beitrag von Martin Vöhler). Nimmt man alle oben genannten etymologischen Hinweise zum Wort Takt zusammen, so scheint dieser über die Vorstellung einer (gesellschaftlichen) Ordnung, vielleicht sogar über das Militär, aber wohl vor allem über die Musik in die soziale Sphäre gekommen zu sein. Und auch heute noch übertragen wir in einem metaphorischen Sinne musikalische Bedeutungsgehalte in den körperlichen und sozialen Bereich, wenn wir vom „Takt halten“ bzw. vom „aus dem Takt kommen“, „den andern aus dem Takt bringen“ sprechen; wenn wir „den Ton treffen“ oder „im Rhythmus bleiben“, oder auch wenn wir „mitschwingen“ oder uns „einstimmen“. Diese Merkmale schlagen sich auch in Redewendungen und Sprichwörtern nieder wie: „im Takte (intakt) sein“, in (der) Ordnung (gesund) sein, ein gleichmäßig-geordnetes Leben führen; bzw. „nicht taktfest sein“, d.h. kränklich, auch: unzuverlässig sein. Wir reden vom „den Ton oder Takt angeben“, alles bestimmen, einen „Takt dreingeben“, d.h. sich einmischen (wie wenn bei einer mehrstimmigen Musik einer ab und zu auch einen Takt mitbläst), nach „Takt und Noten“, d.h. gründlich und tüchtig sein. Und schließlich kennen wir auch noch das Wort von „jemanden aus dem Takt bringen“, ihn verwirren oder aus der Fassung bringen bzw. „sich nicht aus dem Takt bringen lassen“, d.h. größte Ruhe und Sicherheit auch bei unvermuteten Zwischenfällen bewahren; „keinen Takt im Leibe haben“, „den Takt verletzen“ oder „gegen den Takt verstoßen“ – Redewendungen, die das Verhalten kritisch in den Blick nehmen.
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GÜNTER GÖDDE & JÖRG ZIRFAS: DIE KREATIVITÄT DES TAKTS
Allerdings hat der Takt in der Übertragung von der musikalischen in die soziale Sphäre wohl mindestens vier Bedeutungsveränderungen erfahren: x Der Takt gilt in musikalischen Kontexten zunächst als laut geschlagene ordnende Einheit, die ein (musikalisches) Zusammenspiel ermöglichen soll. Im 18. Jahrhundert wird das lärmende Taktieren des Dirigenten durch das lautlose Taktieren abgelöst, das sich durch Unauffälligkeit, Zurückhaltung und Feingefühl auszeichnet. x In der zweiten Verschiebung wird der Takt aus dem musikalischen in den sozialen Kontext verlegt. Die Analogisierung des ästhetischen mit dem sozialen Takt scheint Ipfling (1973: 379) allerdings bedenklich, weil der musikalische einer ästhetischen, der soziale Takt einer moralischen Ordnung angehören soll. x Generell wird auch heute noch in einem in den sozialen Raum übertragenen Sinne der Takt nicht in Verbindung mit dem Schlagen, sondern mit der Zurückhaltung und dem Feingefühl gegenüber dem anderen und auch mit der Schonung des anderen gebracht. Diese beiden Momente werden etwa von Muth (1967: 15f., 20) mit dem körperlichen Nichtberühren in Verbindung gebracht: „Jenes Feingefühl, das den Taktvollen auszeichnet, ist ein Gefühl für das Du, für den Mitmenschen, für die Eigenart und das Eigenrecht des andern Menschen, ist ein Respekt vor der letzten Unnahbarkeit des anderen. […] Und die Zurückhaltung, die der taktvolle Mensch im Umgang mit dem anderen Menschen übt, ist, so paradox das klingen mag, von Übereinstimmung umgriffen, denn der Taktvolle hält sich um des anderen willen zurück.“ Diese Debatte wird vor allem im pädagogischen Takt aufgegriffen (vgl. den Beitrag von Jörg Zirfas). x Und schließlich: Neben der Entwicklung von der Musikalität zur Sozialität, vom lauten zum leisen Takt und vom Schlagen zur Zurückhaltung ist schließlich auch noch die Transformation von einem Takt der Ordnung zu einem unordentlichen Takt bemerkenswert. Gab ehemals der Takt die (musikalische) Ordnung an, so tritt er in der Neuzeit in Kraft, wenn die Ordnung außer Kraft gesetzt erscheint. In diesem Sinne ist der Takt nicht zu verwechseln mit routinierter Galanterie oder Höflichkeit (vgl. Felderer/Macho 2002; Zingerle 2010). 21
EINLEITUNG
Da der Takt oftmals mit der Höflichkeit identifiziert und insofern verwechselt wird, soll hier kurz auf die Differenz zwischen Takt und Höflichkeit eingegangen werden: Während der Takt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, d.h. mit der Aufklärung sozial sehr bedeutsam wurde, entwickelte sich die Höflichkeit als „Höfischkeit“ im spätmittelalterlichen Übergang zur Neuzeit; die Höfe können als die Orte im Prozess der Zivilisation gelten, wo die Rohheit und Gewalttätigkeit des Feudaladels zur höfischen Courtoisie des Hofadels gebändigt wurde (Elias 1985). Sodann kann ein wichtiger Unterschied zwischen dem Takt und der Höflichkeit in der unterschiedlichen Relevanz von Sitten und Gebräuchen gesehen werden: Während die Höflichkeit sehr stark an konventionellen Ritualen und der sozialen Etikette orientiert ist, bleibt der Takt als interindividuelles Geschehen wesentlich weniger von den herrschenden Lebensformen abhängig und hat somit einen individuell-kontingenteren Charakter. Damit verbunden ist auch ein veränderter Zeitbezug: In der Höflichkeit spielt die Tradition und damit die Vergangenheit, im Takt der Augenblick und damit die Gegenwart eine wichtige Rolle. Und schließlich wird in der Höflichkeit ein deutlicher Bezug zu einem (zwanghaft) vorgegebenen Verhalten offensichtlich; im Takt herrschen größere Räume flexibleren Verhaltens; in ihm geht es um die informellen Ordnungen des Richtigen und Guten. Zur Gemeinsamkeit: Sowohl der Takt als auch die Höflichkeit kultivieren eine Haltung und Praxis der Differenz und der Differenzierung. Geht man wiederum von einer phänomenologischen oder ethnographischen Betrachtung von Situationen aus, so erscheint die hier sehr trennscharf vorgenommene Differenzierung lediglich als analytisches Instrumentarium (vgl. den Beitrag von Bina Elisabeth Mohn): Dem Takt verwandte Begriffe wie Respekt, Toleranz, Anstand, Diskretion, Teilnahme, Freundlichkeit etc. haben ihre begrifflichen „Familienähnlichkeiten“ (Wittgenstein) mit dem Takt und sie gehen in realen Situationen oftmals eine Verbindung mit ihm ein (vgl. Philipps/Taylor 2010; Suzuki 2010). In den obigen historischen und etymologischen Bemerkungen wurde schon deutlich, dass man mit dem Takt eine Fülle von Dimensionen in Verbindung bringen kann, die hier in summarischer Weise und ohne Anspruch auf Vollständigkeit versammelt werden sollen:
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So werden mit der Frage nach dem Takt soziale Aspekte wie (erwartbare, geschlechtlich-typisierte) Interaktionsformen, Rollenverhalten und institutionelle Rahmungen thematisiert. Sodann taucht mit ihm natürlich die Differenz vom schönen Schein öffentlicher Umgangsformen und authentischen Gefühlen und Haltungen der Individuen auf (vgl. den Beitrag von Leopold Klepacki). Ein Sonderfall stellt die Taktik dar, ein Verhalten, dass Geschicklichkeit mit Intentionalität verbindet. Allerdings ist der Takt nie nur der mimetischen Imitation einer festgelegten Choreographie geschuldet, sondern auch einer individuellen Ausgestaltung verpflichtet, die je nach Situation und Gegenüber je spezifische Formen und Prozesse impliziert. Es können moralische Aspekte eines gesollten, gewollten, verantworteten oder berechnenden Verhaltens oder einer motivationalen Struktur in den Blick genommen und in Bezug auf deontologische, strebens- oder verantwortungsbezogene wie utilitaristische Ethiken hergestellt werden (vgl. den Beitrag von Andreas Brenner). Mit dem Takt kommen ästhetische bzw. kulturell-symbolische Aspekte ins Spiel, insofern mit ihm immer Fragen nach dem Maß, der Angemessenheit oder auch dem Stil eines bestimmten Verhaltens, einer Interaktion oder einer Atmosphäre einhergehen (vgl. den Beitrag von Johannes Oberthür). In diesem Sinne haben diverse Künste den Takt in ihr Repertoire integriert: in der Musik als Aufteilung des Ablaufs eines Tonstückes in gleiche Zeitabschnitte, in der Dichtkunst als Gliederungseinheit des Verses in der akzentuierenden Metrik, im Tanz als Form des Tempos und des Rhythmus’ von Bewegungen (vgl. die Beiträge von Eckhard Roch und Leopold Klepacki). Im anthropologischen Blickwinkel kann der Takt als Frage der Wahrnehmung, des Urteils, des Gefühls oder der Praxis betrachtet werden, die auf die Schonung des anderen und seiner selbst zielt. Unter zeitlichen und räumlichen Gesichtspunkten erscheint der Takt als eine Frage des Tempos, des Zeitpunktes, der Dauer oder auch des Rhythmus’ einer Interaktion oder auch als, durch Gesten und Rituale abgesicherte, leibliche, symbolische, performative etc. räumliche Gestaltung.
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EINLEITUNG
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Unter technischen Aspekten bezeichnet der Takt den regelmäßigen Schlag, die regelmäßig abgeschlossene Bewegung (einer Maschine oder eines Menschen) oder auch die zeitliche Strukturierung der Arbeit. Aber auch Fahrpläne und Intervalle der Verbindungsdauer in der Telekommunikation werden getaktet. Und schließlich lässt sich der Takt nicht nur als Form, sondern als ein Medium therapeutischer und pädagogischer Arbeit verstehen.
Psychoanalyse und Therapeutik Auffällig ist, dass der Takt in der Therapeutik und insbesondere in der Geschichte der Psychoanalyse – im Unterschied zur Pädagogik – nur wenig thematisiert wurde (vgl. Gattig 1996). Man kann sich allerdings fragen, ob der behandlungstechnische Ausdruck der richtigen oder passenden Intervention als Ersatzbegriff für Takt verstanden werden kann. Sigmund Freud beschränkte sich anfänglich auf den Hinweis, dass Analytiker vom Timing her verfrühte und daher vom Patienten als taktlos erlebte Deutungen vermeiden sollten. Seine Ausrichtung der Psychoanalyse an den Kriterien von Wissenschaftlichkeit hat sicherlich dazu beigetragen, den eher pädagogischen und intuitiven Begriff des Takts aus der strengen „Behandlungstechnik“ auszuklammern. Demgegenüber nahm sein expliziter Hinweis auf die psychoanalytische „Deutungskunst“, die nicht streng in Regeln zu fassen sei und daher „dem Takt und der Geschicklichkeit des Arztes einen großen Spielraum“ lasse, eher eine Ausnahmestellung ein (Freud 1923: 215). Bemerkenswert ist, dass der Begriff des Takts in den 1920er Jahren nur im Kontext einer Debatte über die Lockerung der psychoanalytischen Behandlung zwischen Freud und Sándor Ferenczi auftauchte, um dann wieder in der Versenkung zu verschwinden. Ferenczi war lange Zeit der Einzige auf weiter Flur, der den hohen Stellenwert des therapeutischen Takts erkannte: „Ich kam zur Überzeugung, daß es vor allem eine Frage des psychologischen Taktes ist, wann und wie man einem Analysierten etwas mitzuteilen, wann man das Material, das einem geliefert wird, für zureichend erklären darf, um aus ihm eine Konsequenz zu ziehen; in welche Form
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die Mitteilung gekleidet werden muss; wie man auf eine unerwartete oder verblüffende Reaktion des Patienten reagieren darf; wann man schweigen und weitere Assoziationen abwarten soll; wann das Schweigen ein unnützes Quälen des Patienten ist usw. Sie sehen, mit dem Worte ‚Takt’ gelang es mir nur, die Unbestimmtheit in eine einfache und ansprechende Formel zu bringen“ (Ferenczi 1928: 77).
Demnach ist der Frage, welche Rolle der Takt als emotionaler Beziehungsregulator in therapeutischen Interaktionen spielt, einige Bedeutung beizumessen. In der Eröffnungsphase, in heiklen Übertragungsphasen und später, wenn es um ein tieferes Einlassen und Anvertrauen des Patienten geht, kommt es in besonderem Maße auf eine taktvolle Handhabung des Gesprächs seitens des Therapeuten an, um dem Patienten die für Entwicklungs- und Heilungsprozesse notwendige Sicherheit und Anerkennung zu ermöglichen. Daher kann man dem Takt eine geradezu programmatische Bedeutung für die Regulierung der therapeutischen Beziehung zuerkennen (vgl. den Beitrag von Günter Gödde). Die qualitative Therapieforschung hat auf Widersprüche zwischen Theorie und Praxis aufmerksam gemacht. In der Konzeptualisierung von therapeutischen, pädagogischen oder anderen Formen von intervenierenden Praktiken wird vieles selektiv wahrgenommen, beschönigt, vereinfacht, entstellt etc. „Konversationsanalysen“ auf der Basis von Transkripten oder Videos geben hingegen überraschende Einblicke in die Interaktionen zwischen Therapeut und Patient, wie sie wirklich im Detail verlaufen sind, wobei es sich hier nicht einfach um Tatsachen, sondern unumgänglich um Selektionen, Konstruktionen und Interpretationen handelt (vgl. den Beitrag von Michael Buchholz). Es erscheint unbedingt nötig, dass Therapeuten sich an der Empirie orientieren, ihr tägliches Handeln genau betrachten und sich nicht mit klischeehaften Wahrnehmungen zufrieden geben, zumal sie in der Öffentlichkeit unter erheblichem Legitimationsdruck stehen. Von hohem Interesse ist es auch zu erforschen, wie man in den Kunst- und Musiktherapien mit dem sozialen, künstlerischen und musikalischen Takt umgeht, auf welche Interventionen hierbei zurückgegriffen wird und wie man sich den Heilungsvorgang in diesen Therapien vorstellen kann (vgl. den Beitrag von Gabriele Dorrer-Karliova).
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EINLEITUNG
Je mehr es in der Psychotherapie um Übereinstimmungen und Bestätigungen geht, desto leichter kann der Therapeut den für das Zusammenspiel mit dem Patienten nötigen Takt aufbringen und mit dessen Gefühlen mitschwingen. Je mehr hingegen „Widerstände“ und Differenzen spürbar sind und Korrekturen angebracht erscheinen, desto eher besteht die Gefahr, den angestrebten Takt zu verfehlen, so dass Misstöne und Dissonanzen ins Spiel kommen. In der Psychotherapie lassen sich bei bestimmten Charakteren typische Formen von Taktlosigkeit beobachten, z.B. bei den Borderline-Patienten, dass sie dem Therapeuten ins Wort fallen, um ihm dann kritisch entgegen zu halten: „Sie lassen mich ja nicht ausreden!“ Narzissten kreisen so sehr um sich selbst, dass sie den Therapeuten zum bloßen Zuhörer „degradieren“. „Emotional unsichere“ Charaktere haben starke Bindungswünsche, verhalten sich aber aufgrund ihrer Bindungsängste und ihrer wenig entwickelten Beziehungskompetenzen wenig rücksichtsvoll, z.B. indem sie chronisch unpünktlich sind, und „schneiden sich damit ins eigene Fleisch“. Solche Patienten müssen taktvoll mit ihren Taktlosigkeiten konfrontiert werden. Dabei ist stets zu bedenken, dass es sich bei Taktlosigkeiten immer auch um ein intersubjektives Geschehen handelt, denn es kommt nicht nur auf den Angriff, sondern auch auf die Reaktion an, ob ich als Angegriffener mich mit Sprache, Humor, Schlagfertigkeit o.ä. zur Wehr setzen kann oder in die Position des Opfers, des Beschämten gerate. Taktvolles Sprechen und Benehmen impliziert nicht nur eine Aufgabe der Einfühlung in den anderen, sondern auch die Auseinandersetzung mit ethischen Maßstäben und Normen (vgl. den Beitrag von Andreas Brenner). Diese Auseinandersetzung hat mit der Polarität von Anpassung versus Emanzipation bzw. mit der Polarität von konventioneller versus postkonventioneller Moral zu tun. Im Rahmen einer kleinen „Dialektik des Takts“ schreibt Theodor W. Adorno: „Voraussetzung des Takts ist die in sich gebrochene und doch noch gegenwärtige Konvention“. Takt bedeute nicht einfach „die Unterordnung unter die zeremonielle Konvention“, sondern „verlange die eigentlich unmögliche Versöhnung zwischen dem unbestätigten Anspruch der Konvention und dem ungebärdigen des Individuums“. Takt sei „eine Differenzbestimmung“, die „in wissenden Abweichungen“ bestehe (Adorno 1984: 37f.). 26
GÜNTER GÖDDE & JÖRG ZIRFAS: DIE KREATIVITÄT DES TAKTS
Überblick In diesem Sinne ist der vorliegende Band den reflektierten Abweichungen in Kunst und Kultur, in sozio-moralischen Sachverhalten und in der Theorie und Praxis von Pädagogik und Psychotherapie gewidmet. Er behandelt daher drei übergreifende Perspektiven: x Im ersten Bereich von Kunst und Kultur finden sich Beiträge zu Musik, Tanz, Literatur und Kunst, die an der Vielfalt der Phänomene und insbesondere an ästhetischen und kulturwissenschaftlichen Fragestellungen orientiert sind. x Im zweiten Bereich der Ethik und Pädagogik kommen philosophische, pädagogische und ethnographische Konzeptionen zum Tragen; sie dienen dazu, die Komplexität des Themas Takt sozio-moralisch und pädagogisch zu erschließen und transparent zu machen. x Im dritten Bereich, der der Psychotherapie gewidmet ist, geht es dann allgemein um das Theorie-Praxis-Verhältnis und im Besonderen um die Erfahrungen und Erkenntnisse der psychotherapeutischen Profession. Es gehört nicht zuletzt zu den taktvollen Selbstverständlichkeiten daran zu erinnern, wie diese Einleitung entstanden ist. Sie verdankt sich im Wesentlichen den Gesprächen der Diskussionsrunde „Psychoanalyse und Lebenskunst“, die sich seit Herbst 2008 in regelmäßigen Abständen den Fragen des Taktes aus psychoanalytischen und psychotherapeutischen sowie geistes- und kulturwissenschaftlichen Perspektiven angenommen hat. Zu diesem Kreis zählen: Michael B. Buchholz, Karin Dannecker, Günter Gödde, Wolfgang Maaz, Bina Elisabeth Mohn, Petra von Morstein, Johannes Oberthür, Martin Vöhler, Christof Windgätter und Jörg Zirfas. Aus rückblickender Erfahrung erscheint nun der Takt nicht nur als ein Thema, zu dem jeder der Beteiligten aus seiner wissenschaftlichen Disziplin heraus „etwas zu sagen hatte“, oder als ein Begriff, mit dessen Hilfe man ein gemeinsames Interesse gut kommunizieren konnte, sondern auch als ein Kommunikationsmedium, das diesen Kreis, der sich zu diesem Thema erst gefunden hatte, sehr behutsam integrierte: Denn im Gespräch über den Takt muss man taktvoll miteinander umgehen. Wir möchten uns bei Anne Örtel für ihre sehr zuverlässige und sorgfältige Redaktion der Texte herzlich bedanken.
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EINLEITUNG
Literatur Adorno, Theodor W. (1984): Minima Moralia. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Certeau, Michel de (1988): Die Kunst des Handelns. Berlin: Merve. Clausewitz, Carl von (1832): Vom Kriege. Stuttgart: Reclam 1995. Elias, Norbert (1939): Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2 Bände. 10. Aufl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985. Felderer, Brigitte/Macho, Thomas (Hg.) (2002): Höflichkeit. Aktualität und Genese von Umgangsformen. München: Fink. Ferenczi, Sándor (1928): „Die Elastizität der psychoanalytischen Technik“. In: Ders.: Bausteine zur Psychoanalyse, III. Band. 3. Aufl. Bern: Huber 1984, S. 380-398. Freud, Sigmund (1923): „,Psychoanalyse‘ und ,Libidotheorie‘.“ In: Ders.: Gesammelte Werke XIII. Frankfurt a.M.: Fischer, S. 211233. Garfinkel, Harold (1963): „A conception of, and experiments with ,trust‘ as a condition of stable concerted actions“. In. Harvey, O. J. (Ed.): Motivation and social interaction. New York: Free Press, S. 187-238. Gattig, Ekkehard (1996): „Zur Psychoanalyse des Taktgefühls. Ein Beitrag zur Metapsychologie der psychoanalytischen Behandlungstechnik“. In: Henseler, Heinz (Hg.): „… da hat mich die Psychoanalyse verschluckt“. In memoriam Wolfgang Loch. Tübingen: Attempto, S. 74–91. Göttert, Karl-Heinz (2009): Zeiten und Sitten. Eine Geschichte des Anstands. Stuttgart: Reclam. Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm (2006): Deutsches Wörterbuch. Der digitale Grimm. 5. Aufl. Frankfurt a.M.: Zweitausendeins. Goffman, Erving (1973): Interakton: Spaß am Spiel. Rollendistanz. München: Piper. Goffman, Erving (1996): Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. 4. Aufl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Ipfling, Heinz-Jürgen (1966): „Über den Takt im pädagogischen Bezug“. In: Kluge, Norbert (Hg.): Das pädagogische Verhältnis. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1979, S. 378-394. Knigge, Adolph Freiherr (1788): Vom Umgang mit Menschen. Stuttgart: Reclam 1991.
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GÜNTER GÖDDE & JÖRG ZIRFAS: DIE KREATIVITÄT DES TAKTS
Muth, Jacob (1967): Pädagogischer Takt. 2. Aufl. Heidelberg: Quelle & Meyer. Philipps, Adam/Taylor, Barbara (2010): On Kindness. London: Penguin Books. Plessner, Helmuth (1924): „Die Logik der Diplomatie. Die Hygiene des Taktes“. In: Ders.: Grenzen der Gemeinschaft. 2. Aufl. Bonn: Bouvier 1972, S. 87-102. Proust, Marcel (1918): Im Schatten junger Mädchenblüte. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Zweiter Teil. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981. Speitkamp, Winfried (2010): Ohrfeige, Duell und Ehrenmord. Eine Geschichte der Ehre. Stuttgart: Reclam Sünkel, Wolfgang (1998): Artikel „Takt“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter u.a. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Bd. 10, S. 882–883. Suzuki, Shoko (2010): Takt in Modern Education. Münster u.a.: Waxmann. Zingerle, Arnold (2010): „Höflichkeit als Wertbegriff einer Kultur der Differenz“. Cappai, Gabriele/Shimada, Shingo/Straub, Jürgen (Hg.): Interpretative Sozialforschung und Kulturanalyse. Hermeneutik und die komparative Analyse kulturellen Handelns. Bielefeld: transcript, S. 177-199.
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Kunst und Kultur
Eckhard Roch
Takt und Taktlosigkeit in der Musik „Musica est exercitium arithmeticae occultum nescientis se numerare animi.“ Friedrich Wilhelm Leibniz 1
Quid sit musica? Was ist Musik? Das ist eine Frage, die zwar zu allen Zeiten gestellt wurde, auf die es vom heutigen Standpunkt aus aber keine ontologische, sondern allenfalls eine historische Antwort geben kann. Der Musikbegriff ist ein historischer und als solcher einem grundlegenden Wandel unterzogen. Dennoch, gerade der Begriff des Wandels setzt, gleichsam als Hintergrund, zugleich auch eine gewisse Identität voraus. Der Blick auf die Geschichte des Musikbegriffes zeigt, dass es bei aller sozialhistorisch bedingten Veränderung auch bestimmte, zwar nicht ontologische, aber systematisch-empirische Konstanten gibt. Gerade der Historiker wird mit der überraschenden Erfahrung konfrontiert, dass längst verloren geglaubte Inhalte und Bedeutungen plötzlich wieder auftauchen und eine Perspektive eröffnen, die sonst gar nicht denkbar gewesen wäre. Der Musikbegriff bezeichnet nämlich nicht einen fest umrissenen Gegenstand, sondern existiert eher in Form eines semantischen Feldes, dessen Elemente zu verschiedenen Zeiten in bestimmter Gewichtung hervortreten, ohne dass die anderen deshalb ein für allemal verschwinden. Vielmehr schwingen in diesem Begriff alle diese historisch erworbenen Bedeutungen des semantischen Feldes latent immer noch mit. Einer dieser in der Musik zwar schon immer mitschwingenden, als Terminus jedoch erst relativ spät auftauchenden Begriffe ist auch der Begriff des „Taktes“. Als „metrisches Ordnungsprinzip“ und musikalisches Zeitmaß gehört er zunächst dem Bereich des Rhythmus an, ist also ein notwendiger Bestandteil der Musik. Der Gesang (me/loj) sei aus dreierlei zusammengesetzt, nämlich den Worten (lo/goj), den Tönen (a(rmoni/a) und dem Rhythmus (ruqmo/j), definiert bereits Platon in seiner Politeia (398d). Natür1
Brief an Goldbach vom 17.4.1712.
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KUNST UND KULTUR
lich ist in dieser Musikdefinition auch der musikalische Parameter des „Taktes“ latent enthalten. Seiner ursprünglichen Bedeutung nach geht der Begriff „Takt“ – wie die meisten der musikalischen Termini – auf einen griechischen Ausdruck zurück, den Begriff der ta/cij. Taxis, abgeleitet vom Verbum ta/ssw 2 , bedeutet so viel wie die Ordnung, Anordnung, Einrichtung, aber auch die Stellung, den Platz, den Rang oder Posten, im Besonderen dann auch die militärische Aufstellung, das geordnete Heer, die Schar. Der Gegenbegriff, die Unordnung, ist die a)taci/a. Taxis hatte in antiker Zeit also zunächst einen ganz praktischen Bezug im Sinne von „Schlachtordnung“ oder Hausordnung, konnte aber auch in abstraktem Sinn so viel wie „der Zeit, der Ordnung nach“ meinen, wodurch sich der Begriff auch auf musikalische Verhältnisse anwenden ließ (Benseler 1911: 896). In diesem allgemeinen Ordnungsbegriff ist der eigentliche, musikalische Sinn des Begriffes „Takt“ zu suchen. Takt zählt neben Harmonie und Ton somit zu jenen scheinbar urmusikalischen Wörtern, welche bei genauerem Hinsehen jedoch primär recht handfesten Dingen des Lebens entstammen, aufgrund ihrer geringen Spezifik im Verlaufe ihrer Entwicklung jedoch zu einer überaus vielseitigen Verwendung prädestiniert erscheinen. Aber erst im 16. Jahrhundert bildet sich der auf das lateinische tactus (Berührung; vom Verbum tangere: berühren) zurückgehende Begriff des „Taktes“ im modernen Sinne heraus. An die Bedeutung von tangere schließt sich über das französische tact dann im 18. Jahrhundert die Bedeutung des „Taktes“ im Sinne von Anstandsgefühl an. Die etymologische Verwandtschaft von tactus und tact darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich beim musikalischen Zeitmaß und dem „Taktgefühl“ eigentlich um zwei völlig verschiedene Dinge handelt. „Ordnung“ (ta/cij) und „Gefühl“ (tactus) sind eher konträre Begriffe. Das Gefühl hat keine Ordnung, es ist vielmehr spontan, ohne Regel und völlig frei. Andererseits bedeutet Taktgefühl so viel wie die Fähigkeit, sich in bestimmten Situationen „angemessen“ zu verhalten, hat also sehr wohl etwas mit Maß und Ordnung zu tun, nicht aber mit dem musikalischen Zeitmaß im engeren Sinne. Zugespitzt formuliert ist die Ableitung des Begriffes Takt im musikalischen Sinn vom la2
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ta/ssw: stellen, aufstellen, einen Platz anweisen, einschätzen, in Reih’ und Glied stellen, in Schlachtordnung stellen.
ECKHARD ROCH: TAKT UND TAKTLOSIGKEIT IN DER MUSIK
teinischen tactus im Grunde eine falsche oder doch zumindest irreführende Etymologie, die erst durch den Rückgriff auf den ursprünglicheren Begriff der ta/cij vervollständigt wird. Zum musikalischen Takt zählen in frühester Zeit alle Phänomene, die mit einer Zeitordnung zu tun haben, ganz gleich, ob man sie ausdrücklich als Taxis bezeichnet oder nicht. Das betrifft zunächst und vor allem den Tanz. Der Tanz ist eine musikalische Gattung, welche den Takt nicht nur voraussetzt, sondern ihn überhaupt erst erzeugt. So werden bei dem Fest, welches die Phaiaken zu Ehren des Odysseus in Homers Odyssee veranstalten, unter anderem auch verschiedene Tänze aufgeführt. Zuerst ein Reigentanz, bei dem die Tänzer den Sänger Demodokos umringen und zu dessen Gesang den Rhythmus mit den Füßen schlagen (plh/ssw) (Odyssee: 8,264). Daraufhin tanzen (o)rxh/sasqai) Halios und Laodamas einen Paartanz, während die übrigen Jungen (den Takt) dazu klatschen und stampfen (ebd.: 8,730f.). Auch Pindars Gesänge wurden nicht nur vorgetragen, sondern gleichzeitig durch Chorbewegung dargestellt (Georgiades 1958: 37). Der Kitharaspieler stützte sich mit dem linken Fuß auf die Erde, während der rechte Fuß den Rhythmus angab, indem er mit den Schuhsohlen den Erdboden schlug (Philostratos jun. Imagines: 871.10871.16). Der Rhythmus wird daher auch in der Theorie durch den Fuß (pou=j) bezeichnet, welcher aus mindestens zwei Zeiten, nämlich Arsis (a)/nw) und Thesis (ka/tw) besteht. Diese Praxis, sich den Takt selbst anzugeben oder durch die Zuschauer „schlagen“ zu lassen, ließ sich auf musikalische aber auch auf nicht-musikalische Zusammenhänge übertragen. Appollonios von Rhodos vergleicht den Ruderschlag der „Argo“ mit dem rhythmischen Fußstampfen der Tänzer beim Chorreigen: „Unter [den Klängen] der Leier des Orpheus schlagen die Ruderer mit den Rudern die weite Fläche des Meeres“ (Apollonios von Rhodos zit.n. Fraenkel 1970: 1,540). Bekannt ist auch eine kleine Pfeife, der ni/glaroj, mit welcher der Takt für die Ruderer der Galeeren angegeben wurde. Da zum Tanz in der Regel auch gesungen wurde, ergab sich aus den Bewegungsabläufen notwendig auch eine entsprechende Ordnung der Sprache, wobei die Thesis quantitierend als „Länge“, die Arsis als „Kürze“ gedeutet wurde. Die Notwendigkeit, Bewegungsabläufe durch eine feste Ordnung zu regulieren, beschreibt Platon in den Nomoi so: Alles was jung ist, sei vermöge seiner feurigen Natur nicht im Stande sich ruhig zu verhalten, 35
KUNST UND KULTUR
weder mit dem Körper noch mit der Stimme, sondern singe und springe stets regellos (a)ta/ktwj). Dazu müsse aber nun das „Gefühl für die richtige Ordnung“ (ta/cewj d'ai)/sqhsin) der Bewegungen treten, und dieses sei allein der menschlichen Natur zuteil geworden. Die Ordnung in den körperlichen Bewegungen (th=j kinh/sewj ta/cei) nenne man rhythmos, die der Verbindung des Hohen und Tiefen in der Stimme Harmonie und die Vereinigung von beiden Chorreigen (Platon Nomoi: 665a ). Bei Platon ist ta/cij also ein übergeordneter Begriff, welcher alle Bestandteile des Melos gleichermaßen betrifft, und bedeutsamerweise bringt er den Sinn für die richtige Ordnung bereits mit der Empfindung (ai)/sqhsij) in Verbindung. Wie in der Harmonie die Intervalle, werden im rhythmos die aus dem Tanz stammenden Versfüße in Arsis und Thesis zerlegt und nach den jeweiligen Proportionen eingeteilt (Platon Politeia: 398-400; vgl. Pöhlmann 1995: Bd. 3, 1664). Schon Damon (2. Hälfte des 5. Jh.s v. Chr.), der prominenteste Musiktheoretiker und Musiker der perikleischen Zeit Athens, baute den Rhythmus aus den Quantitäten der Silben und diese aus deren Elementen, den Buchstaben auf (Platon Kratylos: 424c). Daktylos und Anapaistos zerfallen in gleiche Hälften 1:1, Iambos und Trochäus 1:2, Kretikos 2:3. Der musikalische Rhythmus und die Harmonie haben daher laut Platon dem Vortrag der Rede zu folgen (Platon Politeia: 400d). Dabei gilt der wohlgemessene (eu)sxhmosu/nhj) Vortrag als das Rhythmische (to\ eu=ruqmo/n), der ungemessene (a)sxhmosu/nhj) hingegen als das Unrhythmische (to\ a)/rruqmon). Allen diesen Rhythmen kommt – wie den Tonarten – ein bestimmtes Ethos, d.h. ein Charakter und eine bestimmte Wirkung zu, welche entweder der Ordnung des Staates dienlich sind oder umgekehrt der Gemeinheit und Wildheit der Menschen entsprechen (Platon Politeia: 400a-d). Takt und Taktgefühl kommen für Platon im Begriff des Ethos, der Angemessenheit von musikalischer Weise und Gebrauchszusammenhang, zur Synthese. Deshalb erhält die musikalische Ordnung eine über bloße Kunstdinge weit hinausreichende Geltung: Neue Gattungen der Musik einzuführen, müsse man scheuen, als wage man dabei alles, soll Damon, der Begründer der Ethoslehre gesagt haben, weil nirgends die Gesetze der Musik geändert würden, ohne dass zugleich die wichtigsten bürgerlichen Ordnungen in Gefahr gerieten (Platon Politeia: 4.424b). Eine solche These war in antiker Zeit durchaus 36
ECKHARD ROCH: TAKT UND TAKTLOSIGKEIT IN DER MUSIK
keine bloße Theorie, sondern sogar ein justiziabler Gegenstand. So war Timotheos von Milet (zwischen 430 und 360 v. Chr.) von einem spartanischen Gericht verurteilt worden, weil er die alte dorische, vermutlich halbtonlose Tonordnung ins chromatische Klanggeschlecht (also eine hemitonische Ordnung) versetzt hatte. Man warf ihm vor, dass er durch die Veränderung der althergebrachten Melodien die Tugend und Sittlichkeit der Jugend gefährdet habe (Ps.-Plutarch De Musica: 1142.A.9). Das chromatische Klanggeschlecht, welches auf dem Wechsel zwischen einer anhemitonischen (dorischen) und hemitonischen (phrygischen) Tonordnung beruhte, galt als unedel, unmännlich (a)genh/j), verworren und hohl (keno/thj) gegenüber der wohlgeordneten (tetagme/noj, vgl. ta/cij!) und einfachen harmonia der Dorer. Der Wechsel zwischen beiden Tonordnungen, denen natürlich auch ein passender Rhythmus entsprach, hob das zuvor klar definierte, gegensätzliche Ethos des Dorischen und Phrygischen geradezu auf. Er galt deshalb als charakterlos, vergleichbar einem Menschen, der ständig die Farbe wechselt 3 , weshalb das entsprechende Klanggeschlecht anschaulich „Chroma“ genannt wurde. Musikhistorisch gesehen war das chromatische Klanggeschlecht das Ergebnis eines musikalischen Umbruchs, den Platon in seiner Politeia als kulturellen Verfall beklagt: Die Musikkultur der (guten) „alten Zeit“ habe eine feste Ordnung von musikalischen Gattungen und Arten gehabt, bei der es nicht gestattet gewesen sei, die eine Sangesgattung an Stelle einer anderen zu gebrauchen (Platon Nomoi: 3.700a-e). In einer solchen quasi rituellen Ordnung bestand folglich eine eindeutige Zuordnung von musikalischer Weise und ihrer kultischen Funktion, woraus umgekehrt auf die immer gleiche Wirkung einer solchen Weise zu schließen war4 . Daher mussten das Ethos und die entsprechende musikalische Ordnung zwangsläufig verwässert und schließlich aufgehoben werden, als man begann, die rituellen Zusammenhänge zu lockern, und das geschah im alten Griechenland spätestens seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. 3
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Daher die Bezeichnung „Chroma“ für das entsprechende Klanggeschlecht mit der Tonordnung Halbton, Halbton, kleine Terz (vgl. Roch 2001: 244f). Eine ungefähre Vorstellung dessen, was Ethos bedeutet, geben heute etwa noch unsere Weihnachtslieder, deren typischer Charakter zum großen Teil auch auf ihrem spezifischen Gebrauch zur Weihnachtszeit beruht.
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im Rahmen des musikalischen Agons. Indem beim Agon verschiedenste Weisen nur zum Zwecke des Wettkampfes nebeneinander erklangen, musste ihr ursprüngliches Ethos allmählich schwinden und zu der von Damon befürchteten Krise führen. Aber diese Krise brachte zugleich auch einen musikalischen Gewinn: Sie führte zur Emanzipation der Musik aus ihren kultischen Gebrauchszusammenhängen hin zu einer eigenständigen Kunst. An die Stelle der alten musiké, welche ein Seinsprinzip vorstellte und somit weniger einer Kunst oder Wissenschaft, als vielmehr einer Weltanschauung entsprach, trat nun die spezifische musiké téchne, die eigentliche, praktische Musik selbst. Statt sich auf das bloße Ethos von Musik berufen zu können, wurde es jetzt notwendig, die Musik anhand ihrer ästhetischen und diastematischen Qualitäten selbst zu erklären. Schon Aristoteles leitet die Wirkungen der Musik nur noch aus den rein musikalischen Mitteln Melos und rhythmos und nicht mehr aus ihren Gebrauchszusammenhängen ab (Georgiades 1958: 111). Dieser Wandel der Perspektive kam einem musikalischen Paradigmenwechsel gleich – dem Wechsel von der alten Ethoslehre zu einer Ästhetik im modernen Sinn. Das betraf natürlich auch den Rhythmus: Der gesamte Rhythmus werde durch die drei Sinnesgebiete Gesicht, Gehör und Tastsinn vorgestellt, sagt Aristeides Quintilianus (3. Jh. n. Chr.). Durch das Gesicht z.B. beim Tanz, durch das Gehör bei der Tonweise, durch den Tastsinn infolge der Pulsschläge. Rhythmisch gegliedert werden innerhalb der Musik Körperbewegung, Liedgesang und sprachlicher Ausdruck (Quintilianus De Musica: 1.13.161.13.20). Den neuen Musikbegriff, der mit diesem Perspektivwechsel verbunden war, hatte schon der Musiker Aristoxenos von Tarent (zweite Hälfte 4. Jh. v. Chr.) in seiner Rhythmuslehre theoretisch reflektiert. Aristoxenos orientiert sich zunächst an der Rhythmik Damons, stellt diese aber auf eine neue Grundlage. Als Schüler des Aristoteles unterscheidet er in der Rhythmik den Stoff (r(uqmizo/menon) und die Form (r(uqmo/j). Das Formprinzip, der Rhythmus, kann daher zwar nicht für sich, sondern nur in einer konkreten Gestalt auftreten, ist aber von Silbe, Ton und Tanzschritt unabhängig (Pöhlmann 1995: Bd. 3, 1664). Der Differenzierungsprozess, welcher bereits mit der Auflösung des Ethos einherging und zur Emanzipation der Musik aus 38
ECKHARD ROCH: TAKT UND TAKTLOSIGKEIT IN DER MUSIK
ihren kultischen Zusammenhängen geführt hatte, greift damit nun auch auf den Rhythmus über. Der Rhythmus wird zu einer gegenüber harmonia und logos relativ eigenständigen Entität. Deshalb benötigt Aristoxenos einen neuen Maßstab, eine neue Maßeinheit, die er xro/noj prw=toj nennt (ebd.). Dieser ist die kleinste Zeiteinheit, aus der sich die anderen Werte additiv ergeben. Zwar ist der xro/noj prw=toj kein absoluter Wert, er nimmt aber nach der Wahl eines bestimmten Tempos (a)gwgh/) einen festen Wert an. Auf dieser Grundlage unterscheidet Aristoxenos nun drei verschiedene Rhythmusgeschlechter: x i)/soj lo/goj 1:1 (gleiches Verhältnis) x dipla/sioj lo/goj 1:2 (Verhältnis des Doppelten) x h(mio/lioj lo/goj 2:3 (Verhältnis des Anderthalbfachen) Diese rhythmischen Verhältnisse stehen somit offenkundig in Analogie zu den harmonischen Proportionen der Musik, allerdings schließt Aristoxenos das epitritische Verhältnis (lo/goj tou= e)pitri/tou) 3:4 (also die harmonische Quarte) als unrhythmisch aus, weshalb die Analogie zwischen Harmonik und Rhythmik unvollkommen bleibt (ebd.: 1667). In jedem der drei Rhythmengeschlechter treten Arsis und Thesis als „Taktiereinheiten“ zu Versfüßen (po/dej) zusammen, die dem Rhythmus unabhängig vom Medium (Sprache, Melodie, Tanz) einen festen zeitlichen Rahmen vorgeben, innerhalb dessen sich die r(uqmopoii/a, die konkrete rhythmische Gestaltung, in ihrer großen Vielfalt entfalten kann. Mit seiner Lehre von den drei Arten der po/dej und deren Erweiterung kommt Aristoxenos dem neuzeitlichen Taktbegriff schon recht nahe (Georgiades 1958: 14). Und doch besteht ein wesentlicher Unterschied: Im modernen Takt werden die einzelnen Zeitwerte (der Noten) durch eine übergeordnete Einheit (z.B. den 4/4 Takt) zusammengehalten. Dieser Takt bildet das feste Maß, welches im musikalischen Ablauf einer einzelnen Stimme oder auch mehrerer, aufeinander bezogener Stimmen Ordnung schafft. Dieses feste Maß wird aber nicht bei der Aufeinanderfolge der Zeitwerte unmittelbar greifbar und ist auch nicht in den verschiedenen Relationen der Notenlängen enthalten, sondern regiert nur versteckt den rhythmischen Ablauf. Der moderne Takt ist, wie Georgiades treffend formuliert, ein „leeres Maß“(ebd.: 15), wel-
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ches erst durch die Notenwerte einer Komposition konkret ausgefüllt wird. Ganz anders bei den alten Griechen: Die altgriechische Rhythmik kennt keine Trennung zwischen Zeiteinteilung und Zeitausfüllung. Der Rhythmus wird hier nicht an die Wörter herangetragen, sondern haftet ihnen bereits in Form der eindeutigen Längen und Kürzen an (ebd.: 27). „Diejenigen, die sich in den Rhythmen versuchen, unterscheiden zuerst die Funktionen der Buchstaben, dann die der Silben, und so kommen sie zu den Rhythmen, um sie zu betrachten; nicht vorher“, erläutert Platon im Kratylos (424b-c). Laut Georgiades war die griechische Sprache schon von sich aus rhythmisch geprägt. Sie hatte zwar sehr wohl „Takt“, aber nicht im abstrakten Sinn, vielmehr war dieser untrennbar mit dem Melos verbunden. Gerade bezüglich des rhythmos lässt sich die von Platon beschworene Einheit des Melos daher noch heute durchaus nachvollziehen. Diese untrennbare Einheit hatte aber auch zur Folge, dass der griechische Vers im Grunde keine selbstständige musikalisch-rhythmische Vertonung zuließ (Georgiades 1958: 27). Erst die Trennung von musikalischer und sprachlicher Rhythmik führte zur wirklichen Verselbstständigung der musikalischen Rhythmik (ebd.: 31), die dann ein abstraktes, leeres Maß – eben den Takt im modernen Sinn – notwendig machte. Die Bestimmung des altgriechischen Rhythmus durch die Aneinanderreihung der Längen und Kürzen der Vokale und ihre Ordnung zu Versfüßen hatte jedoch noch einen weiteren Nachteil: Sie war unabhängig vom Sinn des Textes. Eine mit der modernen Akzentrhythmik vergleichbare, sinnvolle Betonung war nicht möglich. Die altgriechischen Zeitwerte wirken – im Unterschied zum modernen Takt – bloß aneinandergereiht. Würde man diese jedoch auf den „chronos protos“ als festes Maß zurückführen, so würde sich ergeben, dass der altgriechische Takt „schwankt“ (ebd.: 16). Nach Georgiades lässt sich der Unterschied zwischen dem griechischen Versmaß und dem modernen Takt auf die Formel von „erfüllter“ und „leerer“ Zeit bringen. Der moderne Takt ist ein bloßes Prinzip, eine allgemeine Voraussetzung für die Ordnung eines Rhythmus, ein leeres, noch nicht mit konkretem Inhalt gefülltes Schema. Die Zeitwerte sind keine absoluten, festen
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Quantitäten mehr, sondern Korrelate der Unterteilung oder Multiplikation einer bestimmten Zeiteinheit (ebd.: 15). Der allmähliche Übergang der Musik von den absoluten Werten der Versfüße hin zum „leeren“ Schema des Taktes hatte eine Voraussetzung: Die Entwicklung eines schriftlichen Systems der musikalischen Kodierung. Die wesentlichen Schritte in Richtung der modernen Taktvorstellung sind untrennbar mit der Entwicklung der Notenschrift verbunden. Zwar wurden schon bei Aristoxenos a)/rsij und qe/sij durch stigmh/ auf der Arsis verdeutlicht. Dabei bedeuteten Arsis und Thesis aber nur die aus der Choreographie abgeleiteten Taktiereinheiten, sie implizierten keine sinngemäße dynamische Differenzierung (Pöhlmann 1995: Bd. 3, 1663). Eines der frühesten in griechischer Buchstabennotation überlieferten Musikdokumente, das sog. Seikiloslied, verwendet bereits Längestrich, Arsispunkt, Hyphen und Trisemos (ebd.: 1664). Die dabei zu beobachtende Tendenz, die Melodieführung nach den Wortakzenten auszurichten, beginnt im Späthellenismus (2./1. Jh. v. Chr.), schwächt sich in der späteren Kaiserzeit jedoch wieder ab (ebd.: 1663). Eine theoretische Differenzierung zwischen Rhythmus und Metrum deutet sich erst wieder beim Kirchenvater Augustinus von Hippo (354-430) an: Rhythmus ist nach Augustinus das gesamte Teilgebiet der Musik, das sich auf „lang“ und „nicht lang“ bezieht. Dabei ist der Rhythmus vom Metrum jedoch sehr wohl zu unterscheiden. Rhythmus ist Numerus, dem aber die Gliederung fehlt. Metrum hat beides: die Folge der bestimmten Füße und die bestimmte Begrenzung. Metrum ist demnach Rhythmus, aber Rhythmus ist nicht Metrum (Augustinus 1962: 88). Im Mittelalter werden aus der griechischen Antike nicht nur die melodischen Skalen mit ihren Tonartennamen übernommen 5 , sondern vor allem auch die antiken Metren mit ihren Längen und Kürzen 6 . Auch das Lateinische ist ja eine quantitierende Sprache, 5 6
Wobei es allerdings zu einer Verschiebung um einen Ganzton kommt. Die Annahme von Georgiades, dass man die altgriechische Metrik lediglich in Zeitwerte (mit dem chronos protos der Kürze) umsetzen müsse, um den Rhythmus der altgriechischen Musik wiederzugewinnen (Gleichsetzung von Metrik und rhythmos) – ist heute umstritten (vgl. Pöhlmann 1995: Bd. 3, 1670).
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wenngleich die Längen und Kürzen nicht „natürlich“ gegeben sind, sondern gewissermaßen per definitionem bestimmt werden. Dabei wird „Fuß“ in der Musik durch „Neuma“ ersetzt. So ordnet Guido von Arezzo in seinem Micrologus den Versfüßen musikalische Notenwerte zu, z.B.: „Dactilus unam habet longam et duas breves sequentes [...]“ (zit.n. Dürr/Gerstenberg 1963: 399). In der Wahl des passenden Rhythmengeschlechtes besteht bei Prosatexten eine gewisse Freiheit. Metrische Texte werden hingegen so gesungen, „ut quasi versus pedibus scandere videamur“. Die Neumen sind Notenzeichen, welche zwar eine ungefähre Fixierung der Melodie, jedoch nicht eine Bezeichnung des Rhythmus erlaubten. Unter den verschiedenen Neumenschriften erschien die nordfranzösische Quadratnotation am zukunftsträchtigsten, weil sie am ehesten in Richtung der späteren Modalnotation verwies. Zwar waren die Zeichen auch in dieser immer noch mehrdeutig, doch ließen sich die verschiedenen Kombinationen aus Longa und Brevis (sog. Ligaturen) bestimmten rhythmischen Modi zuordnen, in deren Kontext sich der konkrete Notenwert eines Zeichens innerhalb der Ligatur ergab. Zur Begrenzung einer Ligaturenkette diente ein kleiner senkrechter Strich, die divisio modi, welche als Pause und Gliederungszeichen (nicht als Taktstrich!) fungierte. Unklarheiten ergaben sich in dieser Notation jedoch vor allem bei Tonwiederholungen und bei der syllabischen Textunterlegung (Zaminer 1989: 138). Diesen Problemen konnte erst eine durch eindeutige Notenwerte und -zeichen bestimmte Notation abhelfen, die sog. Mensuralnotation, die sich im 13. Jahrhundert aus der Modalnotation entwickelte. An die Stelle der Gruppenneumen tritt hier die einzelne Note, der nun entsprechend ihrer klar unterscheidbaren Notenform ein bestimmter rhythmischer Wert (die Mensur) zukommt. Alle Notenwerte sind auf die longa perfecta bezogen, deren Dauer als perfectio bezeichnet wird. Die Dauer der longa perfecta gilt drei tempora (breves). Durch eine vorangestellte oder nachgestellte Brevis verliert die Longa ein Drittel ihres Wertes und wird somit durch „imperfectio“ zur zweizeitigen longa imperfecta. Für die Brevis gelten im Prinzip die gleichen Regeln. Das Prinzip der Mensuralmusik besteht also darin, dass die Noten durch bestimmte Vorschriften (mensurae) auf ein unveränderliches und gleichmäßiges Taktschlagen verteilt werden. Immerhin ist damit bereits eine Tendenz zur Abstraktion des Maßes 42
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vom konkreten Rhythmus gegeben, die aber erst bei den nichtquantitierenden Sprachen wie dem Deutschen vollends zum Tragen kommt, welche die ursprünglichen Längen und Kürzen der antiken Metren in betonte und unbetonte Silben transformieren und die Quantitätsmetrik somit in eine Akzentmetrik überführen. In der Vertonung eines metrischen Textes werden die Akzente umgekehrt dann wieder in musikalische Längen und Kürzen transformiert. Anschauliche Beschreibungen dieses „Taktierens“ der Mensuralnotation findet man bei zahlreichen Theoretikern der Zeit. Die durch bestimmte Zeichen gekennzeichneten mensurae geben also an, in welchem Verhältnis die Noten zu den in der Theorie unveränderlichen Schlägen stehen, mit anderen Worten: Der Wert der Noten ist relativ und von Fall zu Fall durch die mensura geregelt, die somit die Funktion des „Taktes“ übernimmt. „[T]actus est continua motio in debita mensura contenta“ (Monatshefte für MusikGeschichte 1897: 149). Dieser „Takt“ war zwar durch das Maß, nicht aber das Taktzeichen, den Taktstrich geregelt. Beim temporären Wechsel vom perfekten dreizeitigen 7 zum imperfekten zweizeitigen Metrum musste man daher zu einem besonderen Zeichen greifen. Da die Notenzeichen an sich die gleichen blieben, färbte man diese rot oder seltener auch blau. Diese „colores“ genannten Noten signalisierten eine Abweichung von der Normallage des tempus perfectum, sie färbten dieses gewissermaßen um, ähnlich wie man die leiterfremden Halbtöne des Melos Chroma genannt hatte (vgl. Roch 2001: 93). Insofern als man diese colores als imperfekt betrachtete, stellten sie einen defizienten Modus des „Taktes“ dar. Sie bedeuteten eine Verschiebung und gewisse Instabilität des dreizeitigen Systems, die man in moderner Notation als Synkopierung wiedergeben würde, aber sie hoben das System doch nicht auf. Aber auch innerhalb der Mensuren gab es Probleme. Die Lehre vom Tactus, die sich im 15. Jahrhundert herausbildete, ging von einem mittleren, fassbaren Zeitwert aus, von dem größere Einheiten durch Zusammensetzung und kleinere durch Zerlegung abgeleitet wurden (vgl. Dahlhaus 1987: 345). Umstritten war dabei im 15. und 16. Jahrhundert, welcher Notenwert in den fundamenta7
So bei Franco von Köln in seiner Ars cantus mensurabilis um 1280, die die perfectio der Dreizeitigkeit auf die göttliche Trinität bezieht.
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len Mensuren als identisch gelten sollte, die Brevis, die Semibrevis oder die Minima. Die Zahl 3 konnte entweder 3/1 oder 3/2 bedeuten und sich auf Semibreven oder Minimen beziehen (ebd.: 336). Dabei bedeutete 3/2 nicht einen Dreihalbe-Takt wie in moderner Notation, sondern die Gleichsetzung RRR=RR. Demzufolge besaß die Minima im dreizeitigen Metrum einen kürzeren Wert als im zweizeitigen. Die Proportionen der Mensuralnotation müssen somit als Gleichungen aufgefasst werden, während die modernen Taktzeichen Brüche darstellen. Das Taktzeichen 3/2 bedeutet, dass drei Hälften einer ganzen Note einen Takt ausfüllen. Ein 3/2-Takt ist also, abgesehen vom Tempo, länger als ein 2/2Takt. Mit anderen Worten sind die modernen Taktzeichen auf eine feste Einheit, die ganze Note, bezogen: die Ziffer 2 im Nenner bedeutet immer eine halbe oder die Ziffer 4 eine Viertelnote. Der Zähler bestimmt, wie viele Einheiten des Nenners den Takt füllen. In der Mensuralnotation aber wird durch die Gleichung 3/2 weder die Anzahl der Einheiten, noch der konkrete Notenwert ausgedrückt. Ob Breven, Semibreven oder Minimen gemeint sind, bleibt offen (ebd.: 354). Obwohl es in dieser Notation also eine Mensur gibt, fehlt ihr der feste Rahmen, auf welchen diese bezogen wird. Ähnlich dem griechischen Rhythmus entsteht der konkrete rhythmische Verlauf auch in der Mensuralmusik durch die Addition metrischer Einheiten, d.h. der Kürzen und der Längen. Die Tatsache, dass die Bezugseinheit einer Proportion wie 3/2 nicht feststand, wurde erst zum Problem, als man sich bei Übertragungen von Mensuralmusik in moderne Notation zwischen einer Gruppierung in 6/4-Takte oder 3/2-Takte glaubte entscheiden zu müssen. Die Regelung der Notenwerte im tempus perfectum und imperfectum war jedoch eine relative. Sie bestimmte zwar das Verhältnis der Werte von Longa, Brevis, Semibrevis usw., nicht aber das Zeitmaß, das Tempo, in welchem diese auszuführen seien. Auf Metronomangaben, die heute üblich sind, konnte man sich natürlich noch nicht berufen 8 . Ramos de Pareja (um 1440 bis nach 1491) orientierte sich, um eine greifbare Zeitvorstellung zu vermitteln, am Pulsschlag, und auf diesen bezog er auch die Bewegungen des Fußes und der 8
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Das Metronom wurde bekanntlich von dem Mechaniker Johann Nepomuk Mälzel 1815 erfunden, auf eine Anregung Beethovens hin, der sich eine präzisere Tempodefinition als die bisherigen, wie Adagio, Allegro, Presto usw., wünschte.
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Hand, mit denen Mensuralmusik dirigiert wurde. Von Franchino Gaffori (1451-1522) wurde der Pulsschlag (Metronomwert etwa 60-80) mit der Semibrevis gleichgesetzt. Diese fülle ein volles Maß an Zeit aus, weshalb sie nicht dissonieren dürfe (Dahlhaus 1987: 345). Der Takt, von dem bei Gaffori allerdings nicht direkt die Rede ist, hat also auch eine melodisch-harmonische Konsequenz. Die für das 16. Jahrhundert grundlegende Definition des Tactus geht auf Adam von Fulda (1445-1505) zurück: „Tactus est continua motio in mensura contenta rationis. Tactus autem per figuras et signa in singulis musicae gradibus fieri habet“ (zit. nach Dahlhaus 1987: 346). Die Suche nach einem festen Bezugspunkt des Taktes führte schließlich zur Lehre vom „Integer valor“, die Sebald Heyden 1540 in seinem Traktat De arte canendi (ebd.: 346) formulierte. Diese Lehre besagt, dass nicht der Tactus und dessen Dauer, die dem Pulsschlag entsprach, sondern lediglich der Notenwert, der als Schlagzeit diente, variabel gewesen sei (ebd.: 346). Dennoch bezeugt Heyden indirekt, dass es auch einen tactus celerior aut tardior gab (ebd.: 350). Diese Auffassung führte allerdings zu einer allmählichen Aufweichung des alten mensuralen Systems, da sie die prinzipielle Gleichberechtigung zwei- und dreizeitiger Messungen, die zum Wesen des Systems gehörte, aufhob. Damit bereitete Heyden der modernen Schreibweise, in welcher Dreizeitigkeit prinzipiell durch einen Augmentationspunkt dargestellt werden muss, den Weg (ebd.: 351). Noch bis ins 16. und 17. Jahrhundert hatte „tactus“ zunächst nichts anderes als ein Taktieren durch Aufheben und Niederschlagen der Hand bedeutet, das sich am antiken Modell von Arsis und Thesis orientierte (Maier 1984: 11). Das geschah durchaus nicht nur optisch sichtbar, sondern auch akustisch hörbar mit einem schweren Taktstock, welcher dröhnend auf den Boden gestampft wurde 9 . Erst später, im 18. Jahrhundert wurde dieser durch kleinere Taktstöcke ersetzt oder ganz weggelassen. Den beiden Bewegungen des Auf- und Abschlags entsprachen in den Zweierproportionen die beiden Hälften der Mensur. Der Tactus gemäß der Definition Adams von Fulda wurde gleichmäßig, ohne 9
Was nicht ganz ohne Gefahr vonstatten ging: Der französische Komponist Jean-Baptiste Lully verletzte sich mit einem solchen Taktstock beim Dirigieren den Fuß und starb einige Monate später an Wundbrand.
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ritardando oder accelerando geschlagen. Tempowörter wie Adagio und Presto wurden erst notwendig, wenn eine Abweichung vom natürlichen Tempo bezeichnet werden sollte (Dahlhaus 1987: 360). Johann Mattheson unterschied zwei Arten der Ordnung des Zeitmaßes: „Die eine betrifft die gewöhnlichen mathematischen Eintheilungen; durch die andere hingegen schreibt das Gehör, nach den Erfordernissen der Gemüts-Bewegungen, gewisse ungewöhnliche Regeln vor, die nicht allemahl mit der mathematischen Richtigkeit übereinkommen, sondern mehr auf den guten Geschmack sehen.“ […] „Die erste Art nenne man auf Französisch: la Mesure, die Maaß, nehmlich der Zeit; das andre Wesen aber: le Mouvement, die Bewegung. Die Italiener nennen das erste: la Battuta, den Taktschlag, das andere aber zeigen sie mit Beiwörtern wie affettuoso usw. an“ (Mattheson 1739: 267).
Man wisse, schreibt Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie, was in der Musik das „Mouvement“ heißt – nicht der Takt, sondern der Grad der Langsamkeit oder Schnelligkeit, mit welchem der Takt gespielt wird (Lessing 1769: Bd. 4: 269). Das „Mouvement“ sei nämlich durch das ganze Stück einförmig, und diese Einförmigkeit sei in der Musik notwendig, weil ein Stück nur einerlei ausdrücken könne, und ohne dieselbe gar keine Verbindung verschiedener Instrumente und Stimmen möglich sein würde (ebd.). Letzteres leuchtet unmittelbar ein, denn es bezieht sich auf die Synchronisation der Stimmen einer Komposition. Die Bemerkung aber, dass ein Stück nur einerlei ausdrücken könne, meint eine ästhetische Regel, die bis ins 18. Jahrhundert allgemein galt: das Prinzip der Einheit des musikalischen Affektes. Schon seit dem Ende des 16. Jahrhunderts hatte sich allmählich das Gefüge der Proportionen gelockert und war mit den Begriffen des tempus perfectum und imperfectum, also der Drei- bzw. Zweizeitigkeit des Taktes, verschmolzen. Der Wechsel von geradem und ungeradem Takt ging im Verhältnis 2:3 (Proportio sesquialtera) vor sich. In den Regeln über die harmonische Auflösung von Vorhaltsdissonanzen (Synkopen) und über Durchgangsnoten zeigte sich ein Empfinden für Schwer und Leicht im Takt. Auch in der Pausensetzung und der Kadenzbildung, die zumeist auf der Thesis erfolgt, wird die regulierende Kraft des Taktes spürbar, welche
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mit der sprachgerechten Deklamation aber nicht unbedingt übereinstimmt. Zwischen Takt und Deklamation entsteht auf diese Weise ein labiles Verhältnis (Dürr/Gerstenberg 1967: 409), wodurch sich eine weitere Emanzipation des musikalischen Taktes vom Text andeutet. Die Taktzeichen (Mensuren) des 16. Jahrhunderts werden im 17. Jahrhundert größtenteils übernommen, wobei die speziell zeitrhythmischen Bedeutungen der Proportionslehre zurücktreten, da durch die mehr und mehr in Gebrauch kommenden Taktstriche ein begrenzter Takt-Inhalt gegeben ist. Der Tactus als einzelne Schlagzeit gab ein zeitliches Maß, vergleichbar dem menschlichen Puls oder dem Pendel einer Uhr. Im Unterschied dazu ist der moderne Takt eine höhere Einheit mehrerer Zählzeiten von unterschiedlichem Gewicht. Er wird durch Taktstriche begrenzt und bildet wiederkehrende Gruppen mit akzentrhythmischem Charakter aus (ebd.: 405). Gegen 1680 schwinden die letzten Spuren mensuraler Schreibung. Das Taktzeichen bezieht sich im Frühbarock nicht mehr auf die Notendauer, sondern stellt den „Inhalt“ eines Taktes dar (ebd.: 407f.). Der Taktstrich, welcher ursprünglich den Instrumentaltabulaturen entstammt, wird nun auch auf die musikalischen Partituren übertragen 10 . Seitdem wird er in gleichen Abständen als Ordnungsstrich „ad discernendum tactum“ (Michael Praetorius) frei gesetzt. Zunächst dient er nur der größeren Übersicht, zeigt aber seit der Mitte des 17. Jahrhunderts zunehmend eine innere Periodik an, was dann seine regelmäßigere Setzung zur Folge hat (Dürr/Gerstenberg 1967: 409f.). Der Taktstrich steht von nun an in der Regel vor der Note, welche den taktmäßigen Schwerpunkt kennzeichnet. Wie es scheint, wurden die Akzente zuerst im „sprachähnlichen“ Rezitativ genauer beachtet. Dabei wird der Akzent als Tonfall der natürlichen Aussprache verstanden, welcher auch den Tonhöhenverlauf einer Komposition bestimmt (vgl. Maier 1984: 39). Martin Opitz versteht den Akzent auch im Deutschen als Tonhöhe. Erst im 17. Jahrhundert setzen sich die Bezeichnungen „lang“ und „kurz“ in Bezug auf den Akzent im Deutschen durch. Im 16. und 17. Jahrhundert galt das Prinzip, lange Silben durch längere Notenwerte und kürzere Silben durch kürzere Notenwer10 So etwa bei Cipriano de Rore, 1577.
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te umzusetzen. Seine strengste Anwendung erfuhr es beispielsweise in der metrischen Odenkomposition, wo sich die Notenwerte nach klassischem Vorbild wie zwei zu eins verhalten sollten. An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert findet in der abendländischen Musik die vielleicht größte Revolution ihrer Geschichte statt – der Wechsel vom Paradigma der Vokalmusik in antiker Tradition zum Paradigma der modernen sog. „absoluten“, autonomen Musik, der „Musik an sich“ (vgl. Dahlhaus 1974). Die Emanzipation der Melodie und des Rhythmus vom Wort der Dichtung, beispielhaft vollzogen an der um diese Zeit vor allem aufstrebenden Gattung der Symphonie, brachte für die Rezeption jedoch nicht geringe Probleme mit sich. Welche Bedeutung hatte diese Musik ohne Worte? Unter den verschiedenen Erklärungsversuchen der Instrumentalmusiker setzte sich in der sog. Zeit der Empfindsamkeit vor allem eine Ansicht durch: Wenn die Musik in der Vokalmusik dem Text die Affekte, die Empfindungen, hinzugefügt hatte, so musste sie losgelöst von diesem eine reine Sprache der Empfindungen sein 11 . Die Empfindungen sind für diese Umbruchszeit gewissermaßen der kleinste gemeinsame Nenner der Kommunikation nicht nur im Musikalischen, sondern auch im Sozialen 12 . Dabei sind es vor allem Frauen, von denen diese Bewegung weg vom Rationalismus hin zum Elementaren, zum Eigentlichen, ausgeht 13 . Und sie sind es, die damit letztlich einen Weg aus der Krise der Musikanschauung dieser Zeit weisen. Literaten wie Goethe sprechen ihnen daher auch einen eigenen „Takt“, womit natürlich „Taktgefühl“ gemeint ist, zu, eben jene Fähigkeit, sich in unklaren, krisenhaften Situationen auf die Natur, die Empfindung und das Gefühl als feste Konstanten zurückzubesinnen. Es spricht viel dafür, dass die Zeit der Empfindsamkeit auch jene noch heute übliche Metaphorik des Taktes im ethischmoralischen Sinn hervorgebracht hat. Der empfindsame Mensch leidet vor allem unter einem akuten Kommunikationsproblem. Bei 11 Vgl. dazu beispielsweise die Schriften von Wilhelm Heinrich Wackenroder und Ludwig Tieck. 12 Die Ansicht, dass Musik Empfindungen oder Gefühle ausdrücke, ist bei musikalisch weniger Gebildeten übrigens bis heute weit verbreitet. 13 Auch der deutsche Ausdruck „empfindsam“ (vom engl. sentimental) geht nachweislich auf eine Frau zurück, nämlich die Ehefrau Johann Christoph Gottscheds, genannt die „Gottschedtin“.
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seinem Versuch, die Vereinzelung des Individuums durch die Mitteilung von Empfindungen zu überwinden, entdeckt er gerade die Musik als Medium für Inhalte, über die sich in der Wortsprache nicht oder nur unzureichend kommunizieren lässt. Die Musik wird für ihn zum Synonym des Empfindungs- und Gefühlsausdruckes schlechthin. Daran konnte die Metapher des Taktes im Sinne des lat. Begriffs des „tactus“ gut anknüpfen. Da Begriffe jedoch nicht willkürlich gebraucht und gedeutet werden können, werden infolge dieser Anknüpfung zugleich auch die anderen Inhalte des semantischen Feldes aktiviert, vor allem der Aspekt der Ordnung (ta/cij) und der Angemessenheit (Ethos). So kommt es, dass eine vermeintlich musikalische Metapher ohne Schwierigkeit diese ursprünglich vormusikalischen Inhalte konnotieren kann. Eine Redewendung wie jene, dass etwas „intakt“ sei, bedeutet eben ganz einfach, dass es „in Ordnung“ ist, die musikalische Konnotation fungiert hier als eine zwar poetische, aber inhaltlich nicht wesentliche Aussage. Eine integre Person ist jemand, der sich sozial verhält und moralisch in Ordnung ist. „Jemanden aus dem Takt bringen“ heißt so viel wie ihn verwirren, aus der Fassung bringen. Dagegen bedeutet „sich nicht aus dem Takt bringen lassen“ auch bei unvermuteten Zwischenfällen größte Ruhe und Sicherheit zu bewahren (Röhrig 1994: 1596). Sich „taktvoll“ zu verhalten, meint so viel wie „angemessen“ und „gefühlvoll“ zu handeln, „taktlos“ das genaue Gegenteil. Den Frauen spricht man schon deshalb besonderen „Takt“ zu, weil ihnen – zumindest im Verständnis des 18. und 19. Jahrhunderts – auch das Gefühl und damit die gefühlvolle Musikrezeption in besonderer Weise zukommt. Doch auch hier ist die musikalische Bedeutung nicht ursprünglich, sondern schwingt gewissermaßen nur sekundär mit. Etwas anders verhält es sich mit der Redensart „den Takt angeben“, d.h. alles bestimmen (wollen), welche synonym ist mit der Wendung „den Ton angeben“. Hier bezieht sich die Metapher Takt auf eine andere musikalische Metapher. Vordergründig auf den metrischen Aspekt der Musik zielt hingegen die Wendung „jemandem ein paar Takte sagen“, was in der Regel so viel heißt wie „seine Meinung sagen“. Diese Redewendung meint also nicht nur einen Inhalt, sondern gleichzeitig eine Beziehungsdefinition (vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson 1969: 53ff.) zwischen dem Sprecher und seinem Adressaten.
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Der Takt als leeres Maß (Georgiades) meint eine Struktur der Beziehungen, welche sich auf die verschiedensten Inhalte übertragen lässt. Er ist das unerbittliche Gesetz, welches auch „schwierige Passagen“ streng zusammenhält und ein Auseinanderfallen der Stimmen verhindert. Jeder Ensemble-Musiker weiß, was es bedeutet, wenn er sich einmal „verzählt“, wenn er aus dem Takt kommt. Ein dissonantes Aufeinanderprallen, unharmonischer Missklang und Chaos sind die Folge. Was für den solistischen Musiker durchaus tolerierbar oder sogar als individueller Ausdruck interpretierbar wäre, würde für ein großes Ensemble zur Katastrophe führen. Der Takt bewährt sich musikalisch also vor allem als kommunikatives Korrektiv, welches dem Zusammenhalt großer Ensembles dient, indem er ihnen ein objektives Gesetz des Zusammenspiels gibt. Anders als im Sozialen ist der Takt in der Musik also nicht Anzeichen einer musikkulturellen Krise, sondern vielmehr der Stabilität. Schon die Pythagoreer sahen in den Proportionen der Musik ein universales Phänomen, eine Art Weltprinzip, welches in allen Dingen wieder zu finden ist. Der Legende nach entdeckte Pythagoras die Schwingungsverhältnisse der Konsonanzen in einer Schmiede (nach anderer Lesart in einer Töpferei). Wenn wir Intervalle hören, nehmen wir die Zahlenproportionen der Klänge wahr, wir zählen also unbewusst, wie Leibniz es formulierte. Schon Platon und später vor allem Aristoxenos waren bemüht, die Analogie der Harmonik auch in der Rhythmik festzustellen. Aber erst mit der Einführung des Taktprinzips als abstraktem Maß erhält das Zählen in der Musik eine völlig neue Dimension. Um den Rhythmus eines Musikstückes adäquat zu realisieren, muss der Musiker zählen, und zwar nicht nur unbewusst, sondern jetzt ganz bewusst. Der Takt – ebenso Ergebnis wie Ermöglichungsgrund einer immer komplexer werdenden mehrstimmigen Musik – bewirkt nämlich nicht nur die Synchronisation der verschiedenen Stimmen einer Komposition, sondern reguliert über die Pausen auch die „Einsätze“ der Sänger oder Instrumentalisten an verschiedenen Stellen des musikalischen Verlaufs. Diese Einsätze sind aber nicht nur durch die Anzahl der zu pausierenden Takte bestimmt, sondern, je nach musikalischer Gattung, auch durch den Konstruktionsplan des musikalischen Ganzen. Jene in der musikwissenschaftlichen Forschung allerdings umstrittene Methode des Taktzählens in den Werken Johann Sebastian Bachs, 50
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welche auf eine verborgene Zahl-Symbolik abzielt, sei hier nur erwähnt. Aber auch die Formteile instrumentaler Gattungen gehorchen gewissen Proportionen, die in der Anzahl der Takte zum Ausdruck kommen. So etwa die „quadratische“ Struktur einer musikalischen Periode von 2+2, 4+4, 8+8 usw. Takten oder auch das Verhältnis von Exposition, Durchführung und Reprise im Sonatenhauptsatz, wobei rhythmischer Schwerpunkt und harmonischer Verlauf stets zusammengehören. Im ersten Satz von Beethovens Sinfonia eroica findet sich ein vieldiskutierter Verstoß gegen diese Regel, der sog. Cumulus, in welchem das Horn auf der Dominante (statt der Tonika) vier Takte zu früh einsetzt. Beethovens Schüler Ferdinand Ries berichtet die Anekdote, wie er bei der ersten Probe an dieser Stelle glaubte, der Hornist habe sich geirrt und daher ausrief: „Der verdammte Hornist, kann der nicht zählen – es klingt ja infam falsch!“ Worauf nicht viel gefehlt habe, dass er vom erzürnten Komponisten eine Ohrfeige bekam (Wegeler/Ries 1972: 79). Ries hatte, was zunächst durchaus nahe lag, diese musikalische Figur des Cumulus als Fehler des Hornisten, der seiner Meinung nach aus dem Takt geraten war, missverstanden. Die „Taktlosigkeit“ war aber kein musikalisches Vitium, sondern eine beabsichtigte Lizenz, auf welche Beethoven so stolz war, dass er nahe daran war, seinerseits die Taktlosigkeit einer Ohrfeige zu begehen. Wie im Leben, so in der Kunst: Der Takt hält zwar die Ordnung aufrecht, ohne die es keine Musik und keine geordnete Gesellschaft geben kann, aber Kunst und Gesellschaft können sich doch nur durch die zeitweilige Außerkraftsetzung ihrer Ordnung verändern. Revolutionäre sind immer „taktlos“, im Leben wie in der Kunst. Das Taktgeben, ursprünglich eine Sache des einzelnen Musikers selbst oder des Solisten, der von der Violine oder vom Klavier aus dirigiert, erfordert in größeren Ensembles wie der Oper oder der Symphonie nun einen Spezialisten, den Dirigenten, dessen Tätigkeit sich zu einer ganz eigenen Kunst entwickelt. Auch dabei wird eine Bedeutung des semantischen Feldes von „Takt“ aktiviert: Wie ein General in der Feldherrenkunst, so ist auch der Dirigent eines Orchesters ein Taktiker. Beides beruht auf einer eminent hypotaktischen Kommunikationsstruktur, deren Auswirkungen sogar an den Komponisten und ihren Werken zu beobachten sind. Große Komponisten des 19. Jahrhunderts sind seit Ri51
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chard Wagner nicht mehr unbedingt Instrumentalvirtuosen, sondern zunehmend auch Dirigenten, welche die Aufführung ihrer Werke selbst penibel überwachen. Dem Dirigenten obliegt die Ausführung eines Kunstwerkes, seine Kunst besteht in der originellen Interpretation, der Realisierung des musikalischen Ausdrucks, eine Tätigkeit, welche über die bloße Synchronisation der Musiker weit hinausreicht. Der Dirigent hat jetzt nicht nur die Aufgabe, die musikalische Ordnung, die ta/cij, zu garantieren, sondern muss diese, je nach Ausdruck und individueller Interpretation, sogar verlassen, also „taktlos“ werden. Gemeint sind jene feinen Nuancen des Taktes, die es beim lebendigen, ausdrucksstarken Vortrag unbedingt geben muss, weil ein mathematisch genaues Durchtaktieren nach Art eines Metronoms oder Uhrwerks einen seelenlosen, mechanischen Eindruck erzeugen würde, was im Sinne des „tactus“ wiederum Taktlosigkeit, d.h. Gefühllosigkeit bedeuten würde. Der im semantischen Feld des Taktbegriffes enthaltene Gegensinn von „ta/cij“ und „tactus“ offenbart sich nirgends deutlicher als hier. Das „Taktgefühl“ eines Dirigenten besteht paradoxerweise eben nicht in der chronometrischen Einhaltung des Taktes, sondern im Gespür für die ausdrucksbedingten kleinen Abweichungen von dieser abstrakten Ordnung – wenn man so will also in einer gewissen „Taktlosigkeit“. Erst dadurch gewinnt er das Gefühl für den musikalisch richtigen Takt. Musikalischer Takt und musikalische „Taktlosigkeit“ stehen also in einem nicht ausschließenden, sondern dialektischen Verhältnis. Nicht jeder Musiker und nicht jedes Orchester sind in der Lage, dem Dirigenten darin zu folgen, weshalb Orchester minderer Qualität und Erfahrung in der Regel am besten spielen, wenn sie sich peinlich genau an den Takt halten. Man könnte diese Dialektik von Takt und Taktlosigkeit vielleicht in Anlehnung an ein berühmtes Athenäumsfragment beschreiben: Es ist für den lebendigen Ausdruck der Musik gleich tödlich, ein (strenges) System zu haben, als auch keines zu haben. Man wird daher wohl beides miteinander verbinden müssen (vgl. Schlegel/Schlegel 1798 zit.n. Heinrich 1984: 66). Die größten Abweichungen von der Taktnorm sind wohl in dramatischer Musik zu beobachten, die darum freilich auch schnell in den Verdacht des genuin Unmusikalischen gerät. „Wenn ein Musiker nicht mehr bis drei zählen kann, wird er dramatisch“, spottete Friedrich Nietzsche nach seiner Abkehr von 52
ECKHARD ROCH: TAKT UND TAKTLOSIGKEIT IN DER MUSIK
Wagner über dessen Musik. Wagner könne wahrhaftig keine vier Takte gut hintereinander komponieren, lautete Nietzsches Vorwurf. Wagners Neigung, den Takt zu verunklaren oder gar zu verschieben, bis der Takt sich beinahe auflöst und nur noch den Hintergrund für einen sich frei entfaltenden Rhythmus abgibt, erreicht in Wagners Alterswerk, dem Parsifal, ihren konsequenten Höhepunkt.
Notenbeispiel: Parsifal-Vorspiel Kontrast und Synthese heben sich hier gegenseitig auf und geben damit dem rhythmischen Prinzip der Reihung neuen Spielraum (Dürr/Gerstenberg 1963: 414). Die regulären Taktqualitäten sind nur der umrisshafte Rahmen einer Musik, die ihr rhythmisches Leben nach eigenem Gesetz entfaltet und interpretiert (ebd.). Aber nicht nur Wagner führte den Takt in eine krisenhafte Situation. Ungefähr gleichzeitig wie Wagner, der diese Entwicklung schon vorbereitete, kommen beispielsweise in Modest Mussorgskis Bilder einer Ausstellung (1874) manifest irreguläre Taktformationen (5/4-Takt u.ä.) auf und werden auch als solche notiert. Die einzelnen Schulen und Vertreter der Musik des 20. Jahrhunderts lassen sich in ihrem Verhältnis zum Rhythmus nicht mehr zusammenfassen. Zu groß ist die Vielfalt der einzelnen, äußerst individuellen Ausprägungen. Mit dem gewandelten Musikbegriff, sofern man überhaupt noch von einem Begriff im strengen Sinne sprechen kann, wandelt sich auch die Funktion des Taktes. Nach einer langen Erfolgsgeschichte der Ordnung kehrt die Musik, im Besonderen ihr Rhythmus, zu freien additiven Verfahrensweisen zurück, wie sie in antiker Zeit bereits vorherrschend waren. Das ist nicht unbedingt ein Verlust. Es ist vielmehr ein freies Spiel derjenigen Kräfte, die im semantischen Feld des Taktes als Spannungsfeld zwischen strenger Ordnung und freiem Gefühl von Anbeginn angelegt waren.
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ECKHARD ROCH: TAKT UND TAKTLOSIGKEIT IN DER MUSIK
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Leopold Klepacki
Aus dem Takt kommen Ein phänomenologischer Versuch über die anthropologische Bedeutung einer tänzerischen Fehlleistung
Einleitung Über die Bedeutung des Taktes für das Tanzen zu schreiben heißt, eine besonders enge Perspektive auf das anthropologische Phänomen Tanz im Sinne eines spezifischen menschlichen Bewegungsmodus zu eröffnen. Aus der Spannbreite der ästhetischen Möglichkeiten tänzerischer Selbstbewegung werden, wenn man den Zusammenhang von Tanz und Takt thematisieren möchte, ganz grundsätzlich all diejenigen Formen des Tanzens herausgenommen, die nicht zwangsweise mit Musik in Verbindung stehen. Spätestens verschiedene Ansätze der Tanzreform, v.a. der sog. Freie Tanz oder der Ausdruckstanz, haben seit Beginn des 20. Jahrhunderts vehement darauf hingewiesen, dass Tanz nicht nur eine bewegungsmäßige Transformation von Musik ist, sondern vielmehr eine eigene menschliche Bewegungsqualität darstellt. Tanzen entwickelte sich im Kontext derartiger Ansätze zu einem Medium der Selbst- und Weltkonstitution. Wer tanzt, erfährt sich selbst und die Welt als ästhetisch gestaltbar. Der tanzende Mensch positioniert sich dabei in einem Netz von Natürlichkeit und Künstlichkeit, von körperlicher Präsenz und flüchtiger Bewegung, von physikalischer Gebundenheit und ästhetischer Gestaltungsfreiheit, von Selbstausdruck und Welterfahrung, von der Wahrnehmung des eigenen Bewegungs-Körpers und der Erfühlung der tendenziellen Fremdheit der Tanzbewegung. Der Tänzer-Mensch kann daher als ein Entdecker seines dynamischen Selbst verstanden werden. Gerade im Zuge dieser Entwicklungen erschien der musikalische Takt als etwas, das den Menschen in seinen Bewegungsmöglichkeiten einschränkt, als etwas, das Bewegung und Körperlichkeit konventionalistisch formiert. Der Rhythmus hingegen wurde zum bestimmenden Leitprinzip des Tanzens. Im Gegensatz zum
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KUNST UND KULTUR
Takt, der, zumindest in Kontexten des Tanzens, ein musikalisches Rahmenkonzept darstellt, ist im Freien Tanz, im Modernen Tanz usw. Rhythmus immer auch als eine originär körperliche Dimension zu begreifen (vgl. Huschka 2002: 87ff.). Doch wäre es nun eine stark verkürzende Betrachtungsweise, wenn man stillschweigend davon ausginge, andere Formen des Tanzens würden derartige Erfahrungen nicht ermöglichen. Auch konventionelle Tanzformen beinhalten das Potential, dass Menschen sich in ihrer Leiblichkeit, ihrem Geschlecht, ihren Selbstund Weltbezügen usw. herausgehoben erfahren können. Am deutlichsten äußert sich dies für die meisten Menschen mutmaßlich in Kontexten des Paartanzes in Form des Gesellschaftstanzes oder des Turniertanzes. Gerade hier, im Standard- und Lateintanz, kommt dem musikalischen Takt eine ganz zentrale Funktion zu. Der berühmte Wiener Walzer wird im 3/4-Takt getanzt, die Rumba im 4/4-Takt, der Paso Doble im 2/4-Takt, der Jive im 4/4Takt, der Tango im 4/8- oder 2/4-Takt usw. Der Takt ist damit die elementarste Strukturierungseinheit der tänzerischen Bewegungsabfolge. Nun ist es jedoch durchaus nicht so, dass alle Tänze in einem bestimmten Takt auch gleichförmig getanzt würden. Eine zweite taktbezogene Maßeinheit stellt für die Performierung eines Gesellschaftstanzes eine zentrale Bezugsgröße dar: die Anzahl der Takte bzw. genauer gesagt der Schläge pro Minute als Tempomaß. Takt und Schläge pro Minute bereiten somit für den Tanz ein Rahmengerüst, innerhalb dessen die strukturell vorgegebenen Schritte und Figuren in konkrete Bewegung umgesetzt werden müssen bzw. können. Was aber passiert, wenn ein Tänzerpaar aus dem Takt kommt? Dieser Frage soll im Folgenden versuchsweise näher nachgegangen werden. Die These dabei ist, dass dieser kurze, flüchtige Moment des Aus-dem-Takt-Kommens insofern eine anthropologische Bedeutung aufweist, als die mit dieser tänzerischen Fehlleistung einhergehenden Wahrnehmungs-, Erfahrungs- und Reflexionsprozesse soziale, moralische, leibliche, geschlechtsspezifische und kulturhistorische Implikationen beinhalten. Im weiteren Verlauf werden sich die Gedanken und Überlegungen daher in einer mehrdimensionalen Art und Weise ausschließlich mit den theoretisch möglichen Folgen des Aus-dem-Takt-Kommens sowie mit deren Hintergründen auseinandersetzen.
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LEOPOLD KLEPACKI: AUS DEM TAKT KOMMEN
Takt als musikalischer und sozialer Bewegungsrahmen Solange ein Tänzerpaar die für einen spezifischen Tanz vorgesehenen Schritt- und Bewegungsmuster im Takt der Musik absolviert, befindet sich das Paar innerhalb eines regelhaften Rahmens und tanzt sozusagen im Einklang mit der Musik und damit in Übereinstimmung mit einer elementaren Strukturvorgabe. Die Bewegung im Takt widerspiegelt sodann – natürlich von Paar zu Paar immer graduell unterschiedlich – Gleichmäßigkeit, Kontinuität, Konstanz usw. In einem weiteren Sinn meint Bewegung im Takt aber auch eine Form der Normierung und der Steuerung. Das korrekt auf den Takt tanzende Paar fügt sich in einen vorgegebenen, formalen Rahmen. Dieser Bewegungsrahmen wirkt jedoch nicht nur einengend, sondern ganz im Gegenteil auch erst ermöglichend. Innerhalb des Takt-Rahmens kann das Tänzerpaar überhaupt erst gestaltend tätig werden. Anmut, Grazie, Perfektion, Ausdruck usw. sind im Gesellschaftstanz grundsätzlich erst dann zu erreichen, wenn man den Rahmen eines bestimmten Tanzes nicht negativ als konventionalistisches Gängelungsprinzip von Bewegungsmöglichkeiten erachtet, sondern ihn als ein Medium der leiblichen Anverwandlung von Musik im Kontext vorgegebener Schritt- und Bewegungsmuster begreift. Gerade deshalb aber ist es so auffällig, wenn sich ein Paar nicht im Takt bewegt. Es tanzt dann außerhalb des Rahmens. Die Bewegungen und Schritte sind zwar ohne weiteres auch dann vollziehbar, wenn man sich nicht im Takt befindet, jedoch beginnt man sich in einer widerständigen Art und Weise zu bewegen. Der Anschein bewegungsmäßiger Unstimmigkeit kommt zum Tragen, das Paar wirkt unharmonisch, oftmals verkrampft und – und das scheint der wirklich entscheidende Faktor zu sein – exzentrisch und exkludiert. Blickt man auf eine Tanzsituation, an deren Konstitution mehrere Paare beteiligt sind, dann wird sehr schnell deutlich, dass der Takt als ein Medium der Bewegungssynchronisation fungiert. Der Takt der Musik führt zu einer Taktung von Bewegungen, aus der sich wiederum eine kollektive soziale Struktur ergibt. Das durch die Einhaltung des Taktes interpersonell wirkende Prinzip des Dabei-Seins wird jedoch durch das Aus-dem-Takt-Kommen aufgegeben. Ein Paar bewegt sich dann außerhalb des normierenden
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Rahmens, der offenbar auch ein sozialer ist (vgl. Goffman 1980). Hiermit entfällt sodann quasi ein Schutzmechanismus und das Paar tritt in seinen Bewegungsmustern andersartig in Erscheinung. D.h., neben der Dimension des augenscheinlichen NichtBeherrschens des Tanzens, eröffnet sich eine soziale Konnotation dieses Ereignisses. Gesellschafts- und Turniertänze finden grundsätzlich in sozialen Situationen statt, die sich entweder zumindest teilweise (Gesellschaftstanz) oder sogar gänzlich (Turniertanz) über das Tanzgeschehen definieren. Die tänzerische Fehlleistung ist somit immer auch das Initialmoment für die Veränderung einer sozialen Struktur. Strukturtheoretisch geht mit der tänzerischen Fehlleistung – so sie von anderen Beteiligten wahrgenommen wird – ein Prozess der Diskriminierung im eigentlichen Sinn des Wortes einher: Es erfolgt eine Grenzziehung zwischen Könnern und NichtKönnern und damit ein approximativer Ausschluss der NichtKönner von der Gruppe der legitimen Beherrscher eines Tanzes. Das tänzerische Aus-dem-Takt-Kommen kann daher in einem weiteren Sinn bzw. im weiteren Verlauf als ein Mechanismus der sozialen Typisierung und Etikettierung beschrieben werden (vgl. Tillmann 1999: 151ff.). Kommt ein Paar öfter aus dem Takt, so wird das soziale Umfeld innerhalb der Tanzsituation höchstwahrscheinlich eine despektierliche Zuschreibung vornehmen. Das Paar kann dann als ungeübt, als in einem negativen Sinn dilettantisch oder als unmusikalisch oder gespürlos gelten. Ein Ruf, der einem Tänzerpaar sodann anhaften bzw. vorauseilen kann. Die Konsequenz einer derartigen Etikettierung ist schließlich eine doppelte: Einerseits besteht die hohe Wahrscheinlichkeit, dass ein Paar schon von vorneherein bezüglich seines tänzerischen Könnens negativ eingeschätzt wird. Andererseits wird diese Zuschreibung von Außen auch Auswirkungen auf das Selbstbild des Paares haben.
Scham als soziale Folge des Aus-dem-Takt-Kommens Damit das Aus-dem-Takt-Kommen jedoch überhaupt einen Einfluss auf das tänzerische Selbstbild von Menschen ausüben kann, muss die Performance bewusst als eine Fehlleistung eingeschätzt werden. Dies muss aber nicht zwangsläufig immer der Fall sein.
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LEOPOLD KLEPACKI: AUS DEM TAKT KOMMEN
Es ist ebenso gut denkbar, dass sich ein tanzendes Paar seiner taktlosen Bewegungen nicht gewahr ist. Krisenhaft wird es für das tänzerische Selbstbild immer erst dann, wenn sich die Tanzenden erstens des Umstandes bewusst sind, nicht im Takt zu sein, zweitens das soziale Umfeld (mutmaßlich) Notiz davon nimmt und drittens dies wiederum von dem Paar bemerkt wird (oder dieses zumindest denkt, es würde beim Umfeld ein Bemerken bemerken). In diesem Moment konstituiert sich ein vielschichtiges Beziehungsgefüge aus Selbst- und Fremdwahrnehmungen, aus Selbst- und Fremdzuschreibungen, aus Wahrnehmungs-Erwartungen und Wahrnehmungs-Erwartungs-Erwartungen (vgl. Luhmann 2008: 25ff.). Anthropologisch gesehen ist an dieser Stelle die exzentrische Seinsweise des Menschen (vgl. Plessner 1975: 237ff.) Auslöser für die subjektive Selbsterfahrung einer inneren Desorganisiertheit bezüglich außenweltlicher Strukturen. Die tänzerische Fehlleistung geht hier also mit einer tendenziellen Identitätskrise einher. Man erfährt sich selbst als der Tänzer, der nicht im Takt ist, und gleichzeitig erfährt man sich auch als derjenige, der den anderen Tanzenden (mutmaßlich) als Tänzer erscheint, der aus dem Takt ist. Entscheidend für das tänzerische Selbstbild ist sodann offenbar weniger die Tatsache, dass man objektiv an der tänzerischen Herausforderung gescheitert ist, als vielmehr der Umstand, dass man subjektiv dabei außenweltlich wahrgenommen wurde bzw. werden konnte. Das Gefühl, einer Erwartung nicht entsprochen zu haben, löst letztlich ein Gefühl der Scham aus. In dieser Hinsicht betrifft die tänzerische Fehlleistung nicht nur eine subjektive Könnens-Frage, sondern im Kern eine verobjektivierte Normen-Frage und ist deshalb Auslöser für das Bewusstwerden von individuellen Selbst- und Weltbezügen in der und durch die tanzende Bewegung. Man ist sich des Fehlers bzw. der Verfehlung eines Anspruchs bewusst und wünscht sich, die anderen hätten ihn nicht bemerkt. Doch gerade die (potenzielle) Entlarvung des Fehlers durch die Außenstehenden setzt einen Prozess in Gang, im Zuge dessen das eigene Selbstbild in Zweifel gezogen wird. Scham wäre damit ein Gefühl, das sich bei einem Menschen immer dann einstellt, wenn er die Sicherheit über das, was er aus seiner Innenperspektive heraus ist, kann oder soll, deshalb verliert, weil eine Norm vor dem Hintergrund einer internalisierten generalisierten Außenperspektive verfehlt wird. 61
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Scham meint hier schlussendlich das Gegenteil von Stolz über eine gemeisterte Situation (vgl. Erikson 1999: 243ff.).
Taktlosigkeit als Mechanismus der Dekonstruktion des Tänzer-Leibes Bei all diesen Wahrnehmungen und Erfahrungen steht nun jedoch eine ganz bestimmte Form der Erfahrung im Zentrum: Die Auseinandersetzung des tanzenden Menschen mit seinen eigenen Körperbewegungen. Tanzen als ein bewusstes Prinzip der Selbstbewegung thematisiert die Welt- und Selbstbezüglichkeit menschlicher Körperbewegung. Der Begriff der Leiblichkeit ist hierbei von entscheidender Bedeutung. Unter Rückgriff auf die Differenzierung von KörperHaben und Leib-Sein (Plessner 1975: 237ff.) könnte also zunächst festgehalten werden, dass das Tanzen den Menschen in der und durch die Bewegung zu einer leiblichen, nicht logisch-kognitiven Auseinandersetzung mit sich selbst und seinen raum-zeitlichen, kulturellen, sozialen usw. Beziehungen zwingt. Die Gebundenheit des Gesellschafts- bzw. Turniertanzes an bestimmte Takte, Tempi, an Schrittfolgen und Bewegungsfiguren macht es dabei in einem besonderen Maße ersichtlich, dass sich der tanzende Mensch in seinen Bewegungen in einer doppelten Art und Weise mit Aspekten der Fremdheit auseinandersetzt. Einerseits geht es um das Sich-leiblich-Anähneln an die Vorgaben des Tanzes und der Musik, andererseits geht es aber auch um die Auseinandersetzung mit den eigenen körperlichen Widerständigkeiten beim Einüben der Bewegungsmuster. Dies wird besonders augenscheinlich, wenn man den Begriff der Leiblichkeit weiter ausdifferenziert: Bezug nehmend auf die Aspekte der Leiblichkeit, wie sie von Günther Bittner (1990: 63ff.) in Anlehnung an Otto Friedrich Bollnow ausformuliert wurden, besteht die Möglichkeit, das Tanzen als Prozess der subjektiven Thematisierung der menschlichen Sinnen-, Werkzeug- und Erscheinungsleiblichkeit zu verstehen. Was heißt das aber nun im Einzelnen bezüglich der hier zu behandelten Takt-Frage? Zunächst ist die Performierung von Tanzbewegungen nur sehr begrenzt durch logisch-kognitive Prozesse steuerbar. Der Vollzug des Tanzens baut daher erstens sowohl auf Formen des
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körperlichen Bewegungsgedächtnisses als auch auf einem Durchlässigmachen des eigenen Körpers für die Musik, das Tempo, den Takt usw. sowie für die Bewegungen des Partners. Eine elaborierte, mehrdimensionale Form leiblicher Responsivität wäre somit in sinnenleiblicher Hinsicht die Bedingung der Möglichkeit von Tanzbewegungen. Der Moment des Aus-dem-Takt-Kommens könnte dann als Störung bzw. Mangelhaftigkeit dieser Responsivität aufgefasst werden. Zweitens heißt Tanzen immer, sich selbst bewegen. Das tanzende Subjekt kann sich dabei selbst als Hervorbringer von körperlicher Wirklichkeit und Bedeutung erfahren. Der Körper ist das Werkzeug des Tänzers. Die spannungsgeladene Dynamik von körperlicher Präsenz und flüchtiger Bewegung lässt dabei die werkzeughafte Selbstinszenierung des Tanzenden augenscheinlich werden. Erst in der flüchtigen Bewegung wird der tanzende Körper und damit der Tänzerleib überhaupt existent. Der Werkzeugleib steht also für die Möglichkeit, selbst etwas zu realisieren, was immer mit dem Überwinden von Widerständen, der Überschreitung von Grenzen, der Auseinandersetzung mit dem Fremden, und zwar mit dem Fremden im Anderen und dem Fremden im Eigenen, zu tun hat. Aus-dem-Takt-Kommen bedeutet in diesem Zusammenhang folglich ein Scheitern an der fremden Widerständigkeit des eigenen Körpers hinsichtlich der Bewegungsvollzüge. Tanzende Menschen erscheinen drittens in einer körperlich und bewegungsmäßig individualisierten, ästhetisierten Art und Weise. Tanzen heißt diesbezüglich, in der flüchtigen Bewegung körperlich bedeutungshaft in Erscheinung zu treten. Die Erscheinungsleiblichkeit wird im Tanz darauf ausgerichtet, in der und durch die tänzerische Bewegung in Erscheinung zu treten. Der Tänzerleib konstitutiert sich ausschließlich in der transitorischen Tanzbewegung. Ist der Tanz zu Ende, existiert auch der Tänzerleib nicht mehr. Sowohl die eigene Sinnlichkeit als auch die Sinnlichkeit der anderen fokussieren sich in einer Tanzsituation thematisch auf diese Form des Erscheinungsleibes. Daraus folgt, dass tanzende Menschen eben auch in einer besonderen Art und Weise wahrgenommen werden, nämlich als Tänzer-Menschen. Insofern sind sie Spiegelbild einer spezifischen Idealität menschlicher Seinsweise. Der Tänzermensch (vgl. Schlemmer 1925) kann als der lebendige Versuch angesehen werden, die raum-zeitliche und 63
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gravitative Gebundenheit von Körperbewegungen tendenziell überwinden zu wollen. Der tanzende Körper soll absolute Körperbeherrschung, Anmut, Grazie und Leichtigkeit der Bewegung leibhaftig zum Ausdruck bringen. Eine taktlose Bewegung zerstört dieses Vorhaben im Ansatz, konterkariert damit die Möglichkeit, als Tänzermensch in Erscheinung zu treten und bezeugt somit generell die Fragiliät dieser Möglichkeit.
Muss der Mann die Verantwortung für taktlose Tanzbewegungen übernehmen? Bezieht man die hier herausgearbeitete Relevanz verschiedener Leiblichkeitsaspekte beim Tanzen nun wieder enger auf den Paartanz, dann muss man zwangsläufig auch auf die Frage nach dem leiblichen Verhältnis der beiden Tanzpartner eingehen. Der Paartanz in der Tradition der Standard- und Lateintänze kennt in mehrerlei Hinsicht eine eindeutige Differenzierung der Geschlechter. So gibt es ganz grundsätzlich Frauenschritte und Männerschritte, die sich gegenseitig zueinander komplementär verhalten und die dazu führen, dass bereits auf der Ebene der Tanzbewegungen eine geschlechterdifferenzierende Erscheinungsweise der Tanzpartner zum Tragen kommt. Im Partnertanz werden also weibliche und männliche Tanzkörper konstruiert, und zwar so, dass eindeutig festgelegt ist, welches Geschlecht welche Aufgaben zu übernehmen bzw. wie welches Geschlecht zu wirken hat. Viele Standard- und Lateintänze sind in diesem Kontext explizite Inszenierungen traditioneller Geschlechterverständnisse. Damit können Paartänze als Medien der Aufrechterhaltung von geschlechtsbezogener Körperlichkeit und geschlechtsbezogener Bewegung aufgefasst werden. Es geht hier also folglich nicht um die Präsentation postmodern-ungewisser Körperlichkeiten oder um die künstlerische Dekonstruktion bzw. Reformulierung von Geschlechtlichkeit, sondern um eine inszenatorische Stilisierung. Damit endet jedoch die Geschlechtsspezifik des Paartanzes nicht. Ganz im Gegenteil: Auf einer elementaren Ebene eröffnet sich ein weiterer geschlechtsbezogener Aspekt: In aller Regel ist es nämlich der männliche Tanzpartner, der die sogenannte Führung beim Tanzen übernimmt. Dieser Punkt scheint für unsere Thematik von weitreichender Bedeutung zu sein, da er letztlich die Frage
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impliziert, ob es dann auch der Mann zu verantworten hat, wenn ein Paar aus dem Takt kommt? Grundsätzlich ist der Mann beim Tanzen dafür verantwortlich, der Frau die Tanzrichtung vorzugeben, die Schrittfolge einzuführen, Figuren anzubahnen bzw. zu ermöglichen usw. Dies geschieht in der Praxis im Kern dadurch, dass sich die Frau von der Körperspannung des Mannes leiten lässt. Eine intensive und äußerst sensible gegenseitige leibliche Responsivität ist dafür unumgänglich und zwar sowohl auf Seiten des Führenden als auch auf Seiten der Geführten. Rein strukturtheoretisch müsste es demnach dann so sein, dass die Sensibilität des Mannes so feinfühlig ist, dass dieser schon vor dem Aus-dem-Takt-Kommen der Frau etwas dagegen unternimmt, da er ansonsten seiner Führungsrolle im Tanz nicht gerecht würde. Anders herum könnte die Frau aber auch nichts dagegen machen, wenn der Mann aus dem Takt kommt. Auch hierfür wäre abermals allein der Mann verantwortlich. Natürlich, in logischer Hinsicht ist die Frage müßig, wer für das Aus-dem-Takt-Kommen verantwortlich ist, da es mutmaßlich unzählige Gründe dafür gibt. Der Moment erscheint als höchst kontingent. Trotzdem ist der hier angerissene Gedanke nicht ohne Relevanz, da er auf einen kulturhistorischen Aspekt hinweist, nämlich auf die Bedeutung des Gesellschaftstanzes im Prozess der Zivilisation der europäisch-abendländischen Gesellschaften und auf die damit in Verbindung stehende Ausprägung von Geschlechterverhältnissen und Geschlechtervverständnissen. Paartänze repräsentieren damit eine Form des kulturellen Gedächtnisses.
Aus-dem-Takt-Kommen als kulturhistorischer Fauxpas Betrachtet man Tanz ganz allgemein als „cultural performance“ (vgl. Wulf/Zirfas 2004: 27), so fällt auf, dass während des Tanzens nicht nur kontrolliert Bewegungen erzeugt und körperliche Kommunikations- und Interaktionsprozesse generiert und strukturiert werden, sondern auch, dass das Tanzen vor allem die leibliche Anverwandlung von Bewegungsmustern meint. Tänze stellen unter diesem Gesichtspunkt kulturell kodifizierte Bewegungssysteme dar, deren jeweiliges „performance script“ (vgl. Schech-
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ner 1990: 32ff.) von den Tanzenden inkorporiert und subjektiv transformiert werden muss. Tänze erfordern daher ein praktisches, performatives Wissen (vgl. Wulf/Zirfas 2004: 30) als Basis der körperlichen Bewegungen. Den Horizont bilden dabei stets die Rückgebundenheit der Bewegungen im Repertoire jeweiliger kultureller Symbolsysteme und damit die sozialen und historischen Rahmen und Entwicklungshintergründe von Tänzen. Das Tanz-Wissen ist in dieser Hinsicht ein historisch tradiertes und bearbeitetes. Tänze sind Teil kulturhistorischer Wandlungsprozesse von Bewegungsformen, ästhetischen Normen, Interaktionsmustern, Geschlechterverhältnissen, kollektiver und individueller Ausdrucksformen usw. Speziell Gesellschafts- bzw. auch Volkstänze widerspiegeln vor diesem Hintergrund einen Prozess der historischen Kultivierung. Hierbei ist weniger die Entwicklung des Kunsttanzes und auch nicht die Veränderung der kultisch-rituellen Funktion von Tanz von Interesse, als vielmehr die ästhetische Ausdifferenzierung von Tanzformen, die sich letztlich bis in die mittelalterlichen Kontexte des Minnesangs zurückverfolgen lässt. Die Beherrschung des Tanzens, so kann man zunächst einmal festhalten, bedeutet seit dieser Zeit immer auch ein kulturelles Distinktionsprinzip, wie folgende Darstellungen implizieren: „Die von den Minnesängern aufgesuchte höfische Gesellschaft des 12. Jahrhunderts tanzt, hier und da von Springtänzen unterbrochen, vornehm schleifenden Schrittes in der Runde. […] Der Adel tanzt gerne, aber auch die Patrizier stehen dem nicht nach und erbauen sich eigene Tanzhäuser. […] Der aus dem Minnetanz bezogene Gesellschaftstanz kultiviert den Paartanz. […] Aus dem Spätmittelalter reichen die traditionellen Tänze bis in die Gegenwart hinein“ (Peters 2005: 14).
Wie glatt oder brüchig derartige Entwicklungen auch immer verliefen, welche transkulturellen Einflüsse die Tanzformen verändert haben, wie das Verhältnis von Volkstanz und Gesellschaftstanz historisch im Einzelnen auch ausgesehen haben mag, kann an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden. Interessant erscheint jedoch trotzdem die Begründung einer Tradition der zunehmenden Verfeinerung von Tanzformen, die das höfische Ideal von „contenance und élégance“ (ebd.) in bürgerliche Lebenskontexte transportierte. Nicht umsonst finden sich in pädagogischen Abhand-
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lungen der Renaissance, des Barock, aber auch der Aufklärung zahlreiche Hinweise bezüglich der Bedeutung des Tanzens für Erziehung und Bildung des Höflings oder des Gentleman. So schreibt John Locke in seinem Werk „Gedanken über Erziehung“: „Das Tanzen gibt für das ganze Leben Anmut der Bewegung […] und verleiht jungen Kindern ein gefälliges Selbstvertrauen; daher kann es meines Erachtens nicht früh genug gelernt werden, sobald sie erst einmal alt genug sind und ihre Kräfte sie dazu befähigen. Man muß aber darauf achten, daß man einen guten Lehrer bekommt, der weiß und lehren kann, was Anmut und Anstand sind und was allen Bewegungen des Körpers Freiheit und Ungezwungenheit gibt“ (Locke 1693: 249).
Mit derartigen erziehungs- und bildungstheoretischen Begründungen einer Notwendigkeit des Tanzen-Lernens ging dann auch die Professionalisierung von Tanzmeistern, Ballettmeistern und später von Tanzlehrern einher, die ihre Dienste den höheren Gesellschaftsschichten anboten. Die Beherrschung des Tanzens wird in diesen sozialen Kontexten zu einem Element der Allgemeinbildung (vgl. Peters 2005: 14ff.). Bis heute hat sich diese Idee der Kultivierung von Bewegungs- und Umgangsformen durch das Erlernen des Tanzens in Form von Tanzkursen bewahrt. Tanzkurse verstehen sich somit nicht nur als Kontexte des Erlernens von Tänzen, sondern auch als Orte der Vermittlung von Anstand und Etikette. Das tänzerische Aus-dem-Takt-Kommen wäre hinsichtlich bildungstheoretischer Implikationen also letzten Endes zumindest ein markanter Stolperstein auf dem Weg hin zur tendenziellen subjektiven Selbstvervollkommnung in der tänzerischen Bewegung. In sozial-distinktiver bzw. kulturhistorischer Hinsicht sähe man sich darüber hinaus mit einer Verfehlung der normierenden Maßgaben des elaborierten Beherrschens von Tanzformen konfrontiert und in Anbetracht der Verbindung des Tanzens mit Aspekten gesellschaftlicher Etikette wäre es schlicht unschicklich, aus dem Takt zu kommen. Das Tanzpaar, das aus dem Takt kommt, spürt das in aller Regel auch…
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Johannes Oberthür
Intaktheit Schiller, das Schöne und die Menschheit des Menschen
1795 veröffentlichte Friedrich Schiller in der Zeitschrift „Die Horen“ seine Abhandlung „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ (im Folgenden nur mit Angabe der Seitenzahl zitiert). Als Buch erschien – leicht überarbeitet – die Abhandlung 1801. Die Schrift lässt sich lesen als das anspruchsvolle Programm einer elementaren Bildung des Menschen, in der es um nichts Geringeres geht als um dessen menschliches Wesen selber. Schiller entwirft in diesem fundamentalen Sinn eine ganz neuartige Anthropologie, die sich auf Ästhetik gründet. Deren Begriff wird von Schiller ebenfalls neu gefasst, und zwar im Sinne eines lebendig vollzogenen Taktes, der die Möglichkeit der Intaktheit des Menschen in sich birgt. Schillers zentrale Idee sehe ich entsprechend darin, dass der Mensch zu dieser Intaktheit seiner Natur, d.h. zu seiner eigentlichen Menschheit erst dort findet, wo die Schönheit zur vollen Manifestation gelangt.
Briefe Schiller wählte für seine Schrift die Briefform, also eine literarische Gestalt, die dem Gespräch, dem dialogischen Prinzip verpflichtet bleibt. Sein philosophischer Entwurf sollte sich zu erkennen geben als einer, der im gedanklichen Austausch, im Kontext gemeinsamer geistiger Erfahrung und Anstrengung zur Entfaltung gelangt. „Wenig geübt im Gebrauche schulgerechter Formen“ (7), suchte Schiller das Gespräch, das er „über den Staub der Schulen erhaben“ (130f.) wissen wollte. Der Dialog erlaubte ihm, sich selber, die unmittelbaren Wahrnehmungen der eigenen Existenz einzubringen, zugleich seinem Gegenstand sich frei und unbefangen zu nähern. „Individualität und Leben“ (130) standen für ihn im Vordergrund. Seine Schrift ist getragen von der Überzeugung, dass die philosophische Besinnung in der eigenen Person verwurzelt
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sein, von hier, vom eigenen „Herzen“ (31 u.a.), von den eigenen „Empfindungen“ (130) ihren Ausgang nehmen müsse. Schiller erklärt, „die Sache der Schönheit vor einem Herzen führen“ zu wollen, „das ihre ganze Macht empfindet und ausübt“ (7). Damit ist der Briefpartner unmittelbar einbezogen. Aber unabdingbar für das Gespräch mit dem Anderen ist die unvoreingenommene Selbstbesinnung, das Hören auf das eigene Herz. Jedes philosophische Gespräch impliziert das Selbstgespräch. Umgekehrt bedeutet dies, dass wesentliche Philosophie selbst dort im Gespräch stattfindet, wo der Mensch mit sich allein ist. Das Selbstgespräch bildet den Kern. Mit ihm entfaltet sich das, was Schiller das „allgemeine Gespräch“ (10) nennt, das Gespräch mit anderen, das den menschlichen Lebenskontext insgesamt ausmacht.
Gut ist ein Gespräch In den Briefen findet sich die Bemerkung, dass „der Weg zu dem Kopf durch das Herz muss geöffnet werden“ (33). Wie ein Widerhall dieser Worte klingen Verse von dem, der seinen Weg als Dichter im Ausgang von der Verehrung Schillers fand. Ich meine die Verse Hölderlins, die dem Gedicht „Andenken“ zu entnehmen sind: „Nicht ist es gut,/ Seellos von sterblichen/ Gedanken zu sein. Doch gut/ Ist ein Gespräch und zu sagen/ Des Herzens Meinung“ (Hölderlin 1947, Bd. 2: 281).
Danach leben seellos, d.h. ohne Andenken an die eigentlich belebende Seele, diejenigen Lebendigen, die in sterblichen Gedanken befangen sind. Sterblich sind sie, weil sie von dem Denken an die eigene Sterblichkeit nicht loskommen. Sie bleiben in das Denken an die Vergänglichkeit eingeschlossen, sofern sie sich dem nicht hingeben, was seinem Wesen nach in überindividueller Bewegung beruht. Diese Bewegung manifestiert sich im Gespräch, das Hölderlin deshalb gut nennt. Zwei, die im Gespräch stehen, finden sich in einer Bewegung, die sie über die Fixierung auf die eigene Vergänglichkeit hinaushebt. Denn die Bewegung des Gesprächs ist nichts, was erst nachträglich von den Lebendigen hervorgebracht würde. Vielmehr
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können sie nur insofern in es eintreten, als es schon da ist. Die Lebendigen bestehen immer schon im Kontext, d.h. im Gespräch miteinander, derart, dass sie sich ausdrücklich auf es einlassen, es ausdrücklich auch vollziehen können. Sie können lernen, in der Bewegung des Gesprächs gut zu bestehen, anstatt sich im Denken an die eigene Vergänglichkeit schlecht zu befinden. Das Gespräch kann als hoch ausdifferenzierte Form dessen gefasst werden, was bereits Schiller als ursprüngliche „WechselWirkung“ (55) anspricht. Alles, was besteht, so lernen wir heute von den Physikern, besteht in solcher Wechselwirkung. Die ursprüngliche Wechselwirkung erweist sich in seiner höheren Gestalt des Gesprächs als die „des Herzens“, das seine „Meinung“ sagt. Das Herz gerade, indem es sich den Lebendigen zu verstehen gibt, erweist sich als Inbegriff jener wechselseitigen Bewegung, in der die Lebendigen sich finden, ohne sie jemals hervorgebracht zu haben. Dabei erweist sich, dass das Herz bereits in sich selber diese Bewegung vollzieht, die es im Austausch mit anderen äußert. Das Herz besteht in der Bewegung interner Wechselwirkung. Wechselwirkung findet statt zwischen mindestens zwei Polen. Solche bipolare Bewegung konstatieren wir bereits auf elementarer Stufe organischen Lebens als Pulsieren. Und gerade an den höher entwickelten Taktgebern dieses Pulsierens, an den Herzen zeigt sich, dass der Lebensvollzug der Lebendigen im Takt dieser ursprünglichen internen Bewegung beruht. Wäre dem nicht so, bestünde nur Seellosigkeit, d.h. Unlebendiges. Gerade ihre Herzen gewähren den Lebendigen dann die Möglichkeit, ausdrücklich sich einzulassen auf die Bewegung ihres Pulsierens, indem sie diese in der höheren Gestalt des Gesprächs vollziehen. Pulsieren vollzieht sich als Wechselwirkung zwischen Polen. Das Pulsieren fasse ich als Urform des Gesprächs. So konstatiere ich bereits auf der Ebene des schlagenden Herzens ein Verlauten einerseits, ein Vernehmen andererseits. Mit der Unterscheidung zwischen Diastole und Systole beziehen sich die Physiologen auf den Befund, dass die Bewegung des Herzmuskels auf dem permanenten Wechsel sich zusammenziehender Anspannung und auseinandergehender Entspannung beruht. Interessanterweise spricht Schiller bei der Betrachtung der menschlichen Grundtriebe in konkretem physiologischem Sinn von der Notwendigkeit ständig abwechselnder Anspannung und Abspannung (vgl. 64ff.). 71
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Schiller konzipiert in der Tat eine ganze „Triebtheorie“, hinsichtlich derer der Begriff der „Wechselwirkung“ (55, 65 u.a.) explizit physiologische Verwendung findet. Der Dichter, der sich seinerzeit mit Verve dem Studium der Medizin gewidmet hatte, erweist sich als profunder Vordenker dessen, was als Philosophie des Leibes angesprochen werden kann. So bekundet sich in den Briefen ein Aufklärungsniveau, das heute ungeminderte Aktualität verbürgt. Im Wechsel von Diastole und Systole des pulsierenden Herzens gibt sich die Urform des Gesprächs zu erkennen. Denn es muss ein dem Herzen innewohnendes „Vernehmen“ geben, das „vernimmt“, wann die eine, wann die andere Phase der Bewegung ansteht. „Vernehmen“ aber kann etwas nur, sofern zugleich ein „Verlauten“ gegeben ist. Vernehmen und Verlauten müssen aufeinander eingespielt sein. Demgemäß gewinnt Schillers Satz an Durchsichtigkeit, dass „der Weg zu dem Kopf durch das Herz muß geöffnet werden“ (33). Denn das Herz vernimmt, bevor der Kopf zur Einsicht gelangt. So kann es geschehen, dass einer sein Herz befragt, um „zu hören“, was es als dessen „Meinung“ verlauten lässt. Vollzieht sich im Hören auf das Herz ausdrücklich diese eigene Bewegung von Frage und Antwort, dann vollzieht sich jenes ursprüngliche Selbstgespräch. Dessen Bewegung, die mit Selbstempfindung und schließlich mit Selbstbewusstsein assoziiert ist, gründet im Pulsieren des Herzens. Das Herz bringt diese Bewegung nicht selber hervor, sie bleibt ihrer Herkunft und ihrem Wesen nach rätselhaft. „So entspringen Empfindung und Selbstbewußtseyn völlig ohne Zutun des Subjekts, und beider Ursprung liegt eben sowohl jenseits unseres Willens, als er jenseits unseres Erkenntnißkreises liegt“ (78). Das pulsierende Herz beruht im Rhythmus einer ursprünglichen Wechselwirkung, der es sich selber verdankt. Das Herz pulsiert. Unaufhörlich findet es sich im Takt der eigenen Bewegung. In den Takt dieser Bewegung können die Lebendigen ausdrücklich eintreten. Ausdrücklich vollziehen sie dann das Gespräch, das sich intern als Selbstgespräch vollzieht. In ihm gründet das Selbstbewusstsein. Die Urform des Selbstbewusstseins beruht in Verlauten und Vernehmen, die beide mit sinnlicher Wahrnehmung, d.h. mit Empfindung zu tun haben. Das pulsierende Herz, als Urform des 72
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Selbstbewusstseins, gilt zugleich als Sitz der Empfindung, als Organ des unverfälschten, unmittelbar sich äußernden Gefühls. Von Schiller werden deshalb „Empfindung und Selbstbewußtseyn“ (78) in einem Atemzug genannt. In unzähligen Versen seiner Dramen und Gedichte findet sich das Herzmotiv in dieser Bedeutung, wonach es zugleich Inbegriff der unmittelbaren Empfindung wie des unverfälschten Selbstbezuges ist. Wenn einer auf die Stimme seines Herzens hört, dann achtet er auf das, was ihm seine Empfindung sagt, dann steht er zugleich in der innigsten Beziehung zu sich selber. Empfindung und Selbstbezug haben mit sinnlicher Wahrnehmung zu tun. Sie heißt in der griechischen Sprache aisthesis. Was die philosophische Tradition als Ästhetik anspricht, hat demnach mit dem Herzen, mit der pulsierenden Bewegung der ursprünglichen Selbstempfindung, dem ursprünglichen Selbstbezug zu tun. Pulsieren ist mit Rhythmus und Takt assoziiert. Eben sie sind ursprünglich Sache der Ästhetik. Um die hier bedachten Zusammenhänge geht es in Schillers Schrift. Er entwirft das Kernstück einer neuen Anthropologie, das in Ästhetik gründet. Er sucht nach dem, was er – als das zu realisierende Humanum des Menschen – die „Idee seiner Menschheit“ (55) nennt. So denkt er voraus in die Dimension desjenigen Ursprungs, der im Gespräch beruht und d.h. eben nicht in diejenigen Dimensionen, die allzu lange für genuine Produzenten dieses Gesprächs gehalten wurden. In Schillers Text gewinnt das Gespräch fundamentale Bedeutung insofern, als in ihm die externe Beziehung zwischen Seienden sowie die interne Beziehung eines seines selbst bewussten Individuums ganz ursprünglich manifest sind. Mit der Einsicht, dass die individuellen Erscheinungen sich dem Zusammenspiel verdanken, nicht umgekehrt, gewinnt die Sache der Ästhetik an Bedeutung. In der Folge bleibt Kunst nicht auf die Produktion und Rezeption von Artefakten eingeschränkt. Im Schatten der desaströsen Folgen der Französischen Revolution knüpft sich zum Ende des 18. Jahrhunderts eine ganz neuartige Hoffnung an die Vision, dass der Kunst fundamentale Bedeutung auch für die Frage nach der rechten Form menschlichen Lebens und Zusammenlebens zukommen könnte.
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„Ich liebe die Kunst und was mit ihr zusammenhängt über alles“, bekennt Schiller, „und meine Neigung [...] giebt ihr vor jeder andern Beschäftigung des Geistes den Vorzug. Aber es kömmt hier nicht darauf an, was die Kunst mir ist, sondern wie sie sich gegen den menschlichen Geist überhaupt und insbesondere gegen die Zeit verhält, in der ich mich zu ihrem Sachwalter aufwerfe“ (134).
Schiller fordert, „die Kunst“ solle endlich „ihre bildende Hand an den Menschen legen“, hier „ihren veredelnden Einfluß beweisen“ (142). Damit hat er als erster in der Neuzeit den Schritt hin zu einem „erweiterten Kunstbegriff“ vollzogen, der den Weg in die Moderne markiert. Dieser führt über Schelling und die frühe Romantik unmittelbar zu Nietzsche. Ich sehe die von Schiller initiierte Entwicklung in die These von Joseph Beuys münden, wonach die Kunst – und nicht Wissenschaft, Ökonomie oder Politik – das eigentliche Potenzial gesellschaftlicher und menschlicher Evolution in sich birgt (vgl. Oberthür 2006).
Die Menschheit des Menschen Schillers Untersuchung setzt an bei der Frage nach der Möglichkeit einer besseren Form menschlicher Koexistenz. Damit steht nichts anderes zur Diskussion als der Staat, in dem der Dichter das „politische Schöpfungswerk“ (135) schlechthin sieht. Ganz im Sinne eines erweiterten Kunstbegriffs identifiziert ihn Schiller „mit dem vollkommensten aller Kunstwerke“ (9). Schiller trägt der Notwendigkeit, die politische Gestaltung der sich neu formierenden Welt zum Kardinalproblem zu erheben, durchaus Rechnung. Aber er sieht zugleich, dass dieses Problem nicht auf politischer, auch nicht auf moralphilosophischer Ebene zu bewältigen ist. Vielmehr müsse „man, um jenes politische Problem [...] zu lösen, durch das ästhetische den Weg nehmen“ (11). Schiller zieht Konsequenzen aus der Erfahrung, dass der Versuch, Ethik und Moral allein auf den Grundlagen der Vernunft zu realisieren, zu kurz greift und somit auf Dauer scheitern muss. „Wäre das Faktum wahr“, heißt es, „wäre der ausserordentliche Fall wirklich eingetreten, daß die politische Gesetzgebung der Vernunft übertragen [...] und wahre Freiheit zur Grundlage des Staatsgebäudes gemacht worden, so wollte ich auf ewig von den Musen Abschied nehmen, und dem herrlichsten aller Kunstwerke, der Monarchie der Ver-
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nunft, alle meine Thätigkeit widmen. Aber dieses Faktum ist es eben, was ich zu bezweifeln wage“ (137).
Die Einsicht gewinnt hier an Boden, dass Ethik nicht lediglich auf Ratio gegründet, sondern weiter in der Tiefe, im „Schooß der Natur“ (32) verwurzelt sein muss, dort, wo die „Triebe“ als „die einzigen bewegenden Kräfte in der empfindenden Welt“ (31) ihr Primat behaupten. Wenn Schiller die fundamentale Relevanz der menschlichen Triebe herausstellt, so bedeutet dies nicht, dass der Mensch dazu angehalten wird, seiner Vernunft zu entsagen. Vielmehr zielt die ästhetische Erziehung auf das produktive Zusammenspiel der Triebe und der Vernunft. Der Kopf soll nicht ausgeschaltet werden. Aber er soll sich auch nicht länger zur obersten Instanz erklären dürfen. Der Weg zu ihm muss durch das Herz gehen. Er soll erzogen werden zu der Einsicht, dass auch er in den Kontext der Wechselbeziehungen, dass auch er in den Takt eingebunden bleibt, in welchem das Zusammenspiel der Erscheinungen sich vollzieht. Ästhetische Erziehung impliziert entsprechend „Ausbildung des Gefühlvermögens“ gleichberechtigt neben der „Ausbildung des Vernunftvermögens“ (51). Trieb und Vernunft sind nach Schiller ebenbürtige Grundbestimmungen der menschlichen Natur. Entsprechend sieht er zwei gleichberechtigte Prinzipien dem Menschen innewohnen: 1. den Drang zur Freiheit, 2. die Notwendigkeit der gesellschaftlichen Integration. Beide Prinzipien sind nicht dazu angetan, harmonisch nebeneinander zu wirken. Schiller sieht denn auch einen „Antagonism der Kräfte“ (26). Im Menschen liegen der Drang zur Freiheit und die Notwendigkeit, diesen Drang zu beschneiden, gleichzeitig und gleichermaßen. Ein grundsätzlicher Konflikt ist damit vorgezeichnet. Dieser „Konflikt blinder Kräfte“, gemäß derer „die feindselige Selbstsucht“ gegen „das gesellige Gesetz“ (31) opponiert, liegt zwar primär, aber keineswegs ausschließlich im einzelnen Menschen. Sofern nämlich die so veranlagten Individuen immer schon eine Gemeinschaft bilden, muss sich der Konflikt auch in der Wirklichkeit der gesamten Sozietät manifestieren. Genau diesen Zusammenhang stellt Schiller als Problem heraus. Es muss gelöst werden, soll nicht nur das höchste Kunstwerk eines in sich harmonisch funktionierenden Gesellschaftsbaus, sondern in diesem
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zugleich die Möglichkeit eines im angemessenen Takt sich vollziehenden menschlichen Lebens realisiert werden. Schiller drängt in Entsprechung zu dieser Forderung auf die „Erfüllung“ einer „doppelten Aufgabe“ (46). Und weil es dieserart im Konzept einer ästhetischen Erziehung nicht nur um das, was „der schöne Künstler“ bewerkstelligt, zu tun ist, sondern um menschliches Leben und Zusammenleben überhaupt, orientiert sich Schiller nicht nur an „der ästhetischen Kunst“, sondern an „der noch schwürigern Lebenskunst“ (63). Deren Aufgaben stellen sich „dem pädagogischen und politischen Künstler“ (16). Schiller sieht, dass pragmatische Maßnahmen wie etwa eine restriktive Gesetzgebung nicht genügen, um auf Dauer einen Staat zu ermöglichen, in dem Harmonie zwischen individuellem Freiheitsstreben und notwendiger Integration gewährleistet ist. Schiller will mehr. Er will dazu beitragen, die menschliche Natur, die ein entfremdendes Reglement vordem „in Stücke riß“ (21), mit sich selber zu „versöhnen“ (58), will eine Entwicklung des Menschenwesens, die eine Wandlung seiner gesamten Existenz verbürgt. Alles an ihr soll sich jenem „höchsten Endzweck fügen“ (12), den Schiller als neu zu gewinnende „Totalität des Charakters“ (18) angibt. Nur unter der Voraussetzung ist dieses kardinale Problem zu lösen, dass es dort angegangen wird, wo es verwurzelt ist, nämlich in der Existenz des Menschen, in der „die Idee seiner Menschheit“ (55) verankert ist. Schiller verfolgt die Aufgabe, vorzudringen in jene innerste Region der menschlichen Natur, in der jener prinzipielle Konflikt zu verorten und entsprechend auch Versöhnung zu realisieren ist. Was hier „durch eine höhere Kunst“ (28) Wirklichkeit werden soll, ist die potentielle „Totalität in unserer Natur“ (ebd.). Mit ihr allererst sähe Schiller den „reinen Begriff der Menschheit“ (42) verwirklicht. Für den Menschen fällt deshalb das Ziel, „die Harmonie seines Wesens“ zu erreichen, zusammen mit dem anderen, nämlich „die Menschheit in seiner Natur auszuprägen“ (23). „Jeder individuelle Mensch“, sagt Schiller, hat hierin „die große Aufgabe seines Daseyns“ (15). Für eine auf Harmonie und Einheit gegründete Gesellschaft ist vorausgesetzt, dass die menschliche Natur in sich selber zu jener Harmonie findet. Der Lebensrhythmus jeder einzelnen menschlichen Existenz, der von der Spannung zwischen Freiheitsdrang 76
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und Integrationsnotwendigkeit bestimmt ist, muss in sich den naturgemäßen und angemessenen Takt gewinnen. Dazu muss diese Existenz bedacht und auf den Takt seiner innersten Bewegung hin untersucht werden. Schiller leistet genau dies. Im Ausgang des 18. Jahrhunderts zeichnet er eine Tradition vor, die – vermittelt über Kierkegaard und Nietzsche – in die radikale Besinnung nicht mehr allein auf die Gesetze der menschlichen Vernunft, sondern – weit über diesen ersten aufklärerischen Impuls hinaus – auf die Grundbestimmung der menschlichen Existenz überhaupt mündet. Die offensichtliche Differenz zwischen Schiller und Kant, mit dem Schiller sich entschieden auseinandergesetzt hatte, gründet nicht zuletzt darin, dass Kant das Ästhetische schlechterdings der Vernunft subsumierte, während Schiller die menschliche Existenz durch Vernunft und zugleich durch das Ästhetische bestimmt sah. Schiller leugnet also nicht den Bestand eines allgemeinverbindlichen Moralgesetzes. Aber anders als Kant sieht er dieses fundiert in einer Natur, die Vernunft und physisches Bestehen gleichermaßen umfasst. Das Anliegen der Aufklärung erweitert sich dieserart. Im Zuge der ästhetischen Erziehung ist die lebendige Harmonie zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Trieb und Vernunft zu realisieren. Durch solche Harmonisierung sieht der Autor einen „dritten Charakter“ (34) hervorgehen, der das Resultat einer bedeutsamen geschichtlichen Wandlung darstellt. Schiller stellt zugleich die kritische Frage, warum im Zuge der bisherigen Aufklärung die entscheidenden Fortschritte nicht gemacht wurden. Er erkennt, dass die Aufklärung bislang den Menschen als Individuum, die konkrete Existenz des Einzelnen nicht erreicht hat. Dieses Versäumnis galt es wettzumachen angesichts der Einsicht, dass die Totalität des Menschen „durch ein unbestechliches Bewußtsein“ ebenso wie „durch ein unvertilgbares Gefühl“ (16) bestimmt ist. Schiller bleibt bei der Unterscheidung dieser beiden Hauptbestimmungen, die bereits für die voraufgegangene Tradition bindend war, nicht stehen. Vielmehr entwirft er eine Art Partitur, nach welcher die Biografie eines jeden Menschen sich grundsätzlich abspielt. Diese hat mit Zeitlichkeit zu tun, deren Rhythmus impliziert, was wir Takt, vielleicht Lebenstakt nennen können.
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Genau um ihn geht es Schiller. Wenn er das Ästhetische – und nicht die Ratio – als Maßstab seiner anthropologischen Neubestimmung anerkennt, so bedeutet dies nicht, dass er Kant einfach nur auf den Kopf stellt, so dass nun die Sinnlichkeit das Primat zuungunsten der Vernunft erhielte. Vielmehr ermittelt der Dichter diejenige Instanz, die beide Seiten, das Sinnliche und das Rationale, im angemessenen Takt ihrer Wechselwirkung hält. Der Begriff der Wechselwirkung impliziert den steten Wechsel von zwei Wirkungen. Diese interagieren. Dazu bedürfen sie des gemeinsamen Taktes. Tatsächlich verhalten sie sich wie zwei Stimmen einer Partitur. Die Wechselwirkung ist nicht Resultat, das durch die Wirkung der beiden Seiten nachträglich ins Spiel kommt. Die Wechselwirkung vielmehr ist, wie Schiller zeigt, das eigentliche Spiel, ohne das weder Vernunft noch Sinnlichkeit aufeinander eingespielt sein könnten. Die Wechselwirkung gibt den Takt vor, nicht die beiden Seiten, die auf ihr beruhen. Zwei Stimmen finden sich im Zusammenspiel, das den gemeinsamen Takt ihrer Partitur voraussetzt; nicht umgekehrt bilden die Stimmen erst den gemeinsamen Takt der Partitur. Schiller erkennt die Bedeutung des Ästhetischen für die taktgemäße Wechselwirkung zwischen Sinnlichkeit und Vernunft. Ästhetische Erziehung dringt darauf, dass der Mensch sich entschieden der Realisierung dieser Wechselwirkung widme. Schillers Ansatz steht damit für die Hinwendung zu einer Haltung, die das Primat in der Beziehung und nicht in einem von denen, die miteinander in Beziehung stehen, zu gewahren lernt. Den tieferen Grund dafür, dass Schiller in den Briefen – so merkwürdig unvermittelt – den „Spieltrieb“ (56 u.a.) einführt, sehe ich in dieser Anerkenntnis der Bedeutung der Beziehung.
Formtrieb und sinnlicher Trieb Ich komme zurück auf den Begriff des Lebenstaktes. Schiller ermittelt diesen Takt, der irgendwie der Lebensbewegung eines jeden Menschen innewohnt. Sinnlichkeit und Vernunft dürfen als reale Momente dieses Lebenstaktes gelten. Und Schiller entdeckt, dass beide Momente an zwei Bestimmungen geknüpft sind, die jeweils mit Temporalität zu tun haben. Die zwei Grundprinzipien des Lebenstaktes, von denen er ausgeht, begreift er erstens als das, was „sich unaufhörlich verändert“, zweitens als „etwas, das
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bleibt“ (43); das erste unterliegt dem zeitlichen Wandel, das zweite hält sich in der Zeit durch. Eben dies ist charakteristisch für den Takt: dass in ihm dynamische Veränderung an die Permanenz einer sich selbst gleich bleibenden Struktur gebunden ist. Schiller nennt dasjenige, was sich verändert, „Zustand“ (43) und zielt damit ab auf die mannigfaltigen Zustände, die der Mensch im Lauf seines Lebens durchläuft. Hingegen das, was sich in den Wandlungen des menschlichen Lebens durchhält, kennzeichnet er als „Person“ (ebd.). Das Durchlaufen unterschiedlicher Zustände und die dabei sich durchhaltende Person gehören beide mit gleicher Relevanz zum Wesen des Menschen. Sie beide bilden dessen grundsätzliche Polarität. Wo Polarität herrscht, da ist Spannung im Spiel. Spannung impliziert Bezug zwischen Zweien, Wechselspiel. Spannung konstatieren wir zwischen Menschen, die gegensätzliche Positionen vertreten. Im einzelnen Individuum treten ebenfalls Spannungen auf. Das gilt bereits für physiologische Prozesse – wie etwa für den Herzschlag. Auch den gäbe es ohne Spannung nicht. Der Vergleich mit dem Pulsieren des Herzens drängt sich in der Tat auf, wenn Schiller jene zwei wechselwirkenden Tendenzen herausstellt, die für den Menschen bestimmend sind: Die eine steht für Kontraktion, die Schiller mit „Intensität“ (51), die andere für Außersichsein, „Erweiterung“ (61), die er mit „Extensität“ (51) einhergehen sieht. Beide Tendenzen äußern sich in Trieben. Deren einen nennt Schiller „Formtrieb“ (48), den zweiten „sinnlichen“ (47), auch „Stofftrieb“ (52). Die Intensität und damit das, was den Menschen zur Person macht, ist gebunden an den ersten, den Formtrieb, seine Extensität an den zweiten, den sinnlichen Trieb. Was ist unter dem Begriff der Person zu verstehen, der von Schiller an dieser zentralen Stelle eingeführt und mit Formtrieb, mit Kontraktion, mit menschlicher Intensität assoziiert wird? Der Terminus Person könnte von dem lateinischen Wort personare herrühren, das hindurchtönen heißt. Auch wenn diese These umstritten ist, so bleibt doch der Sachverhalt, den sie betrifft, bedenkenswert. Denn der Aspekt des Hindurchtönens behält für den Begriff der Person Relevanz, auch wenn die These mit der Etymologie nicht in Einklang zu bringen sein sollte. Das lateinische Wort persona heißt ursprünglich Maske, und so lag es nahe, persona mit personare in Verbindung zu bringen, weil ja die Maske vor dem Gesicht ein Hindurchtönen der Stimme (durch die Maske hindurch) 79
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impliziert. Auch wenn die landläufige Herleitung nicht als Beweis herangezogen werden kann, so scheint doch die Tatsache selber nicht abweisbar. Danach würde das, was wir Person nennen, in solchem Hindurchtönen beruhen. Was aber tönt hier wo hindurch? Wo etwas hindurchtönt, da müssen wir von einer Stimme ausgehen, auf die das Hindurchtönen zurückzuführen ist. Die Stimme kann im vorliegenden Fall nicht der Person zugesprochen werden, denn die Eigenart der Person soll ja gerade darin bestehen, dass jene Stimme durch sie hindurchklingt. Die Person scheint sich diesem Hindurchklingen einer Stimme zu verdanken, anstatt dass die Stimme allererst von der Person hervorgebracht würde. Wenn zwar die Person die Stimme nicht selber hindurchtönen lässt, so muss doch die Person die Stimme vernehmen. Dann würde zur Person das Vernehmen der Stimme ebenso wesenhaft gehören wie deren Hindurchtönen, das nicht von der Person hervorgebracht wird. Um der Stimme auf die Spur zu kommen, muss also in Augenschein genommen werden, was die Person vernimmt. Wenn ich mich selber als Person gewahre, so vernehme ich tatsächlich unaufhörlich. Ich vernehme mich selber in jedem Augenblick, das besagt, es kommt zum Bewusstsein meiner selbst. Selbstbewusstsein habe ich, indem ich in jedem Augenblick meiner selbst bewusst werde. Selbstbewusstsein beruht in Genese. Es geschieht dynamisch, anstatt ein statisches Beharren darzustellen. Dieser Befund passt zu der Beobachtung, dass die Person sich selber vernimmt. Die These lautet, dass Selbstbewusstwerden in Sichselbstvernehmen beruht. Indem die Person sich in jedem Augenblick selber vernimmt, vernimmt sie unaufhörlich das Hindurchtönen der Stimme. Die Termini „Augenblick“ und „unaufhörlich“ betreffen Aspekte der Zeit. In der Tat gehört, wie Schiller zeigt, zum Bestehen der Person, dass sie „in den Schranken der Zeit“ (65) besteht. Ihr Bestehen geschieht – von Augenblick zu Augenblick, kontinuierlich, zeithaft. Die Person besteht, wie es scheint, in gar nichts anderem als in der Zeitlichkeit ihres Lebensvollzugs. Seine Zeitlichkeit produziert der Mensch nicht selber. Er findet sich in ihr. Er gewinnt sich als Mensch überhaupt nur in der zeitlichen Kontinuität seines Lebensvollzugs. So wenig hat der Mensch Einfluss auf die vorgegebene Zeitlichkeit seiner Bewegung, dass er diese vielmehr voraussetzen muss als eine, der er sich verdankt. 80
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Bringe ich den Gedanken, dass die Person im Hindurchtönen und im Vernehmen einer Stimme beruht, mit der soeben herausgestellten Zeitlichkeit der Lebensbewegung in Verbindung, so ergibt sich, dass tatsächlich die Person diese zeitliche Bewegung ihres eigenen Bestehens vernimmt. Und sofern diese Zeitlichkeit nicht von der Person selber hervorgebracht wird, so folgt, dass die Person in der Tat eben nicht einfach nur sich selber vernimmt. Die Stimme, die hindurchtönt, wäre als die Stimme der Zeitlichkeit der Bewegung zu kennzeichnen. Das Organ, das sich ganz ursprünglich mit dieser Zeitlichkeit der Bewegung der Person verbindet, ist – das Herz. Die Person vernimmt die Stimme des Herzens. Es gibt wohl keine dramatische Dichtung Schillers, in der dieses Motiv nicht auftaucht. Das Herz ist Inbegriff der Zeitlichkeit der Bewegung, der die Person sich verdankt, anstatt dass sie, die Person, diese Zeitlichkeit selber produzierte, anstatt dass sie, die Person, die Bewegung ihres Herzens selber hervorbrächte. Das Herz schlägt im Takt seiner Zeit. Die Person vernimmt die Stimme des Herzens in diesem Takt. In jedem Augenblick vernimmt sie diese Stimme als eine, die, soeben verklungen, sogleich wieder erklingen wird. Das Vernehmen der Person besteht in diesem Augenblick, da der vorhergehende Augenblick der Zeit verklungen, der bevorstehende im Erklingen begriffen ist. Die Stimme des Herzens, die Stimme der Zeitlichkeit seiner Bewegung tönt so hindurch durch jeden Augenblick, der im Vernehmen der Person beruht. Auf die Stimme des Herzens hörend, gehört die Person der Stimme des Herzens. Die Stimme des Herzens tönt durch in jedem Augenblick, so hält sie sich durch als eine und dieselbe, die sich – gemäß dem Pulsieren des Herzens – in jedem Augenblick neu formiert. Dieserart hat die Person in jedem Augenblick ihre eigentliche Form. Der Begriff der Form schließt den der Zeit nicht aus. Wir sprechen auch von musikalischen Formen. Die Bewegung des Herzens ist mit einer solchen musikalischen Form vergleichbar. Sie ist an Takt gebunden. Ihm gemäß beruht die Form in dem sich durchhaltenden Rhythmus jener Bewegung. Die Form, die die Bewegung der Person bildet, bleibt dieserart sich selber gleich gemäß dem Takt, in welchem das Herz pulsiert. Die Form beruht in nichts anderem als in dem sich durchhaltenden Takt der Lebensbewegung des Herzens. 81
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Den Formtrieb, den Schiller in Anschlag bringt, sehe ich auf diese Form bezogen, die in dem Takt der Bewegung des Herzens beruht. Die Form besteht demgemäß nicht in statischer Gestalt. Sie formiert sich vielmehr in jedem Augenblick neu als interne Beziehung zwischen dem Vernehmen der Person und der Stimme des Herzens. Was sich durchhält im Lebensprozess der Person, ist dieses unaufhörliche Sichformieren derselben Form in der Einheit von Ertönen und Vernehmen. Als interne Beziehung ist diese sich durchhaltende Form die kleinste Ausdehnung, auf die das Individuum der Person reduziert werden kann, ohne dass es zerstört würde. Diese kleinste Ausdehnung entspricht der Kontraktion, der äußersten Intensität der Person. Im unaufhörlichen Sichformen der Einheit von Ertönen der Stimme des Herzens und Vernehmen dieser Stimme, kommt die Person unaufhörlich zu sich, ist sie bei sich, ist sie, wie wir moderner formulieren, ihrer selbst bewusst. Dieses Selbstbewusstsein ist Manifestation der sich durchhaltenden Form, genauer: des sich durchhaltenden Sichformierens der Einheit von Ertönen und Vernehmen. In diesem sich durchhaltenden Sichformieren beruht der Takt der Lebensbewegung der Person. Er stellt, sagt Schiller, die „absolute und untheilbare Einheit“ (48) dar, unterhalb derer das Individuum nicht zu bestehen, entsprechend auch nicht erfasst zu werden vermag. Der Takt hält sich durch in der Zeit. Die Person mag sich im Zuge ihrer Lebensbewegung den mannigfaltigsten Veränderungen unterziehen. Der Takt, die kleinste, unzerteilbare Einheit des Individuums, die sein „unbestechliches Selbstbewußtseyn“ (16) darstellt, hält sich durch, verbürgt „Beharrlichkeit im Wechsel“ (46). Aber allein in diesem internen Selbstbezug, den die Person nicht selber „macht“, kann die Person nicht bestehen. Sie bedarf auch – und ebenso prinzipiell – des Weltbezuges. Sie beruht auch in einem „physischen Daseyn“ und „seiner sinnlichen Natur“ (47). Dem Vermögen der Sinne entspricht nach Schiller derjenige Trieb, den er den sinnlichen nennt. Er ist es, der die Person nicht nur mit sich selber, sondern mit der Welt in Beziehung stehen lässt. Die Lebensbewegung der Person beruht nicht nur in jener internen Beziehung, gemäß derer „das Nothwendige in uns zur Wirklichkeit“ (46) kommt, sondern ebenso unabdingbar in der externen Bewegung, gemäß derer wir erreichbar und berührbar durch „das Wirkliche außer uns“ (ebd.) sind. 82
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Nach Schiller verbürgt der sinnliche Trieb des Menschen das permanente Sichverändern seiner Zustände. Stofftrieb nennt Schiller diesen sinnlichen Trieb eben auch deshalb, weil er die flexible Verbindung zum Stofflichen, „zur Materie“ (47) und damit zur sinnlich gegebenen „Realität, die die Zeit erfüllt“ (ebd.), verbürgt. Die Gleichwertigkeit von Sinnlichkeit und Vernunft gab sich für Schiller ganz ausdrücklich bereits in der Tatsache zu erkennen, dass die entsprechenden Triebe unabdingbar aufeinander angewiesen sind. Schiller konstatiert, wie gesagt, die unauflösliche „Wechsel-Wirkung zwischen beyden Trieben [...], wo die Wirksamkeit des einen die Wirksamkeit des andern zugleich begründet und begrenzt, und wo jeder einzelne für sich gerade dadurch zu seiner höchsten Verkündigung gelangt, daß der andere thätig ist“ (55). Die zwei Triebe, von denen Schiller ausgeht, bilden eine unzertrennliche Einheit. Der sinnliche Trieb äußert sich in dem Drang, über die individuellen Grenzen hinaus nach Freiheit zu streben, d.h. aus sich herauszugehen und in fließenden Kontakt mit der Welt zu treten. Der Formtrieb hingegen bewirkt, dass der Mensch – im Bewusstsein seiner selbst – zur Vernunft kommt, indem er alles sinnlich Gegebene unter deren Form bringt und die Notwendigkeit erfasst, mit anderen und mit der Welt nur nach moralischem Maßstab im Einklang bestehen zu können. Schiller zieht aus dieser Einsicht entscheidende Konsequenzen. So verliert der alte Konflikt zwischen Natur und Kunst an Boden. Beide gehören zusammen. Der Anspruch bezüglich der Kunst wird für Schiller ein anderer. Sie muss leisten, was die Natur gerade fordert. In diesem Sinn nennt Schiller die Natur die eigentliche „Künstlerin“ (29). Durch sie allererst wird die unnatürliche „Trennung in dem innern Menschen“, die Kluft zwischen Sinnes- und Vernunftvermögen, „wieder aufgehoben“ (ebd.). Ästhetische Erziehung ist durch die Intention gekennzeichnet, dem Menschen gerade durch Kunst zur Realisierung seiner eigensten Natur zu verhelfen. Es gilt, die „Totalität in unsrer Natur, welche die Kunst zerstört hat, durch eine höhere Kunst wieder herzustellen“ (28). Spannungsreich muss die menschliche Natur sein, weil ihre Grundtriebe den Menschen in verschiedene Richtungen ziehen. Die Aufgabe, vor die Schiller sich gestellt sehen musste, beruht auf der Frage, wie die Natur des Menschen, d.h. wie jene wider83
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streitenden Triebe zum angemessenen, d.h. zum taktgemäßen Zusammenspiel geführt werden können. Ästhetische Erziehung verlangt die künstlerische Bildung der Natürlichkeit des Menschen. Hierher gehört Schillers Bemerkung, der „gebildete Mensch“ mache „die Natur zu seinem Freund“ (17). Mit dieser Forderung ist der erste Schritt auf dem Weg jener ästhetischen Erziehung vorgezeichnet. Der Mensch muss nicht gegen, sondern für seine Natur arbeiten. Er darf seine Triebe nicht unterdrücken, auch den einen nicht zugunsten des anderen. Sie sollen gleichermaßen und gleichberechtigt zu ihrem taktgemäßen Zusammenspiel geführt werden.
Spieltrieb Der Formtrieb dringt auf Form. Aber er kann dies nur, weil er selber bereits eine Form darstellt. Ich identifizierte sie als ursprüngliche Form des Selbstbewusstseins. Diese persistiert als einfache und stabile Struktur – bei allem Wechsel der Zustände, die sie durchläuft. Dass ich um mich selber weiß, dass ich um mein eigenes Wissen weiß, ist die strukturelle Vorgabe dieser Form, die – abgesehen von der Möglichkeit pathologischer Deformation – keiner Veränderung unterworfen ist. Schiller sieht in dieser unveränderlichen Form die wesenhafte Bestimmung der Person, die sich in jedem Ich bekundet. „Die Person“, sagt er mit deutlichem Bezug auf Kant, „die sich in ihrem ewig beharrenden ICH offenbart, kann nicht werden, nicht anfangen in der Zeit“ (44); sie beruht vielmehr vorgängig in jener unveränderlichen Formvorgabe. Die Form, die dieserart das Ich zum Ich macht, besteht in einem Wissen, das zugleich Wissen seiner selbst ist. Es ist das Wissen um die eigene Identität. Dieses Wissen steht und bleibt, ob ich an es denke oder nicht. Es begleitet, sich durchhaltend, alle Zustände, die ich im Laufe meines Lebens durchlaufe. Der Formtrieb ist mit der sich durchhaltenden Form des menschlichen Selbstbewusstseins assoziiert. Damit ist auch der Bereich des anderen Grundtriebes bereits betreten, den Schiller den sinnlichen Trieb oder Stofftrieb nennt. Denn nur im Sinnlichen, Stofflichen kann die Form wahrhaftig realisiert werden. Der Formtrieb mithin, indem er nach außen die eigene Form zu realisieren bestrebt ist, bedarf unmittelbar des Stoffes, der Materie, bedarf der sinnlich gegebenen Welt und somit des sinnlichen Trie-
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bes. Eben dieser lässt den Menschen den Kontakt zur Welt differenziert ausbilden. Was für den Formtrieb gilt, ist auch dem sinnlichen zuzusprechen. Denn indem dieser auf den Kontakt zur Welt dringt, fordert er bereits den Formtrieb. So ist für jede sinnliche Wahrnehmung verlangt, dass der Mensch das Wahrgenommene unter die Form des eigenen Bewusstseins bringt. Anders könnte er gar keine artikulierbare Wahrnehmung von den Dingen dieser Welt haben, d.h. er könnte das Sinnliche der Welt niemals und nirgends als dieses und jenes konkrete Ding identifizieren. Das Wirken von Formtrieb und sinnlichem Trieb beruht im taktgemäßen Zusammenwirken. Der Ausfall des einen Triebes würde die Verstümmelung, ja die Zerstörung der menschlichen Individualität zur Folge haben. Geht also der Mensch vollkommen in Sinnlichkeit auf, „so ist Er nicht“. Mit der Form „seiner Persönlichkeit“ ist auch sein sinnlicher „Zustand aufgehoben, weil beydes Wechselbegriffe sind – weil die Veränderung ein Beharrliches [...] fordert“ (53). Isoliert sich umgekehrt „die Person“ von „der Welt, so hört sie in demselben Verhältniß auf, selbständige Kraft und Subjekt zu seyn“. Denn sobald der Mensch „nur Form ist, so hat er keine Form“, und mit dem sinnlichen „Zustand ist auch die Person aufgehoben“. Nur insofern der Mensch also „selbständig ist, ist Realität ausser ihm, ist er empfänglich“; und „nur insofern er empfänglich ist, ist Realität in ihm, ist er eine denkende Kraft“ (53f.). Damit die Grundtriebe der menschlichen Natur zum rechten Zusammenspiel geführt werden, ist eine dritte Kraft vonnöten, die Schiller ebenfalls als Trieb bestimmt. Dieser ist der entscheidende. Denn er stellt das Verbindende dar, das Formtrieb und sinnlichen Trieb im taktgemäßen Spiel hält. Schiller führt jene dritte Kraft unter dem erwähnten Terminus „Spieltrieb“ (56ff.) ein. Der Begriff des Spieltriebes betrifft den Kern der menschlichen Wesensbestimmung. Der Spieltrieb ist im Innersten des Menschen, am Ursprung seiner Natur zu verorten. Schiller betont, dass „gerade das Spiel und nur das Spiel es ist“, was den Menschen „vollständig macht, und seine doppelte Natur auf einmal entfaltet“ (61). So findet Schiller zu dem berühmten Satz, „der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“ (62f.).
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Den Satz deute ich dahingehend, dass erstens der Mensch das Agieren seiner Grundtriebe, geleitet durch den Spieltrieb, nicht blockieren, sondern durch kulturelle Bildung in die richtigen Bahnen leiten soll. Zweitens schlägt sich dieser Prozess nieder in einer menschlichen Persönlichkeit, die sich im Spiel befindet, d.h. in einer permanenten Bewegung, die sich zwischen der ständigen Konkretion von Form und der ständigen Hingabe an das Sinnliche abspielt. In diesem Zusammenhang prägt Schiller den Begriff „lebende Gestalt“ (58ff.). Er sagt: „Der Gegenstand des sinnlichen Triebes, in einem allgemeinen Begriff ausgedrückt, heißt Leben, in weitester Bedeutung; ein Begriff, der alles materiale Seyn, und alle unmittelbare Gegenwart in den Sinnen bedeutet. Der Gegenstand des Formtriebes, in einem allgemeinen Begriff ausgedrückt, heißt Gestalt [...]. Der Gegenstand des Spieltriebes, in einem allgemeinen Schema vorgestellt, wird also lebende Gestalt heißen können“ (58).
Der Mensch vollzieht sein Leben in sinnlicher Realität, und in diesem Vollzug hält sich die Form seines Selbstbewusstseins durch. Keines von beidem kann ohne das andere sein. „Der Mensch“, heißt es, „ist weder ausschließend Materie, noch ist er ausschließend Geist“ (60). Zwischen beiden spielt der Mensch, derart, dass er so überhaupt nur ganz Mensch ist. Das Spielen zwischen entgegengesetzten Polen wird bei Schiller zur menschlichen Wesensbestimmung. Dies bedeutet nichts anderes, als dass der Mensch sich dem eigenen „mehrstimmigen“ Triebgeschehen überlassen muss, sofern er allerdings dieses zur taktgemäßen Entfaltung gelangen lässt. Nach Schillers Einschätzung ist hierfür Ästhetik unabdingbar. „Die Schönheit“, sagt er, „kann also weder ausschließend bloßes Leben seyn, [...] noch kann sie ausschließend bloße Gestalt seyn“, sondern „sie ist das gemeinschaftliche Objekt beyder Triebe, das heißt des Spieltriebs“ (60).
Der Mensch vermag das Spiel zwischen sinnlichem Trieb und Formtrieb taktgemäß zu vollziehen. Darin konstituiert sich wahre Schönheit. So sehen wir, schreibt Schiller, aus „der Wechselwirkung zwey entgegengesetzter Triebe, und aus der Verbindung zwey entgegengesetzter Principien [...] das Schöne hervorgehen 86
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[...], dessen höchstes Ideal also in dem möglichst vollkommensten Bunde und Gleichgewicht der Realität und der Form wird zu suchen seyn“ (64). Der Spieltrieb muss zur Wahrung dieses Gleichgewichts zwischen fließender Hingabe an die sinnliche Realität und beharrlicher Vorgabe der Form des Selbstbewusstseins, d.h. zum taktgemäßen Vollzug beider Seiten naturgemäß die Führung erhalten. Denn nur er vermag jenes wahrhaft polyphone Triebgeschehen, das den Menschen wesenhaft ausmacht, im rechten Takt zu halten. Und darin einzig konstituiert sich Schönheit. Auf den Takt kommt es an. Der Spieltrieb ist der eigentliche Taktgeber, er ist im Herzen der menschlichen Natur zu verorten. Hier entspringt unaufhörlich die Bewegung des Spiels zwischen Formtrieb und sinnlichem Trieb, dieserart Schönheit. Wahrhafte Schönheit offenbart sich damit tatsächlich in der Bewegung des Spiels. Diese Bewegung ist keine genuin auf den Menschen zurückzuführende, sondern eine, der die menschliche Natur überhaupt sich verdankt. „Weder Abstraktion“ der Vernunft „noch Erfahrung“ der Sinne allein leiten deshalb den Menschen „bis zu der Quelle zurück“ (78), aus der jene ursprüngliche Bewegung entspringt. Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt, das bedeutet jetzt: Nur wo der Spieltrieb für den rechten Takt zwischen der beharrlichen Vorgabe der Form des Selbstbewusstseins und der fließenden Hingabe an das Sinnliche sorgt, also nur da, wo die Bewegung des menschlichen Lebens das taktgemäße Spiel bildet zwischen internem Selbstbezug einerseits und externem Weltbezug andererseits, erhält sich und erfüllt sich die menschliche Natur ganz, derart, dass jetzt die Schönheit „den Menschen zu einem in sich selbst vollendeten Ganzen macht“ (68). Damit ist das äußerste Ziel der ästhetischen Erziehung formuliert. Davon, dass etwas „ganz“ ist, sprechen wir nicht nur, wenn es vollständig, sondern vor allem: wenn es nicht kaputt, wenn es heil ist. Wir sagen dann auch: es ist intakt. Ganzheit, von der Schiller spricht, meint sonach auch und vor allem Intaktheit. Zu solcher Intaktheit, d.h. zum heilen Takt ihrer Lebensbewegung kann die menschliche Natur gelangen, sofern sie in das rechte Spiel zwischen ihren Grundtrieben findet. Der Trieb ist das, was treibt, das Treibende. So versteht ihn auch Schiller. Der Trieb hält in Bewegung. Es liegt nahe, ihn materialistisch zu deuten. Aber er ist nicht Materie. Als das Treibende 87
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ist er weder einzuschränken auf das, was getrieben wird, noch auf das, worin sich die treibende Kraft offenbart. Ein Motor etwa ist nicht die treibende Kraft. Sondern die treibende Kraft, die Energie, ermöglicht den Motor. Die Energie, das Treibende, ermöglicht sogar erst den Treibstoff. Nur weil immer schon und überall Energie besteht, kann es Stoffe, Apparate und Organe geben, in denen sie sich manifestiert. Das eigentlich Treibende hängt nicht am Stofflichen. In dessen Organisation und Gestalt vielmehr wirkt umgekehrt sich das Treibende aus. Der Trieb gründet entsprechend auch nicht in den leiblichen Organen. Vielmehr manifestiert er sich in diesen. So ist der Leib Ausdruck der Triebe, nicht deren Verursacher. Auch und gerade das Herz ist Manifestation der Triebe, ist nicht der Trieb, sondern das Getriebene. Nur als getriebenes vermag das Herz zu treiben. Der ursprüngliche Trieb, die treibende Kraft, ist mit dem Herzen nicht zu identifizieren. Er bleibt etwas Änigmatisches, etwas, das mit dem zu tun hat, was Goethe „das Unerforschliche“ (Goethe 2006: 136), auch „offenbares Geheimnis“ (Eckermann 1981: 615) genannt hat, das er als ein „inneres geistiges Band“ (ebd.) überall in der Welt wirken sah. Der Spieltrieb ist ein solches geistiges Band. Er ist nicht auf Bekanntes oder Kennbares zurückzuführen. Er ist nicht wirklich erklärlich, denn dazu, sagt Schiller, „wäre gefordert, daß man [...] begriffe“, was jene treibende und verbindende Kraft ausmacht, „die uns, wie überhaupt alle Wechselwirkung [...] unerforschlich bleibt“ (59). So wie das, was den Trieb ursprünglich ausmacht, nicht erklärlich ist, so bleibt erst recht jene treibende Kraft, die das Widerstreitende verbindet, indem sie die einzelnen Grundtriebe im Spiel hält, rätselhaft. Wir können den Spieltrieb lediglich konstatieren, indem wir ihn in Wirksamkeit finden. In der Interaktion zwischen sinnlichem Trieb und Formtrieb ist sein Wirken manifest. Es muss, sagt Schiller, „eine Gemeinschaft zwischen Formtrieb und Stofftrieb“ geben, d.h. es muss „ein Spieltrieb seyn, weil nur die Einheit“ von Formtrieb und Stofftrieb die Intaktheit der menschlichen Existenz verbürgt, d.h. „den Begriff der Menschheit vollendet“ (59).
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Schönheit Der Spieltrieb lässt sich nicht begründen. Er gewährleistet Verbindung. Er verbürgt vorgängig das lebendige Band zwischen denen, die miteinander im Spiel stehen. Als verbindende Kraft ist er gerade nicht auf den Seiten derer zu verorten, die miteinander im Wechselspiel gehalten werden. Der Spieltrieb macht die Bewegung und den Raum und das Spielerische des Spiels aus zwischen den Seiten. Gewinnt so der Spieltrieb Realität in der Weise der Intaktheit menschlichen Lebens, so gewinnt Realität das, was Schiller „in weitester Bedeutung Schönheit nennt“ (58). Schönheit offenbart sich in der Intaktheit des Spiels und gerade nicht genuin in denen, die miteinander im Spiel gehalten werden. Schönheit ist Sache des Spielraums, den der Spieltrieb offen hält. Der Spielraum ist bestimmt durch Nähe und Ferne. Beide gewinnen „wunderbare Rührung“ (64), d.h. gefühlte und bewusste Realität im dynamischen Geschehen der Schönheit. Sie nämlich beruht in einem offenen Changieren zwischen Nähe und Ferne, zwischen sinnlicher Unmittelbarkeit und geistiger Vermittlung. Schönheit konstituiert sich im Spiel zwischen innigster Nähe und äußerster Distanz. Das zeigt sich, so Schiller, darin, dass wir kraft der Schönheit einerseits „ergriffen und angezogen“, andererseits „in der Ferne gehalten werden“ (ebd.). Deshalb „befinden wir uns“, von ihr ergriffen, „zugleich in dem Zustand der höchsten Ruhe und der höchsten Bewegung“ (ebd.). Der Spieltrieb ist nicht mit Händen, auch nicht mit Begriffen zu greifen im Spiel, das sich zwischen lauter Greifbarem und Begreifbarem abspielt. Dasselbe gilt für die Schönheit. Entsprechend hat – wie für den Spieltrieb – für die Schönheit „der Verstand keinen Begriff und die Sprache keinen Namen“ (ebd.). Unfassbar ist Schönheit, unerforschlich wie der Spieltrieb. Und doch sind gerade sie entscheidend. Für die Wesensbestimmung des Menschen, die Schiller auf diese Weise gewinnt, erhält der Schönheitsbegriff fundamentale Bedeutung. Dafür könnte es keinen besseren Beleg geben als die Tatsache, dass Schiller die Realisierung der Menschheit und die Realisierung der Schönheit kongruent setzt. Mit der Forderung „es soll eine Menschheit existieren“ sieht er zugleich „das Gesetz aufgestellt: es soll eine Schönheit seyn“ (59). Und mit der ästheti-
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schen Erziehung ist die Gewinnung eben jener „Menschheit“ intendiert, die jeder Mensch – der Möglichkeit nach – in sich trägt. Wo die Schönheit zur vollen Manifestation gelangt, da findet erst der Mensch zur Intaktheit seiner Natur, d.h. zu seiner eigentlichen Menschheit. Das ist die zentrale These. In ihr kulminiert Schillers Schrift. Er beschreitet in seiner Besinnung auf das Wesen des Ästhetischen einen Weg, der fortführt von Vorstellungen, die vordem an den Schönheitsbegriff geknüpft waren. Danach stünde einzig in Frage, ob Schönheit im menschlichen Subjekt oder in den Objekten, die er gewahrt, anzusiedeln wäre. Keines von beidem trifft nach Schillers Betrachtung zu. Menschheit gibt es nicht ohne Schönheit. Unter „Menschheit“ versteht Schiller nicht, wie heute üblich, den Ober- und Sammelbegriff aller Menschen in der Welt überhaupt. Vielmehr zielt der Terminus auf die conditio humana, das eigentlich Menschliche oder Wesenhafte des Menschen. Dabei geht Schiller von der These aus, dass diese Menschheit in jedem Menschen angelegt, dass sie aber als solche allererst zur Verwirklichung gelangen muss. Verwirklicht aber wird die Menschheit in jedem Menschen, indem Schönheit zur Verwirklichung gelangt. Schönheit wird nach Schillers Befund zu einem Beziehungsbegriff. Sie liegt in der Beziehung zwischen Mensch und Mensch, zwischen dem Menschen und den Dingen. Damit bestätigt sich, dass Schönheit keinen statischen Charakter hat. Schiller nennt sie „energische Schönheit“ (66). Als Energie des Zusammenhalts entfaltet sie sich. „Die Schönheit“, sagt er, „verknüpft zwey Zustände miteinander, die einander entgegengesetzt sind“ (71). Energisch verknüpft wird durch sie das Bei-sich-sein, das durch den Formtrieb, und das In-der-Welt-sein, das durch den sinnlichen Trieb verbürgt ist. Wenn Schiller mit Recht die Realität der Menschheit mit der Realität der Schönheit kongruent setzt, muss auch das Menschliche des Menschen, muss auch dessen eigentliche Menschheit mit der intakten Beziehung zu tun haben, die sich zwischen Mensch und Mensch, zwischen Mensch und Welt vollzieht. Demnach ist die Menschheit des Menschen – ebenso wie die Schönheit – im vielfältigen Geschehen, in der Dynamik jener Beziehungen zu verorten – und nicht auf einer der Seiten, zwischen denen die Beziehung vonstattengeht.
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Schönheit ist in der Beziehung manifest. Daraus ergibt sich, dass die Schönheit auch beide Pole dieser Beziehung umfasst, das Selbstbewusstsein des Menschen einerseits, die sinnlich gegebene Realität andererseits. Deshalb wird durch „die Schönheit“, sagt Schiller, „der sinnliche Mensch zur Form und zum Denken geleitet“, umgekehrt aber „durch die Schönheit“ auch „der geistige Mensch zur Materie zurückgeführt“ und „der Sinnenwelt wiedergegeben“ (70). So hat die Erfahrung der Schönheit ebenso hochgradig sinnliche wie höchste geistige Aspekte. Indem sie sinnliche Nähe und geistige Distanz zusammenhält, bleibt jener Spielraum zur Realisierung des Spieltriebes gewährt, der nur so beide Grundkräfte des Menschen, den sinnlichen Trieb und den Formtrieb, im taktvollen Zusammenspiel hält.
Ausblick auf Heute Schönheit gibt es nicht überall und jederzeit, wie wenn der Mensch sie lediglich wahrzunehmen und zu empfinden bräuchte. Nur unter bestimmten Voraussetzungen gelangt sie im menschlichen Leben zur energischen Entfaltung. Schiller sieht, dass die Realisierung der Schönheit für den Menschen in individueller wie in gesellschaftlicher Hinsicht von größter Bedeutung ist. Deshalb eben muss für ihn die ästhetische Erziehung derartige Wichtigkeit erlangen. Wenn wir Schiller folgen und das Phänomen der Schönheit mit dem Spieltrieb in Verbindung bringen, dann lässt sich die Frage konkreter formulieren: Wie nämlich gelangt der Spieltrieb und mit ihm die Schönheit zur bestmöglichen Entfaltung? Ich komme noch einmal zurück auf das Motiv des Herzens. Naheliegend scheint, das Triebgeschehen, um das es bei Schiller geht, mit diesem Motiv assoziiert zu sehen. An das Herz sehe ich den Spieltrieb und damit das antagonistische Zusammenspiel des sinnlichen und des Formtriebs ursprünglich gebunden. So ist das Herz zum einen sich durchhaltende Manifestation derjenigen Bewegung, die wir als Urform des menschlichen Selbstbewusstseins anzusprechen haben. Zum anderen aber ist das Herz auch Inbegriff der sinnlichen Empfindung des Menschen, vermöge derer er wechselnde Zustände durchläuft. Gemäß dieser zweifachen Funktion kann das Herz tatsächlich als dasjenige Organ betrachtet werden, in dem permanent das Zu-
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sammenspiel von Formtrieb und sinnlichem Trieb sich vollzieht. Das Herz, so erwog ich, ist Taktgeber dieses Spiels, ist das eigentliche Organ des Spieltriebes, ohne dass es allerdings als genuiner Verursacher dieses Triebes gelten dürfte. Sofern aber, wie wir sahen, für Schiller die Intaktheit des Spieltriebes mit der Realisierung der Schönheit unauflöslich verbunden ist, muss das Herz – als Organ des ursprünglichen Spieltriebes – auch angesprochen werden als eigentliches Organ der Realisierung der Schönheit. Das Herz ist Organ der Schönheit. Damit ist nicht gemeint, dass es sie verursacht. Vielmehr ist es der angestammte Ort ihrer möglichen Manifestation. Das Organ des Herzens ist der Ort des Zusammenspiels von sinnlichem Trieb und Formtrieb. So ist es auch der Ort, an dem das Zusammenspiel des selbstbewussten Menschen und der sinnlich gegebenen Welt sich vollzieht. Das Herz gehört nicht dem Menschen. Der Mensch gehört dem Herzen, das ihn als einen Mitspielenden im Spiel hält. Es verbindet ihn mit ihm selber, und es verbindet ihn mit der Welt. Das Herz ist das Organ der internen und externen Beziehungen. In ihm und mit ihm spielen sich diese Beziehungen ab. Das dynamische Geschehen der Schönheit gewinnt Realität dort, wo die Beziehungen des Menschen im rechten Takt sich vollziehen. Das zeigt sich bereits in der ursprünglichen Selbstbeziehung, derart nämlich, dass hier das Zusammenspiel der beiden Grundtriebe im angemessenen Takt vonstattengeht. Weder überwiegt jetzt der Formtrieb noch der sinnliche Trieb. Beide arbeiten zusammen. Beide stehen in polarer Spannung und bedingen sich dieserart zugleich. Beide braucht der Mensch. Der Mensch kann sich darin üben, sich dem Taktgeber seiner Lebensbeziehungen zu fügen. Sofern dies gelingt, wird Schönheit wirklich. Aber noch etwas anderes ist dann die Konsequenz. Denn mit der Schönheit, sofern deren Realität im angemessenen Takt der Beziehungen des Menschen gegeben ist, gewinnt auch das Ethische Realität. Mit dem Ethischen steht das Gute zur Disposition. Inbegriff des Guten nenne ich die Güte. Der Begriff der Güte kennzeichnet ganz sachlich das, was gut ist. Aber auch Milde und Mitempfinden umfasst er. In dem, was Schiller einen sittlichen Charakter nennt (vgl. 14), ist diese Güte angesprochen. Auch sie findet sich im angemessenen Takt der Beziehungen. Schönheit wie Güte bilden die Intaktheit des Zusammenspiels. Ästhetische Erziehung setzt sich deshalb, indem sie auf die Entfaltung der 92
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Schönheit abzielt, die Realisierung jener Güte im Menschen zur Aufgabe. Schönheit und Güte finden sich nur gemeinsam oder gar nicht. Der Begriff der Intaktheit der menschlichen Lebensbewegung lässt sich somit noch weiter fassen. Er betrifft das Ganze der anthropologischen Neubestimmung insofern, als in ihm die unauflösliche Zusammengehörigkeit des Ästhetischen und des Ethischen angezeigt ist. Damit wird Intaktheit zur Voraussetzung neu fundierter Moralität, anstatt dass diese Intaktheit selber erst zum Ziel moralischer Forderung gemacht werden könnte. Zur Intaktheit des Menschen kommt es nicht, indem Vernunft sie mit Berufung auf Moralgesetzlichkeit vorschreibt. Umgekehrt vielmehr kann vermutet werden, dass in der ästhetisch gewonnenen Intaktheit des Menschen Vernunft erst zu sich selber kommt, indem sie im Vernehmen dessen aufgeht, was das Herz sagt. Von tiefer her gelangt dann das ethisch Notwendige zur Empfindung. So erst gerät in den Fokus der Vernunft, was nur durch das Herz zum Kopf, nur durch das Ästhetische zur ethischen Grundhaltung seinen Weg nimmt. Bestätigen müsste sich hier, dass lebendige Empfindung, nicht starres Gesetz zur freiwillig, d.h. mit Freude, mit gutem Gefühl geleisteten Umsetzung des Notwendigen führt. Wenig gilt hier die Restriktion rationaler Einsicht allein und viel das Hörenlernen auf das Herz. Denn rationale Einsicht gründet überhaupt erst in diesem Hören auf das Herz, auf dessen Gefühl und Empathie. Gefühl und Empathie aber haben mit Empfindung, also mit Ästhetik, also mit der Erfahrung von Schönheit zu tun. Diese zu machen ist unabdingbar gefordert, soll Intaktheit, nämlich das Heile, nämlich die Ganzheit von Herz und Vernunft und so erst moralische Integrität des Menschen, soll also seine Güte lebendige Gestalt gewinnen. Ohne Schönheit vermag die Güte des Menschen sich nicht durchzusetzen. Die Schönheit ist die eigentliche Atmosphäre, in der die Güte gedeiht. Beide erweisen sich als Implikationen der neuen anthropologischen Bestimmung. In Schönheit und Güte beruht das Humane der eigentlichen Humanität. Damit ist der von Schiller vorgeschlagene Weg der ästhetischen Erziehung noch nicht gegangen. Aber er ist gewiesen. Ob der Mensch, ob wir selber diesen Weg gehen, konnte Schiller weder voraussehen noch bestimmen. Einschätzen konnte er allerdings, dass die anstehende „Aufgabe für mehr als Ein Jahrhundert“ (30) den Menschen for93
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dern würde. Es liegt nun und noch immer an uns, mit seinem Vorschlag Ernst zu machen in der Kultivierung des Spieltriebes, in der Erziehung zum angemessenen Takt unserer internen und externen Beziehungen. Folgen wir Schiller, so hängt daran das Bestehen von uns Menschen als Individuen ebenso wie die Möglichkeit intakten Zusammenlebens im Sinne einer auf Schönheit und Güte basierenden Humanität, in der sich die Menschheit des Menschen realisiert.
Literatur Eckermann, Johann Peter (1981): Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Frankfurt a.M./Leipzig: Insel Verlag. Goethe, Johann Wolfgang (2006): Maximen und Reflexionen. München: C.H.Beck/dtv. Hölderlin, Friedrich (1947): Werke in vier Bänden. Stuttgart: Walter Hädecke Verlag. Oberthür, Johnnes (2006): „Das Unbewusste in der Kunst – von Schelling und Nietzsche zu Klee und Beuys“. In: Buchholz, Michael B./Gödde, Günter (Hg.): Das Unbewusste in der Praxis. Erfahrungen verschiedener Professionen. Das Unbewusste, Bd. III. Gießen: Psychosozial Verlag, S. 650–686. Schiller, Friedrich (2000): Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Philipp Reclam jun.: Stuttgart.
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Karin Dannecker
Taktlose Kunst
Die vielleicht vordringlichste der Kunst auferlegte Aufgabe besteht in der Überschreitung von Grenzen. Künstler werden bewundert, geliebt und gehasst, weil es ihnen gelingt, bestehende Sichtweisen und Werteschemata infrage zu stellen, zu dekonstruieren und neue Weltsichten zu produzieren. Der Kunst werden magische Kräfte zugesprochen, weil sie den Betrachter mit persönlichen und gesellschaftlichen Weisen des Wahrnehmens und Empfindens konfrontiert. Viele Menschen sind überzeugt, dass Kunst für manche Bereiche des Seins der einzige Weg der Erkenntnisgewinnung darstellt. Konsens besteht jedoch ebenso in der Feststellung, dass Kunst moralisch fragwürdige Folgen haben kann, indem sie Verstand, Gefühle und Verhalten korrumpiert und zu unterschiedlichsten Formen von aggressiven, anklagenden und lebensbedrohlichen Handlungen führt. Mit Zartsinn, dem veralteten Wort für Taktgefühl, scheint Kunst demnach nicht viel zu tun zu haben. Der Kontrast von künstlerischem Denken und Handeln auf der einen und ethisch moralischem, auf Rücksicht, Schonung, gezügelten Leidenschaften und Angemessenheit zielendem Verhalten, das man allgemein mit dem Taktgefühl verbindet, auf der anderen Seite, könnte zu der Annahme führen, dass hier kaum eine Brücke zu schlagen ist. Zu polarisiert erscheinen die Ideen und die Zielsetzungen von Kunst und taktgebundenem Ethos. Die schwierige Gestaltung von Beziehungsmöglichkeiten von Ethik, zu der hier das richtige, an Bedachtsamkeit und von Verzicht geleitete Verhalten im Kontakt mit anderen gezählt wird, und den radikalen Anforderungen von künstlerisch-ästhetischen Gegenständen, fasst Schérer knapp zusammen: „Aus Prinzip und per definitionem kann die Ethik keinen Exzeß hinnehmen; die Ästhetik aber geht zugrunde, wenn sie nicht die Richtung des Exzesses einschlagen darf. [...] Wenn man unter Ästhetik die freie Entfaltung des künstlerischen Schaffens versteht, hat sie nichts mit Ethik zu tun. Überall dort, wo dieses Schaffen auf moralische Beschrän-
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kungen stößt, triumphiert die Ästhetik doch über ihre Zensoren“ (Schérer 1994: 218).
Das Dilemma lautet demzufolge: Kunst muss über die (gewohnten) Stränge schlagen, sie darf nicht behutsam, „taktisch“ sein, sondern muss dem Unkontrollierten, nicht Berechenbaren und Ungewissen Raum geben, um zu einem überzeugenden Ergebnis zu gelangen. Dagegen sind im Takt die „Kunst des Umgangs mit Menschen“ (Knigge), Bezähmung von Impulsen, Erspüren des richtigen Maßes und die Fähigkeit, das Richtige in delikaten Situationen zu sagen oder zu tun, subsumiert. Takt will Überraschungen ausklammern, jeglichen Moment von Unsicherheit vermeiden. Um das problematische Verhältnis von Kunst und Takt zu untersuchen, werden im Folgenden zuerst einige Orte, Zeiten und Erfahrungen in der bildenden Kunst und ihrer Geschichte beleuchtet, die von der Macht der Kunst zeugen, Menschen zu kränken und zu verletzen mitsamt den entsprechenden mehr oder weniger folgenreichen Reaktionen. Sogar von Zuspitzungen kann die Rede sein in der Weise, dass der Gebrauch von Kunst von manchen Menschen als Missbrauch empfunden wird – so intrinsisch unvereinbar scheint sie mit den Regeln des Anstands und der Schonung (Plessner) und den damit verbundenen sozialen, politischen und religiösen Einstellungen – mit den gelegentlich drastischen Folgen für betroffene Künstler, ebenso wie für ihre Werke. Seit dem Iconic Turn, einer die Wende zum 21. Jahrhundert markierenden Formel zur methodischen Schärfung der BildDisziplinen (Bredekamp 2005: 16), treibt Bildwissenschaftler verstärkt die Frage um, was die Kunst will. Man versucht, den Sinn zu erfassen, den Bilder erzeugen (Boehm 2010). Ihre ureigene Kraft mit einer eigenen Logik zu nutzen, zählt deutlicher denn je zuvor zu den Grundbedürfnissen der Menschheit. Sichtbare Zeugnisse für einen das Leben begleitenden ästhetischen Impuls finden wir schon in den prähistorischen Felsenmalereien, ebenso wie sie im ersten Kritzel des Kleinkindes enthalten sind, das – sobald es in der Lage ist – danach strebt, eine gestische Spur mit dem Stift zu hinterlassen. Das führt zu grundsätzlichen Fragen: Wie lässt sich dieser Drang zum Bilder-Schaffen erklären? Weshalb ist es offensichtlich (für manche sogar überlebens-) notwendig, Bilder, Objekte, Kunstgegenstände in die Welt zu setzen, was
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KARIN DANNECKER: TAKTLOSE KUNST
dennoch hoch ambivalent besetzt sein kann? Dazu einige Überlegungen: Den Status eines Kunstgegenstandes kann man beschreiben als ein Objekt, das physisch präsent ist – gemacht aus Farben, Leinwand, Papier, Stein, Metall etc. – und dennoch auf Anderes verweist: unwillkürlich fordert es Einbildungskraft, weckt subjektive Wahrnehmungsprozesse – also Vorgänge, die dem Symbolisierungsprozess eigen sind. In einem künstlerischen Objekt ist etwas zu sehen und rührt zugleich an etwas, was nicht dinghaft erfasst werden kann, jedoch auf rätselhafte Weise hineingelegt wurde. Jeder Darstellung geht nach Boehm ein Verbergen voraus. Ihr Sinn erschließt sich, wenn sich Verborgenes und sichtbare Bildelemente verschränken (ebd.: 69). Die geheimnisvolle Verbindung von Innen und Außen, von Anwesendem und Abwesendem ist das zentrale Charakteristikum von Kunst. Die Wirkung von Kunst braucht den Beitrag des Künstlers und den des Schauenden, des Rezipienten. Wenn Kunst wahrgenommen wird spinnt sich ein Beziehungsgeflecht zwischen den Beteiligten, das Kommunikation und Verständigung erfordert. What you see ist what you see formulierte in den 50er Jahren der amerikanische Minimal Art Künstler Frank Stella und verwies damit auf die Subjekt-Objekt-Konstruktion in der Kunstwahrnehmung als inhärenten Teil der Bedeutung eines Werkes. Unausgesprochen steht implizit dahinter, dass das, was man sieht, davon abhängt, was man zu sehen in der Lage ist, was man sehen möchte, sehen kann und man gewillt ist zu sehen. (What you see is what you are able to see, care to see, can see, are willing to see). In der Diskussion um das Dreieck Künstler-KunstwerkRezipient wird der Betrachter als Bedeutungsverleiher heute selbstverständlich mitgedacht. Menschen reagieren auf Kunst vor dem Hintergrund persönlicher, sinnlicher und geistiger Erfahrungen. Entsprechende Gefühle, Fantasien, Gedanken, Assoziationen werden geweckt und produzieren nicht zuletzt auch Handlungen. Kunst richtet immer einen Appell an den Betrachter, unmittelbar ist dieser in der Rolle eines Gegenübers. Auf diese Aufforderung gilt es zu reagieren. Unter vielen Möglichkeiten der Kunstwirkung (wie beispielsweise Freude oder Trost zu erfahren, oder Bewunderung zu wecken) muss auch damit gerechnet werden, dass Bilder als ungehörig, abstoßend und grenzüberschreitend empfunden werden. 97
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Wenn in dieser Weise von Bildern oder Skulpturen gesprochen wird, bemerkt man kaum, dass von einer merkwürdigen Haltung gegenüber künstlerischen Objekten ausgegangen wird. Scheinbar selbstverständlich werden Kunstgegenständen Eigenschaften zugestanden, die sonst Menschen vorbehalten sind. Bilder werden wie Lebewesen behandelt, man spricht über sie und verhält sich zu ihnen, als hätten sie eine ganz eigene Seele mit Willens- und Wirkkräften, mit Absichten und Bedürfnissen. Für viele Kunst-Schaffende ist die lebendige Wirkung ihres Werkes ein wichtiges Credo und Qualitätsmerkmal (Dannecker 2006). Und dennoch sind Bilder und Skulpturen bloß materielle Objekte aus Farben, Papier, Leinwand oder Stein, sie sind Gegenstände, geschaffen aus amorphen, physischen Stoffen. Wie der Kunsttheoretiker Mitchell feststellt, wird kein moderner, rationaler, säkularer Mensch denken, dass Bilder wie Personen behandelt werden müssen, und doch sind wir stets gewillt, für besondere Fälle Ausnahmen zu machen. Das trifft für wertvolle Kunst ebenso zu wie für die Bilder im Alltag. Trotz aller Bemühungen von Wissenschaftlern und anderen Denkern besitzt das Vermögen von Kunstgegenständen, menschliche Gefühle und Verhaltensweisen hervorzurufen, immer noch etwas Geheimnisvolles, das sich einer vollständig rationalen Erklärung entzieht. Dass mit der Kunst eine Begegnung mit sich selbst in Gang kommt, wollen manche nicht wahr haben, zu absurd erscheint der Gedanke, dass totem Material Eigenschaften wie einem anderen Menschen zugestanden werden sollen. Mitchell empfiehlt – sollte jemand an der magischen Beziehung zwischen einem Bild und dem, was es darstellt, zweifeln – dass man denjenigen darum bitte, eine Fotografie seiner Mutter zu nehmen und dieser die Augen auszuschneiden. Obwohl jeder Mensch weiß, dass eine Fotografie seiner Mutter nicht lebendig ist, würde er sich dagegen sträuben, diese zu entstellen oder zu zerstören (Mitchell 2008: 25, 49). Eine Aufforderung dieser Art weckt Gefühle in einem für fast jeden emotionalen sensiblen Beziehungsband und wird mit großer Wahrscheinlichkeit als fantasierte grenzüberschreitende, aggressive Handlung zurückgewiesen. Die Verlebendigung als „anthropologische Universalie“ (Mitchell) gehört zu den Voraussetzungen, um zu verstehen, warum Menschen sich von Bildern beleidigen und ärgern, sich von ihnen zu Reaktionen der Wut und Zerstörung hinreißen lassen. Nicht im 98
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Werk, sondern in der Psyche des Betrachters liegt die entscheidende Differenz. Es kommt durchaus vor, dass ein Künstler mit seiner Arbeit sehr bewusst darauf zielt, zu provozieren oder Missstände aufzuzeigen und damit berechenbar auf Unverständnis und Ablehnung seiner Arbeit stößt. Für unser Thema der taktlosen Kunst sind jedoch solche Werke und künstlerischen Prozesse von Interesse, die jenseits gezielter skandalträchtiger Akte und Aktionen in der Kunst aufzuspüren sind, nämlich dort, wo der Künstler nicht mit dieser Intention produziert hat, und eine Diskrepanz zwischen der erhofften Rezeption des Publikums und seiner unerwarteten Ablehnung auftritt. Damit ist die Rede von Ereignissen im Umgang mit Kunst, die geprägt sind von exzessiven, oft irrational erscheinenden Reaktionen des Publikums, aber auch der Künstler selbst. Wir sind dort angelangt, wo Takt ein Thema ist. Äußerungen von Zorn, Schmähungen, Attacken, Zerstörungen, Tabuverletzungen, Provokationen, Übertünchungen, staatlicher Zensur, Konfiszierungen und Bestrafung verweisen darauf, dass einzelne Menschen oder Gruppen sich von Kunst schlecht behandelt fühlen, weil sie die vom Takt verlangte Zurückhaltung und Anpassung an die begrenzten psychischen und physischen menschlichen Möglichkeiten nicht einhält. Anstatt Vor-Sicht(!) auszuüben, also vorher zu sichten, was gezeigt werden soll, macht sie Dinge sichtbar, die das Publikum in seiner Fähigkeit zur offenen Rezeption, Toleranz und Einsicht überfordern. Der Versuch zu begreifen, weshalb intensive Gefühle und Reaktionen durch das Werk entzündet werden, wird mit Blick auf einige neuere Erkenntnisse von Forschern aufschlussreich sein. Zwar fordern Bildwissenschaftler die Erweiterung der Disziplinen beim „Denken in Bildern und über Bilder“ (Bredekamp 2005: 15) und wenden sich neuerdings verstärkt auch an die Neurobiologen. Jedoch gibt es kaum Berührung zur Psychologie und psychoanalytischen Denkern, die ihrerseits mittlerweile einige wichtige Beiträge zur Psychodynamik des künstlerischen Prozesses geleistet haben. Interdisziplinär zwischen Kunst und Psychoanalyse angesiedelt kann die Kunsttherapie vermutlich einige Einsichten beitragen, weil sie explizit taktvoll mit etwas umgehen muss, was intrinsisch Taktlosigkeit voraussetzt: mit der Kunstproduktion von und mit Patienten.
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Ein Blick zurück soll zunächst zeigen, dass Grenzüberschreitungen die westliche Kulturgeschichte von Anfang an begleiten. Das älteste Dokument in der christlich-jüdischen Kultur für die potentiellen Folgen beim inadäquaten Umgang mit Bildern ist der Dekalog im Buch Exodus des Alten Testaments. Es beginnt mit einem Verbot, als Gott befiehlt: „Du sollst neben mir keine anderen Götter haben. Du sollst dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde. Du sollst dich nicht vor anderen Göttern niederwerfen und dich nicht verpflichten, ihnen zu dienen. Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott: Bei denen, die mir Feind sind, verfolge ich die Schuld der Väter an den Söhnen, an der dritten und vierten Generation“ (Das Buch Exodus 20,4 und 20,5 Die Zehn Gebote).
Aus Eifersucht droht der Allmächtige bei Übertretung seiner Gesetze mit Schlimmstem, nämlich Strafe und Verfolgung über Generationen. Ein vom Menschen geschaffenes Bildnis von ihm, dem Gott im Himmel, würde bedeuten, dass der Mensch selbst mit ihm vergleichbar wäre. Das käme der Beeinträchtigung seiner souveränen Distanz gleich (Boehm 2010: 57). Jahwe zielt auf die Erhaltung seiner Macht durch das Bildverbot. Schon Moses bescherte dieses Diktum ein Problem: Obwohl Jahwe ihn warnte, dass das Volk in Glaubensfragen leichtsinnig sei, konnte er nicht verhindern, dass es sich aus Metall und Schmuck ein Goldenes Kalb goss, es tanzend und sich vor ihm niederwerfend verehrte, weil sie ihren ursprünglichen und einzigen Gott abwesend glaubte. Die Strafe folgte prompt: „Der Herr schlug das Volk mit Unheil, weil sie das Kalb gemacht hatten, das Aaron anfertigen ließ“ (Exodus: 32,35). Mit Kränkung und Zorn reagierte der Allmächtige, weil sein Volk im goldenen Kalb ein Gottesbild geschaffen und statt seiner verehrt hat. Jene im Laufe der Kunstgeschichte entstandenen Gemälde, die eben diese Szene zum Motiv machten, können als die größte Idolatrie (Bilderverehrung) bezeichnet werden, wie zum Beispiel die Gemälde Der Tanz um das Goldene Kalb, z.B. 1530, von Lukas van Leyden, und 1634 von Nicolas Poussin). Freedberg (1989: 378-384) weist darauf hin, dass mit den besonders sinnlich repräsentierten
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Tanzszenen, der Großzügigkeit und Freude in diesen Bildern das krasse Gegenstück zu der restriktiven, Sinnlichkeit unterdrückenden Macht der Worte Gottes darstellt. Die Ironie darüber, dass wir damit Bilder bewundern, welche die negativen Folgen des Schauens, Bewunderns und Anbetens thematisieren, ist nicht zu übersehen.
Abb. 1: Nicolas Poussin, Tanz um das Goldenen Kalb, um 1634, National Gallery London Boehm bezeichnet den Zustand als unauflösliche Asymmetrie, weil Gott selbst den Menschen mit Adam und Eva nach seinem Abbild geschaffen hat (Genesis, Kap. 1, 26 und 27). Er darf ihm ähnlich, aber keineswegs äquivalent sein. Damit sichert sich der Schöpfergott das alleinige Verfügungsrecht über das Urbild, den Menschen in Gestalt des gesamten Menschengeschlechts. Jede Art von Gottesdarstellung zerstört die Andersartigkeit dessen und erfüllt den Tatbestand des Sakrilegs (Boehm 2010: 57f.). Mit Moses’ Zerstörung des Goldenen Kalbs in tausend Stücke wird ein bis heute währender Sturm auf Bilder und andere Werke der Kunst begründet: der Ikonoklasmus. Bei Moses war es eine äußere Norm, die von Gott selbst aufgestellt wurde, deren Übertretung zum Akt der Zerstörung und Vernichtung und Bestrafung führte. Ursprünglich wurde mit Ikonoklasmus nur die Zerstörung 101
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religiöser Bildwerke und der Widerstand gegen den religiösen Gebrauch von Bildern bezeichnet, während heute der Begriff wörtlich für die Zerstörung oder den Widerstand gegen Bilder und Kunstwerke und im übertragenen Sinn für den „Angriff auf angesehne Institutionen und Glaubenssätze steht, die als trügerisch oder abergläubisch angesehen werden, oder deren Beseitigung“ (Gamboni 1989: 18). Trotz der ursprünglichen, biblischen Anweisung hat die Anbetung und Verehrung von Bildern zum Glück nie aufgehört. Die Verletzung religiöser Gefühle mit der Präsentation von Gottesbildern führte in der Religionsgeschichte ungebrochen zu Akten des Protestes, der Ablehnung und Vernichtung. Dabei waren bis heute die Zielobjekte nicht nur Bildwerke selbst, sondern auch deren Schöpfer, wie uns Tötungsversuche an dem dänischen Zeichner der Mohammed-Karikaturen erschreckend deutlich vor Augen führen. In seinem Buch Bild und Kult gibt der Kunstwissenschaftler Belting zahlreiche Beispiele für die Unerwünschtheit von materiellen Bildern, wenn sie Theologen und Religionsanhängern die Macht zu entreißen drohten. Je nach Staat und Glauben musste man sich für oder gegen Bilder entscheiden, die deren Status förderten oder gefährdeten (Belting 2004: 18). Kirchen entzweiten sich an der Ikonographie, Menschen wurden verfolgt und diszipliniert, weil sie nicht die richtige Auffassung von Bildern und christlichen Symbolen vertraten. Belting erwähnt den Widerstand des Kirchenkritikers Matthias von Janov, der sich über die Verführbarkeit und Leichtgläubigkeit empörte, weil mit dem Missbrauch des Bildkults ein Mangel an Glauben und Tugend mit bloßen Kulthandlungen auszugleichen versucht werde. Kaiser Karl IV hatte in Prag Ende des 14. Jahrhunderts die Erlaubnis erteilt, dass Bilder als Stellvertreter des Heiligen verehrt werden und Kniebeugen empfangen dürften. Dies schade nach den Worten des Autors der Reinheit der Religion: „Wer in ein hölzernes oder steinernes Bild irgendeine göttliche Kraft hineinlegt, so dass man davor einen Schrecken und dafür Respekt und Liebe empfindet, vergißt, daß es sich um ein Holz ohne Wahrnehmung und Leben handelt, auch nicht konsekriert und mit Gottes Wort gesegnet ist“ (ebd.: 599). Hier führt der Kritiker vor Augen, dass in der übertriebenen und undifferenzierten Verwendung von Kultobjekten religiöse, vom eifersüchtigen Gott gesetzte Regeln übertreten 102
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werden und sich gegen sein ausdrückliches Verbot richten. Seither schwebt drohender Rückfall in die Anbetung von Götzenbildern über der Religion. Ein weiteres Beispiel für eine geforderte eindeutige Haltung zu Bildern vom christlichen Gott gibt die Lehre Calvins: „Wir glauben, dass es ein Verbrechen ist, Gott in sichtbarer Gestalt darzustellen. [...] So bleibt nur übrig, allein das zu malen und zu skulptieren, dessen unsere Augen fähig sind: Gottes Majestät, die unser Sehvermögen bei weitem übersteigt, darf nicht in unziemlichen Gestalten korrumpiert werden“ (ebd.: 613).
Der schweizerische Reformator hält jede Art von Gottesdarstellung im Bild für eine Beleidigung, weil Gott jenseits physischer Vorstellungsmöglichkeiten liegt. Wie schon im Alten Testament bildet aus seiner Sicht ausschließlich das immaterielle, abstrakte Wort die Brücke zu Gott. Mit dem Erscheinen Christi begann die Suche nach einem „wahren Bildnis“ des Gottessohns. Eine der hierzu gehörenden Legenden aus dem 6. Jahrhundert ist die des vera icon, des Bildnisses vom Antlitz Jesu in einem Schweißtuch, das die Heilige Veronika (daher ihr Name) dem Leidenden auf dem Kreuzweg reichte. Das vom Menschen undarstellbare, weil sonst dem Verdacht der Götzenverehrung ausgesetzte, Bild zeigt nicht das reale, wahre Gesicht, sondern wird sichtbar in der Ikone des Abdrucks. Aus dem 14. Jahrhundert ist eine weitere ähnliche Reliquie bekannt: das mutmaßliche Grabtuch Jesu mit seinem Körperabdruck, das in Turin aufbewahrt wird. Frappierend erinnern diese Nachweisversuche der Existenz einer weltbewegenden Machtgestalt an das Bild des toten Al-Qaida Führers Osama Bin Laden, veröffentlicht als Titelblatt einer Sonderausgabe des Time-Magazins anlässlich seiner Erschießung in Pakistan. Das Konterfei des Terroristen wird frontal abgebildet und seine Auslöschung mit zwei roten Pinselstrich-Diagonalen vollzogen. Am oberen Ende tropft die blutrote Farbe, um die Aktion mit einem künstlerischen Gestus zu unterstreichen und ihr Wahrheitscharakter zu bescheinigen.
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Abb. 2: Grabtuch im Original und als Negativ Abb. 3: REUTERS/TIME Magazine/Handout Beim Vergleich der Darstellungen verweist das Grabtuch auf die vergangene Lebendigkeit und damit die ersehnte Präsenz des Gottessohns, während das Antlitz des Terroristen mit den roten Strichen den deutlichen Nachweis der Auslöschung erbringt. Die nach der Erschießung durch die amerikanische Armee kursierenden Gerüchte und Zweifel an dessen Tod werden damit ikonografisch aus der Welt geschafft. Erst vor wenigen Jahrzehnten waren Fahndungsplakate mit ausgeixten schwarz-weißen Fotografien von gefangenen oder durch Suizid umgekommenen RAF-Terroristen ein gängiges Bild in deutschen Behördenräumen. Wie bei dem Kinderzeichenspiel Schiffe-Versenken endet der Vorgang des Ausixens mit dem Triumph des Gewinners. Dem Betrachter des Bin Laden-Titelblatts wird die Rolle des Mitakteurs zugewiesen: Es ist der Pinselstrich, von Hand gezogen, der den Akt des Auslöschens menschlich macht. Ein mit dem PC-Lineal gesetztes diagonales Kreuz hätte mit einer exakten Geometrie größere Distanz erzeugt. Mag der Betrachter eine planmäßige Tötung eins Massenmörders aus moralischen oder religiösen Gründen ablehnen, gerät er spätestens mit diesem Bild zum Komplizen der Vollzugssoldaten. Ein Gefühl von Unbehagen schleicht sich ein; Grenzen der eigenen ethischen Haltungen werden angetastet. Es braucht kritisches, das Symbol analysierendes Bewusstsein und Distanz, um die manipulierte Aggression zu bemerken. Diverse Medien zeigten Bin Ladens Bett in seiner letzten Residenz, auf dem er erschossen wurde: es wurde zu einem blutver104
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schmierten Relikt des Mörders. Der amerikanische Präsident hatte kein Foto der Leiche erlaubt, aber sein weltweit zur Verfügung gestelltes Grabtuch sollte den symbolischen Nachweis seiner Augenblicke zuvor stattgefundenen Tötung erbringen.
Abb. 4: Das Bett Bin Ladens, Foto REUTERS/ABC News/Handout Mit den Massenmedien wächst die Gier nach diesen und anderen Bildern von Katastrophen, Naturgewalt, Untergang und Überhöhung (wie Hochzeiten in Königshäusern oder Papstauftritte). Dieser regelrechte Bilderkrieg kann als Ausweg der Regression in die vorsprachliche Welt verstanden werden, denn Feindbilder sind mit Angst besetzt, die zwischen Gott und Teufel, Heiligsprechung und Verdammnis changieren: Zur Zivilisation gehört das Bilderverbot, die Abkehr von der Überhöhung des Anderen – Wissen um die Grenzen des Zeigbaren. Aber der Mensch will teilhaben, um zu begreifen, und das mit allen Sinnen: wenn schon kein Foto des Massenmörders, dann wenigstens das blutgetränkte Laken (Peitsch 2011: 23). Ablehnung und Anziehung von Bildern, Berührung und Überschreitung von Grenzen sind zwei Seiten einer Medaille. Hinter der empörend empfundenen Taktlosigkeit versteckt sich womöglich auch unerlaubtes sinnliches Begehren – zumindest soll die Schaulust auf ihre Kosten kommen. Religiös produzierte Scham bewirkt in der Geschichte der Kunst bis heute Gefühlsverletzungen und Zurückweisung mit bis zum Teil drastischen Folgen. Menschen fühlen sich gekränkt von künstlerischen Darstellungen der wichtigsten biblischen Gestalten
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und Szenen. Selbst ein verehrtes Werk wie das Fresko des Jüngsten Gerichts des genialen Michelangelo, im Auftrag des Papstes 1536-41 in der Sixtinischen Kapelle in der Renaissance gemalt, rief schon vor der endgültigen Fertigstellung Protest und Kritik hervor. Die zahllosen unbekleideten, jungen und durchaus potenten Figuren zeigten für das Verständnis der Zeitgenossen zuviel der Blöße und sogar unzüchtige Haltungen. Der Künstler wurde aufgefordert, diese Stellen zu übermalen, da „die vielen nackten Leiber selbst ein Bordell erröten ließen“ (Schüler/Täuber 2008: 10). Sein Schüler Daniel da Volterra musste die Übermalungen vornehmen – er ging als „Höschenmaler“ (Barghettone) in die Geschichte ein. Bemerkenswert ist, dass im Jahr 1994 in einer von Papst Johannes Paul II. in Auftrag gegebenen restaurierten Fassung mit dem Ziel der Rückführung in den Originalzustand nicht alle Höschen entfernt wurden. Auch der Berliner Impressionist Max Liebermann bekam Probleme mit zuviel Haut, als er sein Gemälde des 12-jährigen Jesusknaben im Tempel 1879 bei der Internationalen Kunstausstellung zeigte. Es erntete wütende Kritik, weil der Knabe verdreckt und mit nackten Beinen dargestellt war. Das sei eine „Gotteslästerung“ urteilte das damalige Publikum (Faass 2008). Schwer wog bei den Beschimpfungen auch die Tatsache, dass sich ein jüdischer Maler an ein christliches Motiv wagte. Nach Faass bedeutete dies schon ein Symptom einer ersten Welle des Antisemitismus. Liebermann überarbeitete das Gemälde und gab dem ursprünglich dunkelhaarigen, barfüßigen Knaben mit Schläfenlocken und Hakennase eine Stupsnase und blondes Haar. Über die nackten Füße zog er Sandalen und verwandelte den kurzen Kittel in ein fließendes, wadenlanges Gewand. Zum Übermalen des Jesusknaben hatte sich Liebermann entschlossen, weil er keine religiösen Gefühle verletzen wollte (ebd.).
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Abb. 5: Reproduktion des Originals Abb. 6: Max Liebermann, Jesusknabe im Tempel, 1879, © Hamburger Kunsthalle/bpk, Foto: Elke Walford Ein anderes skandalträchtiges Motiv schuf der Surrealist Max Ernst 1926 mit seinem Gemälde Die Jungfrau Maria züchtigt das Jesuskind vor drei Zeugen: André Breton, Paul Éluard und dem Maler. Nicht nur die Kirche, sondern auch katholische Künstler waren erzürnt. Der Erzbischof veranlasste die Schließung der Secessionsausstellung, bei der das Bild gezeigt wurde, und exkommunizierte den Maler. Mehr als die Tatsache, dass das Jesuskind von der Muttergottes verhauen wird, schockierte die Kirchenväter, dass der Heiligenschein herunterrollt (Ernst zit.n. Schüler u.a. 2008: 106). Ganz im Sinne der surrealistischen antibürgerlichen Provokationen wandte sich der im katholischen Rheinland aufgewachsene Max Ernst gegen die zunehmende Travestie von Kirche und Gesellschaft. Dabei gestand er, auch autobiografische Züge in dem Bild untergebracht zu haben: Der strenge Vater hatte den kleinen Max regelmäßig verprügelt; andererseits hatte er, der Hobbymaler, den Sohn gerne als süßes Engelchen oder als Jesuskind portraitiert. Max Ernst hielt diese „Jesusparodie“ seines Vaters für nicht weniger sündhaft als seine eigene Madonnenparodie (ebd.). Die nach dem Vorbild von Renaissancegemälden gemalte, weiblich anziehende Madonna soll auch eine Anspielung auf erotische Abenteuer des Künstlers mit der Frau des Freundes Eluard sein, wie man ebenso in der körperlichen Verbindung zwischen der Mutter und dem Jesuskind eine inzestuöse Anmutung spüren kann. Max Ernst hatte schon früh das Sehen zu seiner Lieblingsbe-
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schäftigung erklärt und „die Augenlust“ zu den höchsten Freuden gerechnet (Springer 2008: 66).
Abb. 7: Max Ernst, Die Jungfrau züchtigt das Jesuskind vor drei Zeugen, 1926 Viele Taktlosigkeiten passieren in diesem Gemälde auf einmal: Die Surrealisten-Freunde sind Zeugen eines Bestrafungsakts, der jedes Kind beschämen würde, und umso ungehöriger ist, weil es der Sohn Gottes ist. Voyeure bedeuten hier eine besondere Erniedrigung. Dazu gibt die prügelnde Madonna ein Bild ab, das sie als die gütige, immerwährend milde Ikone entweiht, denn hier ist sie eine impulsive, strafende und ganz gewöhnliche, vielleicht genervte Mutter. Und der Verdacht taucht auf, dass Maria Erziehungsmaßnahmen unternehmen musste, weil der Jesusknabe Anlass dazu gegeben hat und entgegen seiner sonstigen makellosen Aura etwas Böses angestellt hat. Schließlich verliert er deswegen den Heiligenschein. Ein besonders sensibles Motiv scheint der gekreuzigte Jesus zu sein. Häufig provoziert es einen Umgang, der zumindest in den Augen frommer Christen als gotteslästerlich wahrgenommen wird und ihre Taktgrenzen überschreitet. Aus den zahlreichen 108
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folgenschweren Beispielen, die zu von Künstlern provozierten Gotteslästerungen zählen, sei die Geschichte des gekreuzigten Frosches des 1997 gestorbenen Künstlers Martin Kippenberger erwähnt. Im Frühjahr 2008 stellte in Südtirol das neue Kunstmuseum Museion in Bozen die Skulptur mit dem Titel Zuerst die Füße aus: Zu sehen war ein ans Kreuz genagelter, knallgrüner Frosch mit einem Bierglas in der einen und einem Ei in der anderen Hand, aus dem Maul hängt die Zunge, der Körper ist aufgeblasen, um die Hüften ist ein das Geschlechtsteil betonendes Tuch geschlungen.
Abb. 8: Martin Kippenberger, 1990, Foto dpa Das Museum erklärte, der Künstler habe dies in einer Krise als Selbstportrait mit seiner Angst und Alkoholsucht geschaffen und es habe nichts mit Religion zu tun. Dessen ungeachtet gab es eine riesige Protestbewegung, an deren Spitze der Papst sich stellte. Benedikt XVI hatte im Vorfeld seines geplanten Sommerurlaubs in Südtirol in scharfer Form um Abhängung gebeten, weil sich Menschen in ihren religiösen Gefühlen verletzt fühlten. Die TAZ berichtet über den Hasspegel der Leserbriefe, die solche Künstler ans Kreuz wünschten, es sollten Köpfe rollen. Die Wucht war nicht unähnlich dem biblischen Zorn des zürnenden Gottes des Alten Testaments, rachsüchtig und böse (Obexer 2008). Aus Protest trat der rechtslastige Regionalrat in den Hungerstreik und versprach sich populistischen Zuspruch in seinem gerade währenden Wahlkampf. Die Museumsdirektorin wurde als „Froschkönigin“ brüskiert – sie wurde öffentlich von den Schüt-
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zen des Ortes in Tracht und Lederhosen zur Abhängung der Skulptur zum Besuch des Papstes aufgefordert. Jedoch zeigte sich diese standhaft bis zum darauf folgenden Herbst, als es andere Gründe gab, das Frosch-Kreuz zu entfernen. Nun war man froh, „die Kirche wieder im Dorf zu haben.“ Dennoch gab es auch Stimmen, die fragten, weshalb unter den vielen Dingen, die eine Beleidigung darstellen können, niemand wegen der Not und des Hungers in der Welt beleidigt ist? (David zit.n. ebd.). Häufig bleibt es auch heute nicht beim Verabscheuen und Beklagen blasphemisch anmutender Darstellungen, wenn in der Bilderstürmerei gewaltsam Rache und Gerechtigkeit gesucht werden. Religiosität und Sexualität begründen die uralten Kreuzzüge zur Vernichtung der Idolatrie, zur Säuberung der Welt von Götzenbildern (Boehm 2009). Im April 2011 zerstörten in Avignon katholische Fundamentalisten mit Schneide- und Schlagwerkzeug zwei Werke des amerikanischen Fotokünstlers Andres Serrano. Das Foto hinter Glas mit dem Titel Piss Christ zeigte ein in Urin des Künstlers getauchtes Kruzifix. Das andere Objekt mit dem Titel The Church – Soeur Jeanne Myriam zeigte den Schoß und den Oberkörper einer meditierenden Ordensschwester. Der französische Kulturminister nannte den Angriff inakzeptabel, wer sich verletzt fühle, müsse sich an die Justiz wenden. Die Reaktion des Publikums war nicht neu: schon bei der ersten Präsentation 1989 in den USA hatte Piss Christ einen Skandal provoziert, der Künstler erhielt Todesdrohungen zugleich mit den Auszeichnungen für sein Werk. Die katholische Nonne und Kunstkritikerin Wendy Beckett erklärte – ganz im Gegensatz zu den Glaubensfundamentalisten –, dass dieses Werk keineswegs als Blasphemie zu verstehen sei, weil es das zeige „was wir Christus angetan haben“. Unter all den Gekränkten und Erbosten scheint diese Nonne eine Ausnahmeerscheinung zu sein, denn sie besitzt den Mut zu einer Wahrheit, die andere leugnen. Für sie bedeutet das Werk des Künstlers keine taktlose Grenzverletzung.
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Abb. 9: Spiegel Online 18.04.2011 Fast zur selben Zeit im Frühjahr 2011 sorgte eine lebensgroße Darstellung einer urinierenden Polizistin des Kunststudenten Marcel Walldorf für beträchtlichen Wirbel in seiner Studienstadt Dresden. Die prämierte Skulptur aus Silikon und Stahl und einer echten Kampfmontur trägt den Titel Pinkelnde Petra und weckte den Zorn des Innenministers mitsamt der Polizeigewerkschaft. Grundsätzlich habe man nichts gegen die Freiheit der Kunst, aber hier werde eine Grenze überschritten, Polizistinnen würden von Marcel Walldorf beleidigt und ihre Menschenwürde verletzt. Gar nicht zu verstehen wäre, dass ein solches Werk zudem einen Preis erhielte. Der Künstler konnte die Aufregung nicht nachvollziehen, er habe die Verletzlichkeit des Menschen darstellen wollen, der seines Schutzraums beraubt worden sei (Berliner Morgenpost 2011). Sein Professor Eberhard Bosselet stellte sich schützend vor ihn: Die Provokation, die in diesem Werk stecke, würde nicht durch den Produzenten, sondern den Betrachter produziert. Der Künstler hatte eine Situation in seiner Skulptur festgehalten, in der jeder Mensch sich verletzlich empfindet: entblößt vor den Augen Anderer, hockend notwendigen körperlichen Grundbedürfnissen folgend. Dieses Bild passte nicht zu der Vorstellung von überlegener Polizeimacht und durch Kampfuniform mit Helm und Schlagstock demonstrierter Unangreifbarkeit. „Oben“ und „unten“ dieser Polizistin gaben diese polarisierten Seiten wieder. Ihren Berufsstandsvertretern erschien diese Realität nicht akzeptabel.
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Abb. 10: Foto: ddp images/dapd/Norbert Millauer Bilderstürmer und Bildzerstörer sind, wie schon angedeutet, keineswegs nur die besonders Frommen oder politisch Radikalen. Überall dort, wo die Sinne und Lustgefühle im Betrachter besonders nach Resonanz drängen, fühlen sich Menschen schnell überfordert und brüskiert. Direkte sinnliche Präsenz von Sexualität und Nacktheit provoziert häufig aggressive, vernichtende, das Begehren strafende Reaktionen. Voyeuristische Impulse und Schamgefühle liegen nahe beieinander und sind für Viele nicht vereinbar. Die Kunstgeschichte zeugt davon, dass zahlreiche berühmte Meisterwerke mit erotischen Motiven erdulden mussten, dass man sie als anstößig empfand, wegschloss, übermalte oder in nicht wenigen Fällen physisch attackierte. Ein paar Beispiele verdeutlichen Umgangsweisen mit sinnlich getönten Bildern in verschiedenen Epochen auf der Basis der herrschenden Moral und gesellschaftlichen Grenzen. Eduard Manets berühmtes Gemälde Le Déjeuner sur L’Herbe von 1863 wurde von der Jury des damaligen Salons zurückgewiesen, weil es mit der Darstellung einer nackten Frau zwischen bekleideten Männern auf ein unanständiges, lockeres Leben zu Dritt verwies. Das Publikum war extrem irritiert und verhöhnte das Kunstwerk. Auch sein Gemälde Olympia von 1865 war von den Kritikern als Provokation aufgefasst worden, stellte es doch keine Göttin des Olymps, sondern eine nackte Kurtisane dar. Es führte zum Eklat; derweil soll sich bei der Ausstellungseröffnung die Schar der Schaulustigen auf die Füße getreten haben (Schüler/Täuber 2008: 54-59). 112
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Francisco de Goyas Bilderpaar der nackten und der bekleideten Maja (La Maja desnuda und La Maja vestida), entstanden zwischen 1798 und 1805, war ein Resultat eines malerischen Manövers zwischen einem unschicklicheren Anblick und der Tarnung durch einen unverfänglicheren (Springer 2008: 136). Die ausgezogene Spanierin („frech, lüstern, unanständig“), wurde von ihrem ersten Besitzer, dem Minister Godoy, ins Geheimkabinett verbannt und hatte den Zweck „zur Ergötzung seiner lüsternen Freunde“. In dessen Sammlung befand sich auch Diego Velázquez Venus im Spiegel, die ursprünglich ebenso wenig für eine öffentliche Präsentation im Museum bestimmt war. Im Jahr 1914 wurde das Gemälde in der Londoner Nationalgalerie von einer Suffragette namens Mary Richardson mit einem Messer aufgeschlitzt. Öffentlich wollte sie Aufmerksamkeit für die Not der Frauen als Sexobjekte erreichen und auf das Schicksal einer hungerstreikenden Mitstreiterin im Gefängnis hinweisen. Neben dem politischen Motiv gab sie auch an, dass sie es nicht mochte „wenn die männlichen Besucher den ganzen Tag lang darauf stierten“ (Freedberg 1989: 410). Vermutlich steckten hinter der bewusst-rationalen Begründung widersprüchliche Gefühle dem eigenen Gewerbe gegenüber und möglicherweise auch Ambivalenz bezüglich der hier öffentlich zur Schau gestellten Sinnlichkeit. Wie Menschen in Bildern verehrt werden, weil sie besonders schön und anmutig sind wie die Venus, werden sie auch angegriffen und verletzt.
Abb. 11: Diego Velásquez, Venus vor dem Spiegel (Rokeby-Venus) um 1640, Foto nach der Zerstörung 1914
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Mit Verhüllung versuchten nicht wenige Besitzer enthüllter Frauenfigurengemälde potenziell (ver)urteilenden Blicken zu entgehen. Zu den prominentesten gehört Gustave Courbets Der Ursprung der Welt, 1866. Als „Lust-Stück“ für den kurzsichtigen Voyeur bestimmt, erlaubt es quasi die sexuelle Inbesitznahme der Frau und akzentuiert die vermeintlich schamlose Scham (ebd.: 149). Auch dieses Gemälde war als „privates Genussmittel“ bestellt und hatte je nach Besitzer Zeiten hinter dem Badezimmervorhang, einem Kasten oder einem verschließbaren Doppelrahmen bei dem Psychoanalytiker Jacques Lacan verbracht, bevor es im Musée d’Orsay seinen Ort fand und heute für jeden Betrachter zugänglich ist. Diskret wird im Ausstellungsraum darauf verwiesen, dass Eltern ihre Kinder entsprechend instruieren sollen.
Abb. 12: Gustave Courbet, L’Origine du Monde, Musée d’Orsay, Paris Eine brisante Kunstverhüllung geschah am 5. Februar 2005, als in New York vor der UN die große Tapisserie nach Picassos Guernica mit einem blauen Tuch verhängt wurde, bevor der amerikanische Außenminister Colin Powell die Weltöffentlichkeit von der Notwendigkeit des Krieges im Irak zu überzeugen versuchte. Diplomaten gestanden ein, dass die Welt schwerlich vor diesem aufwühlenden Antikriegsbild von der Notwendigkeit eines Militärschlags überzeugt werden könnte. Dieser symbolische Akt, so der Kommentar in der FAZ, beschädigt nicht nur die Erinnerung, die Picassos Ereignisbild beschwört, er beschädigt auch die menschliche Gabe, im klaren Bewusstsein der Leiden und im Angesicht der
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Opfer – seien sie auch nur gemalt – über Krieg oder Frieden zu streiten (Frankfurter Allgemeine Zeitung 2003: 31). Bredekamp nennt es „die Furcht vor dem Blickpotential des Kunstwerks“, die zum Verhüllen veranlasst. Es sei ein Versuch der Distanznahme, die aber von dem Zwiespalt betroffen sei, Angst zu bannen und verstärken zu können. Gemäß MerleauPontys Diktum, dass Sehen eine Form des Tastens sei, bedränge das Sichtbare den Sehenden mit der Wirkung seiner souveränen Existenz (Bredekamp 2010: 236f.). Um sich der Macht des Blickes entziehen oder Kontrolle ausüben zu können, ist die Verhüllung den radikalen Ikonoklasten nicht genug. Zahlreiche Bildzerstörungen führen vor, wie in Darstellungen von Körpern vor allem die Sinnesorgane Ziel von Auslöschungsversuchen wurden: Gesichtern wurden zuvorderst die Augen ausgestochen, aber auch die Nasen abgeschlagen, mit Säure bespritzt. Wieder kann man davon ausgehen, dass die dargestellte Figur als lebendiger Charakter behandelt wird: zerstört man das Bild, so zerstört man die Person, die es geschaffen hat. Aus diesem Grund sind es vor allem die Augen, die am häufigsten angegriffen werden – wenn sie gebrochen sind, ist der Mensch im Bild tot. Ikonoklastische Handlungen beschränken sich jedoch nicht auf Körperdarstellungen. Traditionelle künstlerische Formen wurden in der Moderne abgelöst von ästhetischen, avantgardistischen Entwicklungen wie der Abstraktion und ungewöhnlichen Materialien, wie sie auch im Alltag zu finden sind. Diese künstlerischen Entwicklungen stoßen bei großen Teilen der Bevölkerung auf Unverständnis und provozieren unter Umständen enorme Wut, manchmal mit der Folge von drastischen Zerstörungsaktionen. Neu ist in der Moderne, dass im Bild nicht ein substituierter Körper, sondern das Bild als Bild attackiert wurde (ebd.: 211). Berühmt wurde der Fall des Studenten Josef Nikolaus Kleer, der am 13. April 1982 in der Westberliner Nationalgalerie einen Anschlag auf Barnett Newmanns Gemälde Who is afraid of Red, Yellow and Blue IV ausübte, indem er Plastikteile der Absperrung herausriss und mit großer Wucht auf das große abstrakte Bild einschlug. Der psychotisch erkrankte Attentäter berichtete später, dass er angesichts des Bildes blitzartig Furcht verspürt habe und für einige Momente in regelrechte Angstzustände geraten sei (Pickshaus 1988: 74). Die im Titel ironisch angesprochene Angst 115
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fand offensichtlich ein direktes Pendant im seelischen Haushalt des Attentäters. Jedoch war es ihm unmöglich, Distanz durch bewusste Reflexion zu der herausfordernden Intensität der absoluten Farben und Flächen des Gemäldes herzustellen, und er antwortete auf seine eigenen Gefühle mit einer als kontraphobisch einzuschätzenden Gewaltaktion. Womöglich hatte das Bild Urängste vor Empfindungen der Leere und Vernichtung geweckt und damit die impulsive Handlung ausgelöst. Dennoch kann ein weiterer Aspekt nicht außer Acht gelassen werden, der eine Bewertung dieser Attacke ausschließlich aufgrund der psychischen Erkrankung relativiert. Angestachelt von der Boulevardpresse wurde in der öffentlichen Meinung in Anbetracht des Preises der Ankauf des Bildes als Zumutung empfunden, denn es hätte auch von einem Anstreicherlehrling angefertigt werden können. Kleer selbst gab an, er wäre in der Lage, ein vergleichbares Gemälde für einen Bruchteil des Ankaufspreises herzustellen. Die Ressentiments bezogen sich zugleich auf Preis und Kunstanspruch des Gemäldes. Die in die Kunstwelt nicht eingeweihten Menschen fühlten sich ausgestoßen durch eine Kunst, die den vertrauten Leistungsansprüchen widerspricht. Weil Kunst von Können komme, wäre hier nichts Besonderes zu erkennen. Die Empörung und Auflehnung kann dahingehend interpretiert werden, dass Kunst als überhebliche Angelegenheit einer wohl situierten Minderheit wahrgenommen wird. Die Ästhetik moderner Kunst scheint das Verständnis für die enormen Ausgaben zu strapazieren, die Museen und öffentliche Einrichtungen beim Erwerb von Kunstobjekten aufbringen. Angesichts der ökonomischen Lebensbedingungen, die Menschen zu Beschränkungen ihrer Lebensführung zwingen, kann ein derart teures Bild einer Verhöhnung der eigenen Lage gleichkommen (ebd.: 66f.). Dazu passen jene Geschichten, in denen Kunstwerke mit etwas anderem und vielleicht gar mit Müll verwechselt wurden (Gamboni 1998: 316). Wer dies bemerkt, steht vor der Entscheidung, den Betreffenden aufzuklären oder sich taktvoll zurückzuhalten – wie schon ein Cartoon im Jahr 1947 mit Witz süffisant illustrierte.
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Abb. 13: „I am not going to be the one to tell ’em it’s a ventilator“, New Yorker, 27. Dezember 1947 (In.: Melley/Glaves-Smith 1973) Die Beweggründe für ikonoklastische Handlungen liegen in dem Anspruch, Werke unter eine externe Norm zu bringen und sie gegebenenfalls zu vernichten. Ein Ikonoklast ist getrieben von der Mission, Künstler für ihre Überzeugungen und Gebräuche zu bestrafen und ihre Bilder zu entstellen und zu zerstören (Mitchell 2008: 37). Heute schließt das ein, dass bestehende Werke partiell oder ganz übermalt werden, um ihnen ein neues, nach Meinung des Künstlers passenderes Bild entgegenzusetzen (Boehm 2010: 64). Künstler übermalen Künstlerbilder oder dringen auf andere Weise ins Werk hinein. Berühmt wurde Robert Rauschenbergs Ausradierung einer Grafitzeichnung von Willem de Kooning im Jahr 1953. Die als sanfter Ikonoklasmus bezeichnete Tat beruhte auf dem Wunsch des jungen Rauschenberg, ein abstraktes Bild des damals bekanntesten amerikanischen Künstlers mit seiner Zerstörung zu feiern und zugleich die romantische Verklärung der Abstraktion jener Zeit infrage zu stellen. De Kooning war zwar einverstanden, aber nicht erfreut. Das Gemälde Erased de Kooning zwingt nun den Betrachter zum genauen Hinschauen und Nachspüren dieses Aktes. Die dadaistisch anmutende Aktion wurde von Rauschenbergs Biografen als symbolischer Akt der ödipalen Ermordung einer Generation von an der alten Welt orientierten Künstlern verstanden. Die Gemälde dieser Künstler enthielten nichts von dem, was die zeitgenössische Wahrheit ausmachte (http://www.escapeintolife.com). Nach anfänglichem Schock über die attackierende Handlung wurde Rauschenberg in 117
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der Kunstszene als Held gefeiert und das Bild gilt als Ikone des Paradigmenwechsels in der Kunst. Auslöschung als Negation betreibt auch der österreichische Künstler Arnulf Rainer. Mit seinen sichtbaren Übermalungen von Kreuzen, Fotografien anderer Menschen, Reproduktionen von Werken anderer Künstler wie dem Außenseiterkünstler Oskar Voll kommt er zu einem neuen Bild, nimmt es in Besitz. Anders als Rauschenberg hat er sich nicht die Erlaubnis seiner Bildgeber eingeholt; es muss offen bleiben, ob damit eine bilderstürmerische Taktlosigkeit begangen wird, oder der Akt der Übermalung eine Hommage im Rahmen einer künstlerischen Auseinandersetzung ist.
Abb. 14: Arnulf Rainer/Oskar Voll Zweifellos in die Kategorie taktloser Kunst eingereiht haben viele Engländer ein Gemälde des 1965 geborenen Künstlers Marcus Harvey. Die Royal Academy London zeigte es im Jahr 1997 in einer Ausstellung der Saatchi Galerie, die doppeldeutig betitelt wurde mit Sensation. Zu sehen war ein 396 x 320 cm großes Portrait der als schrecklichste Serienmörderin aller Zeiten geltenden Myra Hindley. Mit ihrem Partner Ian Brady hatte sie insgesamt fünf Kinder auf grausame Weise umgebracht und im Moor vergraben. Zusammen gingen sie als die Moormörder von England in die Geschichte des Verbrechens ein. Die bestialischen Taten des Paares hatten die englische Nation bis ins Mark getroffen und sie
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in einen Zustand des Schocks versetzt, von dem sie sich offensichtlich bis heute noch nicht erholt hat. Der Maler Harvey hatte das Portrait der berüchtigten Ikone des Bösen zusammengesetzt aus mit Schablonen aufgetragenen Kinderhänden. Es wirkt wie die riesige Vergrößerung eines Polizeifotos in kaltem Schwarz, Weiß und Grau (vgl. Katalog Sensation 1998: 198). Das unheimliche Bild wurde bei Ausstellungsbeginn sofort heftig angegriffen und führte zum Rücktritt einiger Mitglieder der Royal Academy. Aufgebrachte Besucher beschädigten es und schleuderten Tinte und Eier dagegen – das Gemälde musste temporär entfernt, restauriert und hinter Panzerglas gesetzt werden. Das ästhetisch Böse wirkte als unzumutbare Provokation im Land, wo die Eltern der Opfer und ein geschocktes Publikum lebten. Der Kunstkritiker der Times Richard Cork schrieb einen anders klingenden Kommentar: „Weit entfernt von der Ausbeutung ihrer berüchtigten Berühmtheit bestätigt das Grab und die monumentale Leinwand die Monstrosität ihres Verbrechens. Von weitem durch verschiedene Türöffnungen gesehen taucht das Gesicht Hindleys auf wie ein Gespenst. Wenn wir ihr dann so nahe kommen, dass wir erkennen, dass es über und über bedeckt ist mit Abdrücken von Kinderhänden, wird man von einem Gefühl der Bedrohung überwältigt“ (Cork, zit.n. Wikipedia: Marcus Harvey).
1998 war diese Ausstellung im Hamburger Bahnhof in Berlin zu sehen, das Bild erregte dort kaum die Gemüter wie zuvor in London. Zehn Jahre später tauchte es in einem Video auf, das als Promotionsfilm mit den kulturellen Highlights für die Bewerbung Londons für die olympischen Spiele entstanden war. Schon wieder gab es Anlass zu Rücknahmeforderungen, die Schockwirkung war nicht verflogen. Die Macht seiner Wirkung liegt in den winzigen Abdrücken der Kinderhände, die sich an das eiskalte Gesicht Myra Hindleys klammern und es vollkommen bedecken, gerade so als würden die Ermordeten aus den Gräbern sich nach ihr recken. In einem Interview sagte Harvey: „Ich dachte mir, dass ein Handabdruck das würdigste Bild sei, das ich finden könnte. Die einfachste Vorstellung von Unschuld absorbiert in all diesem Schmerz. Und das katapultiert die Sache in die Wirklichkeit“ (Harvey zit.n. The Guardian 2008).
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Abb. 15: Marcus Harvey, Myra, 1995, Ausschnitt aus: Katalog Sensation Harvey gelang es, die Aufmerksamkeit auf eine unfassbare Realität zu lenken. Dennoch stieß diese Konfrontation mit den monströsen Taten der Kindermörderin mittels der Kunst auf massive Ablehnung einer großen Anzahl von Menschen. Die Logik, die dahinter steht, lautet vermutlich: Normalerweise wird durch Kunst ein Gegenstand gewürdigt und in seiner Bedeutung erhöht. Die monumentale Qualität des Portraits erinnert an öffentliche Denkmale, die gewöhnlich Helden gewidmet sind und nicht kriminellen Figuren. Harvey wurde deshalb die Glorifizierung von Myra Hindley vorgeworfen (Walker 1998). Das verstieß gegen die Regeln und Überzeugungen und übertrat die Grenzen des Zumutbaren. Dass der gewaltsame Tod von Menschen von Künstlern in ihrem Werk aufgegriffen wird ist nicht neu. Mit seinen Deseastres de la Guerra transformierte Goya das Grauen der Kriege in Kunst, deren Schockwirkung bis heute anhält. Die ebenfalls in der Ausstellung Sensation gezeigten Arbeiten des Künstlerpaars Jake & Dinos Chapman nahmen Goyas Szenen auf und schufen äußerst brutal wirkende lebensgroße Skulpturen, bei denen jedoch die ernste Betroffenheit durch den Schaufensterpuppen-Charakter und die gezeigte ironisierende, entstellende Perversion verloren geht. Hier 120
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könnte auch gefragt werden, ob die Künstler angesichts Goyas bitterer Anklage gegen den Krieg eine krude Taktlosigkeit bewiesen haben.
Abb. 16: Francisco Goya, Grand hazana! Con muertos! Aus: Los Desastres de la Guerra (Nr. 39) Abb. 17: Jake & Dinos Chapman, Große Taten gegen die Toten, 1994: Aus: Kataog Sensation Taktlos empfanden Viele angesichts des Todes von fast dreitausend Menschen die Äußerungen des Komponisten Karlheinz Stockhausen zum Einsturz der Zwillingstürme, 9/11 sei das größte Kunstwerk aller Zeiten. Er erntete wenig Verständnis für die perfide Inszenierung der Terroristen. Nur wenige konnten diese Haltung als Herausforderung sehen, weil Künstler schon seit jeher vom unbeschränkten Kunstwerk träumten. Das Ereignis könne kaum als ultimative Performance gelesen werden, so der Künstler Thomas Eller, denn man habe dem Geschmack in der Luft nicht entgehen können, dem Gefühl, die Toten in der Lunge zu begraben. „Das ist eine Erfahrung, die so stark ist, dass man sie nicht sofort in Kunst umgießen kann“ (Eller 2006). Die Scheu vor diesem Thema liegt darin, dass die emotionale Kraft nicht vom Künstler kommt, sondern in der Monstrosität der Ereignisse liegt. Andererseits muss Kunst sich dem Schmerz in der Auseinandersetzung mit 9/11 stellen, denn wenn sie sich in den Elfenbeinturm zurückzieht, läuft sie Gefahr in Bedeutungslosigkeit zu versinken. Denn dann hätte sie nichts mehr gemein mit der Lebensrealität unserer Welt (ebd.). Nun gibt es seit Adornos bekannter These eine Skepsis, verbunden mit intensivem Diskurs, ob Kunst angesichts unfassbaren Leids tatsächlich die Funktion der ästhetischen Darstellung und 121
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Verarbeitung und des Gedenkens übernehmen kann. Weil Kunst potentiell „Sinn“ und „Genuss“ bringt, sei es allein deshalb schon Unrecht, das den Opfern widerfährt. Für Adorno bleibt Kunst letztendlich paradox, denn sie kann zu keiner positiven Synthese gelangen: sie darf nicht schweigen, wenn sie dem Entsetzen Ausdruck verleihen soll. An den geschilderten Beispielen zeigt sich die enorme Bandbreite der potentiellen Grenzen, an die Kunst rührt. Immer wieder empfinden Menschen Kunst als Provokation, Tabubruch, Verletzung ihrer Werte und innersten Gefühle. Ausmaß und Reaktionen auf Kunst hängen von sozialen und religiösen Regeln, von erlittenen Traumata, politischen Interessen, kulturellen Gegebenheiten, persönlichen Normen und Erwartungen ab. Mitchell beschreibt anstößige Bilder als grundlegend instabile Entitäten, deren Kränkungspotential von komplexen Kontexten abhängt. Auch können diese Kontexte sich ändern, und das kommt öfter vor, weil sich der anfängliche Schockzustand legt und dieser durch Vertrautheit und gar Zuneigung abgelöst wird (Mitchell 2008: 112). Beispielsweise werden die Impressionisten heute als große Künstler von fast allen geschätzt, während ihre Gemälde zur Zeit der Entstehung nicht selten Aufruhr und Ablehnung bewirkt haben. Grundsätzlich wohnt jedem guten Bild etwas Grenzüberschreitendes inne. Denn die Hauptaufgabe neuer Kunst besteht darin, Aufmerksamkeit auf schwierige, oft von großen Teilen der Bevölkerung nicht akzeptable oder verdrängte Themen zu lenken und bestehende Paradigmen zu erschüttern. Dem Künstler kommt aus diesem Grund eine besondere Verantwortung zu. Sein seismografisches Territorium umfasst seine besondere Fähigkeit, subjektive Fantasien und Wahrnehmungen mit der Realität zu verbinden. Das bedeutet, dass er sich Zugang zum inneren Leben in seinen rohen, obsessiven, nicht an Vorgegebenes gebundenen Formen erlauben muss. Was für andere schwer fassbar ist, sucht der Künstler gezielt auf. Er durchbricht Oberflächenstrukturen, um im Zustand des Fragmentarischen unbekannte Möglichkeiten der Zusammensetzung zu erforschen. Seine Durchlässigkeit erlaubt ihm mehr als dem mit starken Regeln, Verboten und Geboten Behafteten, den Zutritt zur Domäne des Unbewussten. Schon Freud sprach über den Künstler als jemanden, dem es im Gegensatz zum neurotischen Nichtkünstler gelingt, Verdrän122
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gungen zeitweilig aufzuheben und zu den Quellen des Unbewussten zu gelangen (Freud 1916/17: 391). Was er dort findet, transformiert er im ästhetischen Prozess, der für ihn selbst oft schwierig, schmerzhaft und abwechselnd mit Phasen von Verunsicherung und Risiko und ozeanischen Hochgefühlen und Erkenntnisgewinn verläuft. Er konstruiert neue Realitäten in seinem Werk, deren Wahrheiten für das Publikum oft nicht einfach zu ertragen sind. Am Ende steht die Form eines Kunstwerkes mit ihrer wichtigsten Funktion als Trägerin der Botschaft. Denn sie muss dafür sorgen, dass die Filter des Wahrnehmungsapparats des Betrachters passiert werden, um Bedeutungen zu vermitteln und eine Reaktion hervorzurufen. Um die tiefsten Schichten seines Publikums zu erreichen muss der Künstler sowohl die eigenen inneren Abwehren und Kontrollen über widerstreitende Kräfte von Scham, Schuld und Über-Ich konformen Überlegungen überwinden, als auch die Zensurstationen seines Publikums korrumpieren. Die vollkommene Form ist immer eine dialektische Form, die widerstreitende Ideen oder Gefühle darstellt und Dissonanzen und Disharmonien der ursprünglichen Situation in ästhetischer und harmonischer Weise aufgelöst hat (Noy 2008: 148). Mit diesem kurzen Einblick in die Psychodynamik des künstlerischen Prozesses soll angedeutet werden, weshalb dem Künstler eine äußerst komplexe Aufgabe auferlegt ist, wenn er sein eigenes Anliegen mit dem des Betrachters in Einklang zu bringen sucht. Taktvoll auf auf Erschütterung zielende, vielfach determinierte Botschaften hinzuarbeiten, ist verbunden mit vielschichtigen inneren und äußeren Bedingungen des Künstlers. Im künstlerischen Prozess und schließlich im Werk werden sie wirksam. Wie der Betrachter beim Kunstgebrauch die dosierten Grenzsetzungen für sich nutzt, bleibt erfahrungsgemäß offen.
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Der Verlag hat sich bemüht, alle Nachweise des Copyrights für die Abbildungen zu erbringen. Sollten dennoch etwaige Ansprüche aus Inhabern von einem Copyright versehentlich entstanden sein, bitten wir um Meldung an den Verlag, damit den Rechten entsprochen werden kann.
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Martin Vöhler
Taktlosigkeit in der Antike Zu den Charakteren von Theophrast
In ihrer grundlegenden Studie weisen Jennings und Arndt (1992) dem Takt angesichts der aktuellen Tendenz zur Globalisierung eine gesteigerte Bedeutung zu: Takt, so lautet ihre These, bilde nicht nur innerhalb einer Kultur ein ausgezeichnetes Mittel zur Konfliktvermeidung; angesichts der gegenwärtig rasch zunehmenden internationalen Vernetzung erweise er sich auch interkulturell als ein effektives Mittel zur Beförderung der Kommunikation. Zahlreiche Probleme der interkulturellen Verständigung entstünden aus der Schwierigkeit, dem Partner die eigene Haltung über die Grenzen der verschiedenen Kulturen hinweg angemessen und nachvollziehbar zu vermitteln; gestützt auf Empathie und Respekt ermögliche der Takt es jedoch, Missverständnisse zu überwinden, so dass sie nicht zur Bedrohung für das eigene Image („threats to face“: ebd. 21) werden; Takt bezeichne somit ein komplexes, kulturell erlernbares Handeln zur Konfliktprävention („strategic conflict avoidance“: ebd. 34). Er trage zum Gelingen der Interaktion bei, indem er den Kommunikationspartnern dazu verhelfe, ihr Gesicht zu wahren („maintain face“: ebd. 23) und eine positive Beziehung zueinander aufzubauen. Taktvolles Verhalten sei nicht nur sozial angemessen („socially appropriate“: ebd. 24), es führe vielmehr auch zur Ausbildung von Techniken wechselseitiger Unterstützung in interpersonellen Bezügen („interpersonally supportive communicative techniques“: ebd.). Manfred Beetz hat diesen Ansatz fortentwickelt, indem er seinem Konzept des Takts den „Aspekt der Rücksichtnahme“ zugrunde legt und folgende Bestimmungskriterien vorschlägt: „1. die angemessene Situationsbewertung, 2. die Kenntnis der verwundbaren Stellen des Partners, 3. die Bereitschaft zur protektiven Rollenübernahme, 4. die Antizipation der individuellen Interessen des Partners, 5. Sensibilität für die Entwicklung situationsabhängiger Interessen des anderen während des Interaktionsverlaufes,
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6. ein Wissen, wie andere die eigenen Handlungen interpretieren und man ihre interpretieren sollte“ (Beetz 2002: 71).
Vor dem Hintergrund des aktuellen Interesses am Takt und seinen Wirkungsmöglichkeiten, soll im Folgenden ein Rekurs auf die griechische Polis unternommen werden. Lassen sich die Phänomene des Takts und der Taktlosigkeit bereits in der Antike beobachten? Sind trotz des historischen Abstands mit seinen Brüchen und Verwerfungen Kontinuitäten in der Verwendung des Takts erkennbar? Welche Formen taktvollen Verhaltens kannte die griechische Polisgesellschaft? Als Vorbehalt gegen die Applikation dieser Fragestellung auf die Antike ließe sich einwenden, dass spezifische Begriffe für Takt und Taktlosigkeit 1 (in dem oben skizzierten interpersonellen Sinne) im Altgriechischen nicht existieren. Doch auch wenn die Begriffe noch fehlen, so lässt sich ein Interesse an der Sache nachweisen: Die Charaktere Theophrasts bieten ein fruchtbares Untersuchungsfeld mit reichhaltigem Material zum Phänomen der Taktlosigkeit. Theophrast stellt es in prägnanten Beispielen vor, allerdings ohne diese näher zu analysieren oder begrifflich zu fassen. Sein Interesse zielt darauf, auffällige Verhaltensmuster zu notieren und sie in den Charakterskizzen miteinander zu verbinden. In diese Arbeit bezieht er auch Beispiele taktlosen Verhaltens ein. Sie werden nicht exklusiv einem einzelnen Charakter allein zugeordnet, sondern zeichnen vielmehr, wie zu zeigen sein wird, ganz unterschiedliche Charaktere aus. Die Studie zu den menschlichen Charakteren gehört zu den Nebenwerken des Theophrast. 2 In Lesbos geboren (372/71), ging er zum Studium nach Athen, wurde zu einem der bedeutendsten Botaniker und Naturhistoriker der Antike und übernahm die Nachfolge des Aristoteles am Lykeum; er soll als Lehrer über 2000 Schüler gehabt haben und starb in hohem Alter (um 288 vor Chr.). Sein Werk umfasst vielfältige Wissensgebiete, wie aus einer erhal1
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Der Begriff der Taktlosigkeit lässt sich im Deutschen erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nachweisen; vgl. Artikel „Takt“ (1989) von Pfeiffer u.a. Zur Vorgeschichte von Takt und Taktlosigkeit in der Moderne vgl. Ipfling (1973) u. Muth (1967). Zu den Charakteren im Kontext von Theophrasts Werk und Vita vgl. Millett (2007); Theophrastus of Eresus (1992); Fortenbaugh (1975, 1981).
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tenen Liste von 225 Werktiteln deutlich wird (Diogenes Laertius 1998: 5, 42-50). Die kleine Schrift über die menschlichen Charaktere (ƩljNJNjǐǀ ǘǂǒǂNjǕƿǒdžǓ, ethikoí charaktéres) stellt unter den großen, aber weitgehend verlorenen Werken zwar nur ein párergon dar, doch fand sie starke Beachtung. Mit den Charakteren begründet Theophrast in der Antike eine neue literarische Gattung. Förderlich für deren Erfolg war sicherlich der morphologisch geschulte Blick, 3 mit dem Theophrast die verschiedenen Menschentypen in kurzen Skizzen präsentiert. Der Text selbst ist nur schlecht und korrupt erhalten; es gibt zahlreiche Eingriffe (vgl. Diggle 2004: 16-25), ein unechtes Vorwort, die später hinzugefügten Definitionen (vgl. Stein 1992) am Eingang der jeweiligen Charakterbeschreibungen, die Epiloge wie auch vielerlei Einsprengsel und Auslassungen. Angesichts des schlechten Überlieferungszustandes lässt sich das genuine Interesse, das hinter der Sammlung steht, nicht mehr genau rekonstruieren: Die Frage, zu welchem Zweck Theophrast die Beschreibung der Charaktere angelegt habe, bleibt offen. Die Schrift wurde bereits in der Antike in moralistischer Absicht nachgeahmt und bildet seit dem 17. Jahrhundert die Grundlage für die literarische Gattung der Charakterstudie. 4 Insgesamt umfasst die Schrift eine Sammlung von 30 Portraits. Ihr Aufbau ist relativ schlicht: Der Titel nennt die behandelte Eigenschaft; im Eingangssatz folgt dann eine kurze Definition des Charakters, daran schließt sich ein Katalog exemplarischer Szenen an, in denen signifikante Handlungsweisen vorgeführt werden. Gemeinsam ist allen Charakteren, dass sie sich jeweils durch einen ‚Fehler‘ auszeichnen, der ihr Verhalten prägt und dauerhaft bestimmt. Es handelt sich nicht um einen großen ,Fehler‘, der das gesamte Leben eines Menschen in entscheidender Weise verändert (und damit in den Bereich der Tragödie gehörte), sondern vielmehr um einen kleinen ,Fehler‘, der in den Situationen des Alltags oft komische Wirkung entfaltet.
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Diesen Gesichtspunkt führt Gomperz (1931: 403-411) in seiner Analyse der Charaktere besonders nachdrücklich aus. Einen knappen Überblick zur Rezeption gibt Diggle (2004), S. 25–27; ausführlich: Smeed (1985); vgl. die Übersicht bei Zimmer (2008); speziell zur Rezeption in der neugriechischen Literatur: Kapsalis (1982).
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Die Charaktere werden an markanten Orten der Öffentlichkeit vorgestellt: auf dem Markt, im Gymnasium, beim Gastmahl, im Theater, auf den Straßen Athens, in der Volksversammlung, im Bad oder auch vor Gericht. Das Verhalten wird in szenischen Beobachtungen markiert. Die Figuren erscheinen im persönlichen Umgang (face-to-face-Interaktion): Sie treten den anderen Menschen (Familienmitgliedern und Verwandten, Freunden und Fremden) gegenüber und setzen sich mit ihnen so auseinander, dass sich der kleine ,Fehler‘ deutlich bemerkbar macht; er tritt in vielfältigen Variationen auf und verbindet die einzelnen Szenen miteinander, so dass die einzelnen Charakterprofile entstehen. Auf den kleinen ,Fehler‘ weisen die Definitionen des Eingangssatzes voraus. So etwa wird der Charakter des Eitlen folgendermaßen eingeführt: „Die Eitelkeit erscheint als ein Streben nach Ehre, das sich für einen Freien nicht ziemt“ (Nr. 21, §1). 5 Das für den eitlen Charakter bezeichnende Streben (órexis) wird negativ bewertet; es erscheint als ein unfreies (an-eleútheros). Durch die Negation wird die Abweichung vom ,normalen‘ Verhalten markiert und hervorgehoben: Der Eitle zeichnet sich durch einen spezifischen Mangel an Freiheit und Souveränität aus. Die Beobachtungen konzentrieren sich auf die Erfassung typischer Handlungsweisen; Theophrast geht in seiner Darstellung nicht dem Aspekt der Motivation nach; Ansätze zur Theoriebildung fehlen ebenso wie wertende (moralisierende) Kommentare. Das Interesse gilt allein dem Phänomen, das in paradigmatischen Situationen vorgestellt wird. Zusammengenommen ergeben die Charaktere ein Panorama scharf beobachteter Verhaltensauffälligkeiten. Dabei richtet sich der Fokus auf den Akteur; Reaktionen, die er durch sein Handeln auslöst, werden nicht zum Gegenstand der Beschreibung. Wie das Portrait der „Eitelkeit“ zeigen auch die übrigen Charakterskizzen negative Abweichungen vom ,normalen‘ Verhalten: Gesammelt werden Handlungen, die bestimmte Erwartungen nicht erfüllen, die sich gegen übliche, erwartete oder erwünschte Verhaltensmuster richten. Durch die Auswahl und abwechslungs-
5
Zur Übersetzung herangezogen wurden die kritischen Ausgaben von Ussher, Steinmetz und Diggle (1960); Steinmetz (1960/1962); Diggle (2004). Die deutsche Übersetzung der Charaktere folgt (mit zahlreichen Modifikationen) der Ausgabe: Theophrast (2000).
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reiche Komposition der Szenen entstehen lebhafte Bilder. Ihr Beitrag zur Taktlosigkeit soll im Folgenden näher bestimmt werden.
Das Spektrum der Taktlosigkeit bei Theophrast Theophrast präsentiert Szenen, in denen das Verhalten der von ihm untersuchten Charaktere zu einer Störung oder Irritation im Umgang mit anderen Personen führt. Die Situation gerät ,aus dem Takt‘. Die Wechselwirkung dieses Vorgangs bringt die Wortgeschichte besonders gut in den Blick. Im Deutschen leitet sich Takt von dem lateinischen Nomen tactus (zu tangere) her, das eine Berührung bezeichnet. Im Blick auf die Etymologie ließe sich Takt als eine gelungene Berührung fassen, Taktlosigkeit hingegen als eine gegenseitige Verfehlung: Im taktlosen Verhalten kommt es zu einer Irritation zweier oder mehrerer Personen, sie wird als unangenehm oder unangemessen wahrgenommen. Hörbar werden Taktverhältnisse in der Musik. Durch das Schlagen des Taktes mit dem Finger, der Hand oder dem Fuß wird die Zeit abgemessen, in der sich verschiedene Stimmen aufeinander beziehen. Wird die gemeinsame Zählzeit beachtet, gelingt das Zusammenspiel 6 , andernfalls gerät es aus dem Takt. Von
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Die Aufgabe, im Gespräch einen gemeinsamen Takt zu finden, wird beiden Gesprächspartnern abverlangt. Es entsteht mit den Worten von Elias Canetti eine „dritte Sprache“ der Verständigung: Beide Partner müssen sich von ihrer gewohnten Sprache abkehren und eine gemeinsame erfinden. Elias Canetti beschreibt diesen Vorgang in der „Mondkusine“, einem Charakter aus seiner Sammlung „Der Ohrenzeuge“ (Canetti 1995: 292–293): „Die Mondkusine läßt niemand Plötzlichen los, ob Mann oder Frau, aber Frauen sind ihr lieber, da Mißverständnisse eher zu verhüten sind, die leicht zu Enttäuschungen führen. Man probiert ein wenig und gewöhnlich findet sich eine dritte Sprache, die der Verständigung dient, man setzt sich zusammen und tauscht Herkünfte aus und bald schrumpfen die scheinbaren Distanzen. Es ist viel gewandert worden auf dieser Welt und aus unzähligen Gründen haben Menschen ihr Land verlassen. Die Erde ist klein, das ist heute bekannt, Entfernungen haben wenig zu bedeuten. Schon ist man bei einem Namen angelangt, der beiden etwas sagt, und mit ein wenig Geduld und sehr viel Takt erweist sich, es ist kaum zu glauben, daß man zur selben Familie gehört und vielleicht gar von der Existenz des anderen eine Ahnung hatte. Wer Sinn dafür hat, wer Augen und Erinnerung offen hält,
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der musikalischen Vorstellung her lassen sich auch andere, weniger evidente Formen des Taktes bzw. der Taktlosigkeit verdeutlichen. Der Takt verweist auf ein gemeinsames Maß, auf eine Regel, an der sich das Verhalten der verschiedenen Akteure in einer Situation orientiert. Diese Regel ist nicht explizit formuliert, sie wird erst durch ihre Überschreitung erkennbar. Theophrast ordnet die beobachteten Taktlosigkeiten verschiedenen Charakteren seiner Sammlung zu. Er bildet unterschiedliche Typen mit je spezifischen Motivationen und Handlungszielen. Deren Taktlosigkeit entsteht teils aus Unkenntnis oder Ungeschicklichkeit, teils aber auch aus Absicht. Einige Charaktere erweisen sich als äußerst kreativ in ihrem Vorgehen: Sie entwickeln Strategien gezielter Taktverletzung. Die von ihnen bewirkten Störungen führen zu nachhaltigen Verletzungen; die Art der Provokation verleiht dem Charakter sein spezifisches Profil. Als besonders einschlägig erscheinen folgende Charaktere: Nr. 03 Adoleschía: Der Redselige Nr. 04 Agroikía: Der Bäurische Nr. 07 Lalía: Der Schwätzer Nr. 09 Anaischyntía: Der Unverschämte Nr. 11 Bdelyría: Der Flegel Nr. 12 Akairía: Der Ungelegene Nr. 13 Periergía: Der Übereifrige Nr. 14 Anaisthesía: Der Gedankenlose Nr. 15 Authádeia: Der Selbstgefällige Nr. 17 Mempsimoría: Der Nörgler Nr. 19 Dyschéreia: Der Widerliche Nr. 20 Aedía: Der Unangenehme 7 Die von Theophrast zusammengestellten Charakterbeschreibungen beziehen sich auf die griechische Männergesellschaft – Frauen, Jugendliche, Gesinde und Sklaven erscheinen nicht als Protagonisten, sondern allenfalls als Ansprechpartner oder Gegenspieler; auch wenn der Ort der Handlung nicht explizit genannt wird,
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hat es nicht nötig, sich um Fremde zu bemühen, denn er hat überall Verwandte.“ Klose und Steinmetz übersetzen den Namen dieses Charakters mit „Der Taktlose“, vgl. Theophrast (2000: 51); Steinmetz (1960/1962).
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geht aus dem Text hervor, dass Theophrast seine Beobachtungen im Athen des 4. Jahrhunderts v. Chr. gewonnen hat.
Takt und Sozialisierung Für die Untersuchung von Takt und Taktlosigkeit erscheint die Beschreibung des „Bäurischen“ (Nr. 04) als besonders einschlägig. Theophrast macht hier eine grundlegende Voraussetzung sichtbar: Takt muss erlernt werden. Der Zusammenhang von Sozialisierung und Takt wird an diesem Charakter transparent. Theophrast entwirft sein Portrait aus der Perspektive des Städters. Dem „Bäurischen“ fehlt die urbane Sozialisation; vermutlich hat er weder Lesen noch Schreiben gelernt; auch versteht er es nicht, sich den Umgangsformen der Stadt anzupassen. Ihm wird gleich in der Eingangsdefinition ein doppeltes Manko attestiert: Eine „unschöne Unbildung“ (amathía aschémon, §1) zeichne ihn aus, ihm fehlten die schönen Formen der Stadt ebenso sehr wie deren Bildung. Bei seinen Besuchen Athens verfehlt er stets den gehörigen Takt. So begibt er sich morgens zur Volksversammlung, nachdem er einen knoblauchhaltigen Brei (kykeón) zu sich genommen hat (§2). Den Duft von Myrrhen, aus denen Parfüm gewonnen wird, findet er weniger anziehend als den des Thymians, der dem Mischgetränk beigegeben wird (§3). Seine Schuhe sind ihm zu groß (§4); seine Stimme erhebt sich zu laut (§5); wenn er sich setzt, achtet er nicht auf seine Blöße (§7); die Architektur und Kunst Athens versetzen ihn nicht in Erstaunen; er erweist sich als Banause, der sich allein für die Tiere interessiert, die er vom Land her kennt, wenn er sich auf den Rundgang durch die Stadt begibt (§8). Das Interesse an den Tieren gibt den Anlass zu einem Exkurs über die heimischen, ländlichen Umgangsformen: Hat er Hunger, so bedient sich der „Bäurische“ direkt in der Speisekammer; er verschlingt sein Essen noch im Stehen; den Wein trinkt er reichlich und stark (§9). Mit der Köchin steht er in einem intimen Verhältnis (§10); beim Frühstück sind die Haustiere zugegen (§11). Im Umgang mit dem Personal ist er vertrauensselig (§6), im Verhältnis zu den Mitbürgern aber äußerst misstrauisch (§§12, 13, 14). Klingelt es, so öffnet er selbst die Tür und nimmt seinen Hund mit, den er stolz seinen Besuchern präsentiert (§12). Vom Land führt das Portrait zurück in die Stadt. Hier behält der „Bäurische“ sein Benehmen bei; er fragt den ersten Besten, den er trifft, nach
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den Preisen von Fellen und Räucherfisch oder nach dem Neumondsfest, um, ohne die Antwort abzuwarten, sogleich zu erzählen, dass er seine Sandalen nageln und seine Haare schneiden lassen werde, dass er vorhabe, sich preiswerten Stockfisch zu kaufen und das öffentliche Bad besucht, in dem er zur Feier des Tages (und zum Befremden der Städter) drauflos singen werde (§15). Die Szenenfolge stellt einen Katalog von Verhaltensauffälligkeiten zusammen: Die Darstellung beginnt bei den körperlichen Symptomen (stechendem Mundgeruch, zu lauter Stimme, erkennbarer Blöße) und führt über die knapp kommentierte Bekleidung zu den sozialen Umgangsformen, die Selbstkontrolle und Sublimation vermissen lassen. Theophrast verdeutlicht die Regelverletzungen durch starke Kontraste: Das Verhalten wechselt von unangemessener Nähe zu unangemessener Distanz, von unerwartetem Schweigen zu unpassender Redseligkeit. Die Unkenntnis der ,richtigen‘ Umgangsformen erweist sich allenthalben. Mit seinen Verhaltensauffälligkeiten wird der „Bäurische“ zur komischen Figur: Er erscheint unter den Blicken der Städter als taktloser Tölpel. Denn Takt setzt Bildung voraus und diese fehlt seinem Charakter.
Taktlosigkeit aus Unvermögen Während der „Bäurische“ der Stadt und ihren Umgangsformen insgesamt fremd gegenübersteht, stammen die übrigen Charaktere Theophrasts aus der Stadt; sie sind mit deren Umgangsformen grundsätzlich vertraut. Ihre ,Fehler‘ erstrecken sich daher nicht auf das gesamte Spektrum des Handelns, sondern konzentrieren sich vielmehr auf einzelne Bereiche der Interaktion. Dabei kommt ihre Taktlosigkeit auf zweierlei Weise zustande: Entweder geht sie auf ein spezifisches Unvermögen zurück oder sie resultiert aus einer bestimmten Absicht. Beispiele für Taktlosigkeit aus Unvermögen bringen die Typen des „Ungelegenen“ (Nr. 12), des „Übereifrigen“ (Nr. 13), des „Gedankenlosen“ (Nr. 14) und „Unangenehmen“ (Nr. 20). Der Charakter des „Ungelegenen“ veranschaulicht die zentrale Bedeutung des Zeitpunkts für taktvolles Verhalten: Der „Ungelegene“ zeichnet sich durch die wiederholte Verkennung des rechten Moments (kairós) aus. Er unterbricht, belästigt oder verärgert seine Mitmenschen mit seinen Anliegen. Die Szenen, in denen sein Verhalten vorgestellt wird,
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sind dadurch bestimmt, dass er sich als Akteur nicht in die Situation seines Gegenübers hineinzudenken vermag; er nimmt nicht wahr, dass sein Ansinnen unpassend oder störend wirken könnte: So geht er zu einem, der gerade keine Zeit hat, um sich beraten zu lassen (§2); der Geliebten bringt er ein Ständchen, wenn sie Fieber hat (§3); er bittet jemanden zum Tanz, der gar nicht in Stimmung ist (§14). Seine Klage über das weibliche Geschlecht trägt er weithin vernehmlich bei einer Hochzeitsfeier vor, wo sie vollständig deplatziert ist (§6). Die abfällige Äußerung verletzt das Image (face) der Braut und stört so den geplanten Handlungsablauf (Hochzeit) mit einer groben Taktlosigkeit. Insgesamt wird dieser Charakter von Theophrast als einer bezeichnet, dessen Handlungen stets zur Unzeit erfolgen: Er verfehlt den rechten Augenblick und wird so zum „Ungelegenen“ (ákairos). James Diggle (2004: 103) überschreibt dieses Charakterbild (Nr. 12) insgesamt als „The Tactless Man“ 8 . Diese Deutung erscheint mir jedoch als problematisch, denn unter Taktlosigkeit lassen sich keineswegs alle hier beschriebenen Tätigkeiten subsumieren. Neun der dreizehn Beispiele 9 illustrieren andere Formen der Unschicklichkeit: Wenn der „Ungelegene“ etwa den Zuhörern einen Sachverhalt, den sie längst verstanden haben, noch einmal von Grund auf erklären will (§9), so lässt dies nicht auf Taktlosigkeit, sondern eher auf Unaufmerksamkeit schließen. Der „Ungelegene“ verkennt die Situation; für die Partner sind seine Handlungen lästig, aber nicht verletzend. Auch wenn er versucht, jemanden, der gerade von einer weiten Reise zurückkehrt, zu einem Spaziergang einzuladen, ist dies zwar unpassend, aber kein Zeichen von Taktlosigkeit (§7). In vergleichbarer Weise dokumentieren auch die übrigen Szenen nicht taktloses Verhalten, sondern ein Verhalten, das im gegebenen Kontext unangemessen, deplatziert oder grotesk wirkt und auf den Handelnden zurückfällt. Der Charakter des „Übereifrigen“ (Nr. 13) gleicht dem des „Ungelegenen“ darin, dass auch er die gegebene Situation ver8
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Die deutsche Übersetzung „Taktlosigkeit“ (akairía) bzw. der „Taktlose“ (ákairos) findet sich bereits bei Hartung (1857: 125). Steinmetz (1962, Bd. 2: 150) bietet Nachweise für die Interpretation des Charakters als „taktlos“ bei Edmonds (1904), Navarre (1920) und Horst Rüdiger (1949); er selbst deutet diesen Charakter dagegen als „eine Art von Pechvogel“. Vgl. „Charaktere“, Nr. 12, §§ 4, 5, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13.
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kennt. Sein ,Fehler‘ liegt darin, dass er die eigenen Handlungsmöglichkeiten falsch einschätzt. So macht er unhaltbare Versprechungen (§2); ist Zurückhaltung geboten, setzt er sich über sie hinweg, wie etwa die folgende Szene verdeutlicht: „Ist eine Frau gestorben, schreibt er auf den Grabstein den Namen ihres Mannes, ihres Vaters, ihrer Mutter und ihren eigenen und woher sie stammt, und er schreibt noch dazu, dass dies alles ‚brave Leute‘ waren“ (§10). Der habituelle Übereifer (periergía) verkehrt die „gute Absicht“ (eúnoia) der Handlung (§1) ins Lächerliche: Die Hinzufügungen auf dem Grabstein verletzen das aptum. Bei dem „Gedankenlosen“ (Nr. 14) schließlich resultiert der ,Fehler‘ aus einer „Langsamkeit 10 der Seele in Worten und Taten“ (§1). Diese Langsamkeit führt zu grotesken Situationen wie dem Schlaf im Theater, das alle Zuschauer bereits verlassen haben (§4), zu Ungeschicklichkeiten wie dem Biss, den er sich zuzieht, als er sich nachts auf der Suche nach der Toilette verirrt und auf den Hund des Nachbarn stößt (§5), oder zu Zerstreutheiten wie dem doppelten Salzen der Speise (§11). Mit seiner Langsamkeit und Zerstreutheit schadet sich der „Gedankenlose“ vor allem selbst. Zur Taktlosigkeit kommt es in folgender Szene: Unter den Beispielen sprachlicher Fehlleistungen, die Theophrast notiert (§§7, 12, 13), erscheint auch der Ausruf „Herzlichen Glückwunsch“, mit dem der „Gedankenlose“ auf eine Todesnachricht reagiert (§7). Wenngleich auch ungewollt, so bildet der Ausruf eine drastische Taktlosigkeit. Das Missverhältnis von Absicht und Erfolg verleiht den Aktionen des „Gedankenlosen“ eine unfreiwillige Komik; er gleicht darin dem „Ungelegenen“ wie dem „Übereifrigen“; sie alle verkennen die spezifischen Situationen und meinen, in bester Absicht zu handeln. Ihr Verhalten wird dem Anspruch der angemessenen Situationseinschätzung nicht gerecht. Takt verlangt vom Handelnden nicht nur Einfühlung oder Mitgefühl (Empathie), sondern auch eine „Verstehensleistung“ 11 : Die konkrete Situation muss vom Handelnden genau erfasst werden. Andernfalls kommt es leicht, wie die drei Charaktere zeigen, zu Fehlleistungen. 10 Klose, Theophrast (2000: 37), übersetzt moralisierend „Trägheit“. 11 Diesen Aspekt betont Sindermann (2009: 192): „Takt ist eine Verstehensleistung, wie Taktlosigkeit eine solche des falschen oder ausbleibenden Verstehens ist. Takt heißt, die Perspektive eines anderen zu kennen, zu verstehen und so zu behandeln, dass sie anerkannt und respektiert wird.“
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Auch der „Unangenehme“ (Nr. 20) zählt zu der Gruppe von Charakteren, die ihre Taktlosigkeiten ohne Vorsatz (aus Unachtsamkeit oder Verkennung der Situation) begehen. Anders als der „Ungelegene“, „Übereifrige“ und „Gedankenlose“ handelt der „Unangenehme“ jedoch nicht überschwänglich. Er agiert nicht in bester Absicht, sondern eher distanziert. Theophrast schildert ihn als jemanden, der aus Gleichgültigkeit und Indifferenz anderen Unbehagen bereitet, „ohne ihnen jedoch Schaden zuzufügen“ (§1). Dabei nimmt sein Verhalten, wie einige Beispiele zeigen, auch taktlose Züge an: Wenn er sich unterhalten will, weckt er den anderen, der bereits eingeschlafen ist (§2); Leute, die im Aufbruch sind, hindert er daran fortzugehen (§3); beim Essen beschreibt er ausführlich den Erfolg einer kathartischen Nieswurzkur und vergleicht hierbei die Sauce auf dem Tisch mit der Farbe seines Stuhlgangs (§6); vor den Sklaven und übrigen Mitbewohnern des Hauses fragt er seine Mutter über seine Geburt in allen Details aus (§7). Dieses Verhaltensmuster nimmt Peter Steinmetz (1962, Bd. 2: 232–240) zum Anlass, den Charakter des „Unangenehmen“ (aedés) insgesamt unter dem Titel „Der Taktlose“ zu präsentieren. Die Interpretation überzeugt jedoch nicht, denn es gibt in diesem Charakterbild zahlreiche Szenen, die nicht zur Taktlosigkeit, sondern viel eher zur Überheblichkeit (vgl. §4), zur Widerlichkeit (vgl. §5) oder zur Aufschneiderei (vgl. § 8, 9,10) gezählt werden können – „unangenehm“ sind sie in jedem Fall, aber nicht taktlos.
Kalkulierte Taktlosigkeit Der unabsichtlich begangenen Taktlosigkeit stellt Theophrast eine Reihe bewusst erzeugter Taktlosigkeiten gegenüber. Die Charaktere des „Unverschämten“ (Nr. 09), des „Flegels“ (Nr. 11), des „Selbstgefälligen“ (Nr. 15) und des „Widerlichen“ (Nr. 19) stimmen darin überein, dass sie allgemein gültige Konventionen vorsätzlich brechen; zur Durchsetzung ihrer Interessen verletzen sie die Regeln der Achtung und wechselseitigen Rücksichtnahme. Der „Unverschämte“ (Nr. 09) handelt gewinnorientiert und stellt diesem Ziel seinen guten Ruf nach (§1). Mit Aktionen von verblüffender Frechheit gelangt er zu seinem Zweck. Wenn er sich Geld borgen will, geht er zu demjenigen, bei dem er bereits Schulden hat, ohne sie, wie vereinbart, zurückgezahlt zu haben
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(§2). Hat er den Göttern geopfert, lädt er nicht wie üblich Gäste zu einem gemeinsamen Mahl ein, sondern erscheint selbst als Gast bei einem Mitbürger, der ebenfalls geopfert hat. Das eigene Opferfleisch hält er zurück und bewahrt es auf, indem er es einsalzt. Seinem Sklaven aber gibt er von dem fremden Opferfleisch und lässt sich auch gleich noch welches mit nach Hause geben (§3). Nicht weniger planvoll handelt der „Flegel“ (Nr. 11). Seine Aktionen zielen darauf, öffentlich Anstoß zu erregen, indem er rüde Scherze macht (§1). Begegnet er Damen, lüpft er sein Gewand, so dass sein Glied sichtbar wird (§2). Geht er ins Theater, so beginnt er zu klatschen, wenn die anderen damit aufhören. Jubeln sie, so pfeift er; schweigen sie, so rülpst er, damit sie sich zu ihm umwenden (§3). Vormittags, wenn der Markt voll ist, geht er zu den Ständen und nascht von den Früchten, während er mit dem Verkäufer plaudert (§4). Sieht er Leute in Eile, versucht er sie aufzuhalten (§5). Kommt jemand aus dem Gericht, nachdem er einen großen Prozess verloren hat, tritt er hinzu und spricht seinen Glückwunsch aus (§6). Der „Selbstgefällige“ (Nr. 15) besticht durch seine Arroganz; sein Verhalten den anderen gegenüber ist geprägt durch Verachtung; es changiert zwischen Taktlosigkeit, Unhöflichkeit und Hochmut. Der „Selbstgefällige“ markiert, wo er kann, Abgrenzungen und geht so weit, auch den Göttern seinen Respekt zu verweigern (§11). Wird er nach jemandem gefragt, verbittet er sich die Frage (§2). Wird er gegrüßt, zeigt er keinerlei Reaktion (§4). Um eine Spende gebeten, sagt er zuerst, er gebe kein Geld; später gibt er es doch und kommentiert dies mit den Worten: „Was für eine Verschwendung!“ (§7) Der „Widerliche“ (Nr. 19) kultiviert, um aufzufallen, die Ungepflegtheit seines Körpers in einem solchen Maß, dass er Unbehagen hervorruft. Er erfindet vielfältige Strategien, den Ekel seiner Mitmenschen zu erzeugen (§1): „So geht er mit seinem Aussatz, seiner Flechte und seinen langen Fingernägeln spazieren und behauptet, bei ihm seien das angeborene Krankheiten; denn er selbst habe sie wie auch sein Vater und sein Großvater; es sei auch nicht leicht, in ihr Geschlecht einen unehelichen Sohn unterzuschieben“ (§2). „Selbstverständlich neigt er auch zu Geschwüren an den Schienbeinen und zu Stoßverletzungen an den Zehen; statt sie zu behandeln, lässt er sie lieber eitern. Seine Achseln haben Läuse, sein Haar geht dicht auf beiden Seiten weit hinab, seine Zähne 140
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sind schwarz und zerfressen“ (§3). „Beim Essen wischt er sich die Nase; er kratzt sich beim Opfern; spricht er einen an, sprudelt es aus seinem Mund; seinem Trinken folgt das Rülpsen“ (§4). „Ungewaschen geht er ins Bett mit seiner Frau“ (§5). „Mit einem dicken Untergewand und einem durchsichtigen Mantel voller Flecken geht er auf den Markt“ (§7). „Zum Flötenspiel klatscht er als einziger von allen mit seinen Händen, brummt mit und macht der Flötenspielerin Vorwürfe, warum sie so schnell aufgehört habe“ (§10). „Will er ausspucken, spuckt er über den Tisch – dem Weinschenk ins Gesicht“ (§11). Wie der Katalog zeigt, entwickelt sich der „Widerliche“ zum Experten somatischer Provokationen. Seine Taktlosigkeit besteht im ostentativen Einsatz gezielter Respektlosigkeiten.
Taktlosigkeit im Dialog Die Spezialisierung auf verbale Taktlosigkeiten zeichnet eine letzte Gruppe von Charakteren aus; deren Verhalten kann als „Taktlosigkeit im Dialog“ zusammengefasst werden. Theophrast gibt hier einen Einblick in die vielfältigen Möglichkeiten, Gespräche zu stören und sie zum Scheitern zu bringen. Er unterscheidet drei Verhaltensmuster: Die „Redseligkeit“ (Nr. 03), das „Schwatzen“ (Nr. 07) und die „Nörgelei“ (Nr. 17). Der „Redselige“ (Nr. 03) zeichnet sich vor allem durch seine „unbedachten Reden“ (aproboúleutoi lógoi) aus (§1). Die auf mangelnde Überlegung (Unvorherbedachtheit) zurückgeführte Redseligkeit schlägt sich in vielen Indizien nieder. Wendet der „Redselige“ sich an einen Unbekannten, so tritt er dem Gesprächspartner physisch zu nahe. Er unterschreitet nicht nur die physische Distanz, sondern wird auch schnell indiskret und berichtet Persönliches, wie das Loblied seiner Frau oder den nächtlichen Traum, und geht die Details seines letzten Essens sorgfältig durch (§2). Erfolgt keine Gegenwehr, so kommt der „Redselige“ in sein Element: „Dann spricht er, langsam in Fahrt geratend, davon, wieviel schlechter die Menschen heute als früher seien, wie billig der Weizen auf dem Markt sei, wie viele Fremde sich in der Stadt aufhielten, und das Meer sei seit den Dionysien schiffbar. Und wenn es Zeus mehr regnen ließe, würde die Ernte besser werden. Und was er nächstes Jahr auf seinem
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Feld anbauen werde, und das Leben sei schwer, und Damippos habe bei den Mysterien die größte Fackel aufgestellt, und wieviele Säulen das Odeon habe. Und ‚Gestern habe ich mich erbrochen‘ und ‚Welcher Tag ist heute?‘ Und wenn einer bei ihm bleibt, lässt er ihn nicht mehr los: ‚Und die Mysterien feiere man im September, die Apaturien im Oktober, die ländlichen Dionysien im Dezember‘“ (§3).
Theophrast charakterisiert die Redeweise durch die bloße Nennung der Themen; es entsteht ein Katalog der Assoziationen, Beobachtungen, Wünsche und Sentenzen: Alles tritt willkürlich zusammen. Es entspannt sich ein Bogen der Beliebigkeit, der den ,Fehler‘ der unendlichen Verknüpfung des Zusammenhanglosen drastisch verdeutlicht; die gute Absicht des taktlosen Charakters verkehrt sich auch hier in ihr Gegenteil. Einen deutlichen Kontrast zum „Redseligen“ bildet der „Schwätzer“ (Nr. 07). Theophrast arbeitet hier den Aspekt der Aufdringlichkeit heraus. Der „Schwätzer“ agiert offensiv und zielgerichtet. Er tritt mit großem Selbstbewusstsein auf, spricht „jeden, den er gerade trifft“ an, um sein vermeintliches Wissen vorzuführen. In der festen Überzeugung, „er wisse alles“, dringt er auf den Gesprächspartner ein, fällt ihm ins Wort, um die anfängliche Gesprächssituation in einen belehrenden Monolog zu verkehren (§2). Diese Technik wendet er nicht nur im Einzelgespräch an, sondern auch auf ganze Gruppen, in deren Gespräch er eindringt, um die Versammelten „in die Flucht zu schlagen“ (§3). Sein Drang zum Dozieren führt ihn auch in die Schule oder in die Palaistra, wo er die Lehrer zurückdrängt, um die Schüler seinerseits zu belehren (§4). Will sich jemand seinem Gespräch entziehen, so wird er nach Hause begleitet (§5). Gegenüber dem „Redseligen“ unterscheidet sich der Charakter des „Schwätzers“ durch seine Tendenz zur öffentlichen Selbstdarstellung: Auch im Gericht, im Theater oder bei einem gemeinsamen Gastmahl lässt dieser Charakter nicht von seiner Mitteilsamkeit ab. Erst die eigenen Kinder verwenden die Marotte des Vaters zu ihrem Vorteil, wenn sie ihn abends bitten: „Papa, erzähl’ uns noch was, damit der Schlaf kommt“ (§8). Theophrast hat dieses Charakterbild stark pointiert: Es beginnt mit dem Einzelgespräch, führt über zufällige Versammlungen in der Öffentlichkeit zu den Institutionen von Schule, Palaistra, Gericht, Theater und Symposion; überall tritt der „Schwätzer“ auf. Wurde die „Redseligkeit“ auf Unbedachtheit zu-
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rückgeführt, so die „Schwatzhaftigkeit“ auf einen Mangel an Selbstbeherrschung (akrasía) (§1). Zu diesen beiden Formen verbaler Taktlosigkeit kommt die „Nörgelei“ als dritte hinzu. Der „Nörgler“ (Nr. 17) zeichnet sich durch seine notorische Unzufriedenheit aus; stets reagiert er auf das, was er erhält, mit Einwänden, Vorbehalten und Kritik. Die Eingangsdefinition bestimmt seine Kommentare als ein „unziemliches Tadeln der Gaben, die man erhalten hat“ (§1). Die „Unziemlichkeit“ markiert einen zentralen Gesichtspunkt: Takt setzt eine Angemessenheit von Aktion und Reaktion voraus. Diese Balance wird vom „Nörgler“ verletzt. Auf eine freundliche Geste reagiert er nicht mit Freude, sondern mit Undank. Er bringt seine Unzufriedenheit offen zum Ausdruck. Mit seinem nörgelnden Kommentar wertet er die Ausgangssituation radikal um: Die Begegnung endet in einem offenen Missklang. Der Überblick zeigt, dass die Taktlosigkeit in den Charakteren kein Randphänomen darstellt, sondern in ihrer konfliktgenerierenden Dynamik zentrale Beachtung findet. Theophrast lenkt den Blick seiner Leser auf Szenen gestörter Interaktion in allen Bereichen der Öffentlichkeit. Die Fülle und Vielfalt der Exempel verdeutlicht die regulative Funktion des Taktes im sozialen Zusammenleben der Polis. Die in prägnanter Kürze zusammengestellten Szenen bekräftigen ex negativo eine Grundregel menschlicher Kommunikation, die Erving Goffman folgendermaßen bestimmt hat: „The rule of behavior that seems to be common to all situations and exclusive to them is the rule obliging participants to ‚fit in‘“ (Goffman (1963: 11). Taktloses Verhalten wird als auffällig wahrgenommen, weil es sich dem Gebot des fit in widersetzt. Unter der hier vorgestellten Perspektive leisten die „Charaktere“ einen frühen Beitrag zur Konfliktforschung.
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Andreas Brenner
Der richtige Abstand Takt trumpft Ethik
Ohne Takt geht’s nicht Als das Beklagenswerteste am Jammertal Erde erscheint den Menschen seit je dessen Beschränktheit in Raum und Zeit. Neben der Endlichkeit des Raumes, welche die Ursache für so viele Konflikte ist, wird auch die Begrenztheit der Zeit zu einer Herausforderung, an der zu scheitern fast schon vorgegeben ist. Das Leben unter der Mühsal beider Dimensionen versucht die Moral erträglicher zu machen, in dem sie die raum-zeitliche Perspektive einnimmt und beispielsweise Schutzräume – der Wohnung, der Natur oder aber auch des eigenen Körpers – und die Bedeutsamkeit von Zeiten – beispielsweise der Geburt und des Todes aber auch des VorherNachher in Handlungsabläufen – bestimmt. Häufig zeigt sich, dass Raum und Zeit nicht grundsätzlich, sondern situativ geregelt werden müssen, wobei es darauf ankommt, was angemessen ist. Sein Tun und Lassen auf der Zeitachse in die richtige Ordnung zu bringen, ist bekanntlich nicht so einfach, die Moral der Zeit ist deshalb unverzichtbar. Denn Vieles ist ja nicht per se schlecht, sondern erweist sich als solches oft erst im temporalen Verhältnis. So können Entscheidungen deshalb falsch sein, weil sie zur falschen Zeit kommen, weswegen in einer anderen Zeit dieselbe Entscheidung richtig gewesen wäre. Hier tut sich also ein komplexer Umgang mit dem Thema Zeit auf (Lane 2006), der in der Gegenwart und ihrer vermeintlich knapper werdenden Zeit eine besondere Bedeutung erlangt. Unabhängig und jenseits der großen Zeiteinheiten kommt die Zeit aber auch in den kleinen Intervallen vor und hat hier insbesondere für das gedeihliche Miteinander eine überragende Bedeutung. Diese kleine Zeiteinheit ist die des Takts. Die Musik, die den Takt zur Kür entwickelt hat, gibt es nur im Reich der Begrenzung und ist vielleicht die schönste Folge unserer Vertreibung aus dem Paradies: In Paradies und Elysium gibt es nur Sphärenklänge, auf
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der Erde hingegen sind diese gigantischen Gebilde entstanden, welche erst durch Einteilungen und damit durch die Herstellung künstlicher Begrenzungen Schönheit erlangen. Die Grenze von richtig und falsch ist auch hier schmal, aber das Ergebnis selten umstritten: Eine aus dem Takt geratene Aufführung grenzt ans Unerträgliche. Nicht ganz so schlimm, aber gleichwohl enttäuschend wirkt es, wenn man außerhalb der Musik den Takt verliert. Die Verwandtschaft mit dem Takt in der Musik offenbart der Handlungstakt darin, dass er wie die Musik intuitiv dem Bereich der Ästhetik zugeschrieben wird. So wird die Verspätung bei einem Rendezvous als Verletzung des (guten) Takts und damit als unschön gewertet; wer die vereinbarte Verabredung hingegen ganz platzen lässt, weil er sich statt dessen mit jemand anderem trifft, gilt als taktlos, was meint, dass er gar keine Vorstellung vom Takt hat und sein Tun und Lassen absolut jenseits des etablierten Regelwerks liegt. Gleicht das Urteil im ersten Fall dem eines Musikkritikers, haben wir es im zweiten Fall mit der Kritik der Ethik zu tun. Taktlosigkeit wiegt also ohne Zweifel schwerer, ist aber zugleich auch leichter zu erkennen als die an Gewicht leichtere, häufig aber schwerer festzustellende Unsicherheit oder Fehlpunktion im Takt. Die Frage des Takts ist in mehrerer Hinsicht eine Grenzfrage: Qualitativ zeigt sich dies darin, dass sie im Grenzbereich von Ethik und Ästhetik liegt, quantitativ zeigt sich dies darin, dass der Takt meist die kleine Einheit misst. Nur die Taktlosigkeit, die als Grobheit erscheint, kennt die große Zahl.
Taktvoll werden Will man sich in Sachen Takt nicht auf´s Geratewohl verlassen, fügt man sich also in die Einsicht, dass wir imperfekt sind und ist man zugleich davon überzeugt, dass wir zwar nicht Perfektibilität erreichen, wohl aber unser Unvermögen mindern können, dann ist noch nicht alles verloren und wir können hoffen, uns soweit zu bilden, dass wir den richtigen Takt noch finden. Indes sollte man sich nicht täuschen über die Herausforderung, der sich derjenige, der zu Takt finden will, gegenübersieht Dies liegt nicht zuletzt an seiner Beheimatetheit im Reich der Ästhetik: Für eine idealistische Perspektive gilt, dass das Schöne, das
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ANDREAS BRENNER: DER RICHTIGE ABSTAND
nach klassischem Verständnis mit dem Wahren und Guten identisch ist, eine Idee ist, der man sich durch intellektuelle Anstrengung zwar annähern kann, das einem im günstigsten Falle jedoch bereits offenbar ist. Nicht von ungefähr spricht man dann von der Gnade, die jemandem zu Teil geworden ist. Die Einheit von allem zeigt sich nicht zuletzt auch darin, dass Ästhetik und Ethik letztlich in eins fallen, für diesen Zustand fand Friedrich Schiller (17591805) den Begriff der „schönen Seele“. Und auch für diese gilt, dass sie „kein andres Verdienst (hat), als dass sie ist" (Schiller 1793: 468). Für eine naturalistisch orientierte Perspektive der Ästhetik, wie sie die Französische Moralistik in ihren frühen Reflexionen zur Selbstsorge sichtbar gemacht hat, zeigt sich die Schwierigkeit, den „guten Geschmack“, als welchen sie den Takt ansieht, zu bilden, weil er sich doch gleichermaßen auf die „Haltung und das Benehmen“ bezieht, wie Nicolas Chamfort (1741-1794) schreibt (Chamfort 1795: 425). Der taktvolle Mensch muss sich also gleichsam selbst erfinden, wobei die Schwierigkeit sich dadurch erhöht, dass diese Findung ein feines Gleichgewicht von Gemachtem und Hergestelltem voraussetzt, so dass der wahrhaft Taktvolle erscheint, als sei sein Benehmen wie von Natur. Um diesen feinen Stand zu erreichen, genügt es nicht alleine, sich an vorgegebenen Regeln auszurichten, man muss auch die eigene Natur beachten lernen. Denn „zu große Feinheit ist falscher Takt und der wahre Takt ist eine unverbildete Feinheit“, wie François de La Rochefoucauld (1613-1680) feststellt (Rochefoucauld 1664: 77). Die Bildung des Takts unterscheidet sich mithin von einer Benimmschule, wie sie am Hofe und in dessen Nachfolge im Bürgertum als Etikette kultiviert wurde. Zwar hat der Takt unzweifelhaft mit gutem Benehmen zu tun, aber das gute Benehmen alleine macht noch kein taktvolles Benehmen. Wer gutes Benehmen zeigt, dahinter aber den Takt vermissen lässt, der gleicht jenem „Mann ohne Eigenschaften“, der aus „Eigenschaften ohne Mann“ besteht. Die Kluft, die sich dann auftut, ist die zwischen „sachlich richtigem und persönlich richtigem Verhalten“ (Musil 1930/32: 148). „Sachlich richtig“ vermag sich schließlich auch jeder Heiratsschwindler zu verhalten, weil er weiß, wie er sich benehmen muss, um sein taktloses Trachten mit Erfolg zu krönen. Entsprechende „zweckverfolgende Handlungen“ erscheinen, wenn der Trug als solcher aufgeflogen ist, mit einem Mal nicht mehr als gekonnt, sondern nur 149
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noch als künstlich (Plessner 1924: 96). Dies trifft auch auf den vollendeten Techniker des Benehmens, den Diplomaten zu: Er weiß in jedem Moment den Takt zu wahren ohne deshalb notwendig taktvoll zu sein, Machiavelli ist ihm deshalb nicht weniger Pflichtlektüre als Knigge. Daran sieht man, dass Takt nur vordergründig auf gutes Benehmen und tiefgründig auf eine gute Haltung verweist. Die taktvolle Haltung lässt sich alleine in der praktischen Übung ausbilden, niemand ist mithin in der Theorie taktvoll, sondern alleine in der Praxis und ebenso gilt, dass niemand bereits taktvoll ist, ohne jemals seinen Takt bewiesen zu haben. Im Takt zeigt sich also die Schwierigkeit, welche für die Tugend – Plessner (1892-1985) nennt den Takt „die erste und letzte Tugend des menschlichen Herzens“ (ebd.: 107) – insgesamt gilt und die bereits Aristoteles (384-322 v. Chr.) beschrieben hat: Wie können wir gut werden, ohne es bereits zu sein? (Aristoteles 2006: 79f.; 1105a17ff.). Wenngleich wir also nur im tugendhaften Handeln tugendhaft zu werden vermögen, so müssen wir doch zugleich und vorgängig bereits eine Vorstellung von der Tugend haben, damit wir sie im gelebten Leben realisieren können. Man könnte meinen, damit sei keine moralspezifische Herausforderung beschrieben, sondern allgemein die Bedingung von Erfolg: Auch Schreiner oder Philosophen sind nicht einfach in der Theorie gute Schreiner oder Philosophen, sondern sie müssen zum einen etwas schreiner- oder philosophengemäßes Tun – beispielsweise einen Stuhl bauen oder einen Text schreiben – und sie müssen zum anderen bereits vorgängig eine Idee von dem gehabt haben, was sie denn umsetzen wollten. Der Unterschied zwischen diesen Werken und jenem der Tugend liegt jedoch darin, dass Stuhl oder Text, wenn sie gelungen sind, in sich selbst gut sind – auf dem Stuhl lässt sich gut sitzen, der Text hat ein relevantes Thema nachvollziehbar vorgestellt. Die Güte ihrer Produkte ergibt sich ohne Ansehung ihrer jeweiligen Schöpfer; ohne Näheres über Schreiner oder Philosoph zu wissen, können wir uns an ihren Produkten erfreuen. Um sich an einer vermeintlichen Tugend zu erfreuen, ist es hingegen wichtig, nicht nur das Ergebnis der tugendhaften Tat anzusehen, sondern zugleich Kenntnis darüber zu haben, ob der Handelnde erstens um das Ergebnis gewusst, zweitens es auch gewollt und drittens es aus einer ihm eigenen Disposition heraus realisiert hat (ebd.: 80; 1105a32f.).
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Während also der Techniker von Stuhl oder Text sich ein Können aneignen muss, das sich in seinen Werken ausdrückt und diese Werke ohne dieses Können nicht wären, so muss der Tugendhafte sich selbst gestalten, so dass er Werke vollbringt, die nicht nur technisch bestimmte Anforderungen erfüllen, sondern die darüber hinaus erst dann erfolgreich sind, wenn sie auch eine Einheit der Person zum Ausdruck bringen. Von der Tugend wird daher, anders als von der Technik, Aufrichtigkeit erwartet. Auch hier mag man einwenden, dass der Unterschied zwischen beiden Bereichen nicht so groß ist und wir doch auch vom Techniker eine der Aufrichtigkeit vergleichbare Wahrheit erwarten: Ein Stuhl, der nur gut aussieht, aber nicht hält, was er verspricht – nämlich unser Gewicht auch zu tragen – ist eben nicht nur technisch schlecht, sondern auch Pfusch oder Betrug. Im Unterschied zur Tugend genügt aber bei der Technik zu ihrer Beurteilung alleine das Werk: Hält es nicht, was es verspricht, ist es schlecht. Die Tugend hingegen weist sich nicht alleine in der Handlung aus, sondern, von dieser nicht zu trennen, ebenso durch die Persönlichkeit des Handelnden selbst. Diese bildet sich dadurch, dass sie sich selbst am Leben, und das heißt an immer wieder neu gelebten Handlungen, selber bildet. Dieser autopoietische Vorgang ist nicht losgelöst von der eigenen Natur, denn in Hinsicht auf die Moral kommt den naturgegebenen Affekten eine wichtige Rolle zu. Zwar sind nicht Affekte dafür ausschlaggebend, ob man einen Menschen als gut oder schlecht bezeichnet (vgl. ebd.: 81; 1105b30), wohl aber gibt den Ausschlag, was man aus den Affekten macht und wie man sich zu ihnen verhält. Das angemessene Verhältnis zu den Affekten kann nicht allgemein vorgeschrieben werden, sondern muss von jedem selbst gefunden und bestimmt werden, womit er dann auch seine persönliche Disposition findet (ebd.: 83; 1106a27-1106b6; Wolf 1995: 91f.). Sowenig die naturgegebenen Affekte moralisch kritikwürdig sind, sosehr fokussiert moralische Kritik auf die Persönlichkeit, die sich aus naturalen Vorgaben gebildet hat, wobei die Bildung kein naturaler, sondern ein kultureller Vorgang ist. Nur weil Menschen fähig sind, sich zu ihrer Natur zu verhalten, macht Ethik Sinn und nur weil sie sich zu ihrer Natur verhalten können, entwickeln sie eine Persönlichkeit und nur weil sie eine Persönlichkeit haben, können sie sich aufrichtig oder unaufrichtig verhalten. Der Aufrichtige wahrt die Übereinstimmung mit sich selbst
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(Aristoteles 2006: 290; 1166a; Wolf 1995: 95), während dem Unaufrichtigen dies misslingt und er sich selbst in Viele aufspaltet. Gibt es für das Austarieren der Gefühle keinen allgemein verbindlichen Ansatz, so weichen die Menschen in der Vorstellung der Angemessenheit häufig doch nicht allzu weit voneinander ab, weswegen sich, wie Adam Smith (1723-1790) beobachtet, Vorstellungen der Schicklichkeit herausgebildet haben, die weitgehend geteilt werden (Smith 1994: 32f.). Auch für die Schicklichkeit (engl. „propriety“) gilt, dass sie sowohl naturale wie kulturelle Quellen vereint (Hume 1751: 217), weswegen Menschen unterschiedliche Ausgangsvoraussetzungen in Sachen Schicklichkeit mitbringen, sie jedoch nie gänzlich unvermögend sind, sich entsprechend zu bilden. Diese Bildungsfähigkeit verleiht auch dem Takt moralische Bedeutung, weil nur so mangelnder Takt kritikwürdig ist: Wer wenig Takt beweist, der kann sich nicht damit entschuldigen, dass er von Natur aus mit nur wenig Sensibilität und Fähigkeit zur Rücksichtnahme ausgestattet sei. Denn von Natur aus mögen die Menschen zwar unterschiedlich begünstigt sein, dennoch ist durch Natur niemand so gebunden, dass er sich nicht zu ihr verhalten und in Beziehung setzen kann. Und wo dies möglich ist, ist auch eine Kulturalisierung von Natur möglich. Damit gibt es, wie Adam Smith im Anschluss an die Stoa herausgearbeitet hat, einen Zusammenhang von Natur und Ethik: Wenn Tugend die Mitte zwischen Extremen ist, so lässt sich nach Smith die Mitte aus der Natur heraus ablesen, da diese die Welt und damit auch das soziale Miteinander gut geordnet hat. Die Mitte, welche die Extreme meidet, beschreibt nicht nur die Tugend im Allgemeinen, sondern ebenso den Takt im Besonderen. Denn Takt zeigt sich in der Regel in der maßvollen Geste, die den energiegeladenen Auftritt, den lauten Ton oder die schroffe Bewegung meidet. Die Natur kann hier eine Richtschnur bieten, wenngleich sie alleine nicht zur Orientierung ausreicht und es ebenso auf die Erfahrung des gelebten Lebens ankommt. Denn, was schickliche Mitte ist, das hängt auch von dem Umfeld ab. Ob der um Takt Bemühte auch wirklich Takt zeigt, hängt also nicht zuletzt auch von seiner Gabe des Hinsehens und Hinhorchens ab, damit ihm die Mitte zu treffen auch gelingt. Der Erfolg dieses Bemühens ist weit weniger leicht festzustellen, wie der Misserfolg. Sein Versagen wird selten unbemerkt bleiben und fast immer als anstößig registriert werden, dies obgleich Taktlosigkeit kein Ver152
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brechen ist, zumindest keines im Sinne von Moral- oder Strafgesetz. 1 Wenn Taktlosigkeit dennoch selten unbemerkt bleibt, so liegt das an der Störung der Gleichgewichtsverhältnisse, wie sie sich im gelebten Leben der Menschen herausbilden. Eine Störung und Erschütterung des Gleichgewichts stellt zwar auch das Verbrechen dar, das aber, trotz seiner Schwere leichter zu handhaben ist als eine Taktlosigkeit. Denn im Unterschied zum Taktlosen kann die Gesellschaft den Verbrecher aus ihren Reihen (in die Verbannung oder ins Gefängnis) verstoßen. Der Taktlose ist auf diese Art nicht zu greifen, mit ihm muss man leben, obgleich er das Gebilde des Ganzen zunächst ins Wanken und es letztlich, wie jemand, der auf einer schmalen, über eine Schlucht gespannten Fußgänger-Hängebrücke wild herumhüpft, bis zum Reißen belastet. Wenn aus diesem Grunde die Taktlosigkeit leicht feststellbar ist, so bleibt aus demselben Grunde der Takt häufig unsichtbar. Seine absichtsvolle Unsichtbarkeit ist ihm gerade eigen, da das Gegenteil Abscheu hervorruft. Aber auch hier gibt die Mitte den Ausschlag, da das gesuchte Understatement das Bemühen vernichtet. Fragen wir also noch einmal: Wie kann man taktvoll werden? Zu den Schwierigkeiten mit dem Takt zählt, wie uns das Beispiel des Heiratsschwindlers bereits vor Augen geführt hat, dass die Beherrschung einer Technik noch keinen Takt macht, weswegen es, wie wir gesehen haben, auf die Haltung ankommt; zugleich gilt aber, dass es ohne Technik auch nicht geht. Ist das Erlernen einer Technik des Takts also unentbehrlich, so zeigt sich deren Anwendung in der Praxis dadurch behindert, dass jede Situation anders, also keine mit der vorangegangenen wirklich vergleichbar ist. Der Taktvolle weist sich also auch über ein gehöriges praktisches Urteils- und Wahrnehmungsvermögen aus. 2 Der Wahrnehmung der Verhältnisse dient der geschulte Blick, der jeden Taktvollen auszeichnet, so dass er um das Zuviel und das Zuwenig weiß, weil er es aus den Situationen herausgelesen hat. 1
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So bemerkt Adam Smith zu Recht, dass wir unsere Abscheu gegen Unschicklichkeit nicht aus dem Moralgesetz herleiten können (Smith 1994: 490f.). Auch Helmuth Plessner weist auf diesen Umstand hin, wenn er feststellt: „Jeder Fall liegt anders, genügt also nie einer abstrakten Norm“ (Plessner 2002: 96).
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Darin beweist der Taktvolle eine Qualität, die auch den Diplomaten ausweist. Die Ähnlichkeit zwischen Takt und Diplomatie geht noch weiter: Was in Diplomatenkreisen als größter denkbarer Fauxpas gilt, nämlich sich mit seinem Gegenüber zu verbrüdern, das steht auch dem Takt entgegen – der Verlust des Abstands. Sowohl der Diplomat wie auch der Taktvolle haben das Gespür für Distanz und wissen diese zu wahren. Diplomat wie Taktvoller haben daher auch eine Körpertechnik erarbeitet, welche Distanz wahrt ohne Kälte zu verströmen. Beide vermeiden eine zu große Nähe zu ihrem Gegenüber und beschränken daher auch körperliche Berührungen auf das Mindeste. Auch hier ist die Mitte zu beachten, die zeitlich zwischen zu lang und zu kurz und energetisch zwischen zu stark und zu schwach liegt, wie sich schon am vermeintlich unkomplizierten, im gelebten Leben jedoch höchst anspruchsvollen Händedruck zeigt. Bereits um diese Geste sicher einzusetzen, bedarf es einer reichen Erfahrung und, wie es Plessner ausdrückt, des „Vermögens der Wahrnehmung unwägbarer Verschiedenheiten, (der) Fähigkeit, jene unübersetzbare Sprache der Erscheinungen zu begreifen, welche die Situationen, die Personen ohne Worte in ihrer Konstellation, in ihrem Benehmen, ihrer Physiognomie […] (in) unergründlichen Symbolen des Lebens“ zeigen (Plessner 1924: 107).
Nur wer die Mannigfaltigkeit des Lebendigen wahrzunehmen vermag, weiß um die Mitte und weiß sie fallweise auch zu ignorieren: Nicht die statische Mitte ist schließlich Ziel des Takts, sondern das oberste Ziel aller Ethik, Schaden zu vermeiden. Wer dem Trauernden angemessene Worte sagt, wer dem über sein Fehlverhalten Beschämten mit aufrichtigem Verständnis begegnet, wer sich deutlich vor den Ausgegrenzten stellt, der macht weniger Schaden wieder gut, als er sich bemüht, zusätzlichen Schaden zu vermeiden. Wenngleich Diplomat und Taktvoller auch temporal die Zurückhaltung üben und das Zulange meiden, so widersetzen sich doch beide dem Beschleunigungsdruck, wie er gerade im elektronischen Zeitalter herrscht. Dass die, damals noch elektrisch vorangetriebene, Beschleunigung der Gesellschaft und ihrer Kommunikationsmedien der Diplomatie und dem Takt zur Bedrohung werde, erkannte Helmuth Plessner bereits zu Beginn des 20. Jahr-
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hunderts (ebd.: 109). Was damals galt, gilt heute umso mehr: die Beschleunigung wird für die Gesten von Diplomatie und Takt zur Herausforderung, erfordern sie doch eine temporale Gegenbewegung in Form der Verlangsamung: Der handgeschriebene Brief beweist im Trauerfall mehr Takt als die schnellere Email und auch die Diplomatie nimmt sich selbst im Konfliktfalle Zeit und hinterlegt Protestnoten in Papierform. Form zu wahren zeichnet sowohl den Diplomaten wie auch den Taktvollen aus, wenngleich die Gründe sich unterscheiden mögen: Hat der Diplomat den zu erreichenden Zweck im Sinn, so geht es dem Taktvollen um den Respekt vor dem Anderen. So zumindest stellen sich die beiden Gesten in erster Lesart dar. Schaut man tiefer, sieht man, dass diese Motivationen zwar wichtig sind, aber nicht alleinig bestimmend. Denn der Taktvolle ist nicht nur durch Selbstlosigkeit angetrieben, sondern auch durch Selbstliebe und der Diplomat hängt seine Prinzipien nicht opportunistisch in den Wind, sondern versucht, wie der Taktvolle, seine Aufrichtigkeit zu wahren. Wenn eine Situation danach verlangt, anders zu scheinen als zu sein, stellt dies höchste Ansprüche an die Aufrichtigkeit, ohne diese zwingend zu verlieren. Denn Aufrichtigkeit ist, wie bereits Aristoteles feststellte, die Übereinstimmung mit sich selbst. Die verliert nicht notwendigerweise, wer anders scheint als er ist. Dass auch der Taktvolle seine Aufrichtigkeit bedroht sehen kann und dass er sie aus Selbstliebe zu wahren versucht, zeigt sich besonders deutlich, wenn er explizit unaufrichtig ist: Der Taktvolle vermeidet es, eine Wahrheit, die nur schmerzen, aber nicht lindern oder helfen kann, zur Sprache zu bringen, er schweigt, wo Worte mit der Wahrheit auch die Verzweiflung brächten und spricht leise, wo Lautsprecherisches nur beschämen würde. Damit bringt er dem Anderen Respekt entgegen. Zugleich und zuvörderst wahrt der Taktvolle damit seine eigene Identität. Und nur so kann er in der Unaufrichtigkeit aufrichtig bleiben. 3 Wer sich also freut, taktvoll behandelt zu werden, kann sicher sein, dass der, über den er sich gerade freut, gleichfalls Genugtuung über sein eigenes Tun empfindet. Takt zählt damit zu den angenehmen Gesten, die einem, wenn überhaupt, dann leicht von der Hand gehen. Zu Takt kann niemand gezwun3
Helmuth Plessner nennt dies die „Weisheit des Taktes: Schonung des andren um meiner selbst willen“ (Plessner 1924: 109).
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gen werden, auch nicht durch sich selbst. Damit lässt sich Takt weder durch eine Vorstellung von Pflicht noch durch gesellschaftliche Konvention erklären. Anders als der Anstand, der sich an der Sitte orientiert und auf die disziplinierende Kraft der Erwartungshaltung reagiert, verwahrt der Taktvolle sich gegen Fremderwartungen und bleibt alleine sich selbst verpflichtet. 4 Der Taktvolle gefällt sich in seiner Haltung und zugleich braucht er sie, um die von ihm für sich selbst erwünschte Aufrichtigkeit, die er in der Übereinstimmung seines gelebten mit dem von ihm selbst erwarteten Leben sucht, zu realisieren. Um dieses Ziel zu erreichen, braucht er bereits eine Vorstellung von demselben. Dass er sich hierbei mehr im Bereich der Ästhetik und der Aisthesis als der Ethik und des Ethos befindet, ergibt sich aus der Bedeutung der Wahrnehmung. Der Taktvolle bedarf daher nach Ansicht von Johann Friedrich Herbart (1776-1841), des „sittlichen Geschmacks“. Das bereits von Aristoteles diskutierte Problem, erst im tugendhaften Handeln tugendhaft werden zu können und doch zugleich einer Vorstellung der Tugend zu bedürfen, ohne welche man nicht tugendhaft handeln kann (Aristoteles 2006: 79f.; 1105a17ff.), stellt sich natürlich auch bei der besonderen Tugend des Takts. In den Worten von Herbart bedeutet dies, dass „das Vorgestellte, welches erst in der Befriedigung erreicht wird, zuvor habe begehrt werden können, wenn es in der Begehrung noch nicht vorgestellt wurde?“ (Herbart 1808: 14). Dazu aber bedarf es des sittlichen Geschmacks. Dieser unterscheidet sich in seinem Wesen nicht von anderem Geschmack, der immer die Vorstellung vom Zusammenspiel des Verschiedenen zum Ausdruck bringt und dabei „unbewussten Tact“ zeigt (ebd.: 20; zur Einheit des Geschmacks: 23). Ob in der Kunst oder im Sittlichen, immer leitet der Geschmack den Willen. In diesem Sinne ließe sich in Anlehnung an Kants auf die Vernunft gemünztes Diktum über den Geschmack daher sagen: Es gibt nicht viele Geschmäcker, etwa einen der Sitte und einen der Musik; Geschmack ist immer nur einer und für den gilt der Vorrang vor dem Willen (ebd.: 21). Wir handeln demnach nicht unserem Willen, sondern unserer ästhetischen Vorstellung gemäß. Für den Nachfolger auf dem Lehrstuhl Kants bedeutet der Vorrang des Geschmacks vor dem Willen auch die 4
Theodor W. Adornos Reflexion scheint unter Takt eher Anstand und eine Fortsetzung höfischer Sitte zu verstehen, entsprechend negativ fällt seine Charakteristik des Takts aus (Adorno 1951: 36ff.).
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Aufhebung der Pflicht. Das Sittliche hat es daher nicht mit Ernst, wohl aber mit Lust zu tun, ist es doch eine Freude, dem SittlichSchönen zu folgen (ebd.: 24). Den Vorrang einer natürlichen Orientierung im Handeln vor ihrer rationalen Ausrichtung befürwortet übrigens auch Plessner, der es als „Pflicht“ ansieht, „dem Reichtum auch der Kräfte (der) Natur Raum zu geben, die nicht von der Vernunft und von Geist und Werten und Sittengesetzen und Prinzipien gezügelt werden können“ (Plessner 1924: 111). Die Aufhebung der Pflicht, wie sie Herbart und Plessner befürworten, erledigt damit auch das Problem der Pflichtenkollision, Nach Herbart stellt die Rede, dass es eine Pflichtenkollision gar nicht geben könne, da es ja nur eine Pflicht gebe, zum einen eine billige Ausrede dar, welche die Komplexität des Lebens leugnet, und die zum anderen die natürliche Kompetenz zur Konfliktvermeidung unterlaufe; diese Kompetenz ist der Takt (Herbart 1808: 31). Takt lässt sich damit als Vermögen verstehen, das aus einem Sinn für Angemessenheit heraus, der natural vorgegeben und kulturell gebildet ist, den rechten Weg durch den Dschungel der Handlungsunsicherheit zu bahnen in der Lage ist. 5 Die Anerkennung dieser Kraft hat zugleich eine Bedeutungsminderung der Praktischen Philosophie zur Folge, die nicht länger Allgemeinheit reklamieren und statt dessen an die jedem zugängliche Sprache des „Herzens“ und des „Zartgefühls“ appellieren sollte. (ebd.: 31). 6 Statt der Begriffsanalyse widmet sich die Philosophie dann der Aufklärung verdeckter Schichten des Bewusssteins. Da diese Verdeckungen ihrerseits durch eine rationalistische Philosophie betrieben wurden, verbindet sich mit der Orientierung am Takt zugleich eine Philosophiekritik. Die Taktmoral ist daher beheimatet in Philosophien, welche nicht den philosophischen Mainstream bilden. Von den französischen Moralisten des 16./17. Jahrhunderts, über die schottischen Sensualisten des 18. Jahrhunderts bis zur deutschen Lebensphilosophie und Phänomenologie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zieht sich die Meinung, dass die 5 6
Plessner (1924: 111) spricht hier vom „Instinkt“. Die Nähe Plessners zu Herbart zeigt sich auch hier, wenn Plessner gleichfalls an die Herzlichkeit erinnert: „Echte Grazie, eine aus dem Herzen kommende Ursprünglichkeit und Wärme, Notwendigkeit allein gibt den adäquaten Untergrund für die Heilwirkung taktvollen Benehmens“ (Plessner 1924: 108).
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Menschen über eine natürliche Moral als eine ihnen vorrational und vortheoretisch zugängliche Vorstellung von gut und schlecht verfügen. Dieses „echte sittliche Bewusstsein“, wie Eduard von Hartmann (1842-1906) es nennt (Hartmann 2009: 119), wird demnach der Vernunft als überlegen betrachtet und die Aufgabe der Philosophie darin gesehen, die Verdrängung und Diskreditierung der Moralnatur rückgängig zu machen. Von der Befreiung der Natur vom Diktat der Vernunft wird die Ermächtigung einer Orientierung in der Praxis erwartet, die natürlicherweise dem Menschen eigen ist und die er zugleich kulturell angepasst hat. Der Takt bietet nicht immer, aber doch häufig die angemessene Orientierung, mit dessen Hilfe der Mensch den nötigen Abstand wahrt. Wie bereits beim Rhythmus, dem Takt in der Musik, geht es auch beim moralischen Takt um Quantitäten: „Größenverhältnisse“ müssen nach Hartmann „feinfühlig“ abgewogen werden. Diese Wägung kann ohne eine natürliche Gabe nicht Erfolg haben, wären wir doch überfordert, all die vielen Abstände und Gewichte in ein richtiges Verhältnis zu bringen. Aus eben diesem Grunde kann hier auch weder eine allgemeine Regel noch ein Gesetz der Vernunft helfen, sondern alleine ein Gefühl. Für Herbart ist dieses und nicht etwa ein moralisches Gesetz der Grund der Bewunderung und so schwärmt er, „es ist eine herrliche Sache um ein zartes Gefühl, das den Unterschied des Gewichts der verschiedenen Verhältnisse richtig angiebt, die Rücksichten, welche einem jeden zukommen, wohl abmisst, und so wie es überhaupt das Leben leitet, auch im Gedränge der Ansprüche, die manchmal sich streiten um dieselbe Zeit […]“ (Herbart 1890: 30).
Wie alle Vertreter der natürlichen Moral ist auch Hartmann begeistert von der „Gabe eines natürlichen feinfühligen Takts“ Hartmann 1878: 127), den er geradezu als Segen und Gottesgabe preist. Wenn es sich so um den Takt verhält, scheint dies zu bedeuten, dass man ihn nicht erwerben oder erlernen kann. Doch ganz so hoffnungslos sieht Hartmann es bei näherer Betrachtung dann doch nicht, wenn er überlegt, dass der Takt, der ja auch als sittlicher Geschmack bezeichnet wird, geübt und verfeinert werden kann, dies jedoch, wie allgemein bei der Tugend, nicht in abstracto, sondern nur jeweils im praktischen Vollzug (ebd.; 129, 131).
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Wird die Überlegenheit des Takts gegenüber der Vernunft von seinen Verfechtern hervorgehoben, so betont Hartmann zusätzlich seine den Raum des Sozialen imprägnierende Kraft. Er spricht von dem „feinsten Parfüm“, das sich überall dort ausbreitet und mit seinem feinen Duft wenn nicht betört, so doch in angenehme und einander verbindende Stimmung versetzt, wo abstrakte Regeln einen „im Stiche“ lassen (ebd.: 128).
Taktvoll sein Der Takt ist, wie wir gehört haben, eine Gabe, die man nur in Maßen entwickeln und entfalten kann. Gerade deshalb finden Taktvolle unsere Bewunderung: Sie verfügen über etwas, das den meisten fehlt und sie verfügen dadurch, dass sie diese Gabe bekommen, bewahrt und gegebenenfalls kultiviert haben, über sich und die anderen in einer einzigartigen Weise. Denn nur der Taktvolle kann sowohl sich wie auch die anderen dadurch berühren, dass er Abstand wahrt. Und durch den Abstand erhält er seine Aufrichtigkeit und gibt den anderen den Raum, den sie brauchen, um ihre Aufrichtigkeit zu entfalten. Eine solche Gabe, die zu geben versteht, damit einem nicht genommen wird, könnte man, wie in frühester Zeit geschehen, als Akt der Klugheit betrachten. 7 Es ist jedoch mehr als dies und die ästhetische Dimension, die dem Taktvollen anhaftet, erinnert wohl nicht ohne Grund an die Musik. Takt hat eine ästhetische Dimension, indem er der Nüchternheit des Alltags Musikalität einhaucht. Dies mag der letzte Grund sein, warum dem Taktvollen – anders als dem Possenreißer oder Entertainer – mit stiller Dankbarkeit begegnet wird. Takt steckt an, weswegen die Dankbarkeit dem Taktvollen gegenüber sich nicht in Ovationen entlädt, sondern gleichfalls taktvoll den Abstand wahrt. Die „Gedämpftheit des Ausdrucks“ (Plessner 1924: 110) ist daher für den Takt charakteristisch. Dass sich auch hierin Klugheit zeigt, ist nicht zu leugnen, denn es macht guten Sinn, sich mehr vor dem Zuviel als vor dem Zuwenig zu hüten, wie Hartmann erklärt. Denn während man ein Zuwenig durch Verstärkung in der Regel noch korrigieren kann, ist eine solche Korrektur bei einem Zuviel nicht mehr möglich (Hartmann 1878: 129). 7
So wird denn auch der Takt in Jesus Sirach 8,1-19 verstanden.
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Wenn wir den Taktvollen bewundern, so ist diese Bewunderung gleichwohl nicht ungebrochen und unterscheidet sich von der Bewunderung, die wir beispielsweise einem erfolgreichen Sportler entgegenbringen. Daher gilt es auch wenn nicht sogar als taktlos, so doch als deplaziert, im Bereich des Takts von Meisterschaft zu reden. Der Taktvolle ist schon deshalb kein Meister, weil er sein Vermögen zu einem Großteil geschenkt bekommen hat und dieses Vermögen nicht zum Zwecke der eigenen Verbesserung kultiviert, wenngleich er gerade dies mit seiner permanenten Einübung in und Verfeinerung des Takts gerade erreicht. Hierin erscheint der Taktvolle als nahezu naiv und zwar im ursprünglichen Sinne: Es sind daher Kinder, wie Tolstoi (1828-1910) (1878: 227) feststellt, die über den feinsten Takt verfügen. Für den Erwachsenen ist es eine Herausforderung, die den Kindern noch präsente natürliche Moral in die durch den Rationalismus ernüchterte Welt hinüberzuretten, ohne dabei kindisch zu wirken (vgl. Plessner 1928: 374). Nichts wirkt deshalb peinlicher als ein krampfhaft zur Schau getragenes Taktbewusstsein – auch hier ist die Parallele zwischen Musik und Ethik augenfällig: Beim Takt kommt es auf die Souveränität an, mit der der Taktvolle selber die Abstände, ohne welche kein Takt sein kann, markiert. Der Taktvolle bleibt damit Herr der Lage und Autor seiner eigenen gesellschaftlichen Positionierung. Es ist daher nicht Eitelkeit, sondern unverzichtbare Bedingung für seinen Erhalt als souveräne Persönlichkeit, wenn der Taktvolle auch in temporaler Hinsicht den Takt bestimmt und sich nicht etwa von den Zeitläuften bestimmen lässt. Die Souveränität, ohne welche der Taktvolle Halt und Maß verliert, trachtet der Taktvolle zu erhalten, nicht um dadurch Gesicht oder Ruf zu wahren, sondern um sich selbst vor sich selbst zu bewahren. Die in der Diplomatie zu hohem Ansehen gelangte gesichtswahrende Lösung ist auch dem Taktvollen wichtig. Das Gesicht des anderen nicht aus- und bloßzustellen, ist die vornehmste Aufgabe des Takts. Die dazu nötige Vorsicht im Auftreten bringt es mit sich, dass die Mittel sich zwar nicht immer, aber doch häufig, durch Zurückhaltung auszeichnen. Denn jede Intensität birgt die Gefahr der Maßlosigkeit und des Verlustes der Ausgeglichenheit. Zur Charakterologie des Taktvollen zählen daher zusätzlich zu der bereits diskutierten Aufrichtigkeit die Bescheidenheit und Gelassenheit.
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Bescheidenheit ist dem Taktvollen eigen, da sie die Voraussetzung dafür ist, dass er den nötigen Abstand wahrt und nicht etwa durch mangelnde Bescheidenheit eine aufdringliche Nähe erzeugt. Bescheidenheit ist indes nicht zu verwechseln mit Unsicherheit und Verlegenheit, sondern Ausdruck einer inneren Stärke, die hier Souveränität heißen soll und die sich nicht durch Fremderwartungen verunsichern lässt. Der Bescheidene und der Taktvolle kommen darin überein, dass sie ihre Unabhängigkeit wahren und in sich selbst ruhen. Der Vergleich der Bescheidenen mit den Unbescheidenen lässt sich auch auf energetischer Ebene ziehen. Wo die Unbescheidenen zu immer neuen Kapriolen ihrer vermeintlichen Größe ausholen müssen, brauchen die Bescheidenen „sich nie über ihre Kräfte hinaus zu verausgaben und behalten dadurch immer eine Kraftreserve“ (Bollnow 1947: 226). Die Ausgeruhtheit, welche den Bescheidenen charakterisiert, verleiht ihm die innere Ruhe der Gelassenheit. Wie die Bescheidenheit, so drückt auch die Gelassenheit Stärke aus: Nicht etwa Gleichgültigkeit gegenüber dem Weltenlauf, sondern eine aus der inneren Ruhe gespeiste Unaufgeregtheit zeichnet den Gelassenen aus. Dies zeigt sich auch in seiner Stellung zur Welt: Das Expressive ist seine Sache nicht, zum guten Ton zählt er auch das Schweigen. Wie wir bereits gesehen haben, entfaltet der Taktvolle sein Leben nicht nach Maßgabe einer normativen Ethik; wollte man dennoch von einer Norm des Taktvollen sprechen, so ist es einzig die des „Werde, der du bist“. Die Aufrichtigkeit, die im Takt zur Geltung kommt, verhilft dem Taktvollen zur Authentizität. 8 In diesem Sinne schreibt der Taktvolle mit seinem Takt eine Anthropologie (vgl. Bollnow 1947: 139). Damit bestätigt sich auch Kants Diktum vom Primat der Anthropologie, auch über die Ethik (Kant 1800: 448; A 25f.). Will man den Begriff der Ethik gleichwohl nicht suspendieren, so bietet sich der einer naturalistischen Ethik an. Friedrich Nietzsche, der Kritiker einer rationalistischen und normativen Ethik sieht, Smith vergleichbar, den natürlichen und d.h. durch keine Theorie verbildeten Geschmack als die Vorausset-
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Vielleicht beneiden wir die Taktvollen um diese Authentizität, wenn wir erleben, dass „they have acted like themselves, and futably to their own Genius and Character“, wie es Anthony Shaftesbury (1671-1713) ausdrückt (1968: Vol. I.: 280).
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zung für ein taktvolles Benehmen. 9 Wir können daher feststellen, dass der Mensch das Wesen ist, das naturbegabter Weise mit einem Gefühl von Angemessenheit und Unangemessenheit ausgestattet ist und in seiner angemessenen Weltpositionierung seine Vervollkommnung findet. Diese Beschreibung mag an eine Strebensethik, welche sich im Sinne Foucaults elaborierter Selbsttechniken bedient, erinnern (Krämer 1995: 185ff.). Dass der Taktbewusste damit schlecht beschrieben wäre, zeigt sein eigenes Benehmen: Das Schweigen, den bewusst eingenommenen Abstand, die Mäßigung des Ausdrucks, – alle diese Gesten machen für den Taktvollen Sinn, wobei es der Takt gebietet, Sinn nicht funktional zu verstehen.
Literatur Adorno, Theodor W. (1951) Minima Moralia. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984. Aristoteles (2006): Nikomachische Ethik. Übers. u. hg. v. Ursula Wolf. Reinbek: Rowohlt. Bollnow, Otto Friedrich (1947): Die Ehrfurcht. Wesen und Wandel der Tugenden. In: Ders.: Schriften Bd. II. Würzburg: Königshausen & Neumann 2009. Chamfort, Nicolas (1795): Maximen und Gedanken. In: Französische Moralisten. Hg. von Fritz Schalk. Zürich: Diogenes 1995, S. 345-434. Hartmann, Eduard von (1878): Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins. Eine Entwicklung seiner mannigfaltigen Gestalten in ihrem inneren Zusammenhang. Hg. v. Jean-Claude Wolf. 4. Aufl. Göttingen: V&R-Unipress 2009. Herbart, Johann Friedrich (1808): Schriften zur Praktischen Philosophie. In: Herbart’s Sämmtliche Werke. Hg. v. G. Hartenstein. Achter Band, zweiter Abdruck, Hamburg/Leipzig: Leopold Voss-Verlag 1890.
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So heißt es bei Friedrich Nietzsche in „Jenseits von Gut und Böse“ (1886): „[…] und es ist möglich, dass sich heut im Volke, im niedern Volke, namentlich unter Bauern, immer noch mehr relative Vornehmheit des Geschmacks und Takt der Ehrfurcht vorfindet, als bei der zeitungslesenden Halbwelt des Geistes, den Gebildeten“ (Nietzsche 1886: 218; Aph. 263).
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ANDREAS BRENNER: DER RICHTIGE ABSTAND
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Jörg Zirfas
Pädagogischer Takt Zehn Thesen
Vorbemerkungen Im Folgenden wird die Thematik des Pädagogischen Taktes sowohl aus dem Blickwinkel der Allgemeinen Pädagogik als auch aus dem der Kulturpädagogik entfaltet. Unter Allgemeiner Pädagogik wird hier der Entwurf einer Begriffsbestimmung und Theorie des pädagogischen Taktes verstanden. Die kulturpädagogische Betrachtungsweise wird in doppelter Perspektive eine Rolle spielen: zum einen im Kontext der älteren Kulturpädagogik, wie sie im Umkreis der geisteswissenschaftlichen Pädagogik in den 1920er und 30er Jahren entwickelt wurde, in der das Erziehungsgeschehen in einem umfassenden kulturgeschichtlichen Horizont interpretiert worden ist; und zum anderen in der Perspektive der modernen Kulturpädagogik, in der spätestens seit den 1970er Jahren die Kultivierung der pädagogischen Praxis stark fokussiert wurde. In diesem Text wird davon ausgegangen, dass sich die Forderung nach dem pädagogischen Takt an den Erzieher, nicht an den Zögling wendet, d.h. es geht hier um die Frage nach einer taktvollen Erziehung. Davon zu unterscheiden ist die Selbstbildung zu einem taktvollen Menschen. Unter dem Begriff Erziehung werden hier jene (intentionalen und funktionalen, direkten und indirekten) Handlungspraktiken verstanden, die die Bedingungen dafür bereitstellen, dass Menschen in die Lage versezt werden, sich zu einem bestimmten geforderten Verhalten und Handeln zu entwickeln. Erziehung ist Einwirkung zum Zwecke der Entwicklungsförderung. Das moderne Ziel von Erziehung lautet dabei: Selbstständigkeit – in allen Praxen des menschlichen Lebens (Ökonomie, Politik, Gesellschaft, Kunst etc.). Kurz: Erziehung ist in der Moderne die Zumutung (das Ansinnen, die Forderung) der Mündigkeit.
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ETHIK UND PÄDAGOGIK
Der folgende Beitrag unternimmt insgesamt den Versuch, einige historische und systematische Hintergründe, Bedeutungsdimensionen, Formen und Funktionen des erzieherischen Takts in thesenartig zugespitzter Perspektive darzustellen und zu erörtern. 1. Die Diskussion um den pädagogischen Takt ist eine moderne Diskussion, die mit einer Veränderung des pädagogischen Bezugs seit dem 18. Jahrhundert einhergeht. Solange angenommen wurde, dass der Zögling sich radikal am Erzieher zu orientieren habe, der wiederum die wahre und richtige Ordnung verkörperte, konnte man – überspitzt formuliert – in der Erziehung keine Taktlosigkeiten begehen. Diese These behauptet nicht, dass es bis in das 18. Jahrhundert hinein keine Normen für und Debatten über das richtige Verhalten des Erziehers gab, was man z.B. an einer Geschichte der Problematisierung der moralischen Qualitäten eines Erziehers mühelos nachweisen könnte. Sie behauptet aber, dass die spezifische Frage nach dem pädagogischen Takt erst in dem Zeitalter eine Rolle spielen konnte, in dem bestimmte soziale und pädagogische Ordnungsvorstellungen im Schwinden begriffen waren und andere Formen der Sensibilität entwickelt wurden. So erscheint es nicht zufällig, dass Voltaire den Begriff „Takt“ (frz. tact) 1776 wohl erstmals verwendet hat. Am Ende des 18. Jahrhunderts, in dem das Wohlbefinden des Einzelnen in der Gesellschaft mehr und mehr vom Takt des anderen Individuums abhängig wird – „also von einer Schonung des Verletzlicheren, die sich der jeweils Stärkere freiwillig auferlegt“ (Blochmann 1951: 590) –, wird nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in der Pädagogik die Frage nach dem Takt verstärkt virulent. In diesem Sinne erscheint es durchaus plausibel, dass die Entwicklung des pädagogischen Taktbegriffs in die Zeit der pädagogischen Aufklärung fällt, in der pädagogische Fragen nach dem Glück des Kindes (das durchaus noch für die Belange der Gesellschaft instrumentalisiert werden konnte) oder dem Nutzen der Gesellschaft, nach der Entwicklung von Selbstständigkeit und Autonomie aller Menschen, nach einer möglichst vernünftigen und gewaltfreien Erziehung, nach der Förderung von Interessen und Lernkapazitäten, aber auch nach einer sozialpädagogischen Erziehung der Armen ihren Anfang nahmen. Theodor W. Adorno bringt es auf den Punkt:
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JÖRG ZIRFAS: PÄDAGOGISCHER TAKT
„Hat doch Takt seine genaue historische Stunde. Es ist die, in welcher das bürgerliche Individuum des absolutistischen Zwangs ledig ward. Frei und einsam steht es für sich selber ein, während die vom Absolutismus entwickelten Formen hierarchischer Achtung und Rücksicht, ihres ökonomischen Grundes und ihrer bedrohlichen Gewalt entäußert, gerade noch gegenwärtig genug sind, um das Zusammenleben innerhalb bevorzugter Gruppen erträglich zu machen“ (Adorno 1984: 36).
Es wäre ein durchaus lohnenswertes Projekt, diese historische Bemerkung Adornos in den beginnenden Emanzipationsbewegungen der Aufklärungspädagogiken nachzuzeichnen, die in einem die Autonomie der einzelnen Menschen und damit auch diejenige breiter, unterprivilegierter Bevölkerungsschichten fördern und zugleich die individuelle und kollektive Selbstentfaltung in einem obrigkeitskonformen Sinne disziplinieren und kanalisieren wollten (vgl. Hermann 1981). 2. In der frühen Neuzeit werden mit der Renaissance und dem Humanismus neue Zivilisierungsstandards und Peinlichkeitsschwellen etabliert, denen – nach allem, was wir aus der Geschichte der Pädagogik wissen – auch die Erzieher nicht immer gerecht wurden. Pädagogischer Takt kann implizit eine Rolle in den einschlägigen Debatten gespielt haben; explizit wird er aber bis in das frühe 19. Jahrhundert meines Wissens nicht thematisiert. Zur Zeit der Reformation und des Humanismus wird das Problem des körperlichen Verhaltens so wichtig, dass selbst Humanisten vom Range eines Erasmus von Rotterdam (1469-1536) sich diesem Thema annehmen. Für die Geschichte der Pädagogik wie die der Zivilisierung insgesamt bedeutsam ist seine kleine Schrift „De civilitate morum puerilium“, die 1530 erschienen ist, und die in den nächsten Jahren nicht weniger als 30, im ganzen schließlich etwa 130 Neuerscheinungen erleben und Auswirkungen auf ganz Europa haben wird (vgl. Erasmi 1721). Für Norbert Elias erhält der schon damals alt bekannte Begriff der „civilité“ seine spezifische und sehr weit reichende Prägung und Funktion als anständiges (körperliches) Benehmen in der Gesellschaft eben durch diese Schrift von Erasmus (Elias 1985, Bd. I: 66ff.). Denn im historischen Moment einer Verschiebung der Gesellschaftshierarchien, von einer ritterlich-feudalen zu einer höfisch-absolutistischen, und der damit verbundenen Etablierung
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ETHIK UND PÄDAGOGIK
einer neuen Oberschicht, wird die Frage nach dem guten Benehmen im verstärkten Maße dringlich, da es nun neue Formen des Zusammenlebens braucht: So wird allmählich ein restriktiveres Verhalten und größere Rücksichtnahme vom Einzelnen gefordert (ebd.: 89ff.). Angesichts der politischen und religiösen Turbulenzen jener Zeit glaubten die Humanisten und glaubte Erasmus, dass eine Versöhnung der Menschen untereinander nur durch eine Bildung des Geistes und der Herzen zu erreichen sei, durch einen persönlicheren Ton, eine wachsende soziale Empfindlichkeit, intensivere Menschenbeobachtung und größeres Verständnis für die Mitmenschen (vgl. Göttert 2009: 106ff.). Diese Diskurse werden hier aus zwei Gründen nicht in das Begriffsumfeld des pädagogischen Taktes aufgenommen. Erstens haben die Debatten um Höflichkeit, Anstand, Etikette, Zivilität etc. und die mit ihnen verbundenen Verhaltensaufforderungen im Unterschied zum Takt einen wesentlich stärkeren Bezug zur Sittlichkeit, d.h. zu gelebten und geforderten sozio-moralischen Verhaltensweisen, während der pädagogische Takt die (unmittelbare) zwischenmenschliche Beziehung zu einem oder mehreren Menschen fokussiert (vgl. Felderer/Macho 2002). Zum zweiten wird, wie paradigmatisch bei Erasmus, dann aber auch in der Pädagogik der Renaissance und des Barock, zwar von der Erziehung zur Höflichkeit gesprochen, gemeint ist aber oftmals die Selbstbildung zu einem höflichen Menschen – die hier nicht thematisiert werden soll. 3. Der Begriff „pädagogischer Takt“ geht in seiner wesentlichen Bedeutung für die Pädagogik auf Johann Friedrich Herbart (1776-1841) zurück. Seit Herbart wird dem Takt in der Pädagogik eine intensivere theoretische Behandlung zuteil. Der locus classicus der Pädagogik zum Thema Takt findet sich in Herbarts ersten Vorlesungen über Pädagogik von 1802: „Nun schiebt sich aber bei jedem noch so guten Theoretiker, wenn er die Theorie ausübt und nur mit den vorkommenden Fällen [...] verfährt, zwischen die Theorie und die Praxis ganz unwillkürlich ein Mittelglied ein, ein gewisser Takt nämlich, eine schnelle Beurteilung und Entscheidung, die nicht wie der Schlendrian ewig gleichförmig verfährt, aber auch nicht, wie eine vollkommen durchgeführte Theorie wenigstens
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sollte, sich rühmen darf, bei strenger Konsequenz und in völliger Besonnenheit an die Regel zugleich die wahren Forderungen des individuellen Falles ganz und gerade zu treffen“ (Herbart 1802: 126).
Pädagogischer Takt, so wird in diesen Zeilen deutlich, ist ein Vermittlungsprinzip. 1. schnell, 2. rational („Beurteilung und Entscheidung“), 3. flexibel („nicht gleichförmig“) und 4. die Individualität berücksichtigend. Alle von Herbart genannten Prädikate lassen sich durchaus diskutieren: So kann man z.B. mit Jean-Jacques Rousseau darauf hinweisen, dass es in der Pädagogik nicht auf die Schnelligkeit von Erziehungshandlungen, sondern auf das Zeitlassen für den Zögling ankommt (Rousseau 1762: 212). In diesem Sinne könnte ein taktvolles pädagogisches Urteil bzw. Handeln eines sein, das nicht schnell, sondern langsam und bedächtig, sozusagen müßig, von statten geht. Wenn Herbart hier von einer schnellen Entscheidung spricht, so hat er wohl pädagogische Situationen im Blick, in denen unmittelbar eine Entscheidung getroffen bzw. eine Handlung erfolgen muss, in denen sich der Pädagoge also einem Entscheidungsdruck ausgesetzt sieht, so dass er sein Urteil nicht aufschieben kann. Hier kommt ihm der pädagogische Takt zur Hilfe, der ihm eine unmittelbare Wahl von Zielen, Methoden und Einstellungen nahe legt. So verweist auch Birgit Ofenbach in ihrer Zusammenfassung der Takttheorie von Lazarus aus seinem Werk über das „Leben der Seele“ (1882) auf die wichtige temporale Dimension des Takts: „die Schnelligkeit der Übersicht und das Tempo des Denkens“ (Ofenbach 1988: 574). 1 Zum zweiten ist es in der einschlägigen Literatur durchaus umstritten, den (pädagogischen) Takt nur rational zu verstehen. Oftmals synonym gebrauchte Begriffe wie Feingefühl, Sensibilität, Aufmerksamkeit, Geschmack, Ahndung, (Ge-)Schicklichkeit, Gespür etc. verweisen darauf, dass man Takt vor allem als emotionale Handlung fassen kann. So versteht Hans-Georg Gadamer (1990: 45) den Takt als „Geschmack für den besonderen Fall“, als Gefühl für das Singuläre. Hier wäre zu überlegen, inwieweit in rationale Überlegungen immer schon emotionale Qualitäten mit eingehen 1
Darüber hinaus werden noch drei weitere Elemente des Takts genannt: „eine umfassende Wahrnehmung, eine Feinheit der Abwägungen mannigfaltiger und widerstreitender Verhältnisse und eine schöpferische (oder künstlerische) Anwendung im Leben“ (ebd.).
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bzw. inwieweit Takt sich nicht nur durch kognitive, sondern darüber hinaus durch sinnliche, emotionale und volutative Aspekte auszeichnet. Drittens ist, wiederum in der Nachfolge Herbarts, ein unwillkürlicher Takt den Pädagogen ein Graus. Takt, der sich nicht der Moralität verpflichtet weiß, der nicht in die „bewusste Anerkennung einer verbindlichen Ordnung“ (Ipfling 1966: 291) eingebunden ist, degeneriert für viele Pädagogen zum Subjektivismus und zur Willkür. Braucht also der pädagogische Takt sozio-moralische, normativ verbindliche pädagogische Standards oder bildet er nicht umgekehrt die Kompensation dieser Standards? In der Pädagogik der Nachfolger Herbarts ist der Takt vor allem als pragmatische Kompensation für eine niemals vollständige Theorie und für eine fehlende Technologie aufgefasst worden (vgl. Treml 2004: 204). Und schließlich ist pädagogischer Takt – und das ist in einem historischen Kontext schon angedeutet worden und soll im Folgenden noch entfaltet werden – vor allem der (pädagogischen) „Entdeckung“ der Individualität im 18. und 19. Jahrhundert geschuldet. Anders formuliert: Pädagogischer Takt ist der Versuch, dem individuellen Gegenüber gerecht zu werden. Allerdings ist das nur die halbe Wahrheit. Denn die „wahren Forderungen des individuellen Falles“ können ebenso mit den theoretischen oder normativen Vorgaben wie mit den gesellschaftlichen Anforderungen kollidieren. 4. Pädagogischer Takt ist zugleich abhängig von den Gedanken der Individualität und der Sozialität des Zöglings: Der Gedanke der Individualität und radikalen Andersartigkeit der Subjekte wird in der Pädagogik erst im 18. Jahrhundert bedeutsam; er wird vor allem im Neuhumanismus und in der Romantik bestimmendes Gedankengut der Erziehung. Einerseits soll das Individuum seine Unverwechselbarkeit beibehalten, andererseits soll es durchaus sozial und moralisch anschlussfähig gemacht werden. Der Gedanke der Individualität und radikalen Andersartigkeit der Subjekte wird in der Pädagogik erst im 18. Jahrhundert bedeutsam; er wird vor allem im Neuhumanismus und in der Romantik bestimmendes Gedankengut der Erziehung. Anthropologisch gedacht steht hinter diesen Überlegungen die Figur eines singulären, völlig einzigartigen Wesens, das sich zwar mit anderen Menschen 170
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vergleichen lässt, aber zugleich in radikaler Weise andersartig und unvergleichlich ist: individuum est ineffabile. Weil jeder Mensch seine radikale Bestimmung darin findet, sich selbst individuell zu bestimmen, muss die Pädagogik auf Individualität taktvoll reagieren, um diese nicht zu zerstören: „Das aufs Individuelle gerichtete ist das, was wir Takt nennen, Gefühl für das einem jeden für sich Unanständige“ (Schleiermacher 1805/6: 147). Der individuellen Unbestimmtheit kann man pädagogisch in sehr unterschiedlichen, teilweise kontradiktorischen Richtungen begegnen: So kann Rousseau vor der Überlegung einer anfänglich guten Natur des Kindes, eine Erziehung mit dem Misstrauen in die Gesellschaft verknüpfen, während Immanuel Kant eine Erziehung als Disziplinierung der wilden Natur des Menschen versteht. Dabei korrespondiert die Unbestimmtheit jeweils mit ihrem Ziel, nämlich der Selbstbestimmung. In diesem Sinne verweist die Konjunktur des Bildungsbegriffs, der seine heutige Bedeutung der Entstehung im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert verdankt, auf die taktvolle Zurücknahme des Erziehers aus dem pädagogischen Geschehen, denn Bildung ist vor allem Selbstbildung. Der taktvolle Erzieher ist gleichsam derjenige, der nur noch den pädagogischen Rahmen bereitstellt, in dem sich die Menschen selbst bilden können. Pädagogischer Takt ist eine Form des Indirekten, die die Bedingungen der Möglichkeit der Selbstbildung bereitstellt. Doch ist die Moderne nicht nur das Zeitalter des Individuums, sondern auch das der Gesellschaft. Diese klingt schon in der Aufklärungspädagogik bzw. bei Kant an, der in der Erziehung fordert, dass das Kind nicht nur diszipliniert, sondern auch kultiviert, zivilisiert und moralisiert werden soll. Dass man sich mit dem pädagogischen Takt in Paradoxien verwickeln kann, da man zugleich dem Einzelnen und der Gesellschaft gerecht werden muss, bezeichnet einen wichtigen Problemkomplex; der andere, und vielleicht tiefergehende, besteht darin, dass es auch unmöglich erscheint, dem individuellen Gegenüber wirklich gerecht zu werden. Diese Problematik findet sich z.B. bei Georg Simmel wieder, der den Takt in sozialen Situationen zu umreißen versucht. „Takt ist das Vermögen der Wahrnehmung unwägbarer Verschiedenheiten, die Fähigkeit, jene unübersetzbare Sprache der Erscheinungen
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ETHIK UND PÄDAGOGIK
zu begreifen, welche die Situationen, die Personen ohne Worte in ihrer Konstellation, in ihrem Benehmen, ihrer Physiognomie nach unergründlichen Symbolen des Lebens reden“ (Simmel 1972: 98).
Weder von Seiten einer allgemeinen sozialen Theorie noch von Seiten einer konkreten Individualität lassen sich somit für ein taktvolles pädagogisches Verhalten (normative und pragmatische) Vorgaben gewinnen. „Takt ist eine Differenzbestimmung. Er besteht in wissenden Abweichungen“ (Adorno 1984: 38). 5. Eine für die Pädagogik der Moderne entscheidende Frage lautet – mit Kant – wie man die Freiheit bei dem Zwange kultivieren kann. Seitdem hat die (wissenschaftliche) Pädagogik ein schlechtes Gewissen, insofern sie einerseits in das Wollen des Kindes eingreifen muss und andererseits dabei riskiert, das Kind in seiner Selbstzweckhaftigkeit zu verletzen. Um das pädagogische Ziel der Moderne, nämlich Selbstbestimmung, zu gewährleisten, muss man den pädagogischen Takt als Verzicht auf den Willen zur Durchsetzung einer spezifischen Weltsicht oder Handlungspraxis verstehen: Pädagogischer Takt ist ein Plädoyer für Pluralität und Heterogenität. In der Moderne ist die Pädadgogik dazu aufgefordert, sich zu dem Imperativ verhalten, den Menschen (genauer: die Menschheit) „jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel“ (Kant 1785: 61, BA 66f.) zu verstehen. Hier lässt sich zunächst eine ethische Entlastung für Erziehung herauslesen, scheint doch die Instrumentalisierung eines Menschen der Normalfall, zu dem die Anerkennung seines Selbstzweckes lediglich hinzukommen soll, so dass sich das geforderte (pädagogische) Handeln immer durch zwei Tendenzen, der (taktlosen) Instrumentalisierung und der (taktvollen) Achtung des anderen auszeichnet. Zieht man von hier aus die Linie zu der bekannten Frage Kants (1803: 711), wie denn die Freiheit bei dem Zwange zu kultivieren sei, so lässt sich festhalten, dass Kant nicht von Erziehung im Sinne von Wartung (Verpflegung, Unterhaltung), Disziplinierung (Zucht), Zivilisierung und Moralisierung, sondern lediglich von Kultivierung, das meint Belehrung und Unterweisung, spricht, „daß man überall die richtigen Gründe aufstelle, und den Kindern begreiflich und annehmlich mache“ (ebd.: 754). Der Zwang resultiert nach Kant also nicht aus der (Form von) Erziehung, sondern aus der Unterwerfung unter das Gesetz der öffentlichen Erziehung, mithin daraus,
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JÖRG ZIRFAS: PÄDAGOGISCHER TAKT
dass man überhaupt öffentlich zur Selbständigkeit erzogen werden muss. Nicht also die Unterwerfung unter den Zwang erzieht den Menschen, sondern das Begründen und Begreiflichmachen des Zwangs, denn nur, so Kant, wenn man den Zwang der Gesellschaft „fühlt“, kann man Selbsterhaltung und Unabhängigkeit lernen. Dahinter steht die These, dass Menschen ihre Freiheit nur im Lichte des Gesetzes erkennen können: Gäbe es kein Gesetz als ratio cognoscendi der Freiheit, so würde man Freiheit überhaupt nicht annehmen; gäbe es nur Gesetze, dann gäbe es auch keine Freiheit, sondern nur Determination. Das Ziel der Erziehung in der Moderne besteht in einer paradoxalen Symmetrisierung: Der Zögling soll zu demjenigen werden, der er immer schon ist, nämlich ein freier, selbständiger Mensch. Der Erzieher hat somit die Aufgabe, den Zögling als jemanden anzuerkennen, der er noch nicht ist und zu etwas aufzufordern, was er noch nicht kann (Benner 1991: 71). „Der pädagogische Takt macht die persönliche Beziehung zwischen Zögling und Erzieher zu einer Art Experimentierfeld, auf dem der eine ohne Gefahr das Potential seiner Autonomie erproben und der andere in aufmerksamer Selbstreflexion die Richtigkeit seiner Handlungen und die Gültigkeit seiner Wissensbestände testen und überprüfen kann“ (Parmentier 1991: 130).
Der pädagogische Takt bleibt eingebunden in diese pädagogische Paradoxie, Menschen zu einem selbstbestimmten Verhalten aufzufordern, das sie von sich aus zunächst noch nicht verwirklichen können. Diese Paradoxie spielt auch in die Flexibilität des pädagogischen Takts hinein. Der Pädagoge muss also taktvoll sein, um keinen unterwürfigen Charakter zu bilden, um die Selbstständigkeit zu fördern und um das Ziel von Erziehung, seine eigene Überflüssigkeit, anzuvisieren. Das bedeutet aber auch, die Zumutungen an die Mündigkeit des anderen – wenn nötig – zu begrenzen und diesen ggf. aus der Forderung nach Mündigkeit zu entlassen. 6. Der pädagogische Takt ist abhängig vom Gedanken der Erziehung als sich negierendes Gewaltverhältnis. Die Geschichte der Gewalt gegenüber Kindern ist lang und ernüchternd: Kindstötungen, Misshandlungen, Selektionen, Aus-
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beutungen, Missbräuche und Bestrafungen aller Art sind über die Jahrhunderte hinweg stetige Begleiter der Erziehung. Seit dem 18. Jahrhundert setzt sich vor dem Hintergrund verschiedener reformpädagogischer Bewegungen (soziale, kind- und jugendbezogene, didaktische, lerntheoretische etc. Entwicklungen) zunehmend die Erkenntnis durch, dass Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung haben. Deutschland hat, im Vergleich zu anderen europäischen Ländern – in Schweden gilt das Recht auf gewaltfreie Erziehung seit 1966 – relativ lange gebraucht, dieses Recht auch zu kodifizieren. Seit dem Inkrafttreten des § 1631 vom 3.11.2000 heißt es im Bürgerlichen Gesetzbuch unmissverständlich: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ Ob und inwiefern es realiter eine gewaltfreie Erziehung geben kann, ist seitdem Teil der einschlägigen Debatte, ist doch die Grenze zwischen gewaltfreier und gewalttätiger Erziehung nicht eindeutig ziehbar. Inwieweit sind Fernsehverbote, Taschengeldkürzungen oder Ermahnungen, ja inwieweit ist selbst die Bitte eines Erziehers Ausdruck pädagogischer Gewalt? Pädagogische Gewalt als Einschränkung der Freiheit lässt sich allerdings mit der pädagogischen Tradition dort rechtfertigen, wo der Zögling die eigene Selbstständigkeit, aber auch die der anderen bedroht; der Zögling gilt dann als selbstständig und das erzieherische Verhältnis als aufgelöst, wenn er für sich selbst und für andere Verantwortung übernehmen kann. Generell kann hier festgehalten werden, dass in der Moderne von den Erziehern ein möglichst gewaltfreies, achtendes, empathisches, vor- und nachsichtiges: kurz ein taktvolles Verhalten gegenüber den Zöglingen gefordert wird. Der pädagogische Takt ist gleichsam der implizite Imperativ für den Pädagogen der Moderne. „Vor allem, wer die Macht hat, ist in der Gefahr, das Maß zu verlieren, auf dem aller Adel und alle Schönheit des Lebens beruht. Das feine Gefühl für das richtige Maß nennen wir Takt. Der Takt ist das eigentliche pädagogische Werkzeug“ (Nohl 1962: 33f., zit.n. Koucky 2008: 228).
Generell wird auch heute noch in einem in den sozialen Raum übertragenen Sinne der Takt nicht in Verbindung mit dem Schlagen, sondern mit der Zurückhaltung und dem Feingefühl gegen-
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über dem anderen und auch mit der Schonung des anderen gebracht. Diese beiden Momente werden etwa von Jacob Muth (1967: 15f., 20) hervorgehoben: „Jenes Feingefühl, das den Taktvollen auszeichnet, ist ein Gefühl für das Du, für den Mitmenschen, für die Eigenart und das Eigenrecht des andern Menschen, ist ein Respekt vor der letzten Unnahbarkeit des anderen. […] Und die Zurückhaltung, die der taktvolle Mensch im Umgang mit dem anderen Menschen übt, ist, so paradox das klingen mag, von Übereinstimmung umgriffen, denn der Taktvolle hält sich um des anderen willen zurück.“ 2
Auch in der Erziehung sollen Demütigungen, Kränkungen, Einschüchterungen und Respektlosigkeiten gegenüber den Kindern soweit wie möglich vermieden werden. Der pädagogische Takt ist eine Praxis der Freundlichkeit. Helmuth Plessner hat diesen Zusammenhang intersubjektiv auf den Punkt gebracht: „Die Weisheit des Takts: Schonung des anderen um meiner selbst willen, Schonung meiner selbst um des anderen willen, ist der Rechtsgrund – so paradox es klingt – für die grundlosen Zwischenspiele unsers gesellschaftlichen Lebens“ (Plessner 1924: 99). Zwar beziehen sich die pädagogischen Diskussionen um den Takt ausnahmslos auf den Erzieher, doch klingt hier an, dass nicht nur der Erzieher dem Zögling taktvollschonend zu begegnen hat, sondern auch, dass er sich selbst im taktvollen Verhalten schont, ja, dass der Takt ein intersubjektives Medium der wechselseitigen Schonung darstellt. Diesen Zusammenhang berührt auch Niklas Luhmann in seiner Definition des Takts: „Takt ist nicht einfach die Erfüllung fremder Erwartungen, sondern ein Verhalten, mit dem A sich als derjenige darstellt, den B als Partner braucht, um derjenige sein zu können, als der er sich A gegenüber darstellen möchte“ (Luhmann 1987: 34; vgl. Goffman 1986). Übersetzt man diese soziologischen Betrachtungen in einen pädagogischen Kontext, so wird deutlich, dass im pädagogischen Takt eine Vermittlungsebene angesprochen ist, die der wechselsei2
Vgl. auch Merleau-Ponty (1993, S. 42): „[…] und zumindest dann, wenn ich Taktgefühl habe, ist meine Rede zugleich Organ meiner Tätigkeit und meiner Sensibilität; diese Hand hat Augen an ihren Fingerspitzen.“
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tigen Schonung von Selbstdarstellungen, kommunikativen Beziehungen, emotionalen Betroffenheiten und individuellen Entwicklungsmöglichkeiten von Erziehern und Zöglingen dient. Dabei ist ebenso auf die Differenz zwischen dem Ethos eines gelebten (unbewussten, habitualisierten) pädagogischen Takts und dem (bewussten, intentionalen) positiv gesetzten Takt, der sich aus einer einzigartigen, vom Bisherigen abweichenden, pädagogischen Situation ergibt, hinzuweisen. 7. Es gibt keine (theoretischen oder praktischen) Regeln für den pädagogischen Takt, da er selbst die für die Praxis jeweils sinnvollen (theoretischen) Regeln generiert. Wie der Erzieher in einer spezifischen Situation jeweils handelt bzw. handeln sollte, lässt sich nicht vorab festlegen. Hat der pädagogische Takt Orientierungskriterien? Was bedeutet Angemessenheit des Takts, bzw. lässt sich von einem unangemessenen Takt sprechen? Ist der pädagogische Takt abhängig von bestimmten Umgangsformen in der Gesellschaft und/oder den pädagogischen oder situativen Erfordernissen? In der Regel wird der (pädagogische) Takt nicht in einem sehr präzisen Sinne definiert und es zeichnet ihn gerade aus, dass er unbestimmt und unbestimmbar bleibt. Man kann sagen, dass das „Wesen“ des Takts in seiner Unbestimmbarkeit und Offenheit besteht. Takt wird daher eher negativ: als Zurückhaltung oder Nicht-Einwirken-Wollen oder vage: als „Geschmack für den besonderen Fall“ (Gadamer) oder als Gefühl für das Singuläre verstanden. „Grundlosigkeit ist ein Wesensmoment des Taktes. Wie bildet er sonst die Richtschnur unseres Benehmens in den wertäquivalenten Situationen der Alltäglichkeit. In allen Lagen, die nicht nach Gründen alternativ behandelt werden können, bleibt uns keine andere sittliche Maxime“ (Plessner 1924: 102).
Takt bezeichnet den Sachverhalt, dass wir keine verfügbaren Gründe für das Handeln anzugeben in der Lage sind. Der Takt erscheint vielmehr als unregelbares oder spontanes Ordnungsprinzip oder auch als Ordnungserfindungssystem für konkrete pädagogische Situationen: Takt kann nicht geplant werden, er stellt das Unregelmäßige im Regelmäßigen dar.
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„Takt ist nicht dem planenden Willen des Lehrers unterworfen, und darum kann taktvolles Handeln nicht in einem planvollen erzieherischen Vorgehen aktualisiert werden, sondern immer nur in der unvorhersehbaren Situation, die den Erzieher in Anspruch nimmt. […] er nimmt sich wie das dynamische Unregelmäßige in der statischen Regelmäßigkeit aus“ (Muth 1967: 12, 19).
Dass der Takt letztlich aus einem Gefühl resultierend beschrieben wird, bezeichnet daher weniger den Sachverhalt einer empathischen oder sympathischen Beziehung zum anderen, sondern vielmehr den Umstand, dass die im Takt zum Ausdruck kommenden Urteile und Handlungen nicht vollständig in logischen, rationalen oder wissenschaftlichen Strukturen aufgehen. „Takt ist dependent on the situation of each moment […]. Takt also acts to generate the next situations as it works. […] Takt is a motion that continues to form itself and it also forms a boundary by itself. Takt is always forming itself by means forming a boundary. Indeed, Takt is comparable to skill, because it is polished as it is used” (Suzuki 2010: 167).
In diesem Sinne ist der Takt mit der Kunst in Beziehung zu setzen, die nicht in einer Techné, und auch nicht in einer Poiesis, sondern in einer konkreten Praxis gründet (vgl. Sünkel 1998). 8. Der pädagogische Takt ist nicht voraussetzungslos, kann er doch nach Herbart durch Beschäftigung mit der Theorie, durch Reflexion und Erfahrung erworben werden. Kann man Takt ausbilden, gibt es eine Taktbildung, eine pädagogische Professionalisierung des Takts – z.B. als Ausbildung zur Wahrnehmung des anderen oder als Bildung zur Aufmerksamkeit gegenüber dem anderen? Hierzu noch einmal Herbart: „Es gibt also – und das ist mein Schluß – es gibt eine Vorbereitung auf die Kunst durch die Wissenschaft, eine Vorbereitung des Verstandes und des Herzens vor Antretung des Geschäfts, vermöge welcher die Erfahrung, die wir nur in der Betreibung des Geschäfts selbst erlangen können, allererst belehrend für uns wird. Im Handeln nur lernt man die Kunst, erlangt man Takt, Fertigkeit, Gewandtheit, Geschicklichkeit; aber selbst im Handeln lernt die Kunst nur der, welcher vorher im Denken die Wissenschaft gelernt, sie sich zu eigen gemacht, sich durch sie gestimmt
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und die künftigen Eindrücke, welche die Erfahrung auf ihn machen sollte, vorbestimmt hatte“ (Herbart 1802: 127).
Allerdings braucht es nach Herbart für die Kunst des pädagogischen Takts Wissens- und Urteilsformen, die dem Pädagogen die Möglichkeiten des taktvollen Umgangs eröffnen. Ein nicht wissenschaftlich gebildeter Pädagoge kann nicht taktvoll sein. „Die Bildung des Takts hängt davon ab, dass das durch die Wissenschaft gestützte Auge des Praktikers die Eindrücke der Erfahrung für sich sinnvoll bearbeitet“, so dass er „im einzelnen Handeln das Richtige treffen kann und im Fortschreiten von der Vergangenheit über die Gegenwart zur Zukunft die Lernstruktur durch Erfahrung fördert“ (Suzuki 2008: 156, 161).
Dabei können unterschiedliche meta-, erkenntnis-, handlungstheoretische sowie psychologische Taktaspekte in der Ausbildung eine Rolle spielen (vgl. ebd.: 152): die Vermittlung zwischen Theorie und Praxis, die Beurteilung und Entscheidung des Erziehers, Erkenntnisse über die Gemütszustände von Kindern, kindgerechte, lehrplanmäßige und unterrichtlich angemessene Zeitstrukturen, sinnliches Erkenntnisvermögen (Aufmerksamkeit), ein Wahrnehmungsvermögen für subjektive Zeitauffassungen. Entscheidend ist nach Herbart, dass der pädagogische Praktiker nicht nur die Gegenstände seiner Vermittlungstätigkeit, sondern vor allem sich selbst vorzubereiten hat, damit sich in der Praxis der Übung und in der Reflexion der Praxis dann der pädagogische Takt als „professionsspezifische Bewältigungsleistung“ (Dewe 1996: 735ff.) herausbilden kann. Hier erscheint es sinnvoll vom pädagogischen Takt als Theoretisieren von Praxis und Praktizieren von Theorie zu sprechen. 3 Der pädagogische Takt bildet nach Herbart eine Vermittlungsfigur, insofern sie zwischen Theorie und Praxis eine Verbindung herstellt. Wer dem Einzelnen bzw. der je singulären pädagogi3
Vergleicht man das von Herbart geforderte Ausbildungsmodell mit den Überlegungen von Pierre Bourdieu, so zeigt sich, dass dieser einer wissenschaftlichen Bildung für das Gelingen der Praxis äußert skeptisch gegenübersteht und die akademistische Umsetzung der Regeln eher als eine Kompromittierung der pädagogischen Kunst der Praxis versteht (Bourdieu 1997: 188f.). – In diesem Gedanken bin ich Astrid Baltruschat verpflichtet.
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schen Situation gerecht werden will, darf nicht unreflektiert Regeln und Normen der Theorie anwenden, sondern muss diese in der Praxis je fallbezogen anwenden. Pädagogischer Takt vermittelt Theorie und Praxis und zwar in Form einer schnellen Beurteilung und Entscheidung und in einer nicht nur kognitiven, sondern vor allem (unbewussten) sensitiven Form. „Takt, which encompasses the ideas of tact, tactfulness, and tacit knowing, is an innate ability that can at the same time be polished and refined into a skill. Moreover, in the sense that it functions as an instinct or intuition on the borderline between consciousness and the unconscious, it is neither purely rational nor is it purely affective“ (Suzuki 2010: 169).
9. Die Bestimmungsmomente des pädagogischen Takts sind Relationsprinzipien. Fasst man Definitionen, Bestimmungen und Kontexte der einschlägigen pädagogischen Debatten zum Takt zusammen, so ergeben sich folgende Kennzeichnungen, die die pädagogische Beziehung des Erziehers zum Zögling betreffen: x Feingefühl, Zartgefühl: Gefühl für die Individualität und das Eigenrecht des anderen; x Mitgefühl, Perspektivenübernahme: sich in den anderen hineinversetzen; vom anderen her denken; Erwartungen und Erwartungserwartungen des anderen erwarten und berücksichtigen; x Zurückhaltung: „mit der negativen vorstellung des nicht herausgebens“ (Grimm/Grimm 2006); vor allem im Bezug auf (körperliche) Gewalt); sich um des anderen willen beschränken; Selbstkontrolle; x Rücksicht: Berücksichtigung des Individuellen; eher Unterlassen; x Respekt: „zur entschuldigung eines unpassenden ausdruckes. dann besonders auch ehrerbietige, furchtsame scheu“ (ebd.); x Angemessenheit: „die beschaffenheit des begrifs, nicht mehr, auch nicht weniger, als der gegenstand erfordert, zu enthalten“ (ebd.); ausgewogenes Agieren und Reagieren; x Umfassende Aufmerksamkeit: bewegliche (freischwebende) Wahrnehmung, Erkenntnis des Zusammenhangs, Fokussierung; x Kon-Takt: Bezugnahme; Nähe und Distanz austarieren;
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Schnelligkeit der Erfassung der Situation, Schnelligkeit des Urteils; Abwägen von Paradoxien und Widersprüchen (s.u.): Auflösung, Hinnahme oder Umgehen mit ihnen; improvisatorisches Geschick, Kreativität: spielerisches Moment, Leichtigkeit des Handelns, glücklicher Einfall; Freiheit zu Unvorsehbarem: (Zöglingen) Freiraum gewähren; Offenheit für Variabilität. Beachtung von Entwicklungs- und Zeitstrukturen; als Äußerungsformen des pädagogischen Takts können gelten (vgl. Muth 1967): 1. Sprache: Kommunikation, Kontakt, Verstehen, Verbindlichkeit; 2. Handeln: Natürlichkeit; Ungekünsteltheit, Unverstelltheit, Authentizität; sicheres Gefühl; 3. Haltungen der Vermeidung der Verletzung des Kindes: im (Familien-, Schul-)Leben, im Unterricht, in der Methode; nicht stigmatisierend; 4. Wahrung der Distanz: keine Verletzung der Intimsphäre; 5. gelungener Umgang mit Kontingenzen: Störungen, Fehlern, Unvorhersehbarem; 6. performative Kompetenz: angemessene Darstellung. Und schließlich lässt sich festhalten, dass seitens der Pädagogik nicht geklärt ist, ob es sich beim pädagogischen Takt um ein gegenstands-, erkenntnis-, handlungs- und kompetenztheoretisches oder um ein psychologisches Konstrukt handelt.
10. Pädagogischer Takt ist Umgang mit pädagogischen Aporien. In Abgrenzung von den traditionellen Taktdiskursen der Pädagogik soll hier ein Verständnis des pädagogischen Takts entwickelt werden, das ihn als Umgang mit der Unverfügbarkeit erkennen lässt. Versteht man unter Takt in diesem Sinne ein Verhältnis zu einer einmaligen Situation bzw. auch zur Singularität des anderen in seiner Unvertretbarkeit und Unverfügbarkeit (Derrida 1991: 51) und geht man gleichzeitig davon aus, dass es kein soziomoralisches und/oder pädagogisches Modell des Umgangs mit dem anderen für diese Situation gibt – weder als Prinzip noch als Kriterium, weder als Ideal noch als regulative Idee –, so kennzeichnet der Takt eine Aporie: Man muss handeln in einer Situation, in der es keine Programme für das Handeln gibt. Aber kommt es nicht genau darauf an? „Geht“ nicht auch der pädagogische Prozess genau so bzw. sollte er so „gehen“, dass man sich um des
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anderen willen, von bestimmten (normativen) Positionen auch entfernen kann, ja entfernen muss? Takt, so könnte man formulieren, bezeichnet in der Pädagogik den (gelungenen) Umgang mit dem Paradoxalen und Unverfügbaren. Hiermit sind vielfältige Dimensionen angesprochen: x Takt ist nicht intentional verfügbar, er lässt sich nicht planen, sondern bedarf einer unvorhersehbaren Situation, an der er sich zeigen kann. x Takt hängt von den (unverfügbaren, unbewussten) Reaktionen des anderen ebenso ab, wie von (unverfügbaren, unbewussten) eigenen Reaktionen. x Takt ereignet sich, weil die pädagogische Kasuistik nie umfassend sein kann, da sie nicht alle Faktoren und Kriterien enthält, die in der Praxis bedeutsam sind. Der pädagogische Takt ist ein schöpferischer Takt gegenüber dem schöpferischen Leben. x Takt bezeichnet als Form der Angemessenheit einen adäquaten (gerechten) Umgang mit dem anderen, ohne dass diese Adäquatheit in irgendeiner Form zu fixieren wäre. Im Unterschied etwa zu Heinz-Jürgen Ipfling (1973: 387), der den Takt als jenes feinfühlige, regulative Maß versteht, das in der Lage ist, Aporien (etwa die von Theorie und Praxis) aufzulösen, lässt sich der Takt als diejenige Instanz verstehen, die diese Paradoxien und Aporien wach hält, die sie aus- und durchhält. So wird uns z.B. im taktvollen Denken und Handeln mehr oder weniger bewusst deutlich, dass eine gerechte und angemessene Entscheidung die Notwendigkeit einer pädagogischen Regel impliziert, die im Bezug auf die Singularität des anderen außer Kraft gesetzt werden müsste (Derrida 1999). Pädagogen müssen mithin von einer fundamentalen Unentscheidbarkeit ausgehen. Man muss sich (pädagogisch) entscheiden in einer Situation, die die Unmöglichkeit einer gerechten Entscheidung darstellt (Derrida 1991: 49f.). Nur dort, wo wir von einer radikalen Unentscheidbarkeit ausgehen können, kann man dem anderen in seiner Einzigartigkeit gerecht werden – ansonsten befolgt man lediglich die Anweisungen eines Gesetzes, einer Norm oder einer Regel, die die Singularität des anderen notwendigerweise verfehlen muss. Demgegenüber spricht etwa Plessner vom Paradox eines „sicheren Takts, der jeden Menschen auf individuelle Weise zu neh181
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men und gewissermaßen im Dunkeln seinen Weg zu finden weiß. […] Takt ist das Vermögen der Wahrnehmungen unwägbarer Verschiedenheiten, die Fähigkeit, jene unübersetzbare Sprache der Erscheinungen zu begreifen“ (Plessner 1924: 95). Takt ist für ihn die Sicherheit im Dunkeln, die Wahrnehmung des Unwägbaren, das Begreifen des Unübersetzbaren. Aber ist Takt nicht auch – und vielleicht noch mehr – die Dunkelheit in der Sicherheit, die Unwägbarkeit in der Wahrnehmung, die Unübersetzbarkeit im Begreifen, die „Unregelmäßigkeit in der Regelmäßigkeit“ (Muth 1967: 19)? 4 Der Takt bildet selbst eine paradoxale Handlungsfigur, da er ebenso Kontingenzen und Unverfügbarkeiten wie auch Notwendigkeiten, Regelhaftigkeiten und Sinnstrukturen impliziert. Im Rahmen der pädagogischen Diskussionen ist der Umgang mit Aporien, Ambivalenzen und Paradoxien in der Moderne immer wieder hervorgehoben worden. Insbesondere sind an folgende Spannungen und Widersprüche der pädagogischen Praxis zu denken, von denen einige schon diskutiert wurden: die Kluft zwischen Theorie und Praxis, die Erziehung zur Autonomie in Heteronomie, das Führen oder Wachsenlassen der Zuerziehenden, die Tradierung und die Innovation (von Inhalten, Methoden und Haltungen), die Förderung von Personalität und Kollektivität, die Spannung zwischen allgemeinen Normen und individuellen Menschen und Situationen, die Selektions- und Förderungsmaximen, die Forderungen nach Nähe und Distanz des Erziehers, die individuelle und kollektive Gerechtigkeitsforderung, die Standardisierung und Individualisierung pädagogischer und didaktischer Maßnahmen, die Bewertung nach sach-, personen- oder sozialbezogenen Normen, die Berücksichtigung fundierender Unterrichtsprinzipien der Sach-, Personen- und Zielgemäßheit, die
4 Muth (1967, S. 62) schwankt in der Einschätzung der Kontingenzhaltigkeit des Takts, insofern er zwar den Takt als Freiheit bzw. Ausnahme von der Regel, aber auch zugleich als deren Überhöhung versteht. – Diese Ambivalenz zeigt sich u.a. in den vier Äußerungsgestalten des Takts, deren zwei – die Situationssicherheit und die dramaturgische Fähigkeit – eher den Aspekt der Kontingenzbewältigung im Takt betonen, während die beiden anderen – improvisatorische Gabe und vor allem das Wagnis freier Formen – eher auf die mit dem Takt verbundenen unverfügbaren Momente abheben.
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Selbstständigkeit als Voraussetzung und Ziel der Pädagogik (vgl. Wimmer 2006; Bräu 2008). Im professionellen Umgang mit diesen Dilemmata und Paradoxien gibt es verschiedene Strategien, die oftmals mit Modellen der Vermittlung, des Ausgleichs, der Balance und des Changierens arbeiten. Der pädagogische Takt ist der Name dafür, dass auch die praktischen Maßnahmen einer gleichwertigen Bezugnahme, eines Nacheinanderabarbeitens, eines zyklischen Berücksichtigens, einer kontrafaktischen Unterstellung, einer einseitigen Auflösung sowie eines Aussetzens der Vermittlung (der jeweiligen Gesichtspunkte) die Grundwidersprüche der oben skizzierten Paradoxien nicht aufheben, sondern in der Praxis aus- und durchhalten. Die pädagogische Professionalität lässt sich insofern als subjektive Fähigkeit und Bereitschaft begreifen, die pädagogischen Paradoxien taktvoll auszubalancieren, „die Ungewissheit des Handelns zu ertragen, immer wieder neu die Implikationen für das Handeln in Ungewissheit zu reflektieren und auf der Basis von Zuständigkeit auch die Verantwortung für das Handeln zu übernehmen“ (Rabe-Kleberg 1996: 295). Dem pädagogischen Takt eignet eine Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit, da es im je konkreten Fall schwierig ist zu bestimmen, welches Verhalten angemessen und professionell richtig ist. Wenn die Pädagogik verpflichtet ist, unter den Bedingungen der Unmöglichkeit eines programmatischen Takts der Singularität des anderen gerecht zu werden, so verbleibt ihr nur die (pädagogische) Haltung der Offenheit gegenüber dem, was sich der Irreduzibiliät des anderen verdankt. Diese Offenheit kann sie durch die „gleichschwebende Aufmerksamkeit“ im Sinne Freuds gewinnen (vgl. Gödde/Zirfas 2007). Die Erfahrung der Singularität des anderen gibt es nur in der Erfahrung einer Aporie. Die Anerkennung der Aporie bedeutet, auf den singulären anderen überhaupt antworten zu können, wobei die Antwort so offen zu sein hat, dass sie die Entwicklung des anderen nicht gefährdet bzw. pädagogisch fördert. Im pädagogisch taktvollen Denken und Handeln wird uns bewusst, dass die Angemessenheit gegenüber dem anderen eine Form der unmöglichen Möglichkeit der Begegnung mit dem Singulären darstellt. Im pädagogischen Takt übernimmt man eine Verantwortung für die Beziehung zu einem anderen und zu sich selbst, d.h. für etwas, das im Grunde unverantwortbar ist. Denn der Takt schafft die unverfügbaren 183
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Gründe für ein Verhalten, die in den jeweiligen, den Takt erfordernden Situationen selbst nicht gegeben sind. Pädagogischer Takt ist die Resonanz auf die Offenheit, Dynamik, Variabilität und Unergründlichkeit des anderen; etwas lyrischer gesagt: Takt ist die Reaktion auf das Rätsel des anderen. Doch ist der pädagogische Takt nicht des Rätsels Lösung, sondern lediglich eine erzieherische Antwort, in der eine spezifische Verantwortung für die Schonung und Förderung des anderen – und seiner selbst – zum Ausdruck kommt.
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Blick und Takt Präsenz und Absenz von Takt in Schule, Kita und beim Forschen „Takt ist eine Differenzbestimmung. Er besteht in wissenden Abweichungen.“ Theodor W. Adorno, Minima Moralia
Vorbemerkung Bildungsinstitutionen, wie Schulen oder Kindertagesstätten, so lässt sich vermuten, sind Orte mit „Takt“: Differenzen zwischen Lernenden und Lehrenden, Kindern und Erwachsenen, didaktischen Zielen und individuellen Interessen legen dies nahe. An Szenen aus kamera-ethnographischen Studien in Schule und Kita soll dieser These nachgegangen und nach den situativen Rahmenbedingungen gefragt werden, in denen sich Takt, Taktlosigkeit oder auch keines von beidem ereignen. Neben dem Gegenstand „Takt“ reflektiert der Text zugleich Grenzen und Chancen eines visuellen Zugangs zum Thema, denn bei einer beobachtenden Forschung, die sich eher am praktischen Tun denn am Gesagten orientiert, stellt sich folgendes Problem: Das, was als Takt im Vollzug einer Situation ausgemacht werden kann, liegt in der Regel nicht in einem wörtlichen Sinne vor. „Takt“ taucht im Sprachspiel der Teilnehmenden eher nicht auf, ist als Begriff weder Thema natürlicher Gespräche in Kindertagesstätten oder schulischem Unterricht, noch wäre er durch die Fragen der Forschenden im Feld einfach abrufbar. Auch im Diskurs ist Takt als Phänomen der Praxis nicht präsent. Dennoch scheint es „Takt“ als ein wahrnehmbares Phänomen zu geben, im Sinne eines performativen Takts, der sich ereignet. Obschon sie ihn herstellen, verfügen Lehrende und Lernende nicht unbedingt individuell darüber. Wir haben es mit einer situativen Conditio zu tun, die etwas setzt, was erst fortlaufend entsteht. Es geht sozusagen um eine das Individuelle überschreitende „Inter-Performanz“, also um dasjenige am performativen Takt, was erst in interaktiven oder interpassiven Ko-Relationen zu einem Takt-Phänomen wird. Hier kommt die Kamera ins Spiel. Als zeitbasiertes Medium kann die Kamera visuelle und akustische 189
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Rhythmen aufzeichnen und dazu beitragen, sie als Taktverhältnisse zu beforschen. Gerade dort, wo das Feld schweigt, kann eine kamera-ethnographische Methodologie fruchtbar werden und damit beginnen, das, was sich zeigt, aber nicht gesagt wird, durch forschende Blicke ins Bild zu rücken und einer beschreibenden Erkundung zugänglich zu machen. Der Begriff „Takt“ wird dabei zu einer wählbaren Optik der Forschenden, zum möglichen Ausgangspunkt einer positionierten Betrachtung. Die ausgewählten Beispiele und Szenen handeln von der Teilnahme jugendlicher Schülerinnen am Frontalunterricht, von Animation und deren Scheitern in der Kindertagesstätte, von unter 3Jährigen beim Mittagessen, der Fragilität des Theaterrahmens im Kindertheater und von Blickdifferenzen ethnographischer Forschung. Es sind immer jeweils drei Parteien im Spiel: Kinder oder Jugendliche gegenüber pädagogischen Fachkräften angesichts ethnographischer Beobachtung mit der Kamera.
Ein Takt – wie viele Stücke? Jugendliche im Frontalunterricht Beim Gelingen von Frontalunterricht scheint „Takt“ eine Rolle zu spielen, wenn auch nicht „pädagogischer Takt“ – zumindest nicht auf den ersten Blick. Szene 1 : Englischunterricht in einer zu 98% aus Mädchen bestehenden Gymnasialklasse. Von der Tafel aus unterrichtet die Lehrerin die U-förmig angeordneten Schüler/innen, die zumeist paarweise am Unterricht teilnehmen. Die Kamera folgt einer Schülerin, nennen wir sie Olga, die soeben von der Tafel an ihren Platz zurückkehrt, während auf der Tonspur die Stimme der Lehrerin zu hören ist. In die Sprachmelodie der Lehrerin kann sich das Ensemble der jugendlichen Schüler/innen einfinden: „Are there any questions concerning passive one?” Die Dauer der Wegstrecke durch den Klassenraum entspricht der Zeit dieses Satzes. Im Aussprechen des Wortes „one“ erreicht Olga ihren Platz und während der Atempause im Redefluss der Lehrerin auch die Sitzfläche des Stuhles. Sie federt – dies ist der Beginn eines neuen Satzes – noch einmal kurz auf und ab und nutzt nun die nächste Redesequenz, um ihre Rückkehr in das Schülerinnen-Kollektiv zu vollenden:
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Video „Im Stundentakt“, in: DVD „Lernkörper“ Mohn und Amann 2006.
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„Ihr müsst eigentlich nur drauf aufpassen, das wisst Ihr eigentlich auch, beherrscht ihr eigentlich relativ gut, was ist das für eine Zeitform im Originalsatz, so soll es sein im Passivsatz.“ Diese Redesequenz bietet Olga ausreichend Zeit, um sich ihrer Nachbarin zuzuwenden und den Auftritt an der Tafel, bei dem sie aus dem Lernkörper herausgehoben war, zu kommentieren. Was sie dabei genau sagt, entgeht dem Mikrophon der Kamera, gegenüber dem akustischen Geschehen an der Unterrichtsoberfläche bleibt dies Untergrundgeschehen. Doch bleiben wir beim Sichtbaren: Zum Satzende der Lehrerin hat Olga den Stuhl zurechtgerückt, ihre nachbarschaftliche Paar-Beziehung gepflegt und Frontalunterrichtshaltung eingenommen: rechter Unterarm auf der Tischfläche liegend, daran die Finger in Trommelbereitschaft; linker Ellbogen so aufgestützt, dass der Unterarm zur tragenden Säule des in die linke Hand sinkenden Kopfes wird. Die Kamera-Einstellung, in der zunächst vier Schülerinnen nebeneinander zu sehen waren, wird geändert: Im Fokus nun ausschließlich Olga und ihre Nachbarin, nennen wir sie Britt. Würde sich neben Britt nichts bewegen, hätte die laufende Videosequenz gute Chancen, als Standbild durchzugehen. Britt verweilt gerade im „Standby“ 2 und zeigt keinerlei Regung. „O.k. if there are no further questions please, let’s practice passive one.” Ein erkennbarer Spannungsbogen, Stimmsenkung am Ende. Das Reden der Lehrerin bietet als klangvolles, rhythmisiertes Gebilde Optionen zum Mitspielen an. Synchronisiert mit diesem musikalischen Takt entwickelt sich die Interaktion der beiden Schülerinnen: Olga dreht ihren noch aufgestützten Kopf in der Kapsel der am Kinn ruhenden Hand zu Britt, stößt dort aber auf keinen Gegenblick. Statt der Blickerwiderung signalisiert Britt durch ein Verziehen ihres Mundwinkels potenzielle Wachheit. Sie vertauscht die zu erwartenden Zeichen interaktiver Präsenz, was bühnenreife Komik in sich trägt. Olga schwenkt ihren Kopf daraufhin wieder zurück, zeigt sich genervt und ihre Hand – diejenige, die den Kopf stützte – sinkt nun zusammen mit dem Kopf zugleich nach rechts und unten, in Richtung abgelegter Hefte, Bücher und der Tischfläche, auf die sie dann auch tatsächlich genau in dem Moment aufklatscht, als auch die Lehrerin ihren Satz beendet hat.
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„Standby“ heißt ein weiteres Video der DVD Lernkörper (siehe oben). Es regt dazu an, neben schulischen Formen der Unterrichtsbeteiligung auch über wohl organisierte Nicht-Beteiligung nachzudenken: Körperliche Anwesenheit mit eingeschränkter persönlicher Präsenz.
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„Open your books again – the same page as yesterday, forty eight – this exercise again tells us something about the Gran Canyon, but first of all it’s an exercise on passive one.“ Olga blättert kurz in ihren gestapelten Heften, disponiert dann aber um und schwenkt wieder zur linken Tischhälfte ihrer Nachbarin, um aus deren Stapel das Arbeitsheft herauszuziehen. Dies wird durch Blicke zu Britt begleitet, die diesmal durch eine Augenbewegung erwidert werden. Diese Bewegung der Augen hat es in sich: Im Rahmen ihres noch unbewegten Kopfes, Halswirbelsäule bleibt ausgeschaltet, führen die Augäpfel eine isolierte Bewegung durch, die bis an die Grenze des
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Schielens reicht, bevor schließlich der im äußersten Augenwinkel angekommene Blick den Kopf nach sich zieht. „I think it’s not a problem to do it immediately, just have a look at two words I want to explain to you.“ Britt beginnt nun, ihren „geparkten“ Körper in Startposition zu manövrieren und wieder ist es ein Blick von Olga, der taktgenau zum Beginn der zweiten Satzhälfte „just have a look…“ den Körper neben ihr wie mit einer Blick-Fernbedienung einschalten hilft. Paare, so die bisherigen Beobachtungen, sind nicht gleichzeitig im „Standby“. Sie können sich gegenseitig wieder zurückholen in Energie verbrauchende Zustände. Zum Satzende sind die Nasen beider Mädchen über dem Buch und Britt fördert mit den Fingern ihrer linken Hand die Durchblutung ihrer Kopfhaut.
Beobachtungen an einer anderen Schule ergaben, dass die Kunst des Zusammenspiels zwischen Lehrperson und jugendlichem Lernkörper auch dann nicht aus den Fugen gerät, wenn sich hinter der Synchronisation von akustischem und visuellem Takt völlig verschiedene Stücke verbergen: Was sich formal betrachtet im rechten Moment einstellt, kann auch die Landung des Briefchens auf dem Nachbartisch oder ein Biss ins Gebäck neben der Tischkante sein. Im Takt des Lehrersprechens tragen Schüler/innen mit ihren Körpern „Sätze“ zum Frontalunterricht bei. Manchmal sind diese Beiträge zwar ohne Sprache, aber nicht geräuschlos und es kann der Eindruck entstehen, dass im taktvollen Einsatz von Zeichenblöcken, Briefchen oder sich senkenden Armen punktgenau zum Satzende der Lehrer/in ein Klatschen, Knallen oder auch nur Rascheln zu vernehmen ist, ein heimliches Taktschlagen und Dirigieren aus den Reihen des Lernkörpers – eine Kunst der Fuge. Auch wenn es, wie im obigen Fall, der Blick ins Lehrbuch ist, der schließlich sequenzgenau den Einsatz der Schülerin abschließt, bleibt zu fragen, welche Stücke hier gespielt werden. Zu „Passive One“ scheint es Parallelaufführungen zu geben, eine Tragikomödie etwa, die darum kreist, Passivität und Aktivität als Frontalunterrichtsökologie zu entwickeln, die den sparsamsten Einsatz von Körperteilen und Teammitgliedern erprobt. Lernkörper-Praktiken, so die Kommentierung des Videos durch Mohn und Amann auf der DVD (2006), erscheinen im Rahmen einer Taktstruktur als routinierte und kreative Simultanübersetzungen der Prosodik des Lehrersprechens in die Metrik einer nonverbalen Choreographie. Takt einzuhalten bietet den 193
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Schüler/innen elementare Möglichkeiten, sich jenseits einer inhaltlichen Teilhabe in äußerlich erkennbarer Weise ins Geschehen einzuordnen. Verhalten sich die jugendlichen Schülerinnen taktvoll, indem sie die Veranstaltung auf einer formalen Ebene gelingen lassen? Oder sind sie taktvoll taktlos? Ist eine Grenze zur Taktlosigkeit überhaupt noch in Sichtweite? Inwiefern kann hier ein pädagogischer Begriff von Takt greifen? Die Fragilität einer Situation, die taktvolles/taktloses Verhalten überhaupt erst begründen könnte, scheint im Frontalunterricht aufgehoben: Lehrkraft und Lernkörper sind nur scheinbar in ein gemeinsames Projekt involviert, eigentlich gehen sie sich aus dem Weg. Während die einen auf der Tonspur unterwegs sind, verharren die anderen im Bilde. Sollten sich diese Räume lediglich aneinander synchronisieren, nicht aber füreinander öffnen, entfallen Störanfälligkeit und Fragen nach pädagogischem Takt im selben Atemzug. Kann Ethnographie einen Zugang zum pädagogischen Takt anbahnen, indem sie ihre Beschreibungen an der Grenze zur Taktlosigkeit formuliert und dabei Rahmen der Störanfälligkeit imaginiert?
Zwischen Takten – Takt der Lücke? Wer folgt wem wann? Jara (2 Jahre alt) war mir im Rahmen einer kameraethnographischen Studie im Kindergarten als ausgesprochene Beobachterin unter den Kindern aufgefallen. Mich interessierten ihre Blickaktivitäten und ihr Handeln sowie die Wechsel zwischen Beidem. Eine Blickstudie entsteht. Szene 3 : Es ist morgens. Mehrere Kinder haben sich mittlerweile in der Kita eingefunden. Einige stehen an einem Tisch mit gelbem Wachstuch, während die Erzieherin einen Telefonanruf beantwortet. Dann sitzen die Kinder, darunter auch Jara, um den Tisch und die Erzieherin tischt Material auf: Papiere, Stifte. „Voila!“ – eine Hand voll Stifte landet auf der Arbeitsfläche. Jaras Papierbogen wird ihr aus der Hand genommen und auf den Tisch gelegt mit den Worten: „Blatt hinlegen und dann kannste losmalen.“ Neue Kamera-Einstellung: „Komm wir malen zusammen: 3
Video „Jara und Romy – Blick und Bild“, in: DVD „Kindern auf der Spur“, Mohn und Hebenstreit-Müller 2007.
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eins zwei drei…“ die Erzieherin malt, Jara guckt. Aber wie sie guckt: Augenbrauen und Stirn leicht zusammengezogen, eine Mischung aus Skepsis, Abwehr, Protest, den Mund leicht schmollend. Beim Aufblicken zum Gesicht der Erzieherin verstärkt sich der Gesichtsausdruck. Alle Regungen des Kindes sind sehr viel langsamer und bedächtiger als der entschiedene Stil der Erzieherin, die etwas in Gang setzen möchte und es ja auch tut, indem sie es ist, die zunächst den Stift führt. Leichte Entspannung, als Jaras Blicke nun dem Kreis folgen, den die Erzieherin gerade für sie malt. Doch die Entspannung weicht in dem Moment, als die Hand der Erzieherin auffordernd auf Jaras Schulter klopft: „Und?“ Wieder Verweigerungsmimik und Skepsis, Blick abwenden zu den anderen Kindern am Tisch, dann mehrere Blickwechsel zwischen Papier und Erzieherin und unentschlossener Umgang mit dem Stift. In einer anderen Ecke des Raumes scheint es Handlungsbedarf zu geben, die Erzieherin wendet sich von Jara und dem Mal-Tisch ab, erhebt sich. Dabei schaut Jara ihr aufmerksam hinterher und kaum ist sie so richtig außer Reichweite, da setzt Jara einen entschiedenen Strich auf das Blatt. Noch zweimal kontrolliert sie, wo die Erzieherin wohl gerade ist, malt dann weiter und dabei werden ihre Bewegungen ausladend und schwungvoll, das vorsichtige Mädchen kommt in Fahrt. Nebenbei interessiert sie sich für das Malen eines etwas älteren Jungen am Tisch. Neue KameraEinstellung: Erzieherin sitzt wieder neben Jara, deren Interesse ganz auf das Geschehen am Mal-Tisch konzentriert ist, und unterbricht sie: „Woll‘n wir da deinen Namen drauf schreiben, Jara?“ Schlagartig ändert sich der Ausdruck im Gesicht des Kindes: Das Augenbrauen Runzeln kehrt zurück, ein Finger landet im Mund,
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der Stift wird ihr aus der Hand genommen und nun schaut sie zu – dabei den Kopf mit einer Wange auf der Tischfläche abgelegt – wie ihr Name auf das Blatt geschrieben wird. „Jetzt kannst du weitermalen, dann nimmst du‘s mit nach Hause.“ Mit Anzeichen freudiger Neugier im Blick verfolgt Jara das Tun des größeren Jungen und vertieft sich auch selbst in den weiteren Umgang mit den Malstiften. Erste Kinder am Tisch rufen: „Ich bin fertig.“ Und die Erzieherin, die mittlerweile neben anderen Kindern Platz genommen hat, ruft: „Jara, das ist aber klasse!“ Jara bemalt nun die Rückseite des Papiers und singt dabei (zum ersten Mal ist ihre Stimme zu hören) eine Melodie, woraufhin die Erzieherin ihr ebenfalls eine Melodie echoet – prompt stoppt daraufhin Jaras Singsang und ihr Blick, der sich auf der Malfläche niedergelassen hatte, flattert wie ein aufgescheuchter Vogel in die Lüfte, Störenfriede abwehren.
Jaras Ausdruckssprache zeigt Empfinden und Wünschen auf eine Weise, die wie ein nonverbal formuliertes Bildungsprogramm aus Kindersicht anmutet, auf dem in etwa stünde: 1. Ich male, wann ich will, 2. lass mich in Ruhe, wenn ich noch gucken will, 3. es macht Spaß, den großen Kindern beim Malen zuzusehen, und 4. wenn Du mich nicht mit Animation bedrängst, dann male ich sogar selbst! In dieser Szene sehen Betrachter des Videos oft die Rolle der nicht eingreifenden aber konzentriert das Kind wahrnehmenden Kamera als pädagogische Alternative, die von Jara offenbar ohne Falte auf der Stirn angenommen wird. In welchen Rahmungen kann hier von Takt die Rede sein? Es hängt von der Definition dessen ab, was hier als Stück bzw. Aufführung gilt: Ist der Raum der Kita die Bühne, dann gehört das Aufstehen der Erzieherin und ihre Abwendung vom Mal-Tisch sozusagen „zum Stück“, setzt geradezu im musikalischen Sinne einen Takt, der Einsatzmomente des Kindes eröffnet und wieder unterbricht, sobald sie – zurück am Tisch – kontrapunktische Rhythmen vorgibt. Ist jedoch der Mal-Tisch die Bühne des Geschehens, so könnten die Auszeiten erzieherischer Animation auch als Lücke inter-
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pretiert werden: Entspannung tritt ein, weil weder Takt noch Taktlosigkeit aufkommen können. Mit der Abwesenheit der Erzieherin setzt auch die pädagogische Differenz aus. Kann es denn „taktvoll“ sein, ein Jenseits des Taktes zu bewahren? Wenn Takt eine Lösung darstellt im Umgang mit Differenz, Krise oder potenzieller Störung, dann wäre der Verzicht auf eine Animation, die das Kind in seinem Tun stört, taktvoll. Die Differenz zwischen immanentem „Bildungsprogramm“ des Kindes und Erziehungsprogramm der Erzieherin klafft so weit auseinander, dass „Takt“ nicht recht gelingt. Eine Alternative zur „Takt-Lücke“ wäre eine „Musikalität der Pädagogik“, von der Michael B. Buchholz im Rahmen seiner Kommentierung einer Video-Studie spricht, bei der unter 3jährige Kinder beim Mittagessen beobachtet werden. 4 Deren musikalisch-vorsprachliche Kommunikation wird im Video anhand der Metapher „Rhythmisches Ensemble“ interpretiert: Essen wird zum „Mittagskonzert“. „Die Kinder haben Impulse, sie agieren die aus, sie toben die aus, sie bewegen sich. Sie haben deutlich Freude daran. Auf der anderen Seite gibt es Anordnungen: z. B. dass man Geschirr nicht umwirft, dass man mit dem Löffel nicht in den Flüssigkeiten herum panscht. Eine Ordnung, die eher von den Erwachsenen vertreten wird. Die Kinder respektieren das deutlich und es ist so in meiner Wahrnehmung, als ob sie beide Ordnungen deutlich voneinander unterscheiden und die eine Ordnung so machen und die andere so. Das eine Kind hält in der einen Hand den Löffel fest und mit der anderen schlägt es den Rhythmus. So als ob die beiden Ordnungen ihren Platz haben und respektiert werden. Und wenn man das Verhältnis zu den Erzieher/innen vielleicht als Resonanz beschreiben könnte, könnte man das Verhältnis der Kinder untereinander als Improvisation bezeichnen, wie in einem Jazzensemble: einer spielt eine Melodie, eine kleine Phrase, spielt die an, und die anderen kommen sofort im Groove und im Swing da mit und übernehmen das sofort und machen etwas daraus“ (Buchholz 2007).
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Videos „Rhythmisches Ensemble“ und Kommentar „Resonanz und Improvisation“ (Michael B. Buchholz) in: DVD „Zu Tisch in der Kita“, Mohn und Hebenstreit-Müller 2007.
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Die Aktivitäten der Kinder werden von Buchholz als eine Ordnung, erzieherische Impulse als andere Ordnung betrachtet: Wiederum eine Konstellation mit zwei potenziellen „Stücken“, die gleichzeitig gelingen, wenn der eine sich auf den Takt des anderen bezieht und umgekehrt. Bei einer „Musikalität der Pädagogik“ geht es jedoch weniger um die Bezugnahme der Kinder auf Erwachsene, sondern um den umgekehrten Fall, die Orientierung der Pädagogen an Rhythmen der Kinder: Wenn eine musikalische Gestalt der Kinder zu Ende geführt ist, dann ist sozusagen der optimale Punkt erreicht, wo die Erzieherinnen eingreifen können, um ihrerseits eine andere Ordnung mit sanften Mitteln anregen zu können. Wahrscheinlich ist es so, wenn die Kinder ihre Gestalt ent-
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falten und die gerade so richtig in Schwung kommen und die Erzieherin würde sagen: Jetzt ist Schluss! – wie man das in der älteren autoritären Pädagogik ja immer gemacht hat – dann ist sozusagen der Impuls der Kinder noch nicht abgeschlossen. Und dann wird das unterbrochen, diese Handlungsgestalt und die Kinder müssen etwas machen, wofür sie im Moment nicht eingestellt sein können. Und das ist vielleicht der Teil, den man an einer anderen Form von Pädagogik ja immer noch kritisieren muss, dass da ein Input fremder Ordnungen zu den falschen Augenblicken kommt. Es kommt vielleicht darauf an, dass man lernen könnte, an welchen Zeitpunkten das geschehen kann. […] Dass man ein Gefühl entwickeln kann, wann Gestalten abgeschlossen sind und dann könnte ein erzieherischer Impuls dazukommen“ (Buchholz 2007).
Die Frage nach dem Takt kommt an den Esstischen der Kindertagesstätte zu anderen Lösungen als im schulischen Frontalunterricht: Hier synchronisieren sich nicht Schülerinnen mit dem Takt des Lehrersprechens, sondern es sind die Erwachsenen, die sich in die rhythmischen Gestalten der unter 3-jährigen Kinder einfinden oder aber den Anschluss verpassen. Ob dies nur gegenüber Kleinkindern als passendes Modell erscheint bleibt eine offene Frage.
Drei Stücke – dritter Takt? Forschende Differenz als Störoption „Takt ist eine Differenzbestimmung. Er besteht in wissenden Abweichungen“, so Adorno (1984: 38). Zu den Qualitätsmerkmalen beobachtender Ethnographie und dichter Beschreibung gehört ebenfalls ein Postulat der Differenz: Geertz proklamiert, „dass alle ethnographischen Beschreibungen hausgemacht sind, dass sie die Beschreibungen des Beschreibenden sind, nicht die der Beschriebenen“ (Geertz 1990: 139f.). Inwiefern taugt der Takt der Feldforschung als Feld für Taktforschung? Im Folgenden geht es um ein weiteres und womöglich drittes „Stück“: Ethnographische Beschreibungen sollen in Wort oder Bild zur Aufführung gebracht werden. Mit dem Ziel eines „dichten Fragens und Zeigens“ überträgt Kamera-Ethnographie die Unterscheidung von Beschreibenden und Beschriebenen auf die ethnographische Blick- und Bildarbeit und behauptet: Es sind die Bilder und Blicke der Blickenden, nicht die der Erblickten, die eine visuelle Ethnographie ausmachen. Ethnographische Reprä-
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sentationen sind keine Abbildungen. Ihr Qualitätsmerkmal ist gerade nicht ein „Gleich-Sein“ mit dem Forschungsgegenstand. Differenzen spielen auf dreierlei Ebenen eine Rolle: Dichtes Beschreiben oder Zeigen unterscheidet sich von der (unbeschriebenen) Situation, von Aussagen und Meinungen der Situationsteilnehmer sowie von dem, was die Forschenden selber zuvor wussten. Mit den „Augen des Feldes“ zu schauen, entpuppt sich als Wunschtraum, der weder erreichbar ist noch als Maßstab wissenschaftlicher Resultate taugt. Doch an diesem Punkt scheiden sich die Geister: Ethnographische Differenz und Takt bekommen es spätestens dann miteinander zu tun, wenn Fragen der Methodologie/ Epistemologie zu Stil-Fragen mutieren, an denen sich die Ein- und Ausschlusskriterien wissenschaftlicher Kollektive festmachen. Methodenschulen stellen sich als Gemeinschaften heraus, die sich zu wenig oder allzu ernst nehmen. Eine Blick-Differenz des Forschens in Anspruch zu nehmen, widerspricht sozialwissenschaftlichen Konventionen blickfreier Datenproduktion, die eine Anwesenheit der Beobachtenden in ihren Daten gerade zu vermeiden suchen. Ganz anders der ethnologische Kontext – Spitzenreiter repräsentationskritischer Debatten in den 80er und 90er Jahren – dort spricht man von Begegnung und Dialog, von Polyphonie und Stimmen, nicht mehr von „Daten“. Doch tut man sich schwer damit, Blicke der Forschenden in ihrer Differenz zu Blicken des Feldes ins Spiel zu bringen: Fachgeschichtlich verwurzelte Ängste vor der Entmündigung des Feldes durch wissenschaftliche Autorität und Blickmacht sitzen tief. In beiden Fällen hat eine Tabuisierung von Differenz ihren Preis: Taktvolles Verhalten erübrigt sich, wenn ethnographische Autor/innen aus ihren Daten verschwinden oder sich hinter Stimmen und Blicken des Feldes verbergen. Am Beispiel ethnographischer Blick- und Bildarbeit soll nun überlegt werden, inwiefern Differenz als Qualitätsmerkmal des Forschens taugt. Anstelle technischer Mitschnitte treten in der Kamera-Ethnographie audiovisuelle Feldnotizen, die in Bezug auf den Entwurf von Blicken und Bildern eine persönlich verantwortete Autorschaft beanspruchen. Das löst die eine Takt-Problematik, verursacht aber eine andere. Gelöst wird das Problem chronischer Taktlosigkeit, die der Einsatz von Kamera-Automaten mit sich bringt, denn dort wird die ununterbrochen laufende Kamera zum gnadenlosen „Gegen200
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über“, das zu keiner Beobachtungsbeziehung fähig ist. Selbst die „Regisseure“ des Mitschnitts neigen dazu, den Raum zu verlassen, oder spielen „toter Mann“. So wird in der Absicht, Eingriffe in die beobachtete Situation zu vermeiden, technischer Mitschnitt durchaus penetrant und die Beobachteten bleiben einer Kamera ausgeliefert. Nicht selten führen spätere Versuche der Anonymisierung solcher Daten zu schwarzen Balken auf Gesichtern von Erwachsenen und Kindern; Forschungsfelder erscheinen plötzlich als Deliktzonen; eine Scham der Forschenden macht Forschung unverschämt. Diese Problematik entfällt bei einer interagierenden reagierenden Kamera-Beobachtung durch Ethnographen, die das Feld erkunden anstatt es ablichten zu wollen. Kamera-Ethnographie setzt auf das Sehen und Gesehen werden beim Forschen; die Kamera wird durch eine reagierende Person geführt, die wahrnehmen und empfinden kann; die Beobachtung ist interaktiv strukturiert und damit befasst, Beobachtungsbeziehungen aufzubauen und zu erhalten. Doch genau dies ist es, was sie erst anfällig macht für Takt wie Taktlosigkeiten. Wenn Jara bei der Szene am Mal-Tisch weder in die Kamera noch zur Kamerafrau blickt, dann nicht, weil sich die Beobachterin so gut versteckt hat, sondern als Resultat einer entspannten Beobachtungsbeziehung. Das Mädchen begrüßte mein Interesse an ihr und ließ mich meine Arbeit tun. Zu denken gibt mir etwas anderes: Jara begann zu malen, als die Erzieherin sich vom Tisch entfernte. Doch ich blieb. Meine Beobachtung mag taktvoll sein, weil sie das Kind nicht bedrängt oder im unpassenden Moment animiert; sie erscheint jedoch taktlos, da sie nicht aussetzt. Takt als Lücke? Ich habe die Lücke betreten! Allein indem sie durchgeführt wird, hat auch eine kamera-ethnographische Beobachtung mit Zumutungen zu tun, die persönlich zu vertreten sind. Durch die Kamera noch verschärft, zeigt sich an den Grenzen zur Taktlosigkeit eine eigenartige Situationsteilnahme der Ethnographen. Sie praktizieren eine professionelle Ignoranz bei gleichzeitiger Aufmerksamkeit. Ihr Hinschauen gelingt im Weggucken. So folgt die Ethnographin evtl. den Blicken der Teilnehmenden gerade nicht, sondern beobachtet stattdessen in aller Ruhe, wie deren Blicke wandern. Filmsequenzen beendet man besser genau dann noch nicht, wenn der Sprechende seinen Punkt setzt. Es wird sozusagen immer ein we201
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nig über die Ethnomethoden des Feldes hinaus gefilmt, um sie rekonstruieren zu können. Wir treffen hier latent auf einen dritten Takt mitsamt einem weiteren Potenzial zur Taktlosigkeit. Reaktiv zu sein bedeutet für filmende Ethnographen keinesfalls, auf alles und jedes so zu reagieren, wie es andere Teilnehmer auch tun würden. Ethnographinnen sind nicht allein in der Rolle der Offenen, Wahrnehmenden und Sensiblen, sondern auch in der Nähe „verrückter“ Interaktionsteilnehmer. Eine Rollendifferenz bleibt zu kommunizieren, in der sich Beobachtende verständlicher Weise „anders“ verhalten. Solche Differenzen können nur in der jeweiligen Situation taktvoll ausbalanciert werden. Szene, diesmal zur Blick-Problematik beim Forschen 5 : Im Rahmen einer Studie im Experimentierfeld Kindertheater werden Theaterproben vor wechselndem Publikum aus Kindertagesstätten mit der Kamera beobachtet sowie die sich daran anschließenden Teamsitzungen der Theatermacher. Im Sinne der Kamera-Ethnographie verläuft auch hier die Beobachtung anhand von Blickschneisen: Eine komplexe Situation wird sukzessive erkundet, indem die Kameraeinstellungen Konzentration auf Teilaspekte erzeugen, die im Rahmen der Forschung relevant sein könnten. Blickschneisen sind Ergebnis eines In-den-BlickGeratens wie In-den-Blick-Nehmens. Blickreflexives Arbeiten verschiebt das Dokumentarische auf die Ebene der Konstruktivität von Forschung: Im Videomaterial dokumentiert sich ein sich formendes Interesse „an etwas“. Bei einer der Theaterproben irritiert ein Mädchen im Publikum die Blicke der Kamerafrau:
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Video „Krisenexperiment: Blind Date und Kontroverse“, in: DVD „WECHSELSPIELE im Experiment Kindertheater“, Mohn und Geesche Wartemann 2009.
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Das Mädchen stellt sich mit dem Rücken zur Bühne und wirft ihren Spielaffen in die Luft. Ihre Augen flitzen eigenartig hin und her und die Kamera beobachtet dies eine Weile konzentriert. Offenbar reagiert sie mehr auf die Geräusche des Theaters, als auf das optische Bühnengeschehen. Dann verlässt sie die Zuschauerbänke, nähert sich der Bühne, umkreist sie trappelnd und hüpfend, bis sie vor dem Musiker halt macht und ihm im weiteren Verlauf des Stückes auf Schritt und Tritt folgt. Niemand wusste zuvor, dass sie fast blind ist. Das Kind, auf das sich nun der Blick der Kamera richtet, äußert sich eher anders denn blickend. Ethnographische Blicke sind „Blicke der Blickenden“. Später entscheiden Geesche Wartemann (Co-Autorin der Studie) und ich, die beobachtete Situation als „Krisenexperiment“ zu beschreiben. 6 Allein die Begriffswahl markiert die Differenz zwischen wissenschaftlicher Beschreibung und Ereignis. Die wissenschaftlichen Beobachterinnen erleben eine Aufführung, bei der ein hellblondes Mädchen im Rampenlicht der Bühne den Musiker akzentuiert. Ganz anders jedoch erinnern Spieler und Regisseurin den Auftritt des fast blinden Mädchens. Das Krisenexperiment entlockt dem Theaterteam eine scharfe Kontroverse. Aus Sicht des Spielers war das Kind seinem Spiel gegenüber taktlos – auch wenn er diesen Begriff nicht benutzt. Er argumentiert: „Theater ist ein kontrollierter Vorgang und das Inszenierungskonzept soll nicht durch das Verhalten einzelner Kinder in Frage gestellt und spontan verändert werden. Wenn dem Spieler ein Kontakt zum Kind nicht möglich ist (z.B. anhaltendes Weinen oder Umherlaufen), soll von
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Krisenexperimente sind ein Verfahren aus der Soziologie, bei dem implizite soziale Normen durch Störungen sichtbar gemacht werden (vgl. Garfinkel 1963). Hier ereignete sich eine solche Irritation jedoch zufällig.
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außen eingegriffen und das Kind möglichst frühzeitig aus dem Bühnenraum hinaus begleitet werden.“ Die Regisseurin hält dagegen, dass dies gegenüber dem Kind taktlos wäre – auch wenn sie diesen Begriff nicht benutzt: „Es muss auf der Bühne nicht alles wie verabredet stattfinden, wenn ein Kind im Zuschauerraum etwas anderes fordert. Der Moment der Störung muss immer wieder neu herausgefunden werden. Gerade die Fragilität zwischen Bühne und Zuschauerraum ist im Theater für die Allerkleinsten besonders interessant. Theater ist ein gemeinsames Probieren mit den Zuschauern.“
Wann und wo ist wie und für wen was „Takt“? War hier überhaupt irgendjemand allen Beteiligten gegenüber taktvoll? Woran und vor allem von wo aus lässt sich „Takt“ festmachen? Ist die Kamerafrau taktvoll gegenüber einem Kind mit Sehschwäche, dessen Augen sie fokussiert? Oder taktlos gegenüber einem Theaterteam, dessen Kontroversen sie beleuchtet? Im Rahmen der Legitimität ethnographischer Differenz betrachtet könnten forschende Video-Studien gerade dort hinschauen, wo es „brennt“ – solange dies nicht auf verletzende Weise geschieht, sondern – „taktvoll“. Ein weiterer Grenzfall: Die bereits zitierte, experimentell angelegte Collage „Standby“ interessiert sich für Körperhaltungen, in denen Jugendliche im Frontalunterricht Ruhezustände zeigen, die bis zur scheinbaren Leblosigkeit reichen. In diesem Video wird ein auf den ersten Eindruck unpassender Text an die Bilder herangetragen, technische Definitionen zum Energiesparmodus von Computern. 7 An diesem Beispiel entzünden sich regelmäßig Kontroversen: Darf man leibhaftige Schüler mit Computern vergleichen? Kann dies als wissenschaftliche Kommentierung gelten? Darf die Ethnographin Worte in den Mund nehmen, die dem Feld „nicht auf der Zunge liegen“? Die Bewertung der Differenz wird zu einer Messlatte für Takt und Taktlosigkeitsbewertungen, zu einem Maßstab, der durch das bedingt erscheint, was Wissenschaftskulturen (sich) erlauben. Ethnographisches Wissen entfaltet sich an Wissensdifferenzen, dies wird besonders deutlich bei der Wortsuche am audiovisuel7
Video „Standby“, in: DVD „Lernkörper“ Mohn und Amann 2006. Die Definitionen zum Begriff „Standby“ stammen aus www.wikipedia.de.
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len Material und bei Versuchen theoretischer Rahmung: Unvermeidlich kommen dabei Metaphern ins Spiel, die das Gesehene keinesfalls adäquat benennen.
Metapher „Krisenexperiment“
Metaphern „Standby-Modus“ Oder „Blick-Fernbedienung“
Dichtes Zeigen/Beschreiben arbeitet daran, das vor Augen Liegende durch Differenz überhaupt erst sehen zu können. Die Bedingtheit der Blicke zu reflektieren und zu eigenen dialogfähigen Positionen auszubauen, scheint mir ein Qualitätsmerkmal zeigender Ethnographie zu sein, die für Takt und Taktlosigkeit deshalb empfänglich bleibt, weil sie ihr Blicken als Praxis und ihre Blicke als Ergebnis zu verantworten hat. Im Ausbalancieren von Wahrnehmung und Vorstellung, Dokumentation und Visualisierung, Nicht-Wissen und Wissen gerät Kamera-Ethnographie in Paradoxien des Forschens. Diese zu handhaben, stellt eine methodologische Herausforderung dar, was abschließend auf Takt hin befragt werden soll. Die grundlegende Paradoxie beim Forschen ist die zwischen Nichtwissen und Wissen, die oft anhand der Begriffe „Interpretation“ und „Dokumentation“ verhandelt wird. Konzepte zum „Dokumentieren“ loten die Spannungsfelder von Interpretation versus Dokumentation aus, umkreisen oder umgehen dabei die Frage nach dem Wissen und weichen in der Art, wie sie dies tun, auf brisante Weise voneinander ab. In einer idealtypischen Unterscheidung können genau vier Spielarten des Dokumentierens (Mohn 2002) ausgemacht werden: Es handelt sich um Starkes Dokumentieren, die Dokumentarische Methode der Interpretation, Paradoxes Dokumentieren und Anti-Dokumentieren. Starkes Dokumentieren fasst Strategien zusammen, die sich um eine Verzögerung des Sinnstiftens beim Forschen bemühen, um den Gegenstand in tieferer oder ungewohnter Bedeutung in den Blick zu bekommen. Hierein fal205
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len sowohl die prominenten dokumentarfilmischen Konzepte der Offenheit und Leere, wie aber auch sozialwissenschaftliche Strategien blickfreier Datenproduktion durch die Unschuld der Technik. Die Dokumentarische Methode der Interpretation beschreibt die elementare Praxis blitzschnellen Immer-sofort-Wissens, über die alltägliche Verständigungsprozesse gerade deshalb gelingen, weil beim Deuten nicht gezögert wird. Wissenschaft, so sehr sie auch ihre Opposition zur Alltagspraxis herauskehrt, kann ohne dokumentarisches Interpretieren niemals gelingen. Paradoxes Dokumentieren kombiniert widersprüchliche Spielarten des Dokumentierens und befasst sich mit postmodernen Zwischenpositionen (weder noch) und oszillierenden Wechselspielen (sowohl als auch), die den Prozess in Bewegung halten, bzw. nicht zum Abschluss kommen lassen. Anti-Dokumentieren schließlich stellt eine Gegenbewegung zum Verbergen der Autorschaft beim Starken Dokumentieren dar, will durch Reflexivität das Dokumentarische dekonstruieren, den wissenschaftlichen Autor wieder in den Blick rücken und in die Verantwortung nehmen, gerät dabei aber in einen Bumerang-Effekt, da sie dabei erneut dokumentiert, belegt und behauptet: So wird Wissenschaft gemacht! In dieser Unterscheidung kommen zunächst verbreitete Ideologien des Forschens zum Ausdruck (ein Prinzip Offenheit; die Magie des Zusammenfallens von Darstellung und Dargestelltem; Unterwegs sein; die Omnipräsenz des Interpretativen; …). Auf den ersten Blick schließen solche Konzepte sich untereinander aus oder deklarieren sich abwechselnd als naiv und überholt. Anhand einer methodologischen Supervision lassen sich jedoch für jede der vier genannten Spielarten unverzichtbare Effekte auf die Wissensproduktion herausarbeiten, die sich im Versuch ihrer Befolgung jeweils ergeben. Spielarten des Dokumentierens sind demnach komplementäre statt exklusive Strategien (ausführlich in Mohn 2002). Dieser Neubewertung liegt ein Paradigmenwechsel zu Grunde. Entweder-oder-Figuren schließen in der praktischen Umsetzung Differenz aus: Wer z.B. starkes Dokumentieren methodologisch dogmatisch vertritt, der darf beispielsweise nicht zugleich Anhänger des Anti-Dokumentierens sein und schon gar nicht der Alltagspraxis auf den Leim gehen. In der Praxis funktioniert dies jedoch nicht in reiner Form. Im Rahmen eines heuristischen Wissenschaftsverständnisses lassen sich die dogmatischen Positionen 206
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jedoch zu Optionen wandeln, die nacheinander, in der Zeit, wählbar und abwählbar sind. Erlaubt ist das, was Forschung gelingen lässt. So kann anhand methodologischer Registerwechsel jede der Spielarten dann und dort zum Einsatz kommen, wo ihre Effekte erwünscht sind: Ein reflektiertes Sowohl-als-auch. Aus einem Dogma der Offenheit und Leere (Starkes Dokumentieren) wird dann beispielsweise die wählbare Strategie, Figuren des Nichtwissens als Forschungshaltung phasenweise zu nutzen; aus dem Dogma des Interpretativen (Dokumentarische Methode der Interpretation) wird eine Pragmatik der Verständigung, die jedoch nicht zu jeder Phase des Forschens im Vordergrund zu stehen hat; aus dem Dogma postmoderner Fehlervermeidung (was zu den Varianten des Paradoxen Dokumentierens zählt) lassen sich professionelle Strategien der Prozessgestaltung ableiten und ein Dogma der Reflexivität (Anti-Dokumentieren) birgt die produktive Option einer Meta-Perspektive, ohne sie permanent einzunehmen. Indem mit Ideologien des Dokumentierens beim Forschen aufgeräumt wird, erhalten vier elementare Wissenstypen ihre Chance: Nichtwissen und Wissen, Prozesswissen und Wissen über das Wissen. Die heuristische Einstellung erlaubt das Zusammenspiel konträrer Positionen. Nicht allein, dass die permanenten Registerwechsel der Spielarten des Dokumentierens in der Praxis des Forschens eine Art Takt ergeben, als Heuristik ist sie selbst taktvoll. Im Umgang mit Differenz ermöglicht sie produktive Lösungen. Ich neige zu der These: Takt ist eine Heuristik – sie ermöglicht wissenden Umgang mit Differenz.
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Berg, Eberhard/Fuchs, Martin (1993): „Phänomenologie der Differenz. Reflexionsstufen ethnographischer Repräsentation“. In: Dies. (Hg.): Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 11108. Buchholz, Michael B. (2005): „Die Geburt der Sprache aus dem Geist der Musik. Evolutionstheoretische Überlegungen zum Verhältnis von Psychoanalyse und Musik“. In: Oberhoff, Bernd (Hg.): Die seelischen Wurzeln der Musik. Gießen: Psychosozial Verlag, S. 87-122. Clifford, James (1983/1988): „Über ethnographische Autorität (On Ethnographic Authority)“. In: Trickster 16: Flahertys Erben. Die Stunde der Ethnofilmer. München, S. 4-35. Garfinkel, Harold (1963): „A conception of, and experiments with ,trust‘ as a condition of stable concerted actions“. In: Harvey, O. J. (Ed.): Motivation and social interaction. New York: Free Press, S. 187-238. Geertz, Clifford (1983/1987): Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Geertz, Clifford (1990): Die Künstlichen Wilden. Anthropologen als Schriftsteller. München/Wien: Hanser. Hebb, Donald O. (1946): „Emotion in Man and Animal: An Analysis of the Intuitive Processes of Recognition“. In: Psychological Review, 53. Jg. (1946), S. 88-106. Hirschauer, Stephan (2001): „Ethnographisches Schreiben und die Schweigsamkeit des Sozialen. Zu einer Methodologie der Beschreibung“. In: Zeitschrift für Soziologie, 30, 6, S. 429-451. Mohn, Bina Elisabeth (2002): Filming Culture. Spielarten des Dokumentierens nach der Repräsentationskrise. Stuttgart: Lucius & Lucius. Mohn, Bina Elisabeth (2008a): „Im Denkstilvergleich entstanden: Die Kamera-Ethnographie“. In: Graf, Erich Otto/Griesecke, Birgit (Hg.): Ludwik Flecks vergleichende Erkenntnistheorie. Fleck Studien, Band 1: Berlin: Parerga Verlag, S. 211-234. Mohn, Bina Elisabeth (2008b): „Die Kunst des dichten Zeigens: Aus der Praxis kamera-ethnographischer Blickentwürfe“. In: Binder, Beate/Neuland-Kitzerow, Dagmar/Noack, Karoline (Hg.): Kunst und Ethnographie: Zum Verhältnis von visueller Kultur und ethnographischem Arbeiten. Berliner Blätter 46/2008, LIT Verlag, S. 61-67. 208
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Video-DVDs Mohn, Bina Elisabeth/Amann, Klaus (2006): Lernkörper. KameraEthnographische Studien zum Schülerjob. Göttingen: IVE Institut für Visuelle Ethnographie. Mohn, Bina Elisabeth/Hebenstreit-Müller, Sabine (2007): Kindern auf der Spur. Kita-Pädagogik als Blickschule. KameraEthnographische Studien 1 des Pestalozzi-Fröbel-Hauses Berlin. Göttingen: IVE Institut für Visuelle Ethnographie. Mohn, Bina Elisabeth/Hebenstreit-Müller, Sabine (2007): Zu Tisch in der Kita: Mittagskonzert und Mittagsgesellschaft. KameraEthnographische Studien 2 des Pestalozzi-Fröbel-Hauses Berlin. Göttingen: IVE Institut für Visuelle Ethnographie. Mohn, Bina Elisabeth/Wartemann, Geesche (2009): WECHSELSPIELE im Experimentierfeld Kindertheater. Reihe KameraEthnographische Studien. Göttingen: IVE Institut für Visuelle Ethnographie.
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Psychotherapie
Günter Gödde
Takt als emotionaler Beziehungsregulator in der Psychotherapie
Einleitung Psychotherapie setzt voraus, dass sich auf der Basis von emotionaler Sicherheit und wechselseitiger Anerkennung ein Modus konstruktiver Auseinandersetzung zwischen Patient und Therapeut entwickeln lässt. Nötig ist ein Zusammenspiel, bei dem sich – oft erst nach längerem Einschwingen aufeinander – ein neues Beziehungs- und Kooperationsmuster herausbildet. Das Aushandeln der Spielregeln ist eng mit dem verknüpft, was wir unter Übertragung und Gegenübertragung verstehen. Für den Patienten geht es darum, seinen lebensgeschichtlich gewachsenen Lebensentwurf in der sich über Stufen der Annäherung entwickelnden Therapiebeziehung einbringen, reflektieren und verändern zu können; aber auch der Therapeut ist in die Beziehungsgestaltung emotional stark involviert. In der Tradition der philosophischen und therapeutischen Lebenskunst (Schmid 1998; Buchholz/Gödde 2003) gibt es eine Reihe von Konzepten, die sich zum genaueren Verständnis des komplexen Zusammenspiels in therapeutischen Beziehungen heranziehen lassen: x Empathie, Einfühlungsvermögen, Feinfühligkeit (Lipps 1907; Ferenczi 1928; Kohut 1979; Bolognini 2003), x Sympathie (Scheler 1923), der „liebende Blick“ (Nicolai Hartmann 1925), x Dialektik der Anerkennung (Hegel 1807; Honneth 1992), x Begegnung (Buber 1923: „dialogisches Prinzip“, Daniel Stern 2005: „moments of meeting“) u.a. Dieser Reihe kann man auch den „therapeutischen“ Takt zuordnen. Er steht der Empathie und Sympathie, dem erkennenden und liebenden Blick, der Anerkennung und Begegnung nahe, ist von Diskretheit und Achtung getragen und impliziert einen rück213
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sichtsvollen und schonenden Umgang mit den Gefühlen des Anderen. Damit dient er der Angst- und Schamregulierung des Patienten und darüber hinaus der Regulierung der Grenzen und des angemessenen Abstands in der therapeutischen Beziehung. Obwohl kaum jemand bestreiten würde, dass der Takt in der Psychotherapie von Bedeutung ist und dort eine ähnliche Rolle spielen könnte wie in der Pädagogik (Herbart 1802), ist er in der Literatur zur psychotherapeutischen Kunst und Technik bisher nur am Rande behandelt worden. Man kann sich fragen, woran das gelegen hat. Eine Erklärung dafür wäre, dass sich die traditionell an naturwissenschaftlichen Maßstäben orientierte Psychotherapie – sowohl die Psychoanalyse als auch die Verhaltenstherapie – einem Objektivitätsideal verpflichtet hat, während der Takt sehr viel mit Subjektivität, Gefühlen und Beziehungsregulierung zu tun hat und kaum je in den Fokus der Psychotherapieforschung gelangt ist. Der vorliegende am psychodynamischen Verfahren orientierte Beitrag bezieht sich auf drei Fragen: Der Anfangsteil widmet sich einigen von Freud behandelten Aspekten des therapeutischen Takts und eröffnet damit eine erste Orientierung im Rahmen einer therapeutischen Deutungs- und Beziehungskunst. Im zweiten Teil werden häufig beobachtete Phänomene von therapeutischem Taktmangel und Taktlosigkeit mit einem fragwürdigen Verständnis der „psychoanalytischen Situation“ in Beziehung gebracht. Im dritten Teil geht es dann um die Frage, welche Gefühle bei Patient und Therapeut im voranschreitenden Therapieprozess ins Spiel kommen und inwieweit der Takt als Gefühlsregulator in der therapeutischen Beziehung fungiert.
Der therapeutische Takt als Basiskompetenz der Deutungs- und Beziehungskunst Der Begriff Takt ist in der Psychoanalyse zunächst im Kontext von Behandlungsfehlern, als Abweichen von Regeln der von Freud formulierten „Behandlungstechnik“ verwendet worden. Dabei kam es nach und nach zu einer Bedeutungsverschiebung in Richtung einer „Deutungskunst“ und dann im erweiterten Sinne einer „Beziehungskunst“ (vgl. Gattig 1996; Will 2003; Lichtenberg 2007).
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GÜNTER GÖDDE: TAKT ALS EMOTIONALER BEZIEHUNGSREGULATOR
Taktlosigkeit als therapeutischer Kunstfehler Freud hat den Begriff Takt erstmals 1910 ins Spiel gebracht. Ausgangspunkt war das taktlose Verhalten eines jungen Arztes. Er hatte die Angstzustände einer Frau Ende 40, die nach ihrer Scheidung aufgetreten waren, ihrer sexuellen Bedürftigkeit zugeschrieben. „Sie könne den Verkehr mit dem Manne nicht entbehren, und darum gebe es für sie nur drei Wege zur Gesundheit, entweder sie kehre zu ihrem Manne zurück, oder sie nehme einen Liebhaber, oder sie befriedige sich selbst. Seitdem sei sie überzeugt, daß sie unheilbar sei, denn zu ihrem Manne zurück wolle sie nicht, und die beiden anderen Mittel widerstreben ihrer Moral und Religiosität“ (Freud 1910: 118). Hatte sich der junge Arzt bei dieser Deutung auf die psychoanalytische Sexualtheorie berufen, so hielt ihm Freud entgegen, dass er diese missverstanden und zudem die Regeln der Behandlungstechnik missachtet habe. Wenn ein Therapeut es für nötig halte, mit einer Frau über Sexualität zu sprechen, müsse er dies „mit Takt und Schonung“ tun (ebd., S. 119). Eine psychoanalytische Intervention setze „einen längeren Kontakt mit dem Kranken voraus, und Versuche, den Kranken durch die brüske Mitteilung seiner vom Arzt erratenen Geheimnisse beim ersten Besuch in der Sprechstunde zu überrumpeln, sind technisch verwerflich und strafen sich meist dadurch, daß sie dem Arzt die herzliche Feindschaft des Kranken zuziehen und jede weitere Beeinflussung abschneiden.“ Mit Hilfe solcher technischen Vorschriften ersetze die Psychoanalyse „die Forderung des unfaßbaren ‚ärztlichen Taktes‘, in dem eine besondere Begabung gesucht wird“ (ebd.: 124). Dieses kasuistische Beispiel rechnete Freud der „wilden Analyse“ zu, weil der Arzt mangels psychoanalytischer Ausbildung nicht nur von einem unzutreffenden theoretischen Verständnis ausgegangen sei, sondern auch mangels praktischer Erfahrung das richtige timing verfehlt habe. Solche verfrühten und daher taktlosen Deutungen hätten „ebensoviel Einfluß auf die nervösen Leidenssymptome wie die Verteilung von Menukarten zur Zeit einer Hungersnot auf den Hunger“ (ebd.: 123).
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Takt als Mittel der Deutungskunst In seinen Überlegungen zur Psychoanalyse als „Deutungskunst“ kommt Freud 1923 erneut auf den Takt zu sprechen. Bevor man deuten könne, müsse man die Einfälle des Patienten in einer Haltung „gleichschwebender Aufmerksamkeit“ (Freud 1912a: 377; Gödde/Zirfas 2007) auf sich wirken lassen. Dabei könne man die Erfahrung machen, dass die Einfälle des Patienten „sich gewissermaßen wie Anspielungen an ein bestimmtes Thema herantasteten, und brauchte selbst nur einen Schritt weiter zu wagen, um das ihm selbst Verborgene zu erraten und ihm mitteilen zu können. Gewiß war diese Deutungsarbeit nicht streng in Regeln zu fassen und ließ dem Takt und der Geschicklichkeit des Arztes einen großen Spielraum, allein wenn man Unparteilichkeit mit Übung verband, gelangte man in der Regel zu verläßlichen Resultaten […]“ (Freud 1923: 215).
In diesem Zusammenhang geht es nicht nur um die Vermeidung von Taktlosigkeiten, sondern darum, mit Hilfe von Takt und Geschicklichkeit einen „Spielraum“ für Verstehen und Deuten zu eröffnen. Auch die dritte Textstelle zum Takt findet sich im Kontext von Freuds Ausführungen zur Deutungskunst. 1926 spricht er von „richtigen Deutungen“, die aber nur dann zum Erfolg führen, wenn sie zum „richtigen Moment“ erfolgen, und dazu bedürfe man „eines Taktes, der durch Erfahrung sehr verfeinert werden kann“. Wenn man dem Patienten seine Deutungen zu früh gebe, erziele man bei ihm „Äußerungen von Widerstand, Ablehnung, Entrüstung“, ohne zu erreichen, dass „sein Ich sich des Verdrängten bemächtigt.“ Man müsse warten können, bis sich der Patient dem Verdrängten soweit angenähert hat, dass er mit Hilfe des Deutungsvorschlages „nur noch wenige Schritte zu machen braucht“ (Freud 1926: 250f.). In einer weiteren Passage ging es ebenfalls um das richtige Timing. Die Behandlung des „Wolfsmanns“, eines berühmt gewordenen Analyse-Patienten, bezeichnete Freud als „Fall von Selbsthemmung der Kur“. Um den stagnierenden Therapieprozess wieder in Gang zu bringen, griff er zu dem „heroischen Mittel der Terminsetzung“ und kündigte dem Patienten an, er werde die Analyse konsequent bei Erreichen des gesetzten Termins beenden (1937: 61). Diese Intervention habe dem Wolfsmann zur 216
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Überwindung seiner Widerstände verholfen und auch in anderen Fällen habe sich die „Terminsetzung“ therapeutisch als wirksam erwiesen. Wann der richtige Zeitpunkt dafür gekommen sei, bleibe allerdings „dem Takt überlassen“. Ein Missgriff sei nicht mehr gutzumachen. „Das Sprichwort, daß der Löwe nur einmal springt, muß recht behalten“ (ebd.: 62). Freuds Erläuterungen zum Takt lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: „Takt ist ihm ein zentraler Begriff der psychoanalytischen Behandlungstechnik und begründet wesentlich die Kunst der Deutung. Takt ist kein ,unfaßbarer‘ Begriff, ist nicht Ersatz für die Begabung des Künstlers, sondern Ergebnis der Anwendung technischer und theoretischer Kenntnisse. Inhaltlich meint Takt die Fähigkeit des Analytikers, für eine richtige Deutung den rechten Zeitpunkt zu wählen“ (Gattig 1996: 76).
Erweiterung des therapeutischen Spielraums für den Takt Im Anschluss an Freud betonte auch Ferenczi (1928: 381ff.), dass dank der Psychoanalyse „eine Umwandlung der Kunst der Menschenkenntnis in eine Art Handwerk“ möglich geworden sei. Zugleich wies er aber der „persönlichen Gleichung“ des Therapeuten „eine viel größere Bedeutung“ als sonst in der Wissenschaft bei. Auch wenn man sich einer gründlichen Analyse der eigenen Person unterzogen habe, gebe es einen „noch immer ungelösten Rest dieser persönlichen Gleichung“, und deshalb sei es „vor allem eine Frage des psychologischen Taktes […], wann und wie man einem Analysierten etwas mitzuteilen [hat], wann man das Material, das einem geliefert wird, für zureichend erklären darf, um aus ihm eine Konsequenz zu ziehen; in welche Form die Mitteilung gekleidet werden muss; wie man auf eine unerwartete oder verblüffende Reaktion des Patienten reagieren darf; wann man schweigen und weitere Assoziationen abwarten soll; wann das Schweigen ein unnützes Quälen des Patienten ist usw.“
Wesentlich ist an dieser Stelle, dass der „Spielraum“, der dem Takt des Therapeuten überlassen wird, deutlich erweitert und konkreter als bei Freud beschrieben wird bis hin zum Schweigen als bewusstem Verzicht auf Deutungen. Hier geht explizite Deutungsarbeit in implizite Beziehungsarbeit über, wobei der Bereich
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des Gefühlsmäßigen, Nonverbalen und Interaktionellen erheblich erweitert wird. Ferenczi bestimmt Takt als „Einfühlungsvermögen“. Mit Hilfe des Wissens aus der therapeutischen Erfahrung und der Selbstanalyse werde uns diese Einfühlung davor hüten, „den Widerstand des Patienten unnötig oder unzeitgemäß zu reizen.“ Solche Vorsichtsmaßnahmen würden auf die Analysierten den Eindruck der „Güte“ machen, auch wenn die Motive der Feinfühligkeit auf intellektueller Einsicht des Therapeuten beruhten. Im Wesentlichen bestehe „kein Unterschied zwischen dem von uns geforderten Takt und der moralischen Forderung, daß man keinem was antun soll, was man unter den gleichen Verhältnissen selber nicht von anderen erfahren möchte“ (ebd.: 383f.). In einer brieflichen Antwort auf Ferenczis Text äußert Freud, seine bisherigen Ratschläge zur Technik seien „wesentlich negativ“ gewesen. Er habe hauptsächlich darauf abgestellt, was man „nicht tun soll“. Dagegen habe er fast alles, was man „positiv tun soll, […] dem von Ihnen eingeführten ‚Takt’ überlassen“ (Freud/ Ferenczi 1993: 170; Brief v. 4.1.1928 an Ferenczi). Freud lässt aber auch eine gewisse Skepsis anklingen: „So wahr das ist, was Sie über den ‚Takt’ sagen, so bedenklich erscheint mir das Zugeständnis in dieser Form. Alle, die keinen Takt haben, werden darin eine Rechtfertigung der Willkür, d.h. des subjektiven Faktors, d.h. des Einflusses der unbezwungenen Eigenkomplexe sehen. Was wir in Wirklichkeit vornehmen, ist eine meist vorbewusst bleibende Abwägung der verschiedenen Reaktionen, die wir von unseren Eingriffen erwarten, wobei es vor allem auf die quantitative Einschätzung der dynamischen Faktoren in der Situation ankommt. Regeln für diese Abmessungen lassen sich natürlich nicht geben. Erfahrung und Normalität des Analytikers werden darüber zu entscheiden haben. Aber man sollte den Takt so seines mystischen Charakters entkleiden“ (ebd.).
An dieser Stelle wird dem Takt eine geradezu programmatische Bedeutung für die Regulierung der therapeutischen Beziehung zuerkannt. Die Angst, nicht mit wissenschaftlich überprüfbaren Methoden vorzugehen, hat Freud aber offenbar gehemmt, noch sorgfältiger und detaillierter auf den Takt als therapeutisches Basiskonzept einzugehen.
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Empathie- und Taktmängel im Kontext eines neuen Verständnisses der psychoanalytischen Situation Freud hat sich nicht selten skeptisch über die Dynamik in der thrapeutischen Beziehung geäußert. Auch wenn der Patient ein Stück Vertrauen mitbringe, können aufgrund „der Unlustregungen, die durch das neuerliche Abspielen der Abwehrkonflikte verspürt werden, […] negative Übertragungen die Oberhand gewinnen und die analytische Situation völlig aufheben. Der Analytiker ist jetzt für den Patienten nur ein fremder Mensch, der unangenehme Zumutungen an ihn stellt, und er benimmt sich gegen ihn ganz wie das Kind, das den Fremden nicht mag und ihm nichts glaubt“ (1937: 84f.).
Diese Äußerung aus der Spätschrift „Die endliche und die unendliche Analyse“ ist sicher nicht patientenfeindlich zu verstehen, lenkt aber den Blick einseitig auf den Anteil des Patienten und betont die Schwierigkeit, „dem Patienten eine der in der Abwehr vorgenommenen Entstellungen aufzuzeigen und sie zu korrigieren“, da dieser (allzu oft) „verständnislos und unzugänglich für gute Argumente“ sei (ebd.: 85). Stärker als Freud selbst brachten seine Mitarbeiter Sándor Ferenczi und Otto Fenichel sowie Analytiker aus den nachfolgenden Generationen wie Michael Balint, Leo Stone, Donald W. Winnicott, Heinz Kohut, Christopher Bollas u.a. Phänomene von Empathie- und Taktmängeln auf Seiten der Therapeuten zur Sprache und suchten deren Hintergründe aufzudecken (vgl. Junker 2005). Dabei rückten nicht nur individuelle Aussetzer oder Gegenübertragungsreaktionen, sondern die gesamte Therapeut-PatientBeziehung und ein bestimmtes Verständnis der psychoanalytischen Situation ins Blickfeld. Das psychoanalytische Abstinenz- und Versagungsprinzip als Ausgangspunkt Bekanntlich hat Freud den angehenden Analytikern empfohlen, sich während der psychoanalytischen Behandlung „den Chirurgen zum Vorbild zu nehmen, der alle seine Affekte und selbst sein menschliches Mitleid beiseite drängt […]. Die Rechtfertigung die-
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ser vom Analytiker zu fordernden Gefühlskälte liegt darin, daß sie für beide Seiten die vorteilhaftesten Bedingungen schafft, für den Arzt die wünschenswerte Schonung seines eigenen Affektlebens, für den Kranken das größte Ausmaß von Hilfeleistung, das uns heute möglich ist“ (1912a: 380f.). Der Therapeut solle nicht zu viel von der eigenen Individualität einsetzen, sondern „undurchsichtig für den Analysierten sein und wie eine Spiegelplatte nichts anderes zeigen, als was ihm gezeigt wird“ (ebd.: 384). Später formulierte Freud den Leitsatz: „Die analytische Kur soll, soweit es möglich ist, in der Entbehrung – der Abstinenz – durchgeführt werden“ (1919: 187). Er fuhr dann fort: „Sie erinnern sich daran, daß es eine Versagung war, die den Patienten krank gemacht hat, daß seine Symptome ihm den Dienst von Ersatzbefriedigungen leisten. […] Er bedient sich der großartigen Verschiebbarkeit der zum Teil freigewordenen Libido, um die mannigfachsten Tätigkeiten, Vorlieben, Gewohnheiten, auch solche, die bereits früher bestanden haben, mit Libido zu besetzen und sie zu Ersatzbefriedigungen zu erheben. […] Es ist zweckmäßig, ihm gerade die Befriedigungen zu versagen, die er am intensivsten wünscht und am dringendsten äußert“ (ebd.: 188f.).
Aus dem Abstinenzprinzip entwickelte sich allmählich eine abstrakte Regel, die dem Therapeuten generell eine triebversagende Haltung und gefühlsmäßige Neutralität gegenüber dem Patienten nahe legte. Die Begrifflichkeit von „Versagung“, „Abstinenz“, „Entbehrung“, „Anonymität“ und „Neutralität“ lässt sich auf ein Hintergrundmodell zurückführen, in dem der Therapeut dem Patienten bestimmte Formen der Askese abverlangt, um ihn aus der Herrschaft des „Lustprinzips“ zu befreien: An die Stelle der bloßen Wunscherfüllung und der Abwehr soll der „Triebverzicht“ treten. Es kann kaum zweifelhaft sein, dass sich Freud mit diesem asketischen Prinzip in den Bahnen der antiken Stoa bewegt hat, die das Heil in der Mäßigung, Hemmung oder Brechung der für krankmachend gehaltenen Triebe und Affekte suchte (vgl. Rabbow 1954: 289ff.; Gödde 2008: 167ff.). Im Gegensatz zu den viel zitierten „Ratschlägen zur Technik der Psychoanalyse“ (1912a, 1913, 1914, 1915), die in erster Linie für noch unerfahrene Kollegen gedacht waren, hat Freud selbst seine
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Behandlungsregeln 1928 in dem erwähnten Brief an Ferenczi relativiert: „Ich hielt es für das Wichtigste herauszuheben, was man nicht tun soll, die der Analyse widerstrebenden Versuchungen aufzuzeigen. […] Dabei erzielte ich aber, daß die Gehorsamen die Elastizität dieser Abmachungen nicht bemerkten und sich ihnen, als ob es Tabuverordnungen wären, unterwarfen. Das müßte einmal revidiert werden, allerdings ohne die Verpflichtungen aufzuheben“ (Freud/Ferenczi 1993: 170; Brief v. 4.1.1928 an Ferenczi).
Das Gegenmodell eines Gewährungs- und Relaxationsprinzips bei zwanghaften und traumatisierten Patienten Obwohl Freud in seinen Schriften zur Behandlungstechnik von 1912 bis 1915 dem „Wiederholen“ als Übertragung der konflikthaften Vergangenheit und dem „Durcharbeiten“ der Widerstände einen hohen Stellenwert zuerkannte, konzentrierten sich viele Analytiker weiterhin auf das „Erinnern“ im Sinne einer Rekonstruktion der Kindheitsentwicklung und betrachteten diese als Hauptziel einer erfolgreichen Analyse. Dies hatte nach Franz Alexanders späterer Einschätzung zur Folge, dass sie „mit großer Beharrlichkeit den analytischen Prozeß intellektualisierten“, während sie „die dynamische Handhabung von Widerstand und Übertragung vernachlässigten“ (Alexander 1937: 81f.). Ferenczi war lange Zeit einer der engsten Mitarbeiter Freuds in der psychoanalytischen Bewegung, bis er als Reaktion auf die „Intellektualisierung“ der Analyse mit eigenen von Freuds Vorgaben abweichenden Therapieexperimenten begann (vgl. HovenBuchholz 2005). So wandte er sich ab 1918 einer aktiveren und stärker das Erleben ansprechenden Behandlungstechnik zu, um Analysen, die zu versanden drohten, wieder in Bewegung zu bringen. In dem 1924 mit Otto Rank veröffentlichten Buch „Entwicklungsziele der Psychoanalyse“ setzten die Autoren den Hauptakzent auf das affektive Erleben in der aktuellen Therapiesituation. Die gemeinsame Losung hieß: „was uns nicht unmittelbar in der Gegenwart, also real affiziert, muß psychisch unwirksam bleiben“. Im Weiteren glaubten sie einen historischen Übergang in der Behandlungstechnik von einer „Erkenntnis-“ zu einer „Erlebnisphase“ zu erkennen, bei der man „die entsprechenden Erlebnisse in direkterer Weise provozieren und dem Patienten nur 221
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dieses ihm natürlich auch unmittelbar evidente Erlebnis erklären“ könne (Ferenczi/Rank 1924: 235, 243). Aufgrund seiner Erfahrungen mit schwierigen Patienten sah sich Ferenczi veranlasst, das Versagungsprinzip zu relativieren. Viele – vor allem zwangsneurotische – Patienten hätten es als „schier unerschöpfliche Fundgrube von Widerstandssituationen“ benützt, bis er sich dazu entschlossen habe, den Patienten diese Waffe „durch Nachgiebigkeit“ aus der Hand zu schlagen. Aufgrund solcher gehäuft auftretender Fälle statuierte er neben dem Prinzip der Versagung ein „Prinzip der Gewährung“, das er auch „Relaxation“ nannte. Maßgeblich dafür sei die Erfahrung gewesen, dass in bestimmten Fällen „die strenge und kühle Abgeschlossenheit des Analytikers vom Patienten als die Fortsetzung des infantilen Kampfes mit der Autorität der Erwachsenen erlebt wird“ und dass „verdrängter Hass ein stärkeres Fixierungs- und Klebemittel ist als die offen einbekannte Zärtlichkeit“. Beeindruckt war Ferenczi von der Äußerung einer Patientin, „deren Vertrauen zu gewinnen mir nach fast zweijährigem hartem Widerstandskampfe mit Hilfe der Nachgiebigkeit gelang. […] Solange sie mich mit ihren hartherzigen Eltern identifizierte, wiederholte sie in einem fort ihre Trotzreaktionen; nachdem ich ihr aber hiezu jede Gelegenheit entzog, begann sie die Gegenwart von der Vergangenheit zu sondern und nach einigen hysterischen Emotionsausbrüchen sich der Erschütterungen, die sie als Kind durchmachen musste, zu erinnern“ (Ferenczi 1929: 476ff.).
In seinem „Klinischen Tagebuch“ aus dem Jahre 1932 hielt Ferenczi fest, dass sich das vom Therapeuten streng gehandhabte Versagungsprinzip traumatisierend auf die Patienten auswirken könne, insbesondere wenn frühere auf Kindheitserfahrungen zurückzuführende Traumata erneuert und verstärkt würden: „in den meisten Fällen infantiler Traumata haben die Eltern kein Interesse daran, dem Kind die Vorfälle einzuschärfen, im Gegenteil, fast allgemein wird Verdrängungstherapie geübt: ‚Es ist gar nichts‘, ‚nichts geschehen‘, ‚denk nicht mehr daran‘, ‚katonadolog‘ (‚Ein Soldat schafft es schon‘). Vorfälle von irgend wie hässlicher z.B. sexueller Natur werden einfach totgeschwiegen, leise Andeutungen des Kindes nicht zur Kenntnis genommen oder gar als unbillig abgelehnt, u. zw. mit voller
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Einmütigkeit der Umgebung, und mit solcher Konsequenz, der gegenüber die Selbstbehauptung des Urteils bald nachgibt“ (1932: 66).
Für die Therapie sei es hoch problematisch, wenn sich die Therapeuten ähnlich abwehrend wie die Eltern zeigen bzw. kühl und affektlos bleiben, anstatt eigene „Gefühle und Reaktionen der Revolte […], der Angst, des Schrecks, der Rache, der Trauer und Intentionen zum raschen Hilfebringen, zur Beseitigung und Vernichtung der Ursache […] und Gefühle des liebevollen Beruhigenwollens“ zuzulassen“ (ebd.: 64ff.). In seinem Klinischen Tagebuch kommt Ferenczi immer wieder auf schwere Empathie- und Taktmängel von Therapeuten zu sprechen. So konstatiert er die „Gefahr des latenten Sadismus und der Erotomanie“ und „ein unberechtigtes Gefühl der Überlegenheit im Analytiker, mit einer gewissen Verachtung des Patienten“, „das Hypokritische in dem Benehmen des Analytikers“, Verletzungen, ohne dem Patienten „eine Chance zu geben zu protestieren oder wegzugehen“, eine „sadistische Prozedur“ (ebd.: 257, 264, 275f.). Diese Äußerungen Ferenczis stehen keineswegs vereinzelt da. Auch Otto Fenichel flocht in seine 1936 vor der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung gehaltenen Lehrvorträge über „Probleme der psychoanalytischen Technik“ des öfteren Äußerungen über therapeutische Taktmängel ein, sei es, dass Analytiker sich „einen Erfolg vom ‚Anschießen’ mit ‚tiefen’ Deutungen versprechen“ (Fenichel 2001: 53), „‚Zusammenbrüche‘ provozieren und durch fortgesetzte Nachäffung der Eigenheiten des Patienten seinen Narzißmus schwer kränken“ (ebd.: 55) oder den Patienten so „angreifen, dass er nicht mit Einsicht, sondern mit Absperrung und Haß gegen uns reagieren muß“ (ebd.: 119). Es sei weder sinnvoll, aus Angst vor Gegenübertragung „zur Unterdrückung aller menschlichen Freiheiten bei den eigenen Reaktionen“ zu gelangen (ebd.: 79), noch die ganze Analyse „auf Distanz“ zu führen, „nicht nur von Seiten der Gefühle des Analytikers, sondern auch von der der Patienten“ (ebd.: 157). Stattdessen sei es die Aufgabe der Therapeuten, „einen zur Heilung notwendigen Prozeß dem Patient(en) so wenig schmerzvoll wie möglich zu machen“ (ebd.: 61), und ihm zu der Erfahrung zu verhelfen, dass er sich „auf das ‚Menschsein’ des Analytikers immer verlassen“ könne (ebd.: 79).
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Im Rahmen dieser kritischen Auseinandersetzungen hat Freud die Analytiker mit dem Hinweis, sie seien „Personen, die eine bestimmte Kunst auszuüben gelernt haben und daneben Menschen sein dürfen“, in Schutz genommen. Er enthielt sich aber nicht des kritischen Kommentars, dass sie „in ihrer eigenen Persönlichkeit nicht durchwegs das Maß von psychischer Normalität erreicht haben, zu dem sie ihre Patienten erziehen wollen“ (1937: 93). Diese Einschätzung trug dem Anteil der Therapeuten an den in Therapien zutage tretenden Empathie- und Taktmängeln Rechnung, blieb aber auf der Ebene individueller Unzulänglichkeiten. Erst in den Kontroversen nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die in der therapeutischen Beziehung auftretenden Probleme nicht nur individualisierend einem „schwierigen“ Patienten oder einem „unempathischen“ Therapeuten angelastet, sondern zunehmend mit dem sich zwischen den beiden Beteiligten entwickelnden „intersubjektiven Feld“ in Verbindung gebracht. Taktprobleme im intersubjektiven Kontext der Therapeut-Patient-Beziehung In der Nachfolge Ferenczis war es Michael Balint, der bereits zehn Jahre nach Freuds Tod auf „Wandlungen“ im Verständnis der analytischen Situation aufmerksam gemacht hat. Aufgrund seiner stärkeren Ausrichtung an der „Objektbeziehung“ rückte er den Beitrag des Analytikers verstärkt ins Blickfeld und betonte, dass nicht nur die Beziehung des Patienten zum Analytiker wie in dem berühmten Fall Dora, sondern auch die des Analytikers zu seinem Patienten „libidinös“ sei. Für beide gelte, dass „kein Mensch auf die Dauer eine Beziehung ertragen kann, die nur Versagung, d.h. eine dauernd wachsende Spannung zwischen ihm und seinem Objekt ist. Früher oder später muß die Spannung durch bewußte oder unbewußte Maßnahmen zur Entladung kommen. Es handelt sich […] darum, wie viel und welche Befriedigung einerseits vom Patienten, andererseits vom Analytiker benötigt wird, um die Spannung in der psychoanalytischen Situation so optimal wie möglich zu halten“ (Balint 1949: 266f.).
Daher komme es auf die „Schaffung einer geeigneten Atmosphäre“ durch den Analytiker an, die dem Patienten dazu verhilft, „sich zu eröffnen“, oder negativ formuliert: „Vermeidung der 224
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Schaffung einer Atmosphäre, die den Patienten veranlaßt, sich zu verschließen“ (ebd.: 269f.). Eine ähnliche Programmatik vertrat Leo Stone 1961 in der kritischen Studie „Die psychoanalytische Situation“. Sie enthält bereits einen intersubjektiven Klärungsansatz. Die zwischen Analytiker und Analysand auftretende Beziehungsdynamik sei maßgeblich vom zugrunde liegenden Verständnis der psychoanalytischen Situation abhängig. Nach klassischem Verständnis besteht deren Sinn darin, beim Patienten eine „Regression“ und damit eine „Übertragungsneurose“ zu fördern. Zu den Merkmalen der psychoanalytischen Situation rechnet Stone: x das allgemeine „Zudecken“ der Persönlichkeit des Analytikers, sofern sie nicht unvermeidlich oder unbeabsichtigt zutage tritt; x das relative Fehlen auch nur konventioneller emotionaler Reaktionen des Analytikers auf Persönlichkeit und Beruf des Patienten; x das wahrnehmungsmäßige und emotionale „Vakuum“, das daraus für den Patienten entsteht; x die formal kindliche Rolle des regressiven Patienten; x insgesamt eine „extreme Einseitigkeit der Kommunikation“, die sich mit der „extremen Ungleichheit der manifesten Beteiligung“ verbindet (Stone 1961: 23f.). Stone spricht von „Mißdeutungen, Übertreibungen oder anderen Mißbräuchen des „Spiegel’-Konzepts“, die bei „labilen“ Analytikern dazu geführt hätten, dass sie dieses Konzept „als Rationalisierung für passive Grausamkeit“ benutzt hätten (ebd.: 38). Unnötig distanzierte und versagende Haltungen könnten bei Patienten sowohl starke Ängste als auch Bindungen hervorrufen, ja ähnlich schädliche Regressionen wie bei Kindern auslösen, denen die Befriedigung wichtiger Grundbedürfnisse wie Kontakt, Aufmerksamkeit, Interesse u.a. seitens der Eltern vorenthalten worden ist. Unter besonders ungünstigen Umständen „können Jahre geduldiger und kundiger Arbeit zunichte gemacht werden, wenn es an einem kritischen Punkt des Prozesses nicht gelingt, die angemessene menschliche Reaktion zu zeigen, die jeder Mensch von einem anderen erwartet, zu dem er in tiefer Abhängigkeit steht“ (ebd.: 74). Die therapeutische Beziehungskonstellation habe ungünstige Wirkungen, wenn sich der Therapeut emotional betont zurück225
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nehme, damit die Übertragung des Patienten auf ihn „unkontaminiert“ bleibe. Dadurch könne der Patient einem iatrogenen Einfluss seines Gegenübers ausgesetzt werden. Bei einer überspitzten Auslegung der Abstinenzregeln bleibt nach Stone kein Raum für „legitime“ Formen der Übertragungsbefriedigung, die für den therapeutischen Prozess günstig und förderlich sein könnten. Dazu rechnete er „den Wunsch nach Toleranz und sympathetischem Verständnis, nach Hilfe bei der Bewältigung der verwirrenden und herausfordernden äußeren Welt lebender und unbelebter Gegenstände und Kräfte, sowie der Last körperlich erfahrener Schmerzen und Triebe und vor allem bei der Beherrschung und Lenkung einer dunklen und geheimnisvollen inneren psychischen Welt“. Diese Art der Befriedigung könne „eine wichtige Bedeutung für den Antrieb zur Beherrschung nicht neutralisierter und nicht sublimierter erotischer und destruktiver Tendenzen haben“ und „sich mit Gewinn bis zu ihren vernünftigen Grenzen ausdehnen“ lassen (ebd.: 59f.). Aus der Studie von Stone lässt sich folgern, dass die psychoanalytische Situation prinzipiell einen intersubjektiven Rahmen und ein Regelwerk bildet, das „eine bemerkenswerte psychodynamische Kraft“ hat (ebd.: 76); dass das klassische psychoanalytische Verständnis der technischen Regeln zu großen Verunsicherungen der Patienten führen kann, die dann therapeutisch schädliche Wirkungen nach sich ziehen; dass auf Seiten der Patienten auftretende Kränkungen, Frustrationen und Regressionen in engem Zusammenhang mit gefühlsmäßiger Beteiligung, Empathie und Takt der Therapeuten stehen und daher als iatrogene Reaktionen zu betrachten sind; und schließlich dass der intersubjektive Rahmen neu überdacht und interpretiert werden müsste. Auf dieser intersubjektiven Linie bewegte sich auch Balint in seinem Buch „Therapeutische Aspekte der Regression“ (1968). Er unterschied zwei Ebenen der analytischen Arbeit: Auf der „ödipalen Ebene“ vollziehe sich alles Geschehen in einer Dreierbeziehung, auf der „Ebene der Grundstörung“ hingegen in einer ausschließlichen Zwei-Personen-Beziehung mit der besonderen Gefahr einer „malignen Regression“ (ebd.: 25ff.). Beide Ebenen unterscheiden sich insbesondere durch die Art und den Grad der Regression. Bei der Regression auf die ödipale Stufe gehe es um die Befriedigung von Triebverlangen, bei der Regression auf die Ebene der Grundstörung hingegen um etwas Grundlegenderes. 226
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Der Patient fühlt sich darauf angewiesen, vom Therapeuten „erkannt“ und angenommen zu werden: „abgesehen von der Enthaltung von jeglicher Einmischung und unnötigen Störung der inneren Vorgänge im Patienten (zwei wichtige Aspekte), besteht die Hauptform dieser vom Patienten erhofften Beteiligung in der Anerkennung der Existenz dieses seines Innenlebens und seiner unverwechselbaren Individualität“ (ebd.: 176). Bei dieser Art Regression kommt es weniger auf verbale Prozesse und die „richtige Deutung“ als auf die Regulierung der emotionalen Beziehung an: „Im Gegensatz zur ‚Einsicht‘ als dem Ergebnis einer korrekten Deutung, führt die Schaffung einer richtigen Objektbeziehung zu einem ‚Gefühl’; während ‚Einsicht’ mit ‚sehen‘ korreliert ist, hat ‚Gefühl’ mit dem Berühren oder Befühlen zu tun […]“ (ebd.: 195). Balint nimmt weiter an, dass eine Regression auf die ödipale Ebene in erster Linie „vom Patienten, seiner Kindheit, seinem Charakter, der Schwere seiner Krankheit usw. determiniert“ sei. Die Regression auf die Ebene der Grundstörung sei hingegen „das Ergebnis einer Interaktion zwischen diesem einen Patienten und diesem einen Analytiker“, so dass sie auch „von der Art und Weise abhängt, wie die Regression erkannt, angenommen und vom Analytiker beantwortet wird“ (ebd.: 196). Um in diesem Falle eine heilsame Beziehungsqualität zu erreichen, müsse der Analytiker „äußerst wichtige negative Aspekte“ vermeiden. Dazu gehöre die Technik, „alles als Übertragung zu deuten“, da sie eine Versuchung darstellt, „uns für unsere Patienten zu mächtigen, kenntnisreichen Objekten zu verwandeln“ und sie dadurch in eine Beziehungswelt zu versetzen, in der „viele Möglichkeiten der Abhängigkeit [bestehen], dagegen nur wenige, unabhängige Entdeckungen zu machen“ (ebd.: 201). Damit sei die Gefahr verbunden, dass der Analytiker „in den Augen des Patienten ‚omnipotent’ erscheint oder unbewußt den Anschein von Allmacht erweckt“ (ebd.: 203). Statt alles gleich verstehen und deuten zu müssen, sei das Handeln des Therapeuten umso besser, je mehr er „die Ungleichheit zwischen seinem Patienten und sich selbst verringern kann, je weniger er sich dem Patienten aufdrängt und je einfacher er sich gibt“ (ebd.: 210). Er solle aber auch nicht der anderen Versuchung erliegen, das Leben des regredierten Patienten „voller Mitgefühl zu ‚managen‘ […], denn das wäre eine ebenso omnipotente Reaktion“ (ebd.: 223).
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Auch wenn bei Balint in diesem Kontext nicht explizit von Takt oder Taktlosigkeit die Rede ist, liegt doch offen zutage, dass der Therapeut zur Regulierung tieferer Stufen von Regression viel stärker auf sein gefühlsmäßiges Mitschwingen, auf „containing“ (Bion) oder die Herstellung einer „funktionserleichternden Umwelt“ (Winnicott) angewiesen ist. Andernfalls riskiert er, dass seine Deutungen „als Angriffe, Forderungen, gemeine Unterstellungen, unverdiente Grobheit oder Beleidigung, Ungerechtigkeit oder zumindest Rücksichtslosigkeit“ erlebt werden (ebd.: 28). Die Erfahrungen mit der von Ferenczi, Balint, Winnicott u.a. entwickelten „Regressionstechnik“ bei schwer gestörten Patienten, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann, führten bei den Selbstpsychologen (Kohut 1979; Lichtenberg/Lachmann/ Fosshage 1996), den relationalen Analytikern (Mitchell 1993, 1995) und den Intersubjektivisten (Orange/Atwood/Stolorow 1997) zu einer stärkeren Akzentuierung der ‚Empathie’ des Therapeuten, überhaupt einer stärkeren Beobachtung des Beobachters und der Subtilitäten der therapeutischen Interaktion. Der damit verbundene Perspektivwechsel berücksichtigte stärker als bisher, dass: „Patienten auf die manchmal ungeschickte Wortwahl ihrer Therapeuten oder auf deren Tonfall empfindlich reagieren, mit einem Rückzug oder einer Erkaltung des analytischen Binnenklimas oder mit scheinbar unerklärlichen Anfällen narzisstischer Wut und dass es deshalb die Aufgabe des Therapeuten sein müsse, solche unvermeidlichen Verstörungen des empathischen Bandes sorgfältig zu beachten“ (Buchholz 2004: 29).
In der Weiterentwicklung der psychoanalytischen Behandlungstechnik und -kunst wurde die Bedeutung des Takts für den Aufbau eines therapeutischen Arbeitsbündnisses gelegentlich explizit angesprochen. So betonte Merton Gill (1982: 105), dass „eine taktlose Deutung das Bündnis unter Umständen beeinträchtigt, während eine frühe taktvolle Übertragungsdeutung nicht nur der beste Weg zur Förderung des Bündnisses sein kann, sondern mitunter sogar seine Voraussetzung darstellt“. Einige Jahre später hat dann Léon Wurmser (1997: XXIII) darauf hingewiesen, dass sich die Behandlungsmöglichkeiten „in beeindruckender Weise verändert haben“ und eine „viel größere Beachtung von Takt“ und „die
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Vermeidung impliziter und expliziter Urteilssucht“ zu beobachten sei.
Stufen der emotionalen Annäherung und Beziehungsgestaltung im therapeutischen Prozess – der Takt als Beziehungsregulator Wie in allen zwischenmenschlichen Beziehungen kann man auch hinsichtlich der therapeutischen Beziehung von Stufen der emotionalen Annäherung sprechen. Im Folgenden will ich der Frage nachgehen, welche Rolle der Takt als Beziehungsregulator auf den verschiedenen Stufen der emotionalen Annäherung zwischen Patient und Therapeut spielt. Die Anfangsstufe von „Attachment“ und „positiver Übertragung“ In der Anfangsphase einer Psychotherapie muss der Therapeut dem Patienten einen Kredit an Wohlwollen und Verständnis einräumen, wenn er in ihm die Bereitschaft zu emotionaler Öffnung und vertrauensvoller Zusammenarbeit wecken will. Freud hat dies treffend formuliert: „Das erste Ziel der Behandlung bleibt, ihn an die Kur und an die Person des Arztes zu attachieren (Hervorhebung G.G.). Man braucht nichts anderes dazu zu tun, als ihm Zeit zu lassen. Wenn man ihm ernstes Interesse bezeugt, die anfangs auftauchenden Widerstände sorgfältig beseitigt und gewisse Mißgriffe vermeidet, stellt der Patient ein solches Attachement von selber her und reiht den Arzt an eine der Imagines jener Personen an, von denen er Liebe zu empfangen gewohnt war. Man kann sich diesen ersten Erfolg allerdings verscherzen, wenn man von Anfang an einen anderen Standpunkt einnimmt als den der Einfühlung, etwa einen moralisierenden, oder wenn man sich als Vertreter oder Mandatar einer Partei gebärdet, des anderen Eheteiles etwa usw.“ (1913: 473f.).
Den Berichten von 20 Patienten und Lehranalysanden über ihre Analyse bei Freud kann man entnehmen, dass er sich selbst in der analytischen Situation weder „gefühlskalt“ wie ein Chirurg noch „neutral“ wie ein Spiegel noch einseitig „versagend“ wie ein allzu strenger Vater verhalten hat (vgl. Cremerius 1981). Er sei sehr bemüht gewesen, bereits in den ersten Therapiesitzungen eine ange-
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nehme Atmosphäre zu schaffen, in der man sich wohl fühlen konnte. Wie Hilda Doolittle (1956: 19) schilderte, habe Freud ihr in einer Sitzung einen Goldorangenzweig überreicht, um symbolisch wieder gut zu machen, was ihr in der Kindheit an Unrecht widerfahren war. Mehrere Analysanden berichteten, Freud habe ihnen über Familiäres, über seine Reisen, seine Lieblingsschriftsteller und seine Antikensammlung erzählt. Die Bereitschaft des Patienten, sich dem Therapeuten anzuvertrauen, hat Freud unter dem Aspekt der positiven Übertragung behandelt. Dabei grenzte er zwei Komponenten voneinander ab: eine problematische Komponente erotischer Art, die erwähnte Übertragungsliebe, die aus Triebwünschen und ihrer Verdrängung erwächst und sich der therapeutischen Arbeit als Widerstand entgegenstellt, und eine „bewusstseinsfähige, unanstößige Komponente“, die sich in Gefühlen des Vertrauens, des Gernhabens, des Respekts und der Anteilnahme gegenüber dem Therapeuten ausdrückt. Die letztere hielt Freud für die „Trägerin des Erfolges“ in der Therapie (1912b: 371). Er hat seine therapeutische Haltung offenbar sehr danach ausgerichtet, ob er sich auf dem festen Boden der „realen Beziehung“ oder dem morschen Untergrund einer allzu positiven oder negativen Übertragungsbeziehung bewegte. Im Bereich der realen Beziehung war er eher warmherzig, freundlich und offen, während er sich in Phasen der Übertragungs- und Widerstandsanalyse eher vorsichtig abwartend bis kühl-reserviert verhielt. In manchen Therapien pendelte er ständig zwischen Zugewandtheit und Distanziertheit, emotionaler Wärme und Kälte, Bestätigung und Versagung hin und her (vgl. Cremerius 1981: 351ff.). Der Therapeut darf allerdings nicht einseitig auf die Faktoren Attachement und positive Übertragung setzen. Bei allzu großer Identifikation mit den Patienten und entsprechend positiven Gefühlsäußerungen begibt er sich in Gefahr, sie zu idealisieren und ihnen mit kritiklosem Wohlwollen zu begegnen. Bei zu viel Sympathie oder gar Verliebtheit gerät das therapeutische Verhältnis zu früh in die Nähe einer freundschaftsähnlichen Beziehung, die günstigenfalls erst am Ende einer längeren therapeutischen Kooperation entstehen sollte. Es kommt also darauf an, einen für beide Beteiligte angemessenen Grad an Annäherung und Distanzierung zu erreichen (vgl. Kronberg-Gödde 2006: 413ff.).
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Ein „Milieu der Sicherheit“ aufbauen Viele Patienten bringen heutzutage, so der Entwicklungs- und Selbstpsychologe Joseph Lichtenberg, einen Erfahrungshintergrund in die Therapie mit, der sich „durch unsichere Bindung, ein gefährdetes Sicherheitsgefühl und Angst vor erneuter Traumatisierung auszeichnet“ (Lichtenberg 2007: 9). Solche Patienten können es schwer aushalten, wenn ihr bislang abgewehrtes Selbstbild allzu sehr von ihrem bewussten Selbstverständnis abweicht. Sie haben Angst davor, dass Sehnsüchte nach Liebe und Anerkennung und daraus entspringende Enttäuschungsaffekte sie überfluten, und beharren darauf, dass ihre „Zurückhaltung, bestimmte Erlebnisse in der Therapiestunde zu erinnern und auszusprechen, nicht unterlaufen wird, dass der Analytiker nicht Gleiches mit Gleichem vergilt oder seine Patienten für eigene Bedürfnisse und Problemlösungen missbraucht“ (Mertens 2009: 202). In der Weiterentwicklung der Freudschen Narzissmus-Theorie wurde dem Lust-Unlust-Prinzip ein „Sicherheitsprinzip“ affektivnarzisstischer Art gegenüber gestellt. Der Mensch habe neben seinen Triebbedürfnissen auch ein eminent starkes Bedürfnis nach innerer Sicherheit, Wohlbefinden und Selbstwertgefühl (Joffe/Sandler 1967; Argelander 1971; Mentzos 2009). Wichtige Anstöße für die Konzeptualisierung der narzisstischen Bedürftigkeit des Menschen und seiner Anfälligkeit für narzisstische Neurosen verdanken wir der von Heinz Kohut initiierten Selbstpsychologie. Der Mensch sei von Kindheit an auf (stützende) „Selbstobjekte“ angewiesen, um die Kohäsion des eigenen Selbst zu fördern, zu erhalten oder wiederherzustellen. Für die therapeutische Praxis erwies es sich als bedeutsam, drei grundlegende „Selbstobjektbedürfnisse“ zu unterscheiden: x das Bedürfnis nach Spiegelung (in archaischer Form: Bedürfnis nach Verschmelzung und totalem Einssein), x das Bedürfnis nach Idealisierung (in archaischer Form: Bedürfnis nach Einssein mit dem idealisierten Selbstobjekt) und x das Bedürfnis nach Gleichheit und Zugehörigkeit (Alter-Egooder Zwillingserfahrung) (vgl. Hartmann 2005: 529). Diese Selbstobjektbedürfnisse sind in der Kindheit oft unerfüllt und defizitär geblieben. Werden sie in der therapeutischen Situation wiederbelebt, so lassen sie sich drei Formen der „narzissti-
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schen“ oder „Selbstobjektübertragung“ zuordnen: Bei der Spiegelübertragung sind es Bedürfnisse nach Anerkennung und Bewunderung, bei der idealisierenden Übertragung Bedürfnisse nach Verschmelzung mit einem starken, in sich ruhenden und weisen Selbstobjekt und bei der Alter-ego-Übertragung das Bedürfnis nach essenzieller Ähnlichkeit mit einem Anderen, die in der Therapie virulent werden (Kohut 1987: 275ff.). In diesem Kontext sei auch Jobst Finkes Unterscheidung von drei Beziehungsformen, die für jede Art von Psychotherapie gelten sollen, erwähnt: x In der „Alter-Ego-Beziehung“ bemüht sich der Therapeut um ein empathisches Verstehen, wobei er identifikatorisch die Perspektive des Patienten einzunehmen sucht. x Auf der Ebene der „Übertragungs-Beziehung“ sucht er die auf ihn gerichteten Erwartungen, Wiederholungserlebnisse und subjektiven Bedeutungszuschreibungen zu verstehen und zu deuten. x In der „Dialog-Beziehung“ antwortet er dem Patienten als reale Person, indem er sein Erleben der therapeutischen Situation (Gegenübertragung) selektiv mitteilt (vgl. Finke 1999). In der Anfangsphase (oft bis zur Hälfte einer Psychotherapie) spielt die Alter-Ego-Beziehung eine maßgebliche Rolle. Auf dieser Ebene sucht der Therapeut „bis zu einem gewissen Grade in das jeweilige Erleben des Patienten einzuschwingen und insofern in eine emotionale Resonanz mit dem vorherrschenden Affekt des Patienten zu gelangen. Ziel ist es dabei, den Erlebnisraum des Patienten auch in seinen unbewußten Anteilen zu erspüren. Hierzu ist eine partielle Regression auch auf Seiten des Therapeuten nötig, so daß dieser auf der Ebene eines sehr elementaren Erlebens mit dem Patienten in Korrespondenz treten kann“ (ebd.: 26).
Diese Art der therapeutischen Beziehungsaufnahme kommt dem nahe, was wir unter „taktvoll“ im Sinne von wohlwollend und verständnisvoll, schonend und selbstwert-stabilisierend verstehen. Sie ist besonders in der Behandlung von Patienten indiziert, die an Depressionen und Ängsten mit einer charakteristischen „Wendung gegen sich selbst“ leiden. Sie kann aber auch kontraindiziert sein, wenn der Therapeut auf die Alter-Ego-Beziehung
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„fixiert“ ist und der Patient es daher nicht wagt, aggressive Gefühle gegenüber dem Therapeuten zu äußern, um ihn nicht zu kränken oder Spannungen aufkommen zu lassen. Zudem kann der Therapeut in eine masochistische Position gegenüber dem Patienten geraten, der „in dem triumphierenden Zurückweisen des therapeutischen Beziehungsangebotes eine Möglichkeit zur Erfüllung von narzisstischen Bedürfnissen oder von infantilen Racheimpulsen erlebt“ (Finke 1999: 61). Deshalb ist es wichtig, die AlterEgo-Position verlassen und flexibel zwischen den verschiedenen Beziehungsebenen oszillieren zu können. Nicht nur die Patienten, sondern auch die Therapeuten benötigen ein „Milieu der Sicherheit“, um ein wirkungsvolles Arbeitsbündnis herstellen zu können: „Vorkehrungen, die für beide Teilnehmer eine sichere Atmosphäre fördern, erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass der Patient Zugang zu durch Scham und Angst blockierten Assoziationen fndet. Der Analytiker, der in einer vertrauten Atmosphäre stabilisiert und orientiert ist, hat Zugang zu einer höchst spontanen Reagibilität“ (Lichtenberg/Lachmann/Fosshage 1996: 25). Wesentlich ist, dass der Therapeut das Bedürfnis des Patienten nach Selbstschutz und innerer Balance – bei strukturellen Defiziten die zur Selbststabilisierung dringend benötigte Abwehr – hinreichend wahrnimmt und respektiert, ohne aber auf entwicklungsstimulierende und -fördernde Interventionen zu verzichten. Je mehr Übereinstimmungen und Bestätigungen zwischen beiden möglich sind, desto leichter ist es, den für das Zusammenspiel nötigen Takt aufzubringen. Je mehr hingegen Differenzen und Korrekturen den Aufbau einer Alter-EgoBeziehung beeinträchtigen, desto eher kann der angestrebte Takt verfehlt werden. Familienähnlichkeit zwischen Takt und „Handhabung der Übertragung“ Wenn sich eine Vertrauensbasis herausgebildet hat, wird der Therapeut nach und nach stärker auf der Ebene der Übertragungsbeziehung operieren. In den letzten Jahrzehnten wird in der Psychoanalyse ein Konzept favorisiert, das die eigentliche Übertragung im Sinne einer Wiederholung kindlicher Beziehungsmuster mit der aktuellen Therapeut-Patient-Beziehung verschränkt. Demnach ist die Übertragungsbeziehung nie „reine Übertragung“, sondern
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stets durch die Person des Therapeuten mitgestaltet (vgl. Gill 1982). Die Arbeit in der Übertragungsbeziehung ist wesentlich stärker auf die Konflikte des Patienten fokussiert, als es in der AlterEgo-Beziehung der Fall ist. Werden in der Kindheit des Patienten geprägte Konfliktmuster in der therapeutischen Beziehung reaktualisiert, dann geht es darum, dass sich der Therapeut als Konfliktpartner zur Verfügung stellt. „In der Übertragungsbeziehung sollen konflikthafte Erwartungshaltungen und daraus resultierende dysfunktionale Interaktionsmuster hinsichtlich ihrer verschiedenen Aspekte verdeutlicht, hinsichtlich ihrer Ursprünge geklärt und im Hier und Jetzt der therapeutischen Beziehung durchgearbeitet werden“ (Finke 1999: 75).
Die Analyse und Deutung der Übertragungsbeziehung lässt sich in mehrere Stufen aufteilen: von Beziehungsanspielungen als indirekter Bezugnahme auf die Person des Therapeuten über Rückschlüsse vom Erleben der therapeutischen Situation auf die außertherapeutische Situation bis zu „Kindheitsdeutungen“, wobei es in der therapeutischen Praxis natürlich nicht zu einem klaren Nacheinander in der Stufenfolge kommt. Wesentlich ist, dass „der Therapeut immer wieder vom aktuellen Beziehungserleben des Patienten ausgeht, um so ganz erlebnisnah, ganz im Hier und Jetzt, ganz in der ‚Hitze der Übertragung’, wie Freud sich ausdrückte, zu arbeiten. Dadurch kann er zu wirklich gefühlsverankerten Einsichten und zu einer auch erfahrungsbedingten Änderung von zentralen Erlebnismustern kommen“ (ebd.: 65). Wie Finke betont, sind zu häufige Übertragungsdeutungen problematisch, weil das ständige Aufspüren von Beziehungsanspielungen vom Patienten leicht als „taktlos-zudringlich“ empfunden wird (ebd.: 103). Da es beim therapeutischen Takt nicht nur um das Was, sondern auch und gerade um das Wie einer Deutung geht, steht er der „Handhabung“ der Übertragung nahe. Als Freud erstmals von Handhabung der Übertragung sprach, war es seine erklärte Absicht, dem „Wiederholungszwang“ als einem Tummelplatz der Übertragung weitgehende Freiheiten einzuräumen. Von den Wiederholungsreaktionen, die sich in der Übertragung zeigen, würden dann die bekannten Wege zur Erweckung der Erinnerungen
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führen, die sich nach Überwindung der Widerstände einstellen (Freud 1914: 134f.). In der weiteren Verwendung dieses Terminus waren es zunächst die mit der „Übertragungsliebe“ verbundenen Probleme, die nach einer gekonnten Handhabung verlangten. Die Frage war, wie sich der Therapeut „benehmen“ müsse, „um nicht an dieser Situation zu scheitern, wenn es für ihn feststeht, daß die Kur trotz dieser Liebesübertragung und durch dieselbe hindurch fortzusetzen ist“ (Freud 1915: 311). Betont Freud, dass die Handhabung der Übertragung „das schwierigste wie das wichtigste Stück der analytischen Technik“ ist (1925: 68f.), so stellt er sie ausdrücklich neben die „Deutungskunst“ und die „Bekämpfung der Widerstände“ (1926: 260) und grenzt sie damit von der Analyse der Übertragung ab (vgl. A. Balint 1936: 57). In diesem Kontext geht er auch auf Phänomene negativer Übertragung wie Enttäuschung und Feindseligkeit des Patienten ein: „Hier kann man die schwersten Fehler begehen oder sich der größten Erfolge versichern“; um adäquate Auswege aus der Situation der Übertragung zu führen, ohne sich deren Schwierigkeiten zu entziehen, brauche der Therapeut „viel Geschick, Geduld, Ruhe und Selbstverleugnung“ (1926: 258 f.; s.a. 1940: 102). Obwohl die nicht-deutenden Aktivitäten des Therapeuten von großer Relevanz sind, hat Freud sie kaum konzeptionell ausgearbeitet. Dennoch lassen sich seinen Behandlungsschriften wichtige Aspekte entnehmen, wie z.B.: x Versagung von Übertragungsbefriedigungen, x energische Bekämpfung aller Versuche der agierenden Befriedigung innerhalb und außerhalb der Beziehung, x „Ruhe und Geduld“ angesichts der Manifestationen der Übertragung, x Beherrschung der eigenen Gegenübertragung, x Mut, sich den intensiven Übertragungen dennoch auszusetzen und ihnen nicht auszuweichen, x „Geschicklichkeit“ in der analytischen Untersuchung und im Deuten der Übertragungssituationen („Takt“) sowie x Geben von Aufklärungen und Erläuterungen gegenüber dem Patienten, um ihm die wahre Natur der Übertragungssituationen nahe zu bringen (vgl. Will 2003: 91).
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Festhalten kann man, dass Freud den Terminus Handhabung der Übertragung in erster Linie angesichts der Zuspitzung von Übertragungswiderständen verwendet hat. Darüber hinaus hat er ihn auch „für die Handhabung der kleinen Übertragungskomplikationen und -widerstände in der alltäglichen analytischen Arbeit“ geöffnet. Zwischen Handhabung der Übertragung und Takt kann man eine „Familienähnlichkeit“ annehmen, da beide die Übertragungsverhältnisse – und die damit verbundenen Widerstände – ins Auge fassen und sie zu regulieren suchen (Will 2003: 96f.). In der postfreudianischen Psychoanalyse wird heute sehr viel deutlicher als noch in Freuds Überlegungen berücksichtigt, „inwiefern die Person und das Verhalten des Analytikers das Material für bestimmte Übertragungen liefern, die fortlaufende Reflexion darüber, inwieweit dieses auch durch die unbewusste Rollenerwartungen des Patienten induziert wird, aber auch durch Eigenübertragungen auf den Patienten entsteht und natürlich auch das Ansprechen der Übertragungswiderstände und das Umgehen mit den anschließenden Reaktionen des Patienten“ (Mertens 2009: 109).
Unmittelbare Beziehungsregulierung auf der Ebene emotionaler Regeln Franz Alexander, der ursprünglich zu den Kritikern Ferenczis und Ranks gehört hatte, näherte sich Jahrzehnte später an deren Erlebnistherapie an. Die Wiederholung der ursprünglichen Konflikte in der Übertragung zum Therapeuten sei nur der erste Schritt in der Therapie; wesentlich sei, dass der Therapeut eine Wiederholung elterlicher Haltungen vermeide. Erlebt der Patient an entscheidenden Kreuzwegen seiner Behandlung, dass der Therapeut auf ihn verständnisvoller und toleranter reagiert als seine – einschüchternden, emotional abweisenden, ambivalenten oder verzärtelnden – Eltern, so kann er in der Übertragung eine „emotionalkorrigierende Erfahrung“ machen und dadurch den Mut zu einer inneren Umstellung und Neuorientierung gewinnen (Alexander 1950: 415). Auf der Linie einer Therapie der emotionalen Erfahrung liegen auch die erwähnten Modifikationen der Behandlungstechnik durch Balint und Winnicott, die zu einer erheblichen Ausweitung des Indikationsbereiches psychodynamisch orientierter Therapien geführt haben.
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In den letzten Jahrzehnten wurde das affektive Erleben des Patienten als Therapiefaktor wesentlich stärker akzentuiert als die Gewinnung von Einsicht und die Rekonstruktion der Kindheitsgeschichte. Wird die „Klassische Einsichtstherapie“ (Freud, Abraham, Eissler, Fenichel, Rangell, u.a.) durch die Parameter „Übertragung – Wiederholung (als Widerstand) – reine (Übertragungs-) Deutung“ bestimmt, so lässt sich die „Therapie der emotionalen Erfahrung“ (Ferenczi, Rank, der späte Alexander, Balint, Winnicott, u.a.) mit den Stichworten „Beziehung – Innovation – Hier und Jetzt – best mothering possible“ charakterisieren (vgl. Thomae 1983: 31; s.a. Gödde/Buchholz 2011). In diesem Kontext hat sich die in der neueren Gedächtnisforschung entwickelte Unterscheidung zwischen zwei Formen des Langzeitgedächtnisses als bedeutsam erwiesen. Das sehr früh erworbene Beziehungswissen mit begleitenden Gefühlen und Körpersensationen sei in einem implizit-prozeduralen Gedächtnis gespeichert, während das später entstehende reifere Gedächtnis einem explizit-deklarativen Modus unterliege. Die Inhalte des explizit-deklarativen Gedächtnisses sind autobiografische Erfahrungen (episodisches Gedächtnis) oder Fakten aus dem Alltag, der Bildung oder der Kultur (semantisches Gedächtnis). Dazu gehören auch psychische Vorgänge, die ins Unbewusste verdrängt worden sind, aber bewusst gemacht werden können, und in der Therapie als Übertragung in Erscheinung treten. Demgegenüber sind die implizit-prozeduralen Gedächtnisprozesse als sensorische, emotional-affektive und motorische Zustände organisiert und weisen keine bildliche oder sprachlichsymbolische Repräsentanz auf. Sie können deshalb auch nicht explizit erinnert und bewusst gemacht werden. In der Therapie äußern sie sich als „Enactment“, d.h. szenische Darstellung aus dem Unbewussten, oder als „prozedurale Übertragung“, d.h. Aktivierung nicht mental repräsentierter affektiver und somatischer Zustände in der therapeutischen Beziehung (Ermann 2010: 95ff.). Mit solchen Phänomenen haben sich, wie bereits angesprochen, Autoren wie Ferenczi, Balint, Winnicott u.a. auseinandergesetzt. Die beiden Gedächtnissysteme operieren nebeneinander und ergänzen sich, sind aber höchst unterschiedlich, was zu einem Umdenken in der Therapeutik beigetragen hat. In der Therapie spielen explizite Inhalte der Rede und prozedurale Modi des Sprechens zusammen, wobei sich der Behandlungsfokus bei zu237
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nehmendem Grad an strukturellen Defiziten auf die Seite des Prozeduralen verschiebt. Man kann in diesem Zusammenhang von einer „impliziten Behandlungstechnik“ sprechen, die sich weniger am Deutungsprinzip als am Prinzip eines entwicklungsfördernden Umgangs mit der therapeutischen Beziehung orientiert (Ermann 2005). Mertens spricht in diesem Zusammenhang von einer „unmittelbaren Beziehungsregulierung auf der Ebene emotionaler Regeln“. Es komme zu einem Mikroaustausch von Informationen, die „in Form von Affektäußerungen mimischer, stimmlicher, gestischer und haltungsmäßiger Art erfolgen, die wiederum zu subsymbolischen affektiven Reaktionen führen. Dabei finden Vorgänge des Aushandelns und Einigens, der wechselseitigen Verstärkung und Dämpfung, aber auch des Einanderverfehlens, der Unterbrechung und Wiederherstellung des Rückzugs und der Rückkehr zu einem früheren affektiven Gleichgewicht statt“ (Mertens 2009: 46).
Handelt es sich bei Taktlosigkeiten immer um ein intersubjektives Geschehen, dann ist dabei nicht nur die explizite Ebene offener Auseinandersetzung zu berücksichtigen, z.B. ein Angriff und die Reaktion darauf, bei der ich mich als Angegriffener mit Humor und Schlagfertigkeit zur Wehr setzen oder in die Position des Opfers, des Beschämten geraten kann. Hinzu kommt eine Vielfalt sublimer Taktverfehlungen, die auch und gerade in der PatientTherapeut-Beziehung von beiden Seiten ins Spiel kommen und die implizit-prozedurale Ebene tangieren. Daher bräuchte man einen erweiterten Taktbegriff im Sinne eines emotionalen Beziehungsregulators, um die Feinabstimmung in der Kommunikation zwischen Patient und Therapeut beschreibend und interpretierend erfassen zu können. Patienten registrieren sehr wohl, ob die Einfühlung ihres Therapeuten intensiv genug ist, um ihre Gefühle zu teilen, und reagieren darauf. „Wenn die Einfühlung nur aus gedanklichen Konstruktionen besteht oder aus der Erinnerung analoger Erfahrungen ohne eine entsprechende Gefühlsaktivierung, lässt sie beim Patienten kein Gefühl resonanten Erlebens entstehen“ (Mertens 2009: 234).
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Auseinandersetzung mit ethischen Maßstäben Für einen Therapeuten ist es mitunter schwer, Sympathie und Taktgefühl aufrecht zu erhalten, wenn sich ein Patient gegenüber seiner Familie oder seinen Freunden rücksichtslos verhält oder die in der Therapie gewonnene Ich-Stärkung dazu benutzt, um die Mitmenschen noch besser für seine persönlichen Interessen zu instrumentalisieren. Das würde auf eine fragwürdige Toleranz hinauslaufen. Über einen Wertkonflikt in der Therapie eines Chefs aus der Oberschicht schreibt Johannes Cremerius: „Einer schweren Belastung meiner Beziehung zu ihm setzt er mich aus, als er, unbefangen und als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt, davon berichtet, wie er einen 60jährigen leitenden Angestellten, einen alten, verdienten Mitarbeiter seines Vaters, wegen einer Bagatelle, eines Versagens, das damit zu tun hat, dass er mit dem Tempo und den veränderten Geschäftsmethoden nicht mehr mitkam, aus seiner Stelle entfernte […]. Mit Beschämung darüber, dass die Therapie in eine Richtung lief, die meinen Vorstellungen vom Wesen einer solchen diametral entgegengesetzt war, muss ich feststellen, dass seine Beschwerden milder wurden, dass er sich zunehmend besser fühlte. […] Die Analyse diente ihm dazu, sich auszusprechen, seine Klagen und Anklagen loszuwerden. Er benutzte sie als Reparaturwerkstatt, dazu, sich in sich selber, in seiner Rolle zu festigen“ (Cremerius 1979: 34f.; eine ähnliche Fallkonstellation findet sich bei Argelander 1972).
Hier wird deutlich, dass der Therapeut bei aller Empathie und Taktbereitschaft nicht zum bloßen Parteigänger und zur „Bestätigungsmaschine“ des Patienten werden darf, sondern ihm in bestimmten Situationen auch mit emotionaler Distanz oder offenen Affektäußerungen entgegen treten muss. Eine solche Auseinandersetzung hat mit der Polarität von Anpassung versus Nonkonformismus bzw. konventioneller versus postkonventioneller Moral zu tun. In diesem Fragenbereich kann der orientierungssuchende Therapeut Anschlüsse an die philosophische und therapeutische Lebenskunst suchen (Brenner/Zirfas 2002; Gödde/Zirfas 2006; Zimmer 2008). So führt Adorno im Rahmen einer kleinen „Dialektik des Takts“ aus: „Voraussetzung des Takts ist die in sich gebrochene und doch noch gegenwärtige Konvention“. Takt bedeute nicht einfach „die Unterordnung unter die zeremonielle Konvention“, sondern „verlange die eigentlich
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unmögliche Versöhnung zwischen dem unbestätigten Anspruch der Konvention und dem ungebärdigen des Individuums“. Takt sei „eine Differenzbestimmung“, die „in wissenden Abweichungen“ bestehe (1979: 37f.). Auch von Nietzsches Anliegen der „Gerechtigkeit“ (vgl. Stegmaier 1992: 372ff.) lässt sich eine Brücke zum Takt schlagen. Gerechtigkeit hat zunächst mit der Suche nach unvoreingenommener Erkenntnis zu tun: „Ihre Art ist es, mit herzlichem Unwillen Allem aus dem Wege zu gehen, was das Urtheil über die Dinge blendet und verwirrt“. Sie sei deshalb eine „Gegnerin der Überzeugungen“, des dogmatischen Glaubens, „in irgendeinem Puncte der Erkenntniss im Besitze der unbedingten Wahrheit zu sein“. Um jedem „das Seine geben“ zu können, stellt sie „jedes Ding in das beste Licht und geht um dasselbe mit sorgsamem Auge herum. Zuletzt wird sie selbst ihrer Gegnerin, der blinden oder kurzsichtigen ‚Ueberzeugung‘ […] geben, was der Ueberzeugung ist“ (Nietzsche 1878: 360f.). Dass eine enge Verbindung zwischen Takt und Gerechtsein besteht, zeigt sich vor allem darin, dass „sich selbst unter dem Ansturz persönlicher Verletzung, Verhöhnung, Verdächtigung die hohe, klare, ebenso tief als mildblickende Objektivität des gerechten, des richtenden Auges nicht trübt“ (Nietzsche 1887: 310).
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Michael B. Buchholz
Takt in der Konversation Mit Bemerkungen zu Rücksicht und Respekt, Verletzungen und Rhythmus
Einführung Dass Takt in der psychotherapeutischen Konversation eine große Rolle spielt, wird von Vertretern aller psychotherapeutischen Richtungen umstandslos zugestanden werden. Jedoch – niemand weiß genau, was „Takt“ eigentlich ist, wie er sich beschreiben ließe und wann er sich ereignet. Auch, ob er sich vom Taktgefühl unterscheidet, ist nicht untersucht. Ein weiterer seltsamer Umstand fällt auf: In vielen Texten zur Psychotherapie wird gefordert, dass Therapeuten ihren Patienten „Respekt“ entgegen zu bringen haben oder dass „respektvoller Umgang“ gepflegt werden solle. Das wird teils als ausdrückliches Ziel von Ausbildungen formuliert. Doch ist andererseits jedem Erfahrenen klar, dass man – würde man eine solche Forderung wörtlich und genau nehmen – sich damit dem Risiko von Erpressbarkeit aussetzt; ein Patient müsste immer nur zu erkennen geben, dass er sich bei ihm unangenehmen Themen mit zu wenig „Respekt“ behandelt sähe und schon hätte der Therapeut sich mit seinen Bemühungen zurück zu ziehen. So, wie es in den Texten formuliert wird, sieht es dann auch in der Praxis nicht aus. Hier kommt es vielmehr darauf an, dass Therapeuten auch die Kunst der Verletzung von Respekt beherrschen, das, was hier als „taktvolle Taktverletzung“ angesprochen werden soll. Auf die philosophische und pädagogische Tradition des TaktBegriffs soll in anderen Arbeiten eingegangen werden; hier genügt die Feststellung, dass es sich beim Takt keineswegs um ein klar definiertes Phänomen handelt. Vielmehr handelt es sich um ein konversationelles Phänomen, das von den Beteiligten selbst definiert, eingefordert, realisiert und bestätigt werden muss und deshalb variablen Bedeutungsgebungen unterliegt. Takt ist ein Phänomen der lokalen Gesprächsproduktion. Das gilt für andere Be-
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stimmungen wie etwa „freundschaftlicher Umgang“, für Worte wie „Beziehungspflege“, „Verletzung (von Grenzen oder Gefühlen)“ ebenso wie für viele andere. Die irrtümliche Annahme, man könne hier allgemein definieren und dann untersuchen, führt in die Schwierigkeit, dass die lokale Produktion übersehen wird. Selbst was eine „Deutung“ (oder allgemeiner, eine „Intervention“) ist, kann nicht allgemein definiert werden, weil es immer der Reaktionen des Anderen bedarf, um festzustellen, um was es sich eigentlich gehandelt hat. Manchmal ist es nur ein „hm“, das wie eine Deutung aufgenommen wird und manchmal verpufft eine wohlgeformte Äußerung im therapeutischen Dialog so, als wäre sie nicht gesprochen worden. Der besondere Hervorbringungscharakter des Phänomens im Gespräch selbst ist aber das, was dessen Flüchtigkeit ebenso ausmacht wie die Möglichkeit der Gesprächsteilnehmer, darüber in Diskussion oder Streit zu geraten – denn nie ist definitiv klar, ob etwas taktvoll war oder nicht. Immer muss es erstritten werden, immer ist die Chance zu Ausübung von Definitionsmacht, Klage und Anklage gegeben und immer öffnet sich so für weitere Kommunikation, insbesondere moralischer Art, auf diese Weise vielfältige Anschlussfähigkeit. Hier soll deshalb Takt an Transkriptionsbeispielen gezeigt und analysiert werden. Es ist deshalb erstaunlich, dass Psychotherapeuten aller Schulen dem Gespräch, das sie führen, selbst so wenig Aufmerksamkeit zugewandt haben. Freud führte (1927) die sogenannte Grundregel seinem fiktiven Gesprächspartner in der „Laienanalyse“ mit folgenden Worten vor: „Noch eines, ehe Sie beginnen. Ihre Erzählung soll sich doch in einem Punkte von einer gewöhnlichen Konversation unterscheiden. Während Sie sonst mit Recht versuchen, in Ihrer Darstellung den Faden des Zusammenhangs festzuhalten und alle störenden Einfälle und Nebengedanken abweisen, um nicht, wie man sagt, aus dem Hundertsten ins Tausendste zu kommen, sollen Sie hier anders vorgehen. Sie werden beobachten, daß Ihnen während der Erzählung verschiedene Gedanken kommen, welche Sie mit gewissen kritischen Einwendungen zurückweisen möchten. Sie werden versucht sein, sich zu sagen: Dies oder jenes gehört nicht hierher, oder es ist ganz unwichtig, oder es ist unsinnig, man braucht es darum nicht zu sagen. Geben Sie dieser Kritik niemals nach und sagen Sie es trotzdem, ja gerade darum, weil Sie eine
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Abneigung dagegen verspüren. [...] Sagen Sie also alles, was Ihnen durch den Sinn geht.“
Diese Original-Beschreibung der Grundregel enthält die Worte „Konversation“ und „Darstellung“, sie erkennt klar an, dass einem während der „Erzählung“ weitere „Gedanken“ kommen und sie stellt ein wichtiges Moment alltäglicher Gespräche heraus, dass man sich konzentriert, „bei der Sache bleibt“ und nicht „abschweift“. An keiner Stelle bezweifelt Freud, dass das von der Grundregel bestimmte analytische Gespräch, das besondere Toleranz für Abschweifungen fördert, selbst Konversation wäre. Wenn die gesamte psychoanalytische Theorie auf dieser Konversation beruht, dann könnte man eigentlich erwarten, dass die Publikationen in psychoanalytischen Fachjournalen voll von Beschreibungen solcher Konversation wären; aber das Gegenteil ist der Fall. Transkriptionen sind rar. Eine empirische arbeitende Psychotherapieforscherin hat die Differenz zwischen der Erinnerung an eine Sitzung und der tatsächlichen Konversation so beschrieben: „I began my research program in my first semester in graduate school in the University of Maryland’s Counseling Psychology program. The story I tell my own students is that one evening, when I went to review the videotape of an earlier counseling session, I was expecting to watch a high-intensity, quickly moving, overly verbal session. I was stunned to see a low-key, slow, and fairly quiet one instead. I was struck by the vast difference between my experience and the recorded tape. It led me to explore the concept of therapist self-talk, because I found that much of the ,verbosity‘ I anticipated seeing on the video had been entirely in my own head!” (Williams 2008: 140)
Diese Erfahrung ist gewiss nicht selten, aber wenig erforscht. Auch gibt es Zusammenhänge mit der Kompetenzentwicklung von Therapeuten; Anfänger kommentieren sich selbstkritisch weit mehr als „Alte Hasen“, aber diese langweilen sich mehr in den Sitzungen (vgl. Buchholz 2007).
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Wandlungen innerhalb des psychoanalytischen Feldes Mit dem Wandel der Psychoanalyse von der Trieb- zur Ich- und Selbstpsychologie und weiter zur relationalen Psychoanalyse (Altmeyer 2003, Altmeyer und Thomä 2006) sind neue Begriffe wie das „bipersonale Feld“ (Baranger und Baranger 1966, 2008), die „kommunikative“ oder „psychische Matrix“ (Loewald 1979) oder „meeting of minds“ (Aron 1996) in die Diskussion eingeführt worden. Sie haben Theorie und Denken über therapeutische Konversation verändert, aber so gut wie nie wird irgendeines dieser neuen Konzepte an einem Beispiel erläutert, das mehr wäre als Erinnerung des niederschreibenden Therapeuten an das Gespräch. 1 So entsteht eine Situation, die der Diskussion um die Befunde der Säuglingsforscher recht ähnlich ist. Ein zentrales Thema dieser Debatte war der Unterschied zwischen dem Bild des Babys, das sich aus den Erinnerungen während einer Analyse ergab und dem, was die Säuglingsforscher an realen Babys beobachteten. Der immense Wandel, der sich daraus ergab, dass der beobachtete Säugling anders ist als der „phantasierte Säugling“, hat sich als hilfreich erwiesen. Gegenüber der Konversationsanalyse (KA) besteht v.a. das Vorurteil, sie sei „positivistisch“ und befasse sich nur mit äußerlichen Fakten, nicht mit denen des Erlebens. Kaum etwas ist falscher. Die von Harvey Sacks, dem eigentlichen Erfinder der KA gehaltenen Vorlesungen wurden nach dem Unfalltod von Sacks von Gail Jefferson (1992) als „Lectures on Conversation“ herausgegeben; im ersten Teil wird nicht nur Freud (z.B. auf S. 202) kenntnisreich erwähnt, sondern auch Viktor Tausk, dessen Arbeit über den „Beeinflussungsapparat“ (Tausk 1919) Sacks erwähnt und eine kluge Überlegung daran hängt. Tausk berichte von einer Schizophrenen, die immer der Überzeugung war, dass andere ihre Gedanken schon kennen. 1
Bereits als „klassische“ Ausnahme ist das „Ulmer Lehrbuch“ (Thomä und Kächele 1985ff.) zu nennen, dessen zweiter Band an Transkripten die im ersten Band dargestellte Theorie erläutert; aber man muss auch erwähnen, dass die dortigen Ansprüche an die Transkripte nicht besonders hoch sind. An einigen Stellen ist nachweisbar schlecht oder falsch transkribiert worden. Doch war die Notwendigkeit früh und dringlich erkannt und die gewaltige Aufgabe insgesamt hervorragend in Angriff genommen worden.
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„And Tausk worked at this symptom that schizophrenics think other persons know their thoughts. The problem had been posed: How is it that schizophrenics come to think that others know their thoughts? And he tries to solve this problem. Now, Freud comments upon the presentation of the paper are included in the journal publication. He says: ,That’s not the problem at all. After all, when you learn your first language, you learn it from your parents, from adults. And children must take it that adults, giving them the concepts, know how they’re being used; know how the child is using them. So the problem is not how is it that people come to think that others know their thoughts, but how is it that people come to think so deeply that others don’t know their thoughts?‘ Then, in a characteristic type of observation, Freud says that the crucial event is the first successful lie. That event must be traumatic. The kid must have to say, ,My God, they don’t know what’s going on!‘“ (Jefferson 1992, Vol. I: 114f.)
Hier also könnte man mit Freud schon auf den Gedanken kommen, dass eine kommunikative Matrix vor den abgrenzenden Individuationsleistungen liegt und dass die Abgrenzung, die das Geheimnis ermöglicht, mit der Lüge notwendig verbunden ist. Für das Kind bereits verknüpfen sich Fragen der Individuation, der Schuld und der Moral miteinander; ob das Ereignis traumatisch sein muss, könnte u.a. vom aufgewendeten Takt der Erziehungspersonen abhängen. Auch in späteren Lebensabschnitten bleibt das Thema virulent; Patienten fürchten und ersehnen, dass Therapeuten Gedanken lesen könnten. Der therapeutische Takt ist in jedem Fall ein bislang unbearbeitetes Thema, soweit es genaue Darstellung des Gesprochenen in Transkripten betrifft. Andere Arbeiten wie die von Gattig (1996) geben Hinweise auf die Genese des Taktgefühls, etwa aus einem überwundenen Narzissmus (Kohut 1971/1973). Hier wird Takt als Eigenschaft des individuellen Erlebens aufgefasst, nicht aber als Leistung der Konversation; beide Perspektiven müssen einander ergänzen. Die Zuwendung zu den Details der therapeutischen Konversation ist von der Erwartung getragen, dass manche Theorieprobleme sich lösen lassen, wenn man nur genauer sieht, was tatsächlich wie gesprochen wurde. Deshalb auch soll Takt vorab nicht definiert, sondern untersucht werden, was Teilnehmer darunter verstehen, wie sie Takt definieren und auf Taktlosigkeit reagieren. Die methodischen Mittel der Konversationsanalyse verfolgen, sieht man nur die von Freud vorgenommene Gleichsetzung des 251
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therapeutischen Gesprächs mit Konversation, hier die gleichen Ziele wie die Psychoanalyse. Analyse der Konversation ist Psychoanalyse. Ich beanspruche nicht, das Thema des Takts in allen Dimensionen behandelt zu haben. Aber es gibt m.W. keine eigene konversationsanalytische Arbeit zu diesem Thema, so dass ich einen Anfang zu machen versuche.
Zur Konversationsanalyse Zur KA gibt es hervorragende Einführungen (z.B. Jefferson 1992, Schegloff 2007, Silverman 1998), aber auch kurze prägnante Darstellungen (z.B. Heritage/Maynard 2007). Ich kann hier nur einige wenige Punkte herausstellen und trage dabei aus eigenem Material und aus mir bekannten konversationsanalytischen Veröffentlichungen Transkriptbeispiele zusammen, die illustrieren: 1. wie „Takt“ in der Konversation „gemacht“ wird, 2. wie Taktverletzung bemerkt und deren Reparatur eingefordert wird, 3. welche Produktionsformate von Äußerungen dabei eine Rolle spielen. Ein besonderes Interesse muss in therapeutischen Dialogen das Thema des Respekts (als Analogon des Takts) verdienen. Dass das nicht immer geht und dass therapeutische Kunst oft in taktvoller Verletzung des Takts bestehen muss, wird in solchen Programmatiken meist unterschlagen. In der Analyse von Konversationen aber zeigt sich das dann doch. Damit eine Konversation unter vollkommen Fremden beginnen könnte, müsste zunächst klargestellt werden, wie das geschehen soll, welche Bedeutung einzelne Worte haben, wer in welcher Reihenfolge spricht und wie das Gespräch beendet werden soll – aber um diese und ein paar weitere Fragen zu beantworten, müsste das Gespräch darüber ja schon stattfinden. Die Vorbereitungen zur Kommunikation müssten immer schon Kommunikation in Anspruch nehmen und so in einen infiniten Regress münden. So betrachtet, könnte Konversation unter Fremden – und jeder ist irgendwann in dieser Situation – nie beginnen. Die Konversation wäre in der Situation der verfeindeten Delegationen der kriegführenden Staaten am Ende des Dreißigjährigen Krieges, die zwei Jahre lang verhandelten, welcher Fürst nach welchem Fürsten in welcher Robenlänge und von wievielen seiner Würdenträger begleitet mit genau beschriebener Tiefe der Verbeugung den Saal für
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die Friedensverhandlungen betreten dürfe; „Protokollfragen“ erstickten die eigentliche Konversation. Ganz abwegig ist der Vergleich nicht; in jedem psychotherapeutischen Erstinterview weiß der Therapeut nur, dass der Patient und er das Wort „Mutter“ in völlig verschiedener Weise mit höchst unterschiedlichen Referenzen verwenden. Das gilt auch für alle anderen Worte. Und es passiert obendrein gelegentlich die (vermeintliche) „Taktlosigkeit“, dass in einem solchen Erstinterview zwei ganz Fremde nach 20 Minuten über die sexuellen Praktiken des einen sprechen. Das wäre konventionell: respektlos. Wie also soll man nicht nur Bedeutungen eruieren, sondern überhaupt anfangen? Und dann „zu sowas“ kommen? Mit diesen Dimensionen beschäftigt sich die KA auf eine für die Erörterung des Takts höchst interessante Weise. Unterschieden werden „category bound activities“ und „sequential order“.
Kategorisierungen Die Dimension der Bedeutung wird als „category bound activity“ beschrieben und erhellt am sinnfälligsten an dem von Harvey Sacks (Jefferson 1992) verwendeten Beispielsatz: „The baby cried. The mommy picked it up.” (Stellenbeleg) Jeder, der diese Minimalversion einer Geschichte hört, wird meinen, es handele sich um das Baby dieser Mutter – obwohl das nicht gesagt wird. Sacks nimmt nun nicht an, hier handele es sich um fehlerhaftes Verstehen, sondern weist darauf hin, dass hier eine Sparsamkeitsregel zum Zuge kommt, derzufolge man solche Kategorisierungen – Mutter und Baby gehören in die Kategorie der gleichen Familie – automatisch und unconsciously (!) vornimmt, jedenfalls bis zum Beweis des Gegenteils. Dadurch kann die Konversation gleichsam Fahrt aufnehmen, schneller werden – denn sie muss mit den sie begleitenden Gedanken Schritt halten können; Gedanken sind rasant viel schneller als das gesprochene Wort. Man nimmt also einfach an, dass die Kategorisierung gleiche Familie stimmt – und hat dadurch ein Prinzip entdeckt: Kategorisierung macht nicht nur Sparsamkeit in der Konversation möglich, sondern erlaubt auch Kommunikation durch Auslassung. „Wenn nichts anderes gesagt wird...“, dann ist diese Kategorisierung richtig. Dass nichts anderes gesagt wird, ist so gesehen ein wichtiger
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Bestandteil der Konversation; die KA hat Sinn für das NichtGesprochene. Kategorisierungen gibt es in Hülle und Fülle. Personen werden als Mitglieder bzw. Elemente einer Kategorie behandelt: Der Analytiker wird als Vater oder als Verführer oder als ... behandelt, also als Mitglied der entsprechenden Kategorie. Das Wörtchen als ist ein sehr häufiger Index für category bound activity. Doch gilt das keineswegs nur für Therapeuten, auch die Mitgliedschaft in einer Patientengruppe zu akzeptieren ist nicht einfach. Das lässt sich sehr schön am folgenden Beispiel sehen, als ein als Sexualstraftäter Verurteilter erstmalig in eine therapeutische Gruppe kommt, die auf der sozialtherapeutischen Abteilung eines Gefängnisses stattfindet 2 . Ihm wird mitgeteilt, dass u.a. von ihm die Darstellung seiner Lebensgeschichte erwartet wird. Dann entspinnt sich folgender Wortwechsel: Sepp P.: Na ja: (.) das Mä:dchen schon (.) nur deine Lebensgeschichte Peter P.: Die bleibt außen vo:r bis nach dem ( ). Da:zu bin ich im Moment noch nicht bereit (..) Denn wie gesagt ich will e:rst wissen, ob ich hier bleiben kann bevor ich in diesem Kreis über mein Leben spreche. ((lauter Straßenlärm)) (1) Therapeut K.: Eine Information dazu ( ) im Moment. Ja: (.) dass Sie (.) hier bleiben können wird sein dass Sie Ihre Eintrittskarte (0.2) und dazu gehört (..) dass Sie auch einmal ausführlich über sich selber was berichten. (0.8) Peter P.: Ist das jetzt eine Drohung (.) Erpressung oder= Therapeut K.: =Neinnein (.) wie gesagt e:siss extra die Situation dazu (0.4) Ja: Sie °(ham)° die Entscheidung wann Sie es tun. Ich wollte Sie nur darüber informieren (.) Sie ä:hh einfach die Dinge klar erkennen. Peter P.: Hat das (.) ähh: dann frag ich doch ma:: (0.5) hat das Jeder in den drei Probemonaten gemacht? sein Leben ausführlich erzählt? Frank B.: Ich hab’s so gut gemacht wie ich konnte= Frank B.: = Ich auch
Peter P. ringt mit den Schwierigkeiten der umwandelnden Kategorisierung. Denn erst durch das Erzählen der eigenen Lebensge2
Dieses Segment ist entnommen aus Buchholz, Lamott und Mörtl (2008). Diese Studie analysiert die Tatnarrative von Sexualstraftätern während einer Gruppentherapie
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schichte wird der Gefangene des Justizvollzugs zum Patienten der Sozialtherapie. Dieser Unterschied ist bedeutsam: ein Gefangener ist Subjekt seiner Taten, da er als schuldfähig gilt und Schuld hat. Die Schuld mag er bestreiten, aber die Fähigkeit dazu wird ihm nicht abgesprochen. Ein Patient hingegen muss akzeptieren, dass etwas geschehen ist, dessen er nicht vollständig Herr wurde, er ist insofern weniger Subjekt. Im Außenverhältnis innerhalb des Gefängnisses herrscht deshalb die Angst vor, als Patient für verrückt, also für nicht zurechnungsfähig angesehen zu werden. Welcher Kategorie sich einer zugehörig sieht, macht einen kognitiven und einen affektiven Unterschied. Es geht jedoch nicht nur darum, dass er vom Strafgefangenen zum Patienten mutiert, sondern er kategorisiert klar erkennbar auch konversationelle Objekte, z.B. verleiht er der Forderung zu erzählen eine bemerkenswerte Deutung: er kategorisiert sie als „Drohung, Erpressung“. Er kategorisiert die gesamte Situation als bedrohlich und gibt damit zugleich unvermeidlich einen indirekten Kommentar zu den anderen Personen ab. Aus dem Therapeuten wird jetzt der drohende Erpresser. Da es Element der Alltagspsychologie ist, zu denken, dass ein Tun auf die Person zurückverweist – wer nachdenkt, ist ein „Denker“; wer schreibt ein „Autor“; wer prügelt, ist eine aggressive Persönlichkeit; wer die Augen in einer bestimmten Weise aufschlägt, meint es „authentisch“ oder „ehrlich“ – ist auch hier der Rückschluss nahe, dass die Erzähl-Forderung, wird sie als „Drohung, Erpressung“ kategorisiert, nur von einem „Erpresser“ kommen kann – das ist der Therapeut. Indem sein Tun diffamiert wird, gerät auch der Therapeut in eine andere Kategorie. Dann vergewissert sich Peter P. bei den anderen Gruppenteilnehmern, ob auch sie dieser Aufforderung zum Erzählen schon gefolgt sind – und damit Mitglieder einer neuen Kategorie der Patienten, nicht mehr der Strafgefangenen wurden. Alles kann zum Objekt einer kategorisierenden Aktivität werden: Personen, konversationelle Objekte, Gedanken. Entscheidend am konversationsanalytischen Zugang ist, dass diese Kategorisierungen nicht etwa nur gedanklich vorgenommen, sondern in der Konversation selbst angezeigt werden. Weit mehr von dem, was in der Psychoanalyse mit großformatigen Begriffen wie „Übertragung“ bestimmt wird, lässt sich des Nimbus entkleiden. Mehr als deutlich kann man hier sehen, wie und auf welche Weise der The255
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rapeut zu einem Übertragungsobjekt (der drohende Erpresser) gemacht wird – durch kategorisierende Aktivität. Was in psychoanalytischen Texten als „Übertragung“ notiert würde, kann hier in Einzelheiten beobachtet werden. Übertragung wird gemacht, sie ist konversationelles Ereignis. Sie findet für Leser nachvollziehbar statt. Wie sie gemacht wird, ist deutlich: Peter schlägt den Sack (das Tun) und meint den Esel (den Therapeuten). Sein konversationelles Tun hat nun Folgen. Indem Peter eine Erzähl-Forderung als „Drohung, Erpressung“ darzustellen versucht, verändert sich das gesamte kommunikative Feld – das ist hier entscheidend. Die Veränderung der Kategorisierung nur eines Elements hat Folgen für alle anderen Elemente. Diese Beobachtung rechtfertigt den Begriff des Feldes, weil nur so die innere Verbundenheit der einzelnen Elemente – Personen, konversationelle Objekte, Gedanken, die gesamte Situation – formuliert werden kann. Das Feld, das sind diese Elemente und ihre Verbindung miteinander. Wer sich mit „Takt“ als einem solchen konversationellen Objekt beschäftigt, wird hier sehen, dass man Takt nicht nur „vorab“ beschreiben kann durch Zitierung philosophisch-moralischer Literatur. „Takt“ ist vielmehr immer auch variables Konversationsobjekt. Damit ist gemeint, dass das, was als Takt (bzw. Taktlosigkeit oder Taktverletzung) gilt, von den Beteiligten jeweils einander angezeigt werden muss und eine Möglichkeit ist, eine Bemerkung als taktlos (oder taktvoll) zu kategorisieren. In der KA-Perspektive ist Takt eine „lokale Produktion“. Auch dafür ein Beispiel aus dem Straftäterprojekt, in welchem nicht manifest von Takt die Rede ist, sondern von „Respekt“: (Ein auf dem Video nicht identifizierter Sprecher N): .in der Schule bist auch gehänselt worden?= Jörg S: =ja (0.2) da sind ja, da waren ja (0.2) alle Schulklassen drinnen. Da war u:nten Sondervolksschule (0.4) o::ben war Erste bis Neunte. N: hhhm (.) ja. Jörg S: wenn ich da jetzt umgewechselt hätte? Dann haben die °zu mir gesagt° ( ) (.) und ich hab mich selber zu verteidigen gewusst N: aber die (..) von da oben die (0.3) die von der anderen Schule ?= Jörg S:= na! Schon! Aber das (.) das (.) den Respekt hab ich mir dann schon verschafft dass dann nimmer der Fall war.
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Die von den Sprechern aufgebaute imaginäre Szenerie wird von einigen Verben bestimmt; Linguisten (Sucharowski 1996, Tomasello 2002) sprechen von „Verb-Insel-Konstruktionen“. Es sind einzelne Verben wie hänseln oder sich verteidigen, die dann die besondere Verwendung des „Respekts“ vorbereiten: man muss ihn sich verschaffen. Respekt wird in die Kategorie der verteidigenswerten Güter eingeordnet. Zum Feld gehören dann Angreifer, Verteidiger und eine implizite Rechtfertigung des Respekts, der ein metaphorischer persönlicher Besitz ist. Eben diese Elemente findet man in der direkt anschließenden Fortsetzung des Dialogs, nur sind sie anders verteilt: N: ( [ ) Jörg S: [genau .hmhhm (0.2) N: .bei unseren Gespräche? Dass du: ei:gentlich sehr positiv mit deinem Werdegang zurecht kommst? Äh (.) auch mit dei:ner Schwä[che (.) als Legastheniker?= Jörg S: [.hhhm N: =ähh (.) für dich! wenn ich das richtig rausgehört hab war’s eigentlich ne Erleichterung? Dass du: die S:onderschule besuchen durftest= Jörg S: =hmhhhm (.) weil ich da zurecht kommen bin= N: =weil du zurecht (.)[ komma bist= Jörg S: [hmhm N: =schon= Jörg S: =ja da (..) da haben andere (0.4) ich hab auch mit Behinderte in der Schule, ich hab in der Klasse Behinderte gehabt (.) die hab ich genau so respektiert! Muss ich sagen. Die eine hat das Zucken gehabt. Das andere de- die hat, der hat auch schon anfangen mit (.) das hast du in der Schule halt gehabt. Und die waren echt neben der Kappen. Aber mit denen umgehen is auch (0.3)is auch gegangen. Und das hab ich halt schon mitg’kriegt (0.5) N: du hast praktisch schon recht früh ein soziales Engagement= Jörg S: = ja:
In diesem Abschnitt sind es die Behinderten in der Schule, die „genau so“ Respekt verdienten wie Jörg S. im ersten Abschnitt. Jörg S. dementiert unaufgefordert, dass er sie hätte angreifen können. Respektieren ist gleichsam die Negation von jemanden angrei-
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fen. Obwohl es dafür Gründe gegeben hätte, wie etwa das Zucken oder dass jemand „neben der Kappen“ war. Man konnte mit ihnen „umgehen“. Indem Jörg S. in diesem erinnerten Narrativ von Respekt spricht, bestätigt er einerseits die aufgezählten Respektselemente (Angreifer, Verteidiger, Rechtfertigung), andererseits wechselt er die Positionen: er verschafft nicht mehr sich Respekt, sondern respektiert den Respekt der anderen. Dieser Positionswechsel wird von N. als frühes „soziales Engagement“ sogleich ratifiziert und übersteigert. Wir sehen hier sehr genau, wie die neue Kategorisierung mit sequentiellen Aktivitäten zu tun hat. Ich komme auf das Thema des Respekts erneut zu sprechen.
Sequentielle Aktivitäten In Konversationen geht es nicht nur um Bedeutungen, sondern auch um die Organisation des konversationellen Ablaufs selbst: Wer spricht zuerst? Wer spricht nach einer Pause? Wie wird überhaupt die Abfolge geregelt? An welcher Stelle kann ein bestimmter Diskurstyp (wie z.B. ein Witz, eine klatschhafte Bemerkung o.ä.) platziert werden? Wir alle befolgen diese Regeln wie eine Sprache, deren Grammatik wir kaum kennen und sie dennoch beständig sprechen. Eine der typischen sequentiellen Aktivitäten in Konversationen sind Anfangsäußerungen von der Art: A: Hallo B: Hallo
Das ist ein Eröffnungsformat (genannt „adjacency pairs“), das festen Strukturen folgt, die man sich gedankenexperimentell sehr rasch klar machen kann. Wenn der zweite Sprecher B sein Hallo über eine dreiviertel Sekunde hinaus verzögert, wird er Irritationen, zögert er länger, wird er Nachfragen, antwortet er gar nicht, wird er sehr heftige Grübeleien beim Sprecher A auslösen. Andere adjacency pairs sind Gruß und Gegengruß oder Frage und Antwort. Es ist „konditionell relevant“, dieses Format zu bedienen, weil eine Verletzung unangenehme Folgen nach sich ziehen könnte. Ein besonderer Aspekt wird erkennbar an der Verknüpfung einer Einladung zum Kinobesuch oder Abendessen und der Antwort:
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A: Hast Du heute abend Zeit zu uns zum Essen zu kommen? B: Ja
Die Antwort von B wird, wenn nicht mehr folgt wie z.B. „Ja gerne“ als unzureichend empfunden. Würde B’s Antwort einfach „Nein“ lauten, kann man sich den Effekt auf A rasch vorstellen. Die allgemeine Regel lautet, dass Ablehnungen begründungspflichtig sind. Ein einfaches „Nein“ wäre ein Beispiel für massive Taktverletzung und A würde dies auch mit seiner nächsten Äußerung deutlich machen. Die allermeisten Konversationen folgen einer Maxime der Konsensorientierung; Abweichungen oder Ablehnungen sind deshalb kompliziert. Fragen zu beantworten folgt innerhalb bestimmter Kontexte variablen Regeln. Eine Frage „Wieviel trinkst Du?“ (mit Bezug auf Alkoholkonsum) darf folgenlos nur in bestimmten Zusammenhängen, etwa in Freundschaften oder in medizinischen Untersuchungen, gestellt werden. Heritage und Maynard (2007) berichten, dass amerikanische General Practitioners ihren Patienten diese Fragen mit einer geschlechtsspezifischen Komponente stellen. Frauen werden gefragt: „Trinken Sie?“, bei Männern lautet die Frage hingegen „Wieviel trinken Sie?“ Der Unterschied ist deutlich; Männer werden als solche kategorisiert, die sowieso trinken; sie unterscheiden sich hinsichtlich der Menge oder der Art des Getrunkenen. Einer Frau eine solche Frage zu stellen, würde als taktlos empfunden, weil die „claims of normality“ verletzt werden, was sequentiell sofort indiziert wird und weitere Aktivitäten auslöst. Bei Sorjonen et al. (2007: 348) findet sich folgendes Beispiel: Dr: .mhh And what about the use of alcohol P: Quite nor:mal y’know so, Dr: Which means,
Der Patient deklariert sein Trinken als “normal”, was den Arzt zu einem „return to specification“ nötigt. Spezifizierung heißt, dass der Arzt nicht wissen kann, was die Kategorisierung „normal“ (siehe dazu Sacks 1971, aber auch Sacks in Jefferson 1992, S. 58) bedeutet. Seine Referenz dieses Wortes hat eine unklare Überschneidung mit der Extension des Patienten. Der Arzt wird so gezwungen, nach Spezifizierungen zu fragen – und riskiert dabei, taktlos zu werden, also Dinge zu erfragen, „die ihn nichts ange-
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hen“. Sein taktloses Verhalten würde ihm dann von den Interaktionsteilnehmern zwar zugerechnet, wäre aber erkennbar vom Patienten vorauslaufend mit produziert worden. Wie hochgradig riskant ein solcher „return to specification“ tatsächlich ist, erhellt aus dem folgenden Beispiel, (Sorjonen et al. S. 351), das beinah gleichlautend beginnt: Dr: .Yes yes, What about exercising P: Quite good (0.2) ((D gazes at P)) Dr: Which means, P: I (.) walk around with my dog quite a lot and then, Dr: Several kilometers a day?= P: =Well (.) I don’t walk quite every day (.) so awfully many, kilometers but nevertheless I do some (.) >get some< of it. .hhh [(exercise.)] Dr: [Three kilometers?] P: Well (.) I do even more than three °kilometers°, Dr: Dail[ly P: [Yeah Dr: .Yes
Die Frage nach körperlicher Ertüchtigung („exercise“) wird zunächst renormalisiert („quite good“) und der Arzt muss dann, will er einen Zusammenhang zu bestimmten Erkrankungen herstellen, Spezifizierungen erfragen. Das Ende dieser Sequenz besteht in einem wechselseitigen „JA“ / „JA“, womit sich die Sprecher versichern, dass keine Verletzungen stattgefunden haben. Die Maxime der Konsensorientierung setzt sich durch und wird auf diese Weise sequentiell wechselseitig ratifiziert. Sie hat eine rückwirkende Bedeutung, weil der Arzt mit seinen Spezifizierungen die Normalitätskategorisierung seines Patienten („quite good“) in Zweifel gezogen hatte und dadurch die Notwendigkeit erzeugt wurde, die Sequenz mit Zeichen des Einvernehmens zu schließen. Die Taktlosigkeit durch den „return to specifications“ wird gemeinsam „geheilt“. Solche Fragen nach „lifestyle“ (Diät, Zuckerverwendung, Fette, Alkohol und Rauchen) sind in der medizinischen Kommunikation nicht selten. Im Zusammenhang mit medizinischen Problemen akzeptieren Patienten, wenn der Arzt nach seinen diesbezüglichen Gewohnheiten fragt. Die Frage darf jedoch nicht in einem 260
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zu großen zeitlichen Abstand nach der Exploration des medizinischen Topos gestellt werden. Im Textkorpus von Sorjonen et al. (2007) aus insgesamt 90 Arzt-Patienten-Dialogen findet sich nur ein einziges Beispiel, dass lifestyle-Fragen nicht sofort renormalisiert werden, sondern vertieft exploriert werden können: P: -but usually I don’t (0.2) (like) (0.2) use sugar Dr: °Yeah:.° What about fats. P: Well there are (.) there are perhaps too °much°. But now I have tried for a week .hhh for two weeks I’ve been now < (.) without heh as I started to look at those .hh[hh ] symptoms and results there so, Dr: [Yes, ] (0.7) Dr: Yeah:. P: °(so)° (0.4) Dr: Yes. What kind of > in what ways < .hhh have you tried to decrease the fats.
Die Pausen indizieren die Schwierigkeit, die „explicit problem orientation“ (Sorjonen et al. 2007: 357), die erzeugt wird, weil die Patientin ihren Konsum von Fett als „too much“ ausweisen musste. Sie ist bei einer Peinlichkeit „erwischt“ worden, verhält sich jedenfalls so. Der Arzt muss sich die Einwilligung, Rat zu erteilen, mühsam erarbeiten, weil das Verhalten der Patientin als „in need of a change“ zu beurteilen, ein gemeinsames Problem des Takts aufwirft, das erst gelöst werden muss. Deshalb auch hier die wechselseitigen kleinen prosodischen Zustimmungslaute in leiser Tonlage. Sie sind notwendig, um die Taktverletzung zu balancieren. Einen medizinischen Rat zu erteilen ist also konversationsanalytisch betrachtet, keine ganz leichte Aufgabe, denn das Verhalten des Patienten muss dazu von unproblematisch in problematisch rekategorisiert werden. Dabei entsteht das Problem, auf welche Weise taktvoll der Takt verletzt werden kann. Ärzte buchstabieren dazu die Anweisungen eines medizinischen Rates, etwa das Salz zu reduzieren, nicht in Details aus noch wird der Patient über die speziellen Zusammenhänge zwischen dem medizinischen Problem und seiner Lebensführung unterrichtet. Man hält die Dinge eher 261
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allgemein. Das gewährt Anerkennung der autonomen Entscheidungsrechte des Patienten (wie er sein Leben im Einzelnen gestaltet, bleibt ihm überlassen) bei gleichzeitiger Aktualisierung des medizinischen Beratungsbedarfs. Entscheidend ist dabei die sequentielle Organisation: „For the patient’s part, one of the crucial considerations seems to be the location of the doctor’s question. A question that is asked subsequently to a formulation of a medical problem seems to be interpreted as a more ‘serious’ and ‘motivated’ one than a question that is asked as a part of a larger segment of history taking, away from any formulation of a medical problem“ (Sorjonen et al., 2007: 377).
Die Platzierung der taktverletzenden Frage ist somit von großer Bedeutung, aber es gibt auch noch andere konversationelle Möglichkeiten, wie in solchen Kontexten taktvoll Takt verletzt wird.
Einzelne konversationelle Figuren Eine weitere Möglichkeit, taktvoll Taktverletzungen zu platzieren, besteht in der Verwendung der Litotes, wie Bergmann (1992) an psychiatrischen Aufnahmegesprächen gezeigt hat. Die Litotes ist eine rhetorische Figur, mit der man kunstvoll das Gegenteil von etwas verneint. Jemand hat „Sorgen“, man fragt dann nicht etwa, „Geht es Dir schlecht?“, sondern „Geht es Dir nicht so gut?“ Die Litotes bezieht sich auf ihr Objekt nicht direkt, sondern durch Negation des Gegenteils. Damit erreicht man ein konversationelles Ergebnis, das Bergmann (1992: 149) so beschreibt: „with litotes one can go on talking without specifying what one is talking about.“ So sagt ein aufnehmender Psychiater etwa zu einer Patientin: „Dr. F: (Ich hab) g’rad Nachricht, (0.8) (dass es Ihnen) nich’ ganz gu:t geht.“ Oder ein anderes Beispiel (ebd.: 158f.): „Dr. F: ((wieder zu Frau B. gewandt)) ‘hh ja ä::h ich mein‘ ich seh Ihrm Gesicht aus dass die: - (1.0) Stimmung (.) anscheinend nicht schlecht is:::.“ Man kann hier sehen, wie die genaue Beobachtung anhand der Transkripte Themen entdeckt, die sich der philosophischen Erörterung ebenso bislang entzogen haben wie der psychotherapeutischen. Deshalb war die Entscheidung, nicht mit einer Definition von Takt zu beginnen, ratsam. In beiden Fällen nutzt hier der -
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Sprecher die Figur der Litotes, um seine Beobachtung abzumildern und so die Taktverletzung taktvoll zu begehen; in alltäglichen Konversationen wäre es in den allermeisten Fällen als taktlos aufgefasst, jemandem bei einer ersten Begegnung – und hier geht es um erste psychiatrische Aufnahmegespräche – ins Gesicht zu sagen, dass man seinem Gesicht ablese, wie es ihm gerade gehe. Diese Taktverletzung im impliziten Vergleich mit der Alltagssituation wird durch die Verwendung der Litotes taktvoll gemildert. Aber ob das vom Gegenüber auch so wahrgenommen und anerkannt wird, bleibt immer eine offene Frage. Das zeigt das nächste Beispiel. Indem der Sprecher auf eine Spezifizierung verzichtet, entsteht die Möglichkeit für den anderen Sprecher (eine Patientin oder rein Patient), eine solche Spezifikation einzuführen und auf diese Weise Offenheit und Aufrichtigkeit sowohl zu dokumentieren als auch dann einfordern zu können: Frau B: ’hhh [ ä:hm Dr. F: [der Doktor Hollmann sagte mir was Sie seien da über die Stra:ße gelaufen nich so ganz angezogen oder so, Frau B: (j)ja: das:- ich bin ein Kind Gottes = ich bin sein Kind; (.) Frau B: Läuft e- läuft-= =Haben Sie Kinder Herr Doktor Fisch [ er? Dr. F: [Ja: Frau B: Ja wie alt, Dr. F: ah so: s-sieben acht [ und elf Frau B: [ja und wo sie klein waren diese Kinder, Dr. F: Ja [ :, Frau B: [sind die nicht auch mal nackt irgendwoher gelaufen [ weil se ja noch- weil se ja nicht Dr. F: [ t(hh)a(h) Frau B: (.) wissen daß sie das nicht dürfen Ja und genauso: muß man das sehen in meinem Verhältnis zu Gott
An diesem Beispiel zeigt Bergmann, dass die indirekte Referenzierung durch die Litotes (“nicht so ganz angezogen”) nun der Pati-
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entin die Möglichkeit zur Spezifizierung in die Hand spielt, sie kann jetzt aus dem „nicht so ganz angezogen“ ein „nackt“ machen, die Frage-Initiative übernehmen und eine Selbstrechtfertigung anbringen: Kinder dürfen nackt herum laufen, wie der Doktor von seinen eigenen Kindern wissen müsste – und sie ist eben ein Gotteskind. Die freundliche Figur der indirekten Fragetechnik, die taktvoll die Taktverletzung einhüllen wollte, erhält hier eine ganz andere Wendung. Man sieht sehr deutlich: Takt ist nicht Eigenschaft einer einzelnen Person, sondern muss in der lokalen Konversation gemeinsam hervorgebracht und aufrechterhalten werden. Sogar die Person, der er zugedacht war, kann ihn desavouieren.
Takt als Rhythmus Die gezeigten Beispiele haben schon erkennen lassen, dass Gespräche durch einen Rhythmus strukturiert sind, der selbst bedeutungshaltig ist. Die Pausen der Rücksichtnahme etwa waren erkennbar, wenn ein Arzt eine Spezifizierung für ein als „normal“ dargestelltes Verhalten sucht. Verzögerungen oder beschleunigtes Sprechen deuten Vorsicht bzw. Erregung an. Kunstvoll kann die Rhythmisierung des Sprechens aber auch verwendet werden, um jemanden taktlos zu verspotten. Goffman (1977; vgl. Hettlage 1991) hatte in seiner „RahmenAnalyse“ in rollentheoretischen Begriffen das Phänomen des „footing“ beschrieben; gemeint ist damit die Art und Weise, wie jemand anzeigt, dass er einen anderen nur wiedergibt. Dabei muss ein und derselbe Sprecher in verschiedenen Rollen auftreten und zugleich die Differenzierung dieser Rollen deutlich machen, damit ihm nicht etwas zugeschrieben wird, was er nur wiedergibt. Zugleich kann er in der Art des „Zitierens“ auf vielfältige Weise seine Stellungnahme einbauen. Als „animator“ hatte Goffman die Rolle des gegenwärtigen Sprecher bezeichnet, als „author“ den, dessen Worte wieder gegeben werden und als „principal“ die Person, deren Standpunkt durch die Äußerung wieder gegeben wird. Das in den Medien üblich gewordene vorgeschaltete „Ich denke, dass...“ oder „Ich gehe davon aus, dass...“ ist ein gutes Beispiel. Der, der diese Worte wählt, gibt seiner Äußerung durch solche Rahmung ein bestimmtes Produktionsformat: er spricht in der Rolle des „animator“, er
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zitiert eigne Äußerungen als wären sie die mutmaßlichen Äußerungen anderer und nimmt zugleich indirekt Stellung dazu. Clayman (1992) hat beschrieben, wie diese Verschachtelung von Rahmungen genutzt werden können, um Neutralität zu fingieren. Man kann etwa einen Aphorismus oder ein Sprichwort zitieren oder auch eine andere Stimme imitieren und so eine abgelehnte Meinung oder ein tabuisiertes Wort äußern. Davon machen Interviewer, die Politiker life im Fernsehen befragen, häufig Gebrauch, etwa indem sie sagen, dass „in der Öffentlichkeit“ diese oder jene Meinung aufgekommen sei und wie der Befragte nun dazu Stellung nehme? Wer so fragt, spricht selbst (als animator), zitiert zugleich „die Öffentlichkeit“ (die dann als „author“ spricht) und versteckt seine Rolle des „principal“ hinter der des „author“. Das macht Rückfragen oder Gegenangriffe des Befragten erstaunlich schwierig (Clayman 2007). Jemand kann in feiner Gesellschaft das Zitatformat nutzen und berichten, auf dem Parkplatz habe er eine Auseinandersetzung mit einem Betrunkenen gehabt und dieser habe gegrölt: „Sprecher: Da sagt der doch glatt: so eine Scheißgesellschaft ist das hier.“ Der Sprecher selbst hat das S-Wort gesagt und es zugleich nicht gesagt, denn er zitiert es ja nur. Dies ist ein typisches Produktionsformat für Äußerungen in der KlatschKommunikation (Bergmann 1987). Clayman (1992, S. 166) berichtet ein besonders interessantes Beispiel, wobei die Rhythmisierung des Sprechens hier die Rolle des „principal“ übernimmt. Indem ein bestimmter Sachverhalt rhythmisiert wird, wird die Absicht der Satire vorgeführt. Es ist ein in der Literatur sehr seltenes, im praktischen Leben häufiges Beispiel, in welchem der Rhythmus selbst die Rolle des „principal“ übernimmt: N: ...I still think he might write you (0.3) N: It just takes ‘m awhi:le (.) H: .h-hh-hhe writes one word a day, hhih [ hn N: [yeahhh (.) N: Dear? hh nex’ day. Hanna,= H: =h h ‘hhh (.) N: Ho:w?
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(.) H: .hhhi: [ nh ] heh-heh, N: [A: ]re? (.) N: You
Der Sprecher N verspottet als „animator“ einen hypothetischen Brief („author“), den Hanna von ihrem Freund erhalten haben könnte; ein echtes Zitat kann es ausdrücklich nicht sein. Die interaktive Produktion des Spotts entsteht, indem beide Sprecher den Rhythmus ihres Sprechens dem Schreibrhythmus beim Tippen auf einer Schreibmaschine angleichen; die Rhythmisierung übernimmt hier die Rolle des „principal“, der indirekten Stellungnahme zu der hypothetisch zitierten Äußerung eines Anderen (die dieser gar nicht gemacht hat). „Speaker N mocks the opening of a hypothetical letter from Hanna’s friend [...], and she does so in part by using stereotypical letter-writing words. She also alters the rhythm of her talk to satirize the idea of a letter being written at the rate of ,one word a day‘” (Clayman 1992, S. 167).
Das Beispiel ist theoretisch besonders interessant, weil Rhythmus Element des Sprechens ist, das traditionell außerhalb der Semantik angesiedelt wird, es gehört zu den prosodischen Elementen des Sprechens. Aber hier lässt sich sehen, wie Sprecher auch ein solches Element umstandslos und gekonnt in der Koproduktion in die Konversation einholen und Rhythmus als semantisches Element behandeln. Wenn man nun die Frage entscheiden wollte, ob hier taktvoll oder taktlos gehandelt wurde, dann ließe sich sagen, es wurde ein Rhythmus imitiert – der eines verzögerten, langsamen Tag-fürTag-nur-ein-Wort-Schreibens und zugleich die moralische Regel, andere Menschen nicht zu verspotten, dadurch bestätigt, dass das hier stattfindende „mocking“ gleichsam nur als Ausnahme, „des Spaßes wegen“ stattfinde – Regelverstoß also als Regelbestätigung, kunstvoll gemeinsam produziert. So jedenfalls kann man auch Goodwin (2007, S. 32) verstehen, der sich auf die Goffman’schen Unterscheidungen zwischen animator/author/principal bezieht und analysiert, wie diese interaktiv vollzogen werden; Goodwin spricht von „paradoxical conclusions“.
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Goodwin analysiert ein extremes Beispiel, nämlich die Interaktion mit einem Aphasiker, dessen sprachliche Kompetenzen extrem reduziert (auf ja, nein und und) sind, der aber dennoch diese Unterscheidungen aktualisieren kann, wenn er nur einen Zuhörer hat, der in dieser Hinsicht mit ihm kooperiert. Kooperation heißt beispielsweise, dass ein so reduzierter Sprecher immer noch „zweite Züge“ zustande bringt, also auf Fragen antworten kann (Goodwin 2000). Goodwins Analyse (2007) ist ein besonderer Fall, weil er zeigt, dass auch Rollen wie die von „animator“, „author“, „principal“ nicht individuelle Eigenschaften sind, sondern in der Konversation hergestellt werden derart, dass ein Sprecher zu verstehen gibt, dass nicht er selbst spricht, sondern er nur etwas wiedergibt und zugleich eine Stellungnahme (direkt oder indirekt) dazu abgibt. Aber ob diese Operation gelingt oder nicht, bedarf der KoOperation des anderen Sprechers, der diese Absicht, zwischen verschiedenen Sprecherwechselperspektiven in der Rede des ersten Sprechers zu unterscheiden, verstehen muss und dieses Verstehen dann wiederum indizieren muss, damit der erste Sprecher weiß, dass seine Worte „richtig“ verstanden werden. Wir haben es gewissermaßen mit einem recht komplizierten Fall von „intentionreading“ zu tun. Aber es können solche Absichten sogar bei sprachlich extrem reduzierten Menschen, die an Aphasie erkrankt sind, erkannt werden. Die dazu notwendigen Kooperativen Fähigkeiten sind offenbar selbst bei schwerem Sprachverlust noch erhalten.
Verschachtelungen von Respekt Es muss interessieren, wenn im folgenden Beispiel aus dem Straftäterprojekt ebenfalls solche internen Sprecherwechsel im Zusammenhang mit der Forderung nach Respekt vollzogen werden und eine Art Kampf um den Vollzug dieses Rollenwechsels bei einem Sprecher stattfindet. Im zuletzt genannten Beispiel gab es den Fall, dass die beiden Sprecher sich über das langsame Briefeschreiben von Hannas Freund lustig machten, indem sie ihn in einer Weise kopierten, die keine echte Kopie sein konnte, weil sie ihn ja nie hatten so schreiben oder sprechen hören; in der Rolle des „authors“ zitieren sie den Freund fiktiv und in der Rolle des „principals“ lassen sie ihre satirische Stellungnahme erkennen.
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Etwas Ähnliches begegnet in dem folgenden Beispiel, wenn der Sprecher A (in der Rolle als „author“) vermutet, wie sich die Ehefrau von Karl geäußert haben könnte und dabei zugleich als „principal“ erkennen lässt, dass eine solche (fiktive) Äußerung dem Karl die Schuld an mangelndem Respekt vor seiner Ehefrau und am Scheitern von dessen Ehe zuweist. A.: ja::: aber ich geh allerdings davon aus, dass der Karl (0.4) ich weiß nicht (0.2) Ka::rl (.) hast du die Frau noch geliebt eigentlich dann? Also:: wie sie schwanger wurde und Du: musstest sie sozusagen heiraten. (.) hast du sie da:: noch geliebt? (0.4) Karl Z.: t::ja:, wir ham uns ja erst neun Monate gekannt! und im September ham wir dann geheiratet. (1) A.: wie war das so bei ihr dann, ich (mein?) mit dem Verhältnis zum Beispiel (.) jetzt mit (.) im Bett oder so. hat das alles geklappt? habt ihr euch auch gut verstanden? Karl Z.: t::ja: .hh also: wie gesagt, es hat gut geklappt, dann wurd sie schwanger. bis dahin, bis sie halt angefangen hat äh zu arbeiten. (0.5) A.: wa::r da so n Bruch da für dich wie so' n Vertrauensbruch [auch Karl Z.: [also meine Frau is: auf die Arbeit und mit der Zeit ist sie dann (.) halt immer später heim kommen. (0.5) A.: wei::l, es (.) wundert mich deswegen Karl, weil ich (.) was heißt wundern (.) ich muss feststellen, ähh dass so ist, dass du mit ihr zu wenig gered hast oder sie mit dir (0.2)Ich weiß nicht von wem das au:sging (.) Wollte sie eigentlich immer ma mit dir reden o:der (.) hast du ihr mal zugehört, wenn sie ma Probleme hatte? Irgendwie so (..) Karl, äh mit uns mit uns ist irgendwas nicht in Ordnung oder ich bin unzufrieden mit dir (..) oder
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(0.5) Ther. E: es war allgemeine Sprachlosigkeit A.: ja: irgendwie muss doch Ther. E: also haben sie beide nicht reden können über das Thema? A.: ja: es muss ja [ irgendwie Karl Z.: [wir haben kaum drüber geredt! Uns nur gestritten. (0.5) Martin K.: Ka:rl was [mich interessieren würde= A.: [etwas mehr Respekt Martin K.: =du hast gesagt, du hast dei::ne Frau mal geschlagen, ein Mal. War (0.1) das (.) im Zusammhang mit dem Hintergehen, mit dem anderen Mann, oder zum anderen?= Karl Z.:= neinnein. Das war vorher schon.
Der Sprecher A exploriert im Anschluss an eine Erzählung Karl Z. mit einer Reihe von Fragen. Die doppelte Reformulierung der Frage, ob Karl seine Frau „noch“ geliebt habe, als sie schwanger war (Zeile 2-3) lässt Sinn für das Heikle dieser Frage erkennen. Neben der Platzierung wie bei den ärztlichen Lifestyle-Fragen oder der Litotes ist die Reformulierung ein Versuch, taktvoll Taktverletzungen zu vollziehen. Man deutet gleichsam das Behutsame, das Vorsichtige, das Erkundende an und verletzt dennoch allgemeine Regeln, wonach Fragen nach dem „Bett“ in der Regel vor Zuhörern (in der Gruppensitzung) nicht gestellt werden. A tut dies hier und die Reformulierung deutet an, dass er weiß, dass er diese allgemeine Regel verletzt. Karl beantwortet die Frage nicht direkt, sondern indirekt: beide haben sich erst 9 Monate gekannt. Das wird von A offenbar als Antwort gewürdigt. Karl sagt es nicht, sondern er impliziert, dass er mit seiner Frau zusammenblieb, weil er sie geschwängert hatte. Er lässt seinerseits mit dieser Antwort erkennen, dass er die Regelverletzung bemerkt hat und aber nicht weiß, wie er ihr ausweichen könnte. Ob Liebe oder nicht im Spiel war, wird in dieser Antwort umgangen und zugleich implizit beantwortet. Der sexuelle Vollzug wird als gelungen („es hat gut geklappt“) berichtet, der andere Fragenteil nach dem „gutverstandenhaben“ erneut gemeinsam übergangen. A jedoch nimmt das Nicht-Mitgeteilte durchaus als Antwort und spricht in einer Metapher vom „Vertrauensbruch“ und „muss feststellen“, dass beide zu wenig geredet haben. A dringt weit in 269
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die Intimsphäre von Karl ein und tut dies in einer Absicht der Schuldfeststellung: ob Karl mit seiner Frau zu wenig oder sie zu wenig mit ihm geredet habe. Der Rechtfertigungskontext wird etabliert und A ist in der Rolle des „animator“ der, der den Angriff vollzieht. In Zeile 22 fingiert er nun eine mögliche Rede – charakteristischerweise von kleinen Pausen umgeben, die wie Anführungszeichen im schriftlichen Format wirken -, wie die Frau doch Karl hätte ansprechen können, dass „irgendwas nicht in Ordnung“ sei. Er verwendet (wie im Beispiel von Clayman) ein fiktives Zitat dessen, was die Frau möglicherweise gesagt haben könnte und lässt die Frau als „author“ auftreten, zugleich verbirgt er darin seine eigene Stellungnahme; er spricht als „principal“. Alle diese Vorgänge werden von den übrigen Gruppenmitgliedern beobachtet. Sie nehmen als potenzielle Teilnehmer eine wichtige Aufgabe war, sie bilden die Öffentlichkeit, vor der die Taktverletzung begangen wird. Sie haben die Taktverletzung und deren Vermeidung durch Reformulierung beobachtet und auch die Steigerung des Angriffs auf Karl, dem nun mit dem fiktiven Zitat direkt Schuld zugewiesen wird. An dieser Stelle schreitet der Therapeut mit der Feststellung ein, dass „allgemeine Sprachlosigkeit“ war, was man auf dem Hintergrund dieser Analyse als „Verteidigung“ von Karl lesen muss. Wenn die Sprachlosigkeit „allgemein“ war, dann war es jedenfalls nicht Karl, der nicht gesprochen hatte; ihn müsste ein entsprechender Vorwurf nicht besonders treffen. Nun entsteht ein kleines Intermezzo zwischen dem Therapeuten und A um die Deutungshoheit dieses Geschehens: A lässt sich in Zeile 26 nicht zurückweisen, der Therapeut reformuliert seine Verteidigung mit der „allgemeinen Sprachlosigkeit“ in leicht abgewandelter Form, dass „beide haben nicht reden“ können und Karl stellt bestätigend fest, dass beide nicht haben „reden“ können, sondern „nur gestritten“ haben. An dieser Stelle entsteht eine sehr wichtige Pause. Die Deutungshoheit konnte nicht entschieden werden. Die Frage danach, wer den nächsten turn übernimmt, ist somit im Raum. Zwischen Therapeut und A ist eine Art konversationelles Patt entstanden und deshalb kann ein weiterer Gruppenteilnehmer die Gelegenheit an dieser Stelle nutzen, eine weitere Frage an Karl richten zu wollen. Aber er wird mit der Forderung nach „mehr Respekt“ von A unterbrochen. Martin setzt sich in dem kleinen Kampf ums Rederecht durch und formuliert eine Frage, 270
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die nun einen Schuldzusammenhang von Karl im Verhältnis zu seiner Frau offenbart: Karl hat seine Frau schon geschlagen, bevor sie ihn „mit dem anderen Mann“ hinterging. Die zeitliche Ordnung innerhalb der Geschichte antwortet somit zugleich auf die Frage nach der Schuld. Zugleich wird impliziert, dass ein Schlagen der Frau nach dem Hintergehen möglicherweise anders gewürdigt würde. Wir haben es also mit mehreren ineinander verschachtelten Dimensionen von Takt und Respekt zu tun. Die eine Dimension ist die Respektforderung innerhalb der erzählten Geschichte, hier verbindet sich Respekt mit Wertungen und Fragen nach der Schuld am Scheitern der Ehe von Karl. Eine weitere Dimension ist die innerhalb der aktuellen Konversation; hier kann die Forderung nach Respekt selbst als Mittel im Durchsetzungskampf ums Rederecht eingesetzt werden.
Schlussfolgerungen Grundlage der Psychoanalyse ist die analytische Situation, sie ist in zentralen Elementen mit Freuds Ausdruck „Konversation“, wenn auch eine besondere Variante von Konversationen. Die Konversationsanalyse ist eine Analysetechnik auch für therapeutische Gespräche, die sich auf die Feinheiten von Kategorisierungen und sequentiellen Ordnungen bezieht. Diese erweisen sich bedeutungshaltig. Das Bemerkenswerte ist, dass Veränderungen von einzelnen Kategorisierungen sich auf Verschiebungen des gesamten Feldes auswirken, was bei der Würdigung von Takt eine große Rolle spielt. Hinsichtlich der sequentiellen Ordnung lässt sich sehen, dass Fragen der Platzierung (wann kann nach Lifestyle gefragt werden?), der rhetorischen Figuren (wie der Litotes), der Rhythmisierung und der formalen Reformulierung ihrerseits bedeutungshaltig werden. Sie werden genutzt, um taktvoll Taktverletzungen begehen zu können und sie zeigen Stellungnahmen von Sprechern an, die direkt und manifest nicht ausgesprochen sind, dennoch aber von den Beteiligten „mitgelesen“ werden. Zugleich sind solche konversationellen Elemente riskante Unternehmungen, denn sie bieten zugleich Einstiegsmöglichkeiten („slots“) für andere Gesprächsteilnehmer, die die Versuche taktvoller Taktverletzungen mit wenigen Gegenzügen zum Entgleisen zu bringen vermögen.
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Die Beispiele der Litotes oder der zweifachen Reformulierung wären dann auch einer psychoanalytischen Betrachtung fähig, denn es liegt ja nahe, in der „vorsichtigen“ Redeweise des aufnehmenden Psychiaters oder in der „vorsichtigen“ Nachfrage von A bei Karl Z. ein getarntes Abwehrmanöver der eigenen geheimen Absichten zu erkennen, das von der psychiatrisch aufgenommenen Patientin sehr geschickt, von Karl Z. weniger geschickt konterkariert wird. Aber in jedem Fall würde eine solche Abwehr in der Konversation von anderen „mitgelesen“ und das könnte die Freud’sche Beobachtung (aus der „Psychopathologie des Alltagslebens“) bestätigen, dass wir uns beständig als Psychoanalytiker betätigen. Die Analyse solcher Abwehr wäre dann eine in der Konversation vollzogene, in der Analyse der Konversation aber nachdrücklich zu beachtende Dimension, die hier an Beispielen von „taktvoller Kommunikation“ analysiert wurde.
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Gabriele Dorrer-Karliova
Der musikalische Takt Eine implizite Struktur im Beziehungsgefüge der Musik. Wirkung und Anwendung in der Musiktherapie
Vorbemerkung Menschen, die „intakt“ sind, sind „in der Ordnung“ bzw. gesund. Sie lassen sich „nicht aus dem Takt bringen“, bewahren Ruhe und Sicherheit und haben die Fähigkeit, soziale Situationen taktvoll zu meistern. Diese Redewendungen haben sowohl musikalische als auch eine maßgeblich soziale Bedeutung. In der musiktherapeutischen Arbeit kommen nun beide Aspekte des Begriffes Takt zum Tragen. Taktvolles Verhalten verstanden als Maß des Menschlichen, für das es eben keine intersubjektive Verlässlichkeit gibt, und musikalischer Takt verstanden als Maß und Bezugssystem innerhalb der Musik. In diesem Artikel wird es vor allem um die Bedeutung des musikalischen Taktes in der Musiktherapie gehen, die sich einen anderen Musikbegriff erarbeitet hat als beispielsweise die Musikwissenschaft oder Musikpädagogik. Außerdem soll über eine allgemeine musiktherapeutische Haltung wie: „ein Kind kann gegen den Takt spielen oder die Gitarre falsch herum halten – es darf sein, wie es ist, wie es sein will, wie es schon lange nicht mehr war – alles ist möglich“ hinausgegangen und schulenübergreifend der Takt als musikalischer Fachbegriff im musiktherapeutischen Praxisbezug beleuchtet werden. Dies ist jedoch nicht im Sinne einer „Musikapotheke“ (Tüpker 2001: 55), also im Sinne einer medizinähnlichen Verordnung bestimmter, z.B. besonders taktbezogener Musik gegen bestimmte Störungen oder Leiden gemeint, sondern versucht eher den Blick auf Besonderheiten und Wirkungsmöglichkeiten des Taktes zu legen, um ihn dann wieder neu im Kontext des Gesamtgeschehens zu würdigen. Hervorzuheben ist weiterhin der Unterschied zwischen schon komponierter und in einem bestimmten Taktschema notierter Musik im Vergleich zu einer aus dem Augenblick heraus entstehenden, gemeinsam gestal-
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teten musikalischen Improvisation, wie sie in der aktiven Musiktherapie häufig Verwendung findet. Hier geht es nachträglich auf Therapeutenseite darum zu reflektieren, wie und in welcher Form das musikalische Geschehen mit Hilfe von graphisch-visueller oder herkömmlicher Notation am besten zu fassen und zu fokussieren ist. Die Notation des Taktes wird somit eingebunden in einen aussagekräftigen diagnostisch-therapeutischen Reflektionsprozess. Zunächst werde ich den Taktbegriff der Musik musikwissenschaftlich definieren, wahrnehmungspsychologisch erläutern und dann den impliziten Musikbegriff bzw. das Musikkonzept der Musiktherapie darstellen. Dass dies natürlich nicht einfach ist, liegt an der vielfältigen Ausgestaltung unterschiedlicher Herangehensweisen und Einbettungen der Musiktherapieschulen in verschiedene gedankliche Verstehensmodelle von Gesundheit/ Krankheit und deren Heilung, Veränderung, Förderung oder Nachreifung. Die Musik, oder einfacher ausgedrückt das musikalische Material, wird sowohl als diagnostisches Hilfsmittel als auch als therapeutisch wirksames Medium eingesetzt. Zuletzt werden exemplarisch und schulenübergreifend Fallvignetten aus der musiktherapeutischen Literatur aufgegriffen, um die Anwendung des Taktes als diagnostisches Hilfsmittel, als Wegbereiter der zeitlichen Orientierung, als Pulsation oder als Suche nach dem ‚Gleichtakt’ zu verdeutlichen. Dies ist nicht im Sinne einer vollständigen Analyse der Fachliteratur gedacht, sondern als erster Einblick in die musiktherapeutische Wirkungs- und Arbeitsweise.
Der Takt in der Musik Der Takt ist seit dem 17. Jahrhundert die Bezeichnung für die Schlag- und Maßeinheit musikalischer Ereignisse. Der Begriff bezeichnet das Ordnungssystem, auf das die vielen verschiedenen Notengattungen und -werte, über die die europäische Musik seit dem Mittelalter verfügt, bezogen werden. Der Taktbegriff umfasst also zwei Bestimmungsmerkmale, die Schlagart und die Gruppierung von Notenwerten zu einer Einheit, die als gleichmäßig wiederkehrendes Bezugsschema wechselnden rhythmischen Gestalten zugrunde liegt. Eine Besonderheit ist, dass die Teile eines Taktes nach ihrem Gewicht unterschieden werden. Dieser ‚Akzentstufentakt’ begann sich in der Kunstmusik um 1600 durchzusetzen,
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ein ganzes System der Taktarten bildet sich nun in der Folge heraus. Der Prototyp ist der 4/4 Takt, alle übrigen Taktarten werden im Verhältnis zu ihm definiert. Die Takttheorie des 17. und 18. Jahrhunderts spricht jeder Taktart einen bestimmten Charakter zu. Sie unterscheidet nach Größe, Gewicht und Bewegung der Taktarten. „Der 3/8 Takt ist demnach ‚von Natur’ aus sehr leicht, geschwind und fröhlich, der größere 3/4 Takt deutlicher, gemessener, aber gleichwohl heiter, der 3/2 Takt schwer, gravitätisch und lamentabel“ (Metzler 2005, Bd.4: 469). Den reinsten Ausdruck findet der klassische Akzentstufentakt in einfachen Lied- und Tanzsätzen. In höher organisierten Formen wird die Taktbewegung oft nur durch die metrischen Figuren der Begleitung unterhalten. Die Melodie setzt sich scheinbar frei davon ab, ist aber spannungsvoll darauf bezogen (Abb.1).
Abb. 1: Mozarts Klaviersonate KV 545 Streng genommen ist der Takt nur für die klassische und romantische Musik maßgeblich. Denn im 19. Jahrhundert, schon im Werk Beethovens, wird das schrittartige Gefälle des Akzentstufentaktes dynamisiert. Der musikalische Prozess geht vom Schritt in ein dynamisches Fließen über. Die metrische Struktur wird nebensächlich, die Emanzipation der Neuen Musik vom inneren und äußeren Taktmetrum lässt den Takt weithin bedeutungslos werden (vgl. Metzler 2005, Bd.4: 469f.; Riemann 1967: 933). Wahrnehmungspsychologisch ist der Takt jedoch nicht einfach nur „ein leerer Rahmen, den erst die vielfältigen Möglichkeiten der rhythmischen Gestaltung mit konkretem musikalischem Inhalt erfüllen“ (Brockhaus 1973, S.438). Denn nach Helga de la Motte (1996: 112ff.) baut die Wahrnehmung nicht auf einzelnen Eindrücken auf, sondern beruht auf einer globalen Auffassung. Für die Bildung von Einheiten, die als sinnvoll erlebt werden, spielt vor allem die rhythmische Segmentierung eine große Rolle. Offensichtlich ist es schwer, etwas unstrukturiert Gleichförmiges anzu279
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nehmen. Eine monotone Folge von Klopfgeräuschen wird beispielsweise so kodiert, dass sie als Wechsel einer schweren und leichten Zeit erscheint. Dieses subjektive Rhythmisieren zeigt die gestaltbildenden Aktivitäten des Gedächtnisses an, die der Überschaubarkeit und dem Behalten dienen. Der Takt ist somit eine fundamentale Verarbeitungseinheit. Ist er nämlich nicht vorhanden, schaffen wir ihn in der Phantasie. Fällt ein Akzent auf den ersten Ton einer Gruppe, erleichtert dies die Wahrnehmung. Denn zu den fundamentalen strukturierenden Prinzipien der menschlichen Wahrnehmung gehört nicht nur die Zusammenfassung gemäß der Nähe und damit auch der Geschlossenheit und der Einfachheit, ebenso bedeutsam ist der Gliederungseffekt, durch den Figuren vom Grund abgehoben werden, wie am Verhältnis von Melodie und Begleitung sichtbar wird. Den Takt aufzufassen, sofern er nicht einfach durch zeitliche Nähe der Elemente nahe gelegt wird, setzt eine gewisse Verarbeitungstiefe voraus. Auch geübte Musiker haben Schwierigkeiten, drei isoliert gebotene Zeitdauern voneinander zu unterscheiden. Die Einbindung in ein Bezugssystem jedoch gewährt durch die Möglichkeit einer proportionalen Beziehung eine Vielfalt von rhythmischen Werten zu differenzieren. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass beispielsweise ein Akzent auch dann ‚gehört’ wird, wenn er auf eine Pause fällt. Die Wahrnehmung zielt somit auf die Konstruktion von Sinnbildern, ein bloßes Abbild, das nicht zum Sinnbild wird, gibt es nicht. Gerade die zeitgliedernde innere Strukturierung der Musik bewirkt das Erlebnis von Veränderung und Bewegung, das die wesentliche Voraussetzung für die Zeiterfahrung ist. Durch die Dauer der Takte wird auch der Tempoeindruck bestimmt. Er erlaubt den ständigen Vergleich einer fortschreitenden, aber gleichbleibenden Einheit, in die die melodische oder klangliche Kontur gegliedert wird. Der Tempoeindruck ist wiederum elementar beim Verstehen des Ausdrucks, der in der vielfach dokumentierten Nähe von Musik und Emotionen eine wesentliche Rolle spielt. Je weniger straff nun die Ordnung der Schwerpunktfolge ist, wie beispielsweise noch in der Palestrina-Polyphonie, erhält die Musik einen schwebenden Charakter. Ist jedoch gar keine Verknüpfung mehr zwischen den Klängen intendiert, wie zuweilen in der Neuen Musik, oder treten anstelle eines Taktgefüges gleichzeitig nicht mehr zu vereinheitlichende Zeitschichten auf, wird die Erfahrung, 280
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der Zeit enthoben zu sein, deutlicher ausgeprägt. Die aktivsynthetischen Leistungen des Bewusstseins werden zugunsten der Erweiterung der Imagination preisgegeben. Um nun die Wirkung und Auswirkung des ‚Taktes’ nicht nur in seiner musikgeschichtlichen Dimension, sondern auch in seiner eigenen Verflechtung mit anderen musikalischen Form- und Gestaltungsbegriffen zu verstehen, ist es vonnöten, den Blick noch ein wenig tiefer, quasi in die Anatomie der Musik hinein zu werfen. Dies hat aber nicht den Sinn, nur die Musik zu sezieren, sondern umgekehrt, den ‚Takt’ in seiner eigenen, inneren Zusammengehörigkeit mit Rhythmik, Harmonik und Melodik zu würdigen, Teilgebieten der Musiktheorie, die oftmals getrennt nebeneinander gestellt werden.
Das Beziehungsgefüge der Musik – Oberfläche und Hintergrundstruktur Der Musik als Kunstform liegt die besondere Erscheinung zugrunde, dass die Töne zueinander in einem bestimmten Verhältnis stehen, das Phänomen der Tonrelation. Erst die gegenseitige Beziehung zweier Töne, das Intervall, bildet einen musikalisch wichtigen Grundbestandteil. Der Tonrelation entsprechen Zahlenverhältnisse der Schwingungen der Einzeltöne, die selber einer inneren Strukturierung in Obertonreihen unterliegen. Auf der Tonrelation beruhen demnach das Aufeinanderfolgen der Töne, der Tonfolgen, die Gestaltung von Melodien bis hin zur mehrstimmigen Schichtung verschiedener Klanglinien, wie sie beispielsweise in der polyphonen Musik zu einer Hochform entwickelt wurden. Auch die zeitliche Gliederung durch den Rhythmus beruht auf Zahlenrelationen. Der Takt steht nun in vielfältiger Hinsicht in Zusammenhang mit anderen zeitgliedernden Begriffen wie Rhythmus, Metrum und Pulsation/Grundschlag, die hier schwerpunktmäßig behandelt werden, aber ebenso mit Harmonie und Melodie, die auch formbildende Gestaltungskraft besitzen (siehe Abb. 2, Wikipedia, Takt).
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Abb. 2: Zusammenhang von Grundschlag, Takt, Metrum und Rhythmus Der Begriff Metrum bezeichnet in der Musik die Maßeinheit mehrerer, zu einer Einheit zusammengeschlossener Zählzeiten und ihre Ordnung nach wiederkehrenden Abfolgen von betonten und unbetonten Schlägen. Grundlage einer solchen Ordnung ist der Takt. Der Takt gleicht also die Werte und die elementaren Einheiten, die daraus gebildet worden sind, dadurch einander an und setzt sie zueinander ins Verhältnis, dass er sie einem konstanten metrischen Gesetz und einem gleichbleibenden Taktschlag unterordnet (Meyers 1984, Bd.2: 271, Metzler 2005, Bd. 4: 469). Die metrische Struktur ist nicht direkt in der musikalischen Oberfläche enthalten, sondern wird aus den Akzenten dieser Oberfläche abgeleitet. Ein Akzent, also eine Hervorhebung eines Tones aus einer Tonfolge, kann dynamisch (durch einen besonderen Stärkegrad), rhythmisch (durch einen besonderen Zeitwert), melodisch (durch exponierte Lage oder Verzierungen) oder harmonisch (durch besondere Wahl der mitklingenden Töne) gestaltet sein. Die verschiedenen Akzente können auch zusammenfallen (Musik-Brockhaus 1982: 13). Dieses abgeleitete metrische Betonungsmuster bildet nun die Hintergrundstruktur, ist hierarchisch gegliedert und besteht aus mehreren Ebenen (3-6) von regelmäßigen Impulsen oder Schlägen. Da alle Impulse einer Ebene gleich stark betont werden, ergibt erst die hierarchische Schichtung, also
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die Addition sämtlicher übereinander liegender Schläge die Betonungsstärke bzw. das Gewicht. Eine Ebene wird als Zählzeit festgelegt und einem bestimmten Notenwert zugeordnet (Siehe Abb. 3). Normalerweise verbinden wir heute mit einer bestimmten Taktart auch ein bestimmtes Betonungsmuster. Somit bilden Taktarten quasi Prototypen metrischer Muster aus, nach denen sich die (west-)europäische Kunstmusik orientiert. Aus diesem Grund werden Metrum und Takt oft synonym verwendet (Wikipedia, Metrum).
Abb. 3: Metrische Struktur der Takte 1 und 2 der Gavotte aus J.S. Bach, Franz. Suite Nr. 5 (BWV 816) Der Begriff Rhythmus hingegen bezeichnet in der Musik zumeist die tatsächlich erklingende zeitliche Organisation eines Stückes, speziell eine Folge von Dauern und Pausen. Wie Melodie oder Harmonie ist er ein grundlegendes musikalisches Strukturelement und eng mit beiden verflochten. Die Grundbedeutung des Wortes ist ein „Fließen im Duktus der Regelmäßigkeit“, seine Urbedeutung ist vermutlich der „Wellengang der Flüsse“. Seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. wird die Vokabel mit dem Bereich des Musischen in Zusammenhang gebracht und bezeichnet die regelmäßigen Bewegungen des menschlichen Körpers, des Tanzes und der Instrumentalmusik. Die Merkmale des musikalischen Rhythmus sind jedoch nicht nur Dauer, Einsatzabstände der Töne, Zählzeit, Akzentuierung und Gewichtsverteilung, denn auch Tonhöhe und
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Klangfarbe wirken als Momente des musikalischen Rhythmus (Metzler 2005, Bd.4: 23f.; Brockhaus 1972, Bd.15: 774f.). Nach Hegi (2002) gibt es vier verschiedene Rhythmus-Energien, die therapeutisch verschieden eingesetzt werden können. Die erste, mit einem Pendel symbolisiert, zeigt die Polarität an, die Kraft und Gegenkraft eines rhythmischen Schlages, den beat und offbeat. In der Schaukelbewegung wird deutlich, dass die rhythmische Energie zwischen den Polen, also im Zwischenraum der beiden (End-)Punkte zu finden ist. Die zweite Energie ist in den beiden Rhythmusgeschlechtern, der binären zweier oder vierer Rhythmik und der ternären dreier Rhythmik enthalten. Drittens wird die gebräuchlichste rhythmische Energieauffassung genannt, die lineare Aufteilung eines Zeitablaufs, die beispielsweise unter anderem auch in den Begriffen Metrum, Takt oder Pulsation gefasst ist. Die vierte Rhythmusgestalt zeigt die Kreisauffassung, die Wiederholung von Abläufen, die Kreisläufe des Lebens, die Zyklen, Perioden und Rituale. Aus dieser Energie wird auch so etwas wie meditative ‚Zeitlosigkeit’ oder Tranceinduktion gewonnen. Wiederholung wird dabei als die dauernde Vertiefung im Jetzt erfahren. Rhythmus ist nicht nur innerhalb der Musik ein wichtiges Gestaltungselement. In der Biologie und Medizin wird die Wissenschaft des Rhythmus als Biorhythmik bezeichnet. Zu unterscheiden ist zwischen exogenen Rhythmen, die durch Zeitgeber (Synchronisatoren) der Umgebung oder Umwelt (Sonne, Mond u.a.) bestimmt werden, und endogenen Rhythmen, der inneren Uhr. „In unserer westlichen Welt wird der Rhythmus als Logik des Lebendigen aufgrund der Vorherrschaft von Technik und Ökonomie zunehmend abgelöst durch den Takt als Zeitmuster des Mechanischen. Der sogenannte Fortschritt wird zunehmend mit einer Entrhythmisierung erkauft, welche die natürlichen Rhythmen und die allem Lebendigen eigene Zyklizität durch äußere Taktgeber ersetzt“ (Gindl 2002: 34).
Rhythmen sind also die mehrmalige stetige Wiederkehr von Ähnlichem in ähnlichen Zeitabständen. Dem Rhythmus als der „Erneuerung des Ähnlichen“ steht der Takt als die „Wiederholung des Gleichen“ gegenüber. In der Ausdruckspsychologie wird der Gegensatz zwischen fließendem Rhythmus und einschneidendem Takt – dieser als mechanistische Gleichheit und erstarrte Formali-
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sierung wie beim Metronom verstanden – herausgearbeitet (Brockhaus 1972, Bd.15: 775). Nach Kopiez (2005) hält sich in der Literatur hartnäckig, dass das Metrum (eher der Aspekt der Ordnung) als Gegenbegriff zum Begriff des Rhythmus (der zeitlichdynamischen Veränderung bzw. Bewegung) konzipiert wird. Doch „es ist sogar fragwürdig, den Ordnungsaspekt vom Veränderungsaspekt zu sondern, denn sie bilden eine untrennbare Einheit“ (ebd.: 130). Auch neurowissenschaftlich konnte die Annahme einer hemisphärischen Dichotomie in Bezug auf die Wahrnehmung von Metrum und Rhythmus in getrennten Netzwerken des Gehirns nicht bestätigt werden. In einer neuen Theorie der Rhythmuswahrnehmung wird nun versucht, die Aspekte von Ordnung und Bewegung in einem einheitlichen Wahrnehmungsmodell zu integrieren. Das hier kurz skizzierte vielseitige Beziehungsgefüge der Musik ï der Aufbau von Tonrelationen zu Melodien, die Schichtungen zu Harmonien und Klängen, sowie die Auffächerung der zeitgliedernden Ebenen von Puls, Takt, Metrum zu Rhythmus ï bietet mannigfaltige Möglichkeiten durch Kombination, Variation, Wechsel und spezifische Wiederholungen verschiedenartige Wirkungen und Charaktere zu erzeugen. Allein an dem Beispiel einer kleinen Veränderung des metrischen Betonungsmusters lassen sich musikalische Stilrichtungen benennen. Wird im 4/4 Takt auf der 1 und 3 betont, hören wir eher Marsch oder Rockmusik, wird auf der 2 und 4 betont, also im Gegenschlag, dem off-beat, hören wir eher Polka oder Jazz. Dieser Puls des Jazz, der „swing“ oder auch des Sambas ist treibend und trotzdem leicht und vermittelt ein Gefühl von Vitalität. Beim ¾ Takt mit der Betonung auf der 1 hören wir Walzer oder Mazurka. In der Popmusik wird der erste Schlag im Takt betont, oft sogar alle Schläge, was dem Rhythmus eben den Beat, den „schlagenden“ Charakter verleiht. Je nach Ausbildung und musikalischer Kompetenz des Musiktherapeuten ist die Musik in ihren vielfältigen Möglichkeiten der Reduktion z.B. bis hin zur Ebene des einzelnen Tons oder der Pulsation oder umgekehrt bis hin zur klanglich-harmonischen und/oder rhythmischen Komplexität einsetzbar. Gerade die zwei Aspekte von Ordnung und Bewegung sind fundamental für die Wirkung von Musik und deren musiktherapeutische Anwendung.
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Die Rolle und Funktion der Musik in der Musiktherapie Um die Rolle der Musik innerhalb der Musiktherapie zu benennen, ist es erst einmal vonnöten, zu definieren, was Musiktherapie ist. Hierbei stößt man auf zahlreiche Definitionen. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts hat sich Musiktherapie auf der ganzen Welt als zunehmend wissenschaftlich begründete Methode der Heilkunde entwickelt und sich an den jeweiligen unterschiedlichen, kulturellen, theoretischen und gesellschaftlichen Auffassungen vom Menschen orientiert. Weiterhin wird die Entwicklung von zahlreichen angrenzenden Disziplinen wie z.B. von Psychologie, Psychotherapie, Sonderpädagogik oder traditionellen Heilmethoden beeinflusst. Bei jeder Definition wird von drei Schwerpunkten ausgegangen: dem theoretischen Hintergrund des Musiktherapeuten, den Bedürfnissen der Klienten bzw. dem Behandlungsauftrag sowie der Annäherung an das Behandlungsziel (Nöcker-Ribaupierre 2009: 326f.). Die Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft definiert Musiktherapie als „gezielten Einsatz von Musik im Rahmen der therapeutischen Beziehung zur Wiederherstellung, Erhaltung und Förderung seelischer, körperlicher und geistiger Gesundheit“. Diese Denkgebäude und Wertvorstellungen, die sich im Menschenbild, wissenschaftstheoretischem Verständnis oder beispielsweise im Konzept von Krankheit/Gesundheit und der therapeutischen Zielsetzung unterscheiden, haben einen großen Einfluss auf die Interpretation des musikalischen Materials und der Einschätzung von Rolle und Funktion der Musik. In den Kasseler Thesen (1998) haben VertreterInnen von mehreren musiktherapeutischen Vereinigungen in Deutschland den Versuch unternommen, einen schulenübergreifenden Konsens zur Musiktherapie herbeizuführen. Die Rolle der Musik wird folgendermaßen dargestellt: „Musik ist vom Menschen gestalteter Schall. Als akustisches, zeitstrukturierendes Geschehen ist sie Artikulation menschlichen Erlebens mit Ausdrucks- und Kommunikationsfunktion. [...] Musik ist Gegenstand und damit Bezugspunkt für Patient und Therapeut in der materialen Welt. An ihm können sich Wahrnehmungs-, Erlebnis-, Symbolisierungsund Beziehungsfähigkeit des Individuums entwickeln. Rezeption, Produktion und Reproduktion von Musik setzen intrapsychische und interpersonelle Prozesse in Gang und haben dabei sowohl diagnostische
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als auch therapeutische Funktion. Das musikalische Material eignet sich, Ressourcen zu aktivieren und individuell bedeutsame Erlebniszusammenhänge zu konkretisieren, was zum Ausgangspunkt für weitere Bearbeitung genommen wird.“
Diese diagnostische und therapeutische Funktion der Musik ist wesentlich, um das Spezifische der Musiktherapie zu erfassen sowie Fragen der Indikation zu klären. Nach Frohne-Hagemann (2005) kann die Musik in der Therapie mehrere therapeutische Funktionen gleichzeitig haben. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, wird die Struktur- und Haltefunktion der Musik als Grundlage für alle weiteren therapeutischen Funktionen der Musik genannt. Die Musik stellt: „einen Rahmen oder einen Container (ein Gefäß) bereit, der Sicherheit und Stütze >...@ bietet. >...@ In dieser Funktion kann Musik durch gleich bleibendes Tempo, verlässlichen Rhythmus, klare Struktur und Form, durch Wiederholungen und Ostinati Zeitabläufe und Zeitverhältnisse übersichtlich gestalten“ (ebd.).
Hieraus kann die Vehikelfunktion entstehen, also ein musikalisches ‚Mitgenommenwerden’, spielerisch ins Erleben und in Fluss zu kommen, wobei es zum Teilen von Vitalitätsaffekten kommen kann. Eine andere therapeutische Funktion der Musik ist die des basalen Sinnesstimulus zur sensorischen (intermodalen) Integration und Verbesserung von Wahrnehmungs-, Verarbeitungs- und Handlungszyklen. „Musik hat die Eigenschaft, Zeit durch die musikalische Bewegung zu strukturieren. Als ein in der Zeit erklingender sensorischer Stimulus koordiniert Musik sensorische und motorische Impulse und bahnt damit neue neurobiologische Verknüpfungen“ (ebd.). Als Katalysator ermöglicht Musik das Ausdrücken und Durchleben von Affekten und Gefühlen bis hin zur Katharsis. Weiterhin kann sie emotional Resonanz geben, Ressourcen aktivieren, als Übergangsobjekt, Intermediärobjekt oder Projektionsfläche fungieren, unzusammenhängende Gefühlsfragmente und Szenen musikalisch als zusammengehörig erfahrbar werden lassen, also integrativ wirken sowie insgesamt die psychosoziale Identitätsentwicklung fördern (soziokulturelle Funktion). Nach Seidel (2009) ist diese musikalische Fachlichkeit des Musiktherapeuten das „Herzstück ihrer Wirkmächtigkeit“ von gro287
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ßem Interesse, doch es fällt aktuell auf, dass „Hinweise zur gemeinsamen Musik von Patient und Therapeut in der Regel nur in vergleichsweise geringem Umfang“ vorkommen, das aktuelle Bild des Verfahrens Musiktherapie, mit seinen zwei WortBestandteilen Musik und Therapie, sich jedoch „einseitig zugunsten des Psychotherapeuten im Musiktherapeuten verlagert“ (ebd.). Kritisch wird weiter zur Diskussion gestellt, dass „es offensichtlich auch kein einheitliches Verständnis darüber gibt, worin die letztlich erkenntnisleitenden und entwicklungsfördernden Potentiale liegen: in der Musik selbst, in den ‚kunstanalogen Mitteln‘ oder im anschließenden Gespräch, im Anknüpfen an biographisch-anamnestische Daten, im Wahrnehmen der Gegenübertragungen, dem Reflektieren des Therapieverlaufs oder wo auch immer“ (ebd.).
So ist es eben auch hier nicht möglich, einem bestimmten Fachbegriff, eben dem Takt eine spezifische und eindeutige Wirkung und Funktion in der Musiktherapie zuzusprechen. Es können jedoch unterschiedliche Beispiele aus unterschiedlichen Schulen der Musiktherapie angeführt werden, um einen Einblick in die Anwendungsweise des Taktes zu gestatten. Doch zunächst erst einmal zum „Standardsetting“ in der aktiven Musiktherapie, der Improvisation mit der Stimme und/oder verschiedenen, auch außereuropäischen Instrumenten.
Die musikalische Improvisation Die Improvisation als grundlegendes Arbeitsprinzip der modernen Musiktherapie seit den 70er Jahren entwickelte sich in Fortsetzung der avantgardistischen Veränderungen auf dem Gebiet der Neuen Musik während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Kapteina 2009: 195). Mittlerweile ist das Improvisieren im Bereich der westlichen Musiktherapie eine der zentralen Behandlungstechniken. Patienten und Therapeuten begeben sich aktiv in ein improvisiertes, d.h. nicht vorhersehbares, unbewusst determiniertes musikalisches Zusammenspiel. Daraus gewinnen sie neue Orientierungen für die Fortführung des Therapieprozesses (Weymann 2004: 12). „Wer improvisiert, verlässt vorgezeichnete Wege, ohne schon genau zu wissen, wohin es geht. Diese Ergebnisoffenheit bietet neben dem Risiko
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des Scheiterns eine Faszination des Zufallenden. Sie eröffnet Spielräume, in denen sich Unvorhergesehenes ereignen kann. Daher kommt es beim Improvisieren nicht allein auf eine Haltung des Machens an, sondern auch auf die Bereitschaft zum Geschehen-Lassen“ (ebd.: 15).
In der Entwicklungsgeschichte der Improvisation gibt es in der abendländischen Musik bereits des ersten Jahrtausends n. Chr. zwei Strömungen, die sich durchkreuzen, fördern oder hemmen. „Es ist ein Gegeneinander von fließenden, strömenden Bewegungen einerseits und den klaren und geordneten Formen einer sich entwickelnden Tradition von musikalischen Regeln und Ordnungen“ (ebd.: 26). Sowohl beim Komponieren als auch beim Improvisieren muss von einem „Gegeneinander von triebhaftströmenden und formend-reflektierenden Aktivitäten, von Struktur und Fließen ausgegangen werden, wenn auch in je unterschiedlicher Ausprägung und Gewichtung“ (ebd.: 27). Eine Improvisation ist also ein vielschichtiger, spontaner und impulsiver Prozess der Erfindung und gleichzeitigen formenden Realisierung von Musik. Das Improvisieren ist eine Handlung, die im Moment ihres Vollzugs teilweise unvorhersehbar bzw. unerwartet ist. Sie entwickelt sich im Spannungsfeld von subjektiven Ausdruckswünschen und gegebenem idiomatischem Hintergrund, von musikalischem Material und gegenwärtiger (Beziehungs-) Situation (ebd.: 38). Das Improvisieren mit Musikinstrumenten und mit der Stimme stellen zentrale Momente, Dreh- und Angelpunkte musiktherapeutischer Arbeit dar. Nach Deuter (2009: 371f.) lassen sich die musikalischen Verläufe, die Beziehung der Spieler untereinander und das Erleben all dieser Eindrücke als Polaritätsverhältnisse beschreiben. Das musikalische Material wird aus drei verschiedenen Perspektiven betrachtet: Die klangliche Dimension bezeichnet die Polarität von Klang und Stille, erfahrbar in den Bewegungen von erscheinen und vergehen, die rhythmische Dimension zeigt sich als Polarität von Struktur und Impuls, erfahrbar in den Bewegungen verbinden und lösen, und die melodische Dimension als Polarität von Motiv und Kontinuum, erfahrbar in den Bewegungen von verdeutlichen und vereinheitlichen. Form und Dynamik ergeben sich aus der Spannung der jeweiligen Polarität. Künstlerische Gestaltungen sowie auch pathologische Ausdrucksformen gehen oft mit Extremisierungen einher, im therapeutischen Zusammenhang kann somit nach Erweiterungsmöglichkei-
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ten der eingeschränkten Bewegung gesucht werden. Die Musik jedoch ist „nicht Ziel der Behandlung, sondern Musik und Musikproduktion sind Zwischenschritt, Mittel-Ding, Medium auf dem Weg zum Verstehen und zur Weiterentwicklung eines therapeutischen Behandlungswerks“ (ebd.: 39). Die musiktherapeutische Diagnostik, besonders in der morphologisch orientierten Musiktherapie, bezieht sich auf die spezifische Qualität der sich im Spiel mit dem Therapeuten/der Gruppe widerspiegelnden Kontaktmuster und Beziehungsverhältnisse (z.B. kontrastierend, verschwimmend, ergänzend, ausweichend), auf die Eigenart der Prozessdynamik (z.B. Trägheit, Überbeweglichkeit, Brüche, Stockungen etc.) sowie auf situative Stimmungen und Atmosphären. Die so erschlossenen Strukturen müssen dann mit dem übrigen „Material“, das der Fall bereitstellt, in Beziehung gesetzt werden (z.B. Symptome, Lebensgeschichte, Formen der Alltagsbewältigung usw.). Die musikalischen Interventionen des Therapeuten greifen diese Strukturen mit kunstanalogen Mitteln wie Wiederholung, Variation, Zuspitzung, Kontrastierung etc. auf. Ziel ist es, im Sinne des individuellen Behandlungsauftrags die Therapie als einen Prozess in Gang zu setzen und zu halten, der zu einem Anders-Werden und zu neuen Möglichkeiten des Erlebens und Handelns führt (ebd.: 45). In der Musiktherapie wird nach Tüpker (2001) im Unterschied zur gängigen Musikwissenschaft und Musikpädagogik ein eigener Musikbegriff ausgeprägt, der Musik als direkte Kommunikation zwischen Menschen in den Mittelpunkt rückt. Musik wird als Beziehungsgestaltung zwischen (zeitlich und räumlich anwesenden) Menschen, als (oft unbewusst bleibende) Mit-Teilung von Empfindung, Selbst- und Welterleben und vor allem als Prozess kennen gelernt, obwohl der Produktcharakter in der nachträglichen Analyse den Studierenden auch vermittelt wird. Musik wird als seelischer Ausdruck, als Reflexion seelischer Verhältnisse und zugleich als Mit- und Neugestalterin dieser Verhältnisse erfahren. Eine Vorstellung innerhalb der Musiktherapie ist beispielsweise, „dass Musik, da sie geordnet ist, ordnend auf Seelenverhältnisse wirkt, die als ungeordnet, chaotisch oder verwirrt angesehen werden“ (ebd.: 56). Musik wird als externalisiertes Selbst-Ideal, als ein Mittel zur Selbstkultivierung und zur Kultivierung unserer Beziehungen verstanden. Weiterhin wird Musik als ein Erkenntnismittel eingesetzt, indem psychologische Verhältnisse und Fra290
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gestellungen musikalisch mit Hilfe des Improvisierens ausgelotet werden. Der Musikbegriff der Musiktherapie ist nach Becker (2009: 288) somit ein sehr weit gefasster, der alle absichtsvoll hergestellten Klangabläufe einschließlich Geräusche mit einbezieht. Explizit wird ein Zusammenhang zwischen musikalischen und seelischen Gesetzmäßigkeiten zum Ausgangspunkt genommen. Mit diesem Musikbegriff wird die Nahtstelle benannt, „mit der Musik in der Lage ist, die Subjekt und Objekt umfassende szenische Struktur aufzunehmen und ihr Ausdruck zu verleihen, in die der Mensch mit seinem Selbst und seinen inneren wie äußeren Objekten von Beginn seines Lebens an eingebunden ist“ (ebd.: 289). In den folgenden Fallvignetten aus musiktherapeutischen Behandlungen werden nun unterschiedliche Ebenen betont, die in Abbildung 2 übersichtlich dargestellt sind. Im ersten Beispiel von Ansgar Herkenrath (2006) spielt die Ebene des Metrums, also die Betonungsordnung eine zentrale Rolle, obwohl natürlich basale Rhythmen des Patienten wie Atemrhythmus oder Bewegungen Eingang finden. Im darauf folgenden Beispiel, berichtet von Johannes Oehlmann (2007), ist die Ebene des Grundschlages maßgeblich. Im dritten Beispiel von Susanne Metzner (2001) wird der Takt als ein weiterer diagnostischer Hinweis verstanden, an dem auch Veränderungen durch den therapeutischen Prozess ablesbar und interpretierbar werden. Im letzten Beispiel von Karin Schumacher und Claudine Calvet (2007) geht es eher um das Teilen von Rhythmen, das allerdings ohne das Mitschwingen auf der metrischen Ebene nicht denkbar wäre.
Die Akzentordnung im Takt, eine Hinführung zur zeitlichen Orientierung Ansgar Herkenrath (2006) berichtet über eine musiktherapeutische Studie mit Menschen in der Langzeitphase des Wachkomas. Zum Einsatz kam ein musiktherapeutischer Ansatz auf der Basis der Nordoff/Robbins-Musiktherapie. Hier nimmt der Patient im Rahmen seiner Möglichkeiten aktiv an einer gemeinsamen Improvisation mit dem Therapeuten teil. Dazu können vom Therapeuten verschiedene Körperbewegungen des Patienten wie Atmung oder Lidschlag in die Improvisation mit einbezogen und widerge-
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spiegelt werden. Prämisse ist ein Menschenbild, dass der Mensch im Wachkoma ein „lebender Mensch ist, der über sein wichtigstes Wesensmerkmal, das Bewusstsein verfügt >...@. Er hat die grundlegende Möglichkeit einer Entwicklung nicht verloren und ist in der Lage zu wählen und zu entscheiden, Angebote der Begegnung und einer Begleitung auf seinem Lebensweg anzunehmen oder abzulehnen.“ (ebd.: 26).
Ob eine physiologische Bewegung als Reaktion oder Reflex, also als eine Aktivität, die als intendierte Antwort auf eine andere Aktion zu verstehen ist, oder nicht, benötigt eine genaue Beobachtung von Veränderungen im situativen und zeitlichen Zusammenhang. Die Existenz von Wahrnehmung und ihre Einordnung im Rahmen von Orientierung sind sowohl essentielle Bestandteile des Bewusstseins als auch Grundlage für eine Re-Aktion. Neben situativer, räumlicher oder körperlicher Orientierung wird der Zusammenhang von zeitlicher Orientierung und Musik hervorgehoben. „Musik beinhaltet nicht nur den Grundschlag als gleichbleibende zeitliche Struktur, sondern ebenso einen zeitlichen Rahmen mit Anfang und Ende. Darüber hinaus besitzt Musik einen inneren logischen Aufbau, der den Faktor Zeit mitbestimmt, eine Struktur, die vom Logos der Musik bestimmt wird. Dazu gehören periodische Melodiebildung und spezifische Betonungsverhältnisse“ (ebd.: 27).
Der Musiktherapeut versucht nun Atmung oder Bewegung des Patienten in seine musikalische Improvisation aufzunehmen und dadurch die Aufmerksamkeit des Menschen im Wachkoma auf diese Elemente und darüber hinaus auf ihre zeitliche Struktur zu lenken. Gelingt es dem Patienten, eine Bewegung, die zu einer bestimmten Betonung wie z. B. der Endbetonung einer Melodie in der Schlusskadenz oder einer Hauptbetonung innerhalb einer Melodiephrase zu initiieren, gibt dies, besonders wenn sie nur an dieser Stelle auftritt, „einen Hinweis auf eine Erwartungshaltung, eine zeitliche Orientierung in einer Ausrichtung auf die Zukunft, ein Wissen über etwas, was gleich kommen wird“ (ebd.: 28). Zudem spiegelt sich in ihr eine Fähigkeit zur Erinnerung wider, eine Reaktion im Sinne einer Zeit des richtigen Augenblicks einer angemessenen und intentionalen Aktion. Re-Aktion wird zu einer 292
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Antwort auf das Gegenüber, eines wichtigen Bestandteils von Begegnung. Nonverbale Kommunikation und Dialog entstehen aus einer Folge von Reaktionen und Gegenreaktionen. Ein In-KontaktTreten mit der Außenwelt, eine Kommunikationsanbahnung und ein Dialogaufbau werden möglich und helfen, den Verlust von Orientierung auf Umwelt, Körper und auf sich selbst mit einhergehender Isolation und Abgrenzung des Betroffenen zu vermindern.
Die Ebene des Grundschlages, eine Zeitgliederung noch ohne den Takt Anhand eines Praxisberichtes beschreibt Johannes Oehlmann (2007) die Arbeit mit pulsativem Trommeln als Form musiktherapeutischer Gruppenarbeit mit psychosomatischen Patienten im stationären Setting. Die einfache, immer wiederkehrende Folge von gleichmäßigen Impulsen bzw. Impuls und Zwischenraum, wie das im Herzrhythmus der Fall ist, bildet den Grund, aus dem sämtliche rhythmische, komplexe oder definierte Figuren entstehen können. „Pulsation, angeboten zusammen mit der Hinlenkung der Aufmerksamkeit auf die Körperwahrnehmung, unterstützt Tiefenentspannung, Innenbilder, generell die psychophysiologischen Prozesse organismischer Selbstregulation.“ Der gleichmäßige Fluss, die „schwebende Kontinuität“ der Pulsation, gibt Sicherheit; eine direkte physiologische Verarbeitung und Integration besonders von Angst wird befördert. Die Haltung „schwebender Aufmerksamkeit“ lässt auch Tranceprozesse spontan zu, was die Nähe zum schamanischen Trommeln anzeigt. Hier wird es jedoch therapeutisch im Sinne von „Einfachheit und Selbstgewahrsein“ eingesetzt. Pulsation schafft eine „transverbale tragfähige Verbindung – eine Gruppe.“ Das soziale Zusammensein ohne Sprechen, die Atmosphäre einer Verbundenheit im Rhythmus kann fühlbare, sehr frühe Bindungserfahrungen zur Verfügung stellen. Durch den Verzicht auf komplexe Rhythmusfiguren werden Leistungsaspekte, z.B. das Besser-Sein-Wollen, vermieden, können sich aber genau dadurch in Szene setzen. Am Beispiel einer Patientin, die die Gruppe in ihrem unüberhörbaren, deutlichen Beat vor sich hertreibt, schneller wird und die Gruppe hinter sich herzieht, wird eine dominant-leistungsbezogene, getriebene Haltung der Patientin deutlich. Weder Versuche des Therapeuten
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bzw. „Time-Keeper“ die Beschleunigung aufzuhalten, noch mitzugehen, gelingen. Die Pulsation zerfällt. In einer folgenden Sitzung gelingt es der Patientin, an diesem Muster etwas zu verändern und eine neue Erfahrung zuzulassen.
Die Suche nach einer Fundierung im Takt Der folgende kurze Ausschnitt einer Kasuistik belegt eindrücklich, wie die Therapeutin Susanne Metzner (2001: 37ff.) das Augenmerk auch auf die Taktgebung legt und sich Gedanken um eine angemessene Notation der vom Patienten improvisierten Tonfolge macht. Diagnostisch dient die Taktgebung sowohl der Nachvollziehbarkeit der Gegenübertragungsreaktionen der Therapeutin als auch dem Sichtbarwerden einer Entwicklung im Therapieprozess. Die Behandlung fand im Rahmen einer psychoanalytischen Musiktherapie in der Psychiatrie statt. Charakteristisch ist der psychoanalytische Umgang mit dem musikalischen Material und mit den interpersonellen und intrapsychischen Prozessen sowohl innerhalb als auch außerhalb der Musik. Es geht um einen 26jährigen Mann, erkrankt an einer chronifizierten paranoidhalluzinatorischen Psychose mit sekundärer Suchtentwicklung, dessen Beziehungsstörung sich mit der Verhinderung, sich gemeint zu fühlen, umschrieben wird. An Stelle wechselseitiger Bezogenheit treten Anonymität und Konformität. Die Fähigkeit, Erlebnisse in Sprache zu fassen, war eingeschränkt. Eine frei improvisierte Tonfolge, vom Patienten auf der Gitarre gespielt, wurde zum Dreh- und Angelpunkt der Musiktherapie (siehe Abb. 4). Der verwendete Tonumfang ist groß und umfasst etwas mehr als zwei Oktaven. Weiterhin ist die Tonfolge durch eine einseitige Richtung von hohen zu tiefen Tönen geprägt, die verschiedene Harmonisierungen zulassen. Die zuhörende Therapeutin hat jedoch trotz der Übersichtlichkeit der Tonfolge keine harmonische Orientierung. „Ohne es richtig zu bemerken, befindet sie sich, harmonisch gesehen, in einem Niemandsland. Nicht einmal am Ende steht eine Tonika, die Akkordfolge bleibt in der Luft hängen.“ Dieser Effekt wird durch die Wirkung der auftaktigen Halbtonschritte verstärkt. Das Streben von Spannung zu Entspannung gibt der Tonfolge eine Ausrichtung auf ein Ziel hin, das weder harmonisch noch periodisch erreicht wird. Wird nämlich ein Viervierteltakt zugrunde gelegt, bleibt der letzte Akkord auf einer
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relativ unbetonten Taktzeit hängen. Begänne der Spieler von vorne, würde ein Perpetuum Mobile entstehen. Laut Therapeutin enthält der kohärente Spannungsbogen und die Phrasierung der Tonfolge eine Idee von Dialog: „Hier ich, dort du // komm her, geh weg // woher, wohin?“ Versuche, tatsächlich mit dem Patienten in einen sprachlichen oder musikalischen Dialog zu treten, scheiterten. Der Patient begann jedoch nun in kleinen Schritten, sein Gitarrenstück zu bearbeiten. Schließlich erhielt die Melodie eine stärkere Zielgerichtetheit. Die Wiederholung und rhythmische Verschiebung der Schlussformel auf die betonte Taktzeit unterstützte das Schlussempfinden, nur die nicht erreichte Tonika erinnerte noch an das In-der-Luft-Hängen, denn harmonisch blieb das Ende offen. „Es war aber ein Rufen geworden, nicht hilflos, auch nicht fragend, eher fordernd, jedoch ohne etwas Bestimmtes zu meinen. Ich verstand diesen Halbschluss so, dass eine Antwort keinen Sinn gemacht hätte, dass aber immerhin das Rufen nicht mehr sinnlos war“ (Metzner 2001: 44).
Abb. 4: Tonfolgen
Die Freude und das feine Finden des „Gleich-Taktes“ Im Folgenden wird ein Beispiel aus einer entwicklungspsychologisch orientierten Kindermusiktherapie entnommen, dargestellt und beforscht von Karin Schumacher und Claudine Calvet (2007). Die Musiktherapie bei tiefgreifend entwicklungsgestörten Kindern, die an einer Beeinträchtigung der sozialen, interaktiven und kommunikativen Fähigkeiten leiden, speziell aus dem autistischen Formenkreis, führte zu der Frage nach den Ursprüngen zwi-
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schenmenschlicher Beziehungsfähigkeit. Hintergrund ist die „Erkenntnis, dass nur eine geordnete Wahrnehmung und eine emotionale Regulation durch den anderen zur zwischenmenschlichen Beziehungsfähigkeit führen und diese Fähigkeit die Basis jeglicher Entwicklung ist“ (ebd.: 29). Gerade die „Fähigkeit zur InterSubjektivität und Empathie, diesen zentralen Voraussetzungen für eine ‚zwischenmenschliche‘ Beziehungsfähigkeit“ beruht auf „einer geordneten Wahrnehmung der Welt, einem kohärenten Körperempfinden und einem sicheren Gefühl von Urheberschaft“ (ebd.: 29). Anhand videographierter musiktherapeutischer Langzeitverläufe konnte dieser „stetige Aufbau der Fähigkeit zur ‚Ordnung‘“ entdeckt und beobachtet werden. Dieser musiktherapeutischen Arbeitsweise liegt ein Musikbegriff Carl Orffs zugrunde, der die „musikalische Gesamtdarstellung des Menschen in Wort, Ton, Gebärde, Bewegung mit instrumentaler Unterstützung“ (ebd.: 30) meint. Ziel ist „einen musikalisch ‚feinfühligen‘ Kontakt“ (ebd.: 31) herzustellen. Sensitivität, ein Begriff aus der Bindungsforschung, hat eine Bedeutungsnähe zum Taktgefühl und wird definiert „als die Wahrnehmung der Signale eines Kindes durch die Bezugsperson, mit richtiger Interpretation und promptem und angemessenem Reagieren“ (CalvetKruppa 2001: 155). Dieses Muster von Verhaltensweisen erhöht Wohlbefinden und fördert die Entwicklung einer sicheren Bindung. Musiktherapeutisch wird möglichst nahe an den Ausdrucksmitteln des Kindes improvisiert, d.h. aus dem Stegreif eine musikalische Gestaltung geschaffen, die „Laute, Tonfolgen, Motive, vor allem aber auch die Klangfarbe, das Timbre der kindlichen Äußerung mit seinen zeitlich noch nicht strukturierten und leicht wiederholbaren Rhythmen aufnimmt und einbindet“ (Schumacher/Calvet 2007: 31). Besonders das Hörbarmachen von Bewegung ist eine schwierige Intervention, da die Bewegungen oft unkoordiniert, unrhythmisch und schwer voraus zu sehen sind. Beforscht werden diese synchronen Momente, die gleichzeitig „relevante Momente“ in der Therapie sind, also Momente der genauen zeitlichen Übereinstimmung zweier Menschen im musikalischen Spiel und deren affektive Auswirkung. Es wird die Intra-(Selbst-) Synchronisation, also die zeitliche Abstimmung im Körper einer Person (Mimik, Gliedmaßen, Rumpf) und die Inter-(aktions-) Synchronisation, also die genaue Übereinstimmung der zeitlichen Strukturen zweier oder mehrerer Personen unterschieden. Von 296
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besonderem Interesse sind die affektiven Übereinstimmungen zweier Personen (inter-affektive Synchronisation). „Tanja, ein neunjähriges Mädchen mit starken Autoaggressionen und ohne Sprachfähigkeit, entwickelte durch oft erlebte Affektabstimmung das Bedürfnis nach synchronen Momenten. Obwohl sie mich genau beobachtet, kann sie mich noch nicht in ihre plötzlich geäußerten stimmlichen Äußerungen einbeziehen. Entsprechende Vorzeichen wie Blick, Geste oder gemeinsames Einatmen fehlen. Dadurch gelingen die synchronen Momente noch nicht ganz, und ich hinke immer etwas hinterher, Tanja entdeckt trotzdem mit Freude die Gemeinsamkeit. Sie initiiert mit Blick, Gestik und Stimme, aber ohne Vorbereitung, d.h. für mich nicht genau vorhersehbar, den Kontakt. Sie kann eine von mir immer wieder versuchte Schlussfindung noch nicht mitvollziehen. Plötzlich, durch mein schnelles Reagieren, wird jedoch trotzdem ein synchroner Moment möglich. Freude, ein Blick zur Kameraperson und ein erstaunter Blickkontakt zu mir sind die Folge“ (ebd.: 52).
Die stimmlichen Äußerungen des Kindes sind noch ohne Einschwingungsvorgang, eine fundamentale Voraussetzung und Erfahrung beim gemeinsamen Musizieren. Dadurch ist es der Therapeutin noch nicht leicht möglich, einen quasi „Gleich-Takt“ zu finden, Timbre und Ausdruck des Kindes werden jedoch in gleicher Intensität aufgenommen und gestaltet. Der fehlende Einschwingungsvorgang wird als Zeichen einer noch nicht entwickelten Inter-Subjektivität interpretiert. Der Drang nach Wiederholung und die Freude nach einer geglückten Synchronisation ist der Beweis für die folgende, emotional positive Veränderung.
In-Takt-Sein und Kon-Takt Eine gelungene Synchronisation führt zu den beiden Erlebensweisen, nämlich selber intakt zu sein, als auch in Kontakt mit Anderen stehen zu können. Die Koordination propriozeptiver und akustischer Wahrnehmungsbereiche führt zum Erleben intrasynchroner Momente. Diese wiederum eröffnen die Möglichkeit, die Außenwelt und damit den Anderen wahrzunehmen. Trifft der Andere bzw. der Therapeut sowohl den Rhythmus als auch den dahinterliegenden Affekt des Kindes, unterstützt er das Kind, bei sich selbst, die Verbindung von Affekt und Handlung wahrzunehmen. Bezogenheit und Gefühle des gegenseitigen Verstehens werden möglich (Schumacher/Calvet 2007: 54). Wissenschaftler
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des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung und der Universität Salzburg konnten nun erstmals zeigen, dass sich bei Musikern, hier Gitarrenspielern, wenn sie im Takt spielen, auch die elektrische Hirnaktivität sowohl innerhalb der einzelnen Gehirne als auch zwischen den Gehirnen des jeweiligen Musikerduos synchronisieren (Lindenberger 2009). Ebenso gilt die nonverbale Synchronisation, also die Koordination der Körperbewegung von Patient und Therapeut, auch in verbalen Therapien als zuverlässiger Prädiktor für eine gute Beziehung und einen Therapieerfolg (Ramseyer 2008). Um nun einen gemeinsamen musikalischen Takt finden und gestalten zu können, ist also das Gelingen verschiedener Reifungsetappen Voraussetzung. Ist „die Fähigkeit zur feinen Gefühlsabstimmung, das Erleben von Resonanz, das wechselseitige Aufeinander-Reagieren, das Empfinden für sich selbst und die Gestalt und Qualität von Beziehung herangebildet, ist es zum eigentlichen Dialog nur noch ein vergleichsweise kleiner Schritt“ (Lenz 2003: 118). „Es bilden also Gemeinsamkeit und Gegenseitigkeit, Kontakt, Miteinander-Sein, Resonanz und Bezogenheit die Grundlage für weitere Entwicklung. Erst durch die Interaktion mit dem Anderen baut das Kind seine angeborenen Fähigkeiten weiter aus“ (ebd.: 119). Diagnostisch wesentlich ist die Einschätzung der Beziehungsqualitäten und Kontaktmodi, um die Funktion der Musik innerhalb musiktherapeutischer Interventionen adäquat abzustimmen. Im zuletzt genannten Fallbeispiel von Schumacher und Calvet (2007) ist eindrucksvoll eine Übergangssituation abgebildet. Denn synchrone Momente können ausgehalten werden, wenn die Therapeutin sie herstellt, aber es gelingt der Patientin noch nicht, selber den Einschwingungsvorgang anzubahnen. Im Unterschied hierzu ist das Beispiel von Oehlmann (2007) zu verstehen. Auch hier gelingt ein empathisches Teilen des Grundschlages innerhalb der Gruppe nicht, die Pulsation zerfällt. Grund hierfür ist jedoch ein psychodynamischer Ausdruck von Abwehr- und interpersonalen Widerstandsvorgängen der Patientin. Empathie ist der Patientin grundsätzlich möglich, d.h. sie bleibt sich prinzipiell auch in der Gruppensituation ihrer eigenen Identität als einer anderen Person bewusst. Das Aufeinanderbezogensein und die Begegnungsfähigkeit über die Musik ist jedoch blockiert, ein Mitgehen mit dem gemeinsamen Grundschlag ist aufgrund eines unbewussten Kräftespiels zunächst nicht möglich. 298
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Die zu Beginn des Textes erwähnte Definition des Taktes als gleichmäßig wiederkehrendes, metrisch-gewichtendes Bezugsschema, das den wechselnden rhythmischen Gestalten zugrunde liegt, ist wahrnehmungspsychologisch eine fundamentale Verarbeitungseinheit, da es eben diese Differenzierung einer Vielfalt von rhythmischen Werten durch das Entstehen proportionaler Beziehungen ermöglicht und dies das Erlebnis von Veränderung und Bewegung bewirkt. Die musikalische Improvisation, in ihrem Gegeneinander von fließenden Bewegungen und klaren geordneten Formen ermöglicht in besonderer Weise die Arbeit an eben dieser Polarität von Ordnung und Bewegung, die in allen beschriebenen Fallbeispielen fundamental ist. Die Paradoxie der Bewegung bedingt einerseits das Verlangen nach Konstanz, Kontinuität und Identität, andererseits nach Veränderung und Entwicklung. Nach Deuter (2009: 373) zeigt sich die rhythmische Dimension musikalisch im Austausch von strukturierten Zusammenhängen und einzelnen, für sich stehenden Ereignissen (Polarität von Struktur und Impuls)ï im erweiterten Sinne in allen Prozessen, die mit Bindung und Lösung zu tun haben. Musik strukturiert Zeit durch die musikalische Bewegung und koordiniert somit als in der Zeit erklingender Stimulus sensorische und motorische Impulse. Auch nach Piaget entwickelt sich das Erleben von Zeit aus der Koordination von Bewegungen (Dührsen 2005: 239). „Gehaltenwerden und die Erfahrung von Containment führt zu räumlichen Beziehungen. Tragen impliziert eine Bewegung. Beim Tragen geht es darum, jemandem zu helfen, seine Position zu verändern. >...@ Ein zuverlässiger Träger ist ein Objekt, das die Richtung des Weges kennt und über eine zeitliche Perspektive von Vergangenheit über die Gegenwart zur Zukunft verfügt.“
Zentral für psychotisches Erleben ist die Verwirrung in der Zeit, ein Verlust von Eindeutigkeit, und wenn die zeitliche Kohärenz fehlt, schwinden auch Sinnzusammenhänge. Indirekte Hinweise auf Störungen im Zeiterleben sind Vorstellungen eines Zustands (z.B. in Psychotherapie sein), d.h. eine Reduktion des Zeiterlebens auf die statische Position der Gegenwart. Der Patient in der Fallvignette von Susanne Metzner (2001) entwickelt im Laufe der Musiktherapie seine immer solistisch gespielte Tonfolge sowohl in der Beweglichkeit als auch in Richtung auf ein Ziel hin weiter, das
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aber nicht vollständig erreicht wird, denn eine eindeutige Schlussformel wird nicht gefunden. Diese Koordinierung von sensorischen und motorischen Impulsen ist auch bei Patienten, die aufgrund eines schweren Schädel-Hirn-Traumas auf Dauer im Zustand des Wachkomas verbleiben, essentiell. Nicht das äußere Erscheinungsbild der Bewegungen der Patienten oder eine Veränderung körperlicher Parameter gibt Auskunft, ob sie als Reflex oder Reaktion zu werten sind, sondern der situative und zeitliche Zusammenhang, in dem diese zu beobachten sind. Bewegung beinhaltet Rhythmus, Bewegung wird zu Musik und Musik zur klingenden Bewegung. „Wie aus den Reaktionen deutlich wurde, kann ein Mensch im Wachkoma die zeitlichen Strukturen und den Rhythmus seiner eigenen Bewegung erkennen und sich dazu durch das eigene Handeln in Beziehung setzen“ (Herkenrath 2006: 29). Veränderungen der Intensität des Körperausdrucks können auch emotionales Erleben widerspiegeln, er verfügt über Potentiale einer auf Wahrnehmung basierenden Neuorientierung in Zeit, Raum und Situation, Körper, Selbst und Erleben. Trotz seines Rückzugs und seiner Zurücknahme auf das Körperselbst hat er die Fähigkeit zu einer Wechselbeziehung und zu einer aktiven Teilnahme an seiner Umwelt. Gelingt es dem Wachkomapatienten aufgrund der regelmäßigen Akzentordnung im Takt seine Bewegungen mit dem Musiktherapeuten abzustimmen, ist ein InKontakt-Treten mit der Außenwelt, Kommunikationsanbahnung und Begegnung möglich. Die Musiktherapie hat im besonderen Maße durch die Verwendung der Musik als zeitstrukturierendes Geschehen Möglichkeiten, durch den gezielten Einsatz von Musik im Rahmen der therapeutischen Beziehung den zwei Aspekten Ordnung und Bewegung bzw. Veränderung Ausdruck zu verleihen sowie durch spezifische musiktherapeutische Interventionen die Entwicklung von Wahrnehmungs-, Erlebnis-, Symbolisierungs- und Beziehungsfähigkeit des Individuums zu fördern. Der spezifische Blick auf den Takt als einer impliziten Struktur im Beziehungsgefüge der Musik diente nicht dazu, ein Element oder Parameter aus der Gesamtheit des musikalischen Beziehungsgeschehens zu isolieren, sondern ein spannendes, diagnostisches und therapierelevantes Kriterium zu benennen, an dem sich psychodynamisch wirksame und interpretierbare Phänomene oder Defizite abbilden können.
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Autorinnen- und Autorenverzeichnis ANDREAS BRENNER, Dr. phil., Professor für Philosophie an der Universität Basel und der Fachhochschule Nordwestschweiz, Arbeitsschwerpunkte: Phänomenologie, Angewandte Ethik. MICHAEL B. BUCHHOLZ, Dr. phil., Psychoanalytiker in eigener Praxis, Supervisor und Lehranalytiker, apl. Prof. am FB Sozialwissenschaften der Universität Göttingen und Gastprofessor an der International Psychoanalytic University Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Qualitative Forschung in der Psychotherapie, Metaphernanalyse, Familientherapie, Probleme der psychoanalytischen Profession. KARIN DANNECKER, Dr. phil., Kunsttherapeutin und Professorin für Kunsttherapie an der Kunsthochschule Weißensee in Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Psychodynamik des künstlerischen Prozesses; Ästhetik und Symbolisierung, Ethik und Diagnostik in der Kunsttherapie; Wirksamkeitsforschung in der psychodynamischen Kunsttherapie, Bildtheorien, Beziehung von Künstlerpersönlichkeit, Biografie und Werk. GABRIELE DORRER-KARLIOVA, Dipl. Kantorin, Dipl. Psych., Psychologische Psychotherapeutin in eigener Praxis, Dozentin, Supervisorin und Lehrtherapeutin an der Berliner Akademie für Psychotherapie. Arbeitsschwerpunkte: Musik und Psychoanalyse, Qualitative Musiktherapieforschung, Kennzeichen der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie. GÜNTER GÖDDE, Dr. phil., Psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis, Dozent, Supervisor, Lehrtherapeut und Leiter des Schwerpunkts Tiefenpsychologie an der Berliner Akademie für Psychotherapie, Ausbilder an der Psychologischen Hochschule Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Psychodynamische Psychotherapie, Geschichte der Psychoanalyse, Kulturtheorie, Verhältnis von Psychoanalyse und Philosophie, von Therapeutik und Lebenskunst. LEOPOLD KLEPACKI, Dr. phil., Akademischer Rat für Pädagogik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Mitarbeiter am Interdisziplinären Zentrum Ästhetische Bildung (FAU). Arbeitsschwerpunkte: Ästhetische Bildung, Theatrale
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AUTORINNEN- UND AUTORENVERZEICHNIS
Bildung, Schultheater, Theateranthropologie, geisteswissenschaftliche pädagogische Forschung. BINA ELISABETH MOHN, Dr. phil., Kamera-Ethnographin in Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Spielarten des Dokumentierens nach der Repräsentationskrise, Begründung der „Kamera-Ethnographie“, Produktion beobachtender Videostudien zum Lernen, Spielen, Forschen und Arbeiten, Methodenberatung und Workshops zur Kamera-Ethnographie. JOHANNES OBERTHÜR, Dr. phil., Philosoph und Künstler, Lehrtätigkeit in der Erwachsenenbildung, u.a. an der Freien Universität Berlin und an der Lessing Hochschule zu Berlin, Leitung von wissenschaftlichen Tagungen, eigene Ausstellungen. Arbeitsschwerpunkte: Verhältnis von Philosophie und Kunst, Ontologie, Platon, Nietzsche und Heidegger, Lebenskunst. ECKHARD ROCH, Dr. phil., Dipl. Theol., Professor für Systematische Musikwissenschaft an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Mitglied der Arbeitsgruppe Musiksoziologie der Gesellschaft für Musikforschung (GfM) und des Interdisziplinären Zentrums Ästhetische Bildung an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Arbeitsschwerpunkte: Ausgewählte Themen der Musikgeschichte von der griechischen Antike bis zur Gegenwart, Musikästhetik, Musikphilosophie, Musiktheorie und Musiksoziologie. MARTIN VÖHLER, Dr. phil., Professor für European Studies an der University of Cyprus (Nicosia), Teilprojektleiter im Exzellenzcluster „Languages of Emotion“ (FU Berlin), Honorary Fellow of the Institute of Germanic and Romance Studies (London), Mithrsg. des Hölderlin-Jahrbuchs. Arbeitsschwerpunkte: Antikerezeption in Deutschland und Europa, Poetik, Rhetorik. JÖRG ZIRFAS, Dr. phil., Professor für Pädagogik an der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Vorsitzender der Gesellschaft für Historische Anthropologie (FU Berlin), Vorstandsmitglied des Interdisziplinären Zentrums Ästhetische Bildung (FAU) und der Pädagogischen Anthropologie (DGfE). Arbeitsschwerpunkte: Pädagogische und Historische Anthropologie, Bildungs- und Erziehungsphilosophie, Qualitative Bildungsforschung und Pädagogische Ethnographie, Kulturpädagogik und Ästhetische Bildung.
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Ästhetik und Bildung Eckart Liebau, Jörg Zirfas (Hg.) Die Bildung des Geschmacks Über die Kunst der sinnlichen Unterscheidung Juli 2011, 230 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1746-7
Eckart Liebau, Jörg Zirfas (Hg.) Dramen der Moderne Kontingenz und Tragik im Zeitalter der Freiheit 2010, 232 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1436-7
Eckart Liebau, Jörg Zirfas (Hg.) Die Kunst der Schule Über die Kultivierung der Schule durch die Künste 2009, 174 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN 978-3-8376-1199-1
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Ästhetik und Bildung Eckart Liebau, Jörg Zirfas (Hg.) Die Sinne und die Künste Perspektiven ästhetischer Bildung 2008, 276 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-910-7
Eckart Liebau, Jörg Zirfas (Hg.) Schönheit Traum – Kunst – Bildung 2007, 288 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-831-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de