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German Pages [401]
Forschungen zum Alten Testament Herausgegeben von Konrad Schmid (Zürich) · Mark S. Smith (New York) Hermann Spieckermann (Göttingen)
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Jörg Jeremias
Studien zur Theologie des Alten Testaments herausgegeben von
Friedhelm Hartenstein und Jutta Krispenz
Mohr Siebeck
Jörg Jeremias, geboren 1939; Studium der Ev. Theologie und orientalischen Sprachen; 1964 Promotion; 1969 Habilitation; 1972–1994 Professor für Altes Testament an der Ludwig-Maximilians-Universität München; 1994–2005 Professor für Altes Testament an der Philipps-Universität Marburg; seit 2005 emeritiert. Friedhelm Hartenstein, geboren 1960; Studium der Ev. Theologie, Assyriologie und Vorderasiatischen Archäologie; 1996 Promotion; 2001 Habilitation; 2002–2010 Professor für Altes Testament und altorientalische Religionsgeschichte an der Universität Hamburg; seit 2010 Professor für Altes Testament an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Jutta Krispenz, geboren 1955; Studium der Ev. Theologie; 1987 Promotion; 2000 Habilitation; seit 2008 apl. Professorin für Altes Testament an der Philipps-Universität Marburg.
e-ISBN PDF 978-3-16-153806-3 ISBN 978-3-16-153805-6 ISSN 0940-4155 (Forschungen zum Alten Testament) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio nalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb. dnb.de abrufbar. © 2015 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Ver lags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Sys temen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruck papier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.
Vorwort Jörg Jeremias vermochte und vermag es – als Forscher und Lehrer – stets die theologische Relevanz alttestamentlicher Exegese aufzuzeigen. Er versteht seine Arbeit immer als einen Beitrag, der bewusst auf das Gespräch mit den anderen Disziplinen und zugleich auf die Verkündigung der Kirche angelegt sein sollte. Über viele Jahre hat er einer Systematisierung und Zusammenfassung seiner Einzelforschung in Richtung auf eine Gesamtdarstellung zugearbeitet. Den Ertrag dieser Lebensarbeit können die Fachwelt und alle Interessierten nun nachlesen. Im Herbst 2015 erscheint in den „Grundrissen zum Alten Testament“ (Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen) die „Theologie des Alten Testaments“ von Jörg Jeremias. Der vorliegende Sammelband ist als ein Seitenstück dazu gedacht. Wie 1996, als in den FAT der erste Aufsatzband von Jörg Jeremias („Hosea und Amos“) seine Kommentare zum Zwölfprophetenbuch ergänzte, soll auch dieses Buch einen Überblick, nun über dezidiert alttestamentlich-theologische Aufsätze aus der Feder des Münchner und Marburger Kollegen und Lehrers, ermöglichen. Die Beiträge lassen auch Entwicklungen und Schwerpunktbildungen erkennen. Auf Texte zu stärker theoretischen Grundfragen einer Theologie des Alten Testaments folgen zunächst schöpfungstheologische und ethische Beiträge. Besonders am Herzen liegen Jörg Jeremias die für die Rezeption „schwierigen“ Texte des AT, die vor allem dessen Gottesbilder betreffen (etwa die Rede vom „Zorn“ oder der „Rache“ JHWHs und Texte wie Gen 22). Ihnen ist ein umfangreicher Abschnitt gewidmet, ebenso wie den Psalmen und der Theologie der Prophetenbücher. Zu ihrem Verständnis hat Jörg Jeremias in den vergangenen 30 Jahren wesentliche Impulse vermittelt. In ihnen sieht er am stärksten im Alten Testament explizit theologische Reflexionen von einer Dichte und Tiefe, die auch christlichen Zeitgenossen heute unverzichtbare Denkanstöße zu geben vermögen. Für die teils mühsame Umwandlung der Vorlagen in den druckfertigen Satz ist vor allem Frau stud. theol. Anne Gilly sehr zu danken, die auch das Stellenregister angefertigt hat. Frau Susanne Schleeger im Sekretariat des Lehrstuhls für Altes Testament II hat ebenfalls viel Zeit und Geschick in die Formatierungsarbeit gesteckt. Auch ihr sei dafür gedankt. Beim Verlag Mohr Siebeck haben neben den Herausgebern der FAT, die der Idee sofort zugestimmt haben, Herr Dr. Henning Ziebritzki und Frau Ilse König den Band mit großer Präzision betreut. Ihnen allen gebührt unser herzlicher Dank. München, im August 2015
Friedhelm Hartenstein, Jutta Krispenz
Inhaltsverzeichnis Vorwort ........................................................................................................... V Grundfragen einer Theologie des Alten Testaments ........................................1 1
Alttestamentliche Wissenschaft im Kontext der Theologie .......................3
2.
Neuere Entwürfe zu einer „Theologie des Alten Testaments“ .................15
3.
Hauptprobleme einer Theologie des Alten Testaments............................47
4.
Das Gottesbild des Alten Testaments .......................................................65
Schöpfung und Verantwortung nach dem Alten Testament ............................81 5.
Schöpfung in Poesie und Prosa des Alten Testaments. Gen 1–3 im Vergleich mit anderen Schöpfungstexten des Alten Testaments ........83
6.
Schöpfung und Verantwortung im Alten Testament ..............................109
7.
Liebe und Unterordnung? Zur Rolle der Geschlechter im Alten Testament ...............................................................................120
Probleme alttestamentlicher Gottesbilder ....................................................139 8.
Gottes Zorn – eine unbeliebte Gottesaussage des Alten Testaments .....141
9.
Konzeptionen des göttlichen Zorns im DtrG..........................................156
10. Jhwh – ein Gott der „Rache“ ..................................................................172 11. Die „Opferung“ Isaaks (Gen 22) ............................................................188 12. Gen 20–22 als theologisches Programm ................................................197 Gotteslob und Gottesferne in den Psalmen ..................................................213 13. Lob Gottes und Erkenntnis des Menschen in den Psalmen....................215 14. Die Erde „wankt“ ...................................................................................229 15. „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“. Psalm 130 und Luthers Psalmlied ...................................................................................241 16. Ps 100 als Auslegung von Ps 93–99 .......................................................256
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Inhaltsverzeichnis
Zur Theologie der Prophetenbücher ............................................................267 17. Die Anfänge der Schriftprophetie ..........................................................269 18. Das Rätsel der Schriftprophetie ..............................................................288 19. Prophetenwort und Prophetenbuch. Zur Rekonstruktion mündlicher Verkündigung der Propheten ..............................................311 20. Gott und Geschichte im Alten Testament. Überlegungen zum Geschichtsverständnis im Nord- und Südreich Israels ...........................326 21. „Wahre“ und „falsche“ Prophetie im Alten Testament. Entwicklungslinien eines Grundsatzkonfliktes ......................................343 22. Umkehrung von Heilstraditionen im Alten Testament ..........................351 23. Gelehrte Prophetie. Beobachtungen zu Joel und Deuterosacharja .........364 Nachweis der Erstveröffentlichungen............................................................379 Stellenregister (Auswahl) ............................................................................383
Grundfragen einer Theologie des Alten Testaments
1. Alttestamentliche Wissenschaft im Kontext der Theologie 1. Die Besonderheit der alttestamentlichen Disziplin im Fächerkanon der Theologie liegt zunächst darin, dass sie als einzige ihre Zugehörigkeit zu ihm immer neu nachweisen muss. Man kann christliche Theologie schwerlich ohne das Neue Testament, scheinbar aber mühelos ohne das Alte Testament treiben. Zwar sind die radikalen Bestreitungen der Bedeutung des AT für die christliche Theologie auf wenige Zeiten beschränkt, aber sie betreffen mit der Formierung der christlichen Kirche und der Neuzeit besonders gewichtige Epochen. Erinnert sei nur an A. von Harnacks berühmten Satz, dass die theologische Entscheidung Marcions zu seiner Zeit falsch gewesen, in der Gegenwart aber neu zu bedenken sei. Namen anderer großer Theologen wie etwa Schleiermacher oder E. Hirsch beleuchten andere Nuancen dieses Grundsatzproblems. Freilich hat diese – mir grundsätzlich notwendig erscheinende – Nachweispflicht auch etwas Künstliches. Das Alte Testament war ganz selbstverständlich die Bibel der frühen Christen, bevor ein Neues Testament entstand, und es gibt eine Fülle von neutestamentlichen Konzepten, die ohne ihren alttestamentlichen Hintergrund nicht voll verständlich sind. Der einmal vom jungen Bultmann erwogene (und bald wieder fallengelassene) Gedanke, ob nicht auch eine andere antike Urkunde als das AT die gleiche Funktion des „Gesetzes“ für das Neue Testament ausüben könne1, ist ein sinnvoller Gedanke nur für den, der die Funktion des AT von vornherein auf diejenige des „Gesetzes“ im paulinischen Sinne einschränkt. Eher gilt, was P. Ricœur zugespitzt so formuliert: „Das Christentum [war] von Anfang an Exegese“ der überlieferten Schrift, eine Exegese, die freilich „ihrerseits neue Schrift“ wurde2. Etwas ganz Anderes ist die Frage, ob das AT im Einzelnen nicht auch Vorstellungen enthält, die einer vom NT herkommenden Theologie fremd sind. Diese Frage ist grundsätzlich durchaus zu bejahen; nur ist hier eben Einzelprüfung notwendig, wie sie zu den zentralen theologischen Aufgaben eines 1
R. BULTMANN, Die Bedeutung des Alten Testaments für den christlichen Glauben, in: Glauben und Verstehen Bd.I, Tübingen 1933, 313–336; 321ff. 2 P. RICŒUR, Philosophische und theologische Hermeneutik, in: DERS./E. Jüngel, Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache (EvTh – Sonderheft), München 1974, 35. DERS.,
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Grundfragen einer Theologie des Alten Testaments
Alttestamentlers wie jedes anderen Theologen gehört. Darauf ist später noch zurückzukommen.
2. Die Eigenart und gleichzeitig die Unverzichtbarkeit des Alten Testaments für die christliche Theologie beruht m.E. primär auf dem Zeitraum von fast 1000 Jahren, die zwischen seinen ältesten und seinen jüngsten Texten liegen. Das Alte Testament zeigt einen Glauben im Entstehen und im Wachsen, einen Glauben auf dem Weg. Das Neue Testament setzt diesen Weg als einen schon abgeschrittenen voraus und knüpft an die reifen Gottesaussagen des AT an. Jedoch sind auch die verschiedenen Stadien dieses Weges, der keineswegs ein nur geradliniger war, theologisch von großem Gewicht. Ich erinnere zunächst an die Entstehungszeit. Durch die konsequent flächendeckend durchgeführten archäologischen Oberflächenforschungen der Israelis nach 1967 wissen wir, dass die frühen Glieder der Glaubensgemeinschaft „Israel“ (grob: zu etwa gleichen Teilen) sowohl aus dem Westen, d.h. aus den degenerierenden „kanaanäischen“ Städten, als auch aus dem Osten und Süden, d.h. aus dem Lebensraum von Halbnomaden, auf das palästinische Bergland zogen, um es neu zu bevölkern3. Was Exegeten seit langem vermuteten, ist damit auch siedlungsgeographisch vor Augen geführt: dass nämlich nur ein zahlenmäßig sehr kleiner Teil des nachmaligen Israel beim Exodusgeschehen oder bei der Sinaioffenbarung beteiligt war bzw. unmittelbar von den eigenen Vorfahren von diesen Ereignissen vernommen hatte. Dann aber entsteht zwangsweise die nicht nur historisch wesentliche Frage, was denn den jungen JHWH-Glauben für eine sehr gemischte Bevölkerung so attraktiv machte, dass sie sich ihm anschloss, obwohl die neue religiöse Gemeinschaft schon in ihrem Namen Isra-El zu erkennen gab, dass sie selber eine mit der gemeinsemitischen El-Verehrung in Verbindung stehende, andersartige religiöse Vergangenheit hatte. A. Alt pflegte in Vorlesungen zu formulieren: „Das Alte Testament besitzt selber ein Altes Testament“ (und meinte damit die nur noch hypothetisch zu rekonstruierenden vorjahwistischen Stufen der Erzvätererzählungen)4. Theologisch nicht weniger gewichtig als die Bedingungen der Entstehung des biblischen JHWH-Glaubens sind seine frühen Stadien. Gerade angesichts 3
Vgl. etwa I. FINKELSTEIN, The Archaeology of the Israelite Settlement, Jerusalem 1988; V. FRITZ, Die Entstehung Israels im 12. und 11. Jahrhundert v. Chr. (BE 2), Stuttgart 1996, 63ff. 4 Vgl. A. ALT, Der Gott der Väter (1929), in: DERS., Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel Bd.I, München 1953, 1–78; 62f. und in Weiterführung seiner Gedanken G. VON RAD, Theologie des Alten Testaments, Gütersloh 101993 (München 1960), Hauptteil III, Abschnitt A.
1. Alttestamentliche Wissenschaft im Kontext der Theologie
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einer Mischbevölkerung mit unterschiedlichen religiösen Traditionen war für die Verantwortlichen des jungen JHWH-Glaubens keineswegs von Anbeginn klar, welche Bräuche und Vorstellungen dieser unterschiedlichen mitgebrachten Traditionen mit den Kernelementen dieses jungen Glaubens vereinbar waren, welche nicht. Hier setzte ein Lernprozess ein, der wiederum nicht einfach geradlinig erfolgte. Um ein beliebiges Beispiel zu nennen: Unter den mannigfachen im Alten Orient praktizierten Mitteln der Zukunftsvergewisserung werden im AT einige stets und grundsätzlich als mit dem eigenen Denken unvereinbar abgewiesenen (Phänomene, die wir notdürftig mit „Beschwörung“ und „Zauberei“ bezeichnen), andere werden in frühen Texten völlig selbstverständlich praktiziert, später aber negativ konnotiert (Formen technischer Orakel), wieder andere (der Traum) normalerweise als eine Weise der Mitteilung des göttlichen Willens voll akzeptiert (Dtn 13,1; Joel 3,1f. u.ö.), in Sondersituationen aber negiert (Jer 23,25–29)5. Hier wird ein Glaube auf der Suche nach den Maßstäben erkennbar, welche Phänomene ihm angemessen sind, welche nicht. Diese Maßstäbe lagen in den seltensten Fällen von vornherein fest; in der Mehrzahl der Fälle mussten sie im Streit verschiedener Auffassungen errungen werden. Die theologischen Begründungen für derartige Entscheidungen sind – auch für nachgeborene Christen – nicht weniger gewichtig als die Entscheidungen selbst. Erheblich deutlicher und schärfer als unsere wissenschaftlichen Vätergenerationen vermögen wir heute zu sagen, dass die bedeutendsten Eigenarten des reifen JHWH-Glaubens – etwa „Monotheismus“ und Bilderverbot – dem jungen Israel noch keineswegs in die Wiege gelegt, sondern allenfalls in seinem Denken keimhaft angelegt waren. Mit gutem Erfolg ist in den letzten beiden Jahrzehnten versucht worden, eine Geschichte des ersten und zweiten Gebotes innerhalb der Texte des AT zu schreiben. Sie zeigt in beiden Fällen, dass es insbesondere der leidenschaftlichen Auseinandersetzungen im Zeitalter der klassischen Propheten bedurfte, um Israels Denken in einer Weise zu schärfen, die ihm später im Hellenismus den Vorwurf einbringen sollte, dass es unfähig zur Anpassung an eine Weltgesellschaft sei. Die Propheten ihrerseits zogen nun freilich aus der relativ offenen bzw. vielfältigen älteren Tradition Konsequenzen, die ihren unmittelbaren Zeitgenossen erheblich zu weitgehend, wenn überhaupt nachvollziehbar waren und die erst durch die Schriftlichkeit der Prophetie in fortgeschrittener, besonders exilischer Zeit, als die harten Propheten sozusagen von Gott bestätigt worden waren, von breiten Kreisen aufgenommen und akzeptiert wurden. Zuvor aber waren die weitgehenden Konsequenzen der Propheten eher die Ansichten von Außenseitern, die von den Zeitgenossen nicht nur belächelt, sondern um der enthaltenen Zumutungen willen mit aller Kraft bekämpft wurden. 5 Näheres hierzu bei J. JEREMIAS, Art. Prophet/Prophetin/Prophetie II, RGG4 6 (2003) 1694f.
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Grundfragen einer Theologie des Alten Testaments
Die wichtigste und unverzichtbare Gabe des AT an die christliche Theologie liegt m.E. daher darin, dass es zu erkennen gibt, wie und unter welchen Voraussetzungen die Grundlagen des Glaubens entstanden sind, auf denen das NT ganz selbstverständlich aufbaut (so gewiss es sich von einigen Aspekten auch bewusst absetzt). In den seltensten Fällen handelt es sich bei den Grundentscheidungen des alttestamentlichen Denkens um harmonisch-gleichmäßige Entwicklungen über die Jahrhunderte hinweg, sondern zumeist um leidenschaftliche Auseinandersetzungen, in die die Propheten involviert waren. Diese Auseinandersetzungen sind für die Nachgeborenen allerdings nur noch in seltenen Fällen im Einzelnen rekonstruierbar; häufig erfahren wir nur die Urteile und Entscheidungen, die die Überlieferung getroffen hat.
3. Ein solcher Ausnahmefall sei exemplarisch angeführt, weil es in ihm um zentrale Elemente der biblischen Gottesvorstellung geht: der Streit um „wahre“ und „falsche“ Prophetie auf seinem Höhepunkt im 6. Jh. v. Chr6. Für die beteiligten Menschen muss es in den Jahren unmittelbar vor der Zerstörung Jerusalems eine furchtbare Erfahrung gewesen sein, wie hier Prophet gegen Prophet auftrat. Beide beanspruchten, dass sich an ihrem Gotteswort Leben und Tod der Hörer entscheiden sollten, beide beriefen sich auf den gleichen Gott und seine Offenbarung, sagten aber im Namen dieses Gottes genau Gegenteiliges aus. Die jeweiligen theologischen Intentionen der Propheten sollen hier nicht erörtert werden, auch nicht die Einzelheiten der jeweiligen Bestreitung der Gegenmeinung. Das Urteil über „wahr“ und „falsch“ hat die Überlieferung gefällt, die uns nur die Worte der einen Seite aufbewahrt hat, die Meinung der anderen Seite jedoch im Urteil der „wahren“ Propheten erkennen lässt. Wohl aber muss in unserem Kontext von Interesse sein, dass die Reflexion über diese Auseinandersetzung den Propheten Jeremia und vor allem seine Schüler dazu nötigte, Kriterien für die Beurteilung von „wahrer“ und „falscher“ Prophetie aufzustellen, wie sie ohne diesen Streit nie gebildet worden wären, seit diesem Streit aber Gültigkeit für alle Dimensionen „wahrer“ und „falscher“ Rede von Gott beanspruchen können. Ich nenne aus Jer 23 nur die drei mir am gewichtigsten erscheinenden Aspekte: 1) „Wahr“ ist ein prophetisches Wort, das zunächst den Propheten selbst getroffen und erschüttert hat (V.9) und das von daher davor geschützt ist, mit seinem eigenen Wunschdenken (V.16.26) verwechselt zu werden.
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Vgl. etwa J. JEREMIAS, „Wahre“ und „falsche“ Prophetie im Alten Testament, in: Kirche – Geschichte – Glaube (FS H. Pitters), hg. von H. Klein/B. W. Köber/E. Schlarb, Erlangen 1998, 33–41, mit Lit. (siehe Beitrag Nr. 21 in diesem Band).
1. Alttestamentliche Wissenschaft im Kontext der Theologie
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2) „Wahr“ ist ein prophetisches Wort, das zusammen mit seinem Inhalt auch seine Wirkung bedenkt und an dieser Wirkung gemessen werden kann (V.17). 3) „Wahr“ ist ein prophetisches Wort, das Gott in seinen konträren Aspekten als „naher“ und als „ferner“ Gott widerspiegelt (V.23f.). Das volle Gewicht solcher weitreichenden Sachentscheidungen, die das Bild der künftigen Prophetie mitbestimmen, ist nur für denjenigen erkennbar, der hinter diesen Texten nicht nur reflektierende Schreibtischarbeit, sondern lebensbestimmende Auseinandersetzungen um die Wahrheit des Gotteswillens wahrnimmt. Alttestamentlicher Glaube unterscheidet sich darin grundsätzlich vom Islam, dass ihm bewusst ist, dass die von ihm behauptete Wahrheit sich geschichtlichen Entscheidungen über Jahrhunderte hinweg verdankt. In unserem Fall werden in einer zugespitzten geschichtlichen Situation theologische Urteile grundlegender Art erzwungen, die zugleich die Auswahl der zu überliefernden Texte entscheidend prägen. Es ist kein Zufall, dass wir die Worte der „falschen“ Propheten nicht kennen.
4. Spätestens seit der Zerstörung Jerusalems, als die geistige Oberschicht des biblischen Israel inmitten einer fremdreligiösen Umgebung in Babylonien wohnte, musste das biblische Gottesvolk 1) in eine intensive Auseinandersetzung mit andersartigen religiösen Konzepten von Gott, Mensch und Welt eintreten und 2) die unabdingbaren Grundlagen seines eigenen Denkens und Glaubens in neuer Grundsätzlichkeit reflektieren. Beides sei hier kurz nacheinander betrachtet. Für die Auseinandersetzung mit mesopotamischer Religion ist die Urgeschichte ein besonders geeignetes Beispiel. In älterer Zeit hatten in Israel vielfältige – etwa weisheitliche, kultische, prophetische und rechtliche – Weltund Menschenbilder nebeneinander bestanden. Mit der Urgeschichte wurde der Anspruch einer verbindlichen Welt- und Menschenkonzeption realisiert, die programmatisch als hermeneutische Lesehilfe den mannigfachen Geschichtsüberlieferungen der Erzväter- und Mosetradition vorangestellt wurde. Ihr Konzept entstammt dem polemischen Gespräch mit mesopotamischen Weltenwürfen; es impliziert zugleich den Anspruch auf universale Geltung der Gotteserkenntnisse, die aus den eigenen Geschichtserfahrungen gewonnen wurden. Für eine christliche Rezeption des biblischen Menschenbildes scheint es mir unabdingbar zu sein, die im Text enthaltenen Abgrenzungen zu verstehen, gerade weil sie nicht rein theoretischer Reflexion entstammen. Ich nenne exemplarisch nur das jeweils wichtigste Element des Menschen- und des Got-
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Grundfragen einer Theologie des Alten Testaments
tesbildes, das sich aus der polemischen Abgrenzung gegenüber dem Atrah̬ asis-Epos ergibt7. 1) Für die optimistische Anthropologie des Atrah̬ asis-Epos ist der Mensch durch eine natürliche Zweinaturen-Existenz geprägt. Da er eine Kulturarbeit fortführt, die durch die Götter geadelt ist, die vor ihm diese Arbeit vollführten, ist er auch in seinem Wesen an die Götter verwiesen: Obwohl er aus Ton gefertigt und insofern sterblich ist, fließt in seinen Adern Götterblut. Die Grundlagen der platonischen Ideenlehre sind hier angelegt. Wie nüchtern nimmt sich das davon abgegrenzte Menschenbild des Jahwisten aus, das dem „aus Staub“ gefertigten Menschen durch Gottes Anhauchen eine begrenzte Lebenszeit zugeteilt sein lässt, ihn dennoch aber als ein Wesen zeichnet, das ständig bestrebt ist, sich aus der planenden Fürsorge Gottes zu entfernen, um selber die Ordnung des Lebens zu bestimmen! 2) Sowohl im Atrah̬ asis-Epos als auch im AT wird nur darum von der Sintflut erzählt, weil sie ein einmaliges, unwiederholbares Ereignis bleibt. Jenseits dieser Gemeinsamkeit beginnen die Differenzen. Das mesopotamische Epos ist ätiologisch ausgerichtet: Statt der Vernichtung der Menschen haben die Götter andere Weisen ersonnen, um die Menschheit an einer übermäßigen Ausdehnung zu hindern: Kindersterblichkeit, Unfruchtbarkeit von Frauen, Frauen, die sich zur priesterlichen Existenz entschließen etc. Zugleich wird dem Menschen tröstend versichert, dass hinter dem emotional-launischen Sturmgott Enlil, der im Götterrat die Sintflut durchsetzte, der im Stillen wirkende Weisheitsgott Ea steht, der den Plan des Sturmgottes dem Sintflut„Helden“ Atrah̬ asis verriet. – Die biblische Erzählung ist theologisch ausgerichtet: Sie betont penetrant, dass die zweite Menschheit in nichts besser sei als die erste, d.h. also permanent sintflutreif; sie tut dies aber nur, um die Selbstbindung und Selbsteinschränkung Gottes hervorzuheben, der künftig die „böse“ Menschheit zu ertragen bereit ist. Die Sintfluterzählung ist einer der alttestamentlichen Texte, die die Frage nach (für alle Zeiten) verbindlichen Gottesaussagen zu beantworten versucht. Die hier nur exemplarisch genannten Abgrenzungen nach außen liegen dem biblischen Gottes- und Menschenbild voraus, das die neutestamentlichen Texte prägt, wenn sie von Gottes Güte sprechen.
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Dieses Epos eignet sich aus zwei Gründen besonders zum Vergleich: 1) Es verbindet wie die biblische Urgeschichte Schöpfung und Sintflut miteinander, und es liegt 2) in zahlreichen Fassungen vor, die einen Zeitraum von 1½ Jahrtausenden abdecken, so dass es nahezu „kanonische“ Geltung besessen hat; vgl. W. G. LAMBERT/A. R. MILLARD, Atra-hʟasis. The Babylonian Story of the Flood, Oxford 1969.
1. Alttestamentliche Wissenschaft im Kontext der Theologie
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5. Die Notwendigkeit theologischer Abgrenzungen nach außen führte zwangsweise zur Frage der Verbindlichkeit von Gottesaussagen nach innen. Auch wenn es noch ein gutes Jahrhundert dauern sollte, bis die Tora (oder doch ihre wesentlichen Teile) unter Esra auch formell für das alttestamentliche Gottesvolk verbindlich wurde, liegen die Wurzeln des Kanons im Exil (vgl. z.B. Dtn 4,2; 13,1)8. Zuvor bestand ein Nebeneinander von Schriften sehr verschiedener Art: königliche Annalen, Rechtsbücher, Gesangbücher, liturgische Schriften, Weisheitssammlungen (s.u. Kap. 6). Ab jetzt wurde in strenger Auswahl, der etwa die zuvor genannten Worte der „falschen“ Propheten zum Opfer fielen, unterschieden zwischen Schriften, die für die Glaubensgemeinschaft des nachexilischen Israel konstitutiv, und anderen (staatlichen, didaktischen, liturgischen etc.), die für einen geordneten Alltag notwendig waren. Bekanntlich entstand der nachmalige Kanon verbindlicher Schriften, den die junge Kirche ganz selbstverständlich übernahm, in drei Stadien, die um mehr als ein Jahrhundert bzw. um Jahrhunderte auseinanderlagen: Tora – Propheten – restliche Schriften. Wesentlich für eine christliche Theologie erscheinen mir dabei vor allem zwei Tatbestände: 1) Von Anbeginn enthielt der entstehende Kanon jene sachlichen Spannungen, die sich in seiner doppelten Wirkungsgeschichte im Christentum und Judentum widerspiegeln, von der sogleich die Rede sein muss. Anfangs war es – innerhalb der Tora – die Spannung zwischen Texten, die das Leben der Israeliten rechtlich, gesellschaftlich und gottesdienstlich ordnen wollten, und solchen, die in Gestalt von Erzählungen die Themen der göttlichen Verheißung und Bewahrung in Not in den Mittelpunkt stellten. Erheblich verstärkt wurde die Spannung, als die Bücher der Tora und die prophetischen Schriften gemeinsam den gewachsenen Kanon bildeten. Die sog. Gerichtspropheten, deren Worte in vorexilischer Zeit von der Mehrzahl der Israeliten abgewiesen worden waren, wurden jetzt nicht nur zur entscheidenden Hilfe, um die Katastrophe des Exils zu verarbeiten, und damit breit rezipiert, sondern darüber hinaus im Kanon zu den gewichtigsten Interpreten der Tora9. Damit stießen die Forderungen der Tora einerseits und die kritische Anthropologie der Propheten sowie die Theozentrik ihrer Hoffnungsaussagen andererseits hart aufeinander10. 8
Vgl. dazu bes. CHR. DOHMEN/M. OEMING, Biblischer Kanon, warum und wozu? (QD 137), Freiburg/Basel/Wien 1992, 68ff. 9 Man vergleiche das Verhältnis von Tora und Propheten im üblichen Synagogengottesdienst: Ein Tora-Abschnitt gibt das Thema des Sabbats an, die Predigt erfolgt über eine Prophetenperikope. 10 Insofern gab es gewichtige Gründe für die Samaritaner, die Ausweitung des Kanons in der hellenistischen Zeit abzuweisen.
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Grundfragen einer Theologie des Alten Testaments
2) Im Blick auf die verschiedenen Formen des Kanons im palästinischen und im hellenistischen Judentum und ihre jeweilige Rezeption gilt es, zwischen einem Kern und Rändern des Kanons zu unterscheiden. Nur im Blick auf die letzteren ist die Rede von einem „offenen Kanon“ möglich, freilich – wie entsprechend auch im Fall des NT – auch legitim. Aber Tora, Propheten und Psalmen (Luk 24,27) waren in spät- und nach-alttestamentlicher Zeit in ihrer Verbindlichkeit nie strittig. Mit der Vorgegebenheit des Kanons, der für Christen ein Kanon aus AT und NT ist, in seiner spannungsreichen Vielstimmigkeit wird die Frage nach einer „Mitte“ der Schrift – aber auch schon nach einer „Mitte“ des alttestamentlichen Kanons – theologisch unabweisbar, um einer Beliebigkeit des Schriftgebrauchs zu wehren.
6. Der Reichtum der alttestamentlichen Texte zeigt sich auch im abgegrenzten Kanon in deren Vielgestaltigkeit. Das Alte Testament ist kein Buch, sondern bildet eine kleine Bibliothek in nuce. Es stehen königliche Annalen neben Liebesliedern, didaktische neben prophetischen Schriften, Rechtssammlungen neben liturgischen Büchern etc. Rudolf Smend hat im Anschluss an den großen israelischen Alttestamentler Isaak L. Seeligmann, der im Blick auf das Alte Testament die Geschichte als die „Denkform des Glaubens“ bestimmt hatte, von vier „Denkformen des Glaubens“ gesprochen: neben der Geschichte noch Kultus, Recht und Weisheit11. Diese Aufzählung müsste mindestens um die Prophetie als fünfte „Denkform“ ergänzt werden. Auf literarischer Ebene hatte der Philosoph P. Ricœur die Texte des Alten Testaments in sechs Grundformen der Rede eingeteilt: Erzählung und Prophetie einerseits, Gesetzgebung und Weisheit, Hymnus und Spruch andererseits, und hatte diesen Formen ganz spezifische Inhalte zugeordnet 12 . J. Høgenhaven hat entsprechend vorgeschlagen, als Gliederungsprinzip einer textorientierten Theologie des Alten Testaments die grundlegenden Gattungen von Weisheit und Psalmenliteratur, Erzählungsliteratur, Gesetz und Prophetie zu wählen13. Wie immer man zu dem zuletzt genannten Vorschlag stehen mag, so haben doch die genannten Autoren mit Recht darauf aufmerksam gemacht, dass die Schriftensammlung des Alten Testaments auf einigen prägenden Grundformen beruht, denen je spezifische Inhalte entsprechen. Diese Erkenntnis ist nicht neu, betrifft vielmehr das Neue Testament ganz entsprechend: Die Bot11 R. SMEND, Elemente alttestamentlichen Geschichtsdenkens (= ThSt 95, Zürich 1968), in: DERS., Die Mitte des Alten Testaments. Exegetische Studien, Tübingen 2002, 89f. 12 RICŒUR, Hermeneutik, a.a.O. (Anm. 2), 26–39. 13 J. HØGENHAVEN, Problems and Prospects of Old Testament Theology, Sheffield 1988.
1. Alttestamentliche Wissenschaft im Kontext der Theologie
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schaft der Evangelien und diejenige der (paulinischen) Briefe ist schon aus Formgründen nicht ohne weiteres miteinander vergleichbar. Dementsprechend greifen einheitliche Bestimmungen der Funktion des Alten Testaments als „Verheißung“ oder „Gesetz“ in der zurückliegenden hermeneutischen Diskussion prinzipiell zu kurz. Vielmehr bedarf das Neue Testament in seiner Kürze und in seinem geringeren Formenreichtum der Ergänzung der „Denkformen“ des Alten Testaments und der ihnen gemäßen Inhalte. Um noch einmal P. Ricœur zu zitieren: „Die Welt der Bibel hat kosmische Aspekte – sie ist Schöpfung; sie hat soziale Aspekte – sie handelt von einem Volk; sie hat historisch-kulturelle Aspekte – sie redet von Israel und der Gottesherrschaft; und sie hat personale Aspekte …“14. Für eine christliche Theologie übt die Formenvielfalt insofern eine kritische Funktion aus, als sie darauf verweist, ob Defizite eher im Bereich der Erfahrung, der Verbindlichkeit der Rede, der Aktualität, der Vereinseitigung der Tradition oder der gottesdienstlichen Praxis etc. vorherrschen.
7. Das Alte Testament hat eine doppelte Wirkungsgeschichte im Judentum und im Christentum. Dieses Merkmal ist ambivalent. Es zeigt zum einen, dass christliche Theologie sich notwendigerweise schon deshalb um die Auslegung der jüdischen Tradition mühen muss, weil diese Tradition ihr als ein Korrektiv dafür dienen kann, dass sie nicht wesentliche Aspekte ihrer Texte überliest. Es heißt zum anderen freilich auch, dass die Texte des AT von sich aus nicht zwangsweise und unstrittig ihre sachliche Fortsetzung im NT finden. Es muss also einen Streit um die bessere, d.h. konsequentere Auslegung des AT zwischen Judentum und Christentum geben. Stärker als beim NT muss die von Bultmann eingeforderte „Sachkritik“ beim AT praktiziert werden. Sie wird längst praktiziert, weithin freilich unbewusst. Das christlichjüdische Gespräch der letzten Jahrzehnte ist m.E. dort am fruchtbarsten gewesen, wo beide Seiten sich nicht nur über ihre wechselseitigen Lesegewohnheiten, also ihre Hermeneutik, Rechenschaft ablegten, sondern vor allem über die Auswahl ihrer Texte. Weder Judentum noch Christentum lesen in gleicher Intensität die Schriften des Alten Testaments, sondern Christen etwa lesen weit intensiver die prophetischen Schriften und die Psalmen als den Pentateuch, innerhalb des Pentateuchs weit mehr Genesis als besonders Levitikus und Numeri, kaum je Esther etc. Die Textauswahl ist eine Sachentscheidung, die sich sehr wohl theologisch begründen lässt (s.o. Kap. 5.), allerdings solcher Begründung auch dringend bedarf, um dem Vorwurf willkürlicher Einseitigkeit zu entgehen. Gleichzeitig freilich bedarf die Auswahl auch der kriti14
RICŒUR, Hermeneutik, a.a.O. (Anm. 2), 41.
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Grundfragen einer Theologie des Alten Testaments
schen Anfragen seitens eines Judentums, das anders auswählt und gerade darin der christlichen Theologie die Gefahren seiner eigenen Auswahl bewusst machen kann. Allzu lange hat die moderne christliche Theologie mit hermeneutischen Engführungen (wie etwa den schon genannten Verhältnisbestimmungen von AT und NT als „Gesetz und Evangelium“ bzw. „Verheißung und Erfüllung“) nur ein bruchstückhaftes Altes Testament zur Kenntnis genommen, das man nur als amputiert bezeichnen kann.
8. Natürlich muss eine alttestamentliche Theologie Rechenschaft insbesondere über ihr Verhältnis zur neutestamentlichen Theologie geben. Bei diesem Verhältnis kann es theologisch keine Gleichberechtigung geben. Die Differenzierung der altprotestantischen Dogmatik zwischen norma normans und norma normata behält ihr bleibendes Recht, d.h. das Alte Testament ist nur als eine auf das Neue Testament bezogene und von ihm her gelesene Textsammlung Teil der christlichen Bibel. Wohl aber hat das derart verstandene AT dann auch wieder gegenüber dem NT sein eigenes Wort zu sagen. Andernfalls wäre es letztlich entbehrlich. Dabei kommt einer alttestamentlichen Theologie auch die Funktion zu, die „spezifisch alttestamentliche Welterfahrung“15 zur Darstellung zu bringen, die der Einbettung der Texte in einen altorientalischen Vorstellungszusammenhang entspringt und damit einem Weltbild, das im NT am ehesten in den synoptischen Evangelien eine Entsprechung findet. Daneben gilt es, die „Strukturanalogien“ in der Gotteserfahrung zwischen Altem und Neuem Testament herauszuarbeiten, die zu einem vergleichbaren Welt- und Menschenverständnis geführt haben16. Sachlich sind mit dem eigenen Wort des AT Dimensionen angesprochen, die hier nur genannt, nicht ausgeführt werden können. Es gehört zu den Eigenarten des AT, dass in ihm „Israel“ und mit ihm kollektives Denken eine relativ zentralere Rolle spielt im Vergleich zu der aufs Ganze gesehen stärker individuellen Perspektive des NT; dass in ihm – schon aufgrund der Vielfalt seiner literarischen Gattungen – die Alltagsperspektive eine relativ größere 15 H. C. SCHMITT, Die Einheit der Schrift und die Mitte des Alten Testaments, in: Einfach von Gott reden (FS F. Mildenberger), hg. von J. Roloff/H. G. Ulrich, Stuttgart/Berlin/Köln 1994, 60. 16 Der Begriff stammt m.W. von C. H. RATSCHOW, Der angefochtene Glaube. Anfangsund Grundprobleme der Dogmatik, Gütersloh 1957, 72.78f. und ist vor allem von VON RAD, Theologie, a.a.O. (Anm. 4) in seinem Hauptteil III breit expliziert worden. Vgl. in neuerer Zeit bes. A. H. J. GUNNEWEG, Vom Verstehen des Alten Testaments (ATD. E. 5), Göttingen 1977, 178–180 und H.-D. PREUSS, Das Alte Testament in christlicher Predigt, Stuttgart/ Berlin/Köln 1984, 120–140.
1. Alttestamentliche Wissenschaft im Kontext der Theologie
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Rolle spielt als in der Mehrzahl der Texte des NT; dass die Kritik an bestehenden Institutionen (man denke an den Konflikt zwischen König und Prophet) breiteren Raum einnimmt; dass die Herbheit und Fremdheit von Gottesaussagen („Zorn“, „Rache“, „Reue“ etc.) schroff neben vertraute Gottesprädikationen tritt etc. Bei näherem Zusehen sind solche idealtypischen Umschreibungen allerdings von nur geringem Wert, weil bei dem realen Gespräch zwischen Altund Neutestamentlern die spannungsreiche Vielfalt der Einzelteile schon der je eigenen Disziplin eine Verständigung über das typisch Alttestamentliche und das typisch Neutestamentliche erheblich erschwert. Es gehört zu den Merkmalen des gegenwärtigen innerexegetischen Gesprächs, dass durch die differenzierte Wahrnehmung vielfach gewachsener Texte ein Konsens innerhalb der Einzeldisziplinen über das, was für sie zentral und unabdingbar ist, nur sehr mühsam, wenn überhaupt, herbeizuführen ist (man denke für die alttestamentliche Disziplin an die Diskussion über eine „Mitte“ des AT). Dennoch ist ein Ringen um eine solche Verständigung unaufgebbar, weil bei einem Verzicht auf sie das weiter reichende Projekt einer Biblischen Theologie in utopische Ferne rücken würde. Außerdem würden sich bei einem derartigen Verzicht beide exegetischen Fächer in die Richtung einer theologischen Bedeutungslosigkeit bewegen. Insofern ist für sie das Abwägen der höheren Wertigkeit einer historischen Differenzierung sowie komplexeren Wahrnehmung von Aussagen innerhalb der behandelten Texte einerseits und der notwendigen Zusammenschau dieser komplexen Sachverhalte um des Gesprächs mit den anderen Disziplinen willen andererseits eine stets neu zu vollziehende Pflicht17. Es gibt in der Tat in unseren Tagen eine nicht unerhebliche Gefahr der „Überspezialisierung“ der Exegeten18.
9. Nur noch angedeutet werden soll, dass die alttestamentliche Wissenschaft im Speziellen und die Exegese biblischer Texte im Generellen noch in einer weiteren Hinsicht Extreme zu vermeiden haben. Einerseits ist die historischkritische Fragestellung für sie unaufgebbar: als Erbe der Väter, angesichts der Fragestellungen der Gegenwart und vor allem im Blick auf die ausgelegten Texte selber, die eben eine Geschichte der Gotteserfahrungen widerspiegeln, 17
Vgl. dazu bes. H.-J. HERMISSON, Jesus Christus als externe Mitte des Alten Testaments, in: Jesus Christus als die Mitte der Schrift (FS O. Hofius [BZNW 86]), hg. von Chr. Landmesser/H.-J. Eckstein/H. Lichtenberger, Berlin 1997, 199–233. 18 Vgl. K.-W. NIEBUHR, Biblische Theologie evangelisch: Neutestamentliche Wissenschaft im Zusammenspiel der Theologie, in: I. U. Dalferth (Hg.), Eine Wissenschaft oder viele? Die Einheit evangelischer Theologie in der Sicht ihrer Disziplinen (ThLZ.F 17), Leipzig 2006, 23–46; 39.
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Grundfragen einer Theologie des Alten Testaments
die in den Ereignissen von Tod und Auferstehung Jesu gipfelt, aber eben bei der Schöpfung der Welt ansetzt. Andererseits ist sowohl im Gespräch der Disziplinen untereinander, noch mehr aber im Kontext des ökumenischen Dialogs eine wachsende Skepsis gegenüber der historisch-kritischen Forschung wahrzunehmen, die man ernst nehmen muss, weil auch sie gute theologische Gründe für sich anführen kann. Ich beschränke mich im Folgenden auf den zentralen Aspekt dieses Dilemmas. Einerseits hat die exegetische Forschung seit der Aufklärung gezeigt, wie ein historisch differenziertes Fragen Tiefendimensionen von Texten zutage gefördert hat, die ohne es nie entdeckt worden wären. Die jüngsten Stimmen im Buch des Propheten Jesaja etwa sind ein volles halbes Jahrtausend von dem historischen Propheten getrennt, den sie dennoch ihren Zeitgenossen nahebringen möchten; wer nichts von diesem historischen Abstand wüsste, könnte die Intention der Texte nicht mit der gleichen Präzision wahrnehmen. Andererseits hat die immer stärker differenzierte historische Fragestellung deutlich ans Licht gebracht, dass der höhere Grad der Differenzierung notwendigerweise auch einen höheren Grad an Hypothesenbildung impliziert19. Muss man aber systematisch zwischen Schrift und Evangelium unterscheiden, so gewiss noch stärker zwischen Schrift und Hypothesenbildung der Exegeten. So gehört es, gerade um des ökumenischen Gesprächs willen, zu den dringlichsten Aufgaben der Exegese, – nicht: auf die historisch-kritische Fragestellung zu verzichten, wohl aber – die alte Tugendregel der exegetischen Vorväter neu zu beherzigen, dass zwischen (relativ) Sicherem, Wahrscheinlichem und nur Möglichem in der Exegese sorgfältig unterschieden werden muss. Nur wenn sie beherzigt wird, haben die Texte eine Chance, sich gegen die Macht ihrer Interpreten durchzusetzen. Und nur wenn ihnen diese Chance eingeräumt wird, kann es zu dem Vorgang kommen, den I. U. Dalferth jüngst die „Selbstkommunikation des Evangeliums“ genannt hat20: die Möglichkeit, dass das Evangelium durch die Auslegung von Worten der Schrift Menschen lebensverändernd trifft.
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Noch vor drei Jahrzehnten gehörte die Frage nach der „Theologie des Jahwisten“ zum festen Prüfungskanon; inzwischen ist nicht nur die Datierung, sondern – teilweise – auch die Existenz des Jahwisten umstritten. 20 I. U. DALFERTH, Evangelische Theologie als Interpretationspraxis (ThLZ.F 11/12), Leipzig 2004, 110ff.
2. Neuere Entwürfe zu einer „Theologie des Alten Testaments“ Hans-Jürgen Hermisson zum 70. Geburtstag Vorbemerkung. In sehr verdienstvoller Weise hat H. Graf Reventlow 1982 die Diskussion um eine „Theologie des Alten Testaments“ im soeben abgelaufenen Jahrhundert in einem Band der Reihe „Erträge der Forschung“ breit dargestellt1. Wie sehr sich die Problemlage gegenüber den Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg verändert hat, wird etwa daran deutlich, dass der von Reventlow ins Zentrum gerückte Problemkreis von Geschichte, Heilsgeschichte und Offenbarung, der letztlich auf die gewichtigen Anstöße der Theologie G. von Rads zurückging, gegenwärtig so gut wie keine Rolle mehr spielt. Reventlows Darstellung soll im Folgenden nicht wiederholt werden, sondern ist vorausgesetzt. Entsprechendes gilt auch, aber nicht so konsequent, von der Sammelbesprechung der Entwürfe von Childs, Gunneweg, Kaiser und Preuß durch Walter Dietrich in seinem Aufsatz „Wer Gott ist und was er will. Neue ,Theologien des Alten Testaments‘“2; denn Dietrich hatte zwar die Bücher von Gunneweg und Preuß abgeschlossen vorliegen, die daher nur kurz gestreift werden (auch weil ihnen m.E. nicht das gleiche Gewicht zukommt wie den ausführlich besprochenen Werken); Dietrich kannte aber noch nicht den 2. Band von O. Kaiser und noch nicht die Bände R. Rendtorffs, die, weil sie eng auf den Entwurf von Childs bezogen sind, eine genauere Behandlung der Bücher von Childs erfordern, von denen Dietrich auch nur das zuletzt erschienene bespricht.
Wie sehr das Interesse der Exegeten an der zusammenfassenden Disziplin „Theologie des AT“ (und an einer die Testamente übergreifenden „Biblischen Theologie“) in den letzten beiden Jahrzehnten gewachsen ist, zeigt sich neben den zahlreichen Neuerscheinungen an der Gründung eines „Jahrbuches für Biblische Theologie“, das seit 1986, auf Schwerpunktthemen konzentriert, regelmäßig erscheint (Bd. 1: „Einheit und Vielheit biblischer Theologie“). Trotz des bewusst provokativen Aufsatzes „Religionsgeschichte Israels statt Theologie des Alten Testaments“ von R. Albertz3, von dem später noch die 1 Vgl. auch den kurz danach erschienen Folgeband H. GRAF REVENTLOW, Hauptprobleme der Biblischen Theologie im 20. Jahrhundert (EdF 203), Darmstadt 1983 sowie REVENTLOWs Besprechung späterer Werke in ThR 52 (1987) 221–267 und ThR 61 (1996) 48–102.123– 176. 2 EvTh 56 (1996) 258–285. 3 In der vorliegenden Besprechung beziehe ich mich auf folgende Arbeiten, die in den Anmerkungen abgekürzt zitiert werden: R. ALBERTZ, Religionsgeschichte Israels statt Theologie des Alten Testaments! Plädoyer für eine forschungsgeschichtliche Umorientierung, in: I. Baldermann/E. Dassmann/O. Fuchs u.a. (Hg.), Religionsgeschichte Israels oder Theologie des Alten Testaments? (JBTh 10), Neukirchen-Vluyn 1995, 3–24; B. W. ANDERSON, Contours of Old Testament Theology, Minneapolis 1999; J. BARR, The Concept of Biblical The-
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Grundfragen einer Theologie des Alten Testaments
Rede sein muss, in Bd. 10 des JBTh besteht unter den Alttestamentlern der Gegenwart Einverständnis darüber, dass die Disziplin einer „Theologie des AT“, die eine Zusammenschau der theologisch zentralen Aussagen des Alten Testaments bieten möchte, notwendig und durch nichts zu ersetzen ist, freilich zugleich mit einer Fülle von Problemen belastet ist. Allein schon die Frage nach den Kriterien einer Auswahl der Texte setzt eine Vielzahl von Vorentscheidungen voraus. Zwar übertreibt W. Brueggemann, wenn er behauptet, ology. An Old Testament Perspective, London 1999; W. BRUEGGEMANN, Theology of the Old Testament. Testimony, Dispute, Advocacy, Minneapolis 1997; B. S. CHILDS, Old Testament Theology in a Canonical Context, London 1985; DERS., Die Theologie der einen Bibel I: Grundstrukturen, Freiburg 1994; DERS., Die Theologie der einen Bibel II: Hauptthemen, Freiburg 1996; W. DIETRICH/C. LINK, Die dunklen Seiten Gottes I: Willkür und Gewalt, Neukirchen-Vluyn 21997; DIES., Die dunklen Seiten Gottes II: Allmacht und Ohnmacht, Neukirchen-Vluyn 2000; E. S. GERSTENBERGER, Theologien im Alten Testament. Pluralismus und Synkretismus alttestamentlichen Gottesglaubens, Stuttgart 2001. W. GROSS, Zorn Gottes – ein biblisches Theologumenon: W. Beinert (Hg.), Gott – ratlos vor dem Bösen? (QD 177), Freiburg 1999, 47–85; A. H. J. GUNNEWEG, Biblische Theologie des Alten Testaments. Eine Religionsgeschichte Israels in biblisch-theologischer Sicht, Stuttgart 1993; H.-J. HERMISSON, Alttestamentliche Theologie und Religionsgeschichte Israel (ThLZ.F 3), Leipzig 2000; P. R. House, Old Testament Theology, Downers Grove/Ill. 1998; B. JANOWSKI/N. LOHFINK (Hg.), Religionsgeschichte Israels oder Theologie des Alten Testaments? (JBTh 10), Neukirchen-Vluyn ²2001; O. KAISER, Der Gott des Alten Testaments. Theologie des Alten Testaments I: Grundlegung, Göttingen 1993; DERS., Der Gott des Alten Testaments. Theologie des Alten Testaments II: Jahwe, der Gott Israels, Schöpfer der Welt und des Menschen, Göttingen 1998; T. N. METTINGER, In Search of God. The Meaning and Message of the Everlasting Names, Philadelphia 1998; P. D. MILLER, Israelite Religion and Biblical Theology. Collected Essays (JSOT.S 267), Sheffield 2000; J. MOTTE, Biblische Theologie nach Walther Zimmerli (EHS XXIII 521), Frankfurt/M. 1994; H. D. PREUSS, Theologie des Alten Testaments I: JHWHs erwählendes und verpflichtendes Handeln, Stuttgart 1991; DERS., Theologie des Alten Testaments II: Israels Weg mit JHWH, Stuttgart 1992; H. RÄISÄNEN, Neutestamentliche Theologien? Eine religionswissenschaftliche Alternative (SBS 186), Stuttgart 2000; R. RENDTORFF, Theologie des Alten Testaments. Ein kanonischer Entwurf I: Kanonische Grundlegung, Neukirchen-Vluyn 1999; DERS., Theologie des Alten Testaments. Ein kanonischer Entwurf II: Thematische Entfaltung, Neukirchen-Vluyn 2001; H. GRAF REVENTLOW, Hauptprobleme der alttestamentlichen Theologie im 20. Jahrhundert (EdF 173), Darmstadt 1982; W. H. SCHMIDT, „Theologie des Alten Testaments“ vor und nach Gerhard von Rad, VF 17 (1972) 1–25; DERS., Alttestamentlicher Glaube, Neukirchen-Vluyn 81996; H.-CHR. SCHMITT, Religionsgeschichte Israels oder Theologie des Alten Testaments?, in: Von Gott reden (FS S. Wagner), hg. von D. Vieweger/H.-J. Waschke, Neukirchen-Vluyn 1995, 45–64; L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, Einheit und Vielheit. Gibt es eine sinnvolle Suche nach der Mitte des Alten Testaments?, in: F.-L. Hossfeld (Hg.), Wieviel Systematik erlaubt die Schrift? Auf der Suche nach einer gesamtbiblischen Theologie (QD 185), Freiburg 2001, 48– 87; R. SMEND, Die Mitte des Alten Testaments. Exegetische Aufsätze, Tübingen 2002; J. SCHREINER, Theologie des Alten Testaments (NEB Erg. 1), Würzburg 1995; S. TERRIEN, The Elusive Presence. Toward a New Biblical Theology (Religious Perspectives 26), San Francisco 1983; D. VIEWEGER/E.-J. WASCHKE (Hg.), Von Gott reden. Beiträge zur Theologie und Exegese des Alten Testaments (FS S. Wagner), Neukirchen-Vluyn 1995.
2. Neuere Entwürfe zu einer „Theologie des Alten Testaments“
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der Entwurf eines umfassenden Gottesbildes im AT sei erst Sache seiner Leser, noch nicht diejenige der Zeugen selbst, die vielmehr nur für Detailaussagen Verantwortung trügen (267f.); denn je jünger die Texte im AT sind, desto mehr zeigen sie Ansätze zu einer Systematisierung bzw. beziehen sie sich auf vorliegende ältere Texte zurück und entwickeln auf diese Weise ein immer komplexeres, weil Erfahrungen verschiedenster Art aufgreifendes Gottesverständnis. Diese späteren Texte sind – das ist mir persönlich höchst wichtig – selber schon auf dem Weg zu einer Theologie. Aber Brueggemann ist mit seinem Hinweis insofern natürlich im Recht, als eine Darstellung der Gottesaussagen des AT insgesamt noch nicht Sache der Texte selber, sondern erst Aufgabe der nachgeborenen Leser und Theologen ist. Ein Indiz für die Schwierigkeit der Aufgabe ist auch die skeptische Zurückhaltung der Mehrzahl der jüdischen Exegeten gegenüber einem solchen Unternehmen, die – im Blick auf die eigene Tradition einer Auslegung der Texte in Form von Midraschim – keineswegs zufällig ist, so gewiss es in jüngster Zeit auch (sogleich zu nennende) bemerkenswerte Ausnahmen gibt. Umgekehrt ist für Christen, die in ihrer Lektüre des AT vom NT herkommen, eine solche Zusammenschau unumgänglich, obwohl es verwunderlich ist, dass die ganz überwiegende Zahl der vorgelegten „Theologien des AT“ aus der Feder von Protestanten stammt. Mit wie vielen Problemen das Unternehmen einer „Theologie des AT“ belastet ist, hat jüngst J. Barr seinen Lesern vor Augen gestellt; er schreibt selber keine Theologie, sondern will die vielfältigen Sachentscheidungen, die mit dieser Disziplin gegeben sind, bewusst machen. (Wenn er von „biblical theology“ spricht, meint er die „Theologie des AT“; eine Theologie der ganzen Bibel heißt für ihn „pan-biblical theology“, und ihr gegenüber ist Barr aus methodischen Gründen höchst skeptisch: 222–239). Trotz seiner mehr als 700 Seiten ist das kluge Buch ohne ermüdende Längen sehr anregend und gut lesbar geschrieben. Barr versteht sich selber dezidiert als Theologe und will durchaus Mut zu dem Vorhaben einer Theologie machen, zugleich aber dessen hohen Schwierigkeitsgrad aufzeigen. Dazu schärft er eine Reihe von Abgrenzungen ein, unter denen mir die folgenden als besonders hilfreich erscheinen: 1. Eine Theologie des AT ist zwar – im Unterschied zur dogmatischen Theologie – ein primär deskriptives Unterfangen, aber sie hat es 2. – im Unterschied zur primär philologisch ausgerichteten Einzelexegese – mit dem AT „as a composite and yet unitary ,witness‘ to ultimate theological truth“ zu tun (7), was sie also der dogmatischen Theologie wieder annähert. Zudem fragt sie 3. im Gegenüber zur wesenhaft historisch ausgerichteten, auf Vergleichen fußenden und evolutionistischen Religionsgeschichte nach der Besonderheit und vor allem nach der Konstanz des alttestamentlichen Glaubens. Dabei ist die letztgenannte Unterscheidung freilich, wie auch Barr selber weiß, unschärfer als die erstgenannten.
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Grundfragen einer Theologie des Alten Testaments
Was die strittige Frage eines Aufbaus und einer Anordnung einer Theologie des AT betrifft, so unterscheidet Barr fünf klassische Grundtypen und verbindet sie exemplarisch mit den Namen Ludwig Köhler (er steht für ein bewusst von außen angelegtes, von der Dogmatik entlehntes Schema: Theologie – Anthropologie – Soteriologie), Walter Eichrodt (er steht für eine Theologie des AT als Synthese, die um ein in den Texten – explizit oder implizit – vorhandenes Zentrum, bei Eichrodt um den Bundesgedanken, entworfen wird), Th. C. Vriezen (dezidiert kirchlicher Entwurf, orientiert an einem Offenbarungsbegriff, für den das NT der kritische Maßstab ist), Gerhard von Rad (traditionsgeschichtlicher Ansatz als Nacherzählung der theologischen Überlieferungen Israels und deren Aktualisierungen) und Brevard S. Childs (Orientierung der Theologie allein am Endtext als heiliger Schrift der Kirche: „kanonischer Zugang“). Auf diese Typologisierung, die mir nur im Falle von Th. C. Vriezen nicht sehr gelungen zu sein scheint, werde ich im Folgenden zurückkommen, weil sich an ihr die Akzentverschiebungen in der gegenwärtigen Diskussion gut verdeutlichen lassen. Im Hauptteil seines Buches grenzt Barr eine Theologie des AT von systematischer Theologie ab (im Unterschied zu letzterer fragt sie nach der im AT selbst enthaltenen bzw. implizierten Theologie) und verteidigt dabei entschieden die historisch-kritische Methode in ihrer Frage nach Entstehung und Absicht der Texte als ein theologisches Unterfangen. Dann folgt – im scheinbaren Gegenschlag – eine Abgrenzung der „Theologie des AT“ von einer „Religionsgeschichte Israels“ (85–139), auf die noch zurückzukommen ist (u. Teil 7), weiter eine Reflexion über die Notwendigkeit, Rechenschaft über die philosophischen Voraussetzungen zu liefern, und eine Abweisung der Behauptung eines spezifisch biblischen Denkens, das sich als solches sprachlich nachweisen ließe – ein Lieblingsthema von Barr –, sowie Überlegungen zum Verhältnis AT – NT und zur Frage von Werturteilen in einer „Theologie des AT“. Besonders verdienstvoll ist, dass Barr in der 2. Hälfte seines Buches ausführlich behutsame neuere Versuche jüdischer Autoren schildert, sich bei aller grundsätzlichen Skepsis dem Unternehmen einer „Theologie“ zu nähern (Tsevat, Levenson, Goshen-Gottstein, Sweeney, 286ff.). Zuletzt geht er auch auf einige der hier zu besprechenden neueren Entwürfe ein, wobei er M. Oemings Diskussion gesamtbiblischer Theologien und F. Mildenbergers Biblische Dogmatik einbezieht4. Sein Interesse ist dabei u.a., englische Leser mit deutscher Forschung vertraut zu machen, wobei sein Buch durchaus auch für die umgekehrte Notwendigkeit der Information nützlich ist.
4 M. OEMING, Gesamtbiblische Theologien der Gegenwart, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz ²1985 (Zürich ³2001 unter dem Titel: Das Alte Testament als Teil des christlichen Kanons?); F. MILDENBERGER, Biblische Dogmatik. Eine Biblische Theologie in dogmatischer Perspektive, 3 Bde, Stuttgart/Berlin/Köln 1991–1993.
2. Neuere Entwürfe zu einer „Theologie des Alten Testaments“
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1. Der Streit um den Aufbau einer „Theologie des AT“ Um die gegenwärtige Situation der Diskussion um eine angemessene „Theologie des AT“, wie sie Barr präzise beschrieben hat, voll zu verstehen, ist ein kurzer Rückblick auf die Genese dieser Lage nötig. Dabei mögen die von Barr gewählten Repräsentanten der 4 (bzw. 5) Grundtypen eines Aufbaus der Theologie als Leitlinie dienen. Es zeigt sich bei näherem Zusehen, dass diese Typen sich darin grundlegend voneinander unterscheiden, dass nur die ersten beiden, mit den Namen L. Köhler und W. Eichrodt verbundenen zeitgleich nebeneinander publiziert wurden, die folgenden Werke dagegen die jeweils vorangehende Theologie ablösen und überbieten wollten. L. Köhlers immer noch lesenswerte „Theologie des AT“ erschien im gleichen Jahr (1933) wie der erste der drei Bände W. Eichrodts; beide „Theologien“ liegen dementsprechend auch sehr viel näher beieinander als die späteren Werke G. von Rads und B. S. Childs’. Beide Erstgenannte sind geprägt von dem Umbruch, der sich in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts vollzog, als die einseitige Bevorzugung einer distanziert darstellenden Religionsgeschichte als Bündelung der vielfältigen Texte des AT aufgebrochen wurde zugunsten eines Nebeneinanders von Religionsgeschichte Israels und Theologie des AT. Anders als in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jh.s lag die eigentliche Leidenschaft der Exegeten, die ihre Disziplin zusammenfassend darstellen wollten, jetzt nicht bei der historischen Rekonstruktion, sondern bei der Konzentration auf das theologisch Wesentliche und Ertragreiche in den Texten. In gewisser Weise kann dieser Neuaufbruch die Geburtsstunde der „Theologie des AT“ als selbständiger Disziplin genannt werden, weil Exegeten erstmals wieder seit J. Ph. Gablers berühmter „Rede über die rechte Unterscheidung biblischer und dogmatischer Theologie“ von 1787 selbstbewusst und frei von der Angst vor Überfremdung mit den Themen der systematischen Theologie umgingen. Dass man in einer solchen Situation für einen Aufbau der „Theologie des AT“ bei der Systematik in die Schule ging, kann nicht verwundern. Bei genauerer Betrachtung liegen die Entwürfe Köhlers und Eichrodts auch weit näher beieinander, als Barr sie schildert. So gewiss Eichrodt mit dem Vorschlag, die Darstellung der „Theologie des AT“ um ein im AT selber entdecktes Zentrum, die Bundesvorstellung, zu gruppieren, Schule gemacht hat und eine ungleich größere Wirkung als Köhler erzielt hat, so gewiss zeigen doch schon die Untertitel seiner drei Bände: „Gott und Volk“, „Gott und Welt“, „Gott und Mensch“, dass Eichrodt von einem systematischen Interesse geleitet war, das nicht allzu weit von demjenigen Köhlers entfernt war. Erst das epochale zweibändige Werk G. von Rads von 1957 und 1960 brach grundsätzlich mit beidem: sowohl mit den der Systematik entnomme-
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Grundfragen einer Theologie des Alten Testaments
nen Aufbauschemata Köhlers und Eichrodts als auch mit der Suche nach einer Grundidee bzw. Grundüberzeugung im AT, die dessen Einheit repräsentieren könnte, wie Eichrodt sie in der Bundesvorstellung fand und wie sie in der Folgezeit unter dem Begriff der „Mitte“ diskutiert wurde. Nach von Rad besitzt das AT keine Mitte; vielmehr bezeugt es unterschiedliche Geschichtserfahrungen Israels, die auf verschiedene Offenbarungsereignisse bezogen sind. Eine von diesen Erfahrungen abstrahierende „Gedankenwelt“ würde sich in einen völlig anderen Raum als das alttestamentliche Zeugnis begeben, dessen adäquate Form der Annäherung von daher die „Nacherzählung“ ist. Als Folge dieses Ansatzes ergibt sich eine erheblich genauere und facettenreichere Darstellung einer Theologie des Hexateuch, einer Theologie der Davidtradition in den Geschichtsbüchern, einer Theologie der Psalmen und der Weisheit als „Antwort Israels“ und schließlich (in Band 2) einer Theologie der „prophetischen Überlieferungen Israels“. Dieser ganz und gar neuartige Entwurf, der erkennbar darum bemüht war, Kategorien von außen abzuwehren und den biblischen Texten bzw. den sie übergreifenden „Überlieferungen“ selber das Wort zu geben, hat bis heute nicht weniger als zehn Auflagen erlebt und in der Folgezeit die Diskussion um eine „Theologie des AT“ entscheidend geprägt. Mit gutem Recht hat vor drei Jahrzehnten W. H. Schmidt seinen vorzüglichen und nach wie vor sehr instruktiven Beitrag zu VF 17 (1972) „,Theologie des Alten Testaments‘ vor und nach Gerhard von Rad“ genannt und dabei die Konzeption von Rads, an die er durchaus auch kritische Fragen richtete, als Höhepunkt der Diskussion um die Gestaltung einer „Theologie des AT“ dargestellt. Vergleichbar hatte ein Jahrzehnt später M. Oeming in seiner schon genannten Dissertation „Gesamtbiblische Theologien der Gegenwart“ (1985) für die Druckfassung als Untertitel gewählt „Das Verhältnis von AT und NT in der hermeneutischen Diskussion seit Gerhard von Rad“, weil er die im Hauptteil seines Buches dargestellten gesamtbiblischen Entwürfe samt und sonders schon bei G. von Rad angelegt fand. Umso mehr erstaunt die Tatsache, dass v. Rads Theologie – mit einer bemerkenswerten Ausnahme – keine Nachfolger gefunden hat und die Diskussion ab den 80er, spätestens aber ab den 90er Jahren relativ schnell über ihn hinweggegangen ist5. Bei der angedeuteten Ausnahme handelt es sich um die wichtige, leider in Deutschland kaum rezipierte Theologie von S. Terrien, der seinen Entwurf als Etappe zum Ziel einer ökumenischen Theologie der ganzen Bibel versteht. Anders als von Rad mit seiner Leugnung einer
5
Bemerkenswert ist, dass H. SPIECKERMANN seinen soeben erschienenen Artikel „Theologie II/1.1 Altes Testament“ (TRE 33 [2002] 264–268) ganz im Sinne von Rads traditionsgeschichtlich gliedert: „1. Theologie der Heilsgeschichte; 2. Theologie der Prophetie; 3. Theologie der Heilsgegenwart [gemeint sind die Psalmen]; 4. Theologie der Weisheit; 5. Theologie der Apokalyptik“.
2. Neuere Entwürfe zu einer „Theologie des Alten Testaments“
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„Mitte“ des AT wählt Terrien als Grundgedanken seines Aufrisses die Dialektik von Anwesenheit und Verborgenheit Gottes und verfolgt sie dann aber ähnlich wie von Rad in einer traditionsgeschichtlichen Gliederung von den Gotteserfahrungen der Erzväter über die Sinaioffenbarung, die Gegenwart Gottes auf der Lade, im Zelt der Begegnung und im Tempel, weiter in den prophetischen Visionen, in den Gebeten des Psalters, im „Spiel“ der Weisheit (sein eigener Forschungsschwerpunkt), in der erwarteten Endzeit und schließlich im Wort Gottes, in seinem Namen und in seiner Herrlichkeit. Terrien ist wie von Rad Ästhet und verbindet sein feines Gespür für Texte mit der Suche nach einer biblischen Spiritualität. In meinem Urteil: ein überaus lesenswertes Buch, das hier nur deshalb so kurz besprochen wird, weil sein Erscheinen schon über zwei Jahrzehnte zurückliegt.
Fragt man, warum die neueren Entwürfe einer „Theologie des AT“ sich so weit von v. Rad entfernt haben, so gibt es gewiss verschiedene Gründe zu nennen. Einerseits wurden gewisse Schwächen und Einseitigkeiten seines Aufrisses intensiv diskutiert. Zu den Schwächen wäre etwa die Position der Weisheit unter der „Antwort Israels“ zu rechnen, die von Rad später selber durch sein bedeutendes Weisheitsbuch („Weisheit in Israel“, Neukirchen 1970) revoziert hat. Zu den Einseitigkeiten gehört die Hervorhebung der Geschichtsdimension im Zeugnis Israels, die Barr (34) nicht ohne Recht seine „central category“, also die verborgene „Mitte“ nennt, so gewiss von Rad die Gefahren seiner Vorgänger (und Nachfolger) vermeidet, eine von der Geschichte abgehobene abstrakte „Gedankenwelt“ Israels zu erheben. Weiter hatte die jüngere Forschung manche der Fundamente, auf denen von Rads Theologie fußte, widerlegt oder doch in Frage gestellt. Widerlegt hatte sie etwa von Rads Vorstellung, das große Werk des Hexateuchs sei die erzählerische Ausgestaltung gottesdienstlicher Bekenntnisformulierungen nach Art des „kleinen geschichtlichen Credo“ von Dtn 26,5ff., da sich erwies, dass diese Bekenntnisse Zusammenfassungen einer schon vorliegenden Hexateucherzählung waren. In Frage gestellt hatte sie etwa die Annahme der Existenz Israels als eines frühen sakralen Stämmebundes („Amphiktyonie“, M. Noth) und die Annahme eines umfassenden Erzählfadens J aus salomonischer Zeit. Hinzu kam, dass von Rads Weggefährte und Gesprächspartner W. Zimmerli beharrlich an von Rad die Frage stellte, ob eine „Theologie“ nicht „in stärkerem Maße das Wagnis des Zusammen-Denkens vollziehen“ müsse, und ob von Rad „dem Geschäft der Sonderung … schon mit gleichem Nachdruck die … ebenso gebotene Nachfrage nach dem inneren Recht der Verbindung der Traditionsströme“ habe folgen lassen6. Freilich konnte Zimmerli so nur fragen, weil er selber überzeugt war, dass das AT eine „Mitte“ habe, nämlich den Namen Jahwes als Symbol seiner „Selbigkeit“. 6
Vgl. ZIMMERLIs Rezension der Theologie von Rads in VT 13 (1963) 100–111; 105 (1. Zitat) bzw. seinen Aufsatz „Alttestamentliche Traditionsgeschichte und Theologie“, in: Probleme biblischer Theologie (FS G. v. Rad), hg. von H. W. Wolff, München 1971, 632– 647; Abdruck in: DERS., Studien zur alttestamentlichen Theologie und Prophetie (TB 51), München 1974, 9–26; 11 (2. Zitat).
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Grundfragen einer Theologie des Alten Testaments
Zimmerli selbst hat 1972 einen „Grundriss der alttestamentlichen Theologie“ vorgelegt, nach dem bis heute die Mehrzahl der Studenten ihr Examen bestritten hat, weil er kürzer, preiswerter und für sie auch leichter verständlich war als die Theologie von Rads. Freilich hat Zimmerli selber den als Lehrbuch konzipierten „Grundriss“ nie als „Theologie“ im Vollsinn verstanden, hatte vielmehr eine solche Theologie als Alterswerk schreiben wollen, was ihm nicht mehr vergönnt war. Daher ist es sehr zu begrüßen, dass J. Motte in seiner Wuppertaler systematischen Dissertation die Theologie Zimmerlis aus seinen gesamten Schriften erhoben hat. Ausgehend von Zimmerlis Bestimmung der „Mitte“ des AT im Namen Jahwes und endend bei vielfältigen Stellungnahmen zur Israel-Frage werden schwerpunktmäßig Zimmerlis Auseinandersetzungen um die Bedeutung des Wortes Gottes dargestellt: einerseits mit R. Rendtorffs früherem Verständnis von „Offenbarung als Geschichte“, andererseits mit A. H. J. Gunnewegs Gestalt einer existentialen Interpretation und schließlich mit H. Geses Verständnis eines kontinuierlichen Traditionsprozesses und B. S. Childs’ (noch genauer darzustellenden) „canonical approach“. Im weiteren Verlauf werden die Differenzen zwischen Zimmerli und von Rad in der Sicht der Prophetie thematisiert sowie die „Dialektik von Freiheit und Treue“ als Basiselement für Zimmerlis Gottesverständnis erhoben und schließlich seine Ansätze zu einer gesamtbiblischen Theologie dargestellt.
Die Abkehr von v. Rads – in meinen Augen: großartigem und bis heute unüberholtem – Entwurf einer „Theologie des AT“ vollzog sich in den (80er und) 90er Jahren auf verschiedenen Ebenen: durch den bewusst gegen von Rad gerichteten „kanonischen“ Ansatz von Childs, durch die Rückkehr zu systematischen Aufrissen, durch den Vorschlag einer „postmodernen“ Theologie und zuletzt durch die Wieder-Annäherung an (Eichrodt und) von Rad in einem Aufriss, der verschiedene Entwürfe miteinander kombiniert. Diese Gegenentwürfe gilt es im Folgenden darzustellen.
2. Der „kanonische“ Ansatz Der kräftigste Gegenschlag gegen eine Theologie, die unterschiedliche Traditionsströme zu ihrem Gliederungsprinzip wählte, und zugleich gegen eine Exegese, die sich immer mehr ausdifferenzierte und selbst für den Fachmann immer unüberschaubarer wurde, kam aus den USA und verband sich dort vornehmlich mit dem Namen B. S. Childs. Mit deutscher exegetischer Tradition bestens vertraut – er hatte seine Promotion in Basel unter W. Baumgartner abgeschlossen –, aber zunächst ganz auf die theologische Diskussion seines eigenen Landes fixiert, hatte er schon 1970 in seinem Buch „Biblical Theology in Crisis“ angesichts des Endes des sog. „Biblical Theology Movement“ in den USA versucht, eine neue biblische Theologie für die Bedürfnisse der Kirche zu skizzieren, die auf einer „Exegese im Kontext des Kanons“ fußen sollte. An Beispielen wie Ps 8, Ex 2 und Spr 7 hatte er aufzuweisen versucht, wie einzelne Texte im Rahmen umfassenderer Zusammenhänge innerhalb des Kanons neue Bedeutungen und Funktionen gewinnen können, wobei die jüngeren Deutungen gegenüber den älteren einen größeren Reich-
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tum und eine größere Vielfalt besitzen. Nur vier Jahre später hatte Childs in einem ausführlichen Exodus-Kommentar in der Reihe „Old Testament Library“ seine exegetischen Prinzipien an einem gewichtigen, vielschichtigen Buch des AT demonstrieren wollen. Aber erst weitere fünf Jahre später wurden diese Prinzipien auch in Europa breit – und jetzt höchst leidenschaftlich und kontrovers – diskutiert7, als Childs 1979 seine „Introduction to the Old Testament as Scripture“ publizierte und sein Anliegen zuspitzte. Es geht Childs entscheidend darum, das AT wieder als „Schrift“ zu entdecken, die einer Gemeinde als Grundlage ihres Glaubens und Gottesdienstes diente und dient. Der Exeget hat demnach entscheidend „the canonical shape“, also die „Kanongestalt“ der einzelnen Bücher und Texte auszulegen, weil die Bücher und Texte in dieser Gestalt von den Gemeinden gebraucht wurden. Wenn Childs vom „Kanon“ redet, meint er nicht das Ergebnis eines bestimmten Aktes der Kanonisierung, einer Beschlussfassung von Gremien, sondern den Umgang der Gemeinde mit den für sie verbindlichen Schriften. An unterschiedlichen Gestalten des Kanons ist er nicht interessiert; „Kanongestalt“ und „Endgestalt“ der Texte werden mehr oder weniger identisch verwendet. Aber er möchte in der „Kanongestalt“ des Textes den „canonical process“ wahrnehmen, also die Tiefendimension der Texte in Gestalt ihres allmählichen Wachstums nicht übersehen. Stärker als dies wird freilich die Angst vor jeder Art von „Subjektivismus“ erkennbar. In seiner Auseinandersetzung mit W. Zimmerlis großem Ezechiel-Kommentar beurteilt Childs Zimmerlis Einteilung der Texte in verschiedene Schichten (bei grundsätzlicher Zustimmung zur Suche nach einem Textwachstum) so: „As a result, his basic interpretation rests on the same precarious subjective basis as does all such critical reconstructions“ (369f.). Die Sehnsucht und Suche nach objektiven Fundamenten der Exegese wird deutlich erkennbar. Aber gibt es sie wirklich, und wie weit reichen sie? Wo ist Traditionswachstum, an dem Childs stark interessiert ist, ohne „subjective basis“ zu erheben? Der Ansatz von Childs, der – trotz unterschiedlicher Intention – von dem gewichtigsten Vertreter des „canonical approach“ in Deutschland, R. Rendtorff, in den wesentlichen Merkmalen geteilt wird, hat bedeutende Konsequenzen, die den sogleich näher zu betrachtenden theologischen Entwürfen zugrunde liegen. Ich nenne aus der Diskussion um Childs’ „Introduction“ nur die drei m.E. wichtigsten: 1) Scheinbar ist mit der „Kanongestalt“ des Textes eine sichere Ausgangsbasis für die Exegese erreicht. Aber dieser Eindruck trügt. Aus den Textfunden der Gemeinde von Qumran wissen wir, dass für manche biblischen Bücher – berühmteste Beispiele sind die Samuelbücher und das Jeremiabuch – in vorchristlicher Zeit unterschiedliche Fassungen im Umlauf waren, die kürzere 7 Zwei Zeitschriften-Hefte wurden ganz oder teilweise der Diskussion gewidmet, bei der auch jeweils Childs selbst zu Wort kam: JSOT 16 (1980) und HBT 2 (1980).
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und längere Buchausgaben betrafen oder aber jene Interpretationsdifferenzen enthielten, die die hebräische und die – später vor allem von den Christen gelesene – griechische Fassung voneinander unterschieden. Die Mammutwerke der Tetrapla und Hexapla des Origines wären nicht notwendig gewesen, wenn es nicht gravierende Verständnisdifferenzen schon in der überlieferten Gestalt der Texte selber gegeben hätte. Der Exeget ist bei jedem Text von allem Anfang an in der Not, wahrscheinliche von weniger wahrscheinlichen Deutungen unterscheiden zu müssen. 2) Die Vorstellung, dass das theologische Verständnis mit jeder neuen Stufe der Textentwicklung nur immer reicher geworden sei, ist zu einfach. Es gibt auch Deutungsverluste; die Frage nach dem Reichtum und der Armut eines Textes ist eine theologische Sachfrage und nicht einfach mit der Textentwicklung als solcher gegeben. Um das Problem an zwei Beispielen deutlich zu machen: Die großartigen theologischen Entwürfe einerseits der Priesterschrift und andererseits Deuterojesajas kann ein „canonical approach“ nur noch in Ansätzen und rudimentär würdigen, da beide Entwürfe im „canonical process“ in größere und komplexere Einheiten eingegangen sind, in den Pentateuch bzw. in das Großjesajabuch als Ganzheit. Faktisch würdigt Childs im Entwurf seiner Theologie beide großen theologischen Konzepte auch weiterhin, allerdings nicht in ihrem Zusammenhang, sondern bei Themen (wie etwa der Schöpfung) oder in seiner „Introduction“ bei Teilbüchern wie etwa der Genesis. Rendtorff ist diesen Weg noch weiter gegangen, indem er schon den Begriff „Priesterschrift“ vermeidet und allenfalls von „zwei Schöpfungsberichten“ redet. Um es schärfer auszudrücken: Die Vorstellung, ein kanonischer Ansatz der Interpretation würde den Exegeten davor bewahren, theologische Sach- und Werturteile treffen zu müssen, erscheint mir irrig. Dies gilt, obwohl Childs wiederholt betont hat, er wolle nicht den Endtext als solchen auslegen, sondern den Endtext als Spiegelung des ihm vorangehenden Traditionsprozesses. 3) Der „canonical approach“ hat zwangsweise ein wachsendes Desinteresse an der Geschichte zur Folge. Es sind ja nur die Vorstufen des „kanonischen Prozesses“, die deutliche Bezüge zur Geschichte enthalten; die „Kanongestalt“ des Textes gibt diesem eine sprachliche Form und einen Kontext, die ein stärker metaphorisches und generell-universales Verstehen nahelegen. Von solchem Interesse aus wird nicht mehr erklärbar, warum etwa in den Überschriften der alttestamentlichen Prophetenbücher, die lange Zeit nach dem Auftreten der Propheten selber gestaltet wurden, so penetrant festgehalten wird, dass ein Amos „zwei Jahre vor dem Erdbeben“ auftrat, ein Jesaja „im Todesjahr des Usijja“ berufen wurde, ja bei den Propheten Ezechiel und Sacharja gelegentlich Monat und Tag eines Wortes festgehalten werden, trotz der Neugestaltung ihrer Worte für spätere Generationen. Nach Meinung der Tradenten der Prophetentexte bleiben die Worte der Propheten für immer an ihre geschichtliche Stunde gebunden, werden ohne sie nie voll verständlich.
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Sie werden nie allgemeingültige Wahrheit wie der Ausspruch eines Weisheitslehrers. Wenn in der Folge die Auseinandersetzung um die beiden theologischen Entwürfe von Childs – 1985: „Old Testament Theology in a Canonical Context“ und 1992: „Biblical Theology of the Old and New Testaments“, letzteres Werk deutsch in 2 Bänden: 1994 und 1996 – in ruhigeren Bahnen verlief, dann wesentlich darum, weil Childs in ihnen letztlich nur die Konsequenzen aus seinen zuvor dargelegten Grundsätzen zog, die er in immer neuen Anläufen vorausschickte und erläuterte. Sein Interesse ist und bleibt, den für die unterschiedlichen Gemeinschaften normativen Text der Bibel von allen subjektiven Hypothesen freizuhalten, ohne doch den Wachstumsprozess der Texte auf traditions- und redaktionsgeschichtlicher Ebene grundsätzlich zu leugnen. Faktisch geschieht das so, dass Childs zwischen (ihm subjektiv) relativ sicher erscheinenden Ergebnissen der kritischen Forschung – z.B. der Sonderung der Elihureden im Hiobbuch – und ihm weniger sicher erscheinenden unterscheidet. Seine „Old Testament Theology in a Canonical Context“ ordnet er nach Themen, ohne dabei nach einem für das AT prägenden Zentralgedanken zu fragen, wie ihn etwa die Konzeption des „Bundes“ für W. Eichrodt bildete, und ohne sein Material traditionsgeschichtlich zu ordnen, wie von Rad es tat. Er relativiert beide Vorgehensweisen mit dem Hinweis, dass im „canonical process“ der Textentwicklung diese, aber auch ganz andere Gesichtspunkte eine Rolle gespielt hätten (15f.). Dass er mit dieser Relativierung faktisch dem so heftig bekämpften Subjektivismus neue Toren öffnet, scheint ihn nicht zu stören; er selbst wählt einen wesentlich von der Dogmatik bestimmten Aufriss, der beim Thema „Offenbarung“ einsetzt, über Gottes Gebote, die Institutionen und Ämter zur Anthropologie und Eschatologie verläuft. Dabei trifft der Leser gelegentlich auch auf ungewöhnliche Themen, die sich dem spezifisch alttestamentlichen Denken verdanken, etwa wenn neben Kap. 11: „The Office and Function of the Prophet“ ein Kap. 12: „True and False Prophets“ tritt, oder wenn die Schlusskapitel 19 und 20 „Life under Threat“ und „Life under Promise“ lauten. Andererseits hängt mit diesem von der traditionellen Systematik bestimmten Aufriss zusammen, dass die Prophetie und noch mehr die Psalmen und die Weisheit, also die späteren Kanon-Teile, gegenüber dem Pentateuch sehr kurz kommen. Gravierender noch wirken sich die eingangs genannten Prinzipien aus: Da die älteren Zeugnisse des AT um der „Kanongestalt“ der Texte willen grundsätzlich geringer bewertet werden als die jüngeren (etwa in der Konzeption von Prophetie, Priestertum, Königtum oder in der Sicht des Mose etc.) und andererseits die vom Endtext überlagerten großen theologischen Konzeptionen des AT wie etwa die Priesterschrift – wiederum prinzipiell – eine geringe Rolle spielen, verliert die Darstellung – notwendigerweise – an Spannung und Tiefenschärfe.
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Vom Ansatz her konsequent hat Childs als letztes großes Werk eine Theologie der ganzen Bibel, eine „Biblical Theology of the Old and New Testaments“ vorgelegt (der deutsche Titel „Die Theologie der einen Bibel“ verschiebt den Akzent, insofern er den intendierten Plural des Originals beseitigt). Wenn denn der Schriftgebrauch der christlichen Gemeinde der Orientierungspunkt des Exegeten als Theologen ist, dann versteht sich fast von selbst, dass er zu einer gesamtbiblischen Theologie fortschreiten muss, wie sie diese Gemeinde faktisch betreibt. Die Gemeinde liest ja keines der Testamente je für sich, und sie hört die Texte nicht als historische Urkunden. Unter solchem Aspekt treten „Religionsgeschichte Israels“ und „Theologie (des AT)“ in ein scharfes Konkurrenzverhältnis. Die Außenperspektive der Religionsgeschichte kann die Normativität des Kanons nicht anerkennen, während umgekehrt eine biblische Theologie damit ernst machen muss, dass die biblischen Texte auf eine Realität außerhalb ihrer selbst weisen, also „Zeugnis“ sind. Dabei möchte Childs dem AT durchaus seinen Eigenwert erhalten, wie daran deutlich wird, dass er im 1. Band (der deutschen Ausgabe) eine separate „Theologie des AT“ und eine „Theologie des NT“ in Kurzform entwickelt, bevor er im gewichtigeren 2. Band an zentralen Themen so etwas wie eine systematische Theologie auf biblischer Basis schreibt. Hier sind die Themen (Trinität, Christologie, Versöhnung mit Gott, Gesetz und Evangelium) so weitgehend von der Dogmatik vorgegeben, dass das AT zwangsweise in eine allenfalls dienende Rolle gerät. (Allerdings gibt es mit „Gott, der Schöpfer“ und „Bund, Erwählung, Volk Gottes“ auch zwei Themen, die die systematischen Überlegungen vom AT her entwickeln.) Bei den einzelnen Themen werden AT, frühes Judentum, NT, gesamtbiblische Reflexion, Dogmengeschichte und dogmatische Reflexion nacheinander bemüht, mit dem Ziel, die Grenzen der Disziplinen aufzubrechen. Dass dies ein erstrebenswertes Ziel ist, wird man schwerlich bestreiten wollen, und man kann die Kühnheit des Autors nur bewundern. Andererseits wird der jeweilige Fachwissenschaftler die Mehrzahl der Ausführungen als unbefriedigend empfinden; in den exegetischen Abschnitten etwa führt selten eine Erwägung über begriffsgeschichtliche Beobachtungen hinaus. Zudem bestimmt ein apologetischer Grundton die Ausführungen. Mit völlig anderem Interesse formuliert R. Rendtorff seinen „kanonischen Entwurf“ (so der Untertitel) einer „Theologie des Alten Testaments“8. Nicht an der christlichen Gemeinde, ihrem Schriftgebrauch und ihrem Glauben orientiert sich diese Theologie wie diejenige von Childs, sondern am christlichjüdischen Gespräch, an dem Rendtorff seit Jahren an vorderster Front beteiligt ist. Demgemäß heißt das letzte Kapitel seiner Theologie nicht zufällig „Jüdi8
Die zahlreichen Vorarbeiten zu seiner ausgeführten Theologie hat R. RENDTORFF in zwei Sammelbänden veröffentlicht: „Kanon und Theologie“, Neukirchen-Vluyn 1991 und „Der Text in seiner Endgestalt“, Neukirchen-Vluyn 2001.
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sche und christliche Theologie der Hebräischen Bibel/des Alten Testaments“. Aus diesem Interesse erklärt sich auch sein Kanon-Begriff: Es ist der Kanon der „Hebräischen Bibel“, der dem Werk zugrunde liegt und seinen Aufbau bestimmt. Natürlich weiß auch Rendtorff, dass die junge Kirche in ihren verschiedenen Provinzen verschiedene Formen des Kanons kannte und dass Entsprechendes auch für das hellenistische Judentum galt, aber diese Differenzen interessieren ihn nicht. Die sog. „Apokryphen“, die etwa in O. Kaisers Theologie eine wesentliche Rolle spielen, kommen bei Rendtorff mit keinem Worte vor. Rendtorffs Entwurf gliedert sich nicht nur äußerlich in zwei Teile. Der erste Teil will – seinen Lehrer von Rad überbietend, von dem Childs sich eher distanzieren wollte – eine „Nacherzählung“ der alttestamentlichen Bücher in ihrer „kanonischen Gestalt“ bieten, also ausgehend vom Endtext und begrenzt auf den Kanon im zuvor genannten Sinn, allerdings „im Kontext der historisch-kritischen Bibelwissenschaft“ (1f.). Wie Childs immer wieder betont, dass die „Kanongestalt“ des Textes dessen frühere Stadien und Aussagen in sich trägt, so Rendtorff, ein wenig distanzierter, dass seine Auslegung des Endtextes auf der Basis historisch-kritischer Wissenschaft geschieht, wie er sie selbst zeitlebens getrieben hat. Nur entsteht bei Rendtorff noch stärker als bei Childs ein technisches Problem: Wer sich wie er anschickt, das gesamte AT auf gut 350 Seiten „nachzuerzählen“, der kann notgedrungen allenfalls hier und da exemplarisch auf jene Spannungen und Komplexitäten der Texte eingehen, die Literarkritik und Überlieferungsgeschichte aufgedeckt haben und die in vielen Fällen ein je unterschiedliches Verständnis eines Texte über mehrer Jahrhunderte hinweg widerspiegeln. Eine Vielzahl dieser polyvalenten Texte will nicht in einem einzigen Sinn aufgehen, ja es gibt Texte, die nicht einmal auf einen eindeutigen Einzel-Sinn abzielen, wie ihn eine Nacherzählung von ihrer Intention her herauszustellen versuchen muss. Rendtorff hilft sich so, dass er den Modus des „Nacherzählens“ von Zeit zu Zeit durch kürzere Passagen in Engdruck unterbricht, die erläutern und erklären wollen. Einmal – im Übergang von den „früheren“ zu den „späteren“ Propheten (d.h. zur sog. „Schriftprophetie“) – wird auch einmal eine „Zwischenüberlegung“ eingestreut. Der zweite Teil des Rendtorffschen Entwurfs will die Nacherzählung der biblischen Bücher (primär) durch thematische Querschnitte ergänzen, auf die Randverweise im 1. Teil schon jeweils aufmerksam gemacht hatten, wobei nicht eine Systematik das Ziel ist, sondern eine „Zusammenschau“ (2). Der Modus des Nacherzählens wird beibehalten. Dabei denkt Rendtorff insofern konsequenter „kanonisch“ als Childs, als er sich auch in der Reihenfolge der Themen an der Abfolge der biblischen Bücher orientiert, also mit der „Welt als Gottes Schöpfung“ einsetzt. Acht Themen orientieren sich am Pentateuch, nur zwei („Das Königtum Davids“ und „Zion“) an anderen Schriften: eine Konsequenz dieses Ansatzes. Die je unterschiedliche Gesamtausrichtung be-
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dingt, dass Themenbereiche, die Childs wichtig waren, als eigene Paragraphen fehlen (z.B. die Probleme des Offenbarungsverständnisses und der Anthropologie), dafür andere Themen, die bei Childs eine untergeordnete Rolle spielten, in den Vordergrund treten, etwa die Landtheologie, die Exodustradition und die Ziontheologie. Bemerkenswert ist, dass Rendtorff seinen thematischen Aufriss nicht konsequent durchzuhalten vermag. Ab Kap. XI werden zwei „Fragen des Lesers“ (zu Gott und zu „Israel“) beantwortet, ab Kap. XIII unter formgeschichtlichen Gesichtspunkten drei verschiedene Redeweisen von und zu Gott (Prophetie, Psalmen, Weisheit) behandelt und zuletzt ab Kap. XVI Fragenkreise (die Völker und ihre Götter, Israels Sicht der Geschichte und die Eschatologie), die sich unter den zuvor genannten Ordnungsgesichtspunkten nicht unterbringen ließen, bevor hermeneutische Überlegungen zum Verhältnis von christlicher und jüdischer Theologie des AT bzw. der Hebräischen Bibel den Band beschließen. Die genannte, dem Autor durchaus bewusste Inkonsequenz zeigt, dass Rendtorff die Grenzen eines „kanonischen“ Ansatzes bewusst sind. Die entscheidenden Fragen, die an die Entwürfe von Childs und Rendtorff zu richten sind, sind im Diskurs der Forschung anlässlich des Erscheinens der „Introduction“ von Childs gestellt worden (s.o.). Diese Grundsatzprobleme prägen die theologischen Ansätze beider Autoren auf das stärkste. Das tiefe Misstrauen beider Forscher gegenüber allen hypothetischen Rekonstruktionen der Textentstehung in der kritischen Forschung ist sicher so weit berechtigt, als diese Hypothesen in der Gefahr stehen, sich vor die Texte zu stellen und sie zu ersetzen, statt die Texte selber zum Sprechen zu bringen und Hebammenfunktion auszuüben; zudem wird in einer hypothesenfreudigen Forschungsepoche wie der gegenwärtigen die alte Tugend, zwischen (relativ) sicherer, immerhin wahrscheinlicher und allenfalls möglicher Plausibilität einer Rekonstruktion zu unterscheiden, nicht immer geübt. Jedoch erscheint mir das Misstrauen insofern unberechtigt, als eine „kanonische“ Auslegung eines Textes, wenn sie denn Deutung und nicht nur wörtliches Nachbuchstabieren sein will, grundsätzlich ebensowenig an Hypothesen (und an einer Reflexion über deren Sicherheitsgrad) vorbeikommt, nur eben ihrerseits in der großen Gefahr steht, sich des Hypothetischen ihrer Aussagen weniger bewusst zu sein. Insbesondere aber gilt: Je mehr eine Exegese alles Hypothetische zu vermeiden versucht, desto mehr verzichtet sie auf das Ausloten der Tiefendimension der Texte. Der Spannungsreichtum vieler alttestamentlicher Texte, ihr leidenschaftliches Ringen um Wahrheit, wie es häufig im Wachstum der Texte widergespiegelt wird, wird in beiden Entwürfen einer „kanonischen Theologie“ kaum erkennbar. Für die evangelikal-konservative Position der Theologie von P. R. House ist auch ein Autor wie Childs noch zu sehr der historischen Kritik verpflichtet (47). Ich habe das umfangreiche Werk von über 650 Seiten nur deshalb hier aufgenommen, weil an ihm der andersartige Kontext der wissenschaftlichen Diskussion in den USA deutlich wird. Auch wenn House der
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historischen Kritik höchst skeptisch gegenübersteht, so referiert er doch fair und kenntnisreich die Entwürfe, die im Geist dieser Kritik vorgelegt worden sind, und diskutiert aus seiner Sicht nicht nur ihre Schwächen, sondern auch ihre Stärken. House wählt den gleichen kanonischen Aufriss wie Rendtorff und die gleiche Form der deutenden „Nacherzählung“ in der Reihenfolge der Bücher, die der Kanon vorgibt. Wie Rendtorff, aber mit andersartiger Begründung, leugnet House eine „Mitte“ des AT, nur dass er nun den „Monotheismus“, d.h. Gottes Einzigkeit als „Brennpunkt“ bezeichnet, weil er das verbindende Element für die verschiedenen Ausformungen der Gottesvorstellungen im AT bilde. Eine didaktische Eigenart der Darstellung besteht darin, dass am Ende größerer thematischer Einschnitte innerhalb der biblischen Bücher eine „canonical synthesis“ erscheint, d.h. ein Ausblick auf die Behandlung des Themas in anderen Büchern und Kanonteilen. Dabei will House weniger Texte exegesieren als die hinter ihnen stehende Gottesgeschichte freilegen. Es entsteht ein ebenso geschlossenes wie – aufgrund der Leugnung literarischer Spannungen – eindimensionales Bild, das zumeist mehr von der theologischen Prägung seines Malers verrät als vom Gegenstand selber, gelegentlich aber – etwa bei der Auslegung des Zwölfprophetenbuches als ein Buch – auch eigenständige Einsichten bietet.
3. Systematische Entwürfe Die Mehrzahl neuerer „Theologien des AT“ ist systematisch aufgebaut. Unter ihnen ist das Werk von O. Kaiser das originellste und konsequenteste, weil es sich offen und programmatisch zu seinem systematischen Aufriss bekennt. Angesichts der bekannten, in vielen Aufsätzen zutage getretenen philosophischen und systematischen Interessen Kaisers überrascht diese Tatsache nicht. Kaisers Ansatz, durch die einzelnen Kapiteln vorangestellten „Lehrsätze“ als Lehrbuch kenntlich gemacht, bietet mit seiner bewussten Auswahl an Themen und mit seiner Konzentration auf das ihm wesentlich Erscheinende sowie mit seinem Aufgreifen neuer und neuester Hypothesen zum Wachstum der Texte einen denkbar scharfen Gegensatz zum „nacherzählenden“ Nachsprechen des gesamten AT durch R. Rendtorff. Nun lässt sich freilich zur gegenwärtigen Zeit der Entwurf Kaisers nicht angemessen würdigen, da von den geplanten drei Bänden (Bd. 1: Grundlegung, Bd. 2: Gotteslehre [„Jahwe, der Gott Israels, Schöpfer der Welt und des Menschen“], Bd. 3: Eschatologie) erst zwei erschienen sind. Immerhin ist schon das Verhältnis der beiden vorliegenden Bände zueinander höchst ungewöhnlich. Bemerkenswert ist insbesondere, dass die Reflexion über „Aufgabe, Weg und Ziel“ und damit auch über den Aufbau einer „Theologie des AT“ dem 2. Band überlassen wird, der sich „die systematische Ordnung und Durchdringung der alttestamentlichen Gottesbezeugungen zum Ziel setzt“ (12). Die „Grundlegung“ des 1. Bandes bietet dementsprechend noch nicht die „Theologie des AT“ selber, sondern deren unabdingbare Voraussetzungen. Näherhin sind es drei Voraussetzungen, die in vier Kapiteln dargeboten werden. Am Anfang (13–89) stehen hermeneutische Erwägungen, die mit der „Krise der christlichen Tradition“ seit Nietzsche einsetzen, um dann in knap-
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pen Strichen den Gebrauch des AT bei Jesus, in der Urkirche und durch die Kirchengeschichte hindurch bis zu Adolf von Harnack darzustellen (mit Schwerpunkten bei Herder, Semler, Georg Lorenz Bauer und Schleiermacher) und von hier aus die Aufgabe einer „Theologie des AT“ (generell) zu skizzieren: gut lutherisch ausgehend von CA V und von Luthers Verständnis vom Wort Gottes, aber im Einklang mit dem genius loci endend bei R. Bultmanns Bestimmung des alttestamentlichen Weges als eines Scheiterns und dem Plädoyer für eine existentiale Interpretation. Es folgt (113–156) eine kühne Skizze der Religionsgeschichte Israels unter dem Aspekt des Aufstiegs Jahwes „vom Berggott zum Königsgott Israels“ (in vorexilischer Zeit) und von dort zum „einzigen Gott und Richter der Welt“ (in der Perserzeit) und schließlich zum „gerechten Gott“ (im Zeitalter des Hellenismus), dem ein sehr kenntnisreicher Abschnitt über die vorausliegenden mesopotamischen und ugaritischen Vorstellungen von der „Welt der Götter“ (90–112) vorangestellt ist. Den längsten und wichtigsten Abschnitt bilden die Seiten 157–353, die sich zur Aufgabe gestellt haben, „die Einheit der alttestamentlichen Gottesbezeugungen“ in der Verschiedenheit der unterschiedlichen Redeweisen ihrer Großgattungen (Geschichtswerke, Prophetie, Weisheitsdichtung und Tora) aufzuweisen und gleichzeitig letztere, durch ein eigenes Kapitel hervorgehoben, als „Mitte der Schrift“ herauszustellen. Die genannte Einheit besteht für Kaiser primär in der „Grundbeziehung zwischen Jahwe als dem Gott Israels und Israel als dem Volk Jahwes und der sie qualifizierenden Grundgleichung von Gerechtigkeit und Leben“ (159). Kaiser schreibt in diesem Abschnitt eine Art theologischer Redaktionsgeschichte des AT in nuce. Er schildert anfangs das „Heils-Unheilsgeschichtliche Großwerk“ Gen 1 – 2Kön 25 als Ätiologie Israels und seines (Exils-) Geschicks, wobei die Josefserzählung dieser Konzeption besondere Stolpersteine in den Weg legt. Aber auch den Quellen (JE und P sowie JEP und Pentateuchredaktor RP, die für ihn ausnahmslos in die exilisch-nachexilische Zeit gehören, bzw. Dtn, DtrG [und ChrG]) wendet er Aufmerksamkeit zu. Man spürt auf Schritt und Tritt, auch wo man nicht zustimmen kann, den mit komplexen Fragen der Einleitung über Jahrzehnte vertrauten Forscher. Bei der Prophetie wird zunächst der Facettenreichtum des Phänomens vorgestellt, bevor die oft mehrere Jahrhunderte umgreifende Redaktionsgeschichte der Prophetenbücher dargestellt wird, mit dem Fazit, dass „sie in all ihren Entstehungsstufen das Schicksal Israels als des Volkes Jahwes auslegen, dessen heilvolle Zukunft nicht nur an Jahwes Treue, sondern auch an dem Gehorsam des Volkes gegen das Hauptgebot und gegen die Solidaritätsforderung hängt“ (260). „Die Entstehung der Prophetenbücher besitzt … dieselben Ursachen wie die des Deuteronomistischen Geschichtswerks“; sie dienen nämlich „dem Aufweis der Schuld der politischen und religiösen Führungsschicht und des Volkes wie auch der Warnung der Überlebenden und der kommenden Geschlechter“, wobei später Worte der Heilspropheten hinzutreten (260f.): eine Sicht der Prophetenbücher, die unlöslich mit Kaisers Spätdatierung der Verschriftung zusammenhängt. Bei der Weisheit unterscheidet Kaiser zwischen einer älteren Weisheit, die „die Spannung zwischen göttlicher Vollkommenheitsforderung und göttlichem Vorbehalt“ ausgehalten habe, und einer jüngeren Weisheit, die der Meinung sei, „dass es dem Guten gut und dem Bösen böse zu gehen habe“ (276), gegen die Hiob und Qohelet ihren Protest erhöben, bevor die Weisheit „an der Grenze des AT“
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durch die Lehre von der Gerechtigkeit Gottes und die Annäherung an die Tora bzw. die griechisch-hellenistische Philosophie bei Ben Sira und in der Sap.Sal. eine doppelte Stabilisierung erfahren habe. – Erst mit der Beschreibung der Theologisierung des Rechts aber, des Dekalogs als seiner Zusammenfassung und der Freude am Gesetz in Ps 1 und 119, wird im Schlussabschnitt in Gestalt der Tora „die Mitte der Schrift“ berührt, von der Kaiser urteilt, sie sei als „die eigentliche heilige Schrift der Juden“ ebenso „die Richtschnur, von der aus auch die Propheten und die übrigen Bücher der Hebräischen Bibel verstanden werden sollen“ (331). „Die Essenz aller Gerichts- und Heilsworte der Propheten … war in die Segensverheißungen und Fluchandrohungen der Tora eingegangen“ (333). Gewiss gibt es redaktionelle Bearbeitungen von Prophetentexten, auf die sich Kaiser für diese Aussage stützen kann. Aber dass sie repräsentativ für die späteste Auffassung der Prophetie insgesamt stehen, kann man mit O. H. Steck9 aus guten Gründen bezweifeln.
Man kann gegen die Darlegungen dieses 1. Bandes mancherlei Einzelkritik vorbringen – die hermeneutischen Erwägungen verlassen den Raum verobjektivierender geschichtlicher Darstellung kaum, der religionsgeschichtliche Abschnitt erscheint in seiner Beschreibung einer Entwicklung der Gottesvorstellung sehr einlinig-idealtypisch; die durchgehende Spätdatierung der Pentateuchtexte (J, E und P sollen insgesamt ins 6. Jh. gehören) lässt kaum Spielraum mehr für die Rekonstruktion eines historisch plausiblen Wachstums der Texte; vor allem aber: Die Psalmen fallen aus dem vorgegeben Raster so gut wie völlig heraus. Jedoch erscheint mir der Band insofern ein großer Wurf zu sein, als er im voraus mögliche grundsätzliche Einwände gegen eine systematische Darstellung zum Schweigen bringt, da er die erwogenen Alternativen eines religions-, literar- oder aber traditionsgeschichtlichen Aufrisses ansatzweise selber vollzieht, so dass die systematischen Erwägungen auf einer überaus soliden historischen Grundlage stehen und man ihnen schwerlich den Vorwurf machen kann, sie würden auf rein subjektiver Auswahl beruhen. Nach den Ausführungen der „Grundlegung“ ist es nur konsequent, wenn Kaiser in Band 2 seine „Theologie“ im engeren Sinn, d.h. „die systematische Reflexionsgestalt“ der alttestamentlichen „Gottesbezeugungen“, auf ein doppeltes Fundament stellt: einerseits auf den „Charakter des Alten Testaments als Deutung des Exilsgeschicks Israels“ und andererseits auf die „Tora als seine sachliche Mitte“ (9). Die wesentlichen Vorentscheidungen werden damit vorbildlich klar benannt. Kaiser geht außerdem von drei „fundamentalen Denkvoraussetzungen“ aus, die die Einheit des alttestamentlichen Gottesbildes ausmachen: der Bindung Jahwes an Israel, der sich daraus ergebenden Verpflichtung Israels zum Gehorsam und schließlich der hieraus folgenden Bestimmung des Geschicks Israels zum Heil oder Unheil im Falle des Gehorsams oder Ungehorsams. Er nennt sie „Grundbeziehung“, „Grundgebot“ (gemeint ist das 1. Gebot) und „Grundgleichung“ (17f.). Hier werden implizit die 9
O. H. STECK, Die Prophetenbücher und ihr theologisches Zeugnis, Tübingen 1996; Gott in der Zeit entdecken. Die Prophetenbücher des Alten Testaments als Vorbild für Theologie und Kirche (BThS 42), Neukirchen-Vluyn 2001. DERS.,
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wichtigsten Bestimmungen einer sachlichen „Mitte des AT“ – dieser Begriff ist bei Kaiser schon an die Tora vergeben – in der gegenwärtigen Forschung durch R. Smend einerseits und W. H. Schmidt andererseits (s.u.) miteinander verbunden. Sachlich ist der 2. Band der „Theologie“ Kaisers, wenn ich recht sehe, dreigeteilt. Da das AT „zum Trost und zur Mahnung des unter seinem Exilsgeschick leidenden Israel bestimmt ist“ (113), versteht es sich von selbst, dass die Entfaltung der Gottesaussagen mit programmatischen Sätzen aus der Zeit des Exils einsetzt: J (für Kaiser exilisch; s.o.), P, Deuterojesaja, Deuteronomium (wiederum für K. überwiegend exilisch), Dtr und Hosea (auch weitgehend für K. exilisch) kommen hier zu Wort, wobei der „Trost“ hauptsächlich in der Väterverheißung, in der Zusage des bleibenden Bundes und der bleibenden Erwählung gesucht wird. Danach – sozusagen nachholend – werden mit „Name“ und „Herkunft Jahwes“ Fragen nach den ältesten Gottesvorstellungen im AT durch Rückgriff in die Religionsgeschichte gestellt – immer im Bewusstsein, dass „entscheidender als die Ursprünge … die geschichtlichen Entfaltungen des Gottes“ sind (85) und das AT „kein Handbuch der Religionsgeschichte“ darstellt (113). Ex 3 mit seiner Deutung des Namens Jahwe wird sodann, gleichsam als Verbeugung vor W. Zimmerli, ein eigener Paragraph gewidmet. Die spezifische systematische Entfaltung der Gottesaussagen des AT erfolgt im Mittelteil in Paragraphen, die Jahwes Heiligkeit (u.a. Jes 6, die Jahwe-König-Psalmen und die Forderung an Israel, heiliges Volk zu sein), seine Nähe und Ferne (seine Wohnung im Himmel und seine Erscheinungsweisen bei den Menschen einerseits, seine Unerreichbarkeit und Allmacht bzw. aber seine Gegenwart bei den Menschen andererseits sowie die Frage der Vermittlung), Opferkult und Bilderverbot („das Neue ist nicht die Bildlosigkeit des Kultes, sondern der deuteronomistische … Ikonoklasmus“, 172) und schließlich seine Gegenwart im Tempel (die Ziontheologie der Psalmen, Gen 28, die priesterliche Kabod- und die deuteronomische Namentheologie) und bei seinem Volk entwickeln. – Den Abschluss bilden drei äußerst materialreiche Paragraphen zur alttestamentlichen Schöpfungstheologie, in die Fragen der Kosmologie und Anthropologie integriert sind. Es ist ein eindrucksvoller Entwurf, den Kaiser als Frucht vieler Jahrzehnte intensiver Beschäftigung mit dem AT vorlegt, auch wenn er einstweilen noch unvollständig vorliegt. Allerdings spürt man auf Schritt und Tritt eine gewisse Distanz des Autors zu seinem Stoff; immer wieder betont er die Begrenztheit der Perspektive seiner Texte, insbesondere wenn es sich um ältere Texte handelt. Je jünger die Texte sind (und insbesondere, wenn sie wie die hellenistischen Texte Berührungen mit klassisch-griechischen Texten zeigen, mit denen Kaiser wie kein anderer gegenwärtiger Alttestamentler engstens vertraut ist), desto stärker spürt man auch die Leidenschaft des Theologen, und dies wird sicher für den letzten und 3. Band mit dem Thema der Zukunft noch stärker gelten. Manche distanzierende Äußerungen gehen ungewöhnlich weit.
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Das gilt insbesondere für die abschließende Behandlung der alttestamentlichen Anthropomorphismen in der Rede von Gott. Kaiser versteht sie als „notwendige Metapher, um vorstellbar von seinem (d.h. Gottes) Wirken auf Welt und Menschen reden“, empfindet sie aber zugleich als unzureichend, gemessen am Maßstab einer negativen Theologie als deren höchster Form (s. 315f.). Die theologische Gefahr, die Kaiser benennen will, hatte W. Eichrodt mit „allzu starker Vermenschlichung der Gottheit“ (1. Band, 8. Auflage, 134) bezeichnet. Aber Eichrodt und Kaiser verkennen dabei, dass die Körperteile Gottes dem AT wesentlich als Funktionsträger dienen (der „Arm“ für Machttaten etc.), so dass sie „kein Effekt der Lehre“ sind; „anthropomorphe Rede ist sachgemäße Rede von dem Gott, der sich an seinem Handeln am Menschen definiert“, wie H.-J. Hermisson (93.97) jüngst eindrucksvoll gezeigt hat. Mir selbst ist ebenso wichtig, dass zahlreiche Anthropomorphismen, stärker noch die Anthropopathismen (wie Liebe, Zorn, Rache, Reue etc.) bei ihrer Übertragung auf Gott ganz andersartigen Sinn annehmen als im zwischenmenschlichen Bereich. Ebendeshalb handelt es sich nicht um eine reine Übertragung zwischenmenschlicher Erfahrungen auf Gottes Handeln. Aber dies ist nur eine Randbemerkung zu einem höchst eindrucksvollen, gelegentlich auch zum Widerspruch reizenden Werk. Mit Kaisers Werk nicht vergleichbar, wenngleich ebenfalls als Lehrbuch konzipiert, ist die zweibändige „Theologie“ von H.-D. Preuß. Sie hat ihre Stärken und gleichzeitig Schwächen im Ideal der Vollkommenheit, mit der die großen Themen des AT sowohl mit einer oft erschlagenden Fülle an Bibelstellen als auch mit einer entsprechenden Fülle an Sekundärliteratur belegt werden. Die beiden Bände haben auf diese Weise den Charakter eines Nachschlagewerkes gewonnen und sind als solche wertvoll. Dagegen ist der gewählte Aufbau der Theologie wenig überzeugend. Er orientiert sich an einer „Mitte“, die Preuß umständlich „JHWHs erwählendes Geschichtshandeln an Israel zur Gemeinschaft mit seiner Welt, das zugleich ein dieses Volk (und die Völker) verpflichtendes Handeln ist“ (29), nennt. Er möchte systematisch ordnen, aber vermeiden, dass „diese Systematik … von außen an die Darstellung … herangetragen“ (23) wird, und zeigt in den Untertiteln der Bände an, dass der erste von Gottes (erwählendem und verpflichtendem) Handeln ausgeht, der zweite von Israels Antwort. Aber vom Selbstverständnis Israels ist in Band 1 die Rede (auch von seinem Bundesbruch in Ex 32–34), vom Tempel, den Priestern und Propheten in Band 2. Es sind die Einzelkapitel, die den Wert dieser Theologie ausmachen, weniger das Gesamtkonzept. Für breitere Leserkreise gedacht ist die „Theologie“ des jüngst verstorbenen verdienstvollen katholischen Alttestamentlers J. Schreiner. Ein protestantischer Leser nimmt sie gespannt in die Hände, weil im deutschsprachigen Raum seit einem halben Jahrhundert keine katholische „Theologie des AT“ mehr erschienen ist. Mit solch hoher Erwartung an die Lektüre herangehend, legt man das Buch etwas enttäuscht aus den Händen. Nur vier Seiten widmet
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Schreiner Grundsatzfragen wie der Abgrenzung gegenüber einer systematischen Theologie einerseits und einer Religionsgeschichte andererseits. Da Jahwe am Anfang, in der Mitte und am Ende aller Aussagen des AT stehe, gliedert Schreiner sein Material in zehn Kapitel, die als Aussagen über Jahwe formuliert sind (beginnend mit: „Jahwe, der Gott Israels“ und endend mit „Jahwe und die Zukunft“, wobei „Jahwe, der einzige Gott“ erstaunlicherweise erst als VII. Kapitel erscheint, nach VI. „Jahwe und die Gesellschaft“). Bei dieser Aufteilung kommt ein Phänomen wie die Prophetie nur unter dem jeweiligen Themenaspekt zur Sprache. Das Buch verarbeitet – darin den Bänden von Preuß vergleichbar – sehr viel biblisches Textmaterial, kann aber gerade deshalb nur selten beim Leser eine geschichtliche Tiefenschärfe entstehen lassen, und auch die neuere wissenschaftliche Diskussion zu den einzelnen Textbereichen, an der sich Schreiner selbst intensiv beteiligt hatte, kommt angesichts der Fülle des Materials sehr kurz.
4. Ein „postmoderner“ Entwurf In den USA heiß diskutiert, in Deutschland aber noch kaum wahrgenommen ist die Konzeption einer alttestamentlichen Theologie durch W. Brueggemann10. Brueggemann geht von der Situation eines Pluralismus auf verschiedenen Ebenen aus: Die Texte im AT sind mehrdimensional, d.h. voller mehrsinniger Metaphern und Doppeldeutigkeiten; auch äußern sie oftmals verschiedenartige Ansprüche und sind insofern offen für unterschiedliche Deutungen; die Exegeten ihrerseits sind kulturell verschieden geprägt und bedienen sich unterschiedlicher Methoden. Da es keine Entscheidungsinstanz jenseits der Texte selber gibt und alle Deutungen interessengeleitet sind, ist Auslegung ein permanenter, unabgeschlossener Prozess (63f.). Brueggemann sieht in dieser offenen Situation Gefahren einer unangemessenen Festlegung aufkommen, und zwar sowohl durch die historisch-kritische Forschung (wegen des ihr angeblich inhärenten Entwicklungsgedankens und – ein noch groteskeres Missverständnis – wegen ihres angeblich wesensmäßigen Antijudaismus: 103–105) als auch – in expliziter Auseinandersetzung mit Childs – durch jegliche kirchliche Theologie (wegen ihres vermeintlich zwangsweisen Reduktionismus, der alles ausscheidet, was nicht konform ist). Er selber möchte sich den Texten in einer Art juristischem Prozess-Verfahren nähern, wie der Untertitel seines Buches zeigt: Er möchte zunächst den Wahrheitsanspruch des Textes zu Wort kommen lassen („testimony“), diesen aber dann 10 W. BRUEGGEMANNs gewichtigste Vorarbeiten erschienen 1992 unter dem Titel „Old Testament Theology“, hg. von P. D. Miller, Minneapolis 1992; wichtige Reaktionen auf seine „Theologie“ sind in der ihm gewidmeten Festschrift („God in the Fray“, hg. von T. Linafelt/ T. K. Beal, Minneapolis 1998) veröffentlicht worden.
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dem Kreuzverhör anderer Zeugenaussagen aussetzen („dispute“), um zuletzt im Plädoyer Israels Wirklichkeitsdeutung von Jahwe her in Auseinandersetzung mit anderen Wirklichkeitsdeutungen darzulegen („advocacy“). Dabei ist Brueggemann – wie Kaiser (s.o.) – wichtig, dass die Texte (zumindest in ihrer Endgestalt) Antworten auf die Krise des Exils liefern wollen, d.h. auf eine Situation eingehen, in der alte Gewissheiten zerbrochen sind (75). Da nun das Zeugnis der Texte die einzige Zugangsweise zur Wirklichkeit Gottes ist (zugespitzt kann Brueggemann sagen: „the logos of Israel evokes the theos of Israel“, 135), untersucht er anfangs „Israels jahwistische Grammatik“, d.h. die syntaktische Struktur der Sätze, die von Gott reden, um mit solchen formalen Mitteln zum „Basis-Zeugnis“ Israels vorzudringen, wobei er schwerpunktmäßig die Psalmen heranzieht. Von der Beobachtung aus, dass Verbalsätze vorherrschen, Gott also nicht primär in seinem Wesen, sondern in seinem Handeln an Israel geschildert wird, bildet die Danksagung ( )תודהIsraels für Gottes Machttaten den Ansatz der Darlegungen. Dabei wird das Lob Jahwes als Schöpfer (in expliziter Distanzierung vom Ansatz von Rads) als das „reifste Zeugnis“ Israels zum Ausgangspunkt gewählt, weil Brueggemann an einer Geschichte des biblischen Gottesglaubens und auch an traditionsgeschichtlichen Fragen der alttestamentlichen Gottesaussagen nicht interessiert ist, und zwar – anders als Childs und Rendtorff, bei denen diese Aspekte ebenfalls sehr kurz kommen – prinzipiell nicht interessiert ist; ihm geht es einzig um die „Rhetorik des biblischen Zeugnisses“. Es folgen Jahwes Verheißungen, seine Rettungstaten, sein Gebieten und seine Führung, wobei – modernem Zeitgeist entsprechend – jeweils betont wird, dass Gottes Welt eine Gegenwelt zur alltäglich erfahrenen Chaoswelt darstelle, Gottes Verheißung in Spannung zur Erfahrung stehe, Gottes Rettung revolutionäre Impulse entwickle, Jahwes Gebot einen machtvollen Kontrast zur Unordnung bilde, Gottes Führung ein Akt der Solidarität sei etc. Wenn Jahwe demgegenüber generalisierend adjektivisch gepriesen wird – insgesamt erstaunlich selten, am deutlichsten im „Credo of adjectives“ von Ex 34,6f. mit seinen Parallelen –, so ist Brueggemann wichtig zu betonen, dass die Adjektive an die konkreten Verbalsätze rückgebunden bleiben und zudem nicht für abstrakte Wesensbeschreibungen Gottes an sich dienen, sondern eine relationale Wirklichkeit Gottes beschreiben. Die Substantive, die zur Prädikation Gottes verwendet werden, dienen wesentlich zur Betonung seiner Verlässlichkeit und Beständigkeit. Sie bringen Gott nicht auf einen handhabbaren Begriff, sondern sind metaphorisch zu deuten; Ambivalenzen und Dissonanzen sind zugelassen. Zwei Gruppen an Bedeutungen sind nach Brueggemann zu unterscheiden, die ein spannungsvolles Nebeneinander bilden: Aussagen über Gottes unbegrenzte Überlegenheit, Herrschaft und Souveränität (Gott als Richter, König, Krieger, Vater [!]) und Aussagen über seine Fürsorge und „riskante Solidarität“ (Gott als Töpfer, Arzt, Winzer, Mutter). Dabei müssen die Prädikationen der Souveränität nochmals differenziert werden in Aussa-
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gen, die zur Wahrung seiner selbst dienen (seine „Ehre“ und „Heiligkeit“, auch sein „Eifer“), und solche, die seine Treue zu Israel hervorheben (sein „Bund“, sein „Mitleid“ und „Erbarmen“). Diesem primär formal erhobenen „Basis-Zeugnis“ Israels tritt in Teil II des Buches mit Israels Klage, die sich an der Inkongruenz von Bekenntnis und Erfahrungswirklichkeit entzündet, ein „Gegen-Zeugnis“ („countertestimony“) entgegen (317ff.). Der Eigenart anklagender Frage Israels („Warum?“, „Wie lange?“) entspricht für Brueggemann das hermeneutische Programm der „deconstruction“ von Jacques Derrida. Inhaltlich werden in diesem theologisch gewichtigen Teil des Buches Probleme wie die Verborgenheit Gottes, sein Schweigen, seine „Zweideutigkeit“ (wenn er „verführt“ oder aber „täuscht“, gleichzeitig richten und retten will [Gen 6–8] etc.), seine Gewalt und vor allem Fragen der Theodizee (Hiob und Qohelet) behandelt, wobei – für mich nicht recht verständlich – auch die frühen Weisheitstraditionen Israels unter das Thema der Verborgenheit Jahwes fallen, nur weil das zuvor erarbeitete „Basis-Zeugnis“ Israels in ihnen nicht oder kaum begegnet. Das abschließende „Plädoyer“ („advocacy“) wird in zwei Teilen dargeboten: Israels „freiwilliges“ („unsolicitated“) Zeugnis, das – im Bild der Gerichtsverhandlung – über das im Prozessverfahren Erfragte hinaus Aussagen macht (Teil III), tritt seinem „verleiblichten“ Zeugnis (Teil IV) gegenüber. Zu ersterem werden Aussagen über Jahwes emotionale Liebe (Hos, Jer), über seine Erwartung von Gehorsam (Dtn) bzw. die Wahrnehmung seiner Heiligkeit (P) gezählt; weiter die Hoffnung auf neue Zuwendung Jahwes nach dem Exil trotz Israels Ungehorsam; überraschenderweise auch die gesamte Anthropologie, weil diese nicht bei einer Idee des autonomen Menschen, sondern beim Bundesgedanken ansetze und daher besonders die Dialektik von Freiheit und Gehorsam thematisiere, dazu Vertrauen und Lobpreis; schließlich das (partnerschaftliche) Verhältnis sowohl der Völker als auch der Welt als Schöpfung zu Jahwe (hier wird u.a. die Urgeschichte behandelt). Demgegenüber umgreift Israels „verleiblichtes Zeugnis“ („embodied testimony“) die (fünf) verschiedenen Gestalten einer Vermittlung der (gefährlichen: Ex 20,18–21) Gottesgegenwart: einerseits die durch Mose vermittelte Tora, die der fortwährenden aktualisierenden Interpretation bedarf, andererseits den König, der Gottes Herrschaft vermittelt, aber Gegenstand prophetischer Kritik ist, weiter den Propheten, dessen Fremdartigkeit durch den Prozess der Kanonisierung eingeschränkt wird, den Kult, der unter der Autorität des Mose steht, und schließlich die Weisheit, die Jahwe als Quelle des Lebens herausstellt. Alle diese Formen der Vermittlung Gottes sind Gabe Gottes selber, zugleich aber durch die Möglichkeit menschlicher Perversion gefährdet. Die hermeneutischen Überlegungen des Schlussteils kehren zum Anfang zurück und lassen eine gewisse Redundanz der Gedanken, die immer wieder bei der Lektüre auffällt, besonders deutlich hervortreten.
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Es handelt sich bei W. Brueggemanns Theologie zweifellos um ein bedeutendes Werk. Sein Beharren auf der Mehrdimensionalität der Texte aufgrund der Mehrdeutigkeit ihrer Metaphern ist hilfreich und sein Ausgangspunkt bei den theologischen Implikationen der Grammatik, d.h. bei den unterschiedlichen Funktionen narrativer, adjektivischer und substantivischer Rede von Gott im AT ist höchst originell, obwohl die Grammatik schwerlich die Sachfrage (!) nach Israels „Basis-Zeugnis“ („core testimony“) entscheiden kann. Weniger glücklich erscheint mir die Gliederung des Stoffes mit Hilfe der Sprache eines Prozessverfahrens. Zwar kann Brueggemann den Anspruch der Texte auf Wahrheit mit ihr gut verdeutlichen, aber die Klage Israels über Gottes Verborgenheit und Schweigen ist ja kein Gegen-Zeugnis im Sinne eines Kreuzverhörs, sondern vielmehr ein Beharren der Gemeinde darauf, dass die Wahrheit des Bekenntnisses „realer“ ist als die Wahrheit der Erfahrung von Leid und insofern die Gegen-Erfahrung nicht das letzte Wort haben wird. Zudem erschien mir die Unterteilung des Schlussteils in Israels „freiwilliges“ und sein „verleiblichtes Zeugnis“ als überaus künstlich. Vor allem aber ist das programmatische Desinteresse an der Geschichte ein großes Manko dieses Entwurfs, das mit Brueggemanns postmoderner magischer Angst vor Sinnfestlegung – sei es durch den Historismus oder durch die kirchliche Lehre – zusammenhängt. Denn so sehr er sich auch prinzipiell zu historischer Kritik bekennt (726ff.), so fehlen bei ihm doch nicht nur alle geschichtlichen und religionsgeschichtlichen, sondern auch die traditionsgeschichtlichen Tiefendimensionen der Texte. Auf diese Weise treten die für ein bestimmtes Thema herangezogenen Texte häufig als ihrem Kontext entrissene isolierte Einzelkämpfer auf und werden gelegentlich auch mit Texten ganz anderer Herkunft verbunden, so dass die großen theologischen Konzeptionen des AT nie als ganze, sondern immer nur unter Einzelaspekten zur Sprache kommen. Im deutschen Sprachraum ist diesem postmodernen Entwurf am ehesten das Buch von Erhard S. Gerstenberger entfernt vergleichbar, das die „Pluralität … des alttestamentlichen Gottesglaubens“ (so der Untertitel) schon im Titel selbst zum Ausdruck bringt: „Theologien im AT“. Der volle Untertitel „Pluralität und Synkretismus des alttestamentlichen Gottesglaubens“ deutet jedoch bereits auf die anders geartete Fragerichtung hin. Gerstenberger geht es entscheidend um die Trägergruppen der unterschiedlichen Gottesaussagen im AT. Er beginnt daher mit dem „Abriss einer Sozialgeschichte Israels“ und unterscheidet im Folgenden – häufig sehr idealtypisch – alttestamentlichen Glauben im Kreis von Familie und Sippe, in dörflichen Wohngemeinschaften, im Stammesverband, im Kontext der „Reichstheologien“ und in der nachexilischen Gemeinde, bevor er die „Nachwirkungen“ solcher Differenzierung bis in die Gegenwart verfolgt. Gerstenberger schreibt letztlich so etwas wie eine religiöse Sozialgeschichte Israels und insofern keine Theologie im herkömmlichen Sinn. Aber sein Interesse berührt sich insofern mit demjenigen Brueggemanns, als auch für ihn die Pluralität der alttestamentlichen Gottesaussagen nicht Last oder gar „Verhängnis“ bedeutet, sondern Reichtum; ja, er hält sie „für einen außerordentlichen Glücksfall“, denn „die Mannigfaltigkeit der Theologien öffnet uns den Blick für andere Völker, Zeiten und Gottesvorstellungen, sie enthebt uns dem Zwang, ängstlich im Auf und Ab der Geschichte und der Theologien nach
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der einen geschichtslosen, unwandelbaren, absolut verpflichtenden Vorstellung und Richtlinie zu suchen“ (9).
5. Die Kombination verschiedener Modelle Einen sehr eigenständigen und originellen Aufriss zeigt die zuletzt erschienene Theologie B. W. Andersons, die nun schon auf Brueggemanns Entwurf (daneben sind Eichrodt, von Rad und Childs seine wichtigsten Gesprächspartner) reagiert. Sie hat darin ihre Eigenart, dass sie Elemente verschiedener neuerer Entwürfe aufgreift und geschickt miteinander verbindet. Im Gegensatz zu Brueggemann will Anderson eine dezidiert für die Kirche gedachte Theologie schreiben; er betont daher eingangs gleicherweise die Eigenständigkeit des AT wie seine unlösliche Bezogenheit auf das NT. Sein Entwurf ist dreigeteilt. In einem kürzeren Eingangsteil werden die grundlegenden Gottesaussagen des AT dargestellt, für Anderson wesentlich sprachliche Verdichtungen der Exodus- und Sinaierfahrungen als Basis aller biblischen Gottesvorstellungen, unter bewusster Konzentration auf Jahwes Heiligkeit als herausragendes Merkmal seines Wesens und auf seinen Namen als seine Selbstpreisgabe. Gottes Güte und sein Zorn sowie seine Unterscheidung von den Göttern sind weitere Themen. Man erwartet eine systematisch aufgebaute Theologie und fühlt sich an Impulse W. Zimmerlis und O. Kaisers erinnert. Jedoch folgt mit dem ausführlichsten 2. Teil eine Fortführung, die eher an eine Kombination von Eichrodt und von Rad erinnert. Anderson spricht von drei Typen von Bundesschlüssen Gottes, denen er drei grundlegende theologische Spannungen zuordnet. Im Bund mit Abraham ist vor allem die Spannung zwischen partikularem und universalem Heil beheimatet; hier werden schwerpunktmäßig die Konzeptionen der Priesterschrift und des Propheten Ezechiel behandelt. Im Bund mit Mose (die Basis bilden Deuteronomium, DtrG, Hosea und Jeremia) wird die Spannung zwischen göttlicher Souveränität und freiem Willen des Menschen erkennbar. Im Bund mit David schließlich (literarisch vornehmlich die Psalmen, das ChrG und Jesaja) sowie in der mit ihm verbundenen Ziontradition wird die Spannung zwischen göttlicher Transzendenz und Immanenz zum Thema. Der abschließende Teil 3 ist historisch ausgerichtet und behandelt die theologischen Krisen, die sich durch die Zerstörung Jerusalems und das Exil einstellten: Theodizeefrage, wachsendes Interesse an Tora und Weisheit bis zur Identifikation beider und die Entwicklung der Prophetie zur Apokalyptik, die ihrerseits Vorspiel für das NT ist. Hier liegt der beachtliche Entwurf eines (im besten Sinne des Wortes) konservativen Theologen vor. Wo seine Theologie endet (mit den Folgen des Exils: Teil 3), setzt Kaisers Theologie ein. Natürlich weiß auch Anderson,
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dass die in Teil 2 behandelten Konzeptionen der Priesterschrift und des Chronistischen Geschichtswerks in die Zeit nach dem Fall Jerusalems gehören, aber er hält die jeweiligen Basiskonzepte der drei Bundesschlüsse für vorexilisch und kann die späteren Texte ihnen zuordnen. Am meisten erstaunt, dass das Thema der Schöpfung, das etwa in Kaisers Theologie eine zentrale Rolle spielt und dem Anderson viel Zeit seines Forscherdaseins gewidmet hat, nur als Unterthema des Abrahambundes erscheint mit vergleichsweise geringem Gewicht.
6. Teilthemen einer „Theologie des AT“ 1) Die seit langer Zeit intensiv geführte Diskussion um eine „Mitte des AT“ kann man nur bedingt unter die Überschrift „Teilthemen“ subsumieren, weil diese Diskussion den Aufbau einer „Theologie des AT“ entscheidend mitbestimmt. Einigkeit besteht darin, dass das AT, das ja selber kein Buch darstellt, sondern eine Bibliothek enthält, kein Grundprinzip besitzt, das sich in jedem Text wiederfinden ließe; gäbe es ein solches, hätte es der kontroversen Diskussion nicht bedurft. Umgekehrt aber gilt: Gäbe es keinen Zentralgedanken, kein zentrales Anliegen in den Texten des AT, wäre das Unternehmen einer „Theologie des AT“ schon im Ansatz gescheitert. Ich erinnere zurück: Von Rad leugnete, dass das AT eine Mitte besäße; es war konsequent, dass er seine „Theologie“ daraufhin in mehrere Überlieferungsströme aufteilte, die er unverbunden nebeneinanderstellte. Die Frage nach der „Mitte“ ist letztlich die Frage nach der Einheit des AT. In diesem Zusammenhang ist es sehr zu begrüßen, dass R. Smends klassische Darstellung des Problems, 1970 erstmals als „Theologische Studie“ erschienen, 1986 als Titelbeitrag seiner „Gesammelten Studien I“ wieder abgedruckt, seit 2002 im Kontext einer leicht variierten Aufsatzsammlung erneut zugänglich ist. Zusammen mit der etwas älteren kleinen Schrift „Die Bundesformel“ ergibt Smends Argumentation (im Anschluss insbesondere an J. Wellhausen) ein eindrucksvolles Plädoyer dafür, dass ebendiese Bundesformel („Jahwe der Gott Israels – Israel das Volk Jahwes“) die „Mitte“ des AT sei, dem viele Exegeten gefolgt sind. Sachgemäß ist diese Bestimmung vor allem deshalb, weil sie die Eigenart des AT ins Zentrum rückt, dass das AT „von dem Gott (redet), der sich in seinem Handeln am Menschen definiert“ (Hermisson, 97). Ich persönlich wüsste nur eine andere Bestimmung einer „Mitte des AT“ zu nennen, die einen ebenso wesentlichen Aspekt der spezifisch biblischen Rede von Gott ins Zentrum rückt: W. H. Schmidts häufig (etwa in „Alttestamentlicher Glaube“, 8. Auflage 430ff.) geäußerten Vorschlag, die Ausschließlichkeit Gottes, wie sie im 1. Gebot ausgesprochen ist,
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ins Zentrum rücken; er präzisiert zugleich Zimmerlis Interesse, den JahweNamen als Symbol der „Selbigkeit Gottes“ als „Mitte“ des AT zu erklären. Bei näherem Zusehen sind beide Bestimmungen einer „Mitte“ allerdings keine Alternativen im strengen Sinn, da sich einerseits das erste Gebot an Israel richtet und die Beziehung Jahwe-Israel voraussetzt, andererseits aber das 1. Gebot die Besonderheit des Jahwe-Namens im Vergleich mit den Göttern deutlicher zum Ausdruck bringt als alles andere. Erinnert sei in diesem Kontext an die zuvor genannte Kombination beider Bestimmungen einer „Mitte“ als „fundamentaler Denkvoraussetzungen“ des AT, die seinen verschiedenen „Gottesbezeugungen“ ihre Einheit geben, bei O. Kaiser (Bd. 2,17), der seinerseits schon auf eine lange Diskussion um die Bestimmung einer „Mitte“ zurückblicken kann. Diese Diskussion hat darin ihr großes Gewicht, dass in ihr die Frage nach der Besonderheit des AT im Vergleich mit anderen Sammlungen religiöser Urkunden und die Frage nach der Kontinuität der Gottesaussagen Israels aufs Wesentliche konzentriert werden. Eine intensive und zugleich kritische Darstellung neuerer Vorschläge zur „Mitte“ und der Notwendigkeit, nach einer „Mitte“ zu fragen, bietet L. SchwienhorstSchönberger in dem auch sonst lesenswerten Sammelband „Wieviel Systematik erlaubt die Schrift?“. Er weist dabei mit Recht darauf hin, dass sich bei den verschiedenen Autoren mit dem Begriff der „Mitte“ im Einzelnen sehr verschiedenartige Nuancen verbinden: begriffliche, literaturwissenschaftliche, theologische; hier ging es nur um die letztgenannten. 2) Der Aspekt der – für den nachgeborenen Christen – fremdartigen Gottesaussagen im AT hat die theologisch interessierten Exegeten in den vergangenen Jahrzehnten oft bewegt11. Aber die beiden sehr lesenwerten Bände von W. Dietrich und Chr. Link ragen in doppelter Hinsicht aus den Arbeiten zu diesen Themen heraus. Zum einen arbeiten hier, wie sonst nur sehr selten12, ein Alttestamentler und ein (am AT interessierter) Systematiker zusammen, und sie zeigen gerade in ihrer je unterschiedlichen Zugangsweise zu den Teilthemen die Komplexität und Brisanz der Fragen an. Zum anderen werden mit der „Willkür Gottes“ (darunter u.a. Verwerfung und Verstockung Gottes sowie seine Verborgenheit) und seiner „Gewalt“ (darunter u.a. Eifersucht, Intoleranz, Rache und Zorn Gottes) in Band 1 sowie der „Allmacht“ Gottes (darunter u.a. die Frage nach dem Bösen, der Feindschaft Gottes und das Theodizeeproblem), seiner „Ohnmacht“ (darunter u.a. Gottes Schweigen und Ferne, seine „Reue“ und sein Leiden an seinen Menschen) und seinem „Ge-
11 Ich nenne exemplarisch: F. LINDSTRÖM, God and the Origin of Evil, Lund 1983; E. NOORT, JHWH und das Böse, OTS 23 (1984) 120–136. 12 Vorgänger waren W. GROSS/K.-J. KUSCHEL, „Ich schaffe Finsternis und Unheil!“ Ist Gott verantwortlich für das Übel?, Mainz 1992.
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richt“ so viele Teilthemen behandelt wie in keiner analogen Monographie13. Sympathisch berührt dabei, dass beide Autoren bei den verhandelten Grenzfragen weniger erklären als vielmehr behutsam den Texten und den hinter ihnen stehenden Erfahrungen und Anfechtungen nachspüren wollen. Es ist ja nicht die Not theoretischer Reflexion, sondern existentielles Leid, das die Verfasser der biblischen Texte zu solchen Grenzaussagen genötigt hat. Die Kunst der Auslegung ist hier noch stärker als sonst, den Texten ihre Fremdheit zu lassen und gleichzeitig ihre Aktualität herauszustellen. Das gelingt beiden Autoren in beachtlicher Weise. Den „dunklen“ Gottesbildern gilt auch ein von W. Beinert 1999 herausgegebener Band mit dem Titel „Gott – ratlos vor dem Bösen?“ In ihm hat W. Groß einen sehr lesenswerten Beitrag zum Thema des „Zornes Gottes“ geschrieben, das so gern übergangen wird und noch immer einer neueren monographischen Behandlung durch einen Exegeten harrt. Groß kommt zu dem überzeugenden Ergebnis, dass der Zorn Gottes im AT – häufig als Interpretament verwendet – nicht als Opposition der Liebe Gottes zugeordnet wird, sondern „Ausfluss seiner Gerechtigkeit“ ist, nämlich „die Schattenseite seiner Gerechtigkeit“ (79). 3) Im Übrigen gibt es eine Reihe von kürzlich veröffentlichten Aufsatzbänden, die – wie derjenige von W. Dietrich, der soeben genannt wurde – betont das Stichwort „Theologie des AT“ im (Titel bzw.) Untertitel führen14. Auf sie kann nur mit je einem Satz hingewiesen werden. In Janowskis Bänden spielen Fragen der Tempeltheologie, der Lösegeldvorstellung und der Stellvertretung (Bd. 1) sowie des Verhältnisses von „Richten und Retten“ Gottes (Bd. 2, neben zwei Beiträgen zur biblischen Theologie) eine tragende Rolle; N. Lohfink behandelt neben hermeneutischen Fragen etwa das Königtum Gottes und den Dekalog; E.-J. Waschke stellt eingangs seine gründlich überarbeitete Habilitationsschrift zur Messiasvorstellung vor und beantwortet u.a. Fragen zum Mythos, zur Eschatologie und zum Verhältnis von Theologie des AT und Religionsgeschichte Israels. Für Spieckermann dagegen ist die im Titel genannte „Liebe Gottes“ der Oberbegriff für die im Einzelnen behandelten Themen der „Gnade“ und „Gerechtigkeit“ Gottes, seines Gerichts und endlich der Stellvertretung durch den Gottesknecht.
13
Fragen der „Rache“ und „Gewalt“ Gottes, aber auch seiner „Gerechtigkeit“ hat W. DIETRICH darüber hinaus in verschiedenen Aufsätzen behandelt, die jetzt in einem Band mit dem Titel „Theopolitik“ (Neukirchen-Vluyn 2002) gesammelt vorliegen. 14 B. JANOWSKI, Gottes Gegenwart in Israel, Neukirchen-Vluyn 1993; DERS., Die rettende Gerechtigkeit, Neukirchen-Vluyn 1999; N. LOHFINK, Studien zur biblischen Theologie (SBAB 16), Stuttgart 1993; H. SPIECKERMANN, Gottes Liebe zu Israel (FAT 33), Tübingen 2001; E.-J. WASCHKE, Der Gesalbte (BZAW 306), Berlin/New York 2001.
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7. Theologie des AT und/oder Religionsgeschichte Israels Zwar sind die Zeiten vorüber, in denen – wie zu Beginn des 20. Jh.s – die Zusammenfassungen der alttestamentlichen Aussagen so einseitig historisch geboten wurden, dass C. Steuernagel meinte, „die alttestamentlichen Theologie von den Fesseln der alttestamentlichen Religionsgeschichte befreien“ zu müssen15, oder aber so einseitig theologisch wie zu Zeiten des 2. Weltkriegs, als ein Religionsgeschichtler wie O. Eissfeldt im deutschen Sprachraum als isolierter Einzelkämpfer erschien. Aber das Verhältnis beider Disziplinen zueinander ist nach wie vor umstritten. Es gibt auch heutzutage vereinzelt Stimmen, die einseitig für eine „Religionsgeschichte“ plädieren. Auf neutestamentlicher Seite ist hier besonders der Finne H. Räisänen zu nennen, der an das Programm W. Wredes anknüpfen möchte, freilich sehr wohl weiß, dass es auch unter den Religionsgeschichtlern reine „Empiristen“ und („,theologisch‘ orientierte“) „Transzendentalisten“ (67ff.) gibt, selber aber entschieden für die objektive „Außenperspektive“ der erstgenannten Gruppe plädiert. „Theologiegeschichte des Urchristentums“ statt „Neutestamentlicher Theologie“ (mit ihrer Gefahr der „Innenperspektive“) heißt sein Programm (74ff.). Er weiß sich hier mit R. Albertz einig, der „Religionsgeschichte Israels statt Theologie des Alten Testaments“ formuliert hatte mit dem Ziel, „den in den alttestamentlichen Texten ,gefrorenen‘ Dialog in ein lebendiges Streitgespräch verschiedener israelitischer Menschen und Gruppen zurückzuübersetzen“ (23). Dass es zu solcher „Rückübersetzung“ der historischen Rekonstruktion mit all ihren Unsicherheiten bedarf, weiß auch Albertz und nimmt die Unsicherheiten in Kauf. Insofern steht er mit seinem Anliegen in denkbar krassem Gegensatz zu den Vertretern eines „kanonischen Ansatzes“ und ihrer Suche nach objektiven Grundlagen einer „Theologie“ (s.o.). Sein scharfes Urteil ist freilich bedingt durch die Polemik gegen einen Theologiebegriff, den er durch dogmatische „Vorurteile“ geprägt sieht, während er „wissenschaftliche Transparenz“ nur der historischen Betrachtung zubilligt, weil sie ihre Beurteilungskriterien aus der Sache selbst, d.h. systemimmanent, gewinne. Die – bewusst provokante – These von Albertz hat eine sehr lebhafte Diskussion ausgelöst, die hier nicht in allen Einzelheiten nachgezeichnet werden muss, weil sie in dem von B. Janowski und N. Lohfink betreuten Band 10 des „Jahrbuchs für Biblische Theologie“ bzw. in mehreren Aufsätzen in der von D. Vieweger und E.-J. Waschke herausgegeben Festschrift für S. Wagner leicht zugänglich ist. Der Grundtenor all dieser Beiträge ist, dass die historische Perspektive der distanzierten Außensicht, wie sie die Religionsgeschichte übt, unverzichtbar ist, aber nicht die für eine „Theologie des AT“ unabdingbare Frage beantworten kann, inwiefern die Aussagen dieser fernen Tra15 Alttestamentliche Theologie und alttestamentliche Religionsgeschichte, in: Vom Alten Testament (FS K. Marti [BZAW 41]), hg. von K. Budde, Gießen 1925, 266–273; 266.
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ditionen für den Glauben der Gegenwart relevant sind. Während eine „Religionsgeschichte Israels“ prinzipiell auch an einer Philosophischen Fakultät gelehrt werden könnte, gilt das für eine „Theologie des AT“ keinesfalls, weil sie – explizit oder doch zumindest in der Auswahl ihres Stoffes implizit – auf die Vermittlung von Vergangenheit und Gegenwart abzielt, wie ja auch die Texte, die sie zusammenfasst, erst voll verstanden sind, wenn ihr Anspruch wahrgenommen ist, gegenwärtige Leser zu treffen16. Erinnert sei in diesem Zusammenhang nochmals an die eingangs des Aufsatzes zitierte Unterscheidung von Exegese und Theologie durch J. Barr (s.o.). Gleichzeitig sind aber so gut wie alle Beiträge von der Überzeugung geleitet, dass die Funktionen der beiden das Fach AT summierenden Disziplinen sich einander angenähert haben. Wenn etwa ein „Religionsgeschichte Israels“ die Motivation Israels darstellt, von einem unreflektierten Anikonismus der Frühzeit zur Polemik des Bilderverbots voranzuschreiten, nimmt sie theologische Aufgaben wahr; wenn umgekehrt eine „Theologie des AT“ sich vor den Gottesaussagen der Religionen der Umwelt Israels nicht verschließt und begründet, warum der biblische Glaube sich manchen von ihnen öffnete, andere strikt ablehnte, nimmt sie religionsgeschichtliche Funktionen wahr. Die unlösliche Bezogenheit beider Disziplinen aufeinander hat in jüngster Zeit insbesondere H.-J. Hermisson herausgestellt, der den Titel von JBTh 10 „Religionsgeschichte Israels oder Theologie des Alten Testaments“ bewusst umformuliert: „Alttestamentliche Theologie und Religionsgeschichte Israels“, mit der Voranstellung der Theologie zugleich aber verdeutlicht, von welcher Warte aus er urteilt. Für ihn ist die „Theologie des AT“ eine notwendig historische Disziplin, da der Glaube Israels sich auf konkrete Geschichtserfahrungen bezog und von ihnen nicht zu lösen ist, wie besonders von Rad so häufig betont hat; sie ist gleicherweise eine notwendig theologische Disziplin, weil sie sich um Texte müht, die einen Wahrheitsanspruch haben und in der Person Jesu Christi ihre „externe Mitte“ finden, d.h. einen Wahrheitsanspruch auch für Christen haben. Da es andererseits keine Religion ohne Theologie gibt, kann Hermisson formulieren: „Religion ist gelebte Theologie und Theologie je und je definierte Religion“ (60). Aus dieser Definition ergibt sich die gegenseitige Angewiesenheit beider Größen aufeinander zwingend. Mit etwas anderer Begründung kommt J. Barr (100–139) zu einem sehr ähnlichen Ergebnis: Religionsgeschichte Israels und Theologie des AT müssen hinsichtlich ihrer Zielvorstellung und ihres Themas („scope and field“, 133) unter-
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Vgl. etwa W. H. SCHMIDT, „Theologie des Alten Testaments“, a.a.O. (Anm. 3), 16; J. BARTON, Alttestamentliche Theologie nach Albertz?, in: I. Baldermann/E. Dassmann/ O. Fuchs u.a. (Hg.), Religionsgeschichte Israels oder Theologie des Alten Testaments? (JBTh 10), Neukirchen-Vluyn 1995, 25–34; H.-C. SCHMITT, Religionsgeschichte, a.a.O. (Anm. 3), 45ff.
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schieden werden, dürfen aber nicht in Opposition zueinander gesehen werden: „overlap and mutual enrichment“ (135) beider Disziplinen ist anzustreben. Faktisch gibt es längst Versuche, das reine Nebeneinander von „Religionsgeschichte“ und „Theologie“ zu überwinden, wie es noch von Rads und Kaisers Entwürfe prägt, wenn ersterer seiner Theologie einen „Abriss einer Geschichte des Jahweglaubens …“ voranstellt, letzterer eine Religionsgeschichte in nuce. Der erste und wichtigste ist W. H. Schmidts „Alttestamentlicher Glaube“, dessen Titel sich in der 8. Auflage gegenüber früheren Auflagen („Alttestamentlicher Glaube in seiner Geschichte“) bemerkenswert verkürzt hat. Sein Aufriss ist religionsgeschichtlich; aber schon in der 6. Auflage waren Themen wie „Alttestamentliche Ethik“, „Der Gottesknecht“, „Hoffnung für die Völker“ und „Das alttestamentliche Erbe“ hinzugekommen, die man schwerlich in einer klassischen „Religionsgeschichte“ sucht, und in der 8. um 100 Seiten gewachsenen Auflage sind u.a. Abschnitte wie „Prophetenwort und -buch“, „,wahre‘ und ,falsche‘ Prophetie“, „Die Psalmen“ und „Elemente biblischer Theologie“ hinzugetreten, und die anfängliche „Fragestellung“ heißt explizit: „Ein Brückenschlag zwischen ,Theologie‘ und ,Religionsgeschichte‘ des Alten Testaments“. Hier hat sich eine anfängliche „Religionsgeschichte“ immer stärker dem Gespräch mit der „Theologie“ geöffnet. Ganz anders sieht der Brückenschlag im posthum veröffentlichten Werk A. H. J. Gunnewegs aus. Er schreibt primär, wie der Untertitel seines Buches sagt, eine „Religionsgeschichte“, die das „Gottes- und Selbstverständnis“ Israels erheben möchte. Seine Darstellungsweise ist die historische. Aber sein Ziel ist, die alttestamentlichen „Glaubensbekenntnisse … an den zentralen Glaubensbekenntnissen … des Neuen Testaments“ zu messen (35). Vergleichende Wertungen wie „Exklusivität des Bundes Gottes mit Israel – Jesu Tod für die Vielen“ prägen die Darstellung nicht, werden aber immer wieder eingestreut. Wieder ganz anders ist die Weise, wie T. N. D. Mettinger beide Disziplinen verbindet. Hatte er in einem früheren Werk mit dem Titel „The Dethronement of Sabaoth“ (Lund 1982) schwerpunktmäßig die deuteronomistische Namenstheologie und die priesterliche und ezechielische Kabod-Theologie behandelt, also gewichtige Themen der „Theologie“, so jetzt zentrale Elemente des alttestamentlichen Gottesbildes. Ausgehend von einer Analyse der Gottesnamen nutzt er gleicherweise klassisch „religionsgeschichtliche“ Mittel (die Heranziehung der Ikonographie sowie ugaritischer Texte und die Analyse gottesdienstlicher Riten) wie zentrale theologische Texte („Ich bin“-Worte; Deuterojesaja; Buch Hiob), um eine Geschichte der Gottesvorstellungen zu entwerfen, die von einer großen Vielheit an Gottesbildern (in Juda mit einem ältesten Kern in der Prädikation Gottes als König) zu einem immer umfassenderen und komplexeren Gottesbild führt. Schließlich ist auf den gewichtigen Aufsatzband P. D. Millers hinzuweisen, in dem klassisch religionsgeschichtliche Arbeiten (etwa zu El und zum
2. Neuere Entwürfe zu einer „Theologie des Alten Testaments“
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himmlischen Hofstaat) neben Aufsätzen zu den Psalmen und zu theologischen Themen wie Gebet, Schöpfung und Bund sowie zur Intention des Deuteronomiums stehen.
8. Fazit Sollte ich aus den vorausgehenden Darlegungen ein Fazit für die zukünftigen Aufgaben der Disziplin ziehen, so würde ich primär ein Dreifaches nennen (wohl wissend, dass es ein Leichtes ist, derartige Postulate aufzustellen, sehr viel schwerer dagegen, sie – und gar miteinander – zu verwirklichen): 1) So gewiss eine „Theologie des AT“ nicht in eine Fülle von unzusammenhängenden Einzel-Theologien zerfallen darf, so müsste doch vor der Frage nach der theologischen Einheit der großen Textkomplexe die Wahrnehmung ihrer Verschiedenheit zu stehen kommen, wenn die gegenwärtige Entwicklung nicht wieder weit hinter von Rad zurückfallen will. Bevor Pentateuch und Prophetie miteinander in Verbindung gebracht wurden – wie etwa am Ende des Zwölfprophetenbuches –, sind sie theologisch je für sich gewachsen; bevor Tora und Weisheit bei Ben Sira identifiziert wurden, haben sich an ihnen je unterschiedliche Fragenkreise entwickelt. Solange Theologie auch als ein Prozess innerhalb des ATs selber verstanden wird, müssen die großen „Denkformen“ des biblischen Glaubens17 – Geschichte, Recht, Kultus, Weisheit und Prophetie – zunächst in ihrer je eigenen theologischen Entwicklung über die Jahrhunderte wahrgenommen werden. Erst dann ist von Rads Postulat, „die Texte ausreden zu lassen“, Genüge getan. (Kaiser ist diesem Postulat mit der Voranstellung eines Abrisses der Literaturgeschichte in seiner „Grundlegung“ am ehesten entgegengekommen – nur m.E. zu unverbunden mit der eigentlichen „Theologie“). 2) Freilich darf hierbei nicht stehengeblieben werden. Die Kritik Zimmerlis an von Rad, dieser suche mehr das Besondere als die Einheit im AT, das Pochen von Childs und Rendtorff auf die Vorgegebenheit des Kanons, die vor allem durch Smend angestoßene Diskussion über eine „Mitte“ des AT: all dies nötigt zum Zusammendenken, und zwar nicht nur aus modernem theologischen Bedürfnis heraus, sondern auch, weil die späten Stadien der Redaktionsgeschichte im AT selber auf der Suche nach einer solchen Einheit sind, wie die zuvor genannten Beispiele zeigen. (Aus meinem eigenen Arbeitsgebiet ist mir am geläufigsten, wie die verschiedenen prophetischen Stimmen im Zwölfprophetenbuch – durch explizite Textbezüge – immer mehr auf das sie
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Der Begriff stammt von I. L. SEELIGMANN (Menschliches Heldentum und göttliche Hilfe. Die doppelte Kausalität im alttestamentlichen Geschichtsdenken, ThZ 19 [1963] 385–411; 385) und ist von SMEND (Die Mitte, a.a.O. [Anm. 3], 44) aufgegriffen worden.
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miteinander Verbindende hin gelesen werden, zuletzt auch auf das Verbindende zum Pentateuch hin.) 3) Die gesuchte Einheit darf aber keine ungeschichtliche sein, wenn sie dem Gott entsprechen will, den das AT bezeugt: So anregend der imponierende Entwurf Brueggemanns auch ist, er ist programmatisch ungeschichtlich. Letztlich gilt Analoges auch für Childs und Rendtorff, wenngleich beide Autoren sich gegen ein solches Urteil wehren würden. Der Reichtum des AT aber besteht auch in der langen Zeitstrecke von ca. 900 Jahren, die zwischen seinen ältesten und seinen jüngsten Texten liegt. Das reiche Wissen des späten Israel von Gott hat eine lange Vorgeschichte, und diese Vorgeschichte ist auch theologisch belangreich. Zahlreiche alte Texte wurden trotz neuer theologischer Erkenntnis Späterer weiter tradiert und nicht als obsolet betrachtet. Die Abgrenzung des wahren Gottes von den Göttern war Israel nicht in die Wiege gelegt. Der Weg seiner Erkenntnis ist durch viele Einzelentscheidungen geprägt, die im fertigen Glauben nicht mehr unmittelbar sichtbar werden. Nicht zuletzt darum ist die Angewiesenheit der „Theologie des AT“ auf die Schwesterdisziplin der „Religionsgeschichte Israels“ (in der sie freilich nicht aufgehen darf) neu hervorzuheben, wie sie eindrucksvoller als andere zuletzt Hermisson aufgewiesen hat, dem diese Gedanken in Dankbarkeit für viele Begegnungen zum 70. Geburtstag gewidmet sein sollen.
3. Hauptprobleme einer Theologie des Alten Testaments1 1. Problemstellung In der exegetischen Wertung der Gegenwart gilt die „Theologie des AT“ bei der Ausbildung von Pfarrern und Religionslehrern als Königsdisziplin. In der Tradition, in der ich selbst aufgewachsen bin, bestand ein ungeschriebenes Gesetz, dass ein Professor erst in den letzten Jahren seiner Tätigkeit sich der Aufgabe dieser Disziplin zuwenden solle. Sie galt als schwerste Vorlesung, weil sie als Zusammenfassung die intime Kenntnis aller anderen Vorlesungsthemen voraussetzt und insofern die Quintessenz aller exegetischen, historischen und traditionsgeschichtlichen Themen und Vorlesungen zu bieten versucht. Da heute, insbesondere in Deutschland, die Ansichten der Exegeten weit voneinander abweichen und zahlreiche Texte von einigen Exegeten als sehr alt, von anderen als sehr jung eingeschätzt werden, ist die Aufgabe einer solchen Zusammenfassung noch einmal erheblich erschwert worden und wird von einer großen Zahl meiner Kollegen gemieden. Jedoch liegt noch nicht in der Zusammenfassung der vielfältigen Einzeldisziplinen unseres Faches die eigentliche Schwierigkeit einer „Theologie des AT“, so gewiss sie voraussetzt, dass ein Autor diese Disziplinen beherrscht, weil es in einer Gesamtdarstellung um die Gewichtung der Einzelthemen geht. Die eigentliche Schwierigkeit liegt im Gegenstand des AT selber. Sie ist in meinen Augen primär eine doppelte: 1.1) Das AT ist kein Buch, sondern eine kleine Bibliothek, in der Prosawerke neben Poesie stehen, historische Bücher neben Weisheitsschriften, Prophetenbücher neben Hymnen und Gebeten. Ihrer Gattung und Intention nach sind die Texte des AT so unterschiedlich wie nur denkbar. Wie soll man sie sinnvoll miteinander vereinen? Muss nicht jede Zusammenfassung dieser gattungsgeschichtlichen Vielfalt der Texte Gewalt antun, indem unter einem vorgegebenen Thema (Schöpfung, Schuld, Erlösung etc.) Texte mit ganz verschiedener Ausrichtung miteinander verbunden und so ihrer Eigenintention beraubt werden? Wird aus der Vielfalt des AT, die seinen beeindruckenden Reichtum ausmacht, nicht notwendig eine künstliche Einheit? Anders gefragt: Wie viel Systematik verträgt eine Theologie des AT, ohne dass sie ihre Texte durch Gesichtspunkte, die von außen an sie herangetragen werden, zum 1
Vortrag auf einer Konferenz zur „Theologie des Alten Testaments“ in Klausenburg (Cluj), Siebenbürgen, anlässlich der Übersetzung der Theologie W. Brueggemanns ins Ungarische (April 2012).
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Schweigen bringt? Ich deute hier nur schon an, dass es christliche Theologen beunruhigen muss, dass zahlreiche jüdische Theologen sich der Disziplin einer Theologie des AT bzw. der Hebräischen Bibel verweigern, weil sie einer solchen Einheitssicht misstrauen2. 1.2) Die Texte des AT stammen aus ganz unterschiedlichen Zeiten. Die ältesten sind von den jüngsten ca. 800 Jahre getrennt. Man muss nur in der Geschichte des eigenen Volkes 800 Jahre rückwärts gehen, um diesen enormen Zeitraum zu ermessen. Diese Besonderheit der alttestamentlichen Texte hat dazu geführt, dass es neben einer Theologie des AT noch eine zweite zusammenfassende Disziplin unseres Faches gibt: die Religionsgeschichte (RG) Israels. Wie ist das Verhältnis dieser beiden Disziplinen zu beschreiben, die beide das gesamte Textmaterial des AT zusammenfassen möchten: Ergänzen sie einander oder stehen sie in Konkurrenz zueinander? Können sie voneinander lernen? Wie kann eine Theologie des AT angemessen das Interesse an historischer und religiöser Differenzierung wahrnehmen, das im Mittelpunkt einer RG Israels steht? Die entscheidende Frage, die an jede Theologie des AT zu richten ist, lautet also: Wie lassen sich historische und traditionsgeschichtliche Aspekte mit einem im Ansatz systematischen Anliegen verbinden? Die langen Jahrhunderte, die zwischen den ältesten und den jüngsten Texten des AT liegen, und die Notwendigkeit, die Texte zu gewichten und zu werten, erfordern beides. Ich beginne mit der zuletzt angesprochenen Frage nach dem Verhältnis von einer Theologie des AT und einer RG Israels.
2. Theologie des AT und RG Israels 2.1. Ein kurzer Blick auf die Forschungsgeschichte Lassen Sie mich die Spannung zwischen diesen beiden Disziplinen mit einem kurzen Forschungsbericht erläutern, der allerdings auf die deutsche Forschung beschränkt bleibt3. Als Geburtsstunde einer Disziplin Theologie des AT setzt man hier üblicherweise das Jahr 1787 an, in dem Johann Philipp Gabler seine 2 Vgl. etwa den programmatischen Titel von J. D. LEVENSON, Warum Juden sich nicht für biblische Theologie interessieren, EvTh 51 (1991) 402–430 (engl. Original: Why Jews Are Not Interested in Biblical Theology, in: J. Neusner/B. A. Levine/E. S. Frerichs [Hg.], Judaic Perspectives on Ancient Israel, Philadelphia 1987, 281–307 und in: DERS., The Hebrew Bible, the Old Testament, and Historical Criticism, Louisville 1993, 33–61). 3 Vgl. die vorzüglichen Darstellungen von W. ZIMMERLI, Art. Biblische Theologie I, TRE 6 (1980) 426–455 und W. H. SCHMIDT, „Theologie des Alten Testaments“ vor und nach Gerhard von Rad, VuF 17 (1972) 1–25; auch in: DERS., Vielfalt und Einheit alttestamentlichen Glaubens II, Neukirchen-Vluyn 1995, 155–179; zuletzt in: DERS., Gottes Wirken und Handeln des Menschen (BThSt 147), Neukirchen-Vluyn 2014, 29–72.
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berühmte „Rede über die rechte Unterscheidung biblischer und dogmatischer Theologie“ („oratio de iusto discrimine theologiae biblicae et dogmaticae“) hielt und mit ihr erstmals die Selbständigkeit einer Biblischen Theologie gegenüber der Dogmatik begründete. Damit war die Biblische Theologie als ein historisches Fach ins Leben gerufen. Es sollte schon bald danach in die Fächer AT und NT aufgegliedert werden. War einmal die Bibel als eine historische Größe anerkannt worden, war die Unterscheidung zwischen alttestamentlicher und neutestamentlicher Theologie nur eine Frage der Zeit. Mit dem neuen Aufbruch und der neuen Intention, die Theologie des AT als eine historische Disziplin zu verstehen, zog bald ein immer stärkeres Selbstbewusstsein in die Exegese ein. Die Betonung der geschichtlichen Entwicklung des alttestamentlichen Glaubens wurde immer stärker. Die Unterscheidung zwischen historischer und dogmatischer Theologie wollte man jetzt konsequent vollziehen und sich endgültig von der Umklammerung durch die Dogmatik befreien, der man gern alle Fragen nach der Geltung der alttestamentlichen Texte für die Gegenwart überließ. Am Ende des 19. Jh.s, also am Höhepunkt der historisch-kritischen Forschung im klassischen Sinn, wie sie besonders mit dem Namen Wellhausen verbunden war, nannte Rudolf Smend d.Ä. seine Zusammenfassung alttestamentlicher Forschung betont ein „Lehrbuch der alttestamentlichen Religionsgeschichte“ (1893) und nicht mehr eine „Theologie des AT“. Er begründete diese Entscheidung so: Der Name „Biblische Theologie“ hat „einmal sein geschichtliches Recht gehabt“, aber inzwischen entspricht er nicht mehr „dem Wesen der heutigen Bibelforschung. Jedenfalls handelt es sich bei der Darstellung der alttestamentlichen Religion viel weniger um theologische Vorstellungen und Begriffe als vielmehr um die Geschichte der Religion … Die Darstellung der alttestamentlichen Religion darf deshalb keine systematische sein“ (S. 1 und 7).
So gewiss die historische Forschung dieser Epoche wichtige Ergebnisse erbrachte, auf denen noch heute alle Exegese fußt, so sehr stand sie mit ihrer einseitigen Betonung des Historischen zugleich in der Gefahr, ihre Zugehörigkeit zur Theologie als ganzer zu verlieren. Es zeigte sich immer mehr, dass die historischen Ergebnisse der alttestamentlichen Forschung so gut wie keine Relevanz für die Systematik besaßen. Thematisiert wurde diese Gefahr vor allem nach dem 1. Weltkrieg. Typisch für diese Zeit kann ein Plädoyer für die Rückkehr zur Theologie des AT als zusammenfassender Disziplin von Carl Steuernagel gelten: „Wenn es damals [gemeint ist die Zeit Gablers] notwendig war, die biblische Theologie aus den Fesseln der Dogmatik zu befreien, so gilt es heute, wie mir scheint, die alttestamentliche Theologie von den Fesseln der alttestamentlichen Religionsgeschichte zu befreien, in denen sie völlig zu verkümmern droht.“4 4
C. STEUERNAGEL, Alttestamentliche Theologie und alttestamentliche Religionsgeschichte, in: Vom Alten Testament (FS K. Marti [BZAW 41]), hg. von K. Budde, Gießen 1925, 266–273; 266.
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Mit dieser Forderung setzte der Siegeszug der Disziplin Theologie des AT in der deutschen Forschung ein. Anfangs gab es mehrere Forscher, die wie Ernst Sellin sowohl eine Religionsgeschichte Israels als auch eine Theologie des AT verfassten. Aber sie taten dies dann stets in dem Bewusstsein, dass die RG Israels das historische Material zusammenzustellen hatte, dessen Bedeutung und Wertung dann durch die Theologie des AT vorgenommen wurde, wobei letztere wieder mit dogmatischen Kategorien arbeitete. Ich breche diesen forschungsgeschichtlichen Rückblick an dieser Stelle ab. Ich habe so weit ausgeholt, um aufzuweisen, wie die ältere Forschung dem alttestamentlichen Wissenschaftler, der sein Fach zusammenfassen will, eine doppelte Aufgabe zugewiesen hat. Er hatte zunächst als Historiker zu arbeiten, insofern er es mit Texten zu tun hat, die zwei Jahrtausende zurückliegen, dann als Theologe, insofern seine Arbeit beansprucht, Relevanz für die Gegenwart zu haben. Eine RG Israels beschreibt nach dieser Auffassung das Werden des biblischen Glaubens über die Jahrhunderte seit seiner Entstehung, eine Theologie des AT konzentriert sich auf die Darstellung des bleibend Gültigen. 2.2. Die Einbeziehung der altorientalischen Religionsgeschichte Heute würde kein Alttestamentler in Deutschland das Verhältnis der beiden zusammenfassenden Disziplinen auf diese Weise beschreiben. Vielmehr haben sich beide Disziplinen einander angenähert. Der wesentliche Unterschied zur Situation des Faches vor knapp 100 Jahren liegt darin, dass die Archäologie uns zwischenzeitlich gewichtige Texte der großen Kulturlandnationen des Alten Orients kennen gelehrt hat, deren Entzifferung und korrekte Deutung Jahrzehnte in Anspruch genommen hat. Die Bedeutung dieser Kenntnis ist kaum zu überschätzen. Ich erinnere nur an das Erschrecken der kirchlichen Öffentlichkeit zur Zeit des sog. Babel-Bibel-Streits am Anfang des 20. Jh.s angesichts der Tatsache, dass so gut wie alle biblischen Textgattungen – angefangen bei der Weisheit über die Psalmen bis zu den Rechtstexten und Königsinschriften – ihre Parallelen in Mesopotamien und Ägypten besitzen. Waren damit die biblischen Texte nicht in eine allgemeine Religionsgeschichte eingeebnet? Seit der Kenntnis der Paralleltexte des Alten Orients hat sich eine recht verstandene RG Israels der Theologie des AT erheblich angenähert. Denn jetzt ist ihre Aufgabe nicht mehr nur diejenige, die historischen Stadien des biblischen Glaubens nachzuzeichnen, sondern sie muss im Vergleich der altorientalischen Religionen mit dem AT notwendig die Frage beantworten, inwieweit der Glaube Israels im Kontext der anderen Religionen eine Besonderheit besitzt, die mehr ist als die Besonderheit jeder geschichtlichen Erscheinung generell. Sie muss die Frage beantworten, ab wann Aussagen des biblischen Glaubens den Horizont überschreiten, der für altorientalisches
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Denken generell typisch ist, und welche Aussagen das sind. Damit aber beginnt eine prinzipiell historisch arbeitende RG Israels die Aufgabe des Wertens und Gewichtens zu übernehmen, die traditionell gerade Aufgabe einer Theologie des AT ist5. Andererseits kann aber auch eine Theologie des AT ihre Wertungen nicht unabhängig von dem genannten Religionsvergleich treffen, als gäbe es die anderen Religionen nicht 6 . Vielmehr muss sie Entscheidungen treffen, die sich mit der Aufgabe einer RG Israels überschneiden. Ich nenne die beiden wichtigsten, die ich im Folgenden näher erläutern möchte: 1) Warum ist der Glaube Israels nicht untergegangen, als der Staat unterging, auf den er bezogen war? Im Falle der großen Kulturlandreligionen der Ägypter und Babylonier war genau dies der Fall (sieht man einmal vom partiellen Weiterleben der ägyptischen Religion im römischen Reich und der babylonischen Religion bei den Persern ab)? 2) Wo hat der biblische Glaube am deutlichsten die Notwendigkeit empfunden, sich vom Denken der anderen Religionen abzugrenzen? Wo finden sich die wichtigsten Auseinandersetzungen? Nach welchen Kriterien vollzog sich die Abgrenzung der biblischen Texte? 2.3. Die theologische Verarbeitung des staatlichen Untergangs Ich beginne bei der wichtigsten Frage, die eine Theologie des AT beantworten muss, die bereit ist, von einer RG Israels zu lernen: Warum ist der Glaube des biblischen Israel nicht zugrunde gegangen, als mit der Zerstörung Samarias und Jerusalems die Staaten zugrunde gingen, auf deren Existenz dieser Glaube einst bezogen war? Man bedenke, dass den damaligen Menschen alle Grundlagen ihres Denkens und Vertrauens aus den Händen gerissen worden waren: Der Tempel, in dem Gott doch inmitten seines Volkes gegenwärtig sein wollte, lag in Trümmern, obwohl er doch die großen Zusagen trug, die die Zionspsalmen rühmen, dass Gott selbst ihn beim Ansturm aller Völker dieser Erde gegen ihn wunderbar bewahren wolle. Der König war seines Augenlichts beraubt und gefangen worden, obwohl doch über ihm Gottes Zusage stand, dass er David für alle Zeiten einen Nachfolger auf seinem Thron schenken wolle (2Sam 7). Vor allem aber: Die größte Gabe Gottes an sein Volk, das Land, war in den Händen der Feinde, obwohl Gott es schon den Erzvätern, danach auch Mose fest versprochen hatte. Unter diesem Versprechen waren einst die Vorfahren aus Ägypten aufgebrochen. Alles, worauf der frühe Glaube Israels sich verlassen hatte, alle großen Zusagen Gottes, alle 5
Vgl. zu diesem Verständnis einer RG Israels besonders W. H. SCHMIDT, Alttestamentlicher Glaube, Neukirchen-Vluyn 112011. 6 Diesen Vorwurf hat man nicht ganz zu Unrecht der großartigen und einflussreichen „Theologie des Alten Testaments“ G. VON RADs (Bd. I, München 41962; Bd. II, 41965) gelegentlich gemacht.
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Stützen des Gottvertrauens waren den Menschen dieser Generation aus den Händen gerissen worden. Was konnten sie anderes tun, als das Scheitern ihrer Hoffnungen einzugestehen und entweder die Schwäche und Unterlegenheit ihres Gottes zu beklagen oder aber anzunehmen, dass Gott sein Volk verworfen habe und ihr Glaube an sein Ende gekommen sei? Ist es nicht nur allzu verständlich, dass die großen Kulturlandreligionen in analogen Situationen ihrem Ende entgegen gingen? Es waren primär zwei Faktoren, die den biblischen Glauben in der Stunde der staatlichen Katastrophe vor einem entsprechenden Geschick bewahrt haben. Der erste lag in der Frühgeschichte seiner Gottesbeziehung, der zweite in der Eigenart seiner Prophetie. 2.3.1. Die Anfänge der Gottesbeziehung Israels Ich beginne mit den Besonderheiten der frühen Gottesbeziehung Israels, die für seinen späteren Glauben von ausschlaggebender Bedeutung waren. Man kann sich dies besonders gut an einem Vergleich mit babylonischen Gottesvorstellungen vor Augen führen. Für die Babylonier hingen die göttliche Weltordnung und die Weltherrschaft der Babylonier untrennbar miteinander zusammen. Im berühmten Weltschöpfungsepos enūma elisch, dessen Rezitation im Mittelpunkt des Hauptfestes der Babylonier stand, wird erzählt, wie der Götterkönig Marduk das Chaosungeheuer Tiamat besiegt und aus seinem Körper Himmel und Erde schafft, im gleichen Akt aber auch Babylon als Mittelpunkt der Welt und dessen Tempel, in dem er Wohnung nehmen will. Nach dem zugrunde liegenden Mythos ist die Herrschaft Babylons Teil der kosmischen Ordnung. Als diese Herrschaft an ihr Ende geriet, hatte der Mythos seine Erklärungsfunktion verloren und war bedeutungslos geworden. Demgegenüber wusste das biblische Israel von einer Zeit, in der es ohne Tempel, ohne König und ohne Landbesitz gelebt hatte. Ja, mehr noch: Sein Gott JHWH war gar kein Gott des Landes, in dem Israel lebte, und war daher auch nicht unmittelbar mit dem Geschick des Landes Palästina verbunden. Vielmehr wissen die alten Theophanieschilderungen in Ri 5,4f., Dtn 33,2 und Hab 3,3, dass JHWH aus dem Süden kommt – es werden geographische Größen wie Pharan, Seir und Edom genannt – , wenn er seinem Volk zu Hilfe eilt. Die spätere Tradition sucht den Ort seiner grundlegenden Offenbarung – den Berg Sinai bzw. Horeb – mit gutem Grund im tiefen Süden. Auch dem Eigennamen des Gottesvolkes Isra-El lässt sich entnehmen, dass mit ihm nicht von Anbeginn die Verehrergruppe des Gottes JHWH bezeichnet war. Die singuläre Bezeichnung Gottes als „El, der Gott Israels“ (Gen 33,20) weist auf eine Vorgeschichte der Gottesverehrung Israels hin, die der Verehrung JHWHs vorauslag. Nimmt man hinzu, dass die Genesis zwei Ahnmütter, Lea und Rahel, kennt (und dazu noch zwei Ahnmägde), von denen sich unterschiedliche Stämme der Größe Israel herleiten, beginnt sich eine Frühgeschichte des bib-
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lischen Glaubens abzuzeichnen, von der wir nur noch Spuren besitzen, die aber ausreichen, um zu zeigen, dass die beiden Partner, JHWH und Israel, keineswegs von Anbeginn zueinander gehörten, sondern erst in einem allmählichen Prozess zueinander gefunden haben. Ein wichtiges Indiz für diesen allmählichen Prozess bildet der berühmte Satz aus der Abschiedsrede Josuas in Jos 24,15: „Wählt euch heute, wem ihr dienen wollt: den Göttern jenseits des Stroms oder den Göttern der Amoriter, in deren Land ihr wohnt. Ich aber und mein Haus wollen JHWH dienen!“ Dieser junge Bekenntnissatz weiß mit seiner Nachzeichnung einer weit zurückliegenden Entscheidungssituation noch etwas davon, dass JHWH und Israel nicht von Urzeit her zusammengehörten, ein früher Israelit also nicht einfach in einen selbstverständlich ererbten Glauben hineingeboren wurde. Wenn aber zahlreiche Texte des AT so nachdrücklich darauf hinweisen, dass die Grundlage aller alttestamentlichen Texte, das Bekenntnis: „JHWH ist der Gott Israels“, kein Urdatum des Glaubens Israels war, weil JHWH kein Gott des Landes war; wenn also Israels Gott so souverän nicht nur gegenüber Land und Tempel, sondern sogar gegenüber seinem Volk selber stand, dann war die staatliche Katastrophe von vornherein vieldeutig und nicht notwendig Indiz für Gottes Niederlage. 2.3.2. Die sog. Schriftprophetie An dieser Stelle bedarf es nun zwingend des Hinweises auf den 2. Faktor, der den biblischen Glauben über die Katastrophe des staatlichen Untergangs hinweggetragen hat: die sog. Schriftprophetie. Die Schriftpropheten nämlich waren es, die ihren Zeitgenossen, die unter der scheinbar selbstverständlichen Voraussetzung staatlicher Bedingungen lebten, lange Zeit vor der Katastrophe das mögliche Ende der göttlichen Gaben in Gestalt von Land, König und Tempel vor Augen gemalt hatten und damit zugleich das mögliche Ende der Gottesbeziehung Israels. Freilich hatten sie mit ihren hohen Maßstäben, die sie an eine glückende Gottesbeziehung anlegten, zu Lebzeiten nur wenige Zeitgenossen mit ihrer Botschaft erreicht, weil diese Maßstäbe der Mehrzahl der Bevölkerung utopisch hoch erschienen. Für die Schriftpropheten aber hing an diesen Maßstäben das Glücken oder aber das Scheitern der Gottesbeziehung. Ein Hosea riss einen Graben zwischen JHWH und Baal auf, wo die üblichen Zeitgenossen sich in einem baalisierten JHWH-Glauben häuslich niedergelassen hatten. Ein Amos malte das Bild einer von Gottes Gerechtigkeit geprägten Gesellschaft, wo seine Zeitgenossen das Recht des Stärkeren als eine Art Naturrecht anzuerkennen gewohnt waren. Ein Jesaja machte Ernst mit Gottes Bindung an David und Jerusalem und erwartete ein Gottvertrauen, das seinen Mitbürgern als Illusion erschien. In all dem vermochten die Zeitgenossen den Erwartungen der Propheten nicht zu folgen und verwarfen damit die Unheilsansagen, die die Propheten im Namen Gottes aussprachen.
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Aber ihre Schüler und Tradenten schrieben die Ankündigungen der Propheten zum Zeugnis gegen die Zeitgenossen auf, und in Gestalt dieser schriftlichen Botschaft hing das Schwert der drohenden Gottesankündigung über ihnen: Wegnahme von Land, Gefangennahme des Königs, Zerstörung des Tempels. Als dann die Katastrophe eingetreten war, galten die Propheten, die zu ihren Lebzeiten Außenseiter der Gesellschaft gewesen waren, als von Gott selbst bestätigte wahre Boten. Der staatliche Zusammenbruch wurde im Gefolge der Propheten als Gottes Gericht über schwere Schuld gedeutet, und die schriftlich niedergelegten Gottesworte der Propheten wurden für breite Kreise zum entscheidenden Orientierungspunkt, wenn sie nach dem Willen Gottes für ihre eigene Zeit fragten. So waren es letztlich die anfangs von der Menge verachteten Gottesworte der Propheten, die Israels Glauben über den Graben der staatlichen Katastrophe hinübertrugen. Die das spätere AT so stark prägende deuteronomistische Theologie ist letztlich nichts anderes als eine popularisierte Prophetentheologie. 2.4. Die biblischen und die altorientalischen Schöpfungsberichte Will eine Theologie des AT aus ihrem Gespräch mit der RG Israels lernen, muss sie aber vor allem erkennen, dass ein großer Teil der Texte, die sie zusammenzufassen versucht, aus dem Streit mit der Weltdeutung anderer, zumeist älterer Religionen entstanden ist. Das gilt natürlich ganz besonders für die Texte, die es mit Gottes Schöpfung zu tun haben, weil in ihnen programmatisch eine Deutung der Welt als ganzer und des Wesens des Menschen stattfindet. In der Tat haben Untersuchungen zur Urgeschichte in den letzten Jahrzehnten in aller Deutlichkeit gezeigt, dass die biblischen Berichte von der Schöpfung und von der Sintflut weitgehend Auseinandersetzungsliteratur bieten. Es handelt sich um polemische Texte, die vorgegebene Verständnisse von Welt und Mensch bestreiten und korrigieren wollen7. Dieser Einsicht entspricht die auf den ersten Blick erstaunliche Beobachtung, dass das biblische Israel Jahrhunderte zugewartet hat, bis es sich an die Deutung von Welt und Mensch herangewagt hat. Natürlich gibt es Erwähnungen Gottes als Schöpfer auch in frühen Texten, besonders in Psalmen und Weisheitssprüchen, aber ausgeführte Erzählungen von der Erschaffung der Welt gibt es erst aus nachprophetischer Zeit. Im Gegensatz zum AT aber sind die ältesten Texte, die wir aus Mesopotamien besitzen, Schöpfungstexte. Hier hat man von allem Anfang an die Alltagserfahrung des Menschen religiös gedeutet. Für die Schafe war ein Hirtengott zuständig, für das Vieh eine 7
Vgl. etwa J. JEREMIAS, Schöpfung in Poesie und Prosa im Alten Testament. Gen 1–3 im Vergleich mit den anderen Schöpfungstexten des Alten Testaments, in: I. Baldermann/ E. Dassmann/O. Fuchs u.a. (Hg.), Schöpfung und Neuschöpfung (JBTh 5), NeukirchenVluyn 1990, 11–26 (siehe Beitrag Nr. 5 in diesem Band); weiter die Beiträge von N. C. BAUMGART und P. HÖFFKEN in dem von ihnen edierten Band „Die Sintflut“, Münster 2005.
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Viehgottheit, für die Pflanzen eine Pflanzengöttin, und die allerfrühesten Schöpfungsmythen, die wir besitzen, erörtern den Rang dieser Gottheiten und entscheiden damit, ob die Ackerwirtschaft wichtiger ist als die Viehwirtschaft etc. Es gehört zu den Rätseln des biblischen Israel, dass es keinerlei Zeugnisse einer solchen unmittelbaren religiösen Weltdeutung überliefert hat. Dadurch dass es so lange zugewartet hat, bis es sich an die Deutung der Welt gewagt hat, hatte es freilich durch die Verkündigung seiner Propheten und durch die Erfahrung des Exils auch ganz andere Maßstäbe gewonnen, um vorgegebene Weltsichten, insbesondere der Assyrer und Babylonier, zu beurteilen und zu bestreiten. Für das 1. Kapitel der Bibel ist das seit langem gesehen worden und muss hier nicht ausgeführt werden. Ich erinnere nur an die Beschreibung des Chaos (Gen 1,2), das keinerlei schöpferische Potenz besitzt wie etwa der Urhügel in ägyptischer Mythologie, der die ältesten Götter gebiert. Schöpfung beginnt in Gen 1, als Gott zu reden beginnt: „Es werde Licht!“ Ich erinnere zum zweiten an die geradezu handwerkliche Befestigung der großen Leuchte und der kleinen Leuchte am Himmel, die zudem so weit wie irgend möglich von Gottes ersterschaffenem Licht abgerückt werden (Gen 1,14–18). Wer so von Sonne, Mond und Gestirnen redet, spricht nach altorientalischen Maßstäben gotteslästerlich. Weniger bekannt sind die Auseinandersetzungen des älteren Schöpfungsberichts in Gen 2–3 mit dem mesopotamischen Atrachasis-Mythos8, auf den er mehrfach Bezug nimmt, am deutlichsten bei der Darstellung der Sintflut. Erinnert sei hier nur an die je verschiedene Sicht des Menschen. Im Atrachasis-Mythos sind es die Muttergöttin und der Gott der Weisheit, die den Menschen schaffen, und dementsprechend besitzt der Mensch eine Doppelnatur: Er ist aus Ton geformt, aber durch seine Adern fließt Götterblut (dazu musste im Mythos ein Gott getötet werden). Der Sinn der Darstellung ist im Groben klar: Der Mensch ist sterblich, aber er weiß sich zugleich mit den Göttern verbunden und hat Anteil an ihrem Wesen. Hier wird sozusagen eine schöpfungsgemäße Zweinaturenlehre vorgetragen. – Wie anders die Nüchternheit von Gen 2! Hier ist der Mensch aus jenem Staub geformt, zu dem er einst zurückkehren wird; Leben besitzt er nur, weil Gott es ihm – für begrenzte Zeit – eingehaucht hat. Die unterschiedlichen Konsequenzen dieser beiden Anthropologien liegen auf der Hand! Ebenfalls nur andeuten möchte ich die Unterschiede bei der Darstellung der Sintflut. Beide Berichte, der ältere Atrachasis-Mythos und Gen 6–9, erzählen von der Sintflut, um ihre Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit darzulegen, also die Gehaltenheit der Welt auszusagen. Aber wie verschieden wird 8
Vgl. W. G. LAMBERT/A. R. MILLARD, Atraḫasīs. The Babylonian Story of the Flood, Oxford 1969; W. VON SODEN, Der altbabylonische Atramchasis-Mythos, in: O. Kaiser (Hg.), Texte aus der Umwelt des Alten Testaments, Bd. III, Gütersloh 1994, 612–645.
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sie begründet! Im Atrachasis-Mythos bereut die Muttergöttin, dem Entschluss des Götterrats zur Sintflut zugestimmt zu haben, und der Gott der Weisheit, der den Sintfluthelden Atrachasis gerettet hat, weiß für die Zukunft weit bessere Mittel, um die Menschheit an übermäßiger Ausdehnung zu hindern: Priesterinnen, die ledig bleiben, unfruchtbare Frauen, Kindersterblichkeit, Krankheitsdämonen. Der Mythos spiegelt unmittelbar die unterschiedlichen Erfahrungen der Menschen wider, die sich sowohl unerklärlichen schrecklichen Erlebnissen ausgesetzt sehen, die wie die Sintflut auf den unberechenbar-launischen Sturmgott Enlil zurückgeführt werden, als auch überraschenden Erfahrungen der Bewahrung in Not, wie sie vom Weisheitsgott Enki-(Ea) hergeleitet werden. In der Urgeschichte des AT werden beide Arten von Erfahrung auf den einen Gott zurückgeführt. Hier sagt der Sintflutbericht, dass Gott, wenn er konsequent wäre, eigentlich täglich die Sintflut bringen müsste – angesichts der übermächtigen Schuld der Menschen. Aber er tut es nicht. Am Ende des Berichts steht ein Gott voller Inkonsequenz: Statt die schuldigen Menschen zu vernichten, schwört er, sie auf Dauer zu ertragen. Gewandelt hat sich nicht der Mensch, der aus der Sintfluterfahrung nichts gelernt hat, sondern „böse von Jugend an“ bleibt (Gen 8,22), sondern gewandelt hat sich Gott. Er begrenzt seine Allmacht und schließt mit der Sintflut – so begründet sie auch ist – eine Möglichkeit des eigenen Handelns für alle Zeiten aus: um des Menschen willen, an den er sich gebunden hat. Welch eine verschiedene Intention zweier Erzählungen mit dem gleichen Erzählstoff! Mit all diesen Überlegungen sollen die großen Differenzen zwischen einer RG Israels und einer Theologie des AT nicht geleugnet werden. Die beiden Disziplinen bleiben zwei grundlegend verschiedene Weisen einer Zusammenfassung der Inhalte der alttestamentlichen Texte, erstere an der geschichtlichen Entwicklung des alttestamentlichen Glaubens orientiert, die andere an den wichtigsten Aussagen der Texte des AT über Gott. Aber mit der Kenntnis der Nachbarreligionen haben sich beide Disziplinen einander angenähert und können voneinander lernen, insbesondere dann, wenn auch die RG Israels bereit ist, den Religionsvergleich mit Wertungen zu verbinden.
3. Vielfalt und Einheit Die zweite eingangs erwähnte Erschwernis einer Theologie des AT bildet ihr zentrales Problem und ist noch schwerer zu lösen als das erste. Wenn das AT kein Buch, sondern eine kleine Bibliothek ist, wie kann eine Theologie des AT die Bücher dieser Bibliothek zusammenfassen, ohne ihnen Gewalt anzutun, d.h. ohne eine künstliche Einheit zu schaffen, in der die Einzelbücher und
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Einzeltexte ihre jeweilige Eigenart verlieren? Ich werde mich im Folgenden dieser Frage in 5 Schritten nähern: in einem kurzen forschungsgeschichtlichen Rückblick auf das vergangene Jahrhundert und mit vier Postulaten: 1) Die Bücher des AT müssen in Großgattungen zusammengefasst werden, die ihre je eigene Logik besitzen (Ricœur, Seeligmann). 2) Die Frage nach einer „Mitte“ des AT ist trotz von Rad unaufgebbar. 3) Die großen theologischen Neuentwürfe des Exils müssen angemessen gewürdigt werden. 4) Die Perspektive einer Biblischen Theologie muss erhalten bleiben und dabei das Verhältnis zu einer jüdischen Theologie des AT bzw. der Hebräischen Bibel geklärt werden. 3.1. W. Eichrodt und G. von Rad Ich beginne mit einem kurzen forschungsgeschichtlichen Rückblick, der den zuvor abgebrochenen Abriss der Forschungsgeschichte des vergangenen Jh.s fortsetzt und zu neuen Problemstellungen führt. In der Mitte des vorigen Jahrhunderts war es das große Verdienst G. von Rads aufzuzeigen, dass die üblicherweise in den Theologien dieser Zeit verwendeten, der Dogmatik entnommenen Gliederungen wie z.B. „Gott und Israel“, „Gott und Mensch“, „Gott und Welt“ oder aber Schöpfung – Sünde – Erlösung – Eschatologie den Texten des AT Gewalt antaten, insofern die Belege für die einzelnen Teile eines solchen Aufrisses aus ganz verschiedenen literarischen Bereichen des AT stammten und auf deren interne Gedankenführung keine Rücksicht nahmen. Die scheinbare Einheit, die hier geschaffen wurde, war in der Tat künstlich, und in mancherlei Hinsicht boten diese Theologien des AT einen Rückschritt hinter Gablers Forderung einer klaren Unterscheidung zwischen Exegese und Dogmatik. Aber was sollte an die Stelle dieser traditionellen Aufrisse treten? Auf diese Frage haben zwei deutsche Forscher neue Antworten gegeben, deren Anstöße bis heute intensiv diskutiert werden. Walter Eichrodt suchte nach einer „beharrenden Grundtendenz und einem gleichbleibenden Grundtypus“9 , die die alttestamentlichen Texte geprägt hätten. Er fand eine solche „Grundtendenz“, die die grundlegende Einheit der Texte gebildet hätte, in der Konzeption des „Bundes“ zwischen Gott und Mensch. Hier war nun erstmals ein Grundansatz für eine Theologie des AT gefunden, der dem AT selber entnommen war. Allerdings erwies sich der Begriff des „Bundes“ nach einiger Zeit als für diese Funktion nicht geeignet, da er, wie intensive Forschungen erbrachten, erst im Zuge der deuteronomischen und deuteronomistischen Theologien seine beherrschende Funktion gewann10 und zudem in den einzel9
Vorwort zur 1. Auflage der „Theologie des Alten Testaments“ Bd. 1, Stuttgart 1933. Vgl. den Nachweis von L. PERLITT, Bundestheologie im Alten Testament (WMANT 36), Neukirchen-Vluyn 1969. 10
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nen literarischen Bereichen des AT (P bzw. Dtr) eine höchst unterschiedliche inhaltliche Füllung erhielt. Aber die Frage, was die Einheit des AT ausmacht, ist seit Eichrodts Entwurf nicht mehr verstummt und m.E. unaufgebbar. Sie wird gegenwärtig zumeist unter der Frage nach einer „Mitte“ des AT diskutiert (s.u.). Einen noch radikaleren Bruch mit der gängigen, von der Systematik bestimmten Anlage einer Theologie des AT vollzog von Rad selbst, indem er bestritt, dass das AT einen solchen Einheitsgedanken bzw. eine „Mitte“ besitze. Er forderte statt dessen, dass eine Theologie des AT „nur das, was Israel direkt von Jahwe ausgesagt hat“11, auszuführen habe. Theologie bestehe „im rechten Nachsprechen seiner [Israels] Geschichtszeugnisse“ (135). „Die legitimste Form theologischen Redens vom Alten Testament ist deshalb immer noch die Nacherzählung“ (134). Im Zuge des Nacherzählens habe die Theologie des AT die gedanklichen Differenzen der einzelnen Literaturwerke zu erfassen. Der große Vorteil einer solchen Bestimmung der Aufgabe einer Theologie des AT ist, dass die Disziplin eine zuvor unbekannte Nähe zu den biblischen Texten gewinnt. Immer wieder hat von Rad eingeschärft, dass es gelte, das AT „sein eigenes Wort sagen zu lassen“, ohne ihm von außerhalb „dreinzureden“ mit modernen Sichten und Problemstellungen. Es bleibt freilich die Frage, wie sich ein solches „Nacherzählen“ konkret zu vollziehen hat. Ein Schüler von Rads etwa, Rolf Rendtorff, hat das Programm einer „Nacherzählung“ in letzter Konsequenz aufgegriffen und lässt seine Theologie des AT bei der Schöpfung beginnen, weil ja auch das AT selber mit der Schöpfung einsetzt12. Eine derartige Nacherzählung ist in meinen Augen ungeschichtlich, weil eben, wie oben schon dargelegt, die alttestamentlichen Texte erst in einem relativ späten Stadium ihrer Entstehung, kurz vor dem bzw. im Exil, das Thema Schöpfung breit aufgegriffen haben. Ein solcher geschichtlicher Sachverhalt hat in meinen Augen auch hohe theologische Relevanz. Von Rad selber ist dieser Gefahr entgangen, indem er einen „Abriss der Geschichte des Jahweglaubens“, also eine RG Israels in Kurzform, seiner Theologie des AT vorausgeschickt hat. Seine eigentliche Theologie beginnt dann mit der Entfaltung des von ihm als sehr alt erachteten heilsgeschichtlichen Credos in Dtn 26,5ff. Da sich dieses Credo inzwischen als jung erwiesen hat, müsste man heutzutage im Sinne von Rads mit Israels Urbekenntnis zu Gottes Befreiung aus Ägypten einsetzen.
11
G. VON RAD, Theologie des Alten Testaments I, München 41962, 118. R. RENDTORFF, Theologie des Alten Testaments. Ein kanonischer Entwurf, Bd. 2 („Theologische Entfaltung“), Neukirchen-Vluyn 2001. 12
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3.2. Die „Denkformen des Glaubens“ Israels Das Konzept von Rads stößt aber bald auf eine weitere Schwierigkeit. Es stellt sich die Frage, wie denn die Literaturblöcke abzugrenzen sind, die eine Theologie des AT „nachzuerzählen“ hat. Von Rad selber hatte primär die Erzählungen des Pentateuch und die Prophetie unterschieden und die Psalmen sowie die Weisheit unter die Kategorie der „Antwort Israels“ diesen beiden großen Blöcken eher notdürftig zugeordnet. Er hat sich aber in dieser Hinsicht später selbst korrigiert, indem er in seinem späten Weisheitsbuch13 die Weisheit des AT als eine eigene theologische Größe dargestellt und gewürdigt hat. Die Frage nach den gesondert zu wertenden Literaturblöcken ist in jüngster Zeit von zwei Forschern gefördert worden, die beide keine „Theologie des AT“ geschrieben haben, die aber zu bemerkenswert gleichen Ergebnissen gelangt sind, obwohl sie nichts voneinander wussten. Der eine war der französische Philosoph Paul Ricœur. Ricœur unterscheidet im Blick auf das AT fünf „Redeformen“ bzw. Großgattungen (Erzählungen, Rechtssätze, prophetische Texte, Hymnen und weisheitliche Texte, die jeweils mit „einem bestimmten Modus des Glaubensbekenntnisses“ verbunden sind 14 . Er konnte nicht wissen, dass wenige Jahre zuvor R. Smend, einen Begriff des jüdischen Forschers Isaak Leo Seeligmann aufgreifend, vier „Denkformen des Glaubens“ (Geschichte, Kultus, Recht, Weisheit) unterschieden hatte15, die – mit Ausnahme der nicht berücksichtigten Prophetie – den Großgattungen Ricœurs weitgehend entsprachen. Der Begriff „Denkform“ erscheint mir dabei insofern geeignet und hilfreich, als es sich bei den genannten fünf Kategorien weniger um literarisch klar abgrenzbare Textformen handelt als vielmehr um Textblöcke, die eine gemeinsame Logik der Gedankenführung und Argumentation besitzen. Genau dies hatte Ricœur mit dem Begriff „Modus des Glaubensbekenntnisses“ bezeichnen wollen. Im Gefolge Ricœurs und Smends würde ich als mein erstes Postulat formulieren: Eine Theologie des AT muss den verschiedenen „Denkformen“ des AT mit ihrer je eigenen Logik Rechnung tragen. Würden sie beliebig miteinander vermischt, wie es vor allem in den Entwürfen einer Theologie vor von Rad der Fall war, wäre das Kriterium einer angemessenen Textnähe nicht erfüllt. Erst wenn die verschiedenen „Denkformen“ je für sich analysiert worden sind, können ihre Gedanken miteinander verbunden werden. Dabei ist die Zahl 5 keineswegs festliegend. Die Apokalyptik etwa bietet eine weitere, zunächst für sich zu betrachtende „Denkform“ der Spätzeit. Bei der Frage nach einer „Mitte“ des AT zeigt sich, dass sich keine Bestimmung einer „Mitte“ 13
G. VON RAD, Weisheit in Israel, Neukirchen-Vluyn 1970. P. RICŒUR, Philosophische und theologische Hermeneutik, in: DERS./E. Jüngel, Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache (EvTh – Sonderheft), München 1974, 24–45; 37. 15 R. SMEND, Elemente alttestamentlichen Geschichtsdenkens (= ThSt 95, Zürich 1968), in: DERS., Die Mitte des Alten Testaments. Exegetische Studien, Tübingen 2002, 89f. 14
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finden lässt, die in gleicher Weise den Erzählungen des Pentateuch und den Texten der Weisheit gerecht wird. Dieser Sachverhalt darf aber die Suche nach einer „Mitte“ nicht behindern. Vielmehr gilt umgekehrt, dass die Suche nach einer „Mitte“ erst sinnvoll einsetzen kann, wenn zuvor die „Denkformen des Glaubens“ mit ihrer je eigenen Logik voneinander getrennt worden sind. 3.3. Die Frage nach einer „Mitte“ des AT Freilich darf eine Theologie des AT bei einem bloßen Nebeneinanderstellen der verschiedenen „Denkformen“ nicht stehen bleiben. Von Rads Freund und Kollege Walter Zimmerli hat ihm – mit Recht – vorgeworfen, dass seinem Programm einer „Nacherzählung“ der Mut zur Zusammenschau fehle16. Die Frage nach einer „Mitte“ des AT dient einer solchen Zusammenschau. Sie wurde im Gefolge der Theologie W. Eichrodts verstärkt diskutiert, und diese Diskussion wurde nach dem Erscheinen der Theologie von Rads noch einmal intensiviert, weil von Rad die Existenz einer „Mitte“ bestritt. Allerdings wurden vor von Rad sehr unterschiedliche Themen erörtert, die geeignet wären, eine Einheit in der Verschiedenheit und Vielfalt der alttestamentlichen Texte zu bieten: z.B. die Heiligkeit Gottes (A. Dillmann, J. Hänel), Gott als gebietender Herr (L. Köhler), die Gotteserkenntnis (Th.C. Vriezen). Solche Bestimmungen sind von von Rad mit Recht kritisiert worden17. Unter den Denkformen Seeligmanns entzog sich insbesondere die Weisheit der Suche nach einer Mitte, weil sie Erfahrungen des Menschen generell erörtern will und daher die spezifischen Aspekte des biblischen Glaubens kaum oder allenfalls am Rande einbezieht. Heute werden im Grunde genommen nur noch zwei Bestimmungen einer „Mitte“ des AT intensiv diskutiert. Die eine geht auf J. Wellhausen zurück und ist in neuerer Zeit besonders von R. Smend propagiert worden18: die sog. Bundesformel „JHWH, der Gott Israels; Israel, das Volk JHWHs“. In der Tat ist es auffällig, dass das AT keine Aussagen über Gott an sich, sondern nur Aussagen über Gottes Beziehung zum Menschen macht. Die zweite hat in zahlreichen Arbeiten Werner H. Schmidt befürwortet19: das 1. Gebot, also die Forderung ausschließlicher Verehrung JHWHs. Letztlich ist diese Bestim16 Wörtlich spricht ZIMMERLI in seiner Rezension der Theologie des Alten Testaments von Rads von einem fehlenden „Wagnis des Zusammen-Denkens“ (VT 13 [1963] 100–111; 105). 17 Vgl. u.a. G. VON RAD, Offene Fragen im Umkreis einer Theologie des Alten Testaments, Gesammelte Studien II (TB 48), München 1973, 289–312; 294, Anm. 3a. 18 R. SMEND, Die Mitte des Alten Testaments (ThSt 101), Zürich 1970; auch in: DERS., Die Mitte des Alten Testaments. Gesammelte Studien 1, München 1986, 40–84; zuletzt in: DERS., Die Mitte des Alten Testaments. Exegetische Studien, Tübingen 2002, 30–74. 19 Vgl. zuletzt W. H. SCHMIDT, Die Frage nach einer „Mitte“ des Alten Testaments, EvTh 68 (2008) 168–178; auch in: DERS., Gottes Wirken und Handeln des Menschen (BThSt 147), Neukirchen-Vluyn 2014, 87–103.
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mung einer „Mitte“ eine Spezifikation dessen, was mit der „Bundesformel“ und ihrer Bestimmung des Verhältnisses von Gott und Mensch impliziert ist. Sie hat in meinen Augen zwei Vorzüge: Zum einen kann das 1. Gebot deutlicher als die Bundesformel zeigen, worin sich das reife biblische Israel grundlegend von den Religionen seiner Umwelt unterschied; zum anderen kann es eindeutiger darauf verweisen, wie sehr diese „Mitte“ im Lauf der Geschichte von den einzelnen Generationen unterschiedlich ausgelegt wurde, wie sehr die „Mitte“ des AT daher nur geschichtlich verstanden werden kann. Wie immer aber auch die „Mitte“ des AT vom jeweiligen Exegeten bestimmt wird, die Suche nach ihr ist für die Disziplin der Theologie des AT unaufgebbar, wenn die verschiedenen literarischen „Denkformen des Glaubens“ nicht unverbunden nebeneinander stehen bleiben sollen. 3.4. Die großen theologischen Neuentwürfe im Exil Neben dem „Wagnis des Zusammen-Denkens“ (Zimmerli) müssen freilich in einer Theologie des AT die gewichtigen Einzelstimmen genügend zu Gehör kommen. In dieser Hinsicht war von Rads Theologie mit ihrer großen Textnähe vorbildlich. Die Notwendigkeit einer je eigenen Berücksichtigung gilt vor allem für die bedeutendsten unter den sog. Schriftpropheten – Hosea, Jesaja, Jeremia, Ezechiel –, deren Stimmen und Botschaft unverwechselbar bleiben. Es gilt aber noch mehr für die bedeutenden theologischen Entwürfe, die das biblische Israel über den Graben des staatlichen Zusammenbruchs hinweggetragen haben. Ich nenne nur vier: P, DtrG, Deuterojesaja und Ex 32– 34. Würden diese großartigen theologischen Versuche, die Kontinuität Gottes in den Brüchen der Geschichte nachzuweisen, nicht mehr erkennbar bleiben, wäre das AT in meinen Augen seines Reichtums an theologischen Konzeptionen beraubt. Anders ist es im Fall der späteren nachexilischen Texte des AT. Bei ihnen sieht man, wie das AT selber auf dem Wege ist, eine einheitliche Theologie auszubilden, indem immer mehr neue Texte sich auf ältere Texte zurückbeziehen. Sie gleichen zwischen den Spannungen älterer Texte aus oder beantworten Fragen, die bei den älteren Texten offen geblieben waren. Zu dieser Zeit entsteht im AT etwas, das man mit gutem Grund eine Theologie des Pentateuch oder eine Prophetentheologie nennen kann. Ein moderner Verfasser einer Theologie des AT hat es jetzt viel leichter, weil er nur den Intentionen dieser jüngeren Texte zu folgen braucht, die in sich schon eine systematische Kraft entwickeln. Aber die systematische Kraft dieser späten Texte wäre undenkbar, wenn nicht zuvor, zur Zeit der großen Krise, die theologischen Neuentwürfe entstanden wären, die die Weichen für alle späteren Texte stellen sollten. Und diese großen Neuentwürfe ihrerseits hätten nicht entstehen können, wenn nicht die bedeutenden prophetischen Boten der vorexilischen Zeit
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das biblische Israel auf Dimensionen der Gotteserfahrung vorbereitet hätten, die ihm zuvor unbekannt waren und undenkbar erschienen. Aus diesen Gründen wird die Aufgabe einer Zusammenschau der alttestamentlichen Texte in einer Theologie des AT noch einmal erschwert: Sie muss die tragenden Elemente des alttestamentlichen Glaubens offenlegen, die seine „Mitte“ bilden und die so vielfältigen Bücher und Texte miteinander verbinden; sie muss aber auch Raum lassen für die großen Einzelstimmen, die den Reichtum des AT neben der Vielzahl seiner „Denkformen“ ausmachen. 3.5. Der Horizont der Darstellung: eine Biblische Theologie Eine Theologie des AT, die sich von einer RG Israels unterscheiden will, muss innerhalb der Vielzahl ihrer Texte gewichten und werten. Daher muss sie auch ihr leitendes Interesse und ihr Vorverständnis offenlegen. Die Notwendigkeit einer Zusammenschau der Gottesaussagen des AT entsteht ja primär, weil das AT zusammen mit dem NT die eine Bibel der Christen bildet und die alttestamentlichen Texte für Christen sich am Maßstab der Gottesaussagen des NT messen lassen müssen. Christen können ja nicht aufhören, Christen zu sein, wenn sie das AT lesen. Ihr Glaube aber ist wesenhaft durch das NT geprägt. Da für Christen die Nötigung besteht, das AT auf das NT zu beziehen, wird verständlich, dass die Disziplin einer Theologie des AT primär eine christliche ist. Jüdische Theologen haben sich bis vor wenigen Jahrzehnten geweigert, eine entsprechende Gesamtsicht der Gottesaussagen des AT bzw. der Hebräischen Bibel aus ihrer Sicht nachzuzeichnen, d.h. mit den Maßstäben der nachbiblischen jüdischen Tradition20. Erst in den letzten Jahrzehnten haben sich einzelne jüdische Theologen dazu bereit erklärt und den Gewinn eines solchen Unternehmens erkannt21. Die vielfältigen Versuche, die Einheit einer alttestamentlichen und einer neutestamentlichen Theologie zu konzipieren, können und sollen hier nicht dargestellt werden. Für mich hat der 3. und abschließende Teil der Theologie von Rads, der die Einheit auf traditionsgeschichtlichem Weg nachzuweisen versucht, noch immer hohen Wert. In neuerer Zeit hat etwa der Neutestamentler Hans Klein versucht, die Einheit der beiden Testamente an zehn wesentlichen Themen nachzuweisen22. Ich selber möchte an dieser Stelle einen einzelnen Aspekt des alttestamentlichen Gottesbildes aufgreifen, der im NT seine Vollendung findet und für mein Verständnis des AT zentral ist. 20
Vgl. besonders LEVENSON, Why Jews Are Not Interested in Biblical Theology, a.a.O. (Anm. 2). 21 Vgl. etwa M. H. GOSHEN-GOTTSTEIN, Tanakh-Theology: The Religion of the Old Testament and the Place of Jewish Biblical Theology, in: Ancient Israelite Religion (FS F. M. Cross), hg. von P. D. Miller/P. D. Hanson/S. D. McBride, Philadelphia 1987, 617–644. 22 H. KLEIN, Zur gesamtbiblischen Theologie: Zehn Themen (BThSt 93), NeukirchenVluyn 2007.
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Seit das biblische Israel durch die Katastrophe des staatlichen Zusammenbruchs hindurchgegangen war, musste es die Frage beantworten, wie sich das Bekenntnis zur Güte Gottes, das es von der Generation der Väter ererbt hatte, zur Erfahrung des Gerichtes Gottes, ja des Zornes Gottes über schwere Schuld verhielt. War Gott einmal gütig, ein anderes Mal zornig? Wie konnte man bei so viel verborgener Schuld wissen, ob er gerade gütig oder zornig war? Eine erste Antwort, die die Generationen im und nach dem Exil gaben, war, dass Zorn und Güte zwei ganz ungleichgewichtige Möglichkeiten des Handelns Gottes waren: Sein Zorn währt einen Augenblick – lebenslang (aber) seine Güte (Ps 30,6); vgl. Gott: barmherzig und gnädig – langsam im Zorn, aber reich an Güte und Treue (Ex 34,6).
Vom Zorn Gottes hat Israel nie ein Adjektiv gebildet, wohl aber von Gottes Güte. Aber mit dieser Antwort der Überlegenheit der Güte Gottes über seinen Zorn haben sich die folgenden Generationen nicht zufrieden gegeben. Sie haben gefragt, wo Gott sich verbindlich in seinem Handeln festgelegt hat. Die erste Antwort bot die Priesterschrift: Gott hat seinem Volk seine Gegenwart und die Gabe des Landes in einem verbindlichen Schwur zugesagt. Darin besteht sein Bund mit Abraham/Israel (Gen 17). Aber auch diese Antwort bot den verunsicherten Menschen der damaligen Zeit noch nicht genügend Gewissheit. Konnte nicht ein erneutes Ausbrechen des göttlichen Zorns Israels Existenz wieder in Frage stellen? Als diese Frage aufkommt, werden die überlieferten Texte noch kühner. Ich zitiere als Beispiel Jes 54,9: Denn dies ist für mich wie die Wasser Noahs: Wie ich geschworen habe, dass die Wasser Noahs nicht mehr über die Erde kommen sollen, so habe ich geschworen, dir nicht mehr zu zürnen und dich nicht mehr anzugreifen23.
Hier wird die Exilserfahrung in gewagter Weise mit der Sintfluterzählung in Verbindung gebracht. Wie Gott sich angesichts der Sintflut für alle Zeiten gebunden hat, die schuldige Menschheit bis zum Ende der Welt nicht mehr zu vernichten, sondern sie zu ertragen, so schwört er nun mit der gleichen Verbindlichkeit, dass die Gottesferne des Exils mit ihrer Erfahrung des Zornes Gottes eine einmalige Erfahrung des Gottesvolks bleiben soll. Gott schränkt seine Handlungsmöglichkeiten noch einmal ein. Seine Allmacht hatte er schon mit der Selbstbindung, nie wieder die Sintflut zu bringen, um der Menschen willen preisgegeben. Jetzt grenzt er auch seinen Zorn auf ein Mindestmaß ein, so dass seine Güte die Oberhand gewinnt, selbst wenn „die Berge weichen und die Hügel schwanken sollten“ (V.10), d.h. selbst wenn die kosmische Ordnung zusammenbrechen sollte.
23 Die übliche Übersetzung von גערmit „schelten“ trifft den Sachverhalt nicht. Das Verb ist von Haus aus ein Kriegsruf des siegreichen (Einzel-)Kämpfers.
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Ich breche hier ab, auch wenn das AT selbst bei dieser kühnen Selbstbeschränkung Gottes nicht stehen geblieben ist24. Was ich zeigen wollte, war nur, wie die alttestamentlichen Texte seit dem Exil immer stärker auf der Suche nach verbindlichen Aussagen über Gottes Handeln sind – um der Glaubensgewissheit willen. Wenn das NT später in allen seinen Teilen sagen wird, Jesus sei in Gottes Vollmacht aufgetreten, Gott habe sich also an das Reden und Handeln Jesu gebunden, habe sich also auf dieses Reden und Handeln festgelegt, dann vollendet das NT eine Tendenz, die im AT angelegt ist. Sie zielt auf die Gewissheit der Glaubenden.
24 Hiob etwa wagt, in seinem unverständlichen Leid Gott gegen Gott anzurufen, weil er Gott nur anerkennen kann als den, der sich an das Recht und an die Schwachen gebunden hat.
4. Das Gottesbild des Alten Testaments Ein Thema wie das genannte versucht, aus einer großen Fülle an Gottesaussagen – in Texten sehr unterschiedlicher Art – die wesentlichen Aussagen auszuwählen. Eine solche Konzentration auf das Wesentliche ist ohne subjektive Auswahl nicht möglich. Um die Kriterien dieser subjektiven Auswahl offenzulegen, werde ich im 1. Hauptteil meines Vortrags die beiden hermeneutischen Weichenstellungen vorstellen und reflektieren, die meine Auswahl an Texten bestimmen: das Alte Testament a) als Buch über Gottes Handeln in der Geschichte und b) das Alte Testament als ein Zeugnis des Streites um die Wahrheit. Der 2. Hauptteil, der die Gottesvorstellungen inhaltlich behandeln soll, wird drei Teile enthalten: a) Gottes Heilstaten in der Geschichte, b) Gottes Verhältnis zur Welt und c) Gottes Handeln am Menschen, der ihn ablehnt. Ich beginne mit der ersten hermeneutischen Entscheidung des 1. Teiles: Die Aussagen des Alten Testaments über Gott basieren auf geschichtlichen Erfahrungen.
1. Wer immer Texte der Bibel liest, spürt den zeitlichen Abstand zwischen unserer Zeit und der Zeit der Bibel. Die zwei Jahrtausende, die zwischen den Texten der Bibel und uns liegen, lassen sich nicht ohne weiteres überspringen. Dabei denke ich weniger an die weltanschaulichen Differenzen, so gewiss auch sie auf Schritt und Tritt spürbar sind, als vielmehr an den Charakter der Texte. Ich nenne nur die 4 wichtigsten Auffälligkeiten: 1) Die Bibel ist zwar äußerlich für jeden gegenwärtigen Leser ein Buch, das Druckseiten zwischen zwei Buchdeckeln enthält, aber dieses eine Buch enthält zwei separat entstandene Sammlungen von verschiedenen Schriften, die aus der Überzeugung zusammengefügt sind, dass sie von dem gleichen Gott reden und für diejenigen, die an diesen Gott glauben, die entscheidenden, maßgeblichen und verbindlichen Mitteilungen von diesem Gott enthalten. Dennoch sind die beiden Teile der Bibel auch wieder unterschieden, wie daran deutlich wird, dass Christen und Juden den ersten Teil der Bibel, das sog. Alte Testament, gemeinsam lesen und als für sich verbindlich betrachten, während der zweite und spätere Teil, das sog. Neue Testament, das den Menschen Jesus als Messias und Sohn Gottes betrachtet, nur für die Christen verbindliche Texte enthält.
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2) Beide Teile der Bibel enthalten Sammlungen von unterschiedlichen Arten von Texten. Im Fall des Neuen Testaments herrschen zahlenmäßig Briefe vor, die frühe Autoritäten, besonders der Apostel Paulus, an ihre Gemeinden sandten, daneben Evangelien, die Aussprüche Jesu und Erzählungen über seine Leidensgeschichte enthalten. Im Fall des Alten Testaments enthält die Bibel eine ganze Bibliothek an längeren oder kürzeren Büchern, die sehr verschiedenartigen Charakter haben: teilweise Erzählungen über Gottes frühere Taten an seinem Volk Israel, teilweise Worte von Propheten über das zukünftige Handeln Gottes, teilweise Hymnen und Gebete für den Gottesdienst, teilweise didaktische Sprüche als Orientierung für ein gelingendes Leben im Alltag etc. 3) Wichtiger als der unterschiedliche Charakter der Schriften ist die Tatsache, dass – mit Ausnahme einiger Briefe im Neuen Testament – kein einziges der genannten Bücher aus einer Hand stammt, also nur von einem Verfasser. Anders als bei Büchern unserer Zeit, die ein einzelner Autor geschrieben hat, kommen in den Schriften der Bibel verschiedene Stimmen zu Wort. Das ist bei den Sammlungen gottesdienstlicher Hymnen oder bei den Sammlungen didaktischer Sprüche relativ leicht zu verstehen, schwieriger dagegen bei den Sammlungen erzählender Tradition und bei den prophetischen Büchern. Ich möchte den Sachverhalt an den erzählenden Texten etwas näher erläutern. Bei ihnen hat die kritische Forschung herausgefunden, dass die ältesten Erzählungen nur einen begrenzten Themenbereich umfassten, z.B. Erzählungen von den ersten Königen: Saul, David oder Salomo, Erzählungen von dem großen Mose oder Erzählungen von den Erzvätern Abraham, Isaak oder Jakob. Solche begrenzte Erzählungen wurden in einem zweiten Schritt von einer späteren Zeit mit neuen Erzählungen ergänzt, wenn man noch anderes Erzählmaterial von den Königen oder Erzvätern kannte. Sie wurden in einem dritten Schritt in einer noch einmal späteren Generation miteinander verbunden, so dass nun Erzählungen über alle drei Erzväter – Abraham, Isaak und Jakob – oder über alle drei Könige – Saul, David und Salomo – entstanden, bis in noch wieder späterer Generation ein Erzählkontext von den Anfängen, d.h. von der Schöpfung der Welt über die Erzväter bis zu Mose oder sogar bis zu den letzten Königen Israels entstand. Damit nicht genug: Neben solche allmählich gewachsene Erzählzusammenhänge traten in noch einmal späterer Zeit neue Erzählungsentwürfe, die nun schon größere Generationenfolgen darstellten, etwa von der Schöpfung bis zum Tod des Mose oder vom ersten bis zum letzten König. Das Erstaunliche an diesem langen Prozess immer neuen Erzählens war aus unserer gegenwärtigen Sicht, dass die jüngeren großen Erzählungsbögen nicht die älteren Erzählungen, die allmählich über mehrere Generationen gewachsen waren, ablösten, d.h. nicht an deren Stelle traten, sondern vielmehr ältere und jüngere Erzählungszusammenhänge gleichberechtigt nebeneinander stehen blieben. Sie galten als gleichwertiges Zeugnis vom Handeln Gottes.
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4) Warum erwähne ich solche Einzelheiten, wenn doch das Gottesbild des Alten Testaments mein Thema ist? Für mein Verständnis der Bibel und besonders des Alten Testaments ist entscheidend, dass es Texte ganz unterschiedlicher Zeiten enthält. Zwischen den ältesten Texten der Bibel und den jüngsten liegen mehr als 1000 Jahre. Schon innerhalb des Alten Testaments allein sind die ältesten und jüngsten Texte mehr als 800 Jahre voneinander geschieden. Ja, es gibt einzelne Bücher im Alten Testament – wie z.B. das Buch des Propheten Jesaja –, in denen die ältesten und die jüngsten Stimmen mehr als ein halbes Jahrtausend auseinander liegen. Warum ist dieser Sachverhalt so wichtig? Die Bibel als ganze, vor allem aber das Alte Testament, ist das Zeugnis einer Gotteserkenntnis, die durch immer neue Erfahrungen Israels hindurch immer stärker gewachsen ist. Die Fülle dieser Gotteserkenntnis steht erst am Ende, und die Bibel verbindet sie mit der Person Jesu Christi. Aber die Fülle der Gotteserkenntnis wäre nicht verständlich ohne den langen Weg dieser Erkenntnis, den die Texte festhalten wollen. Darum ist es so wichtig, dass die alten Texte neben den jungen Texten stehenbleiben und nicht von ihnen abgelöst werden. Die älteren Texte sind nicht weniger wahr als die jungen, auch wenn sie auf zahlenmäßig weniger Gotteserfahrungen zurückblicken. Um mit der Entwicklungspsychologie zu reden: Sie spiegeln den Kinderglauben Israels wider, der für das Leben des Gottesvolkes nicht weniger wichtig ist als der Glaube des reifen Erwachsenen. Die Texte der Bibel zeigen Menschen auf dem Weg; der Weg als ganzer ist wichtig, nicht nur sein Ende, sein Ziel. Weil es der geschichtliche Weg einer Gruppe von Menschen ist, die ihre Erfahrungen religiös deuten und verorten, können nachgeborene Generationen, d.h. auch unsere Generation, sich zu diesem Weg verhalten, können seine Ergebnisse aus den eigenen Erfahrungen heraus bejahen oder verwerfen. Ich will versuchen, diesen theoretischen Gedanken kurz inhaltlich zu füllen. Wie wir dem vermutlich ältesten Hymnus des Alten Testaments (Ex 15,21) entnehmen können, war die grundlegende religiöse Erfahrung des biblischen Israel die Rettung vor einem Heereskontingent einer Weltmacht, der Ägypter, das durch ein überraschendes und unerwartetes Ereignis im sog. Schilfmeer ertrank. Im Hymnus werden mit den eisernen Kriegswagen die modernsten Waffen hervorgehoben, über die die Ägypter verfügten, die den damaligen Israeliten aber noch unbekannt waren. Das biblische Israel hat diese Erfahrung als „Wunder“ gedeutet, d.h. als den Erweis, dass die Macht des rettenden Gottes die Möglichkeiten modernster Waffen übersteigt. In den folgenden Jahrhunderten haben andere Generationen ähnliche Erfahrungen gemacht, wenn sie mit Nachbarvölkern kämpften, die militärisch besser ausgerüstet oder aber an Zahl überlegen waren. Sie haben dann solche Bewahrungen nicht als neue Gotteserfahrungen verstanden, sondern als Bestätigungen der Ur-Erfahrung am Schilfmeer. Gottes Überlegenheit über menschliche Mächte hatte sich wieder einmal erwiesen. So gibt es Hymnen Israels, die
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Gottes Macht besingen und dabei die Erfahrungen der Rettung des Volkes aufzählen; nie fehlt in solchen Aufzählungen dann die Ur-Erfahrung am Schilfmeer. Aber natürlich gab es auch Gegenerfahrungen: Erfahrungen von Niederlage, Misserfolg, frühem Tod etc. Für solche schmerzlichen Erfahrungen diente eine andere Ur-Erfahrung Israels als Orientierungspunkt. Sie ist mit dem Berg Sinai in der Wüste verbunden, wo das biblische Israel Gott in vulkanischem Feuer, im Beben der Erde und in urplötzlichen Gewittern als fremde und bedrohliche Macht erfuhr, der sich der Mensch nicht ohne Lebensgefahr nähern darf, die Beugung und Demut von ihm erwartet, Einhaltung der Riten und Gehorsam. Diese Ur-Erfahrung wurde ihrerseits zum Kristallisationspunkt von Texten, jetzt nicht der Hymnen wie im Fall der Rettung Israels am Schilfmeer, sondern sie wurde zum hermeneutischen Orientierungszeichen für alle Rechtssammlungen – die frühen wie die späten – und für alle Ordnungen des Gottesdienstes. Schließlich aber erlebte das biblische Israel eine Niederlage, die bitterer war als alles Vorherige, die sich aber mit den früheren Mitteln der Erfahrung nicht mehr deuten ließ. Die babylonische Weltmacht zerstörte Jerusalem, zerstörte, was härter war, den Tempel als Wohnung Gottes und führte die geistige und handwerkliche Oberschicht in die Verbannung nach Babylon. Jetzt brachen in Israel grundsätzliche Fragen auf: Bedeutete dieses Ereignis das Ende des Glaubens, weil Gott seinen Tempel nicht schützen konnte? Oder hatte er sein Volk aufgegeben? In dieser Lage wurden die Propheten zur entscheidenden Deutehilfe Israels. Sie lehrten es, das Exil als Strafe Gottes für Israels Ungehorsam zu verstehen. Und sie lehrten Israel, die Erfahrungen des Heils und die Erfahrungen des Unheils als Taten des einen Gottes zu begreifen. So wurde das Gottesbild Israels noch einmal komplexer. Ich könnte mit einer solchen Geschichte des biblischen Gottesglaubens fortfahren, halte aber hier ein. Mein Anliegen war es zu zeigen, wie die biblischen Texte ein Gottesvolk zeichnen, das immer mehr verschiedenartige Erfahrungen mit Gott in der Geschichte machte, und damit zugleich eine immer komplexere Gottesvorstellung entwarf. Wichtiger aber ist mir persönlich die Feststellung, dass mit der Zahl und Komplexität der Erfahrungen dieses biblische Israel in seinen Aussagen über Gott immer sicherer wurde. Das zeigt sich etwa daran, dass Israel anfangs eher zurückhaltend gegenüber adjektivischen Reden von Gott war und statt dessen lieber von Gottes einzelnen Taten erzählte, später aber immer häufiger von Gottes Eigenschaften (z.B. Gnade und Barmherzigkeit) sprach. Die gewachsene Sicherheit in den Aussagen über Gott zeigt sich aber auch daran, dass das biblische Israel in der späteren Zeit immer mehr Aussagen über Gottes Stellung zur Welt als solcher und zum Menschen als solchem wagte. Es ist ja eines der Rätsel der biblischen Texte, dass sie sich an das Thema Welt und Mensch erst verhältnismäßig spät begaben. Im Kontrast dazu sind die ältesten
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religiösen Texte der großen Kulturlandvölker Mesopotamiens, also in Israels unmittelbarer Nachbarschaft, schon im 3. Jahrtausend v. Chr. überwiegend Schöpfungstexte. Diese Völker haben ihre Welt unmittelbar religiös gedeutet und haben z.B. die Schafe auf einen Schafgott, die Rinder auf einen Rindergott zurückgeführt und dann über die Wertigkeit der jeweiligen Götter reflektiert. Eine solche unmittelbar religiöse Deutung der Welt war Israel unmöglich, weil sein Glaube in geschichtlichen Erfahrungen gründete. Aber je mehr Erfahrungen es machte, desto sicherer waren nicht nur seine Aussagen über Gott, sondern auch seine Aussagen über Gottes Verhältnis zur Welt. Davon muss später noch die Rede sein. Zusammenfassend gilt: Die Aussagen des biblischen Israel über Gott basieren wesentlich auf Erfahrungen der Geschichte. Je mehr unterschiedliche Erfahrungen Israel machte, desto komplexer wurde sein Gottesbild, desto sicherer wurde es aber auch in seinen Gottesprädikationen. Das Nebeneinander von alten und jungen Texten zeigt, dass die verschiedenen Erfahrungen – in guten wie in schlechten Zeiten – grundsätzlich gleichwertig betrachtet wurden.
2. An dieser Stelle aber ist die zweite hermeneutische Vorbemerkung sachlich erforderlich. Ohne sie könnte das Bild einer gleichmäßig-linearen Entwicklung im Gottesglauben Israels entstehen: Je mehr Erfahrung in der Geschichte, desto mehr Wissen über Gott. Ein solches Bild wäre idealistisch. Es würde verschweigen, was für den Gottesglauben Israels genauso charakteristisch ist wie die Erfahrungen in der Geschichte: die prägenden Auseinandersetzungen, ja Kämpfe um die Wahrheit des Glaubens. Diese Kämpfe sind besonders mit den Propheten Israels verbunden. Die Propheten waren nicht nur Künder der Zukunft Gottes, sondern auch Wahrer des rechten Gottesglaubens. In dieser Funktion gerieten sie notwendig in Konflikt mit ihrem Volk. Sie hatten andere, höhere Maßstäbe für das, was sie ein glückendes Gottesverhältnis nannten, als das Volk in seiner Deutung der Geschichte. Nicht die Geschichtserfahrung als solche also gab den Maßstab für das rechte Reden von Gott, sondern erst die rechte Deutung der Geschichte. Sehr oft, ja meist, deuteten auch die Propheten untereinander die Geschichte verschieden. Der Streit um die Wahrheit des Glaubens betrifft also meistens die Propheten in ihrem Konflikt mit dem Volk, oft aber auch die Propheten untereinander. Für beide Konstellationen möchte ich ein Beispiel nennen. 1) Als der Prophet Hosea in der 2. Hälfte des 8. Jh.s v. Chr. auftrat, herrschte nach einer langen Periode kriegerischer Auseinandersetzungen zwi-
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schen Israel und den Aramäern Friede vor. Ein neuer wirtschaftlicher Wohlstand stellte sich ein; die Archäologie hat uns gezeigt, wie in dieser Zeit viele Neubauten in den Städten entstanden. Zu diesen Neubauten gehörten auch viele neue Kultbauten, und es wurden immer mehr Priester angestellt. Es gab mehr Gottesdienste als je zuvor. Merkwürdigerweise ist der Prophet Hosea mit dieser Entwicklung gar nicht einverstanden und verurteilt die immer zahlreicher werdenden Gottesdienste. Was hat der Prophet gegen so viele Zeichen der Frömmigkeit? Er ist der Meinung, dass die Quantität der Gottesdienste auf Kosten ihrer Qualität geht. Er attackiert die Menge der Gottesdienste, weil sie sich nicht mehr unterscheiden von den Gottesdiensten der bäuerlichen Kulturen in Israels Umwelt. Statt nach der Geschichte Gottes mit seinem Volk zu fragen und nach den Maßstäben, die diese Geschichte für das gegenwärtige Handeln setzt, sieht er ein mechanisiertes Gottesverständnis Platz greifen, nach dem Gott seinem Volk wohlgesonnen ist, wenn es ihm möglichst viele Gottesdienste feiert. So leitet die Fülle der Gottesdienste für diesen Propheten gerade auf den Irrweg, und die wachsende äußere Frömmigkeit lässt die Wirklichkeit Gottes „vergessen“, wie er sagt; diese Wirklichkeit ist für den Propheten nur im Verfolgen der Taten Gottes fassbar und im Fragen nach Gottes offenbartem Willen. So ist die abgründige Diagnose des Propheten, dass wohlmeinende Frömmigkeit im Gottesvolk gerade zur Verfehlung des wahren Gottes führt. Nicht der wahre Gott wird in den Gottesdiensten verehrt, sondern ein Götze, der seine Güte gegenüber den Menschen nach der Menge ihrer Gottesdienste richtet. 2) Härter war der Kampf um die Wahrheit des Glaubens, wenn er innerhalb der Prophetie stattfand. Für die Glieder des Volkes Israel waren es furchtbare Zeiten, wenn Prophet gegen Prophet stand und beide unter Berufung auf den wahren Gott genau das Gegenteil des anderen sagten. Ein einfaches Glied des Volkes musste sich hier hilflos fühlen, weil es nicht ahnen konnte, welcher Prophet sich mit Recht und welcher zu Unrecht auf Gott berief. Das war besonders der Fall, als die Babylonier vor den Toren Jerusalems standen und es einzunehmen drohten. Der Prophet Jeremia verkündete, dass die Babylonier ein Werkzeug Gottes seien, um das schuldige Israel zu strafen; seine Gegner sagten an, dass Gott treu zu seinem Volk stehen und die Babylonier wie einst die Ägypter besiegen werde. Wenn dieser Konflikt nicht dazu führen sollte, dass die Prophetie bedeutungslos und irrelevant werden würde, mussten die Propheten Kriterien entwickeln, an denen ein einfaches Glied des Volkes zwischen wahrer und falscher Prophetie unterscheiden könnte. Sie haben viele solche Kriterien genannt, angefangen beim Maßstab des ethischen Verhaltens des jeweiligen Propheten bis hin zum Rat, abzuwarten, was die Zukunft bringen würde. Ich nenne hier nur die beiden m.E. wichtigsten Kriterien, die bis heute Gültigkeit beanspruchen können. Beide wurden vom Propheten Jeremia entwickelt.
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a) Das erste Kriterium besagt, dass nur dort von Gottes Wahrheit beim Propheten gesprochen werden darf, wo diese Wahrheit deutlich von menschlichen Wünschen unterschieden werden kann. Jeremia wirft seinen Gegnern unter den Propheten vor, dass sie Gott mit ihrem Wunschdenken verwechseln, wenn sie immer wieder und einzig Gottes Fürsorge für sein Volk verkünden. Gott wird so ein „Gott aus der Nähe“, d.h. ein Gott, der dem Menschen vertraut ist, weil er denkt und handelt wie dieser, während Jeremia Gott auch als einen „Gott aus der Ferne“ (Jer 23,23) kennt, der dem Menschen fremd bleibt, ihm harte und unerfreuliche Ereignisse sendet, ihm unverständlich und verborgen bleibt. Nur ein Gott, der auch solche Erfahrungen abdeckt und nicht nur der immer dem Menschen zugewandte und gütige Gott ist, ist für den Propheten wahrer Gott. b) Das zweite Kriterium, um zwischen wahrer und falscher Prophetie zu unterscheiden, zielt auf die Wirkung des prophetischen Wortes. Jeremia wirft seinen Gegnern, die Gottes Güte und Treue gegenüber Israel predigen, vor, „sie stärken die Hände der Übeltäter“ (Jer 23,14), d.h. sie bestätigen die Menschen in ihren bösen Absichten, weil Gott doch alles zum Guten wenden würde, während es für den Propheten selber Zeit zum Umdenken ist, Zeit zur „Umkehr“, d.h. der Änderung der Gesinnung und der Taten. Wo das Wort der Propheten die Menschen am Wandel hindert und stattdessen ihre Gewissen einschläfert, sie unbeweglich macht, ist für Jeremia nicht Gottes Wort der Auslöser, sondern menschliches Wunschdenken. Zusammenfassend gilt: So gewiss das biblische Israel Gott in der Geschichte erfahren hat und so gewiss es Gott in der Geschichte immer besser verstanden hat, so gewiss war ihm die Deutung dieser Geschichte nicht immer zugänglich. Es brauchte für die Deutung die Propheten. Aber die Propheten waren mit ihrer Deutung der Geschichte überaus häufig im Konflikt mit dem Volk, das die Geschichte einfacher und einliniger verstand, und gelegentlich auch im Konflikt untereinander. Diese Konflikte waren hilfreich, weil sie zu einer immer klareren und schärferen Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Rede von Gott führten. Ich bin so lange bei den beiden grundlegenden hermeneutischen Prinzipien des biblischen Gottesglaubens stehengeblieben, weil sie m.E. entscheidend die Besonderheiten der alttestamentlichen Gottesvorstellung geprägt haben. Sie sind auch wesentlich für die Gegenwartsbedeutung des Alten Testaments. Gottes Handeln in der Geschichte, wie sie Israel in seinen Erzählungen verstand, schafft die Brücke, um die Erfahrungen der Gegenwart mit jenen älteren Erfahrungen Israels ins Gespräch zu bringen. Der Kampf der Propheten um wahres und falsches Gottesverständnis schafft dem modernen Leser der Texte die Möglichkeit, die prophetischen Entscheidungen über wahr und falsch anzunehmen oder aber zu verwerfen.
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3. Was aber ist das inhaltliche Ergebnis der beiden bisher behandelten hermeneutischen Grundentscheidungen des Alten Testaments? Ich werde mich auf zentrale Aspekte des Gottesbildes beschränken und beginne mit dem Verständnis der göttlichen Heilstaten, wie es ohne Deutung geschichtlicher Erfahrung und ohne prophetischen Kampf um die Wahrheit nicht verständlich wäre. Ich sagte oben schon, dass die vermutlich älteste Gotteserfahrung des biblischen Israels die Rettung vor der militärischen Übermacht eines ägyptischen Heereskontingentes war, das im Meer ertrank. Diese Grunderfahrung diente als Orientierungspunkt für zahlreiche spätere Bewahrungen vor Tod und Untergang. Beim Propheten Hosea diente sie später geradezu als Definition Gottes: „Ich bin der Herr, dein Gott, vom Land Ägypten her“ (Hos 12,10; 13,4). Offensichtlich musste man für diesen Propheten vor allem diese Erfahrung nennen, wenn man vom Gott Israels reden wollte. Vor allem aber diente sie dem späteren Israel dazu, den Unterschied zwischen Gott und Mensch einzuprägen. Hymnen preisen Gott als einen Gott, „der allein Wunder tut“ (Ps 136,4). Dabei meint der Begriff „Wunder“ nicht eine Durchbrechung von Naturgesetzen, sondern in der Sprache des Alten Testaments die Erfahrung von Rettung in Situationen, in denen menschlicherseits keine Rettung mehr zu erwarten ist. Deswegen prägen Propheten, aber auch Lehrer, ihren Hörern immer wieder ein, dass alles Vertrauen in Menschen und menschliche Kräfte schnell an seine Grenze stößt, dass aber ein Vertrauen auf den Gott, der Wunder tut, dem Leben einen festen Halt gibt. Bis zu diesem Punkt waren sich alle Glieder des Gottesvolkes prinzipiell einig, wenn auch viele unter ihnen mehr von dem Unterschied zwischen Gott und Mensch geredet als aus ihm gelebt haben werden. Die Propheten aber haben den Gedanken noch deutlich verschärft. Sie haben aus dem Gegensatz Vertrauen auf Gott – Vertrauen auf Menschen eine harte Alternative gebildet und betont, dass es nur zweierlei sich gegenseitig ausschließende Weisen der Lebensgestaltung gibt: das Vertrauen auf die eigenen Kräfte bzw. auf den Kontakt mit einflussreichen Menschen oder das Vertrauen auf Gott, seine Güte und seine Zusagen. Unter Rückgriff auf diesen Maßstab haben sie etwa die Politik eines aufgeklärten Königtums scharf verurteilt (Jes 7 u.o.). Das einfache Volk hat den Propheten in solcher Zuspitzung der Gotteserfahrungen kaum zu folgen vermocht. Noch ein anderer wichtiger alttestamentlicher Begriff ist unlöslich mit der Grunderfahrung in Ägypten verbunden, die sog. Erwählung. Diese Vorstellung ist eine notwendige Konsequenz der Bindung des Glaubens an Erfahrungen in der Geschichte. Solche Erfahrungen sind immer partikulare Erfahrungen einer beschränkten Gruppe. „Erwählung“ meint in diesem Kontext, dass
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die Rettung Israels am Schilfmeer vor den Ägyptern keine Erfahrung war, die durch beliebige Gegenerfahrungen aufgewogen werden könnte, sondern eine Basiserfahrung, die die Bindung Gottes an diese Menschengruppe, das biblische Israel, implizierte. Das spätere Israel hat in diesem Zusammenhang gern von der „Liebe“ Gottes zu Israel gesprochen, hat aber dann zugleich betont, dass diese Liebe Gottes Israel nicht getroffen habe, weil es wertvoller als andere Völker sei, sondern nur darum, weil es ihm als Modell für die Völker dienen sollte (Dtn 7). Auch hier wiederum haben die Propheten sehr viel härtere Folgerungen gezogen als das übrige Israel. Zwar hat auch das Volk als ganzes gewusst, dass Erwählung eine Aufgabe für Israel implizierte, und es hat diese Aufgabe in dem berühmten Reformprogramm aus der Zeit Josias mit dem Begriff „heiliges Volk“ (Dtn 7 u.ö.) bezeichnet. Es wollte damit zum Ausdruck bringen, dass die vielfältige Erfahrung der Güte Gottes und besonders die Bindung Gottes an Israel in der Erwählung für das Volk nicht nur ein Vorzug war, sondern auch eine Verpflichtung, die es aus dem Kreis der Völker heraushob. Die Propheten dagegen haben ihr Volk kritisch beurteilt und ihm vorgeworfen, dass das Wissen um die Erwählung es satt und unbeweglich machte, nicht Ansporn zum Handeln war, sondern im Gegenteil zur Verhinderung ethischer Impulse, zur Beruhigung der Gewissen führte. So konnte etwa ein Amos sagen: „Euch allein habe ich erkannt unter allen Sippen der Erde“ – bei diesem Anfang müsste man alle Hörer zustimmend mit dem Kopf nicken sehen –, „darum suche ich an euch heim alle eure Vergehen“ (Am 3,2). Erwählung ist für Amos keine göttliche Garantieerklärung für unbegrenzte Wohltaten, sondern eine besondere Verantwortung, die Israel aus den Völkern heraushebt, an der Israel aber schmählich versagt, so dass es nun auch weit härter bestraft wird als alle Völker. Wenn die Nachbarvölker Israels auch die grausamsten und abscheulichsten Kriegsverbrechen begehen, bis hin zur Tötung unschuldiger schwangerer Frauen, so ist das für den Propheten weniger verdammenswert als die Unterdrückung sozial Abhängiger in Israel, weil Israel als Volk Gottes so viel mehr von Gott weiß (Am 1–2). Der andere, härtere Maßstab der Propheten kommt auch bei der Auslegung des berühmten Anfangs des Dekalogs zum Ausdruck, der wichtigsten Sammlung ethischer Grundsätze im Alten Testament. Dort heißt es: „Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft geführt hat“ – also wieder der Rückgriff auf die Grunderfahrung am Schilfmeer –, „du sollst keine anderen Götter haben neben mir“ (Ex 20,2f.; Dtn 5,6f.). Wenn dieses 1. Gebot, feierlich in der Gottesrede formuliert, mit der Erfahrung der Rettung in Ägypten verbunden wird, so will es primär besagen, dass die exklusive Bindung Gottes an Israel am Schilfmeer die exklusive Verehrung Gottes durch Israel notwendig nach sich zog. So weit, so gut, aber wo lag die Grenze dieser Exklusivität? Das Volk sah in seiner Mehrzahl hier kein Problem. So lange man Gott im Gottesdienst verehrte, konnte man auch kultische
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Bräuche anderer Völker (wie etwa die Kuchen für die Himmelskönigin, Jer 7,18) übernehmen. Ungleich radikaler deuteten die Propheten das 1. Gebot. Sie beschränkten es nicht auf den kultischen Bereich, sondern übertrugen es auf das Gebiet der Politik, indem sie das Vertrauen, das Israel in der Vorbereitung auf den Kampf gegen die Assyrer auf die verbündeten Ägypter setzte, als Bruch des 1. Gebots interpretierten (Jes 30,1–5; 31,1–3). Für die Propheten rückte Ägypten in dieser Lage insofern in die Rolle eines Gottes, als ihm eine vertrauensvolle Erwartung entgegengebracht wurde, wie sie Rechtens nur Gott gebührte.
4. Im Vorangehenden ging es mir darum, einerseits die Deutungen der grundlegenden Heilserfahrung Israels mit den Begriffen „Wunder“ und „Erwählung“ darzustellen und zugleich zu zeigen, wie die Interpretation dieser Begriffe durch die Propheten ungleich härter ausfällt als durch das gemeine Volk. Das Alte Testament, so ist meine These, ist durch und durch prophetisch geprägt. Ich könnte nun die gleich Differenz zwischen Propheten und Volk auch an der Deutung der zweiten Grunderfahrung Israels, der Offenbarung Gottes am Berg Sinai, behandeln. Wichtiger aber erscheint es mir an dieser Stelle, auf das Verhältnis von Gott und Welt einzugehen. Dabei verzichte ich hier aus Raumgründen darauf, den Einfluss prophetischen Denkens herauszustellen. Ich sagte oben, dass der Begriff des „Wunders“ Israel und besonders seinen Propheten dazu diente, die Macht Gottes scharf von den Möglichkeiten der Menschen zu unterscheiden. Genauso scharf unterschied Israel auch Gott und die Welt voneinander. Gott war der Schöpfer der Welt, alles außer ihm – sogar seine himmlische Umgebung (Jes 6,2) – war Geschöpf. In der wichtigsten Sammlung ethischer Grundsätze, dem schon zitierten Dekalog, heißt es im 2. Gebot programmatisch: „Du sollst Dir kein Bildnis noch irgendein Abbild machen: weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf der Erde, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist“ (Ex 20,2–4; Dtn 5,6–8). Nichts im Universum in seiner dreifachen Gestalt, auch nichts im Himmel, ist Gott so ähnlich und nahe, dass es als sein Abbild dienen kann. Alles ist Schöpfung und kann in seiner Schönheit und Pracht allenfalls als Zeugnis für den Schöpfer dienen, nicht aber als sein Bild. Diese strenge Unterscheidung von Gott und Welt war den Religionen in der Umwelt des biblischen Israel fremd. Sie deuteten die Welt in vieler Hinsicht göttlich, allerdings in Abstufungen. Sie erklärten die Welt gewöhnlich mit der Kategorie der Emanation: Ein Ur-Götterpaar gebar ein anderes Paar, dieses ein weiteres etc. Nach dieser Deutung stößt der Mensch ständig auf Göttliches in der Welt, nur dass er lernen muss, die verschiedenen Stufen des
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Göttlichen zu differenzieren. Anders das biblische Israel. Aufgrund seiner Geschichtserfahrung, die es lehrte, erst lange Zeit zuzuwarten, bis es sich an die Deutung der Welt als ganzer heranwagte, urteilte es, dass die Welt als solche profan ist, und leugnete das Nebeneinander von Gott und Göttin, leugnete zugleich die Fülle der Zwischenwesen zwischen Gott und Mensch, von denen der übrige alte Orient sprach. Die Welt konnte jederzeit der Ort einer Gottesbegegnung werden, wann immer Gott es wollte, aber sie hatte als solche keinen religiösen Charakter. Sie spiegelte Gottes Handeln als Schöpfer und Geber des Lebens wider, wies insofern ständig auf ihren Schöpfer hin. Aber sie war als profane Welt endlich (Gen 8,22), ohne Anteil an Gottes Ewigkeit. Je mehr das reife Israel Gott von der Welt und vom Menschen unterschied, desto sensibler wurde es für die Gefahr, dass Menschen auf Gott ihre Wunschvorstellungen übertragen und sich ein Gottesbild zurechtlegen, in dem Gott der Erfüller der menschlichen Wünsche ist. Im Blick auf diese Gefahr erzählte es, wie das älteste Israel schon in der Stunde der ersten und grundlegenden Gottesoffenbarung in der Wüste am Berg Sinai den lebendigen Gott in seiner Fremdheit ablehnte und statt dessen sich in der Gestalt des Goldenen Kalbes das Bild von einem Gott schuf, wie es ihn sich wünschte. So tritt in den alttestamentlichen Texten der wahre Gott, wie ihn der Mensch immer nur partiell erkennt, dem Wunschgott entgegen, wie ihn der Mensch selber schafft, als ein Gegenüber, das er voll durchschaut und das ohne Rätsel ist.
5. Wenden wir uns kurz dem Menschenbild des Alten Testaments zu, so muss als erstes seine illusionslose und nüchterne Ausrichtung auffallen. Wir können es auch so ausdrücken: Je mehr im Alten Testament die unvergleichliche Macht Gottes gepriesen wird, je mehr die Differenz zwischen Gott und Mensch hervorgehoben wird, desto mehr erscheint der Mensch nicht nur als schwach und sterblich, sondern vor allem als unfähig oder doch zumindest als nicht bereit, Gottes Willen in seinem Leben zu erfüllen. Dieses vorherrschend negative Menschenbild ist vor allem ein prophetisches Erbe. Seit früher Zeit hatten die Propheten, wie wir oben gesehen haben, ihren Zeitgenossen eingeprägt, dass die erfahrenen Heilstaten Gottes, seine Rettung und sein Schutz vor Feinden und Unglück, auf Seiten der Menschen eine Antwort erwarteten. Die Maßstäbe für diese Antwort hatten die Propheten ungleich höher angesetzt als die anderen Glieder des Gottesvolkes. An diesen hohen Maßstäben aber haben die Propheten ihre Zeitgenossen scheitern sehen und sie deshalb als unwillig und unfähig zum Hören auf Gottes Willen, wie er von ihnen ausgelegt wurde, beschrieben. Als dann die Ba-
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bylonier nicht nur Jerusalem, sondern auch seinen Tempel zerstörten, haben die Propheten dieses einschneidende Ereignis als Strafe Gottes für den Ungehorsam des Volkes gedeutet. Ihr Menschenbild ist dadurch noch dunkler geworden. Sie sehen eine Generation vor sich, die nicht verstanden hat, dass die Erfahrung der Güte Gottes für die Menschen Verpflichtungen mit sich bringt. Sie sehen Menschen vor sich, die durch die Gewöhnung an das Böse, d.h. den Egoismus, unfähig zum Guten geworden sind: „Kann ein Schwarzer seine Haut ändern oder ein Panther seine Flecken? So wenig könnt auch ihr Gutes tun, die ihr an das Böse gewohnt seid“ (Jer 13,23). Aufgrund solcher Sicht des Menschen erwarten die Propheten Heil nur noch von Gott, der einen neuen Menschen schaffen kann und wird, der ihm gern gehorsam ist (Jer 31,31–34; Ez 36,26f.). Ich möchte in diesem Zusammenhang erneut betonen, dass dieses illusionslose Menschenbild auf dem Hintergrund der hohen Maßstäbe zu verstehen ist, die die Propheten – im Unterschied zu ihren Zeitgenossen – für ein glückendes Gott-Mensch-Verhältnis aufrichteten. Das negativ geprägte Menschenbild der Propheten hat Niederschlag gefunden in den Grundmythen der Bibel an ihrem Anfang. Dort wird erzählt, wie Gott den Menschen als sein Gegenüber schuf und ihm eine Fülle von Erweisen seiner Güte schenkte: einen Garten als ideales Arbeitsfeld, die Frau als ihm genau entsprechendes Gegenüber, die Tiere als seine Gehilfen. Aber der Mensch strebte nur nach einem: nach Unabhängigkeit von Gott. Er wollte frei von Gott sein und für sich selber sorgen. Aber das kann er nicht. So steht am Ende der Erzählung ein Mensch da, der Gott und Gottes Fürsorge verloren hat, damit aber nicht einen entbehrlichen religiösen Überbau seines Lebens, sondern mit Gott auch sein Verhältnis zur Arbeit verloren hat, die ihm nun Last und Mühe bereitet, sein Verhältnis zur Frau, das nur noch durch gegenseitige Vorwürfe charakterisiert ist, und sein Verhältnis zu den Tieren (Gen 3). Die Unfähigkeit und Unwilligkeit des Menschen, sein Leben von der Güte Gottes her zu nehmen und aus ihr heraus zu leben, erscheint hier als das eigentliche Unglück des Menschen, das das Leben jedes Menschen zutiefst bestimmt. Späte Gebete im Psalter bekennen, dass Menschen immer als Schuldige vor Gott stehen und immer auf seine Vergebung angewiesen sind (Ps 130 etc.). Wie verhält sich nun Gott zu einem Menschen, der nur bemüht ist, sich von Gott zu lösen und am liebsten selber Gott wäre? Es sind besonders tiefsinnige Texte, die auf diese Frage antworten; sie klären zugleich, wie das biblische Israel Gottes Gerechtigkeit und Gottes Güte zueinander in Beziehung setzte. Ich nenne vier Beispiele: 1) Ich beginne mit der Fortsetzung des zuvor genannten Grundmythos, der von der Lösung des Menschen aus der Verbindung mit Gott erzählte. In der Folge wird berichtet, wie dieser von Gott gelöste Mensch die Ungleichheit zwischen den Menschen in der Welt nicht zu ertragen vermag und zum Brudermörder wird. In großem Entsetzen über diese Tat und unter Schmerzen
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beschließt Gott darauf, die Menschen, die er geschaffen hat, in einer Sintflut zu vernichten. Aber Gott ist inkonsequent. Er will nicht ohne Partner sein und rettet ein Menschenpaar, das in seiner Arche ein Paar jeder Tierart am Leben bewahrt. So gibt es nun eine 2. Menschheit und eine 2. Schöpfung. Worin sind sie unterschieden von der 1. Schöpfung? Nicht etwa darin, wie man erwarten könnte, dass der Mensch sich geändert hätte und durch neue Gebote Gottes besser geworden wäre. Eine solche positive Anthropologie kennt das Alte Testament nicht. Sie kennt nur einen Menschen, und das ist der Mensch, der sich aus Gottes Bindung und Güte lösen möchte. Vielmehr hat sich Gott geändert. Er schwört, dass er nie wieder eine Sintflut bringen und die Menschen vernichten wird, „solange die Erde steht“ (Gen 8,22). Die 2. Menschheit lebt in einer Bewahrung, die die erste Menschheit noch nicht kannte. Gott aber hat seine Macht eingeschränkt. Er ist nicht mehr allmächtig in dem Sinne, dass er alles tun könnte. Er hat seine Möglichkeiten zu handeln selber eingeschränkt – zugunsten des Menschen, den er trotz dessen Halsstarrigkeit als Partner behalten möchte. Der Mensch lebt von Gottes Inkonsequenz. Wäre Gott konsequent, müsste er jeden Tag die Sintflut bringen. 2) Erzählt dieser Mythos vom Verhalten Gottes zum Menschen generell, so ein anderer Text ähnlich von seinem Verhalten zum Volk Israel. Es ist die Situation vorausgesetzt, die ich oben schon berührt habe: In der Stunde der Offenbarung Gottes am Berg Sinai in der Wüste, d.h. im Wissen um die Eigenarten des lebendigen Gottes, baut Israel sich das Goldene Kalb, d.h. einen Gott, wie es ihn gern haben möchte, einen Wunsch-Gott. Den lebendigen Gott stößt es damit von sich. Was kann Gott in dieser Situation anderes tun, als sein Volk, dem er sich soeben gezeigt hat, um mit ihm in eine dauerhafte Bindung zu treten, zu vernichten? Aber auch wenn Gott sein Volk allein und sich selber überlassen würde, wäre es wegen seiner Kleinheit verloren. In dieser Situation erzählt Ex 33, dass Gott seinen Engel mit Israel auf seinem gefahrvollen Wege schickt. Er geht nicht selber mit ihm. Würde er es auf seinem Weg durch die Wüste begleiten, könnte sein Zorn über seine eigene Verwerfung durch Israel in ihm aufflammen und er könnte Israel vernichten. Der Engel aber, der Israel begleitet, ist die personifizierte Güte Gottes, ohne die Möglichkeit des Zorns und der Vernichtung. Indem Gott seinen Engel Israel begleiten lässt, bewahrt er es vor seiner eigenen strafenden Gerechtigkeit und vor Vernichtung. Er ist unfähig, sein Volk zu vernichten. Israel lebt, weil Gott es vor seinem eigenen zerstörerischen Zorn schützt. 3) Letztlich sind diese Erzählungen im Pentateuch wiederum prophetischer Natur. Jedenfalls ist der älteste biblische Text, der davon berichtet, wie Gott Israel vor seinem eigenen Zorn schützt, ein prophetischer Text aus dem Buch Hosea (Kap. 11). Er enthält am Anfang eine geschichtstheologische Anklagerede, die Gottes Verzweiflung zeigt. Gott hat sein Volk aus der Knechtschaft Ägyptens befreit, hat es zu seinem Sohn adoptiert, hat den Sohn geheilt, wenn er krank wurde und ihn liebevoll versorgt, aber in all diesen Zeichen seiner
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Güte und Zuneigung hat er nur Undankbarkeit des Sohnes erlebt. Jetzt scheint ihm nichts anderes übrigzubleiben, als sein Volk zu vernichten. Aber er kann die Vernichtung nicht vollstrecken. In einer feierlichen Verzichterklärung erklärt Gott seine Unfähigkeit, seinem zerstörerischen Zorn freie Hand zu lassen. Denn in Gott beginnt eine leidenschaftliche andere Kraft aufzuflammen, die gegen den Zorn gerichtet ist und seiner Zuneigung zu Israel zum Sieg verhilft. Auch wenn er Israel strafen muss – gedacht ist an den Untergang des Nordreichs und das assyrische Exil –, so bedeutet doch diese Strafe nicht das Ende der göttlichen Bindung an Israel, sondern vielmehr deren Neubeginn. 4) Ein letzter prophetischer Text, den ich gewählt habe, zeigt einen etwas anderen Aspekt der Übermacht der göttlichen Güte über den Zorn. In Kap. 33 seines Buches berichtet der Prophet Ezechiel, wie Gott ihn zum Wächter für Israel bestellt hat. Er muss jedes Glied des Gottesvolkes vor großer Gefahr warnen, und er wird von Gott dafür verantwortlich gemacht, dass er jeden einzelnen Menschen erreicht. Der Prophet ist nicht dafür verantwortlich, wie das einzelne Glied des Volkes auf die Warnung reagiert; aber gewarnt werden muss jeder einzelne. Vor welcher Gefahr muss er (oder sie) gewarnt werden? Die Gefahr ist niemand anderes als Gott selber, der im Begriff ist, geschehene Schuld zu ahnden. Der Auftraggeber der Warnung und die Gefahr selber sind ein und derselbe Gott. Das aber heißt nichts anderes, als dass Gott zwar aufgrund seiner Gerechtigkeit geschehene Schuld strafen muss, dass er aber lieber nicht strafen möchte und hofft, dass alle Schuldigen sich durch den Propheten warnen lassen, damit sie der Strafe entgehen. Alle die genannten Texte betonen die Ungleichheit zwischen Zorn und Güte in Gott. Wären beide Kräfte in ihm gleichwertig, wäre Israel längst vernichtet. Ein Psalm (Ps 30,6) drückt diesen Sachverhalt so aus: „Sein Zorn währt einen Augenblick, seine Güte aber lebenslang“.
6. Ich komme zum Schluss. Je mehr Erfahrungen das biblische Israel mit Gott in der Geschichte machte, je sicherer es in der Deutung dieser Erfahrungen durch seine Propheten wurde, desto weniger hat es für sein Heil von sich selber und von seinem eigenen Handeln erwartet, desto mehr hat es allein auf Gottes Güte vertraut. Die Entmythisierung der Welt, ihre Deutung als profan und als Schöpfung hat dazu ebenso beigetragen wie das ganz und gar illusionslose Menschenbild der Propheten, das seinerseits aus den hohen Maßstäben gewonnen wurde, die die Propheten an ihr Volk wegen der vielen Erfahrungen der Güte Gottes anlegten und an denen sie ihr Volk scheitern sahen. So wurde Israels Glaube über die Jahrhunderte hinweg immer theozentrischer. Immer häufiger hat das biblische Israel zum Ausdruck gebracht, dass es
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nur überlebt hatte, weil Gott unfähig war, sein schuldiges Volk zu vernichten. Seit es im babylonischen Exil unter den Völkern lebte, hat Israel auch immer öfter vom Heil der Völker gesprochen und seine eigenen Erfahrungen auf die Völker übertragen. Im Buch Jona z.B. hat Israel erzählt, dass Gott zwar den Völkern, wenn sie schuldig werden – wie das sprichwörtlich böse Ninive –, den Untergang ankündigt, dass er aber – wie bei Israel – hofft, die Ankündigung nicht vollstrecken zu müssen. Als Ninive Buße tut, wird es von Gott verschont. Wenn mehr Zeit geblieben wäre, hätte ich über Israels Umgang mit dem Leid sprechen müssen. In einem langen Buch hat es dargestellt, wie ein von furchtbarem Unglück und von Krankheit geplagter Mensch mit Namen Hiob an Gott zu verzweifeln droht, zuletzt aber sein Leid aus Gottes Hand anzunehmen bereit ist. Vor allem aber hat Israel vom Gottesknecht gesprochen, der als Werkzeug Gottes ein Leiden trägt, das eigentlich Israel tragen müsste, der aber auf diese Weise Israel von diesem Leiden befreit. Die christliche Gemeinde hat später Jesus Christus als verborgenen Erfüller der Aussagen vom Gottesknecht bekannt. In seinen abgründigsten Texten hat Israel also nicht nur davon gesprochen, dass es überlebt hat, weil Gott zu seiner Vernichtung unfähig ist, sondern dass Gott die Rettung Israels – und der Völker – im Voraus bereitet, indem er durch das Leiden des Gottesknechts Israel und die Völker vor der Vernichtung bewahrt.
Schöpfung und Verantwortung nach dem Alten Testament
5. Schöpfung in Poesie und Prosa des Alten Testaments Gen 1–3 im Vergleich mit anderen Schöpfungstexten des Alten Testaments Unter der Prägung durch die dogmatische Tradition westlicher Provenienz sind wir gewohnt, die Frage nach der Stellung der Bibel zur Schöpfung assoziativ sogleich mit dem ersten Kapitel der Bibel, allenfalls mit den ersten drei Kapiteln der Genesis zu verbinden. Die Berechtigung zu einer solchen Schwerpunktlegung ist sachlich auch gar nicht zu bestreiten, ist es doch nicht erst die spätere christliche Traditionsbildung gewesen, die diesen Kapiteln eine so herausgehobene Rolle zuwies, sondern schon die alttestamentliche Überlieferung selber, die sie in die Kopfstellung rückte. Allerdings ist unter der Hervorhebung von Gen 1–3 das Bewusstsein dafür verlorengegangen, dass diese Kapitel sowohl innerbiblisch als auch inneralttestamentlich keineswegs unbesehen als charakteristisch oder gar typisch für die biblische Rede von Schöpfung gelten können, sondern ganz im Gegenteil bewusste, auch einseitige und betont polemische Akzentsetzungen vollziehen, die für eine Leserschaft gedacht sind, die längst mit dem Thema Schöpfung vertraut ist. Diese bewussten Akzentsetzungen werden schon äußerlich daran sichtbar, dass sowohl die ältere Erzählung des J als auch die jüngere von P unlöslich mit der Thematik der Sintflut verbunden sind, auf die sie zulaufen. Wer als ein Nachgeborener, der nicht in den Denkvoraussetzungen der Bibel und des Alten Orients groß geworden ist, die biblische Rede von Schöpfung kennenlernen möchte, sollte daher sinnvollerweise nicht mit Gen 1–3 einsetzen, sondern mit Texten, die eher als repräsentativ für andere stehen können; andernfalls müsste er notwendigerweise die besonderen Akzente, die Gen 1 und Gen 2–3 setzen, überlesen. Die folgenden Ausführungen werden sich aus diesem Grunde zunächst alttestamentlichen Schöpfungstexten außerhalb der Genesis zuwenden, um erst am Ende zu Gen 1–3 zurückzukehren. Angesichts der Fülle in Frage kommender Texte versteht es sich von selbst, dass dies nur an Hand von repräsentativen Beispielen geschehen kann. Der Titel des Aufsatzes will dabei ins Gedächtnis rufen, dass es sich bei diesen Texten ausnahmslos um Poesie handelt, Gen 1–3 also auch schon unter ganz vordergründigen literarischen Gesichtspunkten in ihrer Sonderstellung erkennbar werden.
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Schöpfung und Verantwortung nach dem Alten Testament
1. Vergleicht man die biblischen Texte mit der literarischen Hinterlassenschaft der großen Kulturnationen aus Israels Umwelt, so fällt ein Doppeltes auf: zum einen, dass die Zahl der biblischen Texte, die ausführlich von der Schöpfung handeln, begrenzt ist, zum anderen, dass die Mehrzahl dieser Texte vergleichsweise spät entstanden ist, d.h. im Exil oder danach. Beide Beobachtungen sind Indiz dafür, dass das Thema „Schöpfung“ im Alten Testament einen ganz anderen Stellenwert einnimmt als in Ägypten oder Mesopotamien. Zu einem beherrschenden und prägenden theologischen Gegenstand ist es im Alten Testament erst ab dem Exil geworden. Insbesondere die Verkündigung des großen Exilspropheten Deuterojesaja, sodann die Problemdichtung des Hiobbuches und schließlich die Theologie der Priesterschrift sind ohne das Schöpfungsthema schlechterdings undenkbar. In der Zeit vor dem Exil ist diese Thematik demgegenüber – wenn man von Anspielungen in mancherlei Kontexten und von einigen kurzen Sprüchen absieht – auf einige Psalmen beschränkt und daneben auf eine einzige bedeutsame Ausnahme, die Schöpfungsgeschichte des Jahwisten in Gen 2. Aber das ist ein einsamer und innerhalb des Alten Testaments analogieloser Text, voller interner Polemik gegen die Sicht der Welt und des Menschen in Israels Umwelt. Hinzu kommt, dass auch Gen 2 nicht von der Schöpfung als selbstgewichtigem Gegenstand redet, sondern sie nur als Gegenpol zu gegenwärtiger Welterfahrung des Menschen in ihrer Mühsal und Gebrochenheit nennt, wie sie der Schöpfungsabsicht Gottes widerspricht (Gen 3). Gen 2 ist – zumindest im überlieferten Text – unlöslich auf Gen 3 bezogen1; das eigentliche Thema der beiden Kapitel ist das Theodizeeproblem. So ist die Schöpfungsgeschichte in Gen 2–3 eine Ausnahme, die die Regel bestätigt. Erst mit der Vorordnung des priesterschriftlichen Schöpfungsberichtes Gen 1 in nachexilischer Zeit erhielt das Thema der Schöpfung der Welt jene selbstgewichtige Bedeutung innerhalb des Alten Testaments, die ihm im allgemeinen Bewusstsein der Christen heute zukommt. Im Unterschied zu diesem Sachverhalt reden die großen Kulturnationen in Israels Umwelt von allem Anfang an von Schöpfung. Insbesondere in Mesopotamien sind die ältesten religiösen Texte, die uns überkommen sind, weithin Schöpfungsmythen. Wie über Gott recht zu reden ist, entnahmen diese Völker unmittelbar ihrer Welterfahrung im Alltag, indem sie diese Erfahrung 1 Ob dies von Anbeginn der Fall war (O. H. STECK, Die Paradieserzählung [BSt 60], Neukirchen-Vluyn 1970; neu abgedruckt in: DERS., Wahrnehmungen Gottes im Alten Testament [TB 70], München 1982, 9ff.) oder ob Schöpfungs- und Paradieserzählung in einem Vorstadium einmal selbständig waren (W. H. SCHMIDT, Die jahwistische Schöpfungs- und Paradiesgeschichte, in: DERS., Die Schöpfungsgeschichte der Priesterschrift [WMANT 17], Neukirchen-Vluyn 31973, 194ff.), ist gegenwärtig noch umstritten.
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religiös deuteten. Die erwähnten ältesten (sumerischen) Texte aus Mesopotamien kennen für jeden Teilbereich der Alltagserfahrung eine für ihn verantwortliche Gottheit: für das Getreide einen Getreidegott, für das Vieh einen Viehgott, für Pflanzen eine Pflanzengöttin usw. Die überkommenen Mythen klären dann etwa in Erzählungen vom Streit zweier Götter die Gewichtigkeit der Teilbereiche, für die die Götter zuständig sind, im Blick auf die menschliche Erfahrung2. Natürlich wurde ein solches mythisches Erzählen desto reflektierter und komplizierter, je komplexer die Welterfahrung der Kulturlandvölker im Verlauf der Geschichte wurde. Primäres Anliegen aller Schöpfungsmythen blieb jedoch – wie in jener alten (mehr als 1000 Jahre vor David liegenden) Zeit – das Bemühen, die Ordnung der Welt zu erkennen, sie sich in ihren positiven Kräften nutzbar zu machen und möglichst alle Verletzungen dieser Ordnung zu vermeiden. Um das bekannteste Beispiel zu nennen: Wenn zu biblischer Zeit am babylonischen Neujahrsfest der zum Epos ausgeweitete Weltschöpfungsmythos enūma eliš rezitiert und dramatisch aufgeführt wurde, in dem der Gott der Ordnung, Marduk, die Chaosmacht Tiamat besiegt und aus ihrem Leichnam die Welt entstehen lässt, dann wurde mit Rezitation und Drama die Ordnung der Welt neu in Kraft gesetzt und heilvoll als gültige Grundlage des Lebens von den Kultteilnehmern erfahren. Diese Ordnung spiegelt allerdings insofern ein fortgeschrittenes Stadium der Geschichte wider, als das genannte Epos zu verschiedenen Gelegenheiten rezitiert wurde. Da es im Bericht vom Bau des Marduktempels in Babylon gipfelt, wird am Neujahrsfest mit der rituellen In-Kraft-Setzung der Weltordnung sowohl die innere Gesellschaftsgliederung als auch die äußere Weltherrschaft Babylons neu als göttlich garantierte Schöpfungsordnung erfahren; gleichzeitig können das Epos und verwandte Schöpfungstexte aber auch im privaten Bereich anlässlich der Geburt eines Kindes oder für Beschwörungen bei Krankheitsfällen rezitiert und so die Kräfte der Schöpfung in der Erfahrung des Individuums neu belebt werden3. Naturordnung, Staatsordnung und Ordnung des individuellen Lebens sind nur spezifische Aspekte der mit der Schöpfung gesetzten umfassenden Weltordnung. Am Aspekt der Staatsordnung wird die Differenz zwischen diesen mesopotamischen Vorstellungen und alttestamentlichem Denken am deutlichsten greifbar. Für das Weltschöpfungsepos enūma eliš ist die Hierarchie der Gesellschaft ebenso wie die Weltherrschaft Babylons mit der Schöpfung gegeben und als unablösbarer Teil der Schöpfungsordnung sakrosankt. In einer Umwelt mit solchen Denkvoraussetzungen musste es als revolutionär erscheinen, wenn das biblische Israel von sich selber sagte, es sei am Anfang ohne Königtum gewesen, und damit Schöpfungsordnung und geschichtlich gewordene Staatsordnung programmatisch voneinander trennte. Eine derartig be2 3
Vgl. etwa die Belege bei S. N. KRAMER, Sumerian Mythology, New York 21961, 49ff. Vgl. etwa A. HEIDEL, The Babylonian Genesis, Chicago 31963, 66ff.
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wusste Trennung von Schöpfung und Geschichte impliziert, dass die geschichtlich entstandenen Ordnungen als grundsätzlich überholbar bzw. revozierbar galten. Die klassischen Propheten haben diese Konsequenz dann auch entschieden gezogen und einem schuldigen Gottesvolk im Namen Gottes eine Existenz ohne staatliche Ordnung angesagt (am ausgeprägtesten Hosea; vgl. Hos 3,4; 8,4 mit 8,13; 13,9–11, aber auch etwa Jes 7,1–16). Diese fundamentalen Unterschiede zwischen altorientalischer und alttestamentlicher Weltdeutung hängen mit dem oben genannten Sachverhalt zusammen, dass die „großen“, umfassenden Schöpfungstexte im Alten Testament relativ spät entstanden sind. Es gehört zu den Eigenarten des biblischen Israel, dass es lange Zeit zugewartet hat, bis es sich an die Deutung der Welt als ganzer begab. Es wagte diese Deutung erst, als es schon vielfältige Erfahrungen mit Gott im Raum der Geschichte gemacht hatte. Es sprach zuerst von Gottes Führung auf seinem Weg, von Gottes Versorgung mit Lebensnotwendigem, von Gottes Hilfe in Not, von seiner Rettung in aussichtslosen Situationen, auch von seiner Strafe für Schuld etc. und hatte auf diese Weise andere, sicherere Maßstäbe für seine Rede von der Welt und dem Menschen gefunden als seine Nachbarn. Die außergewöhnliche Tiefe biblischer Weltsicht und die relative Jugend der Texte, die sie bezeugen, hängen unlöslich zusammen4. Diesen Sachverhalt hat G. von Rad in seinem bekannten Aufsatz „Das theologische Problem des alttestamentlichen Schöpfungsglaubens“ die „dienende Rolle“ des Schöpfungsglaubens gegenüber dem auf geschichtlichem Handeln Gottes gegründeten Heilsglauben genannt 5 . Diese These hat sich grundsätzlich bei vielen Texten immer wieder bewährt. Jedoch hat von Rad einerseits die Zahl der Texte, die sich dieser These nicht unterordnen, unterschätzt, andererseits nicht die Frage gestellt, ab wann eine solche Sicht im Alten Testament anzutreffen ist und ob in Texten aus dem Südreich ebenso wie in solchen aus dem Nordreich6. Insofern ist die Gegenthese von H. H. Schmid, der alttestamentliche Heilsglaube habe sich erst allmählich aus einem gemeinorientalischen Schöpfungsglauben heraus entwickelt, der auch weiterhin seinen Rahmen bilde7, nicht die pure Alternative zur Sicht von Rads, sondern im Blick auf 4
Das hat mit Recht in jüngerer Zeit L. SCHMIDT, Schöpfung: Natur und Geschichte, in: J. Boecker/H.-J. Hermisson/J. M. Schmidt (Hg.), Altes Testament (Neukirchener Arbeitsbücher), Neukirchen-Vluyn 31989, 243ff., bes. 246ff., betont. 5 G. VON RAD, Das theologische Problem des alttestamentlichen Schöpfungsglaubens, in: J. Hempel/F. Stummer/P. Volz (Hg.), Werden und Wesen des Alten Testaments (BZAW 66), Berlin 1936, 138–147, zit. nach DERS., Gesammelte Studien zum Alten Testament I (TB 8), München 31965 (1958), 136–147, hier 139 u.ö. Sehr einfühlsam hat in jüngster Zeit K. EBERLEIN, Gott der Schöpfer – Israels Gott (BEATAJ 5), Frankfurt a.M. 1986, 24–41, die Position von Rads dargestellt. 6 Wohl aber erkennt von Rad die Sonderstellung der alttestamentlichen Weisheit im Reden von der Schöpfung deutlich (vgl. a.a.O., 144f.). 7 H. H. SCHMID, Schöpfung, Gerechtigkeit und Heil. „Schöpfungstheologie“ als Gesamthorizont biblischer Theologie, ZThK 70 (1973) 1–19, neu abgedruckt in: DERS., Altorientalische Welt in der alttestamentlichen Theologie, Zürich 1974, 9–30. Zu beachten ist, dass Schmid einen sehr weiten Schöpfungsbegriff gebraucht, der weithin mit dem Begriff der Weltordnung deckungsgleich ist. DERS./H.
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manche älteren Texte, speziell des Südreichs, durchaus im Recht, kaum allerdings in dem generellen Sinne, in dem sie geäußert wurde. Von einem solchen Text soll sogleich die Rede sein.
2. Nun hat das alttestamentliche Israel andererseits aber nicht erst mit dem Exil begonnen, von Welt und Schöpfung zu reden. Über kurze Anspielungen hinausgehend8, geschieht das allerdings nur in seinen Psalmen, genauer: in seinen Hymnen. In solchen älteren Hymnen ist die Nähe zu altorientalischem Denken weit größer als in den gewichtigen Schöpfungstexten der Spätzeit. Sachlich ist es ein ganz spezifischer Teilaspekt der Schöpfungs- und Weltproblematik, der in diesen älteren Psalmen zur Sprache kommt. Nirgends ist die Erschaffung von Welt und Mensch in ihnen das zentrale Thema, sondern ihr Anliegen ist die Festigkeit und Verlässlichkeit der dem Menschen zum Leben anvertrauten Erde, und diese Verlässlichkeit wird jeweils mit dem Königtum Jahwes begründet. Diese älteren Hymnen loben Jahwe an Hand dessen, was wir in unserer Sprache seine Welterhaltung nennen würden. Es versteht sich von selbst, dass für alttestamentliches und darüber hinaus altorientalisches Denken Welterhaltung so wenig wie für unser Denken – bei näherem Zusehen noch weit weniger – in striktem Sinne von der Schöpfung im weiteren Verständnis zu trennen ist. Aber beides ist andererseits auch nicht einfach zur Deckung zu bringen9. Das wird etwa an der Tatsache erkennbar, dass Jahwes Macht zur Welterhaltung auch dort, wo sie einmal nicht wie üblich explizit mit seinem Königtum begründet wird, in vorexilischer Zeit nie mit der Erschaffung der Welt 10 , gelegentlich dagegen (z.B. Ps 24,1f.; vgl. 95,4f.) mit dem Hinweis auf Jahwes Eigentumsrecht an der Erde belegt wird11. Es geht in diesen Psalmen um das eine Anliegen der Sicherheit und
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Dazu sind etwa Gen 14,19; Spr 14,31; 16,4 zu zählen. Vgl. zu dieser Differenzierung in jüngerer Zeit A. KAPELRUD, Baʿal, Schöpfung und Chaos, UF 11 (1979) 407–412; DERS., Creation in the Ras Shamra Texts, StTh 34 (1980) 1– 11; J. JEREMIAS, Das Königtum Gottes in den Psalmen (FRLANT 141), Göttingen 1987, 162f.; zuletzt eindrücklich H. SPIECKERMANN, Heilsgegenwart. Eine Theologie der Psalmen (FRLANT 148), Göttingen 1989, 21ff.73ff. 10 Vgl. dagegen in nachexilischer Zeit etwa Ps 96,5. Bei der schwierigen, aber auch aus theologischen Gründen überaus wichtigen Frage der Datierung der Psalmen setze ich hier jene Gesichtspunkte voraus, die ich genauer in der soeben genannten Monographie zum „Königtum Gottes“ entwickelt habe. 11 Vgl. zur traditionsgeschichtlichen Verankerung dieser Aussage M. METZGER, Eigentumsdeklaration und Schöpfungsaussage, in: Wenn nicht jetzt, wann dann? (FS H.-J. Kraus), hg. von H.-G. Geyer/J. M. Schmidt/W. Schneider/M. Weinrich, Neukirchen-Vluyn 1983, 37– 51. Erst die Eigentumsverhältnisse ihrerseits werden in Ps 95,5 – einem Psalm unmittelbar 9
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der Gehaltenheit des Lebens auf der Erde, nicht aber um Fragen des Wesens der Welt, wie es mit Erzählungen von ihrer Entstehung erläutert wird. Interessant ist in diesem Zusammenhang besonders, dass Israels engste Nachbarn, die Kanaanäer, Schöpfung und Welterhaltung zwei verschiedenen Göttern zuschrieben, die sie beide als Könige der Welt prädizierten: die Schöpfung dem „Vater der Götter“ (ʾab bn ʾilm) und „Vater der Menschen“ (ʾab ʾadm), El12, die Welterhaltung aber dem Sieger im Chaoskampf, Baal13. Unter den bislang aus dem antiken Ugarit bekannten Texten sind auffälligerweise keine Fassungen eines Schöpfungsmythos gefunden worden, wohl aber mehrere Versionen des Chaoskampfmythos. Das mag auf Zufall beruhen; wahrscheinlich ist mir diese Annahme jedoch nicht. Jedenfalls ist den frühen alttestamentlichen Psalmen zu entnehmen, dass das Thema der Welterhaltung dem biblischen Israel mit ganz anderer Macht von außen – eben von seinen engsten Nachbarn – aufgedrängt wurde als das Thema der Weltentstehung. Das galt im vermehrten Maße, seit die Kanaanäer für das biblische Israel als Folge von Davids Reichsgründung nicht mehr ein Problem der Außenbeziehung geblieben, sondern ein gewichtiger innenpolitischer Faktor geworden waren, auf den es um des staatlichen Gleichgewichts willen gebührend Rücksicht zu nehmen galt. Es versteht sich unter solchen geschichtlichen Umständen von selbst, dass das biblische Israel nicht unberührt von und gleichgültig gegenüber der Tatsache bleiben konnte, dass die kanaanäischen Mitbürger ihre Hochgötter als Könige der Welt priesen; denn mit dieser Prädikation war der Anspruch erhoben, dass es El bzw. Baal war, der die komplexe Weltordnung und mit ihr als Teilaspekte die Staats-, Gesellschafts-, Völker- und Naturordnung garantierte und aufrechterhielt.
Als Beispiel dafür, wie das biblische Israel mit diesem von den Kanaanäern vorgegebenen und polytheistisch vorgeprägten Thema umging, soll Ps 93 dienen: 1 Jahwe herrscht als König; mit Hoheit umkleidet, umkleidet ist Jahwe, mit Macht umgürtet. 2 So ist die Erde fest gegründet, kann nicht wanken. Fest steht dein Thron von uran, von Urzeit her bist du. 3 Es erhoben Fluten, Jahwe, es erhoben Fluten ihr Brausen, (ja ständig) erheben Fluten ihr Tosen!
vor oder nach dem Exil (JEREMIAS, Königtum Gottes, a.a.O. [Anm. 9], 113) – mit der Schöpfung begründet. 12 Vgl. CTA 19 [= KTU 1.19], I, 25.33 bzw. 43.136.151 u.ö. 13 Vgl. zu dieser Differenzierung bes. W. H. SCHMIDT, Königtum Gottes in Ugarit und Israel (BZAW 80), Berlin/New York 21966, 22ff. und passim.
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4 Mehr als das Brausen mächtiger Wasser, gewaltiger als die Brecher des Meeres ist gewaltig in der Höhe Jahwe. 5 Deine Setzungen sind wahrhaft zuverlässig, deinem Haus gebührt Heiligkeit, Jahwe, für die Dauer der Tage14.
Für das Verständnis des Psalms ist die Beobachtung entscheidend, dass er sich in zwei Strophen gliedert, die bewusst parallel gestaltet sind. Beide Strophen, V.1f. und V.3–5, setzen jeweils mit Aussagen über Jahwe ein und gehen an ihrem Ende in die Gebetsanrede (V.2 und V.5) über. Die Gebetsanreden ziehen Konsequenzen aus den vorausgehenden beschreibenden Sätzen. Sie sind zugleich in dreierlei Hinsicht auffällig und bis in die Reihenfolge der Gedanken hinein analog formuliert: Der Charakter des Königtums Jahwes (Festigkeit bzw. Verlässlichkeit) steht voran, sodann wird auf den Ort seiner Ausübung geblickt („dein Thron“ bzw. „dein Haus“), zuletzt wird der Zeitaspekt bedacht („von uran“ bzw. „für die Dauer der Tage“). Dem Königtum Jahwes eignet nach Ps 93 also eine Festigkeit, die von Anbeginn und bis in alle Zukunft hinein unerschütterlich ist und die mit dem Ort der Herrschaftsausübung zusammenhängt. Darauf ist sogleich zurückzukommen. Von der Festigkeit des Königtums Gottes ist allein deshalb die Rede, weil von ihr die Stabilität der Welt abhängt (V.1b, ein Folgesatz). Letztere aber ist, wie beide Strophen verdeutlichen, eine ständig gefährdete. In der ersten Strophe wird diese Gefährdung nur indirekt angedeutet, insofern Jahwe als der königlich gerüstete Krieger dargestellt wird, noch ohne dass ein Feind im Blick ist. In der zweiten Strophe aber wird die Gefahr selber beschrieben, und zwar als früher erfahrene und gegenwärtig erlebte, und mitten in die Darstellung hinein schafft sich die Furcht der Gemeinde im kurzen Gebetsanruf „Jahwe!“ (V.3a) Raum. Ganz ungewöhnlich erfolgt nun aber die Beschreibung der Reaktion Jahwes: Kein Sieg über das Chaos wird dargestellt, sondern Jahwe wird nur komparativisch von aller Macht des Chaos abgehoben. Mag es brausen und tosen (V.3), es ist – nicht nur heute, sondern ständig – der königlichen Kampfeskraft Jahwes unterworfen. Nicht die – einmalige bzw. wiederholte – Rettung Israels aus Gefahr ist also das Thema des Psalms, sondern die ununterbrochene Kontrolle des Weltenherrschers über alle auch nur denkbaren Gefährdungen der Welt. Mögen die chaotischen Mächte – in Gestalt von Feinden von außen, von Frevlern im Innern oder von Naturkatastrophen – so „gewaltig“ sein wie nur denkbar, Jahwe „in der Höhe“ ist noch weit „gewaltiger“. Längst erkannt ist, dass sowohl die Form des Psalms als auch seine Begrifflichkeit überaus enge Analogien in Ugarit finden. Sogenannte „Tricola“ 14
15.
Vgl. zur Begründung der Übersetzung JEREMIAS, Königtum Gottes, a.a.O. (Anm. 9),
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wie in V.3 und 4, bei denen sich die vom Dichter intendierte Sachaussage in drei parallelen Anläufen entfaltet, von denen die ersten beiden in sich unvollständig bleiben und erst die dritte die volle Bedeutung aus sich entlässt, finden sich in der ugaritischen Poesie recht häufig, im Alten Testament aber nur in Texten, die auch begriffliche Berührungen mit dem Ugaritischen zeigen15. Traditionsgeschichtlich steht Ps 93 insbesondere in V.1a und wiederum in V.3f. mit ugaritischen Texten in Verbindung; die Beschreibung des Chaos als „Ströme“, „mächtige Wasser“ und „Meer“, die Darstellung seines Tosens und der königlichen Kriegermacht Jahwes finden bis in Einzelheiten hinein Parallelen im ugaritischen Baalmythos. Aber während der Baalmythos sehr wahrscheinlich (wie nachweislich der analoge Kampfmythos in Mesopotamien) auf die jährlich wiederholte Dramaturgie des Neujahrsfestes bezogen war und in der rituellen Aktualisierung dieses Festes von der Gemeinde neu erlebt wurde, war Israel von seinen Glaubensvoraussetzungen her ein Verständnis unmöglich, dass die Sicherheit der Welt auf einem Sieg Jahwes im Götterkampf beruhe. Vielmehr hat es in Ps 93 die erzählenden Sätze des wesenhaft polytheistischen Mythos so in allgemeingültige, generelle Sätze übersetzt, dass Jahwes Kontrolle über alle chaotischen Kräfte zur Kernaussage wurde. Direkte Handlungssätze bietet der Psalm nur, wo er die Gefahr des Chaos beschreibt (V.3). Dieser Gefahr wird Jahwe in V.4 als der schlechthin Überlegene einfach komparativisch gegenübergestellt, allerdings in einer potentiellen Dynamik, wie sie schon der einleitende Vers mit Darstellung der Kriegsrüstung vorbereitet hatte. Die Welt ist in sicheren Händen; es gibt keine Macht, die Jahwes Königtum gefährden könnte, das der Welt ihre Stabilität garantiert. Allerdings ist nun auch bei dieser Umformulierung des Mythos der Bezug zum Gottesdienst nicht verlorengegangen. Das zeigt sich daran, wie der Herrschaftsort des Weltenkönigs beschrieben wird. Heißt er in V.2 mehrdeutig „dein Thron“, so in V.4 beim Thema der Kontrolle „die Höhe“, im abschließenden Gebetsteil aber „dein Haus“. Dabei sind Himmel und Tempel nicht zwei verschiedene Orte der Herrschaftsausübung, sondern ein und derselbe Ort. Wer im Tempel Gottesdienst feiert, steht vor dem Weltenkönig, der im Himmel thront16, so gewiss andererseits kein Tempel ihn fassen kann (Jes 6,1; 66,1). Im Tempel macht die Gemeinde himmlische Erfahrungen. So ist das eigentliche Wunder, das Ps 93 preist, dass der König der Welt im Tempel Jerusalems Wohnung genommen hat (vgl. Ps 47,6 u.ö.). 15
Vgl. Ps 77,17; 92,10; 118,15f.; Hab 3,8. Vgl. bes. M. METZGER, Himmlische und irdische Wohnstatt Jahwes, UF 2 (1970) 139– 158; weiter O. H. STECK, Friedensvorstellungen im alten Jerusalem (ThSt 111), Zürich 1972, 14; T. N. D. METTINGER, The Dethronement of Sabaoth (CB.OT 18), Lund 1982, 29ff.; SPIECKERMANN, Heilsgegenwart, a.a.O. (Anm. 9), 177f.184; zuletzt B. JANOWSKI, Das Königtum Gottes in den Psalmen, ZThK 86 (1989) 389–454, hier 412ff. 16
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Spätere Psalmen, die das Königtum Gottes preisen, haben die Gefährdung der Welt auf anderen Gebieten gesucht: entweder durch die Völker (z.B. Ps 47) oder aber durch Israels eigene Schuld vor Gott (Ps 95; 99). Wieder andere Psalmen haben die endgültige Verwirklichung dieses universalen Königtums in der Zukunft erwartet und die Befreiung aus dem Exil (Ps 96; 98) oder die Erfahrung der Güte Gottes im Einzelleben (Ps 97) als Angeld auf diese Zukunft verstanden. In nachexilischer Zeit konnte dann aber im Gottesdienst Israels auch viel unmittelbarer als in den zuvor genannten Psalmen Jahwe als Schöpfer gelobt werden, sei es, dass die Schöpfung als das erste Werk der Heilsgeschichte (Ps 136) oder als das erste Wort des verbindlichen Redens Gottes (Ps 33; 148) betrachtet wurde17. In jedem Falle aber galt die Schöpfung als Beweis seiner Einzigkeit und Unvergleichlichkeit gegenüber den Göttern.
3. Anders als in seinem Gottesdienst hat das biblische Israel in seinen Weisheitsschulen von der Verlässlichkeit der Welt gesprochen18. Es hat einerseits das Chaos als eine die Welt gefährdende Macht noch stärker depotenziert, als das in Ps 93 der Fall war; es hat andererseits dem Geheimnis der Welt beobachtend und reflektierend nachgespürt. Wie beides miteinander zusammenhängt, zeigen am deutlichsten der weisheitliche Psalm 104 und die Gottesreden im Hiobbuch, die beide den Tempel als Herrschaftsort Gottes nirgends erwähnen. Ps 104 soll im Folgenden etwas ausführlicher zu Wort kommen. Der Psalm gliedert sich traditionsgeschichtlich in drei ungleiche Teile. Während der erste (V.1–9) kanaanäisch(-mesopotamische) Chaoskampfthematik aufgreift, ist der längere Mittelteil (V.10–30) vor allem, wenngleich keineswegs ausschließlich, von ägyptischer Vorstellungswelt geprägt, wohingegen im kurzen Abschlussteil (V.31–35) spezifisch alttestamentliches Denken durchschlägt. Die Reihenfolge dieser drei Gedankenkreise ist unumkehrbar. Der Psalm beginnt wie Ps 93 mit dem Thema des Königtums Gottes, das der einzelne Mensch im Betrachten des Universums als Grundlage all seiner Welterfahrung begreift:
17 Vgl. dazu W. H. SCHMIDT, Schöpfung durch das Wort im Alten Testament, in: W. Strolz (Hg.), Schöpfung und Sprache, Freiburg/Basel/Wien 1979, 15ff. 18 Vgl. zu dieser Differenzierung vor allem H.-J. HERMISSON, Observations on the Creation Theology in Wisdom, in: Israelite Wisdom (FS S. Terrien), hg. von J. G. Gammie/ W. A. Brueggemann/W. L. Humphreys/J. M. Ward, Missoula 1979, 43–57; neu abgedruckt in: B. W. Anderson (Hg.), Creation in the Old Testament, Philadelphia/London 1984, 118– 134. – Die folgenden Belege sind in ihrer Endgestalt nachexilisch, die Traditionen aber sind teilweise älter, ohne dass diese komplizierte und weithin hypothetische Rekonstruktion hier durchgeführt werden könnte. SPIECKERMANN, Heilsgegenwart, a.a.O. (Anm. 9), 21ff. versucht mit literarkritischen Mitteln eine ältere, vorexilische Fassung von Ps 104 herauszustellen.
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1 Lobe Jahwe, meine Seele! Jahwe, mein Gott, du bist sehr groß! Mit Hoheit und Pracht bist du umkleidet, 2 der du dich hüllst in Licht wie in ein Kleid; der den Himmel wie ein Zelt ausspannt, 3 der über den Wassern seine Obergemächer zimmert; der Wolken zu seinem Wagen macht, der auf den Flügeln des Windes einher zieht; 4 der Winde zu seinen Boten macht, zu seinen Dienern verzehrendes Feuer.
Wie in Ps 93 richtet sich der Blick des Beters zunächst auf Jahwe als Weltherrscher, bevor die Welt beschrieben wird. Aber die Schilderung Jahwes ist im Vergleich zu dem älteren Ps 93 charakteristisch abgewandelt worden. Nur noch Königsepitheta – „Hoheit und Pracht“ – werden als „Kleidung“ Jahwes wahrgenommen, keinerlei Epitheta des himmlischen Kämpfers und Kriegers mehr ausgesagt wie in der traditionellen Verbindung von „Hoheit und Macht“ in Ps 93,1 und in einer Vielzahl von Jahwe-König-Psalmen. Auch im Folgenden sind alle Assoziationen an einen gegenwärtigen Kampf Jahwes mit chaotischen Mächten ausgeblendet. Die Umschreibung des göttlichen „Gewandes“ mit „Licht“ – allerdings im Vergleich – schlägt eine Brücke von der Herrlichkeit des Schöpfers zur erfahrbaren Schönheit der himmlischen Welt (vgl. Gen 1,3). Von „Finsternis“ ist im Unterschied zu Gen 1 keine Rede; Himmel, Wolken, Winde und Blitze erweisen das Königtum Gottes in all seiner Pracht. Und wenn Jahwes Wohnung „über den Wassern“ geortet wird, so ist damit nicht mehr primär (wie z.B. in Ps 29,10) herrschaftliche Kontrolle über die Chaosmacht assoziiert – die kosmischen Wasser werden schon vom himmlischen Zeltdach (wie in Gen 1 von der Himmelsplatte) abgehalten –, wie denn auch die Wolken, die in der Tradition den Kriegswagen des Sturmgottes bilden (Dtn 33,26; Ps 68,34f. u.ö.), nur noch Symbol der denkbar schnellen Fortbewegung sind und die Waffe des Blitzes nur noch Symbol der souveränen Beherrschung der Elemente. Noch viel eindeutiger ist die Degradierung der traditionellen Chaosmacht in den folgenden Versen zu beobachten (V.5–9), in denen der Blick aus der himmlischen Welt zur Erde herabgleitet. Hier sind zwar die terminologischen Anklänge an den Chaoskampfmythos mit Händen zu greifen, aber es handelt sich um ein Kampfesgeschehen, das zur „Gründung“ der Erde führte, wie es der überschriftartige V.5 formuliert, und das mit dieser „Gründung“ ein für allemal zu Ende ist: 5 Er hat die Erde auf ihre Fundamente gegründet, sie kann nie und nimmermehr wanken. 6 Die Urflut hatte sie wie ein Kleid bedeckt, über den Bergen standen Wasser; 7 vor deinem Kriegsruf flohen sie, von deiner Donnerstimme wurden sie vertrieben.
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8 Da stiegen die Berge auf, senkten sich die Täler an den Platz hin, den du ihnen gegründet hattest. 9 Eine Grenze hast du gesetzt – die können sie nicht überschreiten, können nie wieder die Erde bedecken19.
Ps 104 kennt – im Unterschied zu Ps 93 – schlechterdings keine Gefährdung der Welt durch chaotische Mächte in der Gegenwart, d.h. seit der Schöpfung der Welt. Gewiss existiert das Chaos weiterhin und hat seine destruktive Potenz, die im Symbol der Wasser erscheint, nicht verloren. Aber es ist sozusagen domestiziert, d.h. es kann diese Potenz nur an außergeschöpflichem Ort voll entfalten, die Schöpfung dagegen nicht treffen. Die „Grenze“, die Gott ihm „gesetzt“ hat, impliziert insbesondere, dass eine Rückkehr zum vorgeschöpflichen Zustand der Welt (V.9b) und damit ein Verlust der Festigkeit und Verlässlichkeit der Welt schlechterdings ausgeschlossen sind. Wenn die Erde „nie und nimmer wanken“ kann (V.5b), dann hat das derartig zurückgedrängte Chaos alle Macht verloren; als Konsequenz dieses Gedankens erscheint das traditionelle Chaosungeheuer Leviathan im Mittelteil des Psalms als Spielzeug Gottes für seine Mußestunden (V.26). Ist eine Gefährdung der geschaffenen Welt von außen in einem solchen extremen Maße ausgeschlossen worden, so kann im zentralen Mittelteil des Psalms (V.10–30) die Welt uneingeschränkt in ihrer Schöpfungsherrlichkeit beschrieben werden. Entscheidend ist die Darstellung von der Kategorie des versorgten und umsorgten Lebens bestimmt20. Nicht zufällig steht am Anfang das Wasser, das nun im Gegensatz zu der chaotischen Potenz, von der anfangs die Rede war21, in seiner lebenserhaltenden Qualität für Tiere aller Gattungen genannt wird und darüber hinaus die ganze Erde tränkt. Von hier aus geht der Blick in die Welt des Kulturlandes, das der Mensch beackern darf, weil Gott ihm Nahrung und auch Luxusgüter (Wein und Öl, V.15) sprossen lässt. Aber Gott hat keineswegs nur den Menschen im Blick, wenn er Leben umhegt. Ringsum ist der Mensch umgeben von Leben, das er oft nicht bewusst wahrnimmt; außerdem gibt es eine Fülle von Leben, dessen der Mensch gar nicht gewahr wird, sei es, dass es auf ihm unzugänglichen hohen Bergen sich regt (V.18), sei es, dass es nachts gelebt wird, wenn der Mensch, von der Arbeit erschöpft, schläft (V.19–23). Die Alltagserfahrung des Menschen reicht in
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Vgl. zur Begründung der Übersetzung JEREMIAS, Königtum Gottes, a.a.O. (Anm. 9),
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Das zeigt vor allem O. H. STECK, Der Wein unter den Schöpfungsgaben. Überlegungen zu Ps 104, TThZ 87 (1978) 173ff., neu abgedruckt in: DERS., Wahrnehmungen Gottes im Alten Testament (TB 70), München 1982, 240ff.; vgl. DERS., Welt und Umwelt (Biblische Konfrontationen; UTB 1006), Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1978, 63ff. 21 Dieser Bezug kommt vor allem in V.13a zum Ausdruck, wo als Ort der Gabe lebenerquickenden Wassers die „Obergemächer“ Gottes genannt sind, die nach V.3a „über den (chaotischen) Wassern“ liegen.
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keiner Weise zu, um das Maß der gütigen Versorgung mit Leben, das sich an jedem einzelnen Tag ereignet, zu erspüren. Auch die Nachttiere erwarten von Gott ihre Nahrung. Das Besondere dieser Aussage wird erst sichtbar auf dem Hintergrund der aufgegriffenen Tradition aus dem Sonnenhymnus Amenophisʼ IV. Echnaton. In dieser Tradition sind die Tiere der Nacht Verkörperung der Todesmacht, weil sie leben, während die lebenspendende Sonne in der Unterwelt weilt. Es sind menschenfeindliche, dämonische Mächte. Von solcher Bedrohung der Schöpfung weiß der Psalm nichts. Er reiht die Nachttiere in die mannigfaltige Bezeugung von Leben in dieser Welt ein, das der Mensch meist nur erahnt, nie aber in seiner Totalität wahrnimmt22.
Die Vielfalt erkennbaren Lebens führt den Dichter am Abschluss des Mittelteils zu dem bewundernden Satz: Wie zahlreich sind deine Werke, Jahwe; du hast sie alle in Weisheit vollbracht; voll ist die Erde mit dem, was du geschaffen hast (V.24).
Entscheidend an diesem zentralen Lobpreis ist, dass für Ps 104 Weltbeobachtung und „Glaube“ ungetrennt ineinander liegen. Undenkbar, dass der Psalm in der reinen Beschreibung des umsorgten Lebens auf der Erde stehenbliebe. In die Beschreibung fügt sich von selbst und notwendig die Anrede an Gott ein, nicht weil hier ein Frommer dichten würde, sondern weil für diesen Beter die Erkennbarkeit der Welt, ihre wohlgelungene Ordnung, in die menschliches Begreifen einzudringen vermag, zwingend zum Lobpreis führt. Die Welt hat Zeugnischarakter; sie bezeugt den, der für sie sorgt. Ein Begreifen dieser Welt aus sich selber, ohne Berücksichtigung des Schöpfers, hätte für den Psalmisten das Verschließen all seiner Sinne impliziert. In Ps 104 nimmt nicht der Verstand zunächst die Welt wahr, so dass der Glaube das Wahrgenommene in einem zweiten Schritt zu deuten hätte, sondern das wache Beobachten der Welt führt automatisch zum Lobpreis des Schöpfers. Die Wahrnehmung der Welt ist schon Glaubensaussage, weil die Schöpfung ständig vom Schöpfer spricht, beruht sie doch auf sinnvoll geordnetem, ständig mit Speise versorgtem Leben. Diesen Gedanken hat die jüngere Weisheit in Israel breit ausgeführt. In Spr 8 fordert die personifizierte Weisheit alle Menschen in einer werbenden Rede auf, Weisheit zu erlernen. Sie begründet diesen Aufruf mit ihrer Stellung in der Schöpfung: Sie war zugegen, als der Schöpfer alle Einzelphänomene der Welt schuf, hat ihn und seine Geschöpfe umspielt und ständig erfreut. Ohne die Weisheit ist daher eine Annäherung an die Schöpfung gar nicht möglich. „Weil Gott die Welt mit ihren inneren Ordnungen in Weisheit geschaffen hat, darum kann sie auch nur durch Weisheit erkannt werden, und solche Erkenntnis ist für den Menschen lebensnotwendig, weil er sich nur damit in die Ordnungen, die Regelabläufe der Welt einfügen
22 Diese Differenz hat am schärfsten E. VON NORDHEIM, Der große Hymnus des Echnaton und Ps 104, Studien zur altägyptischen Kultur 7 (1979) 227–251, bes. 243, herausgearbeitet (vgl. K.-H. BERNHARDT, Amenophis IV. und Psalm 104, MIO 15 [1969] 193–206; J. ASSMANN, Die „Häresie“ des Echnaton: Aspekte der Amarna-Religion, Saec 23 [1972] 109–126).
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kann“23. Weisheit in diesem Sinne ist primär Weltbetrachtung, die zur Welterkenntnis führt, d.h. zur Erkenntnis der Ordnungen, die der Welt zugrunde liegen. Diese Ordnungen aber sind in einem letzten Sinn mit dem Willen Gottes identisch, so dass der Ruf der Weisheit in die Mahnung zum Tun des Rechten mündet. Eine verwandte Einsicht liegt schon dem weit älteren und singulären Ps 19A zugrunde, der vermutlich in Aufnahme und Abwandlung eines kanaanäischen Sonnenhymnus24 von der Sprache der Schöpfung redet. Die Schöpfung hat nach diesem Psalm eine Botschaft, die im Universum ergeht, ob Menschen hören wollen oder nicht. Es können aber alle Menschen – auch die entferntesten (V.5) – hören, wenn sie bereit sind, und so in das Geheimnis der Schöpfung eindringen, das auf den Verursacher hinweist und im prächtigen Lauf der Sonne am deutlichsten zum Ausdruck kommt. Es ist nun gewiss nicht zufällig, sondern sachgemäß, dass sich mit Ps 19B (V.8–14) in spätnachexilischer Zeit ein zweiter Teil anschließt, der von einer anderen Weise der Bezeugung Gottes zu sprechen weiß: von seiner Weisung, d.h. der Kundgabe seines Willens.
In Ps 104 wird die Nähe Gottes unmittelbar erfahren: an jedem Tag, in jeder Stunde, in der Geschöpflichkeit selber. Alle Wirklichkeit ist für diesen Beter Zeichen der Güte und Freundlichkeit des Schöpfers. Es ist nur konsequent, wenn aus solcher Perspektive auch der Tod seinen Schrecken verliert, ja selber zum Zeugen des lebenspendenden Gottes wird: Sie alle warten auf dich, dass du ihnen ihre Speise gibst zu seiner Zeit. Gibst du ihnen, so sammeln sie, tust du deine Hand auf, so werden sie mit Gutem gesättigt. Verbirgst du dein Angesicht, erschrecken sie, nimmst du ihren Odem hin, verscheiden sie und werden wieder zu Staub. Sendest du deinen Odem aus, so werden sie geschaffen, und du erneuerst das Antlitz der Erde (V.27–30).
So arglos, ja geradezu heiter hat das biblische Israel sonst nie vom Tod geredet. In Ps 104 wagt ein Dichter – in Anlehnung an den Sonnenhymnus Amenophisʼ IV. Echnaton – diese Aussage, weil er mit dem ersten Gebot bis in die äußerste Konsequenz hinein ernst macht. Wie alles Lebenspenden, so ist auch der Tod ein Handeln des einen Gottes, der keine Mächte neben sich kennt. Der Tod ist die notwendige Kehrseite des Lebens, das nie aufhört, geschöpfliches, d.h. auf Versorgung angewiesenes Leben zu sein, und gleichzeitig gestundete Gabe, die der Geber des Lebens wieder einfordert. Auf diese Weise ist der Tod in Ps 104 auf höchst paradoxe Weise ein Zeuge des leben23 H.-J. HERMISSON, Weisheit, in: DERS./H. J. Boecker/J. M. Schmidt/L. Schmidt (Hg.), Altes Testament (Neukirchener Arbeitsbücher), Neukirchen-Vluyn 31989, 165ff., hier 173. 24 So in jüngerer Zeit etwa O. H. STECK, Bemerkungen zur thematischen Einheit von Psalm 19,2–7, in: Werden und Wirken des Alten Testaments (FS C. Westermann), hg. von R. Albertz/H.-P. Müller/H. W. Wolff/W. Zimmerli, Göttingen 1980, 318–324, neu abgedruckt in: DERS., Wahrnehmungen Gottes im Alten Testament (TB 70), München 1982, 232– 239; anders H. GESE, Die Einheit von Psalm 19, in: Verifikationen (FS G. Ebeling), hg. von E. Jüngel/J. Wallmann/W. Werbeck, Tübingen 1982, 1–10.
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spendenden, lebenerneuernden Gottes geworden. Denn alle Wirklichkeit bezeugt die Güte und Freundlichkeit Gottes. Ist der Psalm in so ungewöhnlichem Maße von der Alleinwirksamkeit Jahwes als Schöpfer bestimmt, spricht er chaotischen Mächten letztlich alle Bedrohung der Welt ab und versteht auch den Tod als ein Handeln Gottes, so ist er doch nicht in dem Sinne „naiv“, dass er Schrecken und Unheil in der Welt nicht kennen würde. In den ganz von Israels eigener Tradition bestimmten Abschlussversen 31–35 kommen solche Aspekte zur Geltung. Nur wird mit ihnen die Überzeugung von der Machtlosigkeit des Chaos nicht aufgehoben. Es gibt für Ps 104 nur zwei Quellen des Unheils in der Welt: Gott und den Menschen. Es gibt in der Welt neben den vielfältigen Erfahrungen von Versorgung auch Erfahrungen von ängstigendem und furchterregendem Gotteshandeln (V.32). Vor allem aber ist Gottes gute Schöpfung von menschlicher Schuld bedroht (V.35). Mit diesem nur noch angedeuteten, aber nicht mehr ausgeführten Thema der gefallenen und pervertierten Schöpfung, das auf den an Gott gerichteten Wunsch beschränkt ist, der Schuld der Menschen möge Einhalt geboten werden, schließt der Psalm und präludiert damit jene Thematik, die die Schöpfungserzählungen am Beginn des Alten Testaments so wesentlich bestimmt. Hat man die Abschlussstrophe von Ps 104 in ihrem Eigengewicht wahrgenommen, nimmt es nicht mehr wunder, dass die biblische Weisheitstheologie auch in einer Dichtung wie dem Hiobbuch, die sich zentral mit menschlichem Leid beschäftigt, wie es dem Menschen uneinsichtig bleibt, ihre heitere Sicht der geschaffenen Welt nur wenig verändert beibehält. Die zurückliegende Forschung hat den Dichter des Hiob-Dialoges oftmals dafür gescholten, dass die die Dichtung abschließenden Gottesreden so wenig auf die Anklagen Hiobs eingehen und statt dessen Lehrerfragen zu Schöpfung und Welt an Hiob richten, die er nicht beantworten kann, die er aber auch nie beantworten zu können vorgab. Man hat eine Antwort auf die Theodizeefrage, die nur auf die überlegene und dem Menschen letztlich uneinsichtige Macht des Schöpfers über die Welt verweist, angesichts der harten Anfragen Hiobs nach der Gerechtigkeit Gottes als inadäquat empfunden25. Dabei ist jedoch gemeinhin verkannt worden, dass die Gottesreden des Hiobbuches keineswegs nur Gottes Allmacht der menschlichen Ohnmacht und Gottes Weisheit den Grenzen menschlichen Erkennens kontrastierend entgegenstellen wollen, sondern vielmehr dem an Gottes Gerechtigkeit zweifelnden Hiob die sinnvoll geordnete, vor allen chaotischen Mächten ständig bewahrte Schöpfung als Modell und Garantie für Gottes gutes, freundliches und schützendes Handeln am 25 Am schärfsten hat das E. BLOCH, Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reichs (rde 347–349), Reinbek 1970, 114 getan, wenn er formuliert: „Der Jachweh (sic!) der Endszene spricht, wie für einen Naturdämon in Ordnung, kein einziges messianisches Wort“.
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Menschen nahebringen wollen. Gewiss wird Hiob auch der Vorwurf gemacht, er wolle Gott als willkürlich und böse verurteilen, indem er Sachverhalte beurteile, die er nur verstehen könnte, wenn er über die Einsicht des Weltherrschers verfügen würde (Hi 38,2ff.; 40,2.8ff.). Aber schon diese Passagen, die Hiob zurechtweisen, sind von dem Gedanken beherrscht, dass die Welt fest gegründet ist (38,4ff.), vor dem Chaos ein für allemal geschützt, indem diesem unübersteigbare Grenzen gezogen wurden (V.8ff.)26; dass Gott den Bösen Einhalt gebietet (38,13ff.), indem er ihren Hochmut, d.h. ihren Willen, selber Gott zu sein, demütigt (40,11ff.); dass er Macht über den Tod hat (38,16ff.) und vielfältiges Leben bis hin zu den Nachttieren versorgt (V.39ff.); dass er König der Welt ist (40,9f.), den die Schöpfung lobt, wenn die Menschen schweigen (38,7). Das sind ausnahmslos aus Ps 104 vertraute Gedanken, die hier um Hiobs Vertrauen auf Gott werben wollen, auch wenn er sein individuelles Geschick nicht begreift. Die Freunde wollten Gottes Handeln rechtfertigen, Hiob wollte dessen Willkür aufweisen: Beides wird in den Gottesreden abgewiesen, indem die Schöpfung zum Zeugen Gottes aufgerufen wird. Die Unterwerfung Hiobs unter Gott geschieht daraufhin im Ton des Jubels, weil Gott ihm, dem leidenden Menschen, begegnet (42,5)27. Möglich ist solche Begegnung für die Gottesreden des Hiobbuches allerdings nur im Abstand des Schöpfers zu seinem Geschöpf. Es ist aber – trotz dieses Abstands – der Schöpfer, dem Hiob vertrauen kann und vertrauen soll, auch wenn dessen Schöpfungsherrlichkeit und noch mehr seine Gerechtigkeit in einem letzten Sinne dem Menschen verborgen und uneinsichtig bleiben. Mit der Zurückweisung Hiobs in seiner Unfähigkeit, Gottes sinnvolle Schöpfung und Weltlenkung voll zu durchschauen, klingen erstmals innerhalb der von uns behandelten Texte skeptische Töne an. In der späten Weisheit des Alten Testaments gewinnt diese Skepsis immer mehr an Raum. Der bekannteste Beleg ist das Buch des Predigers, für den Gott zwar „alles schön gemacht hat zu seiner Zeit.., nur dass der Mensch das Werk, das Gott gemacht hat, von Anfang bis Ende nicht erfassen kann“ (Pred 3,11). Eine gewichtigere Rolle spielt die Schöpfung im späten, dem Hiobbuch zugewachsenen Weisheitsgedicht Hi 28, das deshalb hier als Beispiel dienen soll. In ihm werden eingangs staunend die technischen Fähigkeiten des Menschen bewundert, der mit Bergwerken ins Innere der Erde dringt und Unsichtbares ans Tageslicht befördert. Aber dann wird nach seiner Fähigkeit zu letzter Welterkenntnis gefragt (V.12ff.). Diese Fähigkeit wird ihm bestritten, weil sie dem Schöpfer der Welt vorbehalten bleibt (V.23ff.). Angesichts dieses Mangels erscheinen alle so bewundernswerten Fähigkeiten des Menschen als armselig, denn die Weisheit ist kostbarer als alle Edelsteine der Welt (V.15ff.), ist aber dem Menschen selbst bei intensivstem Bemühen nicht zugänglich. Deswegen gilt im noch einmal jüngeren Abschlussvers der Satz für den begrenzten Men26 Vgl. dazu ausführlich insbesondere O. KEEL, Jahwes Entgegnung an Ijjob (FRLANT 121), Göttingen 1978, 55ff.l55ff. u.ö.; auch V. KUBINA, Die Gottesreden im Buche Hiob, Freiburg/Basel/Wien 1979, 43ff. 27 Man beachte in diesem Zusammenhang, dass die Gottesreden im Hiobbuch mehrfach den Jahwe-Namen verwenden, den der lange Dialog so geflissentlich (mit einer einzigen Ausnahme) vermeidet.
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schen: „Furcht des Herrn – das ist Weisheit“ (V.28). Nur im Rechnen mit Gott kann der Mensch an der Weisheit Anteil gewinnen, die Gott vorbehalten und ihm selber verborgen bleibt. „Das Schöpfungsgeheimnis hat sich tiefer vor dem technischen Menschen zurückgezogen“28.
4. Eine theologisch zentrale Stellung in verschiedenen literarischen Bereichen nahm die Rede des Alten Testaments von der Schöpfung erstmalig mit dem Exil ein, dem wir mit den zuletzt erörterten weisheitlichen Texten schon vorausgeeilt waren. In mancherlei Zusammenhängen trat jetzt die Schöpfung an die Stelle der Heilsgeschichte, waren doch mit dem Zusammenbruch des Staates sowohl die Erwählung Israels als auch die traditionelle hymnische Erinnerung an die Heilstaten Jahwes aus der Frühzeit des Gottesvolkes strittig geworden und hatten ihre vormalige Eindeutigkeit verloren, da Israel die entscheidenden Stützen seines Glaubens genommen waren, mit denen Erwählungsgewissheit und Lobpreis der Taten Jahwes begründet wurden: Land, Königtum und Tempel 29. Ob Jahwe Israel aufgegeben und verworfen habe (Jes 40,27; 49,14) oder ob er gar mächtigeren Göttern unterlegen gewesen sei, war die vordringliche Doppelfrage der ersten Jahre nach dem Fall Jerusalems. In dieser Situation herrschenden Zweifels und aufkommender Resignation erwies sich die Prädikation Jahwes als Schöpfer als wesentliche Hilfe. Wo ältere kollektive Klagelieder Jahwe an seine Heilstaten am Anfang erinnert hatten, um ihn zur Wendung der Not Israels zu bewegen, da erinnern die exilischen Klagelieder des Volkes Jahwe an seine Machttaten bei der Schöpfung und insbesondere an seine Besiegung der Chaosmächte (Ps 74,12ff.; 89,6ff.; vgl. Jes 51,9ff.)30. Mit diesem Themawechsel drangen zugleich verstärkt individuelle Vertrauenselemente in die kollektiven Klagepsalmen ein; Schöpfung war ja von Haus aus vor allem ein Element des individuellen Klagegebetes, mit dem der einzelne Gott vor Augen hielt, welche Mühe er an den Beter von Geburt an gewendet hatte, eine Mühe, die nun umsonst sein könnte, wenn er ihn dem frühzeitigen Tode überließ31. 28 Vgl. G. VON RAD, Aspekte alttestamentlichen Weltverständnisses, in: DERS., Gesammelte Studien zum Alten Testament I (TB 8), München 31965 (1958), 311–331, hier 325. 29 Vgl. zu den Merkmalen dieser Glaubenskrise bes. O. H. STECK, Deuterojesaja als theologischer Denker, KuD 15 (1969) 280ff., neu abgedruckt in: DERS., Wahrnehmungen Gottes im Alten Testament (TB 70), München 1982, 204ff., bes. 209ff. 30 Vgl. L. VOSBERG, Studien zum Reden vom Schöpfer in den Psalmen (BEvTh 69), München 1975. Die theologische Auseinandersetzung mit dem kanaanäischen Mythos war zu dieser Zeit längst abgeschlossen, so dass in diesen exilischen Psalmen sehr viel unbedenklicher als zuvor massive Vorstellungen des Chaosdrachenkampfes verwendet werden konnten. 31 Vgl. die Belege bei R. ALBERTZ, Weltschöpfung und Menschenschöpfung (CThMA 3), Stuttgart 1974, 33ff.
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Aber die genannte Verwendung der Schöpfungsthematik in den Klageliedern des Volkes ist im Exil nur eine unter vielen. In der Priesterschrift etwa wird in Gen 1 über dem Bericht von der Schöpfung auch eine Auseinandersetzung mit dem Weltbild des Zweistromlandes vollzogen32. Die bei Weitem größte Breite aber hat die Rede von der Schöpfung beim „Evangelisten“ unter den Propheten, bei Deuterojesaja, erreicht. Die gottesdienstliche Tradition, in der er groß geworden ist, gebraucht er für die unterschiedlichsten Zusammenhänge. Der Reichtum an Assoziationen ist kaum auszuloten. Ich gliedere im Folgenden die Aussagen grob gattungsgeschichtlich33: 1) Am relativ dichtesten bei der Psalmen-Tradition stehen die Disputationsworte des Propheten, mit denen er die Zustimmung der Hörer zu seiner überwältigenden Heilsbotschaft zu erlangen versucht34. Wenn er wie in Jes 40,21 (vgl. V.28) hymnische Partizipien, die Gottes Schöpfermacht preisen, mit den Worten Wisst ihr es denn nicht? Hört ihr es denn nicht? Ist es euch nicht von Anbeginn verkündet worden? Habt ihr es nicht begriffen ‚von der‘ Gründung der Erde ‚her‘?
einleitet, so wird hier offensichtlich den Hörern Elementarwissen, sozusagen Konfirmandenlernstoff ins Gedächtnis gerufen. In der Tat will Deuterojesaja bei seinen Hörern primär das vergessene Loblied des Schöpfers wieder wecken (Westermann). Aber er tut weit mehr als das. Indem er über der hymnischen Tradition den unendlichen Abstand zwischen Schöpfer und Geschöpf thematisiert – hier „der über dem Rund der Erde thront, dass ihre Bewohner wie Heuschrecken sind“ (V.22), dort „die Herrscher der Erde …, kaum gepflanzt, kaum eingesät … schon blies er sie an, dass sie dahinwelkten …“ (V.23f.) –, nötigt er die Hörer, eine doppelte Konsequenz zu ziehen: a) „Alle Völker sind wie nichts vor ihm“, „Tropfen am Eimer, Staubkorn auf der Waage“ (V.17.15); wer furchtsam auf Babylon starrt, das allererst mit 32 Vgl. etwa SCHMIDT, Schöpfungsgeschichte, a.a.O. (Anm. 1), bes. 21ff.l60ff.; J. EBACH, Weltentstehung und Kulturentwicklung bei Philo von Byblos (BWANT 108), Stuttgart 1979. 33 Die Notwendigkeit einer gattungsgeschichtlichen Differenzierung der Schöpfungsaussagen bei Deuterojesaja erkannte als erster R. RENDTORFF, Die theologische Stellung des Schöpfungsglaubens bei Deuterojesaja, ZThK 51 (1954) 3–13, neu abgedruckt in: DERS., Gesammelte Studien zum Alten Testament (TB 57), München 1975, 209–219. – Vgl. im Übrigen in neuerer Zeit zum Thema bes. C. STUHLMUELLER, The Theology of Creation in Second Isaias, CBQ 21 (1959) 429–467; DERS., Creative Redemption in Deutero-Isaiah (AnBib 43), Rom 1970; PH. B. HARNER, Creation Faith in Deutero-Isaiah, VT 17 (1967) 298–306; W. KIRSCHSCHLÄGER, Die Schöpfungstheologie des Deuterojesaja, BiLi 48 (1975) 407–422; E. HAAG, Gott als Schöpfer und Erlöser in der Prophetie des Deuterojesaja, TThZ 85 (1976) 193–213; K. EBERLEIN, Gott der Schöpfer, a.a.O. (Anm. 5), 73–189 sowie unten Anm. 41. 34 Vgl. zu ihnen bes. H.-J. HERMISSON, Diskussionsworte bei Deuterojesaja, EvTh 31 (1971) 665–680.
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der allgemeinen Bezeichnung „Völker“ gemeint ist, hat noch gar nicht begriffen, was für armselige „Gemächte“ alle Geschöpfe in der rechten Perspektive, nämlich „vor ihm“, sind. b) Demgegenüber gilt: „Die auf Jahwe harren, kriegen neue Kraft …“ (V.31). Da der Schöpfer seine unbegrenzte Macht nicht für sich behält, führt der Anhalt am Schöpfer zu einer Umwertung aller Erfahrungswerte. Was in der Erfahrung der Menschen kraftstrotzend ist – „Fürsten“ (V.23) bzw. „Jünglinge“ (V.30) –, sinkt dahin, während Ohnmächtige, die scheinbar dem Vergehen nahe sind, durch Anteil an der Schöpfermacht erstarken und kräftig werden35. Damit ist deutlich, dass es für Deuterojesaja beim Lob des Schöpfers um nicht weniger geht als um die Frage nach Leben oder Tod, nach Zukunft oder Vergehen. 2) Schon erheblich weiter von der aufgenommenen Tradition entfernt steht die Verwendung der Schöpfungsaussagen im sog. Heilsorakel, genauer: in den Gottesprädikationen der Einleitung dieser Gattung. Zwar wird auch hier noch primär von der Schöpfung im Rückblick geredet, aber das Objekt des schöpferischen Handelns ist nicht mehr die Welt, sondern das Gottesvolk, und die verwendeten Partizipien („dein Schöpfer, Jakob, dein Bildner, Israel“, Jes 43,1; vgl. 44,2) implizieren bereits, dass das im Folgenden angekündigte Heilshandeln Gottes Schöpfungsqualität besitzt. Es ist also eine Geschichtsthematik, die Erwählung Israels, die hier in Schöpfungsbegrifflichkeit ausgesagt wird, und zugleich wird mit ihr kommende geschichtliche Erfahrung – die „Erlösung“ und Befreiung Israels aus dem Exil – als Konsequenz des Schöpferwirkens dargelegt. Offensichtlich impliziert hier die Schöpfungsbegrifflichkeit (a) die totale Angewiesenheit des Geschöpfes auf den Schöpfer, da es sich ebenso wenig selber befreien kann, wie etwa ein Kleinkind sich selber helfen kann, mehr aber noch (b) die Gebundenheit des Schöpfers an sein Geschöpf, wie es sie außerhalb von und nach Deuterojesaja am eindrücklichsten die jüngere Weisheit (vgl. etwa Hi 10,8ff.; 14,15; Ps 119,73; 139,13ff.) zum Ausdruck bringt, und für Deuterojesaja damit (c) als Konsequenz die Zusage, dass der Schöpfer sein Geschöpf unmöglich verstoßen kann36, und schließlich (d) die freie Verfügung des Schöpfers über die Geschichte der gesamten Völkerwelt, so dass er jederzeit die gegenwärtig gültige Rangordnung der Völker beliebig – zugunsten Israels! – umstoßen kann.
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Die vorgängige Psalmentradition hatte diese Differenz auch gekannt, aber etwa mit dem Gegensatz Vertrauen auf Rosse – Vertrauen auf Jahwe (Ps 33,16; 118,6ff.; vgl. 1Sam 17,45ff.; Jes 31,1–3 u.ö.) umschrieben. 36 RENDTORFF, Die theologische Stellung, a.a.O. (Anm. 33), 8; (= DERS., Gesammelte Studien, a.a.O. [Anm. 33], 214) verweist mit Recht auf Jes 54,5 („dein Ehegatte ist dein Schöpfer“), wo mit der Schöpfungsbegrifflichkeit die Unmöglichkeit belegt wird, dass Jahwe Israel vergessen kann.
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3) Noch stärker überschreitet der Prophet die Grenzen der vorexilischen Tradition dort, wo er in seinen Heilsankündigungen37 die Zukunft Jahwes mit seinem Volk als Handeln des Schöpfers schildert. Sachlich vorausgesetzt sind dabei Klagen der Exilszeit, die darum bitten, dass Jahwe die Not seines Volkes mit der Kraft wenden möge, mit der er einst das Chaos(-Ungeheuer) niedergerungen hat. Solche Klagen hat Deuterojesaja mit Psalmen gemeinsam, die vermutlich exilischen Ursprungs sind (Jes 51,9f.; vgl. Ps 74,12ff.; 89,6ff.; vgl. 77,15ff.)38. In ihnen tritt das Thema des Chaoskampfes an die Stelle, die in älteren Psalmen der Hinweis auf Jahwes frühere Heilstaten einnahm, wie wir sahen. Jahwe muss mit der Macht der Urzeit das Weltganze wieder aus dem Chaos reißen. Ist schon in solchen exilischen Gebeten die Schöpfung zu einer Dimension der Geschichte geworden, so beginnt Deuterojesaja in seinen Heilsankündigungen Israels Zukunft als neue Tat des Schöpfers darzustellen. Jahwe schafft Wege in unbegehbarer Wüste und „Wasserströme in der Einöde“, so dass die gesamte Tierwelt in den Lobpreis Gottes ausbricht (43,19f.); er wandelt Finsternis zum Licht und ebnet Hügeliges ein, so dass Blinde auf unbekannten Pfaden sicher gehen können (42,16); „er macht die Wüste zu Teichen, dürres Land zu Wasserquellen“, so dass ein üppiger Fruchtgarten entsteht (41,18f.). Es ist unmöglich, in solchen Texten die Grenze zwischen „Bild“ und „Realität“ präzise zu markieren. Vielmehr ist schon eine derartige Begrifflichkeit unangemessen39. Die genannten „Wasserströme in der Einöde“ fließen etwa mit dem Ziel, „mein auserwähltes Volk zu tränken“ (43,20), das in der Gegenwart vergeblich nach Wasser sucht (41,17); eine Interpretation der Umwandlung der „Natur“ als reines „Bild“ ist durch solche Wendungen deutlich ausgeschlossen. Vielmehr geht es ihnen um die Beschreibung der Grenzenlosigkeit der Möglichkeiten, die dem Schöpfer der Welt zur Verfügung stehen, um in einer scheinbar ausweglosen Situation Heil in Fülle entstehen zu lassen. Wer in einer solchen Lage den Blick rückwärts wendet, wer angesichts der Not und der Größe der Schuld, die in diese Not führte, resigniert, verfehlt das Leben. Jahwe kommt von vorn auf die Menschen zu, die sein Gericht erfuhren: Denkt nicht mehr an das Frühere, und das Vergangene – beachtet es nicht!
37 Vgl. zur Differenzierung dieser Heilsworte von den Heilsorakeln C. WESTERMANN, Sprache und Struktur der Prophetie Deuterojesajas, in: DERS., Forschung am Alten Testament (TB 24), München 1964, 92–170, hier 117ff. 38 Das Besondere von Jes 51,9f. besteht allerdings darin, dass der Text nahtlos vom Thema des Chaoskampfes zum Thema des Schilfmeerwunders übergeht. Schöpfung bzw. Urzeit und Geschichte liegen untrennbar ineinander. 39 Vgl. zu diesem Problemkreis E. HESSLER, Die Struktur der Bilder bei Deuterojesaja, EvTh 25 (1965) 349–369.
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Seht, ich bin im Begriff, Neues zu schaffen, schon sprosst es – merkt ihr es denn nicht? (43,18f.)
Die Ansage neu sprossenden Lebens, dessen man schon vor seinem Ausbruch aus dem Erdreich gewahr werden kann, impliziert für die Angeredeten Vergebung, wie sie der folgende Text (Jes 43,22ff.) ausdrücklich thematisiert. Sie impliziert eine neue Existenz, die die vorhergehende nicht nur erheblich übertrifft, sondern wesensmäßig verändert, so dass keine Kontinuität in der geschichtlichen Erfahrung mehr besteht. Von daher ist es nur ein konsequenter Schritt, wenn ein jüngerer Schüler Deuterojesajas dieses Gotteswort folgendermaßen weiterdenkt – ohne doch den Raum der Geschichte zu verlassen: Seht, ich schaffe einen neuen Himmel und eine neue Erde, so dass man der früheren Dinge nicht gedenken wird und sie niemand mehr in den Sinn kommen (Jes 65,17).
4) Noch einmal kühner und differenzierter ist die Weise, in der der Prophet in den Gerichtsreden gegen die Götter und in dem mit ihnen sachlich verbundenen sog. Kyrosorakel von Schöpfung redet. Wenn es etwa in Jes 44,24 heißt: Ich, Jahwe, schaffe alles: Ich spanne den Himmel aus – ich allein, stampfe die Erde fest – wer ist bei mir?
so ist diese Rede eindeutig von polemischen Untertönen bestimmt. Wie die Fortsetzung zeigt, richtet sich die Götterpolemik aber nicht unmittelbar auf die Schöpfungsthematik, bestreitet also nicht etwa Marduks Anspruch auf Schöpferqualität, sondern bestreitet vielmehr seinen Anspruch auf Geschichtslenkung, genauer: auf Zuständigkeit für den Siegeszug des Kyros. Für Deuterojesaja gehören andererseits aber Schöpfung und Geschichte unlöslich zusammen; der alleinige Schöpfer ist notwendig auch der alleinige Geschichtslenker. Nur ist eben wesentlich, dass der Gottesbeweis Gottes und die Bestreitung der Göttlichkeit der Götter und insbesondere Marduks bei Deuterojesaja auf dem Feld der Geschichte und nicht der Schöpfung durchgeführt wird. Kriterium ist letztlich die Kontinuität und Zuverlässigkeit der Prophetie, die sich in der Ankündigung des Falles Jerusalems bewährt hat und deshalb in der Ansage des Heilswirkens des Kyros vertrauenswürdig ist (41,1–5.21–28; 42,8f. u.ö.). Babylon mag über Vorzeichen und Orakel verfügen (44,25), das ist aber etwas grundlegend Anderes als das kontinuierlich ergehende, die Geschichte im Voraus begleitende Wort der Propheten Jahwes (44,26), das nun allerdings, wie eben die Kyros-Verkündigung zeigt (44,27; 45,1–6), Wort nicht nur für Israel ist, sondern Wort, das die Weltgeschichte bestimmt und die Völker zur Anerkenntnis Jahwes führen wird. Insofern ist der Wahrheitserweis Jahwes auf dem Felde der Geschichte eo ipso auch der Wahrheitserweis seiner alleinigen Schöpfertätigkeit:
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Ich, Jahwe, und keiner sonst: der Licht bildet und Finsternis schafft, der Heil wirkt und Unheil schafft: Ich, Jahwe, wirke dies alles (45,6f).
Weil Deuterojesaja primär von der Geschichte aus urteilt, kann er auszusprechen wagen, was die etwa zeitgleiche Priesterschrift in Gen 1,3ff. bewusst zu sagen vermeidet: Jahwe „schafft Finsternis“ nicht weniger als Licht, „schafft Unheil“ nicht weniger als Heil. Gerade bei der Finsternis und beim Unheil wird das nur Gott als Subjekt vorbehaltene Verb בראgebraucht. Der Priesterschrift kommt es in ihrer Differenzierung zwischen Licht und Finsternis wesenhaft darauf an, die chaotischen Mächte (Gen 1,2) herkunftsmäßig deutlich von Gott zu trennen, andererseits jedoch die uneingeschränkte Kontrolle Gottes über diese Mächte hervorzuheben, seit er sie neu benannt hat, so dass sie zum Abschluss der Schöpfung sogar Anteil an Gottes rückblickendem Urteil „sehr gut“ (Gen 1,31) erhalten. Deuterojesaja geht es demgegenüber in seiner verschärften Formulierung um Gottes von niemand beeinflusstes Handeln, das seine Kontinuität ausschließlich in Gott selber hat, in ihm aber Unheil (die Zerstörung Jerusalems) wie Heil (die Beendigung des Exils) umfasst, also „Licht“ wie „Finsternis“. Der die Geschichte lenkt, ist der Schöpfer, und damit ist Gotteserfahrung in der Geschichte per definitionem Erfahrung der Macht des Schöpfers. Ein Israel, das sich von Gott aufgegeben glaubt (Jes 40,27; 49,14), hat den Zusammenhang von Schöpfung und Geschichte noch nicht auch nur ansatzweise begriffen. Das aber ist für Deuterojesaja nötig, damit das Gottesvolk die rechte Perspektive für die Zukunft gewinnt. Die zukünftige Geschichte wird von ihm – nach dem Vorausgehenden nicht mehr unerwartet – ganz in Schöpfungskategorien gezeichnet. Der auf das zuvor Zitierte unmittelbar folgende Vers lautet so (Jes 45,8): Regnet, ihr Himmel, oben, und Wolken sollen צדקrieseln! Die Erde wird Rettung erblühen lassen und Gerechtigkeit zugleich aufwachsen lassen. Ich, Jahwe, habe es geschaffen40.
Hier wird kommende Geschichte in Schöpfungsbegrifflichkeit beschrieben. Der Aufruf Gottes an die Himmel ist schon erfolgt, insofern ist der Schöpfungsvorgang schon in Gang gesetzt. Er führt eine doppelte Folge im Bereich der Geschichte herauf: Die Rettung aus Not, die das Volk erfahren wird, und die „Gerechtigkeit“ ()צדקה, die es als geglückte Gottes- und Menschenbeziehung realisieren wird, sind Wirkung eines universalen Heilsgeschehens ()צדק, das Jahwe der Erde sozusagen einstiftet. Wesentlicher Teil dieses kosmischen 40 Zur Begründung der Übersetzung vgl. H.-J. HERMISSON, Deuterojesaja (BK XI/7), Neukirchen-Vluyn 1987, 1f.
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Geschehens ist Kyros, den Jahwe „in“ bzw. „mit “צדקauf den Weg geschickt hat (45,13). Von hier aus ist verständlich, dass der Wiederaufbau Jerusalems, der durch die Berufung des Kyros herbeigeführt werden soll, andernorts in Dimensionen des Chaoskampfes ausgemalt wird (44,26b–28). Ein nicht weniger konstitutiver Teil ist das Wort des Propheten, das die Zukunft heraufführt und selber als von Gott gesandte, schöpferische Macht beschrieben werden kann (55,10f). Weil es Zukunft nicht nur ansagt, sondern eben Heil bringt, wird es folgendermaßen zum Schöpferhandeln Jahwes in Beziehung gesetzt: Beide führen צדקherauf, (a) Jahwes Schöpferhandeln, insofern er die Erde „zum Wohnen“ erschaffen hat und nicht – das wäre die Alternative – „zur Öde“ bzw. „Wirrnis“ (45,18f.), und (b) Jahwes Wort, insofern es nicht ein „Sprechen im Verborgenen“ war, das zu verfehlter Gottesbeziehung führen würde – das nämlich wäre „Wirrnis“ auf der Ebene des Redens Gottes („Suchet mich wirr“, d.h. vergeblich, V.19). Ein Schöpferhandeln Gottes, das nicht zur Schöpfung einer bewohnbaren Erde führen würde, ist ebenso ein Widerspruch in sich wie ein Reden Gottes, das nicht zu einer heilvollen Existenz und zu einer geglückten Gottesbeziehung der Angeredeten führen würde. Schöpfung und Geschichte sind hier eine wahrhaft unlösliche Verbindung eingegangen; alle Erfahrung der Zukunft ist für diesen Propheten Erfahrung des Schöpfers, der die Erde „zum Wohnen“ erschaffen hat und צדקauf die Erde regnen lässt, gleichzeitig aber צדקredet und צדקdurch Kyros praktiziert. Das Heil der Völker, das Jes 45,20ff. explizit thematisiert, ist in dieser Perspektive eine nahezu zwingende Folge41.
5. Gehen wir abschließend und notgedrungen verkürzend zur Betrachtung der Schöpfungsberichte am Anfang der Bibel über, so sind gegenüber den bisher behandelten Texten vor allem zweierlei Gesichtspunkte völlig neu, unter denen ich nur den zweiten ausführlicher betrachten möchte: 1) die ständige Auseinandersetzung mit schon vorgegebenen Konzeptionen von Welt und Schöpfung, d.h. also eine jegliche Darstellung bestimmende Gesprächssituation;
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Der jüngste Versuch J. VERMEYLENs, den Kern genuin deuterojesajanischer Rede von Schöpfung auf die Kyrostexte zu beschränken (Le motif de la création dans le Deutéro-Isaïe, in: La Création dans l’Orient Ancien [LeDiv 127], Paris 1987, 183–240), ist m.E. als missglückt zu bewerten. Eher ist umgekehrt Jes (44,24ff. und) 45 als die komplexeste Schöpfungsaussage bei Deuterojesaja zu beschreiben. Es bleibt aber das Verdienst Vermeylens, die Besonderheit des Kapitels klar dargelegt und die noch weithin ungelöste Frage nach dem Wachstum von Jes 40–55 scharf gestellt zu haben.
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2) die unlösliche Verbindung von Schöpfung und Sintflut, anders ausgedrückt: die gleichzeitige Betrachtung der vorfindlichen Welt in ihrer Schöpfungsqualität und in deren Veränderung aufgrund menschlicher Schuld. Im Blick auf den ersten Aspekt muss für beide Schöpfungserzählungen je ein Beispiel genügen. Für den älteren Bericht des J wähle ich es aus dem Bereich der Anthropologie. So gewiss in Mesopotamien eine Fülle unterschiedlicher Schöpfungsmythen existierte, die eine in Einzelheiten je unterschiedliche Darstellung der Menschenschöpfung bot, so kann man doch – insbesondere aufgrund des Atraḥasisepos und aufgrund von enūma eliš – diejenige Form der Darstellung als die klassische bezeichnen, nach der der Mensch aus Ton und Götterblut geschaffen ist. Sie bietet sozusagen eine populäre Zweinaturenlehre. Als Ton ist der Mensch der Geschöpfliche und Sterbliche, während das Götterblut ihn an die Götter verweist, die etwa seine Arbeit zuvor selber ausgeführt und auf diese Weise geadelt haben; zugleich verheißt es nach dem Tod die Anteilhabe an ihrer Unsterblichkeit. Platos Seelenlehre und sein Optimismus, dass der Mensch zum Guten erziehbar sei, haben hier ihren letzten Ursprung. Wie anders Gen 2–3! Keinerlei Substanz an diesem Menschen weist über ihn hinaus. Ja, die klassische Materie, die den Menschen im ganzen Vorderen Orient als Sterblichen ausweist, der Ton, wird in der Aufnahme dieser Tradition in Gen 2–3 bewusst verändert und in „Staub“ ( )עפרumgeprägt, um die Hinfälligkeit dieses Menschen aufzuweisen. Da er am Ende seines Lebens zu „Staub“ wird (Gen 3,19), ist „Staub“ auch diejenige Substanz, aus der er gebildet ist (Gen 2,7); Leben hat er nur, weil Gott ihm Lebensatem gestundet eingehaucht hat. Dass diese illusionslose Sicht des Menschen eine negative Antwort auf die in Mesopotamien viel verhandelte Frage nach einer potentiellen Unsterblichkeit des Menschen darstellt, zeigt noch die fragmentarische Nennung des Lebensbaumes in Gen 3,22 und die dortige Erwähnung der Furcht Gottes, der von Gott schon gelöste Mensch könne von diesem Lebensbaum nehmen. Der Mensch als „Staub“ ist, streng logisch betrachtet, zu einem Leben ohne Tod überhaupt nicht fähig. So gewiss in Gen 2–3 das – polemische – Gespräch mit den Religionen der Kulturlandvölker noch nicht abgeschlossen, sondern noch im Gange befindlich ist, wie auch mancherlei sonstige Unausgeglichenheiten der Aussagen im Einzelnen beweisen, so gewiss wird dem Menschen andererseits mit dem Hinweis auf seine Substanz als „Staub“ (Gen 2,7) jegliche Spekulation untersagt, was aus ihm geworden wäre, hätte er keine Schuld auf sich geladen. Der Mensch ist in Gen 2–3 durchgängig als der erfahrbare gegenwärtige Mensch im Blick; das ideale vorgängige Einst des Paradieses von Gen 2 thematisiert nicht einen noch schuldlosen Menschen, sondern einzig Gottes Fürsorge als Schöpfer. Arbeit im Garten, Verhältnis zu den Tieren, Verhältnis zum andersgeschlechtlichen Partner haben als Gabe Gottes idealen Charakter, sind vom Menschen aufgrund seiner Schuld aber immer nur als schon beeinträchtigte, ihm Mühe und
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gleichzeitig Vergeblichkeit bereitende Gaben erfahrbar. Der Ortswechsel innerhalb der Erzählung – vom Garten Eden hin zum Acker des Bauern in Palästina – verdeutlicht dabei mehr als alles andere, dass die reale Alltagserfahrung des Menschen die Schöpfungsabsicht Gottes allenfalls ansatzweise, nie mehr aber direkt und unmittelbar widerspiegelt42. Für die analoge Polemik gegen vorgegebene Schöpfungsvorstellungen und Weltansichten in fortgeschrittener geschichtlicher Stunde bei P wähle ich die Kosmologie. Während die großen Mythen des Alten Orients – z.B. der Sethmythos in Ägypten und das Weltschöpfungsepos enūma eliš in Mesopotamien – die Auseinandersetzung mit dem gefährlichen und unheilvollen Chaos als einen siegreich beendeten Kampf der großen Götter mit dem Chaos darstellen, der jährlich kultisch nachvollzogen wird, hat die Priesterschrift von ihren Denkvoraussetzungen her ungleich mehr Mühe, Gottes gute Schöpfung und außergeschöpfliches Böses zusammenzudenken. Sie kennt solches Undurchsichtiges, Dunkles und Chaotisches allerdings auch. Da sie aber allem Dualismus abhold ist, werden Unordnung, Finsternis und Wasser zwar eingangs als chaotische Mächte dargestellt, die Gott nicht geschaffen hat, die vielmehr zunächst drohend aus dem Vorgeschaffenen in die anfängliche Schöpfung hineinragen. Allerdings wird ihnen jener vorgeschöpfliche Charakter mit der vollendeten Schöpfung Gottes endgültig genommen. Gott schafft als erstes das Licht – eine fast abstrakte Gegebenheit, denn die Gestirne werden erst viel später geschaffen –, dann sieht er, dass das Licht gut ist, dann trennt er das Licht von der Finsternis – die er nicht geschaffen hat, so wie er das Licht schuf –, und zuletzt nennt er das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Geschaffen ist das Licht, nicht die Finsternis; „gut“ ist das Licht als das geschaffene – undenkbar, dass es hieße, die Finsternis sei ebenso „gut“, wie das Licht „gut“ ist. Aber beide – Licht und Finsternis – werden gleichgewichtig in die Schöpfung hineingenommen und dienen nun dem Wechsel von Tag und Nacht auf Gottes Befehl hin. Zusammen – nur zusammen – bilden sie die Elemente der Zeit, die Vorbedingung aller geschöpflichen Existenz sind. Hier wird in sehr reflektierter Sprache Doppeltes ausgesagt: a) Es gibt Elemente in dieser Schöpfung, die nicht von Gott sind; Gott hat die Finsternis nicht ebenso geschaffen, wie er das Licht geschaffen hat. b) Aber gleichzeitig gilt: Es gibt keine Elemente in dieser Schöpfung, die außerhalb der Kontrolle Gottes stehen. Es gibt keine Finsternis jenseits und außerhalb der Schöpfung. Gott hat die Finsternis – als Nacht – in die Schöpfung integriert, gehalten vom geschaffenen Licht. Die Finsternis ist zwar nicht von Gott, aber sie ist ebenso wenig eine Macht außerhalb der Mächtigkeit Gottes. Sie kann keineswegs Gottes Schöpfung von außen gefährden. Damit wird der Mensch vergewissert, dass er zwar in einer Welt lebt, in der ihm 42
sen.
Das hat in aller Schärfe STECK, Welt und Umwelt, a.a.O. (Anm. 20), 96 u.ö. aufgewie-
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nicht alles erklärlich ist, in der es vielmehr auch Dunkles und Unverständliches gibt, das nicht das gleiche Verhältnis zu Gott hat wie das ersterschaffene Licht, dass es aber andererseits keine Mächte gibt, die außerhalb der Kontrolle Gottes, d.h. eigenständig wirken können. Eine Gefahr für die Welt von außen gibt es für Gen 1 nicht. Gefahr droht ihr einzig von innen, d.h. einzig vom Menschen her; davon muss sogleich die Rede sein. Einschneidender als diese polemischen Auseinandersetzungen mit der Weltauffassung des Alten Orients wirkte auf die biblischen Schöpfungserzählungen im Vergleich mit den anderen Schöpfungstexten des Alten Testaments die (in polemischer Weiterführung des Atraḥasisepos) neu gebildete enge, ja unlösliche Verbundenheit von Schöpfungs- und Sintflut-Erzählungen. Das Alte Testament erzählt von der Schöpfung nicht, ohne von der Sintflut zu erzählen; das gilt sowohl für den älteren Jahwisten als auch für die jüngere Priesterschrift. Theologisch besagt das primär, dass J und P von der Schöpfung nicht berichten, ohne von der Schuld des Menschen zu reden. Schärfer ausgedrückt: Eine isolierte Lektüre von Gen 1 ist biblisch nicht intendiert. Vielmehr redet Gen 1 von Gottes guter Schöpfung, wie sie für den gegenwärtigen Menschen nicht mehr bzw. genauer: nur noch gebrochen erfahrbar ist. Zwischen dieser guten Schöpfung und der gegenwärtigen Welterfahrung liegt wie ein eiserner Vorhang die Sintflut. Die Welt nach der Sintflut aber ist keineswegs mehr einfach in gleicher Weise „gute“ Schöpfung wie die Welt vor der Sintflut. Dieser Sachverhalt geht vor allem aus dem Aufriss der Priesterschrift eindeutig hervor. Es gibt in ihr zwei Sätze, die ganz bewusst aufeinander zu geschrieben worden sind, um einander wechselseitig zu erklären. Der letzte Vers von Gen 1 lautet: Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.
Die Einleitung zur Sintflut bei P in Gen 6,12 lautet analog: Gott sah auf die Erde, und siehe, sie war verderbt (denn alles Fleisch hatte seinen Weg verderbt auf Erden).
Jeweils wird anfangs Gottes Sehen beschrieben, und zwar das Sehen eines fertigen Zustands; jeweils wird sodann das Ergebnis des Sehens („und siehe …“) genannt, aber mit genau gegenteiligem Sinn. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass diese Sätze aufeinander zu konstruiert sind. Zusammen besagen sie, dass die Schöpfungsherrlichkeit, die Gottes Urteil („sehr gut“) am Ende von Gen 1 widerspiegelt, nach der Sintflut nur noch eingeschränkt wahrnehmbar ist. Es gibt für P kein ungetrübtes Erleben der heilen Schöpfung mehr, für J, wie wir oben sahen, noch viel weniger. Die Sintflut ihrerseits aber wird Ereignis, weil der Mensch nach P in seiner Schuld nicht Privatmann bleibt, d.h. nie in einem abgeschotteten Raum schuldig wird, sondern notwendigerweise die Erde mit seiner Schuld „verderbt“,
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ruiniert. Hier schlägt das Urteil Gottes vor der Sintflut einen Bogen zurück zum Schöpfungsbericht. Dort war dem Menschen, und zwar als Ebenbild Gottes, die Welt zur Verwaltung anvertraut worden, hier (Gen 6) wird nun konstatiert, dass der Mensch als der Schuldige die Welt mit sich in den Abgrund reißt. Die Kategorie der Schuld, die P gebraucht, ist eine prophetische. Der Satz unmittelbar vor Gen 6,12 lautet: „Die Erde war voll von “חמס. Es ist das Verdienst einer lange zurückliegenden Dissertation von R. Knierim43, nachgewiesen zu haben, dass dieser Begriff speziell die „lebensbedrohende Gewalttat“ meint. Weil der Mensch nach der Sintflut in diesem Sinne gewalttätig bleibt, wird ihm in Gen 9,1ff. das Töten von tierischem Leben freigegeben, sozusagen als Ventil seiner Gewalt. In Zusammenhang mit dieser konkreten Gestalt der Schuld schärfen Gen 1,31 und 6,12 somit vornehmlich ein, dass Mensch und Welt unlöslich zusammengehören, im Guten wie im Bösen. Einen schuldigen Menschen in einer heilen Welt gibt es nicht. Wie der Mensch als Mensch – und nicht aufgrund besonderer Qualitäten, die er sich erwirbt – nach Gen 1 mit der Ebenbildlichkeit die königliche Verwaltung der Schöpfung übertragen bekommt, so „verdirbt“ er als der Gewalttätige nicht nur seinen eigenen Lebensbereich, sondern den Lebensbereich der Welt als ganzer. Für P ist die Welt stets zuerst Gottes gute Schöpfung. Wie der ältere J ist aber auch P zugleich der Meinung, dass kein Mensch diese Welt allein unter diesem Aspekt erfahren kann; sie ist immer zugleich ein Produkt menschlicher Schuld und insofern sintflutreif. Ein starkes Erschrecken bestimmt die ersten Kapitel der Bibel. Der Mensch darf unter der großen Vollmacht leben, Gottes Herrschaftsbereich auf Erden als Ebenbild Gottes zu verwalten, und gleichzeitig gilt doch, dass es keinen anderen Menschen gibt als den vorfindlichen, d.h. eben jenen gewalttätigen, der die Sintflut heraufführt. Der Mensch nach der Sintflut ist kein anderer als der Mensch vor der Sintflut. Gewandelt hat sich nur Gott. J und P stehen staunend vor der Unlogik Gottes: Eigentlich müsste dieser Mensch permanent die Sintflut zuerteilt erhalten, insofern er mit seiner Schuld die Welt in den Abgrund zieht, aber Gott hat sich an diesen Menschen gebunden und die Dauer der Welt zugesagt, allerdings nicht auf alle Ewigkeit hin, sondern „solange die Erde steht“ (Gen 8,22). Das ist das erste Wunder, von dem das Alte Testament nach der Schöpfung zu reden weiß, und es ist für dieses Alte Testament nicht das Geringste. Überboten wird es nur noch von der Bindung Gottes an Abraham, der als „Vater einer Menge von Völkern“ (Gen 17,4f.) jene geschichtliche Nähe Gottes erfahren darf, die in der Einrichtung der Ordnungen des Gottesdienstes Israels am Sinai gipfelt.
43 R. KNIERIM, Studien zur israelitischen Rechtsgeschichte I: חטאund חמס, zwei Begriffe für Sünde in Israel und ihr Sitz im Leben, Diss. masch., Heidelberg 1957.
6. Schöpfung und Verantwortung im Alten Testament Vorbemerkung Es gehört zu den Grundüberzeugungen des Alten Testaments, dass Menschen, die sich mit schwerer Schuld beladen, nicht nur sich selber Schaden zufügen, sondern auch ihrer Umgebung. Dabei ist keineswegs nur an die Familie als unmittelbar betroffene zu denken, sondern etwa an die Stadt, in der der Schuldige lebt; ja, im Extremfall ist es die gesamte Volksgemeinschaft, die durch das Vergehen des einzelnen Täters am Erfolg gehindert und ins Unglück gestürzt wird, wie z.B. in der Erzählung von Achans Diebstahl in Jos 7. Im bekannten Fluchritual von Dtn 27, in dem Menschen, die im Verborgenen Verbrechen ausüben, also nicht belangt werden können, mit dem Fluch bedroht werden, spricht daher die Gemeinde nach jedem Fluch ihr „Amen“, um sich mit ihm aus dem Wirkungsfeld der bösen Tat zu lösen. Spräche die Gemeinde ihr „Amen“ nicht, wäre sie hilf- und hoffnungslos dem Unheil, das der schuldhaften Tat entspringt, ausgeliefert. Die hier nur kurz angedeuteten Vorstellungen gehen weit über das hinaus, was man gemeinhin mit den Begriffen des „Tun-Ergehen-Zusammenhanges“ oder der „corporate personality“ zu bezeichnen pflegt. Der erstgenannte Begriff1 ist geprägt, um westlichem Denken zu verdeutlichen, dass insbesondere die alttestamentliche Weisheit – aber keineswegs nur sie – den Zusammenhang zwischen Schuld und Unheil im Leben nicht juristisch versteht – ein schuldig Gewordener wird nicht in einem unabhängigen zweiten Akt von der Gottheit „bestraft“ –, sondern vielmehr als eine unlösliche Einheit innerhalb der Erfahrung: Die Schuld setzt einen Wirkungszusammenhang aus sich heraus, der in der bösen Tat angelegt ist. Darum bedeutet ein hebräischer Begriff wie „ עוןSchuld“ und zugleich „Unheil“; beides sind nur Aspekte ein und derselben Tat. Noch sprechender ist die gebräuchliche Wendung „den עוןtragen“. Vom Täter ausgesagt heißt sie: Unter der Last des Unheils, das die Schuld ausgelöst hat, zu leiden haben; von Gott ausgesagt heißt sie: den עוןwegtragen, d.h. vergeben. Hier wie dort ist die Schuld als objektiver Sachverhalt, geradezu dinghaft, vorgestellt, der seine Wirkung zwangsweise ausübt. Wo 1
Ihn hat K. KOCH grundlegend erarbeitet und seinerseits „schicksalwirkende Tatsphäre“ genannt (in: DERS., Gibt es ein Vergeltungsdogma im Alten Testament?, ZThK 52 [1955] 1– 42, wieder abgedruckt in: DERS. [Hg.], Um das Prinzip der Vergeltung in Religion und Recht des Alten Testaments [WdF 125], Darmstadt 1972, 130–180). Unglücklich an dieser Bezeichnung ist die unbiblische Vorstellung eines „Schicksals“.
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die Wendung „Tun-Ergehen-Zusammenhang“ am Platz ist, geht es um die Zusammengehörigkeit von Schuld und Unheil, vor allem mit Blick auf den auslösenden Täter, nicht aber um den Kreis der vom Unheil Betroffenen. Anders ist der Blickwinkel dort, wo der Begriff der „corporate personality“2 gebraucht wird. Bei ihm geht es wesentlich darum, dass einzelne herausragende Persönlichkeiten die Gemeinschaft bis hin zum Volksganzen repräsentieren können, und das nicht nur der Idee nach, sondern in ihrem gesamten Verhalten, sei es zum Guten oder zum Bösen. Solche Einzelnen bringen die Gemeinschaft durch ihre Taten ins Heil oder aber ins Unheil. Die biblische Vorstellung der Stellvertretung eines Kollektivs durch ein Individuum hängt mit diesem Grundgedanken unlöslich zusammen. Der häufig beobachtete Sachverhalt, dass der Gottesknecht im Buch Deuterojesaja sowohl Israel repräsentieren als ihm auch gegenübertreten kann, ist von ihm aus zu verstehen. Der Begriff der „corporate personality“ ist am Platz, wo das Verhältnis von einer Gemeinschaft und ihrem Repräsentanten zur Diskussion steht. So gewiss aber die Begriffe „Tun-Ergehen-Zusammenhang“ und „corporate personality“ für wesentliche Teilaspekte der Folgen einer Tat stehen, so wenig vermögen sie das Wirkungsfeld einer bösen Tat im AT schon umfassend zu umschreiben. Das geschieht vielmehr erst dort, wo die Wirkung der Tat auch im außermenschlichen Bereich mitbedacht wird. Besonders geläufig ist diese Sicht im Buch des Propheten Jeremia. In einem seiner Gebete heißt es (Jer 12,4): Wie lange soll das Land vertrocknen und das Gras auf jedem Feld verdorren? Wegen der Bosheit seiner Bewohner schwinden Vieh und Vögel dahin …
An anderer Stelle gebraucht der Prophet verzweifelte Klage: Wie ist das Land voll von Ehebrechern! Ja, ihretwegen vertrocknet das Land, verdorren die Weideplätze der Steppe, ist doch ihr Streben (allein) Bosheit und ihre Stärke Unrecht (23,10).
Bei diesen Belegen des Jeremiabuches werden primär der Erdboden und die ihm entsprossenen Pflanzen durch das Unrecht der Menschen in Mitleidenschaft gezogen. Man wird unmittelbar an den Brudermord Kains erinnert, der dazu führt, dass der bebaute Acker seinen Ertrag verweigert (Gen 4,12). Aber während in Gen 4 noch sehr urtümliche Vorstellungen verwendet werden – die Verweigerung des Ertrages wird darauf zurückgeführt, dass die Erde das 2
Vgl. grundlegend W. ROBINSON, The Hebrew Conception of Corporate Personality, in: P. Volz/F. Stummer/J. Hempel (Hg.), Werden und Wesen des Alten Testaments (BZAW 66), Berlin 1936, 49–62.
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vergossene Bruderblut trinken muss (V.11) –, ist die Verbindung zwischen menschlicher Schuld und negativer Folge für den Erdboden im Jeremiabuch eher als etwas für die Leser Selbstverständliches vorausgesetzt. Eine gewisse Brücke bietet Jer 5,23f., wo der Prophet die Gabe des Früh- und Spätregens und der rechtzeitigen Ernte auf den Geber, Gott, zurückführt, der sie den Gottesfürchtigen gewährt, den Widerspenstigen aber versagt: Eure Verschuldungen haben das verhindert, eure Vergehen das Gute von Euch ferngehalten (V.25).
Andere Texte gehen noch weiter und beziehen nicht nur den Erdboden, sondern auch die Tierwelt in die Wirkung menschlicher Schuld mit ein. Ich wähle als Beispiel Hos 4,2f.: Fluchen und Betrügen, Morden, Stehlen und Ehebrechen sind ausgebrochen; es reiht sich Blutschuld an Blutschuld. Daher verdorrt die Erde, verschmachtet alles, was auf ihr wohnt, samt dem Wild der Flur, den Vögeln des Himmels; selbst die Fische im Meer gehen ein.
Deutlich ist an diesen Versen, dass sie sowohl die Schuld als auch deren Wirkung umfassend beschreiben wollen3. Ersteres wird an der Reihung der Vorwürfe, die sich teilweise mit dem Dekalog berühren, deutlich, vor allem aber an der härtesten Anklage der „Blutschuld“, ist doch nach gemeinorientalischer Vorstellung der Sitz des Lebens im Blut, mit dessen Vergießen also der Geber des Lebens, Gott, unmittelbar betroffen ist. Kurz, das Gottes- und Menschenverhältnis der so Charakterisierten ist total zerrüttet. Der Wille zur umfassenden Beschreibung der Wirkung geht vor allem aus dem Schlusssatz hervor. Er verdeutlicht, dass in Hos 4,2f. die Erde und die Tiere nicht darum in die Wirkung einbezogen sind, weil wie in Gen 4 die Kategorie der „Blutschuld“ genannt ist und die Erde Blut „getrunken“ hat4, vielmehr zeigen die Fische im Meer, dass die gesamte Schöpfung mit betroffen ist. Warum? Es gibt im AT zwei unterschiedliche Antworten. Die erste, die hier kürzer behandelt werden soll, steht in den Psalmen, die zweite in den Schöpfungsberichten am Anfang der Bibel. 3 Vgl. die Parallelen bei J. JEREMIAS, Der Prophet Hosea (ATD 24/1), Göttingen 1983, 62f. sowie jüngst R. STAHL, „Deshalb trocknet die Erde aus und verschmachten alle, die auf ihr wohnen …“, in: Alttestamentlicher Glaube und Biblische Theologie (FS H.-D. Preuß), hg. von J. Hausmann/H.-J. Zobel, Stuttgart/Berlin/Köln 1992, 166–173. 4 Zur Kühnheit prophetischer Verschärfung der Tradition gehört es, dass die Propheten keineswegs nur dort von „Blutschuld“ sprechen, wo ein schwerwiegender Verstoß gegen Opfervorschriften (vgl. etwa Lev 17,4) oder etwa Mord geschehen ist, wo also real Blut geflossen ist, sondern auch schon bei unblutigen Gewalttaten, die das Leben anderer einschränken. Vgl. etwa Ez 22.
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Wo in den älteren Psalmen von der Schöpfung gesprochen wird, ist nie der Vorgang der Entstehung der Welt im Blick, sondern es wird die Festigkeit und Stabilität der Welt gerühmt. Sie ist eine bewohnbare und sichere Welt, weil sie Gott gehört und von ihm fest gegründet wurde (Ps 24,1f.). Vor allem aber ist sie eine zuverlässige Welt, weil Gott als ihr König allen Mächten gegenüber, die sie gefährden könnten, unendlich überlegen ist; so hat die Welt in ihrer Festigkeit Anteil an der Festigkeit der Weltherrschaft Gottes (Ps 93). Die Erde „kann nicht wanken“ (Ps 93,1). Solche Sätze des Hymnus betrachten die Welt unter dem Gesichtspunkt der souveränen Kontrolle Gottes. Dem stehen jene Klagen gegenüber, die ausdrücklich feststellen, dass die Erde nun doch „wankt“ (vgl. etwa Ps 75,4; 82,5). Dann ist die Schöpfungsordnung in Gefahr; das Chaos droht einzubrechen. Jedoch sind die betreffenden Psalmen voller Hoffnung, dass Gott dieses „Wanken“ bald beenden wird und bitten ihn um Beschleunigung dieses Tuns (Ps 60,4; 82,8), oder sie drücken die Gewissheit aus, dass Gott die Erde in Kürze wieder ins Lot bringen wird (Ps 75,10f.). Dazu muss er die Ursache des „Wankens“ beseitigen, d.h. das Unrecht der Gewalttätigen (Ps 75,5ff.) bzw. der sie stützenden Mächte (Ps 82,1f.6). Die Götter, die das Unrecht fördern, werden gerichtet werden und müssen wie Menschen sterben, bevor Gott die alleinige Weltherrschaft antreten wird, bei der es dann kein „Wanken der Grundfesten der Erde“ mehr gibt (Ps 82,5–7); die Gewalttäter werden ultimativ verwarnt, von ihrem gottlosen Vertrauen auf eigene Macht abzulassen, wenn sie nicht Gottes Zornesbecher trinken wollen (Ps 75,5.9). Die Überzeugung dieser Psalmen ist es, dass mächtige Menschen, die ihren Vorteil in der Durchsetzung eigener Interessen mit Gewalt sehen, nicht nur die Gemeinschaft, in der sie leben, akut gefährden, sondern die Weltordnung als ganze mit sich in den Abgrund zu ziehen drohen. Wäre das Gottesvolk nicht von der Gewissheit geleitet, dass keine Macht der Welt Gott seine Herrschaft über den Kosmos entreißen kann, müsste ständige Angst vor dem Weltuntergang das Denken prägen, angesichts vielfältiger Erfahrung von Gewalt und Schuld. Wohl aber wird verständlich, wie selbst der heiterste Schöpfungspsalm der Bibel, der gar nicht genug die Durchsichtigkeit der Welt und ihre für den menschlichen Verstand durchschaubare wunderbare Ordnung preisen kann, die Zeugnis für ihren Schöpfer ablegt, in dem Wunsch endet, die Schuldigen möchten von der Erde verschwinden (Ps 104,35). Erst dann wäre diese Welt wirklich zuverlässig. Gott hat sie sinnvoll geordnet, aber der Mensch in seinem Durchsetzungswillen bleibt ihre ständige Gefahr. Egoismus und Schuld des Menschen sind welt- und schöpfungsgefährdend: In dieser Grundüberzeugung treffen sich die genannten Psalmen mit den Schöpfungsberichten der Genesis. In dieser unlöslichen Zusammenbindung von Mensch und Welt liegt es begründet, dass das AT nie und nirgends einen Begriff hervorgebracht hat, der unserem Begriff der „Natur“ auch nur annähernd vergleichbar wäre. Es ist besonders das Verdienst Gerhard von
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Rads, in einer Fülle von Arbeiten5 immer wieder darauf beharrt zu haben, wie unmöglich ein solch distanzierender Begriff, der die außermenschliche Welt zum isoliert betrachtbaren Gegenüber des Menschen macht, der Sicht des AT war. Vielmehr kommt hier die unlösliche Verbundenheit von Mensch und Schöpfung schon darin zum Ausdruck, dass der Mensch sein „Leben“ nicht anders hat als die Tiere (Gen 1; s.u.), dass Mensch und Schöpfung im Lobpreis des Schöpfers vereint sind (Ps 89,6; 145,10), beide von Gottes Wundern „erzählen“ (Ps 19,1ff.). Die spätere Weisheit spricht dem Menschen, der so Staunenswertes wie die Anlage von Bergwerken vermag, ab, je in Gottes Schöpfungsgeheimnis eindringen zu können (Hi 28), weil die Welt als Schöpfung verborgen auf Gottes Herrlichkeit hin transparent ist (Spr 8,22ff.). Der in der Welt handelnde Mensch stößt in alttestamentlichen Texten stets auf Gottes Schöpfung, die von ihrem Schöpfer Zeugnis ablegt, tangiert bzw. verletzt sie, nie aber auf eine „Natur“, die einzig das Objekt seiner Taten wäre.
Schöpfung und Sintflut Wenden wir uns den viel verhandelten Schöpfungsberichten am Anfang der Bibel zu, so ist mir für die gegenwärtige Debatte ein Aspekt am wichtigsten, der zumeist sträflich vernachlässigt wird. Man hat zu biblischen Zeiten nie isoliert von der Schöpfung erzählt, sondern stets a) Schöpfung und Sintflut aufeinander bezogen und dazu b) Schöpfung und Sintflut thematisch mit der folgenden Geschichte Israels verbunden6. Der zweite Gesichtspunkt mag hier auf sich beruhen. Der erstgenannte aber, der unbestritten sowohl für den älteren Bericht des Jahwisten als auch für die jüngere Darstellung der Priesterschrift zutrifft, ist für die theologische Deutung der biblischen Schöpfungsberichte von großem Gewicht7. Sachlich 5
Vgl. etwa die Register in seiner „Theologie des Alten Testaments“ s.v. „Natur“; oder den Aufsatz „Natur- und Welterkenntnis im Alten Testament“, in: DERS., Gottes Wirken in Israel, hg. von O. H. Steck, Neukirchen-Vluyn 1974, 119–140; ferner im Anschluss an von Rad: O. H. STECK, Welt und Umwelt (Biblische Konfrontationen; Kohlhammer Tb 1006), Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1978, 22f. u.ö.; zuletzt T. KOCH, Das göttliche Gesetz der Natur. Zur Geschichte des neuzeitlichen Naturverständnisses und zu einer gegenwärtigen theologischen Lehre von der Schöpfung (ThSt 136), Zürich 1991. 6 Der Versuch F. CRÜSEMANNs für die ältere Quelle des Jahwisten eine ursprünglich isolierte Erzählung von der Urgeschichte zu rekonstruieren (Die Eigenständigkeit der Urgeschichte, in: Die Botschaft und die Boten [FS H. W. Wolff], hg. von J. Jeremias/L. Perlitt, Neukirchen 1981, 11–29) ist m.E. nicht gelungen. 7 Vgl. dazu bes. E. ZENGER, Gottes Bogen in den Wolken. Untersuchungen zur Komposition und Theologie der priesterschriftlichen Urgeschichte (SBS 112), Stuttgart 1983 sowie H.-D. PREUSS, Biblisch-theologische Erwägungen eines Alttestamentlers zum Problemkreis Ökologie, ThZ 39 (1983) 68–101; J. EBACH, Schöpfung in der hebräischen Bibel, in: G. Altner (Hg.), Ökologische Theologie, Stuttgart 1989, 98–129.
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zeigt die Verbindung von Schöpfung und Sintflut vor allem, dass man im biblischen Israel nie von der Schöpfung erzählt hat, ohne von der menschlichen Schuld zu erzählen. Man hat sich also nie mit der Reflexion über Gottes Schöpfung in eine heile Welt geflüchtet, sondern man hat immer zugleich bedacht, was denn aus der Welt als Gottes Schöpfung durch des Menschen Wirken in dieser Schöpfung geworden ist. Man hat damit zugleich intensiv bestritten, dass die gegenwärtig erfahrbare Welt unmittelbar das Handeln des Schöpfers widerspiegele und in ihrer Gänze Ergebnis dieses Handelns sei. So gewiss die Welt für das AT insgesamt ohne das Reden vom Schöpfer überhaupt nicht verständlich ist und in vieler Hinsicht auf diesen Schöpfer hinweist – man denke nur an den schon kurz berührten Ps 104 –, so gewiss steht zwischen Schöpfung und gegenwärtiger Welterfahrung wie ein „eiserner Vorhang“ (von Rad) die Sintflut. Schmerz, Mühe, Vergeblichkeitserfahrung und Feindschaft mit den Tieren (Gen 3) sind genauso unvereinbar mit Gottes Schöpfungswillen wie die brutale Gewalt des Menschen, mit der er seinen Mitgeschöpfen begegnet, sie in Furcht und Schrecken versetzt, sie tötet und aufgrund derer er immer neu in der Gefahr steht, auch Menschen zu töten (Gen 9,1–6). Für die Priesterschrift gehört der Auftrag zur Herrschaft des Menschen über die Tiere zum Schöpfungswillen Gottes (Gen 1,28); das Töten der Tiere ist demgegenüber eine nachsintflutliche Konzession Gottes an das gewalttätige Wesen des Menschen, das dieses Ventils bedarf (Gen 9,1ff.). Wie genau insbesondere der jüngere Bericht der Priesterschrift zwischen Gottes Schöpfungsabsicht und gegenwärtiger Welterfahrung unterscheidet, zeigen zwei Verse, die genau aufeinander zu formuliert sind, der eine im Schöpfungs-, der andere im Sintflutbericht. Bevor Gott in Gen 2,1ff. nach der Schöpfung ruht und diesen Ruhetag für den Menschen vorsieht, indem er ihn segnet und heiligt, fasst er sein Urteil über die abgeschlossene Schöpfung so zusammen, dass alle vorhergehenden Urteile über einzelne Tageswerke erkennbar gesteigert werden: Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut (Gen 1,31).
Zu Beginn der Sintflut fällt Gott wiederum ein Urteil, das der Leser im Kontrast zu Gen 1,31 lesen soll: Gott sah die Erde an, und siehe, sie war verderbt (Gen 6,12).
Beide Male wird im Erzähltempus von Gottes Anblicken mit demselben Verb berichtet, beide Male das Ergebnis des Anblickes durch ein „und siehe“ in seiner Bedeutung hervorgehoben. Allerdings sind auch die Unterschiede deutlich. Im ersten Fall ist die gesamte Schöpfung, „alles, was er gemacht hatte“, Objekt des göttlichen Anblicks und Urteils, im letzteren Fall ist es nur „die Erde“ als derjenige Bereich, den der Mensch nach Gen 1,28 königlich verwalten, d.h. „beherrschen“ darf (s.u.). Diesen Bereich aber hat er so verändert, dass das Gegenteil der Schöpfungsabsicht Gottes das Ergebnis war. Er hat die
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Erde, die wie die übrige Schöpfung „sehr gut“ war, pervertiert, indem er sie mit חמסerfüllte (Gen 6,11). Wie Rolf Knierim für den Begriff und Norbert Lohfink vertiefend für die Priesterschrift gezeigt haben 8 , ist in P חמסdie Grundschuld des Menschen schlechthin. Der Begriff bedeutet von Haus aus „lebensbedrohende Gewalttat“ (Knierim), die wie der oft – etwa bei Ezechiel – analog verwendete und schon genannte Begriff „Blutschuld“ unmittelbar den Geber des Lebens, Gott, tangiert. Die Propheten haben ihn – wie den Begriff „Blutschuld“ – insofern verschärfend verwendet, als sie ihn auch auf Situationen bezogen, in denen Leben nicht im Wortsinn gefährdet, sondern nur, etwa durch soziale Unterdrückung (Am 3,10 etc.), eingeschränkt und gemindert wurde. Diese generalisierende Verschärfung, die bei Ezechiel ihren Höhepunkt findet, setzt die Priesterschrift schon voraus. Gen 6,11f. sagt ausdrücklich: Der Mensch, der mit solcher Gewalttat sein Verhalten verdirbt, verdirbt damit nicht nur das gedeihliche Miteinander unter den Menschen (V.12b), sondern er verdirbt die ihm anvertraute Erde (V.11–12a). Eine Schuld, die fein säuberlich auf den zwischenmenschlichen Bereich beschränkt bliebe und den Herrschaftsbereich Erde unberührt ließe, kennt die Priesterschrift nicht. Vielmehr zieht der gewalttätige Mensch – und einen anderen Menschen gibt es für P nicht – aufgrund seiner Gewalttat seinen Verantwortungsbereich, die Erde, mit sich in den Abgrund. Mit etwas anderen Vorstellungskategorien formuliert schon der ältere, P vermutlich bereits bekannte Bericht des Jahwisten Ähnliches. In dem berühmten Kapitel Gen 3 will er zeigen, wie der sich selbst verabsolutierende Mensch, der Gott nicht mehr braucht, weil er selber „gut und böse“, d.h. förderlich und hinderlich, nützlich und unbrauchbar etc., für sich bestimmen kann, mit seinem Gottesverhältnis auch sein Verhältnis zum anderen Menschen – und sei es die intimste Partnerschaft in der Ehe – verliert (Gen 3,7), sein Verhältnis zu den Tieren (V.15), sein Verhältnis zur Arbeit (V.17f.), kurz: sein Weltverhältnis. Nur redet J vom Weltverhältnis des Menschen eben in der Kategorie von Gemeinschaftsbezügen, vermag diese unterschiedlichen Bezüge allerdings genauso wenig wie P isoliert zu sehen. Sie sind vielmehr allesamt Folgen, die sich aus dem Gottesverhältnis des Menschen ergeben, mit diesem geschenkt und ohne es verloren sind. Der von Gott gelöste Mensch ist für J letztlich der in zerbrochenen Bezugsverhältnissen lebende Mensch. In Gen 4 wird, diese Grundaussagen steigernd, die Neigung zu tödli-
8 R. KNIERIM, Studien zur israelitischen Rechts- und Kultusgeschichte I: חטאund חמס. Zwei Begriffe für Sünde in Israel und ihr Sitz im Leben, Diss. Heidelberg 1957 (vgl. H.-J. STOEBE, Art. חמס, THAT 1 [1978] 583–587; H. HAAG, Art. חמס, ThWAT 2 [1977] 1050– 1061; C. WESTERMANN, Genesis [BK1/1], Neukirchen-Vluyn 1974, 559); N. LOHFINK, Die Ursünden in der priesterlichen Geschichtserzählung (1970), in: DERS., Studien zum Pentateuch (SBA.AT 4), Stuttgart 1988, 169–189; 180–184.
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cher Gewalt als konstitutiv für das erfahrbare Menschsein hinzuerzählt, bevor der Mensch in seiner Bosheit als sintflutreif erklärt wird (Gen 6,5ff.). Einen anderen Menschen als den, über den Gott in Gen 6–8 die Sintflut bringt, kennen also weder J noch P; der ältere Bericht schließt eine Änderung des Menschen ausdrücklich aus (8,21). Das Leben der Menschen hängt für J und P seitdem nur an einer unerklärlichen Bindung Gottes an diesen sintflutreifen Menschen. Wäre Gott konsequent, müsste er täglich neu die Sintflut heraufführen. Die Sintflut wandelt Gott, der seine Allmacht zugunsten des Menschen einschränkt; sie wandelt nicht den Menschen.
Ebenbildlichkeit und Verantwortung Dass der Mensch in seiner Schuld die Erde „verdirbt“ und mit sich in den Abgrund reißt, hängt unlöslich mit seiner Bestimmung als Ebenbild Gottes in Gen 1,26ff. zusammen. Für den Sinn dieser Bestimmung ist zunächst wichtig, dass sie im Kontext von Sätzen steht, die Mensch und Tier engstens zusammenbinden. Beide werden aufgrund ihrer besonderen Gabe „Lebewesen“ genannt, beide werden mit dem Segen Gottes bedacht, aufgrund dessen sie fruchtbar sein und sich vermehren dürfen. In diesen Hinsichten ist der Mensch durch nichts vom Tier geschieden, Geschöpf wie es, mit Gaben versehen, die er Gott verdankt. Erst auf dem Hintergrund dieser betont hervorgehobenen Gemeinsamkeiten wird mit der Ebenbildlichkeit, die in der feierlichen Selbstanrede Gottes eingeführt wird, die unterscheidende Besonderheit des Menschen genannt. An diesem so viel diskutierten Begriff kann in unserem Zusammenhang nicht seine reiche Wirkungsgeschichte interessieren, sondern nur seine Bedeutung auf der Primärebene der Priesterschrift. Für diese Ebene ist von Gewicht, dass der Begriff צלםden ersten Lesern sehr vertraut war, war er doch ein Lehnwort aus ebenjener Weltreligion, mit der sich die Israeliten im Exil auseinandersetzen mussten, der babylonischen. Hier aber war ṣalmu, „Bild“, ein terminus technicus für die Funktion des Königs in seiner Stellvertretung der Gottheit9. Es ist die Besonderheit des AT, dass es diesen Begriff nie für den König, sondern nur für den Menschen allgemein in seiner königlichen Stellung vor Gott gebraucht. Mit der Wahl dieses Begriffs hängt zusammen, dass Gen 1 mit ihm nicht die Qualität des Gottesverhältnisses des Menschen expliziert, sondern die Funktion des Menschen in der Welt. Gott übergibt ihm die Erde und die ihr zugeordnete Tierwelt als seinen königlichen Herrschaftsbereich. Dabei impli9 Noch häufiger findet sich die analoge Begrifflichkeit für den Pharao in Ägypten, der seinerseits „Bilder“, d.h. Statuen – nun von sich – errichten ließ, in denen seine ganze Macht und Göttlichkeit gegenwärtig war. Vgl. zum ganzen Sachverhalt etwa W. H. SCHMIDT, Die Schöpfungsgeschichte der Priesterschrift (WMANT 17), Neukirchen 31973, 132–144.
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ziert der Begriff der Ebenbildlichkeit, dass sich der Mensch diesen Herrschaftsbereich nicht selbst geschaffen hat, sondern ihn stellvertretend für Gott verwaltet. Er impliziert aber gleichzeitig, dass Gott die gesamte Erde dem Menschen als Treuhänder übergibt – ein Auftrag, über den man nur mit Ps 8 in ungläubiges Erstaunen geraten kann („Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst …? Du hast ihn [dennoch] wenig niedriger gemacht als Gott …“, V.5f.) oder aber mit P in tiefstes Entsetzen versetzt werden kann, wenn man bedenkt, dass der Gott vertretende Mensch eben der gewalttätige, Leben bedrohende Mensch ist, von dem Gen 6,11f. spricht, d.h. der zu dieser Verwaltung letztlich wegen seines gewalttätigen Egozentrismus völlig ungeeignete Mensch. Nicht verwunderlich ist, dass für den Akt der Verwaltung Verben gebraucht werden, die wie der Begriff des Ebenbildes ebenfalls dem königlichen Traditionsbereich zugehören. Allerdings sind diese Verben sehr unterschiedlich gedeutet worden. Als repräsentativ für den Anfang unseres Jahrhunderts mag die unverdächtige Stimme des wichtigsten wissenschaftlichen jüdischen Kommentars zur Genesis gelten: „Mit diesem einen Worte (gemeint ist: ‚macht euch die Erde untertan‘, V.28) ist dem Menschen die uneingeschränkte Herrschaft über den Weltkörper Erde verliehen, deshalb kann keine Arbeit an ihr, z.B. Durchbohrung oder Abtragung von Bergen, Austrocknen oder Umleiten von Flüssen u.dgl. als gottwidrige Vergewaltigung bezeichnet werden.“10 Aus dem Auftrag zum dominium terrae hörte man allgemein zu jener Zeit die uneingeschränkte Verfügungsgewalt des Menschen heraus. Die Sätze aus Gen 1, die den Menschen mit dem Tier verbinden, blieben weithin vergessen. Im letzten Jahrzehnt schlug das Pendel der Deutung radikal um. Jetzt betonte man etwa, dass schon die Übersetzung Luthers: „Macht euch die Erde untertan!“ insofern zu stark sei, als das Verb כבשׁin seiner Grundbedeutung „den Fuß auf etwas setzen“ heiße11, was nur bei Personen als Objekt zur Bedeutung „unterwerfen“ führe (der Pharao etwa setzt seinen Fuß in vielen Abbildungen auf den Nacken eines Feindes), mit Ländern als Objekt aber den Akt der Inbesitznahme bezeichne. Folglich gehe es in Gen 1,28 darum, dass die Erde als Wohnort der sich ausbreitenden Menschheit dienen solle; im Blick seien primär Viehzucht und Landwirtschaft12.
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B. JACOB, Das erste Buch der Tora. Genesis, Berlin 1934, 61. N. LOHFINK, „Macht euch die Erde untertan“? (1974), in: DERS., Studien zum Pentateuch (SBA.AT 4), Stuttgart 1988 , 11–28; 19f. 12 Vgl. bes. K. KOCH, Gestaltet die Erde, doch heget das Leben! Einige Klarstellungen zum dominium terrae in Gen 1, in: Wenn nicht jetzt, wann dann? (FS H.-J. Kraus), hg. von H.-G. Geyer/J. M. Schmidt/W. Schneider/M. Weinrich, Neukirchen 1983, 23–36 = DERS., Spuren des hebräischen Denkens, Gesammelte Aufsätze, Bd. I, Neukirchen 1991, 223–237, im Gefolge von J. BLENKINSOPP, The Structure of P, CBQ 38 (1976) 275–292, und 11
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Zutreffend ist an dieser Deutung, dass כבשׁmit Ländern als Objekt deren Einnahme und Inbesitznahme bezeichnet. Freilich ist damit durchaus auch die „Zunutzemachung aller Potenzen und Möglichkeiten, die ökonomisch und kulturell mit dem Begriff ‚Land‘ verbunden sind“13 eingeschlossen. Die gegenwärtige Problematik des Raubbaus der Menschheit an der Erde kann nicht ohne Gewalt in den Text hineingelesen werden. Wohl aber haben die genannten neueren Arbeiten wahrscheinlich gemacht, dass für die Herrschaft des Menschen über die Tiere ein Verb ( )רדהgewählt ist, das zwar königliche Herrschaft bezeichnet, diese aber mehrfach speziell im Bild des Hirten beschreibt14. Trifft das zu, wäre schon mit der Wahl des Verbes verdeutlicht, dass die dem Menschen anvertraute stellvertretende Herrschaft über die Tierwelt primär Fürsorge meint15. Wie immer die Verben genau zu deuten sind: Sicher ist, dass der Herrschaftsauftrag an den Menschen unter das „sehr gut“ fällt, mit dem Gott abschließend die Schöpfung beurteilt, während die gewalttätige Durchführung dieses Auftrags die Revozierung der Schöpfung durch Gott mit sich bringt. Schon das Jagen und Schlachten der Tiere gehört nicht zum Schöpfungsauftrag, weil der Mensch in etwas eingreift, das nur Gott zusteht: Leben zu geben und zu nehmen. Das Töten von Tieren führt dazu, dass „Furcht und Schrecken“ vom Menschen auf die Tierwelt ausgehen (Gen 9,2) – Gottes Herrschaftsauftrag zielte letztlich auf Fürsorge. „Furcht und Schrecken“ dagegen sind Begriffe aus der Erfahrung des Krieges. So pervertiert der königliche Mensch die ihm aufgetragene Fürsorge um der Befriedigung seiner Genusssucht willen zur kriegerischen Gewalt, mit der er nicht in sein eigenes, sondern in Gottes Eigentum eingreift. Wie viel mehr gilt Entsprechendes dann für das Zurückdrängen der Tierwelt bis zur Verminderung der Arten! Das im Hintergrund aller urgeschichtlichen Texte stehende pessimistische Menschenbild aber, das sich charakteristisch vom optimistischen Menschenbild Mesopotamiens unterscheidet16, ist ein biblisches Proprium. Es verdankt sich tiefer Reflexion über Israels Geschichte und sein Versagen in dieser Geschichte, wie es Israel besonders seine Propheten lehrten, die das Verhalten des GottesN. LOHFINK, Die Priesterschrift und die Geschichte (1978), in: DERS., Studium zum Pentateuch (SBA.AT 4), Stuttgart 1988, 213–254; 245–248. 13 S. WAGNER, Art. כבשׁ, ThWAT 4 (1984) 54–60; 56. 14 Vgl. zuletzt O. KAISER, Der Mensch, Gottes Ebenbild und Statthalter auf Erden, NZSTh 33 (1991) 99–111; 107. 15 STECK, Welt und Umwelt, a.a.O. (Anm. 5), 78–82, hat für die Fürsorge für die Tiere, wie sie P meint, mit Recht auf das Modell Noahs verwiesen, der im Auftrag Gottes für das Überleben aller Tierarten Sorge trägt. 16 Die gängige Darstellung in Mesopotamien, wie sie sowohl das ältere Atraḥasis-Epos als auch das jüngere Epos von der Weltentstehung, enūma eliš, prägt, lässt den Menschen aus Ton und Götterblut geschaffen sein: Auch als der Sterbliche hat er göttliche Wesensanteile in sich. Von dieser optimistischen Sicht des Menschen ist später Platos Ideenlehre geprägt.
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volkes zu ihrer Zeit am Maßstab der Erfahrungen von Gottes Hilfe und Güte maßen.
Das „Prinzip Verantwortung“ Es ist schwerlich Zufall zu nennen, dass ausgerechnet ein jüdischer Philosoph, der das Alte Testament intensiv kennt und immer wieder explizit oder implizit auf die Urgeschichte in Gen 1–11 Bezug nimmt, sein Hauptwerk „Das Prinzip Verantwortung“ genannt hat17. In der Tat ist der Begriff Verantwortung vorzüglich dazu geeignet, sowohl die Besonderheit des Menschen gegenüber dem Tier zu beschreiben als auch die biblische Auffassung von der Ebenbildlichkeit dem säkularen Menschen des ausgehenden 20. Jh.s nahezubringen. Er kann sowohl die Bevollmächtigung des Menschen wie die Gefährdung der Welt durch seinen Egozentrismus zum Ausdruck bringen. Hans Jonas geht beidem nach, indem er einerseits die technischen Fähigkeiten des Menschen keineswegs a priori verdammt, sondern vielmehr als Ausdruck seiner ihm verliehenen Freiheit wertet. Andererseits aber sieht er den Menschen in der Gefahr, mit diesen großen Fähigkeiten das symbiotische Gleichgewicht in der Natur, ja mehr noch: das Gleichgewicht in der Erdatmosphäre zu zerstören. In seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1987 formuliert er: „So erhält die Ethik zum ersten Male eine quasi kosmische Dimension, über alles Zwischenmenschliche hinaus“18. Aus dieser Einsicht prägt er den Begriff einer „Pflicht aller Freiheit“19, die sich darin äußert, dass sich der mit so großer Vollmacht ausgestattete Mensch Grenzen setzt, wie sie durch die Auswirkung der eigenen Freiheit auf andere Menschen, andere Völker, aber auch auf die Tierwelt, die neu als mitgeschöpfliche zu entdecken ist, und schließlich auf die Erde und die Erdatmosphäre dringend geboten sind. Der Mensch muss nach Jonas neu lernen, sich als Geschöpf zu verstehen, das – trotz seiner Vollmacht – Rücksicht auf Mitgeschöpfe und auf die Erde als den Lebensraum aller nehmen muss. In einer solchen Bestimmung der menschlichen Verantwortung, die weit über das Zwischenmenschliche hinausgeht, wurden wesentliche Aspekte des Alten Testaments aufgegriffen, wie wir sie zuvor an Hand von Texten aus den Propheten, den Psalmen und der Urgeschichte zu erheben versucht haben. Die Bibel Alten wie Neuen Testaments ist allerdings der Überzeugung, dass der Mensch dazu erst fähig wird, wenn Gott ihn von Grund auf erneuert.
17 H. JONAS, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation (Suhrkamp Tb 1085), Frankfurt a.M. 1984. 18 DERS., Wissenschaft als persönliches Erlebnis, Göttingen 1987, 32ff.; 40. 19 A.a.O., 39.
7. Liebe und Unterordnung? Zur Rolle der Geschlechter im Alten Testament In einem vor kurzem erschienenen Buch über das Verhältnis der Geschlechter im Alten Testament mit dem bezeichnenden Titel „Das Matriarchat im Alten Israel“ heißt es über das Alte Testament: „Patriarchale Gesetzgebung macht Frauen zum Eigentum des Mannes, was sich besonders drastisch im zehnten Gebot niederschlägt, das die Frau auf gleicher Stufe wie das Vieh als Besitz des Mannes ausweist … Die Menschlichkeit der Frauen wird missachtet. Frauen werden zum Objekt ohne Rechte und Entscheidungsfreiheit. Männer maßen sich das Verfügungsrecht über den weiblichen Körper an“1. Das sind Sätze, die voller Leidenschaft niedergeschrieben worden sind aus Zorn und Enttäuschung darüber, dass am Ende des 20. Jh.s die so viel propagierte Gleichberechtigung der Frau immer noch nur sehr teilweise realisiert ist. Eine derartige Enttäuschung macht skeptisch gegenüber der Tradition, insbesondere gegenüber der religiösen Tradition. Aber diese Sätze sind nicht darum schon historisch wahr und richtig, weil sie in persönlicher Lauterkeit und mit großem Engagement verfasst sind. Die Frau als Eigentum des Mannes: das trifft in einem eingeschränkten rechtlichen Sinne zu; die Frau auf gleicher Stufe wie das Vieh – ihre Menschlichkeit missachtet – Objekt ohne Entscheidungsfreiheit: das sind durchgehend verfehlte Kategorien für den beurteilten Sachverhalt; und zuletzt: Männer mit Verfügungsrecht über den Körper der Frauen: das ist im Blick auf die behandelten Texte eher geschmacklos formuliert. Bücher wie das genannte erscheinen momentan in großer Zahl. Mehrheitlich, aber keineswegs ausschließlich, sind sie von Frauen verfasst. Das Niveau dieser Bücher ist sehr unterschiedlich; es gibt gut informierte darunter2 – das eingangs zitierte gehört in vielen seiner Teile zu ihnen –, aber diese sind eher in der Minderheit. Das Problem, das diese Bücher aufgreifen, ist unbestreitbar vorhanden, ebenso die Tatsache, dass sich die Forschung bisher um dieses Problem gern 1 G. WEILER, Das Matriarchat im Alten Israel, Stuttgart/Berlin/Köln 1989, 318. Zur Geschichte der Matriarchatsforschung vgl. die ausgewogene Darstellung von S. HEINE, Wiederbelebung der Göttinnen?, Göttingen 21989, 86ff. 2 Die wichtigste Literatur ist zusammengestellt bei J. EBACH, Art. Frau, II. Altes Testament, TRE 2 (1983) 422–424; F. CRÜSEMANN, Die Tora. Theologie und Sozialgeschichte des alttestamentlichen Gesetzes, München 1992, 291–300.
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gedrückt hat. Es lautet zugespitzt: Wie ist die biblische, genauer: die alttestamentliche Rede von der Liebe zwischen Frau und Mann sinnvoll zu vermitteln und ernst zu nehmen, wenn doch in den gesellschaftlichen Verhältnissen des Alten Testaments nachgewiesenermaßen die Frau eine untergeordnete gesellschaftliche Stellung einnahm? Oder anders formuliert: Wie ist die merkwürdige Diskrepanz erklärbar, dass der Sozialhistoriker auf eine im Verlauf der Entstehung des Alten Testaments zunehmende gesellschaftliche Unterordnung der Frau stößt, der Ausleger der biblischen Texte aber eher selten eine Widerspiegelung dieses Sachverhalts in seinen Texten vorfindet? Vielmehr begegnen hier Liebeslieder und Erzählungen von großen Taten von Frauen, für die das Verhältnis der Geschlechter zueinander kein Problem darzustellen scheint. Noch präziser formuliert: Wie ist die Diskrepanz erklärbar zwischen der hinter den Texten stehenden gesellschaftlichen Wirklichkeit der Unterordnung der Frau und der in den Texten erkennbaren scheinbaren „Naivität“ im Verhältnis der Geschlechter zueinander? Diese Frage ist deshalb schwer zu beantworten, weil das Alte Testament die Beziehung der Geschlechter zueinander so gut wie nie direkt thematisiert – auf die einzige berühmte Ausnahme (Gen 2–3) ist ausführlich zurückzukommen –, sondern zumeist als den Lesern der Texte bekannt voraussetzt. Das Alte Testament ist ja zunächst nicht für Leser fremder Kulturen geschrieben. Erschwerend kommt zweitens hinzu, dass dieses Alte Testament nur äußerlich für uns heute ein Buch bildet, faktisch aber eine ganze Bibliothek unterschiedlichster Art von Büchern enthält, deren älteste von den jüngsten nahezu durch ein volles Jahrtausend getrennt sind. Es versteht sich für einen Historiker von selbst, dass soziologische Grundgegebenheiten wie das Verhältnis von Frau und Mann in einem solch langen Zeitraum nicht gleichbleiben, zumal das biblische Israel sehr verschiedenartige Organisationsformen des Gemeinschaftslebens herausbildete. Anfangs lebten die Israeliten als Bauern und Hirten in kleinräumigen Zusammenschlüssen mit Ältesten an der Spitze, seit der Staatenbildung unter David und Salomo in einer Monarchie mit Beamten und Händlern am Hofe, nach dem Untergang des Staates dagegen in der Perserzeit mit einer halbselbständigen Verwaltung in einem Gemeinwesen, das man zumeist missverständlich als „Theokratie“ bezeichnet. Natürlich haben diese gewichtigen historischen Einschnitte auch die Bedingungen des familiären Zusammenlebens verändert. Aber es gibt noch eine gewichtigere Erschwernis für die Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis der Geschlechter zueinander im Alten Testament. Wie wir aus Andeutungen im Alten Testament wissen, hat es zur Zeit der biblischen Autoren ungleich mehr Texte und Bücher gegeben, als uns in der Sammlung des Alten Testaments überkommen sind. Es gab z. B. Annalen der Könige, es gab Quellen für die historischen Bücher wie etwa das „Buch der Wackeren“, das uns durch Zufall genannt wird, es gab eine Fülle von nicht überlieferten Prophetenworten, es gab weitere Psalmen usw. Sie sind uns alle
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unbekannt. Das Alte Testament bietet eine Auswahl von Texten, und diese Auswahl ist unter Gesichtspunkten zu Stande gekommen, die unserer Fragestellung keineswegs günstig sind. Der Maßstab der Sammlung dieser Schriften war die Verbindlichkeit der Gotteserfahrung. Vielleicht hätten wir aus den uns unbekannten höfischen Nachrichten mehr über das Verhältnis von Frau und Mann erfahren als in den überlieferten Texten. Jedenfalls erfolgte die Auswahl der Überlieferung völlig unabhängig von dem Gesichtspunkt, wieweit die Texte repräsentativ für die Darstellung der jeweiligen zeitgeschichtlichen Lebensumstände waren. Unser Wissen von letzteren ist daher in vielerlei Hinsicht reines Zufallswissen. Nach diesem Seitenblick auf die Quellenlage möchte ich die folgenden Darlegungen in drei Teile gliedern. Ich werde 1. auf einzelne Aspekte der gesellschaftlichen Stellung von Frau und Mann eingehen, wie sie sich als Wirklichkeit hinter den Texten zu erkennen gibt; 2. exemplarisch die Intention von Texten vorführen, die von der Beziehung zwischen Mann und Frau reden, und schließlich 3. den einen Text behandeln, der grundsätzlich über das Verhältnis der Geschlechter Auskunft geben will: den oft traktierten Text von der Erschaffung von Mann und Frau in Gen 2–3.
1. Dass in Israel keine Gleichberechtigung zwischen Frau und Mann – schon gar nicht in unserem Sinne – herrschte, kommt insbesondere in drei Lebensbereichen deutlich zum Ausdruck: 1. bei der Eheschließung, 2. im Recht und 3. im Kult. 1.1. Die Ehe Zum Verständnis der Ehe ist fundamental wichtig, dass Frau und Mann gemeinhin mit der Ehe nicht in unserem Sinne einen eigenen Hausstand gründen, sondern in einen schon bestehenden Familienverband hineinheiraten. Bei allen grundlegenden Wandlungen der Gesellschaftsstrukturen in der wechselhaften Geschichte Israels blieb eine soziologische Größe im Wesentlichen konstant: die משׁפחה, die Sippe, deren Begrifflichkeit das Jiddische auch ins Deutsche eingebracht hat (die „Mischpoke“). Alle anderen gesellschaftlichen Institutionen wandelten sich: die Kleinfamilie bei der Staatenbildung, als ein Heer von Beamten am Königshof entstand (wobei in der damaligen Zeit auch Händler, Baufachleute, Handwerker und dergleichen zu solchen „Beamten“ gerechnet werden müssen) und nun der König für diesen neu entstandenen Bevölkerungsteil denjenigen Rechtsschutz ausüben musste, den vorher die Sippe abgedeckt hatte; der Stamm als soziologische Obereinheit der vorstaatlichen Zeit verlor bei der Staatenbildung noch weit stärker an Bedeutung; die
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Stammesgrenzen blieben weithin nur als Steuergrenzen erhalten. Dagegen war die משׁפחהdie soziologische Konstante in der Geschichte, weil sie den Weggang von Gliedern an den Königshof verkraften konnte und auch unverändert blieb, als die Stämme an Einfluss im Staat verloren. Das neue junge Ehepaar gliederte sich also in die väterliche Sippe ein, d.h. die Ehe war patrilokal organisiert – man wohnte, wo die Sippe väterlicherseits wohnte – und war gleichzeitig patrilinear geordnet – die Erbregelung erfolgte gemäß der väterlichen Linie3. Zumindest scheint das der Normalfall gewesen zu sein, für den es eine Fülle von Belegen gibt. Aber es gibt eine kleine Zahl irritierender Ausnahmen, die uns unser fehlendes Hintergrundwissen spüren lassen. Da ist einmal der seltsame Held Simson, der seine ungewöhnlichen Kräfte so sinnlos einsetzt und vergeudet (Ri 13–16). Dieser Simson ist mit einer jungen Frau der feindlichen Philister rechtskräftig verheiratet, hat aber seine Frau keineswegs heimgeführt, sondern besucht sie bei seinem Schwiegervater und muss diesen um Erlaubnis fragen, wenn er zu ihr in ihre Kammer hineingehen möchte (Ri 15,1). Nun kann man sich bei einer Heirat über die Volksgrenze hinaus natürlich mit der Auskunft trösten, hier würden fremdländische Sitten berichtet. Keinesfalls aber gilt das für die Erzählung von Jakob und Laban. Nachdem Laban Jakob vielfach betrogen hatte und ihn sieben Jahre für die ungeliebte ältere Lea hatte dienen lassen, damit er für die heißgeliebte jüngere Rahel nochmals sieben Jahre dienen musste, zog Jakob auf Rat der beiden Schwestern grußlos davon, Rahel aber hatte ohne Wissen Jakobs die sog. Teraphim, vermutlich die Haus- bzw. Familiengötter 4 , mitgenommen. Laban eilte Jakob nach und machte ihm Vorwürfe, dass er „heimlich geflohen“ sei (Gen 31,27). Laban hatte offensichtlich erwartet, dass sein Neffe Jakob auch nach Ablauf der Dienstzeit bei ihm bleiben würde. Wenn er so entrüstet über die Mitnahme der Hausgötter war, so nicht darum, weil er seinen religiösen Pflichten nun nicht mehr nachkommen konnte, sondern weil der Besitz der Haus- und Familiengötter den Anspruch auf das Erbrecht symbolisierte, wie wir aus churritischen Texten des 14./13. Jh.s aus Nuzi wissen. Laban also ist aufgebracht, weil das Erbe – mit den Hausgöttern – in eine andere, freilich verwandte Sippe gehen sollte, als er selber es gehofft hatte. Die Erzählung setzt damit voraus, dass Jakob ebenso gut hätte in der Familie seiner beiden Frauen bleiben können, statt mit ihnen zur eigenen Großfamilie zu ziehen.
3
Den Sinn dieser Ordnung („die geregelte Übergabe der materiellen Ressourcen der Familie von einer Generation auf die andere … sowie die geregelte Übergabe der Leitungsfunktion …“) hat jüngst H. UTZSCHNEIDER, Patrilinearität im alten Israel – eine Studie zur Familie und ihrer Religion, BN 56 (1991) 60–97; 73 aufgewiesen. Vgl. auch G. LERNER, Die Entstehung des Patriarchats, Frankfurt a.M./New York 1991. 4 Literatur und Belege bei L. KÖHLER/W. BAUMGARTNER/J. J. STAMM, Hebräisches und aramäisches Lexikon, Leiden/New York/Kopenhagen/Köln 31990, 1651–1653.
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Im Falle Simsons haben Ethnologen mit einem Begriff, den W. Robertson Smith in die Diskussion eingeführt hat, von einer „ṣadīqa-Ehe“ gesprochen. Diese Einordnung könnte zutreffen, ohne dass wir doch über genügend Informationen verfügten, die uns über die prinzipielle Möglichkeit einer solchen Einschätzung hinausführen würden. In einem solchen eheähnlichen Verhältnis bei frühen Arabern empfing die Frau, die in ihrer Sippe blieb, von Zeit zu Zeit den Besuch ihres Liebhabers aus einer anderen Sippe. Er brachte dann Geschenke mit – sie heißen ṣadāq –, sie selber ist die Beschenkte – eben die ṣadīqa. Beide Partner können dieses – wohlgemerkt: anerkannte – Verhältnis beenden; die Kinder aber gehören zur Sippe der Frau5. Im Falle der Erwartung Labans hat man eher an eine sog. „beena-Ehe“ gedacht6. Dabei handelt es sich um eine Ehe im Vollsinn, bei der aber der Mann in die Sippe der Frau hineinheiratet, die Kinder aus der Ehe in die Sippe der Frau gehören und die Erbschaftsregelung und die Namen sich nach der Seite der Mutter richten. Grundsätzlich würde in dieses Bild passen, dass Jakob nach Gen 30,26 Laban bittet, mit seinen Frauen in die Heimat ziehen zu dürfen. Es scheint so, dass hier nicht der Ehegatte, sondern der Vater der Frau über deren Aufenthaltsort zu bestimmen hat, und dazu würde passen, dass Laban angesichts des Weggangs Jakobs klagt, Jakob habe seine Töchter „wie Kriegsgefangene“ weggeführt (Gen 31,26), während sie rechtmäßig doch zu ihm gehörten. Ob es sich im Falle Labans aber wirklich um eine „beena-Ehe“ und damit um mutterrechtliche Erbfolge handelt, ist keineswegs sicher. Eine andere mögliche Deutungskategorie, die man erwogen hat, ist die sog. „errēbu-Ehe“ in Mesopotamien. Diese Form der Ehe ist eine Institution, die das Fortleben des Namens eines Mannes sichern sollte, falls er nur Töchter, aber keine Söhne hat. In diesem Falle kam der Schwiegersohn in das Haus des Schwiegervaters und wurde von ihm adoptiert. Eine solche Ehe hat mit mutterrechtlichen Verhältnissen nichts zu tun und kam nur durch den Konsens der Ehegatten zustande7. Ich breche den Gedankengang hier ab. Ich wollte am Beispiel des Eheschlusses nur zeigen, wie wenig wir letztlich wirklich Genaues über die gesellschaftliche Stellung der Frau im Alten Testament wissen. Die Texte setzen die sozialen Hintergründe voraus; wir können zwar mit Sicherheit sagen, dass die patrilokale Gestaltung der Ehe, also der Wohnortwechsel der jungvermählten Frau, und die patrilineare Organisation der Ehe, also die Regelung 5
Vgl. W. PLAUTZ, Zur Frage des Mutterrechts im Alten Testament, ZAW 74 (1962) 9–30;
19. 6 Vgl. dazu etwa J. MORGENSTERN, Beena Marriage (Matriarchat) in Ancient Israel and its Historical Implications, ZAW 47 (1929) 91–110. 7 PLAUTZ, Zur Frage des Mutterrechts, a.a.O. (Anm. 5), 22; J. VAN SETERS, Jacobʼs Marriages and Ancient Near East (sic!) Customs: A Reexamination, HThR 62 (1969) 377ff.
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der Erbfolge innerhalb der väterlichen Sippe, das Übliche war. Aber die Gelegenheitsnachrichten, die uns zur Verfügung stehen, reichen nicht aus, um die Ausnahmen von der Regel wirklich beurteilen zu lassen, und zwar weder hinsichtlich der vorausgesetzten Institution, noch gar hinsichtlich des Wandels dieser Institution im Laufe der Geschichte. Wir können nur so viel sagen, dass man sich vor einem allzu einheitlichen Bild – besonders für die Frühzeit – hüten muss. Zwei Nachrichten des Alten Testaments bekräftigen diese Warnung: 1) Während sich alle biblischen Stämme von einem gemeinsamen Stammvater – Jakob – herleiten, wissen sie sich von verschiedenen Stamm-Müttern herkommend. Für den idealen theoretischen Oberbau ist sozusagen der Stammvater zuständig, für die geschichtliche Differenzierung aber die Stamm-Mutter. Es gibt Indizien dafür, dass in der Frühzeit primär die StammMutter Gegenstand des Erzählens innerhalb der einzelnen Familie war (was Hinweis auf matrilineare Organisationsform sein könnte), während die religiöse Ausprägung der Erzählungen zwangsweise den Stammvater in den Mittelpunkt des Interesses schob. 2) Ein durch die Geschichte gehender Sachverhalt, dessen Deutung alles andere als klar ist, ist der folgende: Insgesamt 43 x wird uns im Alten Testament berichtet, dass ein neugeborenes Kind einen Namen erhält. Auffälligerweise gibt 25 x die Mutter den Namen, 18 x der Vater. Man hat diesen Sachverhalt kulturgeschichtlich deuten wollen – ältere Schriftsteller hätten die Mutter als Subjekt benannt, jüngere den Vater8 –, man hat ihn hinsichtlich der Gesellschaftsschichten differenzieren wollen – angesichts der großen Zahl an Frauen am Königshof habe die Mutter den Namen vergeben9 –; aber beide Hypothesen können die Texte nicht restlos aufklären. Wir können wohl komparativisch sagen, dass es häufiger die Mutter ist, die den Namen verleiht; letztlich aber wissen wir auch an dieser Stelle nicht wirklich über die Hintergründe Bescheid. Wir müssen uns vielmehr vor aller Einlinigkeit der Rekonstruktion gesellschaftlicher Verhältnisse hüten. Insbesondere ist der oft wiederholte Satz im Blick auf die Ehe zu bestreiten, dass die junge Frau, weil ein Kaufpreis für sie gezahlt werde, „einer Ware gleichgeachtet“ wurde; „als ein Stück seiner Habe erwarb der Mann sie, wie er sich Vieh für seine Hürde kaufte“10. Dass diese Deutung den Sachverhalt nicht trifft, geht schon allein daraus hervor, dass für den Erwerb der Frau eine völlig andere Terminologie gebraucht wird als beim 8
Etwa H. GUNKEL, Genesis (HK 1,1), Göttingen 61964 (31910), 41f.; anders R. KESSLER, Benennung des Kindes durch die israelitische Mutter, WuD 19 (1987) 25–35. 9 Etwa H. WILDBERGER, Jesaja (BK 10), Neukirchen-Vluyn 21980, 292. 10 A. EBERHARTER, Das Ehe- und Familienrecht der Hebräer, Münster 1914, 120 und 21; vgl. G. BEER, Die soziale und religiöse Stellung der Frau im israelitischen Altertum, Tübingen 1919, 6f. Dagegen bes. W. THIEL, Die soziale Entwicklung Israels in vorstaatlicher Zeit, Berlin 1980, 43.
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Kauf von Ware. Vielmehr ist die Geldzahlung ein Rechtsakt: Mit dem Brautpreis war die Ehe geschlossen, auch wenn Frau und Mann noch getrennt lebten (man bezeichnet in der alttestamentlichen Wissenschaft diesen Zustand gern als „Verlobung“, trägt damit aber fremde Gedanken in die Texte ein). Bemerkenswert ist, dass gelegentlich an die Stelle der Geldzahlung die Dienstleistung tritt: Jakob als Mittelloser dient je sieben Jahre für seine beiden Frauen; David erhält Sauls Tochter, als er Goliath besiegt; Kaleb gibt Othniel seine Tochter, als dieser Kirjath-Sepher einnimmt. Vor allem aber wird die Frau mit dem Brautpreis keineswegs „gekauft“. In manchen Erzählungen (z.B. Gen 24,53) ist von Geschenken an die Braut (und an die Brautmutter!) die Rede, vergleichbar den Bräuchen bei der oben genannten „ṣadīqa-Ehe“. Wie eine vorzügliche Kennerin heutiger palästinensischer Fellachen – Hilma Granquist – wiederholt gezeigt hat, betrachten die Bauern Palästinas Geschenke als eine Art Vorschussdarlehen, das sie verpflichtet11. Ähnlich verhält es sich mit dem Brautpreis in der Ehe: Er schafft eine doppelseitige Verpflichtung, die auch rechtlich definiert ist, und zwar beidseitig12. Außerdem ist der Vater der Braut zur Mitgift verpflichtet, um die Braut wirtschaftlich zu sichern13. Wo immer behauptet wird, dass beim Brautkauf die „Frau als Ware“ betrachtet würde, liegt eine überaus oberflächliche Deutung der Texte vor. Es sprechen gewichtige Gründe dafür, dass der Brautpreis ursprünglich als Kompensation des Brautvaters für den Verlust seines Kindes gedacht war14. 1.2. Das Recht Ich beschränke mich auf das einigermaßen Sichere. „Praktisch ihr ganzes Leben lang stand die Frau unter der Rechtsvormundschaft des Mannes“15. Der normale Rechtsfall wurde auf dem einzigen Platz, über den eine Stadt im biblischen Israel verfügte – dem Platz im Tor – verhandelt und war Sache der freien Bürger, die ad hoc zusammengerufen wurden. Frauen und Kinder waren durch den pater familias vertreten; Fremde hatten im Tor keinen Sitz. Bei bestimmten Rechtsfällen, etwa beim Verfahren gegen den ungehorsamen Sohn (Dtn 21,18ff.)16, nahm auch die verheiratete Frau am Rechtsverfahren teil. Bedingt rechtsfähig war die Frau als Witwe, wenn der Rechtsschutz des 11
H. GRANQUIST, Marriage Conditions in a Palestinian Village, Bd.I, Helsingfors 1931,
29. 12
M. BURROWS, The Basis of Israelite Marriage, New Haven 1938, 13. Zum Verhältnis von Brautpreis, Mitgift und Geschenken des Bräutigams an die Braut vgl. auch I. SEIBERT, Woman in Ancient Near East, Leipzig 1974, 24ff. 14 W. PLAUTZ, Die Form der Eheschließung im Alten Testament, ZAW 76 (1964) 298– 318. 15 F. CRÜSEMANN, „… er aber soll dein Herr sein“ (Gen 3,16). Die Frau in der patriarchalischen Welt des Alten Testaments, in: DERS./H. Thyen, Als Mann und Frau geschaffen. Exegetische Studien zur Rolle der Frau, Gelnhausen/Berlin 1978, 13–106; 26. 16 Vgl. CRÜSEMANN, Die Tora, a.a.O. (Anm. 2), 295ff. 13
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Mannes fortgefallen war. Im Übrigen galt für Frauen die Institution des Zetergeschreies: Wo immer einer Frau Gewalt jedweder Art angetan wurde, musste sie das Zetergeschrei anstimmen, und wer immer es hörte, war verpflichtet, sogleich die Torgerichtsbarkeit einzuberufen und die Sache der Frau zu vertreten. (Das gleiche Zetergeschrei wurde von Männern angestimmt, wenn ein Stamm von Feinden überfallen wurde und dieser Stamm sich nicht allein der Feinde erwehren konnte; dann war der den Schrei hörende Nachbarstamm zu sofortiger Hilfe verpflichtet.) Für den Fall, dass ein Mann mit einem unverheirateten Mädchen schläft, wird verfügt, dass er sie nicht nur durch Zahlung des Brautpreises heiraten muss, sondern dass der Vater des Mädchens die Heirat auch verweigern kann und trotzdem den Brautpreis empfängt (Ex 22,16) bzw. der Mann sein Recht auf spätere Scheidung ein für allemal verwirkt hat (Dtn 22,28f.)17. (Dagegen wird der Beischlaf mit einem Mädchen, das von einem anderen durch einen Kaufpreis erworben worden ist, wie Ehebruch behandelt und – wenn das Mädchen sich nicht gewehrt hat – mit dem Tode des Mannes und der Frau bestraft, Dtn 22,23ff.) In einer großen Zahl populärer Schriften zur Stellung der Frau im Alten Testament ist zu lesen, dass der Mann seine Ehefrau beliebig „entlassen“, d.h. sich von ihr scheiden lassen konnte. Das ist mit hoher Wahrscheinlichkeit falsch. Der entscheidende Passus (Dtn 24,1ff.) wird gemeinhin übersetzt: „Wenn ein Mann eine Frau geheiratet hat und ihr Ehemann geworden ist, sie ihm dann aber nicht gefällt, weil er an ihr etwas Anstößiges entdeckt …“ (so die Einheitsübersetzung; die revidierte Lutherübersetzung bietet: „weil er etwas Schändliches an ihr gefunden hat …“). Aber diese Übersetzung ist sehr problematisch. Was hier „etwas Anstößiges“ heißt, ist ein Begriff, der sonst sehr konkret für die Scham der Frau steht bzw. ihre Blöße. Alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass Krankheiten und Anomalien im sexuellen Bereich gemeint sind, durch die der Nachwuchs, d.h. das Weiterleben der Familie gefährdet war18, wie denn dieses Weiterleben auch etwa beim Brauch der Leviratsehe die entscheidende Rolle spielt, d.h. bei der Pflicht des nächsten männlichen Verwandten eines Verstorbenen innerhalb der Familie, die Witwe des Verstorbenen zu heiraten. Dass mit diesem Satz jede Art von männlicher Laune schon als Scheidungsgrund rechtlich gedeckt gewesen sei, hat im Kontext alle Wahrscheinlichkeit gegen sich.
17 Vgl. ausführlich C. LOCHER, Die Ehre einer Frau in Israel. Exegetische und rechtsvergleichende Studien zu Dtn 22,13–21 (OBO 70), Fribourg/Göttingen 1986. 18 Vgl. etwa CRÜSEMANN, Die Frau, a.a.O. (Anm. 15), 30; anders A. PHILLIPS, Some Aspects of Family Law in Pre-exilic Israel, VT 23 (1973) 349–361; 355.
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1.3. Der Kult „Die einzig wirklich grundsätzliche Diskriminierung der Frau geschah in Israel … im Bereich des Kultus“19. Zwar durften die Frauen im Heiligtum beten (1Sam 1–2), bis der Tempel den Priestern vorbehalten blieb und auch die Männer, soweit sie Laien waren, in die Vorhöfe zurückgedrängt wurden – die Differenzierung des Heiligen schritt immer weiter voran –, aber die Frauen waren, und zwar offensichtlich von Anbeginn an, vom Opferdienst und damit vom Priestertum ausgeschlossen. Das ist umso auffälliger, als einerseits die Völker in Israels Nachbarschaft durchaus Priesterinnen kannten und andererseits das Alte Testament selber eine große Zahl an Prophetinnen nennt. Warum dann dieser Ausschluss der Frau vom Priesteramt und vom Opferdienst? Wir kennen die Gründe nicht und können nur vermuten, dass hier die uralte Tabuisierung des weiblichen Geschlechts eine wesentliche Rolle gespielt hat. Der alttestamentliche Gottesdienst – besonders derjenige der Spätzeit – ist entscheidend auf die Reinheit aller Teilnehmer und aller rituellen Akte bedacht. Manche Formen von Krankheit – besonders eiternde Arten – verunreinigen, Berührung mit Toten verunreinigt, auch das Menstruationsblut verunreinigt. Im Stadium der Unreinheit aber sind die genannten Menschen vom Kult ausgeschlossen. Ob die Problematik der Unreinheit aber wirklich ausreicht, um den Ausschluss der Frau vom Priesteramt zu begründen, ist nicht mehr letztgültig auszumachen20. Wohl aber hängt mit der Unreinheit die Abwertung der Frau im nachbiblischen Frühjudentum zusammen, die in Sätzen gipfelt, Frauen besäßen eine größere Anfälligkeit für Sünde21. Fromme Juden sprachen damals täglich das Dankgebet dafür, dass sie als Mann geboren worden waren. Bei einer Bewertung solcher Aussagen muss freilich bedacht werden, dass sich zu dieser Zeit analoge und noch weit schärfere Sätze zur Abwertung der Frau auch in der griechischen Tradition finden22. Derartige Sätze gibt es in der biblischen Tradition selber nicht; vielmehr verdanken sich diese Urteile im nachbiblischen Judentum einer Kombination von Unreinheitsaussagen und der Paradieserzählung, von der noch die Rede sein muss. Eine praktische Auswirkung dieser Abwertung bildete die immer stärkere Ausgrenzung der Frau aus 19 E. S. GERSTENBERGER, Herrschen oder Lieben: Zum Verhältnis der Geschlechter im Alten Testament, in: Die Botschaft und die Boten (FS H. W. Wolff), hg. von J. Jeremias/L. Perlitt, Neukirchen-Vluyn 1981, 338. Vgl. DERS./W. Schrage, Frau und Mann (KTB 1013: BiKon), Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1980, 60ff. 20 Vgl. etwa J.-P. ROUX, Art. “Blood” in: EncRel(E) 2 (1987) 254–256; D. L. CARMODY, Biblical Woman, New York 1989, 15–21. 21 W. SCHRAGE, Frau und Mann, a.a.O. (Anm. 19), 106f.; vgl. L. SCHÄPPI, Die Stellung der Frau im Judentum, im Islam und im Christentum. Ein Vergleich, Judaica 32 (1976) 107f.; G. MAYER, Die jüdische Frau in der hellenistisch-römischen Antike, Stuttgart/Berlin/Köln/ Mainz 1987. 22 Vgl. etwa die Belege bei SCHÄPPI, Stellung, a.a.O. (Anm. 21), 104f.
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dem eigentlichen kultischen Geschehen in nachbiblischer Zeit. Zur Zeit Jesu gab es im herodianischen Tempel einen eigenen Frauenvorhof, der weiter vom Opfer entfernt war als der Vorhof der freien Männer. Im Synagogengottesdienst des späteren Judentums wurden die Frauen auf die Empore verbannt, wurden somit Betrachter des Gottesdienstes, während Torastudium, Gebet und religiöser Gehorsam Aufgabe der Männer blieb. Umgekehrt hatte es für das frühe Christentum mehr als nur rituelle Folgen, als es sich im Blick auf die große Zahl der hinzugekommenen Heidenchristen von den Reinheitsgesetzen des Alten Testaments trennte (vgl. Apg 10). Zwar war damit die gesellschaftliche Unterordnung der Frau nicht einfach aufgehoben, wohl aber war die Voraussetzung dafür gegeben, dass ein Paulus sagen konnte: „Ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau: denn ihr seid allesamt eins in Christus Jesus“ (Gal 3,27f.).
2. Ein sehr anderes Bild vom Verhältnis von Frau und Mann ergib sich, wenn man auf die alttestamentlichen Texte schaut, die von ihm reden, d.h. auf ihren Inhalt und besonders ihre Intention. Dies Texte zeichnen ein sehr buntes Bild und geben keineswegs den Eindruck wieder, als sei die Frau „Besitz des Mannes“ und auf ihr Rolle als Heimchen am Herd festgelegt gewesen. Wir finden eine besonders machtlüsterne Frau unter den Königen, deren Schreckensherrschaft gefürchtet war (Athalja). Wir finden mehrfach Frauen unter den Propheten; insbesondere war es eine Prophetin mit Namen Hulda, die die große Erneuerungsbewegung zur Zeit des Propheten Jeremia in Gang setzte, die sich auf das Deuteronomium (das 5. Buch Mose) stützte und die theologische Entwicklung der gesamten Spätzeit des Alten Testaments geprägt hat. Wir finden wiederholt Frauen in der Rolle, dass sie durch ihren außerordentlichen Mut und ihre Leidenschaft einen Krieg entscheiden und das Geschick ihrer Generation zum Besten lenken (vgl. besonders die Bücher Esther und Judith). Nun muss man bei derlei Nachrichten sogleich einschränkend hinzufügen, dass die erzählenden Texte des Alten Testaments primär natürlich nicht das Normale im Sinne des Alltäglichen festhalten, sondern das Überraschende und Außergewöhnliche. Unser modernes Suchen nach statistisch verwertbaren Prozentsätzen wird nicht befriedigt. Andererseits wollen die Erzähler das Außergewöhnlich keineswegs nur um seiner selbst willen festhalten, sondern um seiner Vorbildfunktion willen. Ich wähle als ein erstes Beispiel die wichtigste Schlacht der Frühzeit Israels, deren Bedeutung allein schon daraus erhellt, dass sie in Gestalt eines Pro-
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saberichtes und einer poetischen Dichtung überliefert ist, was sonst nur für die Rettung Israels am Schilfmeer (Ex 14f.) gilt. Historisch war die Schlacht von Ri 4–5 von überragender Bedeutung, weil sie die politische Einheit Israels und damit Israels Staatenbildung vorbereiten half, schuf sie doch vermutlich erstmalig eine ständige Verbindung zwischen den Nordstämmen Israels und den mittelpalästinischen Stämmen. Diese Schlacht also wird von einer Frau eingeleitet und von einer anderen Frau entschieden. Eingeleitet wird sie durch die Initiative der Prophetin Debora, die nach der Überlieferung gleichzeitig das höchste Regierungsamt (das sog. „Richtertum“) innehatte, die – wie so manche Propheten nach ihr – einen Helden berief und ihn im Namen Gottes zur Tat ermutigte. Ausdrücklich wird nun erzählt, dass sich dieser Berufene, Barak, nur unter der Bedingung zur Tat bereit fand, dass Debora mit ihm in die Schlacht zog. Sie tat es, aber nicht, ohne darauf hingewiesen zu haben, dass der Ruhm nicht ihm, dem kämpfenden Helden, sondern ihr, der lenkenden Frau, zufallen werde. Abgeschlossen wird die Schlacht ebenso von einer Frau, die dazu nicht einmal Israelitin ist. Jael, die Keniterin, mit Israel im gemeinsamen Gottesglauben verbunden, tötet den kanaanäischen Heerführer, als er bei ihr Unterschlupf sucht. Das poetische Epos, einer der ältesten Texte des Alten Testaments, besingt in großer Breite den Ruhm der beiden Frauen; kein Mann – mit Ausnahme Davids und allenfalls Gideons – wird vergleichbar gerühmt. Die Prophetin Debora erhält zudem den Ehrennamen „Mutter in Israel“; ein analoger Ehrenname ist nie von einem Mann überliefert. Man bedenke, dass dieser Ehrenname in Analogie zum Ehrennamen Evas „Mutter alles Lebenden“ gewählt ist. Wozu dient diese Hervorhebung der Taten von Frauen? Das gesamte Alte Testament, von der Frühzeit bis zur Spätzeit, ist geprägt von einem tiefen Misstrauen gegenüber männlichem Heldentum. Niedergelegt ist das etwa in der paradigmatischen Erzählung von David und Goliath. In ihr stehen sich zwei grundverschiedene Menschen gegenüber: auf der einen Seite der Riese Goliath in modernster Rüstung, Symbol höchster, scheinbar unbesiegbarer menschlicher Macht, und auf der anderen Seite der kleine Hirtenjunge David, scheinbar hilflos mit seiner Hirtenschleuder, aber mit der Kenntnis des Namens Jahwes ausgerüstet, auf den er sich beruft. Natürlich ist 1Sam 17 kein absichtsfreier, objektiver Bericht, sondern eine Erzählung, die Vertrauen auf Gott und Misstrauen gegenüber menschlichem, besonders männlichem Machtwillen wecken will. Noch stärker wird die gleiche Tendenz in einer Gideonerzählung greifbar. Hier sammelt Gideon Freiwillige um sich, um gegen die eingefallenen Midianiter zu kämpfen. Es werden insgesamt 32 000 Aber Gott nötigt ihn dazu, zuerst 22 000, dann von den letzten 10 000 noch einmal 9 700 nach Hause zu schicken, indem nur diejenigen Krieger akzeptiert werden, die wie Hunde das Wasser lecken. Natürlich ist auch Ri 7 kein historischer Bericht, sondern eine sehr tendenziöse Erzählung. Sie nennt die Intention selbst im Gotteswort: „Zu
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zahlreich ist das Volk, das bei dir ist, als dass ich die Midianiter in seine Hände geben könnte. Israel könnte sich sonst rühmen gegen mich und sagen: Meine eigene Hand hat mich gerettet!“ (Ri 7,2). So müssen von den 32 000 Mann, die kämpfen wollten, 31 700 heimkehren, damit klar ist, wem der Sieg zu verdanken ist und wem nicht. Darum also spielen in manchen Kriegserzählungen Frauen eine so große Rolle: Im Falle ihres Handelns ist evident, dass nicht militärisches Training, nicht menschliche Kraft und Macht zur Rettung führt; vielmehr soll Israel an den Taten seiner Frauen lernen, dass es seine Bewahrung in Nöten Gott zu verdanken hat. Analoges gilt auf einem verwandten Gebiet: Männer gelten im Alten Testament als weit gefährdeter als Frauen, wenn es um die Sorge für sich selbst, wenn es um Egoismus geht. Das erste Beispiel, das das Alte Testament für diese Problematik bietet, ist zugleich die erste Erzählung vom Erzvater Abraham, nachdem er im Gehorsam gegenüber Gottes Aufforderung von Haran nach Kanaan gezogen war. Hier wird eingangs erzählt, wie Abraham und Sara um einer Hungersnot willen nach Ägypten verschlagen werden (Gen 12,10). Unterwegs ergreift Abraham Angst um sein Leben, weil er sich verdeutlicht, wie schön seine Frau Sara ist und wie lüstern die Ägypter sind; sie könnten ihn töten wollen, um sich Sara nähern zu können, und daher bittet Abraham seine Frau, sich als seine Schwester auszugeben. Scheinbar geht dieser Plan vorzüglich auf, denn Abraham wird um Saras willen in Ägypten mit Geschenken überschüttet, als der Pharao Sara in seinen Harem nimmt (V.11–16). An dieser Stelle aber stört Gott die Idylle und erweist sich als Spielverderber, indem er den Pharao und die Ägypter plagt „um Saras, Abrahams Frau, willen“ (V.17). Man darf die alte Erzählung nicht überstrapazieren und fragen, inwiefern der Pharao in der Folge aus Gottes Plagen spürt, dass er im Begriff ist, sich an der schönen Sara zu versündigen. Wesentlich ist der Erzählung allein, dass Gott „um Saras willen“ gegen die Ägypter eingreift. Der große Abraham war durchaus zufrieden, als es ihm in Ägypten gut ging und seine vermutete Lebensgefahr beseitigt war. Das Geschick Saras scheint ihn nicht beunruhigt zu haben. Gott aber fragt genauso nach Sara wie nach Abraham und kann keine Lösung billigen, die Abraham ins Glück versetzt auf Kosten Saras, die doch einmal Ahnmutter Israels werden soll. So ist das erste, was das Alte Testament vom großen Abraham erzählt, nachdem er in Palästina angekommen ist, wie er in Gleichgültigkeit gegenüber Saras Wohlergehen für sein eigenes Glück sorgt, wie aber gleichzeitig Gott sich ein solches selbstsüchtiges Denken nicht gefallen lässt, sondern zugunsten Saras eingreift. Abraham aber – das ist der eigentliche Zielpunkt des Textes – gefährdet mit seiner Egozentrik nicht nur Sara, sondern mit Sara auch die Ägypter, bei denen Sara und er zu Gast sind. Verheißen war ihm, als er nach Kanaan zog, dass in ihm, Abraham, „alle Sippen der Erde Segen finden sollen“ (Gen 12,3) – sein
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erstes eigenes Handeln schafft das genaue Gegenteil: die Gefährdung der Ägypter durch den Schlag Gottes um Saras willen. So gibt es für diese Erzählung kein größeres Hindernis für Gottes Heil mit den Menschen als den Egoismus des Ahnvaters. Gleichzeitig spiegelt diese Erzählung damit die ungeheuer nüchterne Sicht des Menschen im Alten Testament wider, erzählt doch dieses biblische Israel immer auch von sich selbst, wenn es von seinem Ahnvater erzählt. Dergleichen aber wird nie von der Ahnmutter erzählt, sowenig sie idealisiert wird (man vergleiche etwa die Erzählung der Vertreibung ihrer Magd Hagar in Gen 16). Daher kann man wohl sagen, dass sich die gesellschaftliche Unterordnung der Frau auch in den Erzählungen des Alten Testaments widerspiegelt, insofern primär Männer handeln; aber sie schlägt sich – gemäß dem biblischen Menschenbild – dahingehend nieder, dass mit der höheren Verantwortung des Mannes das höhere Maß seiner Gefährdung und das höhere Maß des Scheiterns an seiner Aufgabe in den Blick kommt. Die schönsten biblischen Texte zum Verhältnis von Frau und Mann sind mit dem allen noch nicht genannt. Sie stehen im Hohen Lied, hebräisch „Lied der Lieder“ genannt, d.h. allerschönstes Lied. In den Kanon gekommen sind diese herrlichen Liebeslieder vermutlich nur darum, weil man sie allegorisch auszulegen begann, d.h. als Lieder über die Beziehung Israels zu Gott, wie später auch die frühchristliche Gemeinde in diesen Liedern das Verhältnis zwischen Christus und Gemeinde besungen fand23. Von Haus aus aber preisen sie die Liebe zwischen Frau und Mann in ständig wechselnden Bildern und Gleichnissen. Sie feiern die Liebe zwischen zwei Menschen als ein immer neu zu bestaunendes Wunder, und sie finden angesichts dieses Wunders keine Zeit zu tiefsinnigen Erörterungen über gesellschaftliche Auswirkungen der Zweierbeziehung oder gar über die gesellschaftliche Ermöglichung ihres Zustandekommens. Ungewöhnlich an diesen sehr freien Liebesliedern ist ein Doppeltes: 1) Es sind überwiegend Lieder, die nicht die Liebe in der Ehe besingen, sondern die Liebe auf dem Weg zur Ehe; teilweise sind es Hochzeitslieder, teilweise aber auch durchaus freie Liebeslieder. 2) Zudem besingt nicht nur der Mann die Schönheit des geliebten Mädchens, sondern ebenso auch das Mädchen die Schönheit ihres Geliebten; es gibt auch Wechselgespräche zwischen beiden. Die Initiative zur Verbindung geht dabei weit häufiger vom Mädchen aus. Für die Freude an sinnlicher Schönheit soll ein Beispiel dienen (Hhld 8,1ff.): O wärest du mir wie ein Bruder, an der Brust meiner Mutter genährt! 23 Anders W. RUDOLPH, Das Buch Ruth. Das Hohe Lied. Die Klagelieder (KAT 17), Gütersloh 1962, 82–84.
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Träfe ich dich auf der Straße, ich könnte dich küssen, und niemand dürftʼs mir verargen! Ich würde dich führen, dich bringen ins Haus meiner Mutter24. Du würdest mich lehren, ich gäbe dir Würzwein zu trinken, meinen Granatapfelmost. Seine Linke (greift) unter mein Haupt, seine Rechte umfängt mich. Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems, was wollt ihr wecken und stören die Liebe, ehe ihr selbst es gefällt!
In solchen Liedern gehören Liebesfreuden wie Brot- und Weingenuss zu den Gaben Gottes, die er in eine herrliche Welt hineingegeben hat25.
3. Die einzige Stelle, an der das Alte Testament programmatisch vom Verhältnis der Geschlechter zueinander redet, ist die berühmte Paradieserzählung Gen 2– 3 an ihrem Anfang. Dieser Text ist aus zwei Gründen schwer auszulegen. Zum einen ist er im Christentum vorgeprägt durch eine Wirkungsgeschichte, die bei Paulus begann und in Auslegungen Augustins ihren Höhepunkt fand. Diese Wirkungsgeschichte ist für ein unvoreingenommenes Lesen des Textes in seinem Primärsinn darum so hinderlich, weil sie den Text von seinem inneralttestamentlichen Kontext isoliert hat, indem in Röm 5 eine Existenz in Adam einer Existenz in Christus gegenübergestellt wurde. Inneralttestamentlich aber ist der Text fest in seinen Kontext eingebunden; er ist bezogen auf die Schuld Kains in Gen 4, auf die Sintflut in Gen 6–8 und auf Abraham als Gegenbild zu Adam in Gen 12,1–3. Die zweite Erschwernis der Auslegung besteht darin, dass der Text mit seiner Fülle an Symbolen (Rippe, Frucht, Schlange usw.) scheinbar einer Fülle von Deutungen offensteht. Es gibt denn auch keinen zweiten alttestamentlichen Text, der sich bis in die Gegenwart so viele unsinnige und absurde Auslegungen hat gefallen lassen müssen wie eben Gen 2–3. 24
Vgl. dazu das oben zu 1,1 Ausgeführte sowie CRÜSEMANN, Die Frau, a.a.O. (Anm. 15),
87. 25 So H. W. WOLFF, Anthropologie des Alten Testaments, München 1973, 252f., von dem auch die Übersetzung übernommen ist. Vgl. zur Sache bes. O. KEEL, Deine Blicke sind Tauben. Zur Metaphorik des Hohen Liedes (SBS 114/115), Stuttgart 1984. – In der Weisheitsliteratur reichen die Beurteilungen der Frau aus der Perspektive des Mannes von der Warnung vor ihren Verführungen (bes. in Spr 1–9) bis zum Lob der klugen Frau als einer unvergleichlichen Gabe Gottes (z. B. Spr 18,22; 19,14; 31,10–31).
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Welche methodischen Mittel gibt es, um den vielen willkürlichen Deutungen nicht noch eine weitere hinzuzufügen 26 ? Es sind m.E. vornehmlich zwei: 1) die Beachtung des Erzählrahmens; 2) die Beachtung der Gesprächssituation des Textes. 1) Wie viele andere Schöpfungserzählungen im Alten Orient beginnt Gen 2–3 mit „Noch nicht“-Sätzen, also mit der Nennung von Dingen, die zu Beginn der Erzählung nicht vorhanden sind, an ihrem Ende aber für jeden Leser selbstverständliche Objekte seiner Erfahrung sind. Während aber übliche altorientalische Mythen Himmel und Erde als Subjekt solcher „Noch nicht“Sätze nennen, sind es in Gen 2,5 nicht die wesentlichen Teile des Weltganzen, sondern Nutzpflanzen und schädlicher Wildwuchs, d.h. genau diejenigen Gegebenheiten, die am Ende der Erzählung – und zwar nach der Vertreibung der Menschen aus dem Garten – für jeden palästinensischen Ackerbauer zu seinem Alltag gehören. Schon der Anfang der Paradieserzählung hat also die Zeit nach dem Paradies im Blick27. Die Erzählung will nicht zur Spekulation einladen, wie alles geworden wäre, hätte der Mensch nicht auf die Schlange gehört, sondern sie will versuchen zu erklären, warum der Mensch voller Mühsal lebt – der Mann in der Mühsal seiner Arbeit, die Frau in der Mühsal der Geburt –, obwohl doch Gottes Schöpfung gut ist. Man hat die Erzählung daher zu Recht eine „Theodizee universalen Ausmaßes“ genannt (Joh. Hempel), insofern Gott nach Gen 2–3 die Mühsal und Beschwernis des Lebens nicht von sich aus in die Welt eingestiftet hat, sondern der Mensch sie sich selber, d.h. seinem Willen zur Lösung aus Gottes Fürsorge, zuzuschreiben hat. 2) Die zweite methodische Absicherung ist noch wichtiger. Die Erzählung in Gen 2–3 ist bei genauem Hinsehen voller polemischer Aussagen, d.h. sie ist ein Stück Auseinandersetzungsliteratur. Sie entwickelt ihr Weltbild nicht im luftleeren Raum, sondern im Gespräch mit anderen Deutungen der Welt, die ihr schon vorgegeben waren. Solche vorgegebenen Inhalte waren etwa der Mythos vom Gottesgarten (vgl. Ez 28), verschiedene Mythen mit dem Thema des Gottesneides, wie sie sich noch in Gen 3,23 indirekt widerspiegeln („Sieh, der Mensch ist geworden wie einer von uns: dass er nun ja nicht auch noch …“) usw.28. Für den uns interessierenden Abschnitt in Gen 2–3 war es insbesondere das Gilgamesch-Epos, das den Gebildeten des Vorderen Orients 26 Zur vielfach frauenfeindlichen Wirkungsgeschichte des Textes vgl. H. SCHÜNGELSTRAUMANN, „Von einer Frau nahm die Sünde ihren Anfang?“, in: E. Moltmann-Wendel (Hg.), Weiblichkeit in der Theologie, Gütersloh 1988, 31–55; H. KUHLMANN, Freispruch für Eva?!, BThZ 7 (1990) 36–50. 27 Das hat insbesondere O. H. STECK, Die Paradieserzählung (BSt 60), Neukirchen-Vluyn 1970 (wieder abgedruckt in: DERS., Wahrnehmungen Gottes im Alten Testament [TB 70], München 1982, 9–116) aufgewiesen. 28 Vgl. W. H. SCHMIDT, Die Schöpfungsgeschichte der Priesterschrift (WMANT 17), Neukirchen-Vluyn 1973, 194ff. und STECK, Paradieserzählung, a.a.O. (Anm. 27), 41f.
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bekannt war, wie sein zweifacher Fund bei Ausgrabungen in Syrien-Palästina zeigt. Doch davon später. Für den Sinn der Erzählung selber ist von zentralem Gewicht, wie sie das ideale Einst (der Schöpfung Gottes) der Erfahrung der Gegenwart (aufgrund der menschlichen Schuld) entgegenstellt. Das ideale Einst ist zunächst geprägt von dem Lebensraum, den Gott dem Menschen schenkt, nachdem er ihn soeben erschaffen hat. Es ist ein üppiger Garten, ein herrlicher Hain, der ganz für den Menschen da ist, im dürren Palästina etwas unüberbietbar Kostbares; aber es ist kein Schlaraffenland, denn der Mensch muss diesen Garten bearbeiten. Allerdings darf er ihn ohne Mühe und Leid, sozusagen zweckfrei bearbeiten und so das von Gott für ihn Geschaffene bewahren. Gott ist es dann auch – und nicht der Mensch selber – der sieht, dass dem Menschen etwas Entscheidendes fehlt: ein Gegenüber. Der Erzähler nennt dieses Gegenüber „eine Hilfe, die ihm genau entspricht“ 29 . Der einsame Mensch ist nicht das Ziel der Wege Gottes; Einsamkeit ist vielmehr als Hilflosigkeit verstanden wie so oft in den Psalmen; „Hilfe“ meint das Mittel, das diese Not beseitigt. In zwei Stadien geschieht die Beseitigung der Not. Zunächst führt Gott dem Menschen die Tiere zu, die nützlich sind und die er benennen darf, d.h. über die er herrschen kann, indem er sie seinen Bedürfnissen eingliedert. Aber die „Hilfe, die ihm genau entspricht“, sind diese Tiere nicht und können es nicht sein. Erst in einem zweiten Akt wird dem Menschen wirklich geholfen. Es kommt zu einem scheinbar anschaulichen Vorgang, bei dem dem Menschen im Tiefschlaf eine Rippe entnommen wird. Diese vielbelächelte Vorstellung besagt ein Doppeltes: a) Die Frau ist dem Mann gegenüber nicht ein andersartiges Wesen wie die Tiere, die Gott neu geschaffen hat, sondern sie ist ihm darin genau entsprechend, dass sie ein Teil seiner selbst ist. Bis zu diesem Ereignis hat der Erzähler einen Ausdruck für Gottes Gegenüber gebraucht, der für den Menschen im Allgemeinen gilt; jetzt erst, wo die Frau gebildet wird, ist vom Mann die Rede. Es geht dem Text um eine Gemeinschaft, die enger ist als die von Eltern und Kindern (vgl. Gen 2,24: „Darum verlässt der Mann Vater und Mutter, um seiner Frau anzuhangen – und sie werden ein Fleisch“). b) Der Tiefschlaf soll zudem sagen, dass der Mensch den Akt, in dem er sozusagen zur Zweiheit ausgebaut wird, nicht selbst miterlebt, sondern ihn als ein Geheimnis Gottes erfährt und nur entgegennehmen kann. Am Ende dieses Aktes aber bricht der Mensch in Jubel aus mit einem Satz, der als „Bräutigamsjubel“ bei jeder Hochzeit neu erklingt: „Die ist nun wirklich Gebein von meinem Gebein, Fleisch von meinem Fleisch …“: Begriffe, die von Haus aus 29
Die Übersetzung Luthers: „eine Gehilfin …, die um ihn sei“ führt fremde Assoziationen in den Text ein und hat die Wirkungsgeschichte des Textes im Protestantismus stark beeinflusst.
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engste Verwandtschaft kennzeichnen. Jubelnd erkennt der Mensch, dass seine Einsamkeit ein Ende hat. Die ganze Episode schließt mit einem sehr bedeutungsvollen Wort: „Die beiden aber waren nackt, der Mensch und seine Frau; jedoch schämten sie sich voreinander nicht“. Bedauerlicherweise ist dieser Satz in zahlreichen Bibelübersetzungen, z.B. sowohl in der Luther- als auch in der Zürcher Bibel, unpräzise übersetzt, indem das unterstrichene Wort nicht wiedergegeben ist. Der Satz zielt auf die Fortsetzung der Erzählung nach der Verschuldung der Menschen. Jetzt schämen sich die Menschen voreinander. Im Urtext geht es nicht um ein Gefühl (wie im Deutschen: Ich schäme mich), sondern um einen Verhältnisbegriff („Sie schämten sich nicht voreinander“). Was Gen 2,25 beschreiben will, ist nichts anderes als eine ungestörte heile Lebensgemeinschaft, die ohne jegliche Spannungen und Hemmungen besteht. Solche intakte, ungetrübte Gemeinschaft erfährt der Mensch nach Gen 3 in seiner gegenwärtigen Welt nicht mehr. Jetzt ist alle Gemeinschaft durch Hemmungen und Spannungen belastet. Hinzu kommen die Strafverfügungen Gottes über Mann und Frau. Während der Mann zukünftig seine Arbeit nur noch gebrochen genießen kann, d.h. nicht ohne zahlreiche Vergeblichkeitserfahrungen, wird der Frau eine untergeordnete gesellschaftliche Stellung zugewiesen. Dieser Satz ist bei näherem Zusehen von aufregender Modernität. Denn er besagt nichts anderes, als dass die Unterordnung der Frau unter den Mann für den Erzähler ein Akt der Strafe für menschliche Schuld ist, nicht aber ein Teil der guten und sinnvollen Schöpfung Gottes. Der Erzähler nimmt die Unterordnung der Frau zwar als eine Gegebenheit hin, ohne die er sich seine Welt nicht vorstellen kann. Aber er betont in auffälliger Deutlichkeit, dass die patriarchale Gesellschaftsordnung nach-paradiesisch ist. Das ist im ganzen Alten Orient eine analogielose Aussage, da ebendiese Ordnung gemeinhin als Schöpfungsordnung gilt, d.h. dem göttlichen Willen entspricht, von Gott geschützt und sakrosankt ist. Wie für den Menschen, der Gott entthront hat (das meint in Gen 3 das „Sein wie Gott“, das der Mensch erstrebt), die Gemeinschaft mit den Tieren zerbricht – paradigmatisch am Fall der Schlange exemplifiziert, die für den palästinensischen Bauern lebensgefährlich ist –, so zerbricht auch das Verhältnis zwischen Frau und Mann nicht nur im privaten Bereich („Scham voreinander“), sondern auch in der gesellschaftlichen Ordnung. Zwar erklingt noch immer wie am Anfang der Hochzeitsjubel; aber der Mensch kann alle guten Gaben Gottes nur noch reduziert wahrnehmen. Weil sein Gottesverhältnis zerbrochen ist, ist auch sein Verhältnis zu den anderen Menschen und zu den Tieren nicht mehr intakt. In der gesellschaftlichen Unterordnung der Frau kommt für den Erzähler die zerstörte Gemeinschaft zwischen – nicht etwa speziell der Frau und Gott, sondern – dem Menschen und Gott deutlich zum Ausdruck. Im vollen Sinne sprechend wird dieser Bericht über das ideale Einst der ungehemmten Gemeinschaft zwischen Frau und Mann und das mühevolle
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Jetzt in Hemmungen und Spannungen aber erst auf dem Hintergrund der Tradition, mit der Gen 2–3 im Gespräch steht, wie sie in Gestalt des GilgameschEpos greifbar ist. Auch im Gilgamesch-Epos ist von einem „Urstand“ die Rede, der sich von den Erfahrungen der Gegenwart unterscheidet. Aber die Intention des Textes geht in völlig andere Richtung. Die Rede ist von dem kraftvollen Enkidu, der anfangs mit den Tieren lebt, sich wie die Tiere kleidet und mit den Tieren zur Tränke geht. Seine Gegenwart bei den Tieren schützt diese vor der tödlichen Gefahr der Jäger. Die Jäger aber verfallen auf eine List, die ihnen Gilgamesch empfohlen hat. Sie wollen Enkidu eine Tempeldirne zuführen und erhoffen sich dann Folgendes: Geh, Jäger, hol dir eine Tempeldirne! Wenn er das Wildgetier zur Tränke führt, soll sie sich ausziehn und sich nackt ihm bieten. Erblickt er sie, so wird er sich ihr nahn. Von da an aber wird das Wildgetier, das in der Steppe aufwuchs, vor ihm fliehn!
Dieser Plan des Gilgamesch gelingt, und der Text fährt folgendermaßen fort: Sechs Tage, sieben Nächte gingen hin, da Enkidu die Tempeldirne liebte, bis er an ihren Reizen sich gesättigt. Dann wandte er den Blick nach seinen Tieren. Doch nun, als die Gazellen Enkidu erblickten, flohen sie vor ihm davon, das Wild der Steppe wich vor ihm zurück, und Enkidu erschrak, sein Leib ward starr, die Kniee wankten, da sein Wild ihn floh. Schwach ward er, und es war nicht wie zuvor, doch hatte er nun Wissen; er begriff. Umkehrend sank er zu der Dirne Füßen, erhob zu ihrem Antlitz seine Augen und hörte auf die Worte, die sie sprach. Es hub die Dirne an zu Enkidu: „Klug bist du, Enkidu, nun wie ein Gott! Was läufst du jetzt noch nach dem Wildgetier Lass mich dich führn nun zum umwallten Uruk …; denn dort weilt Gilgamesch, der starke Held, der wildstiergleich die Männer übertrifft!“ Recht fand er, was sie sprach. Er sehnte sich nach einem Freunde, der sein Herz verstand30.
Die Berührungen des Textes mit Gen 3 (Enkidus „Wissen“, das ihn „klug wie ein Gott“ sein lässt u.a.) sind offensichtlich; die Unterschiede sind jedoch ungleich gewichtiger. Im Gilgamesch-Epos wird der „Urstand“ Enkidus in 30 Übersetzung von H. SCHMÖKEL, Das Gilgamesch Epos, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1966, 30–32.
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Schöpfung und Verantwortung nach dem Alten Testament
zwei Stadien in die Erfahrung der Gegenwart überführt: einmal durch die Dirne, zum anderen durch die Freundschaft des Mannes mit dem Mann. Sexuell ist der Mann an die Frau gebunden. Jedoch ist die Dirne und damit die Sexualität mit der Frau im Allgemeinen bei der Suche des Mannes nach sich selbst nur ein Durchgangsstadium. Erst beim Mann gelangt er voll zu seinem Wesen. Das Verhältnis des Mannes zur Frau ist ganz auf die Sexualität beschränkt; das wahre Gegenüber findet der Mann erst im Mann, findet Enkidu in Gilgamesch. Im Gespräch mit dieser Tradition wird das Ungewöhnliche der biblischen Paradieserzählung erkennbar. Auch sie erzählt aus der Perspektive des Mannes. Aber sie bestreitet diesem Mann, dass er – bei aller idealen Arbeit – zum Glück fähig ist ohne die Frau. Die Erzählung zeichnet dieses Glück als harmonisch-ungetrübtes Verhältnis zwischen Frau und Mann. Sie leugnet zusätzlich, dass die gesellschaftliche Unterordnung der Frau (mit der sie als Erfahrungstatsache nüchtern rechnet) Gottes Willen entspricht und sieht in ihr vielmehr die Strafe für die Schuld der Gottentfremdung, die der Strafe des Mannes entspricht, dass er bei aller Arbeit Vergeblichkeitserfahrungen machen muss. Die Erzählung hofft damit auf eine Welt, in der mit einer neu gelingenden Gottesbeziehung auch das Verhältnis zwischen den Geschlechtern ohne Hemmungen und ohne Spannungen neu gelingt. Das aber würde dann eine Welt sein, in der die Arbeit des Menschen wieder ihren idealen – zweckfreien – Charakter gewönne und zugleich die gesellschaftliche Unterordnung der Frau aufgehoben wäre. Die patriarchale Gesellschaftsordnung steht in Gen 2–3 der Schöpfungsabsicht Gottes entgegen; sie ist Widerspiegelung der Schuld des Menschen, ist Folge seiner Gottesferne.
Probleme alttestamentlicher Gottesbilder
8. Gottes Zorn – eine unbeliebte Gottesaussage des Alten Testaments1 Ein Altes Testament ohne die Rede vom Zorn Gottes ist undenkbar. Sie begegnet in allen drei Kanonteilen, insgesamt mehr als 500 Mal. Dennoch wird der Zorn Gottes – wie andere, dem modernen Christen als eher peinlich erscheinende Gottesaussagen des Alten Testaments, etwa „Rache“ und „Eifersucht“ Gottes – in der gegenwärtigen Theologie in allen ihren Sparten üblicherweise möglichst umgangen. Große Theologen wie Friedrich Schleiermacher und Albrecht Ritschl haben programmatisch zu begründen versucht, warum für Christen der Zorn Gottes eine überholte und zu verabschiedende Kategorie sei2. Sie haben auf einer anderen Ebene modifiziert wiederholt, was zahlreiche frühe Theologen der Kirchengeschichte im Anschluss an die stoische Philosophie (und besonders an den frühesten Ketzer der Kirchengeschichte, Marcion) als wesentlichen Anstoß alttestamentlicher Rede von Gott empfunden haben: dass Gott Affekte und Leidenschaften äußern könne oder gar leidensfähig sei3. Und doch ist zwischen beiden Abwertungen des Alten Testaments zu unterscheiden. Die letztgenannte frühe Kritik dachte von einem philosophischen Gottesbegriff aus und traf biblisches Denken im Mark. Wenn Gott affektlos ist, ist auch alle Rede von der Liebe Gottes ausgeschlossen (bzw. rein metaphorisch zu deuten). Dann ist Gott ein höchstes Prinzip, das zu einer Anteilnahme an menschlichem Tun und Ergehen unfähig ist. Die sog. Anthropopathismen sind für die biblische Rede von Gott nicht nur unumgänglich, sondern vom Wesen Gottes her notwendig 4 . Demgegenüber wollen Schleiermacher 1
Es handelt sich im Folgenden um eine vereinfachende Kurzfassung meiner Studie „Der Zorn Gottes im Alten Testament. Das biblische Israel zwischen Verwerfung und Erwählung“ (BThSt 104), Neukirchen-Vluyn ²2011. 2 Vgl. W. SCHÜTTE, Die Ausscheidung der Lehre vom Zorn Gottes in der Theologie Schleiermachers und Ritschls, NZSTh 10 (1968) 387–397. 3 Vgl. etwa den Satz des jüdischen Philosophen Philo von Alexandria in seinem Werk „Quod Deus sit immutabilis“: „Menschlicher Schwachheit ist es eigen zu zürnen, Gott aber besitzt weder die unvernünftigen Leidenschaften der Seele noch überhaupt die Teile und Glieder des Körpers …“ (Übers. nach H. LEISEGANG, Die Werke in deutscher Übersetzung, Bd.4, Berlin 1962, 84). Den Einfluss Marcions auf die frühe christliche Theologie hat vor allem M. POHLENZ, Vom Zorne Gottes. Eine Studie über den Einfluss der griechischen Philosophie auf das alte Christentum (FRLANT 12), Göttingen 1909, nachgewiesen. 4 Zu diesem Problemkreis gibt es sehr hilfreiche Literatur; ich nenne nur exemplarisch A. J. HESCHEL, The Prophets, Vol II, New York/London 1962, Kap. 1–6; U. MAUSER, Got-
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Probleme alttestamentlicher Gottesbilder
und Ritschl mit dem Neuen Testament gegen das Alte Testament argumentieren. Sie leisten damit dem häufig anzutreffenden populären Missverständnis eine Stütze, dass der Zorn Gottes die alttestamentlichen, die Liebe Gottes aber die neutestamentlichen Gottesaussagen präge. Hier wie dort wird verkannt, dass auch im Neuen Testament der Zorn Gottes breit belegt ist, ja dass sich die grundsätzlichste Darlegung zum Thema im Römerbrief des Paulus findet. Ein theologisches Reden von Gott unter Umgehung seines Zornes erbringt ein amputiertes Gottesbild, das alle Härten und Kanten der biblischen Gottesaussagen beseitigt und zu einem verharmlosenden Gottesbild führt5. Dabei beruht eine Vielzahl von Schwierigkeiten, die moderne Leser mit dem Thema des Zornes haben, auf Missverständnissen. Zum einen hat man zumeist kaum berücksichtigt, dass sich bei allen Anthropopathismen, wenn sie auf Gott übertragen werden, ihr Sinn entscheidend verändert. Im Fall des Zornes gilt dies insbesondere für die Assoziation der blinden Wut, in der Menschen ihr Handeln nicht mehr zu kontrollieren vermögen, blindlings dreinschlagen bzw. tradierte Maßstäbe überschreiten und Regeln verletzen. Gottes Zorn ist in der Mehrzahl der Belege sorgsam begründet. Zum anderen hält man üblicherweise das mit dem Zorn Gemeinte für ein festliegendes, klar umrissenes Konzept, während in den alttestamentlichen Texten schon die Tatsache, dass das Hebräische ein gutes Dutzend Begriffe für das kennt, was wir nur sehr unvollkommen mit „Zorn“ oder „Grimm“ übersetzen können, darauf hinweist, dass in den Texten ein behutsames, tastendes Ringen um ein angemessenes Reden vom Zorn Gottes stattfindet, das nur einen festen Ausgangspunkt kennt: die Differenzierung zwischen Zorn und Strafe (siehe sogleich). In seiner Unterscheidung zwischen den verschiedenen Epochen der Anfangszeit (Mose), der Richterzeit und der Staatenzeit verwendet das deuteronomistische Geschichtswerk (künftig: DtrG) sehr bewusst drei völlig verschiedene Begriffe für den Zorn, um auszudrücken, dass es sich jeweils um sehr unterschiedliche Erfahrungen mit der abgewandten, dunklen Seite Gottes handelte6. Zum dritten hat man selten wahrgenommen, dass auch das Alte Testament tesbild und Menschwerdung (BHTh 43), Tübingen 1971, 18ff.; H.-J. HERMISSON, Alttestamentliche Theologie und Religionsgeschichte Israels (ThLZ.F 3), Leipzig 2000, 89–98. 5 Darauf haben in jüngster Zeit vor allem katholische Exegeten und Systematiker mit Recht verwiesen; vgl. bes. W. GROSS, Zorn Gottes – ein biblisches Theologumenon, in: W. Beinert (Hg.), Gott – ratlos vor dem Bösen? (QD 177), Freiburg 1999, 47–85 = DERS., Studien zur Priesterschrift und zu alttestamentlichen Gottesbildern (SBA.AT 30), Stuttgart 1999, 199–238; DERS., Keine Gerechtigkeit Gottes ohne Zorn Gottes, in: G. Kruck/C. Sticher (Hg.), „Deine Bilder stehn vor mir wie Namen“. Zur Rede vom Zorn und Erbarmen Gottes in der Heiligen Schrift, Mainz 2005, 13–29; U. BERGES, Der Zorn Gottes in der Prophetie und Poesie Israels auf dem Hintergrund altorientalischer Vorstellungen, Bib. 85 (2004) 305–330; J.-H. TÜCK, Der Zorn – die andere Seite der Liebe Gottes. Dogmatische Anmerkungen zur Wiederkehr eines verdrängten Motivs, ThPh 83 (2008) 385–409. 6 Vgl. dazu JEREMIAS, Der Zorn Gottes, a.a.O. (Anm. 1), Teil I, Kap. 3.
8. Gottes Zorn – eine unbeliebte Gottesaussage des Alten Testaments
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nur in äußersten Grenzfällen vom Zorn Gottes redet und keineswegs der Ansicht ist, dass jeder Mensch und jede Gemeinschaft regelmäßig in gewissen zeitlichen Abständen derartige Zorneserfahrungen macht. In diesem Zusammenhang ist die Erkenntnis von großem Gewicht, dass in der weit überwiegenden Mehrzahl der Belege – auch der prophetischen – vom göttlichen Zorn im Rückblick gesprochen wird, der Zorn also eine Hilfe für einzelne Menschen oder aber für Israel als Ganzheit ist, um Katastrophen nicht nur intellektuell zu begreifen, sondern ihnen angemessen im Lichte Gottes zu begegnen. Schließlich gilt zu bedenken, dass das biblische Israel in eine Welt eintrat, in der man schon über tausend Jahre lang vom Zorn der Götter sprach. Es musste erst allmählich lernen, welche Aspekte dieser ihm vorgegebenen Konzeption für das eigene Denken und Reden von Gott akzeptabel waren. Das wichtigste Ergebnis dieses längeren Lernprozesses war eine strikte Unterscheidung zwischen Strafe und Zorn Gottes. Gottes Strafe ist maßvoll, der Schuld entsprechend, also angemessen und begrenzt; Gottes Zorn ist das genaue Gegenteil: ohne Maße und ohne klare Grenzen, weil gemeinhin Reaktion auf schwerste, todeswürdige Schuld. Dann aber entsteht die Frage, die die Menschen zur Zeit des Alten Testaments am stärksten beschäftigt hat: Kann dieser Zorn, der keine klaren Grenzen kennt, wenn er einmal aufgeflammt ist, beliebige Zerstörungen und Katastrophen bewirken? Kann er letztendlich zur Verstoßung und Vernichtung des Gottesvolkes führen? Zwar wissen alle Texte von einer zeitlichen Grenze des Zorns, wissen zudem vom Vorrang der lebenslangen Güte Gottes, aber dieses Wissen allein bot den Menschen keine ausreichende Gewissheit, weil man, wie Hiob es am deutlichsten ausdrückt (Hi 14,13; 16,9ff.), dem Zorn nicht ausweichen und ihn nicht überleben kann. Und doch sind alle Texte des Alten Testaments der festen Überzeugung, dass Gott sein eigenes Volk nie vernichten kann, wie groß auch immer seine Schuld sei. Das Ringen der Texte um diese Überzeugung – unter der schon erfolgten Erfahrung des göttlichen Zorns – gehört zum Bewegendsten und Faszinierendsten dessen, was das Alte Testament in seinen Erfahrungen über Gott mitteilt. Christen können nur zu ihrem eigenen Schaden an diesem Ringen vorübergehen. Ich werde im Folgenden so vorgehen, dass ich zunächst das Wesen des Zorns in individuellen (1.) und in kollektiven Erfahrungen (2.) darstelle, um im Schlussteil (3.) dieses Ringen der Texte um Eingrenzungen des Zorns exemplarisch nachzuzeichnen.
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Probleme alttestamentlicher Gottesbilder
1. Gottes Zorn in der Erfahrung Einzelner Es ist nur eine Minderheit der Texte, in denen der Zorn Gottes nicht die Gemeinschaft, sondern Individuen trifft. Diese Texte stimmen mit wenigen Ausnahmen darin überein, dass es beim Aufflammen des Zorns für die betroffenen Menschen um nicht weniger als um Leben und um Tod geht. Da wird etwa der unglückliche Ussa, der die Lade Gottes schützen wollte und nach ihr griff, vom Zorn Gottes getötet (2Sam 6,6f.). Einige Psalmen beklagen, dass der Zorn Gottes sie in den Bereich des Todes gerissen hat, der auch dann nicht weniger Schrecken bereitet, wenn es ein Tod innerhalb des physischen Lebens ist, weil auch dieser Tod von Gott trennt7. Insbesondere der Beter von Ps 88, der schon „zu denen zählt, die in die Grube herabsteigen“ (V.5), ist unter dem Zorn Gottes wie einer der „Erschlagenen, die im Grab liegen, deren du nicht mehr gedenkst“ (V.6), ja mehr noch: Du hast mich in die tiefste Grube versetzt, in Orte der Finsternis, in Meerestiefen. Auf mir lastet dein Zorn, und mit allen deinen Brandungen hast du mich niedergedrückt. (V.7f.)
Aus der Verzweiflung über die bitteren Erfahrungen ist eine Anklage Gottes geworden. Kein anderer Psalm ist reicher an Todessymbolik – auch „Finsternis“ und „Meerestiefen“ sind Metaphern des Totenreiches; der Betende erfährt sein Leiden als reale Totenexistenz –, kein anderer ist ärmer an expliziten Hoffnungsaussagen. Wer wie dieser Leidende von Gottes „Zornesgluten“ getroffen, von seinen „Schrecknissen“ zum Schweigen gebracht wurde (V.17), der wagt keine Bitte um Heilung mehr, der kann nur noch täglich zu Gott „schreien“ (V.2.10), in der verborgenen Hoffnung, dass das Totenreich, in das er schon im Leben gestoßen worden ist, keine endgültige Trennung von Gott bedeutet. Weil der Zorn in den Todesbereich stößt, in dem kein Kontakt zu Gott möglich ist, beginnen zwei Psalmen (Ps 6 und 38) mit der Bitte: Herr, nicht in deinem Zorn züchtige mich, und nicht in deinem Grimm weise mich zurecht!
Beide Gebete akzeptieren das Leid, das die hier Betenden erfahren, als eine sinnvolle göttliche Erziehungsmaßnahme. Aber sie wenden sich an Gott in der Furcht, dass die göttliche Pädagogik zur „Züchtigung im Zorn“ und damit zum Tod und zur endgültigen Trennung von Gott führen könnte. Die Reaktion beider Gebete auf diese erschreckende Perspektive ist allerdings denkbar ver7 Vgl. dazu CHR. BARTH, Die Errettung vom Tode. Leben und Tod in den Klage- und Dankliedern des Alten Testament, Zürich 1947, neu hg. von B. Janowski, Stuttgart 1997. – Den Zusammenhang zwischen dem physischen Tod aller Menschen und dem Zorn Gottes bedenkt Ps 90; vgl. bes. V.7f.
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schieden: Ps 38 erhofft Heilung des Leidenden aufgrund seines Schuldbekenntnisses (V.19), Ps 6 spricht aus einer Erhörungsgewissheit heraus, die den Leidenden schon in seiner Not zu lautem, vorwegnehmendem Jubel befähigt (V.9f.). In jüngerer Zeit ist Exegeten wiederholt aufgefallen, dass nur eine Minderheit der individuellen Gebete im Psalter wie Ps 38 den göttlichen Zorn ganz selbstverständlich schwerer menschlicher Schuld zuordnet. Das hat seinen guten Grund. Wie die sogleich zu behandelnden Texte, die Gottes Zorn auf Israel als Kollektiv gerichtet sehen, deutlicher zum Ausdruck bringen, ist der Zorn keineswegs Reaktion auf jede beliebige Form von menschlicher Schuld, auf die Gott, wenn nicht vergebend, so doch mit maßvoller Strafe antwortet, sondern Reaktion auf schwerste, todeswürdige Schuld. Die Mehrzahl der Psalmen aber ist – wie später das Hiobbuch – aus einem schweren Leid heraus gesprochen, für das die Betenden im eigenen Leben keinen Anlass erkennen, da sie sich zwar vor Gott generell schuldig wissen (auch Hiob weiß wie seine Freunde, dass kein Mensch vor Gott gerecht ist), sich aber keines todeswürdigen Vergehens bewusst sind. Wo immer in den individuellen Psalmen vom Zorn Gottes die Rede ist, geht es um die Frage schwersten Leides, das sich Menschen (wie der Beter des eingangs zitierten Ps 88) nicht zu erklären wissen (und in das der Beter von Ps 38 hofft, nie hineinzugeraten), das sie aber nun Gott entgegenschreien, obwohl sie es von niemand anderem als von diesem Gott herzuleiten wissen.
2. Die Zerstörung Jerusalems und seines Tempels Die überwiegende Mehrheit der ca. 500 Belege für Gottes Zorn im Alten Testament bezieht sich direkt oder indirekt auf die Zerstörung Jerusalems und des Tempels als Wohnort Gottes. Wie die individuellen Psalmen nicht jedes Leid vom Zorn Gottes herleiten, sondern nur schwerste Leiderfahrung, so ist auch in den übrigen Texten keineswegs jedes Unglück mit Gottes Zorn in Verbindung gebracht worden, sondern primär das Unglück aller Unglücke: die Zerstörung Jerusalems, die anfangs die größere Macht des babylonischen Gottes Marduk über den Gott Israels zu erweisen schien oder aber die Verwerfung Israels durch seinen eigenen Gott. Dabei muss man sich vor Augen halten, dass 587/86 v. Chr. den damaligen Gliedern des Gottesvolkes mit einem Schlag aus den Händen gerissen worden war, worauf sich ihr Glaube zuvor gestützt hatte: Der Tempel, auf dem die Verheißung lag, dass Gott inmitten seines Volkes wohnen wolle, lag in Trümmern; der König, der als Nachfolger Davids und als Mittler zwischen Gott und Mensch die Verheißung ständigen Schutzes Gottes trug (2Sam 7), war gefangen genommen worden; schlimmer noch: Das Land, unter dessen
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göttlicher Zusage die Erzväter und Mose aus der Fremde aufgebrochen waren, war in den Händen der Babylonier. Unter analogen Einbrüchen sind die großen Kulturlandreligionen Ägyptens und Mesopotamiens untergegangen, genauer: mit dem Ende des Staates, der sie trug und den sie umgekehrt stützten. Warum blieb Israel von dieser Erfahrung verschont? Es mag auf den ersten Blick verwundern, dass einer der wesentlichen Gründe für die Kontinuität des biblischen Glaubens durch die Katastrophe hindurch das Wissen um den Zorn Gottes war. Es waren die Propheten Israels und seine Geschichtslehrer (im sog. DtrG), die ihm immer neu eingeprägt haben, dass die Zerstörung Jerusalems weder auf göttliche Schwäche zurückzuführen sei noch auf die Verwerfung Israels durch Gott, sondern Auswirkung des göttlichen Zornes war, der seinerseits auf ein Übermaß an Schuld reagierte, dem mit den üblichen Mitteln begrenzter göttlicher Strafe nicht mehr zu begegnen war. Diese Beobachtung führt zu einer der entscheidenden Erkenntnisse zum göttlichen Zorn im Alten Testament, die oben schon gestreift wurde: Der Zorn Gottes ist wesenhaft eine Kategorie rückblickender Deutung. Die weit überwiegende Zahl, auch der prophetischen Texte, die vom göttlichen Zorn handeln, sind retrospektive Deutungen der Zerstörung Jerusalems und des Exils. Allerdings ist dem biblischen Israel die Konzeption vom Zorn Gottes als Reaktion auf exzessive Schuld keineswegs in den Schoß gefallen. Das zeigt insbesondere das vermutlich älteste Kapitel (Kap. 2) der Threni bzw. der sog. „Klagelieder des Propheten Jeremia“, die klagend und anklagend die Zerstörung Jerusalems und seines Tempels vor Gott bedenken. In diesem Kap. 2 ist von der Schuld des Gottesvolks nirgends direkt die Rede (indirekt einzig in V.14), auf Schritt und Tritt aber vom Zorn Gottes. Darin steht Klgl 2 noch ganz in der Tradition der weit älteren mesopotamischen Stadtuntergangsklagen, in denen die Zerstörung bedeutender Städte mit wichtigen Tempeln (Ur, Nippur, Uruk, Eridu) auf den unergründlichen Zorn der großen Götter zurückgeführt wird, gegen den sich die jeweilige Stadtgottheit vergeblich wehrt, ohne dass menschliche Schuld als auslösendes Element eine Rolle spielt. Ich zitiere Teile der Anfangsverse 1–5a aus Klgl 2: Ach, wie umwölkt in seinem Zorn der Herr die Tochter Zion! Er warf vom Himmel auf die Erde die Zierde Israels und gedachte nicht des Schemels seiner Füße am Tag seines Zorns. Der Herr vertilgte ohne Erbarmen alle Gefilde Jakobs … Der Herr wurde wie ein Feind; er vertilgte Israel … Der Herr verstieß seinen Altar, gab preis sein Heiligtum.
Immer neu tritt in der Klage Gott als Subjekt auf, so dass die Klage inhaltlich den Ton der Anklage annimmt. Der Gott im Zorn ist der Gott, der zum Feind Israels geworden ist und als solcher seiner vernichtenden Hand (V.8) bzw. den menschlichen Feinden Israels (V.3) freie Hand lässt. Immer wieder fallen die Verben „vertilgen“ und „vernichten“, wenn die Wirkung des Zorns be-
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schrieben wird. In einer derartigen Zuspitzung der Klage, die ihre engste Parallele im Buch Hiob (Hi 16,9ff.) findet, wird die vorgegebene altorientalische Tradition fast unerträglich verschärft. Und doch klagen und schreien die Überlebenden in ihrer Verzweiflung öffentlich: zwar nur zuletzt (in V.20–22) zu Gott, wohl aber durchgehend vor Gott und in der Gewissheit, dass Gott zum Hören bereit ist, obwohl er sich im Zorn verbirgt. Während aber Klgl 2 noch beim elementaren Notschrei verharrt und das grausame Geschehen irrational vom Zorn Gottes herleitet, bemühen sich die anderen, wenig späteren Dichtungen um ein tieferes Verstehen der Ereignisse. In ihnen verkehren sich die Relationen zwischen Zorn und Schuld: Vom Zorn Gottes reden sie zwar alle, aber nur ganz am Rande, während nun Schuldbeschreibungen und Schuldbekenntnisse ins Zentrum treten. So ist beispielsweise in Kap. 1 nur einmal (in der Zeitangabe „am Tag des Zorns“ V.12) vom Zorn die Rede, dagegen häufig (V.8.14.18f.22) von Israels Schuld, so dass der Gedanke der Anerkenntnis der Gerechtigkeit Gottes (V.18) nicht mehr überrascht. Klgl 3,42–44 verdeutlicht, dass der Zorn Gottes dann aufflammt, wenn Gott Vergebung der Schuld nicht mehr möglich ist. Dann verhüllt sich Gott im Zorn, der keinem Mitleid mehr Raum gewährt, und er verhüllt sich in den Wolken, so dass kein Gebet mehr zu ihm dringt. Weit mehr noch als die Threni haben die Propheten des Exils, allen voran Jeremia und Ezechiel und deren Tradenten, ihren Zeitgenossen die Zerstörung Jerusalems und das Exil als notwendige Folge einer maßlosen Schuld zu deuten versucht. Sie konnten dabei an zwei Propheten der „klassischen Zeit“ des 8. Jh.s v.Chr., Hosea und Jesaja, anknüpfen, die darum vom Zorn Gottes sprachen, weil sie die wesentliche Schuld Israels nicht (wie etwa Amos und Micha) im zwischenmenschlichen Umgang miteinander erkannten, sondern direkt gegen Gott gerichtet sahen: ob nun Gott wie bei Hosea mit dem Machtsymbol des Staates, dem Stierbild, verwechselt wurde (Hos 5,6f.), ob den ständig wechselnden Königen ein Vertrauen entgegengebracht wurde, wie es für den Propheten nur Gott gebührt (Hos 13,9–11), oder ob die Macht der Ägypter ein Gefühl hervorrief, dass man sich „tod-sicher“ wähnte und Gottes nicht mehr bedurfte (Jes 28,14–22). Für Hosea war im Rückblick die gesamte Geschichte des Nordreichs – ohne dass es die Menschen merkten – eine Geschichte des Zornes Gottes, der sich im Tod eines Königs genauso wie in der Einsetzung eines neuen Königs zeigte (13,11). Für Jesaja nötigte Judas Vertrauen auf Ägypten als Bündnispartner unter Umgehung Gottes diesen dazu, sein „fremdes Werk“ auszuführen: statt Hilfe und Schutz Israels wie zu Zeiten Davids nun Zorn und Grimm; Gott war nicht mehr auf Seiten Israels gegen seine Feinde, sondern auf Seiten der Feinde gegen Israel (Jes 28,21; vgl. 10,5f.). Diese Sicht der Schuld, die letztlich auf eine Verwerfung Gottes zugunsten des Vertrauens auf menschliche Macht hinausläuft und wohl die gefährlichste Spielart des Bruches des 1. Gebots darstellt, wird nun in den Büchern Jeremia
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und Ezechiel durch eine Fülle von verschiedenartigen Vorwürfen verstärkt, zumeist schon unter dem Eindruck der erfolgten Zerstörung Jerusalems und seines Tempels und der Exilierung großer Teile der Bevölkerung. Alle Texte stimmen darin überein, dass zum Verständnis dieser Erfahrung die Kategorie der göttlichen Strafe nicht ausreicht, sondern dass Israel es mit dem Zorn Gottes zu tun bekam. Der exzessiven Anhäufung von Schuld entsprach die extreme Unheilserfahrung, oder anders herum geurteilt: Die extreme Unheilserfahrung ließ die Maßlosigkeit der Schuld als ihren Anlass erahnen. Entsprechend sehen nun die Summierungen der Schuld Israels aus. Israel ist auf allen Ebenen seines Lebens an Gott gescheitert: im Anspruch persönlicher Gerechtigkeit, in der Rücksichtnahme auf Schwächere in der Gemeinschaft und vor allem in der Verweigerung des Vertrauens auf Gott. Immer neu wird den Menschen eingeprägt, dass die schwer erträgliche Härte des erfahrenen Unheils in der eigenen Schuld begründet lag und der Zorn eine angemessene Reaktion Gottes war. In den Ezechieltexten ist der Zorn häufig Ausfluss des göttlichen „Eiferns“ um Israel (Ez 5,13; 16,38; 23,25 u.ö.), d.h. Ausfluss des leidenschaftlichen Ringens um sein Volk, das ihn trotz so vieler Erweise seiner Güte immer neu von sich stößt. Die notwendige Härte des Zorngerichts gewinnt vor allem in der Trias „Schwert – Hunger – Pest (– Gefangenschaft)“ Gestalt (Jer 14,13ff.; Ez 5,12f.; 6,12 u.ö.). In den Texten des Jeremiabuchs zeigt sich die Unerbittlichkeit des Zorns zudem darin, dass Gott den Menschen unerreichbar bleibt. Im Zorn hört Gott auf keine Gebete. Ja, Jeremia wird – wie vor ihm Amos – die Möglichkeit genommen, in der Fürbitte für Israel auf Gott einzuwirken (Jer 7,16; 11,14; 14,11f.). Anfangs hatten sowohl Amos (Am 7,1–6) als auch Jeremia diese größte prophetische Vollmacht erfolgreich eingesetzt, die insbesondere Mose als Erzprophet erfolgreich ausgeübt und Israel so vor der Vernichtung bewahrt hatte (Ex 32,7–14; s.u.). Jeremia hatte vermocht, von denen, die ihm jetzt nach dem Leben trachten, „Gottes Zorn abzuwenden“ (Jer 18,20). Mit dem Verbot der Fürbitte kann Jeremia nicht mehr Mittler sein, darf nicht mehr die Anliegen des Volks vor Gott bringen. Er muss ganz auf die Seite Gottes rücken und dessen Zorneswillen dienen: ihn ankündigen und ihn damit verwirklichen helfen (Jer 5,14). Im Hintergrund zahlreicher Texte steht die Frage der damaligen Generation, warum gerade sie vom furchtbaren Zorn Gottes getroffen wurde und nicht schon frühere Generationen. Die prophetischen Texte geben dieser Frage insofern Recht, als sie auf mannigfache Weise betonen, dass Israels Schuld gegen Gott von Anbeginn bestand: Der Ahnvater Jakob hat sogleich, als er herangewachsen war, „mit Gott gestritten“ (Hos 12,4); Jerusalem ist und war, seit es gebaut wurde, eine Stadt, die „Gottes Zorn und Grimm erregt hat“ (Jer 32,31) usw. Aber solche Aussagen dienen primär zum Ausdruck der Größe der Schuld. Wenn Gott nach menschlichen Maßstäben konsequent gewesen wäre, hätte er Israel in seinem permanenten Willen, sich von Gott zu lösen,
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eigentlich von Anfang an vernichten müssen. Nach der großen Geschichtsreflexion Ez 20 plante Gott schon in Ägypten und während der Wüstenwanderung, seinen „Zorn und Grimm über sie auszugießen, um sie zu vernichten“ (Ez 20,8.13.21). Doch jeweils verwarf Gott diesen Plan „um meines Namens willen“, d.h. um seinen Namen vor den Missverständnissen und vor der Verachtung der Völker zu schützen, die die Vernichtung Israels als Ohnmacht Gottes hätten deuten müssen. Aber es gibt bei immer neuer Schuld eine Grenze, jenseits derer Gottes Geduld ein Ende hat. Ezechiel wird darum auch nicht müde, seiner Generation, die die Zerstörung Jerusalems und die Verbannung nach Babylon miterlebt hat, einzuprägen, dass sie ein zuvor noch nie erreichtes Maß an Schuld auf sich geladen hat (Ez 8,5ff.; 16,20ff.). Neben all diesen Versuchen, den Zorn Gottes, wie er im zerstörten Tempel und in der Verbannung nach Babylon als hartes Geschick erlebt wurde, als berechtigtes Gotteshandeln verständlich zu machen, sind auch andere, hoffnungsfrohere Töne in den prophetischen Texten zu hören, vor allem in solchen mit der sog. dtr Theologie. Auch sie beharren darauf, dass Gott seinen Zorn ausschütten musste, weil Israels Schuld ein Übermaß erreicht hatte, prägen aber gleichzeitig ein, dass der Zorn eine ganz und gar ungeliebte Reaktion Gottes ist. Er möchte ihn gar nicht aufkommen lassen und lässt daher zuvor die Menschen durch seine Propheten dringlich vor dessen Wirkungen warnen (Jer 7,25; 44,4 u.ö.). Erst wenn sie diese Warnung leichtfertig überhören, trifft sie das harte Gericht. Auch die Überlebenden der Katastrophe dürfen sich nicht als Gerettete verstehen, sondern sind aufgerufen, ihr Leben einschneidend zu verändern, damit nicht auch sie dem Zorn anheimfallen (Jer 4,3f.). An anderer Stelle kann der Prophet statt warnend auch intensiv lockend zur Änderung des Lebens auffordern (Jer 3,12f.): Kehre zurück, du Abtrünnige, Israel! – Spruch Jahwes – Ich werde nicht finster auf euch blicken, denn ich bin gütig – Spruch Jahwes – und werde nicht für immer zürnen. Nur erkenne deine Schuld, dass du dich gegen Jahwe, deinen Gott, aufgelehnt hast!
Die Anerkenntnis der eigenen Schuld und die Akzeptanz des göttlichen Zornesgerichts als angemessene Strafe stehen in diesem Text nicht im Vordergrund. Sie erscheinen eher als selbstverständliche Folge der frei verheißenen neuen Zuwendung der gütigen Nähe Gottes, in der sich das Ende seines Zorns realisiert, und nicht als vorgängige Bedingung für dessen Beendigung.
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3. Kann Gott sein Volk verwerfen? Die Grenze des Zorns Die bisher behandelten Texte sind von dem Bemühen geprägt, schwerste Einbrüche ins Leben, sei es tödliche Krankheit oder die Zerstörung Jerusalems, im Lichte Gottes zu verstehen: Sie vermögen dies nicht ohne die Dimension des göttlichen Zorns. Seit aber diese Dimension die Texte des Alten Testaments und ihr Denken bestimmt hat, blieb die Frage nicht aus, ob Gott sein Volk zukünftig – im Falle schwerster Schuld – von sich stoßen und im Zorn vernichten könne, eben weil der Zorn wesenhaft ohne klare Grenze, d.h. tötend und vernichtend ist. Diese Frage meldete sich mit umso größerer Dringlichkeit, als Israels Propheten seit dem Beginn der sog. Schriftprophetie ihren Hörern und Lesern das Kommen eines furchtbaren „Tages Jahwes“ vor Augen malten, an dem niemand dem zum Gericht nahenden Herrn der Welt entgehen und niemand vor ihm bestehen könne (Am 5,18–20; Jes 2,10–17*). Erstmals Zephanja hatte diesen Gerichtstag einen „Tag des Zorns“ (Zeph 1,14–16) genannt, und in der Folgezeit waren seine Begleiterscheinungen immer grauenhafter ausgemalt und das Gericht immer umfassender und universaler beschrieben worden (Zeph 1,17f.; Jes 13; 34,2–4), so dass es den Charakter eines Weltgerichts, das den Kosmos ins Chaos reißt, erhielt. In gewisser Weise war erst mit dieser äußersten Konsequenz das Konzept des vernichtenden Zornes Gottes an sein Ziel gelangt. Wie aber sollte ein Einzelner im nachexilischen Israel unter dieser furchtbaren Zukunftsperspektive sein Leben gestalten? Es gibt eine Fülle von Texten, die unter solchen drängenden Fragen versuchen, die Grenzen des göttlichen Zorns auszuloten; die meisten haben es auf drei Ebenen getan: 3.1. Zorn und Güte Gottes Von allem Anfang an, seit Texte im Alten Testament vom Zorn Gottes reden, wird die Güte Gottes dem Zorn im Komparativ vorgeordnet, z.B. im Danklied Ps 30,6: Sein Zorn währt einen Augenblick, ein Leben lang (aber) seine Güte.
Texten wie diesem geht es nicht nur um die Ungleichgewichtigkeit von Zorn und Güte Gottes, sondern um die Wahrheit des bekannten Refrains aus Ps 136, mit dem dort die Gemeinde jeden Satz des Vorsängers bekräftigt: Ja, seine Güte währt für alle Zeiten.
Das Leben der Glaubenden ist nicht beliebig einmal von der Güte Gottes, dann wieder von seinem Zorn bestimmt, sondern ständig, und zwar lebenslang von der Güte Gottes, die nur kurz von Zeiten des Zorns unterbrochen,
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aber durch sie keineswegs beendet wird. Sie ist und bleibt der verborgene Hintergrund auch der Zeiten des Zorns, weil Gott „sein Erbarmen nicht im Zorn verschließen“ kann (Ps 77,10; vgl. 85,6). So lockt der Prophet Jeremia seine Zeitgenossen zur Umkehr mit dem schon zitierten Satz Gottes, der das Alte Testament insgesamt charakterisiert: „Ich bin gütig und werde nicht für immer zürnen“ (Jer 3,13). Die Güte Gottes ist zeitlich unbegrenzt, weil sie in Gottes Wesen liegt, der Zorn eine zeitlich eng begrenzte Erfahrung. Mit etwas anderer Akzentsetzung hat die gewichtigste bekenntnisartige Wesensbeschreibung Gottes im Alten Testament Güte und Zorn miteinander verglichen. Diese Wesensbeschreibung, deren früheste Gestalt jüngste Monographien8 in Ex 34,6f. gesucht haben, ist fast 20 Mal in leichten Variationen belegt. Ex 34,6f. lautet: Jahwe, Jahwe: ein barmherziger und gnädiger Gott, langsam zum Zorn, aber reich an Güte und Treue: der Güte Tausenden bewahrt, der Schuld, Verbrechen und Vergehen vergibt, aber ganz und gar ungestraft lässt er nicht …
Vor die beiden Gegensatzpaare, die den Gedankengang bestimmen – Zorn/Güte und Vergebung/Strafe –, sind hier zwei Handlungsweisen Gottes gestellt, die generell gelten, ohne dass eine Opposition genannt ist; das erste („barmherzig“) bezeichnet im zwischenmenschlichen Bereich gern die liebevolle Fürsorge der Mutter (und des Vaters) für ihre Kinder, das zweite („gnädig“) oft die Güte eines Vorgesetzten für einen bittenden Untertan. Diese Handlungsweisen Gottes gelten den Gliedern des Gottesvolks permanent und unbegrenzt. Erst bei der näheren Präzisierung dieser Grunderfahrungen werden Zorn und Güte eingeführt, aber so, dass sogleich ihr ungleiches Gewicht hervorgehoben wird: Gott wartet lange Zeit zu, bevor er seinem Zorn Raum gewährt, während er seine Güte maßlos verschenkt. Mit Partizipien beschreibt die zweite Opposition das Gemeinte: Gottes Güte zeigt sich in seinem Willen zur Vergebung, der ständig besteht, selbst für schwere Schuld. Nur gibt es auch für diesen Willen eine Grenze, jenseits deren Vergebung nicht mehr möglich ist. Dann muss Gott strafen und im Extremfall seinen Zorn zur Wirkung bringen, auch wenn er es nicht tun möchte. Zwei prophetischen Texten der Spätzeit hat auch diese Weise, die Unvergleichlichkeit der Güte Gottes zu beschreiben, noch nicht ausgereicht. In ihrem Willen, die Menschen zu vergewissern, dass Gott – auch im Zorn – unmöglich von seiner Güte lassen könne, haben sie die Kategorie des Schwures Gottes eingeführt. Bekannter als der Hymnus auf die Vergebungsbereitschaft Gottes, der das Michabuch abschließt (Mi 7,18–20), ist der Satz aus der Schule des Zweiten Jesaja (Jes 54,9f.): 8 R. SCORALICK, Gottes Güte und Gottes Zorn, Freiburg 2002; M. FRANZ, Der barmherzige und gnädige Gott, Stuttgart 2003.
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Denn für mich ist dies wie die Wasser Noahs: Wie ich geschworen habe, dass die Wasser Noahs nicht mehr über die Erde kommen sollen, so habe ich geschworen, dir nicht mehr zu zürnen und dich nicht mehr anzugreifen. Denn mögen Berge weichen und Hügel ins Wanken geraten, so soll doch meine Güte nicht von dir weichen und mein Friedensbund nicht ins Wanken geraten, spricht Jahwe, dein Erbarmer.
Hier deckt Gott durch seinen Propheten eine bleibend gültige Ordnung auf: das definitive Ende des göttlichen Zorns in einer Gestalt, die als Verwerfung Israels missverstanden werden könnte. Freilich verdeutlicht die Analogie zur durch Schwur garantierten Einmaligkeit der Sintflut, dass nicht jede beliebige Form von Erfahrung des göttlichen Zorns im Blick ist, sondern speziell ein Zorn wie im Fall des Exils, in dem Gott als Feind und Gegner Israels erscheinen konnte. Dennoch ist dieser Text in seiner Gewissheit, die er vermitteln möchte, singulär: Gottes nicht endende und nicht unterbrochene Güte ist ihm sicherer als der Bestand der geordneten Welt! Weil Gott weiß, wie wenig er von der Wandlungsfähigkeit des Menschen erwarten kann, schränkt er freiwillig, aber verbindlich seine eigenen Handlungsmöglichkeiten zugunsten des Menschen ein. Er begibt sich so seiner Allmacht (im philosophischen Sinne). 3.2. Zorn und „Reue“ Gottes Die zweite Weise, die Grenze des göttlichen Zorns zu beschreiben, wird mit der göttlichen „Reue“ bezeichnet. Allerdings ist gerade dieser Begriff vielen Missverständnissen unterworfen gewesen9. Kirchenväter wie Augustin haben ihren Gemeinden eingeprägt, dass der Begriff nicht besagt, dass Gott jederzeit seine Worte und Pläne wieder zurücknehmen oder wandeln könne (vgl. dazu 1Sam 15,29). Noch viel weniger besagt er Gottes Einsicht, dass ein früherer Plan falsch gewesen sei. Vielmehr bezeichnet er im Hebräischen ( נחםnif.) von Haus aus eine Erleichterung, die sich Gott durch einen Willenswandel verschafft, und dieser Willenswandel kommt in allen Fällen (über 40-mal; Ausnahmen Gen 6,5; 1Sam 15,11) Israel zugute, indem es vor seiner (verdienten und wohl begründeten) Vernichtung bewahrt wird. Den ältesten Beleg für die Gegenüberstellung von Zorn und Reue in Gott bietet Hos 11. Nachdem Gott hier in einer Anklagerede die gesamte Geschichte Israels als eine permanente Zurückweisung der Liebeserweise des Vaters dargestellt (V.1–4) und die assyrische Besatzung und Israels Blutzoll als unumgängliche Strafe angekündigt hatte (V.5f.), aber immer noch auf keinerlei Einsicht seines Volkes gestoßen war (V.7), lodert der Zorn in Gott auf und will das undankbare Volk vernichten. Überraschend aber erklärt sich Gott selber als unfähig zu dieser Tat (V.8f.): 9 Vgl. zum Folgenden J. JEREMIAS, Die Reue Gottes (BThS 31), Neukirchen-Vluyn 1975, 2. erw. Aufl. 1997.
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Wie könnte ich dich preisgeben, Efraim, dich ausliefern Israel? Wie könnte ich dich preisgeben wie Adma, dich zurichten wie Zeboim? Mein Herz ist in mir umgestürzt, mit Macht ist meine Reue entbrannt. Ich kann meinen glühenden Zorn nicht vollstrecken, kann Efraim nicht wieder verderben …
Der ungewöhnliche Text lässt den Leser einen tiefen Einblick in Gottes „Herz“ tun. Israels ständige Abweisung der Güte Gottes lässt eigentlich nur eine Reaktion zu: Vernichtung wie Adma und Zeboim, zwei Städte, die das Geschick Sodoms und Gomorrhas teilten; darauf drängt Gottes glühender Zorn. Aber dieser Zorn kommt nicht zur Ausführung, denn eine zweite Kraft flammt in Gott auf, die stärker ist und den Zorn am Wirken hindert, seine „Reue“. Beide Kräfte brennen wie Feuer: der Zorn spontan, wenn schwere Schuld geschieht, die „Reue“ als reine Gegenkraft zum Zorn. Sie führt zum „Herzensumsturz“ in Gott. Ohne sie wäre Israel verloren. Es bleibt mit der Oberherrschaft der Assyrer bestraft, aber es bleibt am Leben, vor Gottes Zorn bewahrt. Diese Bewahrung gilt nicht erst für Hoseas Zeiten, sie gilt von Anbeginn der Geschichte Israels an. Ex 32 erzählt, wie Israel schon in der Stunde der grundlegenden Offenbarung Gottes, kaum dass Mose einmal einige Tage nicht in seiner Mitte war, sich einen „gemachten“ Gott wünschte („auf, mach uns einen Gott“, V.1), der ihm nicht so undurchsichtig war wie der lebendige Gott, sondern seinen eigenen Erwartungen entsprach. Gott wendet sich von diesem Volk ab, das ihn sogleich am Sinai verwarf, nennt es „Moses Volk“ und will es im Zorn vernichten, um Mose zum neuen Abraham zu machen (V.7–10). Aber Mose verdeutlicht in seiner Fürbitte – formal Gott, der Sache nach aber den Lesern –, dass Gott dazu gar nicht fähig ist: Der verwirklichte Zorn würde das Scheitern der Heilsgeschichte Gottes bedeuten (V.11); Gott wäre unglaubwürdig vor der Völkerwelt und würde die Völker für immer verlieren (V.12); und als Höhepunkt: Gott ist eidlich an die Verheißung an die Väter gebunden (V.13). So „bereut“ Gott auch hier; Gottes Zorn bleibt unvollstreckt (V.14). Aber nicht nur am Sinai, sondern auch im endzeitlichen Gericht bleibt Israel vor Gottes vernichtendem Zorn bewahrt. Als erster Prophet hat es Joel gewagt, Gottes „Reue“ auf die erschreckenden Ereignisse des „Tages Jahwes“ zu beziehen, an dem Gott selber an der Spitze eines Heeres mit apokalyptischen Zügen den Zion angreift (2,1–11). Aber er gibt seinem Volk „auch jetzt noch“ (2,12) die Chance, sich rückhaltlos „mit ganzem Herzen“ auf ihn hin zu bewegen, weil er das Gericht, das er bringen muss, nicht bringen will. Gott ist Richter Israels und sein Retter in einem. Joel wagt es erstmals, die „Reue“ Gottes als Teil seines Wesens zu beschreiben (2,13f.), und als Konsequenz hat er alle Erwähnungen des Zornes Gottes, die er in den älteren Weissagungen vom „Tag Jahwes“ fand, auf die er sich stützt (besonders Zeph 1,15f.; Jes 13,5.9.13), getilgt. Gottes „Reue“ lässt seinen vernichtenden Zorn nicht zur Entfaltung kommen.
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3.3. Die „Heilung“ Israels Eine noch einmal stärkere Eindämmung des göttlichen Zorns bieten das Abschlusskapitel des Hoseabuches (und ähnlich später Tritojesaja in Jes 57,16– 18). Hos 14 (vermutlich einige Jahrzehnte nach dem Fall Samarias verfasst) beginnt in V.2–4 mit einer freudigen Einladung an Israel zur Umkehr zu Gott, der zu einer erneuten Annahme Israels bereit ist. Das Kapitel endet in V.6–8 mit einer Zusage fast paradiesischen Heils, bei dem sich Gott mit dem die Fruchtbarkeit auslösenden Tau vergleicht. Zwischen Einladung und Verheißung steht der formal wie sachlich zentrale V.5, der die Einladung begründet und die Verheißung einleitet: Ich will ihre Abtrünnigkeit heilen, will sie aus freien Stücken lieben; denn mein Zorn ist von ihm gewichen.
Wichtig zum Verständnis des Textes ist die Erkenntnis, dass kein Bedingungsgefüge vorliegt (wenn Israel umkehrt und seine Schuld erkennt, dann …). Vielmehr ergeht in V.2–4 eine Einladung an Israel zur Umkehr zum wahren Gott und zur Abkehr von all den vermeintlichen Stützen seines Glücks im politischen und im religiösen Bereich, weil V.5 bei Gott bedingungslos gilt. V.5 aber zeichnet ein höchst illusionsloses Menschenbild: Von sich aus wäre Israel zur Umkehr gar nicht in der Lage; es ist es nur, weil Gott in seiner – nur in ihm selbst begründeten – Liebe zu seinem Volk dessen „Abtrünnigkeit“, die ihm wie eine Krankheit anhaftet, „heilt“ und so allererst die Voraussetzung dafür schafft, dass Gott seinem Volk wieder nahe sein kann. Für diese „Heilung“ gibt es nur eine Bedingung, und die ist bei Gott schon erfüllt (Perf. im Hebr.; anders – leider – die rev. Lutherübersetzung): Gott hat von seinem Zorn abgelassen! Gottes Liebe zu Israel ist nicht mehr von seinem (wohl begründeten) Zorn verstellt. Wie kühn dieser Gedanke ist, wie weit er ins Neue Testament reicht, zeigt sich darin, dass nicht nur eine momentane, punktuelle Abkehr Gottes von seinem Zorn im Blick ist, sondern eine definitive, grundsätzliche. Das von seiner Krankheit „geheilte“ Israel ist ein neues Israel, wie es in der Geschichte noch nie auftrat, eine „neue Kreatur“; der Akt der Heilung ist ein Akt der Neuschöpfung und entspricht dem, was Ez 11,19 und 36,26 in individuellen Kategorien das neue Herz und den neuen Geist des Menschen nennen.
4. Zusammenfassung Es ist ein weiter Bogen, den die alttestamentlichen Texte schlagen, um das Phänomen des Zornes Gottes zu verstehen und zu beschreiben: Am Anfang stehen verzweifelte Aufschreie von Menschen, die ihr plötzliches Unglück
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nicht zu begreifen und sich nicht zu helfen vermögen; die es aber nicht an Gott vorbei verstehen können und es auf seinen Zorn zurückführen. Am anderen Ende stehen Gottes Vergewisserungen Israels durch seine Propheten, dass er sich von seinem Zorn für alle kommenden Zeiten getrennt hat, so dass das Gottesvolk, trotz seines Wissens um große Schuld, furchtlos sein Leben führen kann. Das biblische Gottesvolk musste erst lernen, wie recht vom Zorn zu reden ist. Die großen Kulturlandreligionen des Alten Orients hatten Unglücke jeder Art vom unkalkulierbaren Zorn der Götter hergeleitet. Für das Alte Testament weist keineswegs jedes individuelle oder kollektive Leiden schon auf Gottes Zorn. Vielmehr ist der Zorn als Interpretament den schwersten Leiderfahrungen vorbehalten, im individuellen Rahmen den Erfahrungen im Machtbereich des Todes. Im kollektiven Horizont ist die Zerstörung (Samarias und) Jerusalems zusammen mit der Exilierung der Oberschicht die Zorneserfahrung schlechthin, weil mit der Zerstörung des Tempels und dem Verlust des Landes die Frage gestellt war, ob Gott sein Volk verworfen habe. Es sind vor allem Israels Propheten gewesen, die dieser Deutung entgegengetreten sind und stattdessen die Schuld des Gottesvolks als auslösenden Faktor des Zorns benannt haben, anfangs die unmittelbar gegen Gott gerichtete Schuld, später die sich immer mehr steigernde Fülle der Schuld auf allen Gebieten. Der Maßlosigkeit menschlicher Schuld entspricht die Unbegrenztheit des göttlichen Zorns; ihre letzte Konsequenz wird sie am kommenden „Tag Jahwes“ finden in einem Gericht, dem niemand entgehen kann. Jedoch haben die gleichen Propheten Israel immer neu vergewissert, dass Gott seinen Zorn unter Kontrolle hält und es unmöglich ist, dass er sein Volk verwirft. Der Zorn ist zeitlich begrenzt und unterbricht die Zeit der göttlichen Güte, die lebenslang erfahren wird, stets nur kurz. Zudem verfügt Gott mit seiner „Reue“ über eine Kraft, die seinen Zorn an der Vernichtung der Menschen hindert und die schon Mose mit seiner Fürbitte am Sinai erfolgreich zur Rettung Israels erbeten hatte. Schließlich steht Israel unter der Verheißung, dass Gott es von seiner Abtrünnigkeit heilen wird, so dass kein Anlass mehr für seinen Zorn besteht, und der Prophet Joel wagt es, einen Gerichtstag Gottes ohne Zorn zu zeichnen, so dass ein Israel, das sich zu Gott bekennt, gerettet werden wird. Das Alte Testament spiegelt ein Gottesvolk wider, dessen Glaube im Werden ist. Der reife Glaube in der Spätzeit ist undenkbar ohne das Wissen vom Zorn Gottes. Dieses Wissen hat Israel geholfen, die entscheidende Katastrophe seiner Geschichte zu überleben, hat zur entscheidenden Formulierung seines Bekenntnisses geführt (Ex 34,6f. par.) und es vor allem gelehrt, dass Gott sein Richter und Retter zugleich ist.
9. Konzeptionen des göttlichen Zorns im DtrG Für die deuteronomistischen (künftig: dtr) Theologen ist der Zorn Gottes ein Element ihres Denkens, ohne das sie die Geschichte Israels nicht hätten darstellen können; er ist schlechterdings konstitutiv für ihre Theologie. Dennoch hat dieser zentrale Bestandteil der dtr Theologie in wissenschaftlichen Erörterungen der Neuzeit zum dtr Geschichtswerk (künftig: DtrG) für lange Zeit so gut wie keine Rolle gespielt. Vermutlich ist diese Zurückhaltung auf die generelle Scheu der modernen Theologie gegenüber dem Phänomen des göttlichen Zornes zurückzuführen, wie sie insbesondere durch F. Schleiermacher und A. Ritschl initiiert worden ist1, und keineswegs nur die Systematiker, sondern auch die Exegeten über viele Jahrzehnte hin geprägt hat2. Schleiermacher und Ritschl wollten dem Neuen Testament gegenüber dem Alten sein Recht zukommen lassen, haben damit freilich dem verbreiteten populären Missverständnis eine Stütze geboten, dass der Zorn Gottes die alttestamentlichen, seine Liebe dagegen die neutestamentlichen Gottesaussagen bestimme. Hier wie dort ist dabei verkannt, dass auch im Neuen Testament der Zorn Gottes breit belegt ist, ja dass sich die grundsätzlichste Darlegung zum Thema im Römerbrief des Paulus findet3. Umso bemerkenswerter ist, dass in jüngerer Zeit eine große Zahl an Systematikern 4 und Exegeten 5 wieder auf das „verdrängte Motiv“ (Tück) des 1 Für sie ist der Zorn eine „im Grunde außerchristliche Gestalt des Gottesbewußtseins“: W. SCHÜTTE, Die Ausscheidung der Lehre vom Zorn Gottes in der Theologie Schleiermachers und Ritschls, NZSTh 10 (1968) 387–397; 395. 2 Vgl. dazu die Nachweise von W. GROSS, Zorn Gottes – ein biblisches Theologumenon, in: W. Beinert (Hg.), Gott – ratlos vor dem Bösen? (QD 177), Freiburg 1999, 47–85; 47–50 (= DERS., Studien zur Priesterschrift und zu alttestamentlichen Gottesbildern [SBA.AT 30], Stuttgart 1999, 199–238) und J.-H. TÜCK, Der Zorn – die andere Seite der Liebe Gottes. Dogmatische Anmerkungen zur Wiederkehr eines verdrängten Motivs, ThPh 83 (2008) 385– 409; 385–388. 3 „Die umfassendsten Zornaussagen stehen nicht im Alten, sondern im Neuen Testament, im Römerbrief“: W. GROSS, Keine Gerechtigkeit ohne Zorn Gottes – Zorn Gottes in der christlichen Bibel, in: G. Struck/C. Sticher, „Deine Bilder stehn vor mir wie Namen“. Zur Rede von Zorn und Erbarmen Gottes in der Heiligen Schrift, Mainz 2005, 13–29; 14. 4 Als Repräsentanten mögen hier etwa W. HÄRLE, Die Rede von der Liebe und vom Zorn Gottes, ZThK Beih. 8 (1990) 50–68; O. BAYER, Art. Eigenschaften Gottes, V. Christentum, RGG4 2 (1999) 1139–1142 und bes. TÜCK, Der Zorn, a.a.O. (Anm. 2), stehen. 5 Vgl. neben den Arbeiten von Groß bes. U. BERGES, Der Zorn Gottes in der Prophetie und Poesie Israels auf dem Hintergrund altorientalischer Vorstellungen, Bib. 85 (2004) 305– 330 und H.-J. HERMISSON, Von Zorn und Leiden Gottes, in: Denkwürdiges Geheimnis (FS
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Zornes Gottes gestoßen sind. Für das DtrG gebührt das Verdienst, die große Bedeutung des Zornes neu entdeckt zu haben, D.J. McCarthy6. Einmal auf dieses Thema gestoßen, machte er fast zwangsläufig die gewichtige Beobachtung, dass für die Josua- und Richterzeit im DtrG ein völlig andersartiges Zornesverständnis vorliegt als für die Staatenzeit. Beide Konzepte sind nicht nur inhaltlich, sondern auch terminologisch deutlich voneinander unterschieden ( ױחר אףbzw. כעסhif.; s.u.), so dass der nahe liegende Verdacht, dass erst eine überscharfe Differenzierung des Exegeten die Unterscheidung in die Texte eintragen würde, gar nicht erst aufkommen kann. N. Lohfink, der die Interpretation der Differenz durch McCarthy einer scharfsinnigen Kritik unterzogen und die Texte der Königsbücher ungleich genauer betrachtet hat als McCarthy selber, hat noch eine weitere Differenzierung zwischen früher und später Staatenzeit hinzugefügt, die sich ebenfalls auf terminologischer Ebene nachweisen lässt, wenn auch nicht mit der gleichen Evidenz wie die Unterscheidung, die McCarthy beobachtet hat7. Im Gefolge Lohfinks wären demnach drei verschiedene Konzeptionen vom Zorn Gottes im DtrG auseinander zu halten. Die folgenden Überlegungen, die an die Beobachtungen McCarthys und Lohfinks anknüpfen und sie zugleich kritisch beleuchten wollen, werden die These zu begründen versuchen, dass auch Lohfinks Differenzierung von drei Zorneskonzepten im DtrG noch nicht ausreicht, sondern noch eine 4. Konzeption in den dtr Texten des Deuteronomiums von den genannten drei zu unterscheiden ist. Denn die Kapitel Dtn 9–10 verwenden bewusst eine noch einmal andere Begrifflichkeit für den Zorn ( קצףq. und hif.: 4-mal), die weder im Richterbuch noch in den Königsbüchern gebraucht wird. Andererseits sind diese Kapitel durch sprachliche Verknüpfungen auf die dtr Berichte der Königszeit bezogen, wenngleich diese Bezüge zumeist übersehen worden sind.
E. Jüngel), hg. von I. U. Dalferth/J. Fischer/H.-P. Grosshans, Tübingen 2004, 185–207 aber auch K.-F. POHLMANN, Beobachtungen und Erwägungen zur Rede vom „Zorn Jahwes“ im Alten Testament, in: Gott und Mensch im Dialog, Bd. II (FS O. Kaiser [BZAW 345/II]), hg. von M. Witte, Berlin/New York 2004, 1015–1036. 6 D. J. MCCARTHY, The Wrath of Yahweh and the Structural Unity of the Deuteronomistic History, in: J.-L. Crenshaw/J. T. Willis (Hg.), Essays in Old Testament Ethics, J. Ph. Hyatt in memoriam, New York 1974, 97–110 (Bedauerlicherweise sind seine Stellenangaben mehrfach unzuverlässig.). 7 N. LOHFINK, Der Zorn Gottes und das Exil. Beobachtungen am deuteronomistischen Geschichtswerk, in: Liebe und Gebot (FS L. Perlitt [FRLANT 190]), hg. von R. G. Kratz/ H. Spieckermann (Hg.), Göttingen 2000, 137–155.
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1. Gottes Zorn in der Richter- und in der Staatenzeit Die von McCarthy beobachtete Differenz zwischen dem göttlichen Zorn in der Richter- und dem in der Staatenzeit ist für unsere Fragestellung grundlegend. Im Josua- und im Richterbuch lautet die geläufige und jedem Bibelleser vertraute Formel für den Zorn: „ ױחר אף יהוה בda entbrannte der Zorn Jahwes gegen (Israel)“ (Jos 7,1; Ri 2,14.20; 3,8; 10,7). Diese Formel fehlt in den Königsbüchern – mit der bemerkenswerten Ausnahme von 2Kön 13,3; diese Ausnahme ist, wie sogleich zu zeigen ist, insofern bedeutsam, als mit der Terminologie auch die gleiche Konzeption vom göttlichen Zorn wie (in Jos 7 und) im Richterbuch auf die Darstellung von 2Kön 13 übertragen wird 8 . Demgegenüber ist die übliche Kennzeichnung des göttlichen Zorns in den Königsbüchern eine völlig andere. Sie basiert auf einem Verb ( כעסhif.), das im zwischenmenschlichen Bereich „beleidigen“, „provozieren“ heißt, in den dtr Texten der Königsbücher aber stereotyp (fast 20-mal) auf Israels Verhalten gegenüber Gott bezogen ist und dann spezifischer Gott „zum Zorn reizen“ bedeutet. Wie insbesondere N. Lohfink gezeigt hat9, ist das Verb hier von einer Reihe anderer formelhafter Wendungen begleitet, unter denen „das Böse in den Augen Jahwes tun“ (als Ursache des Zorns) und „vernichten“, „völlig zerstören“ ( שׁמדhif.: als Konsequenz des Zorns) die wichtigsten sind. Die erstgenannte Wendung verbindet das Verb mit der Konzeption des Richterbuches, die zweite trennt beide Konzeptionen voneinander und wäre im Richterbuch undenkbar. Für die Vorstellung vom göttlichen Zorn in den Königsbüchern, die schon begrifflich die Schuld Israels als auslösenden Faktor hervorhebt, gibt es umgekehrt im Richterbuch nur einen einzigen Beleg – in der Einführung des generalisierenden sog. „Richter-Schemas“ (Ri 2,12) –, auf den später noch (im Schlussabschnitt) zurückzukommen ist und der wiederum die Regel nur bestätigt. Die genannte Differenz zwischen Richterbuch und Königsbüchern ist insofern überraschend, als sich bei näherem Zusehen zeigt, dass es sich bei der Darstellung eines gegen das eigene Volk auflodernden göttlichen Zorns keineswegs um eine in Israel geläufige und jedermann vertraute Vorstellung handelte. Sie ist zwar in Israels Gerichtsprophetie breit belegt, allerdings überwiegend in retrospektiven Texten ab der Zeit des Exils, die schon auf die Zerstörung (Samarias und) Jerusalems reagieren und damit mehrheitlich grob 8 Dagegen ist die zweite Ausnahme in 2Kön 23,26 zu vernachlässigen, in der die hier behandelte Formel in einem Nebensatz begegnet. Der gewundene Stil (Wiederholung des Bezugswortes „Zorn“ im Relativsatz) sowie die singuläre, steigernde Pluralbildung von כעס („Kränkungen“) verweisen auf eine junge Stimme im dtr Chor. Erst späte Redaktoren haben die verschiedenen Konzeptionen miteinander gleichgesetzt. – Dagegen ist die Wendung in einigen spät-dtr Belegen des Dtn geläufig, in denen Jahwes Zorn über Israel für den Fall des Abfalls zu fremden Göttern angekündigt wird (6,15; 7,4; 11,17; 29,26; 31,17). 9 Zorn Gottes, a.a.O. (Anm.7), 143ff. sowie DERS., Art. כעס, ThWAT 4 (1984) 297–302.
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aus der Zeit des DtrG selber stammen. Dagegen begegnet sie nie in den Quellen, auf denen das DtrG fußt. In ihnen ist allenfalls einmal die tödliche Erfahrung eines Einzelnen vom Zorn Gottes her gedeutet wie etwa der Tod des unglücklichen Uzza beim Berühren der Lade (2Sam 6,7). Es handelt sich also bei der Vorstellung eines in bestimmten historischen Ereignissen gegen Israel auflodernden Zorns um ein im AT spezifisch dtr Interpretament. Zwar war es in Israels näherer und weiterer Umwelt nicht unbekannt, wurde hier aber ausschließlich für den Zorn einer Gottheit verwendet, deren Wirken eine abgeschlossen zurückliegende Epoche kennzeichnete, und zwar im Kontrast zur Gegenwart der jeweiligen Inschrift, die von den heilvollen Taten des Königs kündete, der die Inschrift in Auftrag gegeben hatte. Von einem die Gegenwart prägenden Zorn der Gottheit gegen das eigene Volk wie im DtrG ist in keiner der (Königs-) Inschriften in Israels Umwelt die Rede10. Wenn aber der Zorn Gottes gegen Israel als Interpretament geschichtlicher Ereignisse im AT eine (prophetisch inspirierte) spezifisch dtr Vorstellung ist und die Zorneskonzeptionen im Richterbuch und in den Königsbüchern dennoch so bewusst terminologisch voneinander unterschieden werden: Worin liegt dann das Anliegen zu solcher Unterscheidung? Es sind vor allem zwei wesentliche Unterschiede, die die beiden Konzeptionen sachlich voneinander trennen. Zum einen ist der ständige Hinweis auf die „Vernichtung“ der Schuldigen als Wirkung des Zorns, die Lohfink mit Recht als charakteristisch für die Konzeption der Königszeit erkannt hat, in den Texten der Richterzeit nicht nur nie anzutreffen, sondern hier auch gar nicht zu erwarten. Für die Richterzeit – das ist der zweite Unterschied – sind Erfahrungen des göttlichen Zorns notiert, die (den mesopotamischen Inschriften vergleichbar) abgeschlossen zurückliegen und jeweils Zeiten neuer Gottesnähe Platz gemacht haben; demgegenüber gilt für die Staatenzeit, dass zwar die Berichte über Gottes Zornesgericht über einzelne Könige bzw. deren Sippen und Dynastien ebenfalls abgeschlossen zurückliegen, dass aber der mit der Schuld der Könige zusammenhängende Zorn Jahwes über sein schuldiges Volk andauert und die Gegenwart der die Geschichte deutenden Theologen prägt. In der letztgenannten Unterscheidung liegt das Recht Lohfinks begründet, im DtrG noch einmal zwischen zwei Konzeptionen des göttlichen Zorns während der Darstellung der Staatenzeit zu differenzieren11. 10 Vgl. den Nachweis bei J. JEREMIAS, Der Zorn Gottes im Alten Testament. Das biblische Israel zwischen Verwerfung und Erwählung (BThSt 104), Neukirchen-Vluyn ²2011, 23–27 (Exkurs: Der Zorn der Götter in mesopotamischen Geschichtsdarstellungen). 11 S. JOO hat in ihrer Dissertation (Provocation and Punishment. The Anger of God in the Book of Jeremiah and Deuteronomistic Theology [BZAW 361], Berlin/New York 2006) vorgeschlagen, die genannte Differenz literarkritisch auszuwerten: Die Worte gegen die Könige rechnet sie zu Dtr¹, diejenigen gegen das Kollektiv zum jüngeren Dtr². – Weit kühner, aber auch beliebiger fallen die literarkritischen Urteile S. WÄCHLIs, Jhwhs Zorn als Element deuteronomistischer Geschichtsdeutung. Ein Überblick und offene Fragen, in: Diasynchron
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Probleme alttestamentlicher Gottesbilder
a. Die Richterzeit: die Verzögerung des Heils In der Zeit Josuas und der Richter führt Gottes Zorn jeweils zu einem zeitlich begrenzten Stillstand der Geschichte Gottes mit seinem Volk. Der Zorn entbrennt, weil Achan sich am Gebannten vergriffen hat (Jos 7,1), und verhindert die Eroberung Ais, aber nur so lange, bis Achans Schuld gesühnt ist; dann „kehrt sich Jahwe wieder von seinem Zorn ab“ (V.26), und die Eroberung Ais gelingt. Der Zorn entbrennt erneut, weil die Israeliten Jahwe „vergaßen“ und stattdessen „den Baalen und Ascheren dienten“ (Ri 3,7); als aber in der Folge die von den Aramäern acht Jahre bedrängten Israeliten ihren Notschrei ()זעק an Jahwe richteten, sandte Jahwe (als Zeichen des Endes seines Zorns) Otniel als „Retter“ (V.9), der sie befreite. Ri 10,9–16 ergänzt, dass Schuldbekenntnis und Ablegung der fremden Götter einen solchen „Notschrei“ begleiten mussten. Es sind also nur jeweils sehr kurze Zeiten des Stillstands der Geschichte Gottes mit seinem Volk, die sein Zorn bewirkt. Der Zorn verzögert die Geschichte, hält deren Verlauf aber keineswegs auf. Die Geschichte selber bleibt unter dem heilvollen Vorzeichen der Landverheißung Gottes und dient deren Realisierung und Sicherung; nur wäre sie ohne Israels Schuld und den Zorn, den sie hervorrief, schneller verwirklicht worden. Daher bedarf die häufig geäußerte Ansicht, im sog. „Richter-Schema“ (Ri 2,11ff.), das den einzelnen Berichten des Richterbuches als hermeneutischer Schlüssel vorangestellt ist, spiegele sich ein zyklisches Zeitverständnis wider, der Korrektur. Zwar wird in Ri 2 ein Rhythmus der Geschichte aufgedeckt, der eine begrenzte Epoche prägt, indem Phasen des Zornes Gottes und Phasen seines Mitleids miteinander abwechseln (und als Anlass auf menschlicher Seite Phasen des Abfalls von Gott und Phasen der Einsicht und der Dankbarkeit ihm gegenüber); aber auch Ri 2,11ff. basieren, wenn auch unausgesprochen, auf dem Konzept einer zielgerichteten Geschichte, ob diese nun anfangs von Gottes (Land-)Verheißung geprägt ist oder aber auf David als Heilsgabe Gottes zuläuft. Gestützt wird diese Interpretation durch den Zusatz einer jüngeren dtr Hand in Ri 2,20–23. In ihm versteht ein dtr Theologe die Richterzeit so, dass der Ungehorsam Israels gegenüber dem offenbarten Willen Jahwes den Zorn Gottes immer neu entflammt habe und dass dieser Zorn zu einer Minderung des Heils geführt habe, das Gott Israel zugedacht hatte. Die Geschichte ist für diesen Theologen ein Feld, auf dem Gott sein Volk auf die Probe stellt, um zu sehen, ob er ihm das volle Heil oder nur ein eingeschränktes, gemindertes Heil zukommen lassen kann. In jedem Fall aber ist das Israel zugedachte Heil Gottes der entscheidende Motor der Geschichte. (FS W. Dietrich), hg. von Th. Naumann/R. Hunziker-Rodewald, Stuttgart 2009, 403–416, 412f., aus.
9. Konzeptionen des göttlichen Zorns im DtrG
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Auf den ersten Blick überraschend begegnet die gleiche Konzeption wie im Richterbuch auch an einer Stelle der Königsbücher: in 2Kön 13,2–5. Nachdem Jehoachas, der Sohn Jehus, als neuer König des Nordreichs in V.1 vorgestellt worden ist, heißt es hier: Er tat, was in den Augen Jahwes böse war, und folgte den Sünden Jerobeams, des Sohnes Nebats, zu denen dieser Israel verführt hatte; er wich nicht davon ab. Da entbrannte der Zorn Jahwes über Israel, und er gab sie in die Hand Hasaels, des Königs der Aramäer, und in die Hand Ben-Hadads, des Sohnes Hasaels, die ganze Zeit. Jehoachas aber besänftigte das Angesicht Jahwes; da erhörte ihn Jahwe, denn er hatte die Bedrängnis Israels gesehen, wie der König der Aramäer sie bedrängte. So gab Jahwe Israel einen Retter, und sie entkamen der Hand der Aramäer, und die Israeliten wohnten in ihren Zelten wie zuvor.
Hier werden die Aramäerkriege während der Jehu-Dynastie, die für Israel weitgehend verlustreich waren, nach den Regeln der Geschichtsdeutung für die Richterzeit behandelt. Für die dtr Theologen standen die Aramäer des 9./8. Jh.s v. Chr. trotz ihrer Überlegenheit auf derselben Stufe wie die Nachbarvölker Israels zur Zeit der Richter. Ihre Siege stellten eine Weise der Erfahrung des göttlichen Zorns dar, durch den er seinen Geschichtsplan verzögerte, aber nicht Israels Existenz bedrohte. Die dtr Theologen wussten von keiner besonderen Schuld des Jehoachas; dass er den „Sünden Jerobeams“ folgte, galt entsprechend für alle Könige des Nordreichs. Aber sie kannten einen kraftvollen „Retter“, den Gott sandte, als der König ihn im Gebet zu besänftigen suchte. Obgleich dessen Name nicht genannt wird, liegt die Vermutung nahe, dass der Prophet Elischa gemeint ist12, dessen Krankheit und Tod in den folgenden Versen berichtet werden. Wie dem auch sei, im analogen Fall einer von Gott verfügten „Rettung“ Israels vor den Aramäern durch den Sieg Jerobeams II. wird bemerkenswert anders formuliert: Jahwe aber hatte nicht angesagt, er wolle den Namen Israels unter dem Himmel austilgen. So rettete er sie durch Jerobeam, den Sohn des Joasch. (2Kön 14,27)
Jerobeam II. wird der Titel „Retter“ vorenthalten, und mit der potentiellen Vernichtung Israels ist schon eine andere, viel weiter reichende Folge des Zornes Gottes im Blick als in 2Kön 13. b. Die Staatenzeit: die Bedrohung der Existenz Israels Für die übliche Konzeption des göttlichen Zornes in den Königsbüchern – abgesehen von dem Sonderfall 2Kön 13 – hat Lohfink überzeugend gezeigt, dass die dtr Theologen noch einmal unterscheiden zwischen der Auswirkung des Zorns auf die schuldigen Könige und auf Israel als Kollektiv. Weil die Könige vor Gott die Hauptschuldigen waren, die die unüberbietbare „Sünde Jerobeams“ initiierten und das Volk zu dieser Sünde verführten (1Kön 14,16 u.o.), sind es überwiegend die Könige, die Subjekt des „Zum Zorn Reizens“ 12
So M. NOTH, Überlieferungsgeschichtliche Studien, Tübingen 1957, 84.
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sind und die zusammen mit ihren Herrscherhäusern die primären Adressaten des göttlichen Zorns sind, ohne dass Israel damit entschuldigt wäre. Mit dieser unterschiedlichen Gewichtung der Schuld hängt zusammen, dass die Geschlechter der schuldigen Könige „vernichtet“ (oder „ausgerottet“) werden, wenn Gottes Zorn entbrennt, während Israel und Juda, wenn sie vom Zorn Gottes getroffen werden (vornehmlich in 2Kön 17), zwar „von Jahwes Angesicht entfernt“ bzw. „fortgeschleudert“ werden 13 , aber am Leben bleiben, wenngleich in reduzierter Gestalt und des Landes als der eigentlichen Heilsgabe beraubt. Allerdings sind die dtr Theologen viel zu sorgsame Historiker, als dass sie es bei dieser pauschalen Bewertung beließen. Sie haben einerseits die Schuld der Könige, die „Jahwe zum Zorn reizten“, bis 722 v. Chr. auf das Nordreich beschränkt, um plausibel begründen zu können, warum Juda damals der Katastrophe entging 14 . Sie haben andererseits in dieser Zeit unterschieden zwischen Königen, die Jahwes Zorn in voller Härte erfuhren, solchen, die ihn nur eingeschränkt, und solchen, die ihn gar nicht erfuhren. In dieser Unterscheidung wussten sie sich an die ihnen überlieferten Nachrichten gebunden. Zorn in der Vollform erfuhren nur drei Könige, die zu Beginn des Nordreichs herrschten und mit den Stierbildern von Bethel und Dan (bzw. dem BaalTempel in Samaria) die Weichen für die kommende Zornesgeschichte stellten: Jerobeam I., Bascha und Ahab (1Kön 14,8ff.; 16,2ff. 29ff.; 21,19ff.). Bei ihnen wirkte sich der Zorn Gottes „vernichtend“ aus ( שׁמדhif. 1Kön 13,34; 15,29; 16,12; 2Kön 10,17), indem ihre jeweilige Sippe bzw. Dynastie getötet wurde15, wie ihnen allen zuvor von einem Propheten feierlich angekündigt wird. Es gibt aber auch Könige (am Anfang und Ende der Omri-Dynastie), die Gottes Zorn erfahren, ohne dass dessen Wirkung genannt wird (1Kön 16,26; 22,54). Die Omri-Dynastie als ganze war schuldig am Untergang Samarias, und zwar ausnahmslos, auch wenn vom ersten und letzten König keine katastrophale Nachricht überliefert war. Das eigentlich Erstaunliche aber ist, dass die dtr Theologen in der Folgezeit vom Zorn Gottes schweigen, bis sie ihr großes Zorneskapitel 2Kön 17 schreiben: sowohl während des gesamten Jahrhunderts der Herrschaft der Jehu-Dynastie als auch während der turbulenten Jahrzehnte vor dem Fall Samarias, als Königsmorde an der Tagesordnung waren. Dabei notieren die dtr Theologen sorgfältig, dass alle Könige der Jehu-Dynastie und der letzten Jahrzehnte des Nordreichs an der „Sünde Jerobeams“ festhielten, also den 13
2Kön 17,18.20.23; 23,27; 24,3.20; vgl. LOHFINK, Zorn Gottes, a.a.O. (Anm. 7), 150. Erst nach 722 v. Chr. ist Juda, durch die vielfältige Schuld Manasses verführt, Subjekt des „Reizens zum Zorn“ (2Kön 21,15; 22,17; 23,26) und damit gleich schuldig wie das Nordreich. Allerdings wird weder Manasse noch sein (davidisches) „Haus“ „vernichtet“. 15 Die Treue der dtr Theologen gegenüber ihren Vorlagen zeigt sich daran, dass sie den natürlichen Tod dieser schuldigen Könige selber notieren, obwohl sie ihn nicht zu erklären vermögen (außer im Fall der „Buße“ Ahabs durch eine erheblich jüngere Stimme). 14
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Zorn sehr wohl verdient gehabt hätten16. Von einem Anwachsen der Schuld kann in der Sicht der dtr Darstellung nicht die Rede sein; vielmehr wird dem letzten König des Nordreichs sogar bescheinigt, dass seine Schuld geringer war als die seiner Vorgänger (2Kön 17,2). Nicht auf der Zunahme der Schuld liegt also das Augenmerk der dtr Texte, sondern auf deren Charakter, wie er sich am Anfang der Geschichte eines selbständigen Nordreichs am deutlichsten erwies. Wie vor allem 1Kön 14 zeigt, sind es primär die „anderen Götter“ in Gestalt der „gegossenen Bilder“ (V.9), die Jahwes Zorn hervorrufen, und zwar in seiner stärksten „vernichtenden“ Gestalt, und es kann von hier aus nicht verwundern, dass auch in dem sogleich zu betrachtenden Rückblick des Mose auf die analoge Schuld am Sinai/Horeb in Dtn 9–10 ständig von der „Vernichtung“ Aarons (9,20), vor allem aber Israels (9,8.14.19.25) bzw. von seiner „Zerstörung“ (10,10) die Rede ist, wenn der Zorn Jahwes im Blick ist, eben weil wieder ein „gegossenes Bild“ errichtet wird, jetzt freilich schon am Beginn der Geschichte Gottes mit seinem Volk und von diesem als ganzen. Dennoch wird nun aber das von den Königen zum Bilderdienst (bzw. von Manasse zu schwerster Schuld) verführte Volk nicht „vernichtet“, obwohl es auch selber mehrfach Subjekt des „Reizens zum Zorn“ ist17 und eine „Vernichtung“ wie im Fall der Herrscherhäuser Jerobeams I., Baschas und Ahabs auch nach der Logik der Fluchandrohungen in Dtn 28,47ff. eigentlich zu erwarten gewesen wäre (vgl. V.48.63). Es wird jedoch „nur“ von Jahwe „geschlagen“, „aus seinem guten Land ausgerissen“ bzw. „zerstreut“ (1Kön 14,15) bzw. „von Jahwes Angesicht entfernt“ (s.o.). Wird damit aber wirklich „der Begriff des Zorns Gottes neu interpretiert“, und zwar so, dass „der alte und vorher so eindeutige Begriff des Gotteszorns herunterinterpretiert“ wird? Man kann mit Lohfink18 so urteilen, wenn man die Königsbücher isoliert liest. Von Dtn 9–10 herkommend, ist ein Leser auf den genannten Wechsel vorbereitet. Wie sogleich zu zeigen sein wird, will Dtn 9–10 die Aussagen der Königsbücher vorbereiten – ob als genuiner Bestandteil eines exilischen DtrG oder aber als jüngere Deutehilfe, kann hier zunächst offen bleiben.
2. Gottes (ständiger) Zorn zur Zeit des Mose (Dtn 9–10) Dtn 9,7–10,10 (im Folgenden vereinfachend: Dtn 9–10) ist innerhalb des Kern-Deuteronomiums ein ungewöhnlicher Text, da er (aus der Perspektive des Mose) von Vergangenem erzählt, wie es sonst (neben Dtn 1–3.4) nur 16 Eine Ausnahme bilden Schallum, der nur einen Monat regierte (2Kön 15,13), und der sogleich zu nennende letzte König Hosea. 17 1Kön 14,15; 16,2.13.26; vgl. für Juda oben Anm. 13. 18 LOHFINK, Zorn Gottes, a.a.O. (Anm. 7), 151.
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Kap. 5 tut. Dennoch ist er üblicherweise nur im Kontext des Deuteronomiums ausgelegt worden. Er hat jedoch, wie sogleich zu zeigen sein wird, einen ungleich weiteren, das gesamte DtrG betreffenden Horizont. Einleitend sei nur darauf verwiesen, dass die Perikope, die die unüberbietbare Hauptschuld des Nordreichs aus ihrer historischen Verankerung löst, sie an den Sinai/Horeb verlegt und damit auf ganz Israel ausweitet, nur ein einziges Thema hat, das sie von Anfang bis Ende bestimmt 19 : den Zorn Gottes, der Israel rechtens schon zur Zeit des Mose hätte „vernichten“ müssen, den Mose aber mit seiner Fürbitte am Aufflammen gehindert hat. Von großem Gewicht für unser Thema ist die Beobachtung, dass der Rückblick des Mose zwar große Gemeinsamkeiten mit der Erzählung vom sog. Goldenen Kalb in Ex 32 aufweist (die nach allgemeiner Ansicht auf einer – wie auch immer genau einzugrenzenden – literarischen Grundgestalt von Ex 32 basieren), dass Dtn 9–10 aber in zwei entscheidenden Hinsichten in seinem Anliegen weit über Ex 32 hinausgeht: 1) Wenn auch die zentrale Intention von Dtn 9–10 darin besteht, die Errichtung des Goldenen Kalbes schon am Sinai/Horeb, d.h. schon im Zusammenhang der grundlegenden Offenbarung Jahwes, als ein todeswürdiges Vergehen darzustellen, das notwendig den vernichtenden Zorn Jahwes hervorrufen musste, und wenn auch die Mehrzahl der Verse (9,8–21.25ff.) dieser unüberbietbaren Schuld gewidmet sind, so ist doch bemerkenswert, dass die Perikope mit einem viel weiter gespannten geschichtlichen Horizont einsetzt (V.7): Denke daran und vergiss nicht, wie du Jahwe, deinen Gott, erzürnt hast in der Wüste. Von dem Tag an, an dem du ausgezogen bist aus dem Land Ägypten, bis ihr an diesen Ort gekommen seid, wart ihr ständig widerspenstig20 gegen Jahwe.
Die Verwerfung Gottes durch sein Volk am Horeb war für diesen Mose alles andere als ein unglückliches Zufallsgeschehen. Ganz im Gegenteil war sie die logische Fortsetzung von Israels Haltung während der Wüstenwanderung, also der Zeiten vor und nach der Offenbarung Jahwes am Horeb und damit aller Tage seit der Befreiung aus der Fron in Ägypten. So ist es konsequent, dass Mose nicht nur im zitierten Eingangssatz seiner Retrospektive, sondern auch nach Abschluss der Schilderung der Horeb-Ereignisse wieder auf die Schuld Israels während der Wüstenwanderung zu sprechen kommt (V.22–24), die (kürzeren) Erinnerungen an die Wüstenwanderung also die breit geschilderten Ereignisse am Horeb umklammern21: 19
Ausnahmen bilden die literarischen Zusätze 10,6–9. Der Text wählt hier und im Folgenden eine sehr künstliche partizipiale Konstruktion, um die Punktualität eines finiten Verbes mit Vergangenheitsaspekt zu vermeiden und die Dauer des Geschehens auszudrücken. 21 Für eine literarkritische Abtrennung dieser Verse, wie sie häufig befürwortet wird (z.B. von E. TALSTRA, Deuteronomy 9 and 10. Synchronic and Diachronic Observations, in: J. C. 20
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Auch in Tabera, in Massa und in Kibrot-Taawa habt ihr ständig Jahwe erzürnt … Ihr wart ständig widerspenstig gegen Jahwe, seit ich euch kenne. (V.22.24)
Wesentlich für diesen Mose ist zum einen die lückenlose Permanenz der Schuld des Gottesvolkes, und zwar von allem Anfang an, d.h. seit der Heilserfahrung der Herausführung aus Ägypten, die Israel zum Gottesvolk werden ließ, zum anderen aber die Schwere der Schuld. Weil diese sich sowohl am Horeb im Wunsch nach dem selbst-„gemachten“ Repräsentationsbild als auch im Misstrauen während der Wüstenwanderung direkt gegen Gott richtete, so dass seine Führung des eigenen Geschicks von Israel abgewiesen wurde, konnte die Konsequenz auf Seiten Gottes nur das Aufflammen seines Zornes sein. Allerdings ist es keineswegs zufällig, dass die Konsequenz des göttlichen Zorns, die „Vernichtung“ Israels, so häufig auch von ihr die Rede ist (Dtn 9,8.14.19.25; vgl. V.20), explizit nur im Zusammenhang des Goldenen Kalbes genannt wird. Jedoch gilt sie im Kontext auch für die Widerspenstigkeit Israels in der Wüste, da hier wie dort der gleiche Begriff für das „Erzürnen“ Jahwes ( קצףhif.: 9,7.22 einerseits, 9,8.19 [V.19: q.] andererseits) verwendet wird. Für Dtn 9–10 steht also nicht nur die Errichtung des Goldenen Kalbes als Einzelereignis unter dem tödlichen Zorn Jahwes, sondern die gesamte „ideale“ Mosezeit. Das Israel der Mosezeit war in jeder Stunde seiner Existenz vernichtungsreif. 2) Der zweite fundamentale Unterschied zwischen Ex 32 und Dtn 9–10 ist ebenso gewichtig. In Ex 32 ist Mose in seiner Fürbitte für Israel anfangs erfolgreich (V.10–14), wird aber am Ende von Gott in seinem Anliegen zurückgewiesen (V.31–34). In Dtn 9–10 dagegen ist Mose in seiner mehrfachen Fürbitte durchgehend erfolgreich. Die unterschiedliche Reaktion Jahwes auf Moses Gebete in Ex 32 hat älteren Auslegern oft Schwierigkeiten bereitet. Heute besteht insofern Konsens unter den Exegeten, als die erste Fürbitte (genauer: V.7–14) als die jüngere (dtr) Interpretation einer wenig älteren Erzählung gilt, die als Kernbestand mindestens die Eröffnungsszene mit der Errichtung des Kalbs (V.1–6), die Zerstörung des Kalbs durch Mose sowie Moses Versuch, „Sühne“ für sein Volk zu schaffen, in der Schlussszene (V.31–34) umfasste. Inhaltlich beruht die Differenz zwischen dem abgewiesenen älteren Anliegen des Mose in de Moor [Hg.], Synchronic or Diachronic? [OTS 34], Leiden 1994, 187–210 und von N. LOHFINK, Dtn 9,1–10,11 und Ex 32–34. Zu Endtextstruktur, Intertextualität, Schichtung und Abhängigkeiten, in: M. Köckert/E. Blum [Hg.], Gottes Volk am Sinai. Untersuchungen zu Ex 32–34 und Dtn 9–10 [VWGTh 18], Gütersloh 2001, 41–87), sehe ich mit H.-C. SCHMITT, Die Erzählung vom Goldenen Kalb Ex 32* und das Deuteronomistische Geschichtswerk, in: DERS., Theologie in Prophetie und Pentateuch. Gesammelte Schriften (BZAW 310), Berlin/New York 2001, 311–325, 316f., keine zwingenden Gründe. Sollte sie zutreffen, würde sie auf eine Urform von Dtn 9–10 führen, die für unser Thema ohne Interesse ist, weil sie zu einem früheren und begrenzteren Kontext gehören müsste.
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V.31–34 und der erfolgreichen jüngeren Fürbitte in V.10–14 auf dem Unterschied zwischen Gottes Vergebung (V.31–34) und seiner „Reue“ (V.10–14), wie er schon die ersten beiden Visionen des Amos bestimmte (Amos bat Jahwe um Vergebung, erreichte mit seinem Gebet aber Jahwes „Reue“, Am 7,1– 6). Die Schuld Israels am Sinai/Horeb, die Verwerfung des lebendigen Gottes zugunsten des „gemachten“ Gottes (V.1.4), ist zu groß, als dass sie von Gott vergeben werden könnte, selbst wenn Mose als einzig Schuldloser sein Leben als Ersatz anbietet (V.32). Vielmehr bedarf Israels Schuld der harten Strafe Gottes ( פקדV.34), auch wenn sie erst in zeitlichem Abstand erfolgt22. Demgegenüber führt die jüngere, dem älteren Text als hermeneutischer Horizont vorangestellte Fürbitte des Mose mit dem Zorn Gottes, der Israel „vernichten“ will, eine ganz neue und andersartige Dimension der Reaktion Jahwes ein, die der ältere Text noch nicht kannte. Die nun aufgrund des göttlichen Willenswandels („Reue“) erfolgreiche Fürbitte des Mose hebt die Bestrafung Israels nicht auf, auf die V.31–34 zuläuft, sondern vergewissert die Glieder des Gottesvolkes, dass sie nicht zur Verwerfung und Auslöschung Israels führen wird. Dtn 9–10 kann unbelastet durch eine vorgegebene Erzählung, aber in Kenntnis von Ex 32* freier formulieren als Ex 32,7–1423. Weil es der Perikope vor allem anderen um die zuletzt genannte Vergewisserung Israels geht, dass Jahwe es auch bei denkbar großer Schuld aufgrund der Fürbitte des Mose nicht (und auch künftig niemals) zu „vernichten“ imstande ist, schweigt sie von der Strafe Gottes, mit deren Ankündigung Ex 32 endete. Sie schweigt gleichzeitig von der Differenzierung zwischen göttlicher Vergebung und „Reue“ und verwendet den Begriff der „Reue“ nicht, der die Fürbitte des Mose in Ex 32,12.14 bestimmt – möglicherweise, weil die „Reue“ Gottes in den Visionen des Amos (an die Ex 32,12.14 vermutlich anknüpft) eine nur vorübergehende Reaktion Gottes bezeichnet, die ab Am 7,7ff. der Ansage eines Vernichtungsgerichtes Platz macht. Wie immer es sich damit verhält, deutlich ist, dass Dtn 9–10 jegliches Schillern und jegliche abwägende Reflexion im Blick auf die göttliche Reaktion auf Israels permanente Schuld, wie sie in der Errichtung des Goldenen
22 Am ehesten ist in der Erstfassung der Erzählung auf das Ende des Nordreichs angespielt; vgl. etwa L. PERLITT, Bundestheologie im Alten Testament (WMANT 36), Neukirchen-Vluyn 1969, 209. 23 Nur angemerkt sei, dass Ex 32,7–14 seinerseits Spuren eines Einflusses von Dtn 9–10 zeigt, die besonders deutlich in V.9, wahrscheinlich aber auch in V.13 greifbar sind; vgl. J. CHR. GERTZ, Beobachtungen zu Komposition und Redaktion in Ex 32–34, in: M. Köckert/ E. Blum (Hg.), Gottes Volk am Sinai. Untersuchungen zu Ex 32–34 und Dtn 9–10 (VWGTh 18), Gütersloh 2001, 88–106, 96 und J. JEREMIAS, The Wrath of God at Mt. Sinai (Exod 32; Deut 9–10), in: C. R. Seitz/K. H. Richards (Hg.), The Bible as Christian Scripture. The Work of Brevard S. Childs (Manuskript 2008), Atlanta 2013, 21–35.
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Kalbes gipfelt, zu vermeiden trachtet. Es gilt, was der Abschlusspassus der Perikope so formuliert (Dtn 10,10): Jahwe erhörte mich auch dieses Mal. Jahwe wollte dich nicht verderben.
Dieser Satz klingt grundsätzlich. So gewiss Israel von allem Anfang an ohne Mose dem vernichtenden Zorn Jahwes preisgegeben gewesen wäre, so gewiss darf es – wegen Moses Fürbitte – sicher sein, dass Gottes Zorn es nie vernichten wird. Der Inhalt der Fürbitte (Dtn 9,26–29; vgl. Ex 32,11–13) prägt den Lesern der Perikope zudem ein, dass Gott zur Vollstreckung seines glühenden Zornes gar nicht imstande ist, da er nicht nur seine Heilsgeschichte aufgeben (V.26.29), nicht nur die Gewinnung der Völkerwelt für sich verspielen würde (V.28), sondern auch die Zusage an die Väter (V.27) bzw. den Schwur ihnen gegenüber (Ex 32,13) brechen müsste. Alle diese Argumente, mit denen formal Mose Gott zu überzeugen versucht, sind der Sache nach für jeden verständigen Leser Gottes eigene Argumente, die ihn daran hindern, seinem (nur allzu berechtigten) Zorn freie Hand zu lassen. Was ist die Intention dieser beiden einschneidenden Akzentverschiebungen in der retrospektiven Beurteilung der Sinai-Ereignisse durch Mose im Vergleich zu Ex 32*? Diese Frage ist ohne Schwierigkeit beantwortbar, wenn erkannt ist, dass es sich im ersten Fall um eine Ausweitung der Schuld Israels handelt – Israel hat Jahwe nicht nur mit dem Goldenen Kalb, sondern ständig in der Wüste „erzürnt“ –, im anderen Fall aber um eine Einschränkung und damit Vereinheitlichung und Verdeutlichung der Reaktion Jahwes – nicht auf Israels Schuld (sie ist zorneswürdig und verdient die „Vernichtung“ der Schuldigen), sondern auf Moses Einsatz für das schuldige Israel, der mit seinem wiederholten 40-tägigen Fasten (9,18.25; 10,10) als analogielos unter allen Menschen dargestellt wird. Die Steigerung der Schuld Israels bis zur prophetischen Aussage, dass das Gottesvolk zu jedem Zeitpunkt seiner Geschichte zornes- und vernichtungsreif war24, und die Steigerung der göttlichen Reaktion zur wiederholten Bestätigung, dass er seinen Zorn nicht vollstrecken wird, gehören unlöslich zusammen: als Vergewisserung eines seit dem Exil verunsicherten Gottesvolkes durch die Zusage, dass Gott schwerste Schuld Israels zwar hart bestrafen, sein Volk aber unter keinen Umständen verwerfen kann. Literarisch zielt Dtn 9–10 mit dieser Intention weit über den Rahmen des Deuteronomiums hinaus. Das zeigt sich primär auf der Ebene des Sprachlichen. Die dtr Theologen, die Dtn 9–10 gestalteten, haben nämlich in ihrem Bedürfnis, die Geschichte Israels zu systematisieren, beides getan: Zum einen haben sie die Mosezeit als eine ganz eigene Zeit gezeichnet, indem sie mit dem Verb קצףein „Leitwort“ (M. Buber) für den Zorn Gottes gewählt haben, 24
Vgl. etwa Hos 12,4 und Ez 20.
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das sich in seiner vierfachen Verwendung (3-mal hif.: 9,7.8.22; einmal q.: 9,19) dem Leser einprägt, zumal es sonst selten Verwendung findet (nur einmal in den historischen Büchern); zum anderen haben sie neben diesem „Leitwort“ bewusst auch andersartige Begrifflichkeiten für den Zorn gebraucht, die den aufmerksamen Leser nötigen, die Ereignisse am Horeb mit der Schuld der Könige während der Staatenzeit in Verbindung zu bringen. Evident ist dies 1) für das Verb כעסhif. (mit Israel als Subjekt und Gott als Objekt: „zum Zorn reizen“, Dtn 9,18), das, wie wir oben sahen, das „Leitwort“ für Gottes Zorn während der Zeit des geteilten Reiches ist. Entsprechendes gilt aber auch 2) für das Verb אנףhitp., das üblicherweise für den Zorn Gottes gegen Individuen gebraucht wird und einzig in Dtn 9,8 und 2Kön 17,18 (bei der Begründung der Zerstörung Samarias) für den Zorn gegen Israel als Ganzheit Verwendung findet. An einer Stelle werden 3) diese intendierten sprachlichen Bezüge explizit und inhaltlich zum Ausdruck gebracht. Der bereits zitierte Eingangsvers zu Dtn 9–10, Dtn 9,7, findet eine auffällige und deutlich beabsichtigte Parallele in der Gottesrede eines ungenannten Propheten, der kurz vor dem Ende des Staates Juda die Schuld des Gottesvolks so zusammenfasst: Sie haben getan, was in meinen Augen böse ist, und mich ständig zum Zorn gereizt seit dem Tag, an dem ihre Väter aus Ägypten ausgezogen sind, bis auf den heutigen Tag. (2Kön 21,15)
Hier wie dort steht die Absicht im Zentrum, Israels Schuld als eine ständige darzustellen, die vom Auszug aus Ägypten bis zur Gegenwart reicht, und sie zugleich in der obersten Größenordnung zu verorten, so dass sie als Reaktion den Zorn Gottes hervorrufen muss. Mit solchen Verweisen sollen die Leser angehalten werden, die Schuld Israels während der Staatenzeit in lückenloser Kontinuität mit seiner Schuld in der prägenden Mosezeit zu sehen, wozu ja schon die doppelte Thematik der Errichtung von Jungstierbildern am Sinai/Horeb (Ex 32; Dtn 9–10) und in Bethel sowie Dan durch Jerobeam I. (1Kön12) anleiten wollte. Ob nun – wie mir wahrscheinlicher ist – die Darstellung der Königsbücher in einem älteren DtrG für sich bestanden hat und Dtn 9–10 ihr im Nachhinein als neuer Verständnishorizont vorangestellt worden ist, oder ob Dtn 9–10 von Anbeginn auf diese Darstellung bezogen war: Offensichtlich ist Dtn 9–10 so oder so von vornherein auf die dtr Beschreibung der Staatenzeit hin angelegt gewesen. Dtn 9–10 verdeutlicht jedem verständigen Leser der Königsbücher im Voraus, warum das „Reizen zum Zorn“ Jahwes für die schuldigen Könige mit der „Vernichtung“ ihrer Herrscherhäuser eine andere und härtere Konsequenz heraufführen musste als die identische Schuld für Israel als Jahwes Volk, obwohl dieses Israel die gleiche Schuld schon in der Stunde der grundlegenden Offenbarung Jahwes auf sich geladen hatte. Für die dtr Theologen, die in Dtn 9–10 zu Wort kommen, haben die genannten Könige den Zorn
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Jahwes so erfahren, wie es zu erwarten war. Ungewöhnlich und unerwartet ist demgegenüber das Geschick Israels als Kollektiv. Wenn das Gottesvolk den göttlichen Zorn in Gestalt der Zerstörung des Tempels, grausamer Verheerung des Landes und der Exilierung der Bevölkerung erlebte, selber aber nicht „vernichtet“ wurde (wie es insbesondere als Wirkung des glühenden Zornes Jahwes in Gestalt des „Leitworts“ קצףzu erwarten gewesen wäre), dann nur, weil Moses Fürbitte am Sinai/Horeb es ein für allemal vor dieser Konsequenz bewahrte. Der Wandel im Konzept des göttlichen Zorns, den Lohfink in den Königsbüchern beobachtet hat, wird im Voraus durch Dtn 9–10 begründet.
Fazit 1) Für ihre Deutung der Geschichte Israels verwenden die dtr Theologen drei verschiedene Begriffe und – mit ihnen verbunden – drei verschiedene Konzeptionen vom göttlichen Zorn, die jeweils strikt auf eine begrenzte Epoche beschränkt sind: auf die Mose-, die Richter- und die Staatenzeit. 2) Aus gutem Grund steht der härteste Begriff für den Zorn am Anfang, der stets die „Vernichtung“ der Schuldigen zur Konsequenz hat. Er ist für die Mosezeit mit doppelter Motivation gewählt: zum einen, um aufzuweisen, dass das biblische Israel von allem Anfang an und ohne jede Unterbrechung reif für den göttlichen Zorn und für die mit ihm gegebene Vernichtung war; zum anderen aber zur Vergewisserung, dass Gott diese Gestalt des Zorns – um Moses willen – nie hat in sich aufkommen lassen, weil er sich unlöslich an sein Volk gebunden hat. Gottes Zorn im Sinne der Wurzel קצףin Dtn 9–10 hat Israel nie erfahren, so schuldig es auch immer neu vor Gott geworden ist. 3) Demgegenüber führen die Begriffe, die die Richter- und die Staatenzeit charakterisieren, zu Vorstellungen von Gottes Zorn, wie ihn Israel durchaus erfahren hat: in der Richterzeit wiederholt und mehrfach, in der Staatenzeit einschneidend als Beendigung der beiden Teilstaaten. Von Dtn 9–10 her gelesen, sind diese Gestalten des göttlichen Zorns diesseits von קצףangesiedelt: Der Fortbestand Israels stand in der Richterzeit nie zur Diskussion, war aber nach den Texten der Königsbücher auch mit der Zerstörung Samarias und Jerusalems und der Zerstreuung des Gottesvolkes nicht gefährdet. 4) Wenn der Zorn Gottes in der Richterzeit ( )ױחר אף יהוה בaufgrund des Abfalls Israels zu Göttern Kanaans und der Nachbarvölker die Geschichte Gottes mit seinem Volk für kurze Zeit zum Stillstand bringt, so erweist sich diese Zorneskonzeption (wie in Jos 7) als tief in heilsgeschichtlichem Denken verwurzelt. Der Zorn verzögert Gottes Heil mit seinem Volk, stellt es aber nie grundsätzlich in Frage. Sprachliche Bezüge zwischen der Zorneskonzeption des Richterbuches und Dtn 9–10 gibt es nicht, aber mit Dtn 9–10 als Vorgabe verstärkt sich noch der vergewissernde Ton, der allen Zornestexten der Rich-
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terzeit ohnehin innewohnt: Gott kann zwar zürnen, wenn Israel sich an ihm verschuldet, aber sein Zorn führt zu erträglichem Leid und währt nur begrenzte Zeit; er macht seinem Mitleid und seiner Güte Platz, wenn Israel sich an ihn wendet25. 5) Demgegenüber ist die Zorneskonzeption der Staatenzeit durch mehrfache sprachliche Verbindungen auf Dtn 9–10 bezogen. Dieser Konzeption ist eigen, dass sie mit dem „Leitwort“ כעסhif. den Ton ganz auf die Schuld Israels legt, die den Zorn Jahwes hervorruft. Der göttliche Zorn seinerseits wirkt sich grundsätzlich wiederum „vernichtend“ an den Schuldigen aus, vollführt diese Härte freilich nur an den Hauptschuldigen, den Königen, die für die Kapitalschuld Israels, die Errichtung des Stierbilds von Bethel (und Dan), die „Sünde Jerobeams“ (bzw. für die Errichtung einer Aschera und den Bau eines Baaltempels im Falle Ahabs), verantwortlich waren. Das Gottesvolk dagegen erfuhr den Zorn Jahwes zwar in grausamer Strafe (Zerstörung Samarias und Jerusalems sowie Exilierung), nicht aber als „Vernichtung“. Den Grund dieser Differenz nennen nicht die Königsbücher selber, wohl aber Dtn 9–10 als vorangestellte hermeneutische Lesehilfe. 6) Der entscheidende Wandel in der Zorneskonzeption gegenüber der Richterzeit wird demnach für die dtr Theologie mit der Errichtung der Jungstierbilder in Bethel und Dan durch Jerobeam I. herbeigeführt. In der Richterzeit (und unter Salomo) fiel Israel zu fremden Göttern ab, Göttern der Kanaanäer und der Nachbarvölker, und konnte von dort wieder zu Jahwe zurückfinden. Seit Beginn der Reichsteilung aber stehen (im Nordreich) die fremden Götter mit ihrem anstößigsten Symbol in Israels Mitte, im Hauptheiligtum, zu dem man wallfahrtet. Jahwe, zu dem sich Israel formell bekennt, ist ununterscheidbar von ihnen geworden. Israels „Vernichtung“ durch seinen Zorn wäre die logische Konsequenz, die dennoch nicht erfolgt, so hart die Zerstörung (Samarias und) Jerusalems und das Exilsgeschick als Zorneswirkungen auch sind. 7) Dtn 9–10 steigert (im Gefolge von Ex 32*) diese Aussage, indem die Schuld des Jungstierbildes an den Sinai/Horeb verlegt und damit das Gottesvolk als ganzes als von Anbeginn zur Verehrung des wahren Gottes unfähig hingestellt wird. Aber Israel hat Mose, der ihm das Goldene Kalb zertrümmert und der mit seiner Fürbitte erreicht, dass Jahwe seinem „vernichtenden“ Zorn für alle Zeiten Zügel anlegt. 8) Nicht sicher zu klären ist, ob die drei so bewusst sprachlich unterschiedenen Zorneskonzeptionen nacheinander entstanden, wie mir wahrscheinlich
25 Wenn an einer einzigen Stelle des Richterbuches (Ri 2,12) das „Leitwort“ für den göttlichen Zorn in den Königsbüchern begegnet, dann am ehesten mit der Intention, die Generationen vor der Reichsteilung nicht besser und weniger schuldig erscheinen zu lassen als die Generationen danach.
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ist 26 , oder von vornherein spannungsreich aufeinander bezogen waren. Im ersten Fall müsste man annehmen, dass die in den Königsbüchern singuläre sprachliche Form eines zeitlich begrenzten göttlichen Zorns von 1Kön 13 das Modell für die Gestaltung des dtr Richterbuches (und Jos 7) gebildet hätte (oder aber gemeinsam mit diesem gestaltet und in die Königsbücher eingeführt worden wäre). Wie immer dem auch sei, in ihrem Dreiklang sind die unterschiedlichen Konzeptionen Zeugnisse eines intensiven Ringens um ein Verständnis des Handelns Gottes, das von der Erfahrbarkeit Gottes in der Geschichte überzeugt ist und sich doch allen einfachen Deutungen der Geschichte widersetzt.
26 In einer Zeit, in der „die Forschung an der dtr. Literatur … in eine Paradigmenkrise geraten zu sein“ scheint (W. THIEL, Deuteronomistische Redaktionsarbeit in den EliaErzählungen, Congress Vol. Leuven 1989 [VT.S 43] 148–171, zit. nach: DERS., Gelebte Geschichte. Studien zur Sozialgeschichte und zur frühen prophetischen Geschichtsdeutung Israels, hg. von P. Mommer/S. Pottmann, Neukirchen-Vluyn 2000, 139–160; 145, dem diese Ausführungen mit Dank für vielfältige Anregungen, besonders im Kreis der Mitarbeiter am „Biblischen Kommentar“, gewidmet sind), wird man freilich eine solche Vermutung nur mit der gebotenen Behutsamkeit äußern wollen.
10. Jhwh – ein Gott der „Rache“ Zu den mancherlei Gottesaussagen des Alten Testaments, die einem Christen anstößig und unverständlich erscheinen, gehört nicht zuletzt, dass dieser Gott Israel oder aber sich selber an Feinden „rächt“. Wenn W. Dietrich 1976 notierte, „Die alttestamentliche Fachwissenschaft ist … dem heiklen Problem bisher recht sorgsam aus dem Weg gegangen“1, so gilt dieses Urteil modifiziert auch heute, obwohl inzwischen außer seinem eigenen Aufsatz eine Reihe von Wörterbüchern2 und eine Monographie3 das Thema behandelt haben. Mir selber liegt im Folgenden an einer doppelten semantischen Differenzierung, 1) Der deutsche Begriff der „Rache“ führt sehr andersartige Assoziationen mit sich als sein hebräisches Äquivalent. 2) Mit der Übertragung des Begriffs auf Gott verändert sich dieser Begriff im Alten Testament erheblich. Beide Unterscheidungen sind für das Verständnis der Texte konstitutiv. „Rache“ ist im Deutschen ein rein negativ konnotierter Begriff. Die in der Etymologie vorgegebenen Assoziationen des „Treibens“ und „Verfolgens“4 sind nicht mehr präsent; stattdessen steht Rache für Selbstjustiz, bei der zur Begleichung einer vorausgegangenen Verletzung oder eines erlittenen Unrechts Willkür das Handeln bestimmt. Rache verzichtet auf den mühsamen Prozess der Rechtsfindung und erfolgt gemeinhin maßlos, zügellos und hasserfüllt. Sie ist illegitim und unmoralisch. Einen derart ausschließlich negativ geprägten Begriff der Rache kennt das Hebräische (zumeist Wurzel נקם5; gelegentlich auch נחםhitp.) nicht. Nur in 1 W. DIETRICH, Rache. Erwägungen zu einem alttestamentlichen Thema, EvTh 36 (1976) 450–472, 450; Neudruck in: DERS., „Theopolitik“. Studien zur Theologie und Ethik des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 2002, 117–136; 117. Der Schwerpunkt seiner eigenen Untersuchung gilt freilich der angemessenen Erfassung des Phänomens der menschlichen Rache im AT. 2 G. SAUER, Art. נקם, THAT 2 (1976) 106–109 und J. E. LINDSEY, Vengeance (IDBSuppl.), Nashville 1976, 932f.; E. LIPIŃSKI, Art. נקם, ThWAT 5 (1986) 602–612; F. STOLZ, Art. Rache, TRE 28 (1997) 82–88 (Lit.!); E. ZENGER, Art. Rache. Biblisch, RGG4 7 (2004) 11f. 3 H. G. L. PEELS, The Vengeance of God. The Meaning of the Root NQM and the Function of the NQM-Texts in the Context of Divine Revelation in the Old Testament (OTS 31), Leiden 1995. 4 G. DROSDOWSKI/P. GREBE u.a., Art. „rächen“, Der Große Duden, Bd. 7. Etymologie (1963) 546. 5 Da die Bedeutungsunterschiede zwischen dem Verb (im q.) und dem Substantiv, aber auch zwischen dem q. und pi. (E. JENNI, Das hebräische Pi’el, Zürich 1968, 144), ja selbst zwischen den reflexiven Stämmen des Verbs gering sind, wie LIPIŃSKI, נקם, a.a.O. (Anm. 2),
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wenigen Einzelfällen nimmt hier aufgrund des Kontextes die Rache eine negativ bestimmte Bedeutung an; Prototyp für ein solches Verständnis von Rache ist die selbstbezogene Maßlosigkeit eines Lamech, mit der dieser Gottes schützende Rache für den Brudermörder Kain in grotesker Weise übersteigert (Gen 4,23f.). Gemeinhin wird dagegen menschliche Rache emotionslosneutral beschrieben (Teil 1). Vor allem aber ist bemerkenswert, dass ungleich häufiger als von menschlicher Rache von der Rache Gottes die Rede ist, was auch für mehrere Belege gilt, an denen Menschen grammatisches Subjekt des Rächens sind. In seiner Übertragung auf Gott aber gewinnt der Begriff der Rache eine Reihe von Bedeutungsnuancen, die er nie bei seiner Verwendung für Menschen besitzt. Er ist jetzt ganz überwiegend positiv konnotiert, mit Ausnahme seiner Verwendung bei den Gerichtspropheten (Teil 2). Schließlich wird in wenigen jüngeren Texten das Rächen Jhwhs zu einem generellen Merkmal göttlichen Wirkens, sei es mittels partizipialer Konstruktion (Ps 99,8; Nah 1,2), sei es in der cstr.-Verbindung von Ps 94,1, „Gott der RacheErweise“. Wie sich zeigen lässt, verstehen diese Texte etwas weit Komplexeres unter Rache als die zuvor genannten Belege (Teil 3). Daher gilt: Über Gottes Rache lässt sich sachlich angemessen nur diachron reden, auch ohne dass wir in der Lage wären, jeden Einzeltext präzise zu datieren.
1. Es ist die Grundüberzeugung des „reifen“ Alten Testaments, dass Rache prinzipiell eine Angelegenheit Gottes ist. Dtn 32,35, von Paulus in Röm 12,19 zitiert, „Mein sind die Rache und die Vergeltung“ kann geradezu als eine Art Grundsatzerklärung verstanden werden, die hinter zahlreichen Texten steht. So verzichtet etwa David auf eigene Rache an Saul, der ihm nach dem Leben trachtet, weil er die Rache Jhwh zuweist (1Sam 24,13), und ein Jeremia in Lebensgefahr legt die Bestrafung der Verfolger aus seinem engsten Lebensbereich vertrauensvoll in Gottes Hände (Jer 11,20; 20,12) bzw. bittet um sie (15,15), obwohl seine Feinde ihrerseits an ihm ohne einen angemessenen Anlass eigenhändig Rache nehmen wollen (20,10). Für Ps 58,11 ist ein solches Warten auf Gottes Rache Kennzeichen eines Gerechten, und nach Lev 19,18 ist der Verzicht auf Rache und Zorn gegenüber den eigenen Volksangehörigen Voraussetzung der von Gott geforderten Nächstenliebe in Israel. Für andere Texte ist die Delegation der Rache an Gott nicht nur Forderung oder Erwartung, sondern schon belegte Erfahrung. Jephtas Tochter willigt in ihr hartes Geschick ein, als sie Jhwhs Rache an den Ammonitern gesehen hat (Ri 11,36), und der siegreiche König in Ps 18,48 und 2Sam 22,48 dankt Gott 603f. präzise aufgewiesen hat, werde ich im Folgenden nur dann auf diese Differenzen eingehen, wenn es sachlich erforderlich erscheint.
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für seine Rache, die er in der Rettung aus Feindgefahr erfuhr. Allerdings erweist 2Sam 4,8, dass derartige Geschichtsdeutungen ambivalent sein können, Die Mörder Eschbaals, die dessen Tod als Zeugnis der Rache Gottes zugunsten Davids auszugeben versuchen, werden von David hingerichtet. Schon an den bisher genannten Stellen wird eine Differenz des hebräischen Begriffs zum deutschen erkennbar, auf den Dietrich aufmerksam gemacht hat. Wenn die Feinde des Propheten an Jeremia „Rache nehmen“ wollen (Jer 20,10) oder der siegreiche König in Ps 18,48 (bzw. 2Sam 22,48) für Gottes „Rache“ dankt, wird dem Leser ein Anlass zu solcher „Rache“ nicht genannt. Diese Texte enthalten also „nicht das Moment der Revanche …, sondern nur das der Feindseligkeit“6, allerdings einer Feindseligkeit auf Leben und Tod. Der hebräische Begriff hat folglich einen weiteren Horizont als der deutsche. Die grundsätzliche Zuweisung der Rache an Jhwh zeigt sich auch darin, dass Jhwh seinerseits seine Rache wieder an Menschen delegieren kann. Im Auftrag Jhwhs soll Mose Israel an den Midianitern rächen (Num 31,2f.), und ebenso legt Jhwh seine Rache an Edom (Ez 25,14) bzw. seine Rache an Babylon (Jer 50,15) in Israels Hände. Menschen können also grammatisches Subjekt der Rache sein, deren logisches Subjekt Jhwh ist. Das gilt etwa auch für Jos 10,13, wenn die Sonne auf Geheiß Jhwhs stillsteht, bis Israel an seinen Feinden Rache genommen hat, oder für Ps 149,7, wo es Jhwhs Getreue sind, die die Rache an den Völkern vollziehen. Zieht man derartige Texte von der Statistik ab, verbleiben nur wenige Belege für menschliche Rache. Unter ihnen ragt eine Reihe von Texten heraus, die die Rache nun doch – wie im deutschen Sprachgebrauch – erkennbar negativ konnotieren, und zwar nicht so sehr, weil Menschen die Begleichung erlittenen Unrechts in die eigene Hand nehmen, sondern primär, weil die Rache im Übermaß praktiziert wird. Außer dem schon zuvor genannten Lamech wird eine Übersteigerung der Rache in Ez 25,12.17 den feindlichen Edomitern und Philistern zur Last gelegt und andernorts von Feinden generell erwartet (Ps 44,17; vgl. 8,3 und die schon zitierten Gegner Jeremias Jer 20,10). Es sind vermutlich vordringlich Erfahrungen solcher Maßlosigkeit der Rache, die das Verbot, sich an Volksangehörigen zu rächen, entstehen ließ. Die verbleibenden sechs Belege sind demgegenüber dadurch ausgezeichnet, dass sie erstaunlich emotionslos und neutral von menschlicher Rache reden. Sie gehören kaum zufällig zu den ältesten. Vom einzigen Rechtssatz, in dem die Rache als Rechtsfolge erscheint („Wenn jemand …, verfällt er zwingend der Rache“ Ex 21,20), wird man freilich sagen müssen, dass die passivische Rechtsfolgeformulierung letztlich auf Gott als Subjekt verweist, der sie verfügt und delegiert, durch wen und wie immer der Vollzug der Rache im Einzelnen vorzustellen ist (s.u.). Die Ambivalenz menschlicher Rache kommt 6 DIETRICH, Rache, a.a.O. (Anm. 1), 454 (bzw. 120); vgl. LINDSEY, Vengeance, a.a.O. (Anm. 2), 932.
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in Sauls Absicht zum Ausdruck, das gedemütigte Israel an den Philistern zu rächen, Diese Absicht wird einmal als ehrenwerter (1Sam 14,24), ein anderes Mal als selbstsüchtiger Königsplan, mit dem Saul David schaden möchte (1Sam 18,25), beschrieben. Demgegenüber entfallen in den Erzählungen von Simson, mit denen der Jubilar seit seiner Dissertation eng vertraut ist7, alle offensichtlichen Wertungen. Wenn Simson sich an den Philistern rächt, weil seine Frau einem anderen gegeben und danach von Philistern verbrannt wurde (Ri 15,7), oder weil ihm die Augen ausgestochen wurden (16,28), so schillern seine Taten; sie sind (nicht moralisch zu beurteilende) menschliche Willkürakte und doch gleichzeitig Zeugnisse göttlicher Kraft. Ohne jegliche Wertung bleibt auch die Warnung an die potentiell ehebrüchige Frau vor der Rache ihres erzürnten Gatten (Spr 6,34). Es gibt also einige relativ frühe Belege im Alten Testament, die unbefangen, sozusagen „vor-theologisch“ von menschlicher Rache reden. Ihnen ist primär zu entnehmen, dass Rache Reaktion auf ein schweres persönliches Unrecht und/oder einen akuten schmerzlichen Ehrverlust ist, die weder einfach zurückgenommen werden können, noch aber durch eine adäquate gerichtliche Bestrafung ausgeglichen werden können. Sie ist insofern einerseits berechtigt, ja geradezu notwendig (Ex 21,20), andererseits aber der Willkür preisgegeben, insofern ihr Maß nicht festliegt. Dagegen deuten die bisher genannten Texte nirgends einen genuinen Zusammenhang der Rache mit der Blutrache an, wie er von der Mehrzahl der Autoren ganz selbstverständlich vorausgesetzt wird. Es hat seinen guten Sinn, dass das Hebräische streng zwischen den Wurzeln נקםund גאלunterscheidet8. Eine Überschneidung in der Bedeutung von Rache und Blutrache gibt es einzig bei den beiden sogleich zu nennenden Belegen für ein נקםim passivum divinum (hof., Gen 4,15, zitiert von V.24; Ex 21,20), wobei eine solche Überschneidung im letztgenannten Fall denkbar, aber keineswegs sicher ist. Jedenfalls aber bedarf die Aussage, dass Jhwh das „Blut seiner Knechte“ rächt (Dtn 32,43; 2Kön 9,7; Ps 79,10)9, keiner Ableitung vom Brauch der Blutrache. 7 Vgl. R. BARTELMUS, Heroentum in Israel und seiner Umwelt (AThANT 65), Zürich 1979, 79ff. 8 Es bleibt das Verdienst der viel kritisierten Untersuchung zur Rache Gottes von G. E. MENDENHALL, The Tenth Generation. The Origins of Biblical Tradition, Baltimore ²1974, 69–104, auf diese meist missachtete Unterscheidung (vgl. aber PEELS, Vengeance, a.a.O. [Anm. 3], 79–86) mit Nachdruck verwiesen zu haben. (Die Kritik richtet sich vor allem gegen Mendenhalls These einer wesenhaften Verbindung des Begriffs der Rache Gottes mit der Vorstellung des Bundes; sie stützt sich zu Unrecht besonders auf die Amarnatexte, wie W. T. PITARD, Amarna ekēmu and Hebrew nāqam, Maarav 3 [1982] 5–25, überzeugend nachgewiesen hat.) 9 Vgl. die sprachliche Vorgabe der Verträge von Sfire (III = KAI 224, 11f.), „Wenn sie mich (den König) töten, dann sollst du selber kommen und mein Blut von der Hand meiner Feinde rächen …“.
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2. Es versteht sich von selbst, dass in der Übertragung der Begrifflichkeit der Rache auf Gott die negativ konnotierten Elemente der Willkür und Maßlosigkeit fortfallen. Was tritt an ihre Stelle? Es sind vor allem drei Assoziationen, die allesamt mit dem deutschen Begriff der Rache kaum kompatibel sind, in früher Zeit die Assoziation des göttlichen Schutzes, in der Mehrzahl der Belege die Assoziation der Durchsetzung des Rechts, vornehmlich in jüngeren Texten die Assoziation der Befreiung aus Unterdrückung. An einigen Stellen überschneiden sich die genannten Assoziationen. 2.1. Im vor- und außerbiblischen Bereich, d.h. in der Welt, in der das frühe Israel entstand, verband man mit göttlicher Rache besonders die Vorstellung des göttlichen Schutzes. Es ist primär eine Fülle an westsemitischen (und ugaritischen) Eigennamen, die diesen Inhalt zum Ausdruck bringt. E. Lipiński hat sie gesammelt und besprochen10. Sie sind teilweise Wunschnamen und verwenden Verbalformen wie Jaqqim-El „El möge (als Rächer) beschützen“, teilweise Vertrauensnamen und verwenden das Substantiv wie NiqmījaḪaddu „mein Rächer ist Haddu“. Charakteristisch für diese Namen ist, dass die schützende Rache der Gottheit für das neugeborene Kind im Falle einer Gefahr erst erhofft und erwartet wird. Das gilt ebenso für die alttestamentlichen Belege, die auf den Schutz Gottes abheben. Am evidentesten gilt dies für die Deutung des Kainszeichens in Gen 4,15, nach der die Willkür der Selbstjustiz im Leben außerhalb des Kulturlands durch die göttliche Zusage eingeschränkt wird, „Ein jeder, der Kain tötet, verfällt siebenfach der Rache“ ( נקםhof.). Wird dieser Zusage auch die Konzeption der Blutrache zugrunde liegen, so zeigt doch deren bewusst extreme Übersteigerung die intendierte Transzendierung an. Der Sinn des Textes besteht nicht in der Aufforderung zur Überlegung, welche sechs weiteren Familienmitglieder neben dem Mörder im Falle eines gewaltsamen Todes Kains der von Gott verordneten Blutrache anheimfallen, sondern im Aufweis, wie hier ein Mensch – der Brudermörder! – unter dem garantierten Schutz Gottes steht. Einen analogen Sinn hat vermutlich der einzige andere Text, der das passivum divinum (im hof.) verwendet, der viel diskutierte und heftig umstrittene
10
E. LIPINSKI, La Royauté de Yahwé dans la poésie et le culte de l’Ancien Israël (VVAW. L 27), Brüssel ²1968, 290–292; DERS., נקם, a.a.O. (Anm. 2), 610f.; vervollständigt wird seine Liste von PEELS, Vengeance, a.a.O. (Anm. 3), 29–32.
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singuläre Beleg für die Androhung der Rache in einem (kasuistischen) Rechtssatz (Ex 21,20), Wenn jemand seinen Sklaven oder seine Sklavin mit dem Stock so schlägt, dass er unter seiner Hand stirbt, verfällt er zwingend der Rache. Dieser Rechtssatz steht in unmittelbarer Nähe zur (apodiktischen) Reihe des Todesrechts Ex 21,12.15–17 und ist besonders durch das identische Verb „schlagen“ auf deren Themasatz, „Wer einen Mann schlägt, dass er stirbt, muss unbedingt getötet werden“ bezogen, gleichzeitig allerdings von ihm auch deutlich unterschieden. Denn das Todesrecht von V.12 bezieht sich auf die Tötung eines freien Mannes, die Verfügung der Rache dagegen auf die Tötung eines Sklaven bzw. einer Sklavin durch seinen bzw. ihren Herrn. Um die Differenz genauer zu klären, ist zunächst darauf zu verweisen, dass 1. V.20 nicht mehr im Kontext des Todesrechts platziert ist, sondern zu den Paragraphen (V.18ff.) gehört, die von Körperverletzung handeln; zudem ist ihm 2. mit V.21 ein einschränkender Satz an die Seite gestellt, der den Tod des Sklaven oder der Sklavin ungesühnt lässt, wenn dieser erst in einem gewissen zeitlichen Abstand der Prügelstrafe des Herrn folgt, weil dieser Herr durch den Tod des eigenen Besitzes genügend gestraft ist. Es scheint mir daher ganz unwahrscheinlich zu sein, dass V.20, wie von Schwienhorst-Schönberger vorgeschlagen, als Steigerung des Todesrechts zu deuten sei, insofern die verfügte Rache – von ihm wie von der Mehrzahl der neueren Ausleger als Blutrache gedeutet – nicht nur den Totschläger, sondern auch Glieder von dessen Familie in „stellvertretender Talion“ treffen könne 11 . Wohl aber hat Schwienhorst-Schönberger mit Recht darauf verwiesen, dass der wichtigste Unterschied zwischen dem Todesrecht V.12 und der Racheverfügung V.20 in der verschiedenen Rechtslogik zu finden ist, da V.12 sich am Täter und seiner Tat orientiert, V.20 dagegen am Opfer und seinem Geschick12. Wie immer die Rache faktisch vollzogen wurde – am ehesten ist im Kontext wohl doch damit zu rechnen, dass das Procedere nach Prüfung des Falles von der Rechtsgemeinde fallweise festgelegt wurde13 –, der Sinn von Ex 21,20 scheint zu sein, den Sklaven und die Sklavin, denen harte Prügelstrafe nicht erspart bleibt (V.21), vor der willkürlichen Tötung durch ihren Herrn zu schützen, so gewiss sie als dessen Besitz gelten. Eine derartige Schutzbestimmung ist in den Rechtsordnungen des Alten Orients ohne präzise Parallele.
Aber auch außerhalb der beiden Belege, die das passivum divinum verwenden, ist die Vorstellung der göttlichen Rache als eines Schutzhandelns für 11 L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, Das Bundesbuch (BZAW 188), Berlin/New York 1990, 70–74. 12 A.a.O., 71f. 13 Im Gefolge von M. NOTH, Das zweite Buch Mose – Exodus (ATD 5), Göttingen 1959, z.St. (der sogar mit der Durchführung der Rache durch die Rechtsgemeinde rechnet) sowie G. LIEDKE, Gestalt und Bezeichnung alttestamentlicher Rechtssätze (WMANT 39), Neukirchen-Vluyn 1971, 48f. und besonders von F. C. FENSHAM, Das Nicht-Haftbar-Sein im Bundesbuch im Lichte der altorientalischen Rechtstexte, JNWSL 8 (1980) 23–25 wird diese Auffassung häufig vertreten; vgl. etwa A. SCHENKER, Versöhnung und Widerstand. Bibeltheologische Untersuchung zum Strafen Gottes und der Menschen, besonders im Lichte von Ex 21– 22 (SBS 139), Stuttgart 1990, 58, Anm. 97. – Gegen die häufig vertretene Deutung unmittelbarer Blutrache durch die Familie des/der Getöteten spricht nicht nur das Fehlen des Begriffs גאלה, sondern auch die Überlegung, dass Blutrache durch die Familie eines Sklaven voraussetzen würde, dass ihr dann die Differenzierung zwischen den Sachverhalten von V.20 und V.21 obliegen müsste.
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Probleme alttestamentlicher Gottesbilder
bedrängte Menschen mehrfach belegt. Man denke etwa an den Lobpreis Jhwhs als eines Gottes, der das Blut seiner Knechte14 rächt (Dtn 32,43), bzw. an den prophetisch vermittelten Auftrag an Jehu, das Blut der Knechte Jhwhs zu rächen (2Kön 9,7; vgl. die entsprechende Bitte in Ps 79,10). Analog sind die schon erwähnten Vertrauensaussagen in den sog. Konfessionen des Propheten Jeremia zu werten, in denen er seiner Gewissheit Ausdruck verleiht, Gottes Rache an seinen Verfolgern, die ihm nach dem Leben trachten, zu „schauen“ (Jer 11,20; 20,12; vgl. die Bitte 15,15). Nach Ps 58,11f. macht es das Wesen des Gerechten in seiner Unterdrückung aus, dass er vom Vertrauen geleitet ist, Gottes Rache schauen zu dürfen. 2.2. Mit den letztgenannten Texten ist die zweite, am häufigsten belegte Assoziation der göttlichen Rache bereits berührt, die ungleich wirksamer das Alte Testament als ganzes geprägt hat. Es ist der Gott des Rechts, der Rache übt, und die Rache ist ein Aspekt seiner Rechtsdurchsetzung. Nur weil Jhwh ein Gott des Rechts ist, verfällt im oben zitierten Rechtssatz Ex 21,20 der Mörder eines Sklaven oder einer Sklavin der (göttlichen) Rache. Weit häufiger wird die Rache Gottes als ein Handeln erhofft, das gedemütigten oder unterdrückten Menschen das ihnen vorenthaltene Recht verschafft 15 . So gut wie alle zentralen Verben des Rechtsverfahrens sind in diesem Kontext belegt. Davids Verzicht auf eigene Rache gründet in der Erwartung, Jhwh richte zwischen mir und dir, und Jhwh räche mich an dir. (1Sam 24,13)
Der zu Unrecht von Saul verfolgte David erwartet sein Recht von Jhwh in einem göttlichen Urteil16, dessen Verwirklichung in Gestalt von „Rache“ erfolgt, die dem unschuldigen David seine Ehre wiederherstellt, den schuldigen Saul aber straft. Ganz analog, wenngleich nun nicht mit dem q., sondern als „einfacher Resultativ“17 mit dem pi. ausgedrückt, wird Israels Recht gegenüber Babylon durch Jhwhs Rache wiederhergestellt, Siehe, ich werde deinen Rechtsstreite führen (;)ריב ריבך ich werde deine Rache rächen (Jer 51,36),
14
LXX und Q (partim) lesen „seiner Söhne“. Für diese Gruppe von Texten gilt die Formulierung H.-J. HERMISSONs, Deuterojesaja. 2. Teilband, Jesaja 45,8–49,13 (BK XI/2), Neukirchen-Vluyn 2003, 193, „ נקםist ursprünglich ein Begriff der Rechtssprache und bezeichnet die Wiederherstellung einer gestörten (Rechts-) Ordnung …“; ähnlich SAUER, נקם, a.a.O. (Anm. 2), 107. 16 שׁפט בין … וביןist term. techn. für den richterlichen Urteilsspruch, der den Streit zwischen zwei Parteien im Torgericht beendet. 17 JENNI, Pi’el, a.a.O. (Anm. 5), 144. Der einzige weitere Beleg des Stammes findet sich in 2Kön 9,7. 15
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d.h. diejenige Rache an Babylon vollziehen, die das unterdrückte Israel wieder in sein Recht setzt. In Dtn 32,35f. wird die Rechtsdurchsetzung zugunsten Israels mittels göttlicher „Rache“ mit dem Verb דיןausgedrückt, in Jer 5,9.29; 9,8 mit dem beamtenrechtlichen Terminus פקד, in Ps 94,1f. wiederum mit dem geläufigen Verb שׁפט. Eine eigengewichtige Gruppe von Belegen setzt Gottes Rache in Parallele zu seinem שׁלםpi., das im Deutschen meist unpräzise mit „vergelten“ übersetzt wird. Dem Verb in diesem Stamm liegt kaum, wie im Gefolge von Pedersen und Eisenbeis 18 häufig behauptet, die Idee der Ganzheit zugrunde, sondern diejenige des Ausgleichs bzw. der Kompensation19; es bedeutet in der Mehrzahl der Belege „bezahlen“ bzw. „Ersatz leisten“. Die Parallele verdeutlicht, dass die göttliche Rache in einem Stadium erfolgt, in dem durch geschehenes Unrecht eine „Rechnung“ offen steht, die einen Ausgleich erfordert; der Täter des Unrechts muss also zur Rechenschaft gezogen werden. Das Maß des Ausgleichs wird nur im je einzelnen Kontext festgelegt und orientiert sich am Maß des Unrechts. Dass Gottes „Rache“ ein Aspekt seiner Gerechtigkeit ist, kommt noch deutlicher in den Belegen zum Ausdruck, in denen er sie im Gerichtshandeln gegen Israel wendet, und es ist keineswegs zufällig, dass sich in diesen Fällen sprachlich die größte Leidenschaft des richtenden Gottes äußert. In Jes 1,24 trifft Gottes emotionale Rache – in Parallele zu נקם, das im hitp. schon die persönliche Betroffenheit Gottes stark zum Ausdruck bringt, erscheint zusätzlich נחםhitp. „sich (in emotionaler Not durch ein Handeln) Befreiung verschaffen“ – die für das Recht verantwortlichen Männer Jerusalems, die die Stadt, in der Gerechtigkeit „Wohnung genommen hatte“, von Gott also geradezu eingestiftet war, zur „Hure“, d.h. zur Stadt rechtlicher Willkür hatten verkommen lassen (V.21). In Jer 5 und 9 wird dreimal (5,9.29; 9,8) in bewusst einhämmernder, (fast) wörtlicher Wiederholung Gottes Rache als ein Akt der Verzweiflung beschrieben. Gott will nicht, muss aber als Rächer handeln angesichts der Tatsache, dass alle Glieder des Volkes das Recht brechen, betrügen und zudem den lebendigen Gott verwerfen, Sollte ich solche Menschen nicht zur Verantwortung ziehen, Spruch Jhwhs, oder an einer derartigen Nation keine persönliche Rache nehmen?
Noch ungewöhnlicher formuliert Ez 24,8. Nach diesem (nach-ezechielischen) Vers ist das Entsetzen Gottes über die in Jerusalem verübte Blutschuld so groß, dass er selber verhindert, dass das vergossenen Blut durch Bedecken mit 18 J. PEDERSEN, Israel. Its Life and Culture I–II, London/Kopenhagen 1926, 263–335; 263f.; W. EISENBEIS, Die Wurzel שׁלםim Alten Testament (BZAW 113), Berlin/New York 1969, passim. 19 So JENNI, Pi’el, a.a.O. (Anm. 5), 111f. (112, „ein Tun, das … einen ungefähr gleichwertigen Zustand bewirkt“); vgl. auch die Wurzel גמלin Parallele zu ( נקםJes 35,4; 59,17f.), die ein Handeln bezeichnet, das einem vorgängigen anderen Handeln genau entspricht.
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Probleme alttestamentlicher Gottesbilder
Erde am Schreien zum Geber des Lebens, d.h. zu ihm selber gehindert wird, „um Zorn heraufzuführen, um Rache zu rächen“. Je länger das Blut offen liegt, desto glühender wird sein Zorn, desto furchtbarer seine Strafe. In den Vorstellungskategorien ezechielischen Denkens wird hier eine hoffnungslose Gerichtsverfallenheit des Gottesvolkes zur Sprache gebracht, die ein Jesaja mit dem Begriff der Verstockung (Jes 6,9f. par.) zu umschreiben versucht. Erst ein wesenhaft nachprophetischer Text wie das Fluchkapitel Lev 26 droht in V.25 in viel reflektierterer Sprache „ein Schwert, das die Rache des (gebrochenen) Bundes rächt“ an, und es ist kein Zufall, dass sich die Qumran-Gemeinde an diese theologische Sprache und nicht an die Vorstellungswelt der Unheilspropheten angeschlossen hat (1QS 5,12; CD 1,17f. u.ö.).
2.3. Wo sich Jhwhs Rache (seit der Exilszeit) gegen eine Israel bedrückende Weltmacht richtet, steht die Assoziation der Befreiung im Vordergrund der Beschreibung göttlicher „Rache“. Es handelt sich wesentlich um Hoffnungsäußerungen, die in der Bestrafung der Bedrücker gründen. Betroffen ist vornehmlich Babylon, und zwar sowohl das historische als auch das typologische; allein in Jer 50f. finden sich fünf Belege (Jer 50,15.28; 51,6.11.36). Im wohl ältesten Text Jes 47,3 wird Gottes Rache an Babylon mit dessen erbarmungsloser Übersteigerung des göttlichen Gerichtshandelns begründet. Aber auch Edom (s.u.), das durch die Babylonier große Gebiete Judas gewonnen hatte, und Ägypten (Jer 46,10) können betroffen sein. Der Freiheitsaspekt der göttlichen Rache tritt am klarsten in den Texten zutage, in denen von einem „Tag der (göttlichen) Rache“ (bzw. von einer „Zeit zur Rache für Jhwh“, Jer 51,6) gesprochen wird. Hier steht der erhoffte „Tag“ der Rache mehrfach parallel zu einem „Jahr“ (der Vergeltung o.ä.); die Reihenfolge von „Tag“ und „Jahr“ variiert (Jes 34,8; 61,2; 63,4; für sich allein steht der „Tag“ Jer 46,10). Bemerkenswert ist aber, dass Gottes Rache stets mit dem „Tag“, nie mit dem „Jahr“ verbunden ist; sie ist damit als punktuelles Handeln der Befreiung Israels bzw. der Bestrafung der Feinde gekennzeichnet. Höchst wahrscheinlich stehen die genannten Belege des Groß-Jesajabuches in einem redaktionsgeschichtlichen Zusammenhang miteinander. Zugrunde liegt ein Gotteswort Deuterojesajas (Jes 49,8), Zur Zeit des Wohlwollens habe ich dir geantwortet, am Tag der Rettung habe ich dir geholfen.
Diese Zusage wird in den Kernkapiteln Tritojesajas charakteristisch abgewandelt. Hier weiß sich der königlich gesalbte und bevollmächtigte Prophet von Gott gesandt, auszurufen ein Jahr des Wohlwollens Jhwhs und einen Tag der Rache unseres Gottes (Jes 61,2).
10. Jhwh – ein Gott der „Rache“
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Auffällig ist, wie hier aus dem „Tag der Rettung“ ein „Tag der Rache unseres Gottes“ geworden ist. Da der Gedanke der Rache im Kontext nicht expliziert wird, ja nicht einmal die von der Rache Betroffenen genannt sind, vielmehr im Folgenden die Tröstung Trauernder im Zentrum steht, hat O.H. Steck vermutet, der Begriff der Rache habe in späterer Zeit den der Rettung verdrängt, um Jes 61,2 auf jüngere Aussagen über die Rache Gottes im wachsenden Jesajabuch zu beziehen20. Wer dieser eher komplizierten redaktionsgeschichtlichen Lösung nicht zu folgen vermag, muss – mit W.A.M. Beuken 21 – die „Rache“ als einen den Lesern geläufigen Begriff des göttlichen Heilshandelns deuten, der die notwendige Kehrseite seiner Rettung bezeichnet, wobei diese auf Israel, die Rache dagegen auf die Babylonier bezogen ist, eine Implikation der Rettung, auf der im Kontext freilich kein Ton liegt. Was Rache Gottes bei Deuterojesaja sachlich meint, hatte ja zuvor das schon zitierte Kapitel Jes 47 deutlich dargelegt. Wohl aber ist verständlich, dass die kurze Anspielung auf die Rache Gottes bei Tritojesaja jüngere Texte im Traditionsgefüge des Jesajabuches dazu angeleitet hat, das mit der Rache Gemeinte zu präzisieren und auszuführen. Da diese jüngeren Texte allesamt aus der Perserzeit stammen, wird man es schwerlich Zufall nennen können, dass nicht die als Gottes Gabe betrachtete persische Herrschaft, sondern vielmehr die verhassten Edomiter als vordringliches Objekt der göttlichen Rache erscheinen (Jes 34,8; 35,4 und diese Texte weiterführend 63,4), näherhin als Prototyp eines generellen Völkergerichts. Nirgends sind die verwendeten Bilder grauenerregender als in Jes 34 und 6322; die Edomiter stehen paradigmatisch für alles Böse, Ungerechte und die Weltordnung Gefährdende. Für unseren Zusammenhang ist besonders Jes 35,4 interessant, weil hier die Rache Gottes geradezu zu einer eigenen Wesenheit geworden ist, die Jhwh zu vertreten vermag, Sprecht zu den Bestürzten, Seid stark, fürchtet euch nicht! Seht euer Gott, Die Rache kommt, der Ausgleich Gottes, er kommt und wird euch retten.
20 O. H. STECK, Der Rachetag in Jes 61,2, VT 36 (1986) 323–338; Neudruck in: DERS., Studien zu Tritojesaja (BZAW 203), Berlin/New York 1991, 106–118; 106ff.; 116–118. 21 W. A. M. BEUKEN, Servant and Herald of Good Tidings. Is 61 as an Interpretation of Is 40–55, in: J. Vermeylen (Hg.), The Book of Isaiah (BEThL 81), Leuven 1989, 411–442; 421f. 22 Die engste Parallele bietet, wie oft gesehen, das Gemetzel der Kriegsgöttin Anat in KTU 1.3, II, 5–30; vgl. zuletzt W. HERRMANN, Die religiöse Signifikanz von Jes 63,1–6, in: Gott und Mensch im Dialog (FS O. Kaiser [BZAW 345/1]), hg. von M. Witte, Berlin/New York 2004, 533–540; 539f.
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Probleme alttestamentlicher Gottesbilder
In diesem Text, der auf den Prolog Deuterojesajas (Jes 40,10) anspielt und diesen auf Jes 34,8 bezieht, ist die zur Rettung der verzagten Israeliten aufgebotene Rache Gottes so sehr zu einem Aspekt seiner Gerechtigkeit bzw. seiner Sorge um die Ordnung der Welt geworden, dass sie wie eine Hypostase erscheint. Der Parallelbegriff גמול, gemeinhin mit „Vergeltung“, von O. H. Steck sachgemäßer mit „das Entsprechungstun“ Jhwhs übersetzt23, ist von mir nur darum mit „der Ausgleich“ wiedergegeben worden, um im Deutschen die bewusste Unbestimmtheit des hebräischen Textes beizubehalten bezüglich des Subjekts der Verben „kommen“ und „retten“ in der letzten Zeile. Der alte Streit der Exegeten, ob die Rache bzw. das Entsprechungstun Gottes (so etwa Steck) oder aber Gott selber (so etwa Beuken24) Subjekt sind, ist ein Streit um des Kaisers Bart, Die Formulierung lässt die Alternative bewusst in der Schwebe, und sachlich besteht zwischen beiden Auffassungen ohnehin kein Unterschied.
3. Mit der Hypostasierung der Rache in Jes 35,4 sind wir faktisch schon zu jenen Texten übergegangen, die Gottes „Rache“ geradezu als ein Merkmal seines Handelns beschreiben, mit „Rache“ freilich höchst komplexe Züge seines Wirkens darstellen. Die Komplexität bezieht sich teilweise darauf, dass Jhwhs Rache gleichzeitig Gericht und Heil für Israel bedeutet (3.1), teilweise darauf, dass sie sich gegen schuldige Völker und schuldige Glieder des Gottesvolkes richtet (3.2). 3.1. In das Vorfeld der erstgenannten Texte gehört Jes 59,15b–20, wo die Rache als ein Teil der aktuellen Kleidung Jhwhs erscheint. Der Text schildert Jhwh als Krieger, der angesichts des fehlenden bzw. am Wirken verhinderten Rechts (V.15) gegen seine Feinde – der Kontext zeigt deutlich, sie sind innerhalb des Gottesvolkes zu suchen – zu Felde zieht und sich dazu eine sehr ungewöhnliche Rüstung anlegt (V.17). Sie besteht aus vier Abstraktbegriffen, die in zwei Parallelismen Wesenszüge seines Handelns nennen, Gerechtigkeit ( )צדקהund Rettung ( )ישׁועהsowie Rache ( )נקםund Eifer ()קנאה. Aus den je an zweiter Stelle stehenden Begriffen – Rettung und Eifer – geht deutlich hervor, dass Jhwhs Kampf zugunsten seines Volks erfolgt; nicht umsonst wird Jhwh am Schluss des Textes als Erlöser tituliert (V.20). Jedoch ist gleichzeitig ein 23
O. H. STECK, Bereitete Heimkehr. Jes 35 als redaktionelle Brücke zwischen dem Ersten und dem Zweiten Jesaja (SBS 121), Stuttgart 1985, 31, Anm. 41. 24 W. A. M. BEUKEN, Isaiah II, Vol.2/ Isaiah 28–39 (HCOT), Leuven 2000, 307.319.
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vernichtendes Zorneshandeln Jhwhs gemeint, bei dem Entsprechung zur Schuld ( )גמלund Ausgleich ( שׁלםpi.) Ziele seines Kampfes sind (V.18a) und daher die mit diesen Zielen oft verbundene Rache den zentralen Begriff für Gottes Strafgericht bildet. Allein durch den Vollzug von Rache können das fehlende Recht und die ihm zugeordnete gerechte Gemeinschaftsordnung in Israel wieder aufgerichtet werden. Hier wird in ungewöhnlicher Weise eine Sprache, die üblicherweise dazu dient, die Durchsetzung des Rechts Israels in der Völkerwelt zu umschreiben, zur Darstellung eines Läuterungsgerichts genutzt. Dadurch gewinnt die Rache Jhwhs einen Doppelcharakter. Sie ist Indiz für sein Eifern um sein Volk und Israels Rettung, gleichzeitig aber für die Bestrafung und Vernichtung der Frevler, die Gott am Heilshandeln hindern (V.1ff.)25. Einen ähnlichen Doppelcharakter hat die Rache Gottes in Ps 99,8, einem der beiden Belege, die Gott im Partizip als immer neu Rache Ausübenden beschreiben. Ps 99 preist Jhwhs universales Königtum anfangs anhand seiner Liebe zum Recht, die sich in der Aufrichtung von Recht und Gerechtigkeit in seinem Volk zeigt (V.4). Der zweite Teil des Psalms jedoch hebt Jhwhs Erreichbarkeit durch das Gebet seiner Bevollmächtigten hervor (V.6f.) und setzt damit Rechtsbruch und geschehene Schuld im Gottesvolk voraus (V.8), Jhwh, unser Gott, du hast sie erhört, Ein vergebender Gott warst du ihnen, aber ein Rächer ihrer (rechtsbrüchigen) Taten.
Das Ergebnis der Erhörung eines schuldig gewordenen Israels wird in zwei Partizipialsätzen ausgedrückt, die durch Hinzufügung des Perf. von היהals durative Handlungen der Vergangenheit gestaltet sind. Wenn der Psalmist hier auf finite Verbformen verzichtet und zu einer „zusammengesetzten“ Tempusform greift26, so offensichtlich darum, weil er die Permanenz der Erfahrungen von sowohl Vergebung als auch Rache Gottes ausdrücken möchte. Dennoch ist keine Gleichwertigkeit beider Arten von Erfahrung gemeint. Zum einen ist die Reihenfolge beider Partizipien bewusst gewählt und sachlich unumkehrbar, zum zweiten drückt das adversative waw die Ausnahme aus, vor allem aber ist drittens die Vergebung auf die schuldigen Personen gerichtet, dagegen die Rache auf deren Taten bezogen; das Ungewöhnliche dieser Formulierung zeigt die sonst beim Rächen ungebräuchliche Präposition an (על statt der üblichen Präpositionen מןoder )ל. 25
Eine ganz entsprechende Neuverwendung geprägter Sprache wird Motiven der Theophanietradition zuteil (vgl. J. JEREMIAS, Theophanie. Die Geschichte einer alttestamentlichen Gattung [WMANT 10], Neukirchen-Vluyn ²1977, 131), und es ist kaum zufällig, dass der sekundäre V.18b den Gedanken des Völkergerichts in den Kontext einträgt. 26 Vgl. dazu R. BARTELMUS, HYH. Bedeutung und Funktion eines „Allerweltwortes“ – zugleich ein Beitrag zur Frage des hebräischen Tempussystems (ATS 17), St. Ottilien 1982, 102, Anm. 71; 205f.
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Probleme alttestamentlicher Gottesbilder
Die Kürze der Formulierung setzt voraus, dass die Leser bzw. Hörer des Psalms dessen Inhalt nicht zum ersten Mal vernehmen. Wie gelegentlich schon vermutet27, ist wahrscheinlich eine Anspielung auf Ex 34,6f. intendiert, d.h. auf jene bekenntnishafte Ausdifferenzierung des Wesens Jhwhs, die im Kontext von Ex 32–34 beschreiben will, unter welchen Bedingungen ein Gottesverhältnis Israels überhaupt möglich ist, wenn dieses Volk doch den „gemachten“ Gott dem lebendigen vorzieht. Wie dort die lange Zeitspanne, bis Gott zürnt, dem ständigen Reichtum seiner Güte entgegengehalten wird und entsprechend sein permanenter Wille zur Vergebung der je und dann eintretenden Notwendigkeit, schwere Schuld zu strafen, gegenübersteht, so auch in Ps 99,8, Nicht Beliebigkeit, sondern Ungleichgewichtigkeit ist mit dem Kontrastpaar Vergebung – Rache im Blick. Beides aber, sowohl Gottes Vergebung als auch seine Rache, sind von der ersten Hälfte des Psalms her von Gottes Liebe zum Recht her umgriffen. Wo immer sie kann, ist sie um Israels willen zur Vergebung von Verstößen gegen das Recht bereit. Aber es gibt eine Grenze, jenseits derer schwere Vergehen gesühnt werden müssen. 3.2. Noch ein zweites Mal wird Jhwh im Partizip als Rächer gepriesen, nun aber ungleich programmatischer, in Nah 1,2. Diese Prädikation leitet nicht nur das Nahumbuch ein, sondern drückt der Einleitung und dem ganzen Buch durch dreifach hämmernde Wiederholung ihren Stempel auf, Ein eifernder Gott und ein Rächer ist Jhwh, ein Rächer ist Jhwh und voller Grimm28; ein Rächer ist Jhwh seinen Widersachern und beständig im Zorn29 gegen seine Feinde.
Deutlich drängt hier die „zusammengesetzte“ Tempusform zu einer grundsätzlichen Aussage über Gott, wie sie keine finite Verbform auszudrücken vermöchte. Dabei wird die themagebende dreifache Prädikation Gottes als Rächer ihrerseits dreifach expliziert, vorweg mit der Nennung des „Eifers“ Jhwhs (wie in Jes 59,17) als ein Handeln, das Israel zugute kommt; sodann durch die ebenfalls programmatischen Hinweise auf seinen Zorn und Grimm (vgl. V.6a.b), aus denen deutlich wird, dass es sich im Folgenden nicht um 27
Etwa von H. GUNKEL, Die Psalmen (HKAT II/2), Göttingen 41929, z.St.; R. SCOTrishagion und Gottesherrschaft. Psalm 99 als Neuinterpretation von Tora und Nebiim (SBS 138), Stuttgart 1989, 109 und bes. E. ZENGER, Psalm 99, in: DERS./F.-L. Hossfeld, Psalmen 51–100 (HThKAT), Freiburg 2000, 703. 28 Zur syntaktischen Funktion von ( בעלUmschreibung von Eigenschaften) vgl. Ges.-K. §128n; C. BROCKELMANN, Hebräische Syntax, Neukirchen 1956, § 74b. 29 Die unterschiedlichen Bedeutungsfelder von „( נטרbewachen“ bzw. „zürnen“) sind kaum von verschiedenen Wurzeln herzuleiten (KBL), sondern die 2. Bedeutung ist weit eher (mit Ges. und HAL s.v.) als Kurzform „(den Zorn) bewahren“ zu deuten. RALICK,
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beliebige Akte von Bestrafung handelt, sondern um Vernichtung; schließlich in Umschreibung der Objekte der göttlichen Rache. Sie trifft (Israels und) Gottes Feinde (vgl. V.7f.). Nun könnte man geneigt sein, in den Feinden allein die Israel bedrängenden Mächte zu sehen, und die Konzentration des Korpus des Buches Nahum auf den Fall Ninives scheint dieser Ansicht Recht zu geben. Jedoch ist seit langem erkannt und zuletzt von G. Baumann ausführlich begründet worden, dass der Psalm Nah 1,2–8 (trotz Baumann, ein Semiakrostichon) den älteren Buchteilen als jüngere Deutung vorangestellt worden ist und sie neu interpretiert30. In Nah 1,2–8 aber gibt es zwei klare Hinweise, dass Jhwhs Feinde umfassender und genereller zu verstehen sind als nur bezogen auf das typologische „Assyrien“ des Textes: 1) Zum einen folgt mit V.3a (wie im zuvor behandelten Text Ps 99,8) eine Anspielung auf das Bekenntnis von Ex 34,6f. par., „Jhwh – langsam zum Zorn, aber von großer Kraft, und ungestraft lässt Jhwh wahrlich nicht“. Auch wenn diese traditionelle Wesensbeschreibung Jhwhs in Nah 1,3a charakteristisch abgewandelt wird – statt von seiner reichen Güte ist von seiner Kraft die Rede; die Aussage über seine Vergebung fehlt; dafür wird die Gewissheit seines strafenden Eingreifens eingeschärft31 –, so gilt doch für jeden Leser des Buches, dass er die vertrauten Worte zumindest auch auf das Verhältnis Jhwhs zu Israel bezieht. 2) Diese Weise der Textdeutung wird noch erheblich verstärkt durch den Abschluss des Psalms. In V.7f. werden den Feinden Jhwhs, denen die „Glut seines Zorns“ (V.6) gilt, die Menschen entgegengestellt, die sich am Tag der Not „bei ihm bergen“. Damit wird eine Sprache aufgegriffen, die in den Psalmen gemeinhin nicht den Gegensatz Israel – Völkerwelt bezeichnet, sondern das rechte Verhalten der Israeliten selber beschreibt. So wird man für Nah 1,2 sagen müssen, dass die so programmatisch dreifach eingeführte Rache des zornigen Jhwh zwar vornehmlich die bedrückende Weltmacht bedroht, aber zumindest implizit auch alle Frevler in Israel. Trotz aller Konzentration des Nahumbuches und des Nahumpsalms auf das Unrecht in der Völkerwelt, von dem Israel massiv betroffen ist, zielt ihre Aussage weiter, auf eine Welt, in der durch Jhwhs Eingreifen Not und Schuld auf allen Ebenen beseitigt sind. Evident ist ein analoges Schillern in der Intention beim letzten hier zu besprechenden Text zu beobachten, der Jhwh als einen „Gott der RacheErweise“ ( ;אל־נקמותBuber, „Gott der Ahndungen“) anruft, Ps 94. Deutlicher als in der partizipialen Formulierung von Ps 99,8 und Nah 1,2 wird in dieser Anrede im st. cstr. pl., dass es die immer neu erfahrenen punktuellen Racheta30
G. BAUMANN, Gottes Gewalt im Wandel. Traditionsgeschichtliche und intertextuelle Studien zu Nahum 1,2–8 (WMANT 108), Neukirchen-Vluyn 2005, 39ff. und passim. 31 Vgl. Näheres dazu a.a.O., 94ff.
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ten Gottes sind, die die Hoffnung der betenden Gemeinde beflügeln. Ihretwegen gibt sich diese Hoffnung nicht mit Teil-Lösungen zufrieden, sondern zielt aufs Ganze. Weil es der „Richter der Erde“ (V.2) ist, der um sein Erscheinen zur Rache gebeten wird, wird nicht weniger als die universale Durchsetzung göttlichen Rechts erstrebt. Die Gegenwart der Betenden bietet freilich Erfahrungen des genauen Gegenteils. Die Gottlosen demütigen „dein (Jhwhs) Volk“ und rühmen sich des Schweigens Gottes (V.3–7). Wie alle „Dummen im Volk“ haben sie vergessen, dass Gott als Lehrer der Menschheit die Pläne der Menschen kennt (V.8– 11) und sein Volk gar nicht verstoßen kann (V.12–14); daher gilt, „Weltgeltung ( )צדקwird das Recht wieder erlangen, und alle im Herzen Aufrichtigen werden ihm nachjagen“ (V.15). Dazu aber muss „die Herrschaft (wörtlich, der Thron) des Verderbens, die Unheil gegen das Gesetz schafft“ (V.20), endgültig vernichtet sein. Zur weltweiten Durchsetzung des göttlichen Rechts muss also nicht nur die „Herrschaft des Verderbens“ beseitigt sein, die traditionsgeschichtlich eher als Herrschaft von außen, teilweise aber auch als eine innerisraelitische Herrschaft konnotiert ist32, sondern auch „die Dummen im Volk“ müssen von ihrer gott- und lebensfeindlichen Einstellung ablassen; dazu werden sie in V.8 ultimativ aufgefordert und zusätzlich in V.12 zum Einüben der Tora angeregt. Das gegenwärtige Unrecht ist ein allseitiges; es kommt von außen wie von innen und muss daher umfassend beseitigt werden. Aufgrund der universalen Perspektive der Unrechtserfahrung ist es kein Zufall, dass sowohl Nah 1 als auch Ps 94 die Durchsetzung des göttlichen Rechts in Gestalt einer Theophanie erwarten, ob diese nun wie in Nah 1,3–6 welterschütternd gedacht und mit traditionellen Assoziationen des Wettergottes verbunden ist oder wie in Ps 94,1 mit solaren Konnotationen.
4. Es gehört zu den oft unterschätzten Eigenarten des Alten Testaments, dass seine ältesten und jüngsten Texte mehr als ein halbes Jahrtausend auseinander liegen. In einer Forschungsepoche, die dazu tendiert, einseitig das junge Alter der großen theologischen Texte hervorzuheben, gilt es neu und immer wieder, das allmähliche Wachstum der alttestamentlichen Gottesaussagen herauszu-
32 Vgl. F.-L. HOSSFELD, Psalm 94, in: DERS./E. Zenger, Psalmen 51–100 (HThKAT), Freiburg 2000, 652ff.
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stellen, an dessen letztes Stadium das Neue Testament ganz selbstverständlich anknüpft. Von Gottes Rache kann man sachgemäß nur geschichtlich reden33. Bei einer derartigen Betrachtung zeigt sich eine auffällig gegenläufige Bewegung: Je mehr im Lauf der Geschichte die Rede von menschlicher Rache ihre „Unschuld“ verlor, je mehr sich aufgrund von Erfahrung die Phänomene der Willkür und der Maßlosigkeit in die Darstellung der Texte drängten, je mehr umgekehrt die Übertragung der Rache auf Jhwh zum Modell vorbildlicher Lebenseinstellung wurde, desto mehr wurde die Rache zu einem theologischen Begriff, d.h. zur Bezeichnung eines nicht nur möglichen, dann und wann zutreffenden, sondern eines für Gott typischen und charakteristischen Handelns, das für das Heil des Gottesvolkes unabdingbar ist. Jhwh wurde immer mehr ein Gott der „Rache“, weil seine Rache immer weniger als punktuelles Handeln verstanden wurde, das in einer einzelnen Situation durch strafenden Eingriff Gerechtigkeit schafft, immer mehr dagegen als ein Handeln, das der Gerechtigkeit Gottes generell und damit der Vollendung der Welt zum Durchbruch verhilft. Das Bild einer von Gottes Rache heraufgeführten, von Gerechtigkeit und Freiheit bestimmten Welt wächst in den jüngeren Texten ins Maßlose einer im strengen Sinne eschatologischen Erwartung hinein. Auf die Rede von Gottes Rache verzichten könnte das biblische Israel nur, wenn eine Welt ohne Unrecht in die Erfahrung der Menschheit eingetreten wäre.
33
Bestritten wird der Sinn und Ertrag einer diachronen Untersuchung von PEELS, Vengeance, a.a.O. (Anm. 3), 267.295–297. Die Beschränkung auf synchrone Fragen mindert den Wert der Monographie erheblich.
11. Die „Opferung“ Isaaks (Gen 22)∗ Kaum ein anderer Text des Alten Testaments hat in der jüngsten Vergangenheit Christen, aber auch Pfarrer und Theologen derart viele Schwierigkeiten bereitet und sie so sehr irritiert wie die Erzählung von der sog. „Opferung Isaaks“ in Gen 22,1–14. Zwar gibt es großartige Auslegungen dieses Textes; eine Auswahl von ihnen (Luther, Kierkegaard und Kolakowski) hat Gerhard von Rad, den Gen 22 zeitlebens intensiv beschäftigt hat, in einer kostbaren kleinen Schrift unmittelbar vor seinem Tod herausgegeben und kommentiert1. Aber in den vergangenen Jahrzehnten haben die Stimmen zugenommen, die Gen 22 als letztlich widerchristlich beurteilten und für sich ablehnten. Was ist das für ein Gott, der einem Vater befiehlt, den eigenen Sohn zu schlachten? Was ist das für ein Gott, der seine Verheißung immer neu herauszögert, sie zuletzt endlich realisiert, aber wohl nur zum Schein, da er sie sogleich zurückfordert? Treibt er sein Spiel mit den Menschen? Ist er Sadist? Schon der große Königsberger Philosoph Immanuel Kant hatte geurteilt, dass solch ein Befehl unmöglich von Gott herkommen könne, da Gott dem moralischen Gesetz nicht widerspreche2. E. Hirsch hatte gemeint, der christliche Glaube müsse gegenüber einem solchen Text seine überlegene Andersartigkeit herausstellen3. Der Journalist und Pfarrersohn Tilmann Moser hat in seinem Buch „Gottesvergiftung“ seine Schwierigkeiten mit seinem Elternhaus in diesen Text hineingelesen und ihn mit dem Schlagwort des „Kadavergehorsams“ von sich gewiesen4. Auch ein praktischer Theologe unserer Tage urteilt: „Manchmal muss ich die Erzählweise biblischer Autoren korrigieren, weil ich ihr Gottesverständnis nicht übernehmen kann. Für den Elohisten, dem wir die spannen*
Dem Kollegen und Freund Hans Klein in Erinnerung an viele Begegnungen in Hermannstadt, München und Marburg, vor allem aber an einen unvergesslichen Spaziergang an seinem Geburtstag um die Osterseen in der Nähe Münchens und an ein Semester gemeinsamen Lehrens in München. 1 G. VON RAD, Das Opfer des Abraham, München ²1976. Von Rad hat Bilder Rembrandts, der ebenfalls immer wieder zu Gen 22 zurückgekehrt ist, neben diese Auslegungen gestellt, und diese Anordnung hat im vergangenen Jahr neue Aktualität gewonnen, als die berühmte Darstellung des Eingreifens des Engels aus dem Jahr 1636 in der Alten Pinakothek in München mit ihrem Vorgänger aus dem Jahr davor, den die Eremitage in St. Petersburg besitzt, konfrontiert wurde: ein eindrucksvolles Zeugnis des Ringens eines genialen Künstlers um sein Sujet. 2 I. KANT, Werke in 6 Bänden, hg. von W. Weischedel, Bd. VI, Darmstadt ³1975, 333. 3 E. HIRSCH, Das Alte Testament und die Predigt des Evangeliums, Tübingen 1936, 17ff. 4 T. MOSER, Gottesvergiftung, Frankfurt a.M. 1976.
11. Die „Opferung“ Isaaks (Gen 22)
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de Erzählung von der Opferung Isaaks verdanken, war es wahr, dass Gott dem gläubigen Vater befehlen kann, seinen Sohn zu schlachten … In meinem bruchstückhaften Erkennen von Wahrheit über Gott bin ich gewiss, dass der Gott, an den ich glaube, nie einem Vater die Schlachtung seines Sohnes befohlen hat.“ 5 Kann man anders reagieren? Ein Exeget wird freilich seinem praktischen Kollegen vorwerfen, dass mit seinem sehr schnellen Urteil ein Text zum Schweigen gebracht wird, bevor er überhaupt die Chance hatte auszureden. Wie aber soll und kann dann dieser große, für viele Zeitgenossen vertraute und doch so fremdartige Text zum Reden gebracht werden, ohne dass die Schwierigkeiten des modernen Lesers eine Begegnung mit ihm von vorn herein unmöglich machen? Nach meinem Urteil sind in der geläufigen Auslegung des Textes vor allem drei Lesehilfen gern entweder übersehen oder aber in ihrem Gewicht verkannt worden: 1. seine Überschrift, 2. der zum Verständnis unabdingbare vorauslaufende Kontext und 3. sein Leitwortstil.
1. Gen 22 besitzt eine Überschrift. Diese Tatsache ist alles andere als selbstverständlich. Es gibt unter den Erzvätertexten nur zwei Erzählungen, die im Urtext eine Überschrift erhalten haben, offensichtlich um Gefahren des Missverständnisses vorzubeugen bzw. um das im Text Gemeinte zu sichern. Es ist schwerlich Zufall, dass es genau diese beiden Erzählungen sind, die in der christlichen (und in der synagogalen) Kunst seit deren Anfängen ständig dargestellt worden sind. Die erste Erzählung handelt vom Besuch der drei Männer vor Abraham (Gen 18). Ein solcher Gottesbesuch ist im AT ohne Parallele; andernorts erscheint ein Engel in analogen Situationen (Ri 6,13 u.ö.). Längst gesehen ist, dass hier ein alter Stoff vorliegt, der noch in vorbiblische Zeit reicht. Um ihn recht zu verstehen, lautet die Überschrift: „Da erschien ihm (Abraham) JHWH im Hain Mamre“. Mit dieser Überschrift ist der Leser im Vorteil gegenüber Abraham. Während Abraham allenfalls ahnt, dass sein Gegenüber mehr und etwas Anderes ist als eine Reihe von Menschen, weiß der Leser von vornherein, dass sich hinter den drei Männern Gott verbirgt. Gleichzeitig wird ihm bei seiner neugierigen Frage nach dem Verhältnis der drei Männer zu Gott eine Schranke auferlegt. Im Falle von Gen 22 lautet die Überschrift: „Nach diesen Ereignissen versuchte ( נסהpi.) Gott Abraham“. Wieder soll dem Leser in einer komplexen Situation eine Lesehilfe angeboten werden. Jedoch wurde im Falle von 5 W. NEIDHART, Vom Erzählen biblischer Geschichten, in: DERS./H. Eggenberger (Hg.), Erzählbuch zur Bibel, Düsseldorf/Lahr/Zürich 1975, 13–113; 31f.
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Probleme alttestamentlicher Gottesbilder
Gen 22 die Lesehilfe faktisch zu einer Anleitung zu Missverständnissen. Man verstand in der Geschichte der Auslegung von Gen 22 zumeist den hebräischen Begriff נסהvom deutschen Begriff „versuchen“ her und empfand von daher die Erzählung als unerträglich. In der Tat ist die Vorstellung, dass Gott seinen vertrauten Menschen unzumutbare Lasten auferlegt, um zu erproben, wie sie reagieren, keine biblische. Hebräisch besagt נסהpi. in Gen 22 etwas charakteristisch Anderes. Die Schwierigkeit im Verständnis des Verbes besteht allerdings darin, dass es in seinem späteren (dtr) Gebrauch6 in der Tat als eine Bezeichnung für eine Probe Gottes erscheinen kann, wie es auch, von Menschen ausgesagt, jedoch mit negativer Konnotation, heißen kann, dass Israel Gott in der Wüste „versucht“ habe. נסהpi. gehört zu den Verben, die programmatisch Gottes Handeln deuten, aber in den unterschiedlichen theologischen Schichten des AT einen verschiedenartigen Sinn gewonnen haben. Dass man diese Sinndifferenzen weithin verkannt hat, hängt mit zwei Tendenzen der jüngeren Forschung zusammen. Die eine besteht in der heute beliebten Bestreitung des sog. „Elohisten“7 – damit hat man Gen 22 seiner primären theologischen Bezugstexte beraubt –, die andere in einer modischen Hochschätzung von „Intertextualität“, mit der eine Fülle unterschiedlicher textlicher Bezüge notiert werden, ohne dass diese in der nötigen Weise differenziert werden (traditionsgeschichtlich/literarkritisch; Vorgeschichte/Wirkungsgeschichte eines Textes)8. Das Verdienst, den für Gen 22 passenden, im Vergleich zu den dtr Texten andersartigen Sinn des Verbes erarbeitet zu haben, gebührt vor allem Hans-Christoph Schmitt, der Gen 22 entschlossen wieder „elohistisch“ deutet und überzeugend nachweist, dass die bei weitem engste Parallele zu Gen 22,1 in Ex 20,20 vorliegt9.
6 Vgl. zu dieser Sprachdifferenz schon M. GREENBERG, nsh in Ex 20,20 and the purpose of the Sinaitic theophany, JBL 79 (1960) 273–276; E. BLUM, Die Komposition der Vätergeschichte (WMANT 76), Neukirchen-Vluyn 1984, 329 und bes. SCHMITT, Erzählung, a.a.O. (Anm. 9), 89ff. 7 Vgl. für viele andere die jüngste Analyse von Gen 22 durch K. SCHMID, Die Rückgabe der Verheißungsgabe. Der „heilsgeschichtliche“ Sinn von Gen 22 im Horizont innerbiblischer Exegese, in: Gott und Mensch im Dialog, Bd. I (FS O. Kaiser [BZAW 345/1]), hg. von M. Witte, Berlin/New York 2004, 271–300; vgl. 271 Anm. 2 die neueste Literatur zum Thema. 8 Vgl. etwa die m.E. absurde Annahme von G. STEINS, Die „Bindung Isaaks“ im Kanon (Gen 22). Grundlagen und Programm einer kanonisch-intertextuellen Lektüre (HBS 20), Freiburg/Basel/Wien 1999, 217, bei der Menge an Bezügen, die er für Gen 22 herausstellt, sei Gen 22 jeweils der nehmende, nie der gebende Part gewesen. 9 H.-C. SCHMITT, Die Erzählung von der Versuchung Abrahams Gen 22,1–19* und das Problem einer Theologie der elohistischen Pentateuchtexte, BN 34 (1986) 82–109, wieder abgedruckt in: DERS., Theologie in Prophetie und Pentateuch. Gesammelte Schriften (BZAW 310), Berlin/New York 2001, 108–130.
11. Die „Opferung“ Isaaks (Gen 22)
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Nun ist Ex 20,20 insofern ein ungewöhnlicher und hochinteressanter Vers, als er die einzige explizite Deutung der Sinaioffenbarung in Ex 19–24 bietet und hierbei die gleichen Begriffe und Konzeptionen verwendet wie Gen 22,1. Durch Ex 20,20 wird der kundige Leser genötigt, das Ereignis um Abraham in den Horizont der Sinaioffenbarung zu rücken. Die genannte Deutung der Sinaioffenbarung erfolgt in einer Situation, in der Gott soeben direkt zum Volk den Dekalog gesprochen hat (die einzigen Worte, die Gott direkt und unmittelbar an ein Kollektiv im Alten Testament richtet); das Volk ist erschrocken und bittet im Folgenden Mose um seine Vermittlung. Mose antwortet: „Fürchtet euch nicht, denn um euch zu ,versuchen‘ ist Gott gekommen und damit die Furcht vor ihm auf eurem Antlitz sei und ihr nicht sündigt“. Nach Ex 20,20 hat die Sinaioffenbarung für Gott zwei Ziele: a) Der Sinn des zweiten und weitergehenden Zieles wird mit einem Sprachspiel ausgedrückt („Fürchtet euch nicht …, denn damit die Furcht vor ihm auf eurem Antlitz sei, ist Gott gekommen“). Zweimal ist von Furcht die Rede; die erste Furcht ist die menschliche Angst vor dem Unbekannten; die zweite Furcht meint als Gottesfurcht das verlässliche Wissen von Gott, das Vertrauen zu Gott ermöglicht, auch angesichts seiner Fremdheit und Verborgenheit. b) Das erstgenannte Ziel: „Versuchen“ ( נסהpi.) ist in diesem Kontext nichts anderes als der Weg Gottes zu dem genannten Ziel. „Versuchen“ ist die Weise, wie Gott erreicht, dass „Gottesfurcht“ in Israel entsteht, und zwar in der doppelten Weise des Wissens um den Abstand zu Gott, um die Verborgenheit Gottes und des Vertrauens zu Gott. „Versuchen“ ist in Ex 20,20 also ein Akt der Pädagogik Gottes. Nichts Anderes meint Gen 22,1. Gott bricht die furchtbare Zumutung gegenüber Abraham ab, als er sein Ziel erreicht hat, dass Abraham „gottesfürchtig“ ist: „Lege deine Hand nicht an den Knaben und tue ihm nichts; denn nun weiß ich, dass du Gott fürchtest …“ (V.12). In beiden Texten ist Gott mit seinem den Menschen unverständlichen Handeln am Ziel, wenn seine Menschen „gottesfürchtig“ sind. „Versuchung“ ist der Weg, und die „Gottesfurcht“ ist das Ziel; beides gehört für Gen 22,1 wie Ex 20,20 unlöslich zusammen. Die hier gemeinte „Gottesfurcht“ – im Sinne der Bindung an den „fremden“, Orientierung gebenden Gott (Ex 20,20) bzw. des Vertrauens auf den unverständlichen Gott (Gen 22,1) – ist für beide Texte nur über die „Versuchung“ möglich. Mit der Kenntnis dieser Zusammenhänge weiß der versierte Leser, der die Lesehilfe der Überschrift recht versteht, im Voraus, dass die Erzählung für Abraham gut ausgehen wird10. 10 Diese entscheidende Funktion der Überschrift haben mehrere Ausleger erkannt, auch wenn sie die Überschrift nicht präzise gedeutet haben; vgl. etwa R. KILIAN, Isaaks Opferung (SBS 44), Stuttgart 1970, 50f. („Damit ist der Erzählung das eigentlich Anstößige schon genommen“) oder G. VON RAD, der im Blick auf den Leser von einer „Zumutung, mit der
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2. Gen 22 ist keine isolierte Erzählung und will auch nicht isoliert gelesen und gedeutet werden. Vielmehr geht dem Text eine andere Erzählung voraus, die wiederum vom gleichen Verfasser wie Gen 22 stammt und die ihr als Vorspann dient11, da sie im Erzählverlauf genau parallel gestaltet ist: Gen 21,8ff. In dieser vorauslaufenden Erzählung geht es um das Erbe Abrahams. Abraham hat neben Isaak noch einen zweiten Sohn, nicht von seiner Frau Sara, die anfangs unfruchtbar war, sondern von seiner Magd Hagar. Am Beginn dieser Erzählung wird eine Art Ehestreit geschildert: Sara will um des Erbes willen klare Verhältnisse schaffen und daher Hagar vertreiben, Abraham aber will nicht einwilligen, weil auch Ismael sein Sohn ist. In diesem Stadium der Erzählung greift Gott ein und bestärkt Sara im Gespräch mit Abraham. Er verbindet den Plan zur Vertreibung der Hagar allerdings mit einer Verheißung an Ismael: Auch Ismael soll wie Isaak ein großes Volk werden. Von hier ab ergeben sich auffällige Parallelen zu Gen 22: a) „Da stand Abraham früh am Morgen auf“ (Gen 21,14) beginnt die nun folgende Erzählung von der Lebensgefahr Hagars und Ismaels und gebraucht damit den wörtlich gleichen Anfang wie die bedrückende Handlungseröffnung Abrahams in Gen 22,3. Beide Male ist vorausgesetzt, dass Gott in der Nacht zu Abraham gesprochen hat; Gefühle Abrahams werden weder hier noch dort mitgeteilt. b) Gen 21 wie Gen 22 erzählen im Folgenden ausführlich, wie der Verheißungsträger – Ismael hier, Isaak dort – in äußerste Lebensgefahr gerät, ohne dabei in Vergessenheit geraten zu lassen, von wem diese Lebensgefahr letztlich ausging: von Gott. c) In der äußersten Zuspitzung der Lebensgefahr ruft jeweils der Engel Gottes vom Himmel. Wieder ist die Formulierung wörtlich gleich, nur dass bewusst in Gen 21 für Gott der allgemeine Name Elohim (V.17) steht, dagegen in Gen 22 die feierliche Bezeichnung JHWH (V.11). Jeweils weist die Engelsstimme einen Weg, indem sie ein Handeln untersagt („Tu … nicht, denn …“). d) Beide Male werden den jeweiligen Elternteilen die Augen geöffnet (in Gen 21 öffnet Gott die Augen der Hagar, so dass sie sieht; in Gen 22,13 erhebt Abraham seine Augen und sieht), was in beiden Fällen zu einem „Gehen“ der Betroffenen überleitet, das in die Rettung aus der Lebensgefahr führt. Gott nicht ernst machen wollte“, spricht; „für Abraham aber hatte der an ihn ergangene Befehl einen tödlichen Ernst“, in: DERS., Das erste Buch Mose. Genesis (ATD 2/4), Göttingen 6 1961, 204. 11 BLUM, Komposition, a.a.O. (Anm. 6), 330, spricht von einem „,Vorspiel‘ zu dem Drama in Gen 22“.
11. Die „Opferung“ Isaaks (Gen 22)
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e) Die Dramatik der jeweiligen Erzählung kommt zur Ruhe, wenn die Hauptpersonen an ihrem Ort angelangt sind, d.h. „wohnen“: Ismael in der Wüste (21,21), Abraham in Beerscheba (22,19). Diese Parallelen12 können unmöglich zufällig sein; vielmehr nötigen sie den Leser bzw. die Leserin, beide Erzählungen aufeinander zu beziehen. Aber was besagt dann die Parallelität? Entscheidend ist, dass beide Male die Bedrohung des Lebens des Kindes (und damit zugleich des Volkes, dessen Verheißungsträger es ja ist) von Gott ausgeht; in Gen 21 hatte der Erzähler ja nicht umsonst berichtet, dass Abraham der Vertreibung Hagars, wie Sara sie plante, nicht zustimmen wollte. Beide Male aber ist es derselbe Gott, der auf ganz identische Weise, d.h. durch das Eingreifen eines Engels, das Leben des Kindes bewahrt. Beide Erzählungen also handeln von einem Gott, der scheinbar sein eigener Widersacher ist, indem er seine Verheißung bzw. Erwählung zu widerrufen scheint, der aber am Ende sich als derjenige zeigt, der treu zu seinen Verheißungen steht. Allerdings ist hier wie dort eine Treue Gottes gemeint, die sich durch ein Dunkel hindurch ereignet, das der Mensch nicht zu durchschauen vermag. Jedoch handelt es sich hier wie dort um eine Rettungserzählung, und zwar um Rettung aus höchster Not, aus Lebensgefahr; die Eigenart besteht nur jeweils darin, dass Gott aus einer Not herausrettet, die er selber herbeigeführt hat. Für diesen Erzähler ist Gott also beides: eine Gefährdung des Lebens und ein Retter des Lebens, aber beides keineswegs gleichwertig. Vielmehr ist die Gefährdung des Lebens in beiden Erzählungen ein Durchgangsstadium, während die Rettung aus der Lebensgefahr gültig am Ende der Erzählung steht und das Ziel des göttlichen Handelns bildet. Von hier aus wird der wesentliche Unterschied zwischen beiden Erzählungen erkennbar. Beide Abrahamsöhne, Ismael und Isaak, werden von Gott in Lebensgefahr geschickt und wieder gerettet. Aber das „Vorrecht“ des wahren Erben, Isaak, ist es, dass er in ungleich größeres Dunkel geführt wird. Ismael ist von physischer Not bedroht, wie sie in der Wüste, wo er wohnt, immer wieder real wird. Isaak aber wird aus einer Not errettet, die letztlich Gott selber betrifft, weil Gott als sein eigener Gegner, als der Widersacher seiner eigenen Verheißung erscheint. Deutlich wird diese Steigerung im Dunkel vor allem aus jenem Teil der Erzählung in Gen 22, die keine Parallele in Gen 21 hat: aus den Versen 4–8, in denen Isaak nach dem Sinn des Handelns fragt, nach dem Tragen der Opfergeräte ohne ein Opfertier. Abraham antwortet gleichzeitig ausweichend wie (verborgen) vertrauensvoll (s.u. 3.). Der Leser bzw. die Leserin aber kann sich nur auf die Seite Isaaks stellen; auch für ihn 12
Sie sind partiell oft gesehen (vgl. etwa die Literatur bei SCHMID, Rückgabe, a.a.O. [Anm. 7], 285 Anm. 65), so gut wie nie aber sachlich ausgewertet worden (wertvolle Ansätze bieten E. Blum und vor allem H.-C. Schmitt).
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bzw. sie ist ein Sinn des Handelns bis zu diesem Punkt der Erzählung nicht erkennbar. Erkennbar wird es erst im Nachhinein, wie sich überhaupt erweist, dass die Erzählung von hinten nach vorn gelesen werden will. Es ist eben eine Rettungserzählung.
3. Die dritte Lesehilfe für diesen schwierigen Text verdankt die Exegese einer sehr einfachen, aber überaus hilfreichen methodischen Frage, die primär Martin Buber in die Exegese eingeführt hat. Er hat bei der Exegese stark auf sog. Leitwörter geachtet, d.h. Wörter, die bewusst wiederholt oder leicht variiert werden. In Gen 22 gibt es mehrere solcher wiederholter Leitwörter; z.B. wird Gottes dreigliedriger Befehl: „Nimm – geh – opfere“ (V.2) im Folgenden vom Erzähler (mit bewusster Ausnahme des letzten Verbes 13 ) mehrfach wieder aufgegriffen. Ich selber will mich in meinen Ausführungen auf das wichtigste Leitwort beschränken, mit dem der Erzähler bewusst spielt, um ihm verschiedene Nuancen zu entlocken: das Allerweltsverb „sehen“. Es begegnet in einem ständigen Wechsel von Abrahams und Gottes „Sehen“: 1) Zunächst (V.4) „sieht“ Abraham den ihm von Gott gewiesenen Ort von ferne und lässt daraufhin Knechte und Esel zurück. Das eigentliche Geschehen duldet so wenig Zeugen wie der nächtliche Überfall Gottes auf Jakob am Jabbok (Gen 32,23ff.), vor dem Jakob zunächst alle Familienglieder ans andere Ufer bringt, um allein zurückzubleiben. 2) Dann (V.7f.) erfolgt die schon erwähnte belastende Frage Isaaks nach dem Opfertier. Wenn Abraham jetzt antwortet, dass Gott sich ein Opfer „ersehen“ werde, dann ist diese Antwort wahrscheinlich gleichzeitig hilflosausweichend wie vertrauensvoll gegen den Augenschein gemeint14. 3) Wenn der Engel vom Himmel Isaak retten will, dann unterbricht er nicht nur die zuletzt in einem grauenvollen Ritardando präzise geschilderten Vorbereitungen zum Opfer, sondern er lässt auch Abraham die Augen erheben und die Rettung in Gestalt des zu opfernden Widders „sehen“ (V.13). 4) Entscheidend ist dem Erzähler am Ende jedoch die Erkenntnis Abrahams, dass es JHWH ist, der „sieht“ (V.14a) – wie er z.B. nach Ex 3 die Not der unterdrückten Israeliten „gesehen“ hat (V.7.9). Wenn Gott „sieht“, dann greift er ein, hier wie dort. Ja, mehr noch: Im Sprachspiel drückt der Erzähler 13 CHR. SCHÄFER-LICHTENBERGER, Abraham zwischen Gott und Isaak (Gen 22,1–19), WuD 26 (2001) 43–60; 49–51.58, hat deutlich herausgestellt, dass das hebr. Verb עלהhif. vieldeutig ist und keineswegs nur „opfern“ bedeutet. 14 Mit Recht ist von mehreren Exegeten zur Unterstützung dieser Deutung darauf verwiesen worden, dass Abraham in V.5 den Knechten die Rückkehr von Vater und Sohn angekündigt hat.
11. Die „Opferung“ Isaaks (Gen 22)
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in V.14b aus, dass Gott, wenn er Not „sieht“, sich auch selber „sehen lässt“, also offenbar wird15. 5) Vertieft werden die zahlreichen Assoziationen des Leitwortes „sehen“ durch das Wortspiel mit dem zentralen theologischen Begriff „Gottesfürchten“ (V.12)16. Aus dem allen wird erkennbar, wie der Sinn der Erzählung sich erst dann erschließt, wenn Leser und Leserin die Geduld aufbringen, sie bis zum Ende zu verfolgen (V.15–18 sind anerkanntermaßen ein Zuwachs) und den Erzähler nicht schon nach Anhören der Zumutung Gottes an Abraham zum Schweigen zu bringen.
4. Gen 22 ist nicht die Erzählung von einem unbedingten und blinden Gehorsam („Kadavergehorsam“), sondern eine Erzählung, die von ihrem Ende her gelesen werden will, eine Rettungserzählung. Darauf deuten unabhängig voneinander alle drei zuvor genannten Lesehilfen. Jedoch nimmt diese Erkenntnis der Erzählung keineswegs ihre Rätsel. Luthers berühmter Satz aus seiner Genesis-Vorlesung: „Mein Esel widersteht unten und kann nicht auf den Berg steigen. Also bleiben alle die Esel … und können die Gedanken nicht ergreifen, dass der Tod das Leben sei“17, behält sein Recht, aber eben in beiderlei Hinsicht: in der Ausdeutung des Dunkels des Textes und seines Plädoyers für das Leben. Die Erzählung will beides beisammen halten: die unverständlichen und unerträglichen Gotteserfahrungen, die auch durch die Wende in der Erzählung nichts von ihrem Schrecken verlieren, und die Erfahrungen der Rettung aus Notsituationen, in denen alles Hoffen vergeblich schien. Es wäre ja weit einfacher für Abraham (wie für Hiob), könnte er seine dunklen und ihm nicht verständlichen Leiderfahrungen auf eine andere Macht zurückführen und Gott die lichten, durchsichtigen und hellen Stunden vorbehalten. Eine solche „Lösung“ aber verbietet das AT vom Ansatz her, und Gen 22 tut dies im Besonderen. Die Erzählung will nur einen Gott anerkennen, der die gesamte Wirklichkeit bestimmt, freilich nicht so, dass er in unbestimmter Abfolge einmal dunkle, dann wieder helle Erfahrungen zuteilt. Vielmehr ist für sie Gott ein 15
Falls O. KAISER, Die Bindung Isaaks, in: DERS., Zwischen Athen und Jerusalem (BZAW 320), Berlin/New York 2003, 199–224; 216f., mit seiner Vermutung Recht haben sollte, dass V.14 schon (wie sicherer V.15–18) eine jüngere Deutung der Erzählung bietet, ist seine Deutung von V.14b im Licht von 2Chr 3,1 plausibel. Zwingend erscheint mir diese literarkritische Entscheidung jedoch nicht. 16 Vgl. BLUM, Komposition, a.a.O. (Anm. 6), 324. 17 Zitiert nach V. RAD, Das Opfer des Abraham, a.a.O. (Anm. 1), 54f.
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Gott des Lebens (das hält Hebr 11,17–18 in der Auslegung mit Recht entschieden fest); andernfalls wäre die „Gottesfurcht“, die Abraham aus seinen Schrecken gewinnt, ein schaudernder Blick auf ein unbestimmtes Schicksal. Für den Erzähler aber ist die „Gottesfurcht“, wie sie Abraham aus dem grauenhaften Erleben gewinnt, das Wissen, dass Gott selbst dort, wo er in einem scheinbar sinnlosen Geschehen als Gegner seiner selbst erfahren wird, nicht aufhört, der den Menschen Zugewandte zu sein, der auch dann noch Wege weiß, die den Horizont menschlicher Erfahrungen transzendieren (Hebr 11,19 erinnert daher an Gottes Macht zur Auferweckung von Toten)18. Insbesondere lernt Abraham, dass Gott Isaak gar nicht preisgeben kann, auch wo er im Begriff zu sein scheint, ebendies zu tun. Das „Privileg“ des Gottesvolkes aber ist für den Erzähler, dass es, weil es mehr von Gott weiß, ungleich umfassendere Erfahrungen der scheinbaren Widergöttlichkeit Gottes machen muss, um durch diese unerträglichen Erfahrungen hindurch zu begreifen, dass ebendieser Gott seine einzige Hoffnung im Leid und Dunkel, „im Leben und im Sterben“ ist. Zwei Beobachtungen mögen diese Gedanken abschließen: 1) Die jüdische Tradition, die Gen 22 am Neujahrsfest ins Zentrum stellt, liest den Text wesenhaft nicht als einen Abrahamtext, sondern als einen Isaaktext. Sie drückt damit zweierlei aus: zum einen die Bereitschaft zum Leiden, wo immer Gott es seinem Volk auferlegt; zum anderen das Verständnis des Lebens als ein Wunder aus Gottes Hand, der die Seinen nicht preisgeben kann. 2) Wenn Gen 22 schon den frühen Christen in den Katakomben eine wichtige Hilfe zum Verständnis ihres Geschickes war, so schwerlich ohne die Deutung von Hebr 11. Wie damals so ist es großen Malern der christlichen Tradition bis in die Gegenwart – und insbesondere Rembrandt – immer wieder gelungen, beides an Abraham gleichermaßen darzustellen: sein furchtbares Entsetzen einerseits und sein staunendes Begreifen der Rettung andererseits19.
18 Meines Erachtens liegt eine Fehldeutung vor, wenn man mit SCHMID, Rückgabe, a.a.O. (Anm. 7), 289f., formuliert: „,Gott fürchten‘ heißt in Gen 22 also Gott ganz Gott sein lassen – jenseits aller Festlegung auf seine bereits mehrfach ergangenen Verheißungen.“ Vielmehr geht es genau um das Vertrauen auf jene verbindliche „Festlegung“ Gottes in Situationen, in denen nichts von ihr erkennbar wird. 19 Die lange Geschichte vielfältiger jüdischer und christlicher Rezeption von Gen 22 ist dargestellt von L. KUNDERT, Die Opferung/Bindung Isaaks, 2 Bde (WMANT 78–79), Neukirchen-Vluyn 1998 und D. LERCH, Isaaks Opferung christlich gedeutet (BHTh 12), Tübingen 1950; vgl. zu letzterer auch H. GRAF REVENTLOW, Opfere deinen Sohn (BSt 53), Neukirchen-Vluyn 1968, 78ff. und zu beiden T. VEIJOLA, Das Opfer des Abraham – Paradigma des Glaubens aus dem nachexilischen Zeitalter, ZThK 85 (1988) 129–164; 130–138.
12. Gen 20–22 als theologisches Programm Zu den besonderen Verdiensten Hans-Christoph Schmitts gehört es, einem ständig wachsenden Heer an „Schreibtischmördern“1, die dem Elohisten den Garaus bereiten oder ihm gar aus grundsätzlichen Erwägungen seine Existenzberechtigung verweigern wollten, furchtlos über Jahrzehnte die Stirn geboten zu haben. Dabei pflegte er die Prämissen seiner Analysen stets vorbildlich offenzulegen, wodurch das kritische Gespräch über seine Analysen sehr erleichtert und befördert wurde. Er gebrauchte gern das spielerische Element, dessen jede Exegese bedarf, das hypothetische Ausloten verschiedener Möglichkeiten zur Lösung eines Problems. Ob E als Quelle zu gelten habe oder man mit H. W. Wolff von „Fragmenten“ zu reden habe, ob „E“ Bearbeiter von „J“ sei, insbesondere in den Abrahamserzählungen2, aber auch darüber hinaus3, ob – wenn ja – dennoch mit Selbständigkeit bzw. Quellenhaftigkeit zu rechnen sei4: Über all dies ließ sich trefflich mit ihm streiten. Aber die geschichtliche Stunde solcher Diskussionen ist fürs erste vergangen. Angesichts der wachsenden Zahl an Pentateuchhypothesen ist primär eine neuerliche Verständigung über die Beobachtungen vonnöten, die in der klassisch zu nennenden Periode der historisch-kritischen Forschung zur An1 So H. W. WOLFF zu Beginn seiner Heidelberger Antrittsvorlesung „Zur Thematik der elohistischen Fragmente im Pentateuch“, EvTh 29 (1969) 59–72; wieder abgedruckt in: DERS., Gesammelte Studien zum Alten Testament, München ²1973, 402–417. 2 Vgl. etwa J. VAN SETERS, Abraham in History and Tradition, New Haven/London 1975; P. WEIMAR, Untersuchungen zur Redaktionsgeschichte des Pentateuch (BZAW 146), Berlin/New York 1977, 107.111; O. KAISER, Grundriss der Einleitung in die kanonischen und deuterokanonischen Schriften des Alten Testaments, Bd. 1, Gütersloh 1992, 74–76; S. E. MCEVENUE, The Elohist at Work, ZAW 96 (1984) 315–332; 329f.; CHR. LEVIN, Der Jahwist (FRLANT 157), Göttingen 1993, 173. 3 Vgl. etwa H.-C. SCHMITT, Die nichtpriesterliche Josephsgeschichte (BZAW 154), Berlin/New York 1980; L. SCHMIDT, Literarische Studien zur Josephsgeschichte (BZAW 167), Berlin/New York 1986, 125ff.; J. JEREMIAS, Theophanie. Die Geschichte einer alttestamentlichen Gattung (WMANT 19), Neukirchen-Vluyn ²1977, 197ff. – Anders etwa W. H. SCHMIDT, Einführung in das Alte Testament, Berlin/New York 51995, 86ff.; vgl. DERS., Plädoyer für die Quellenentscheidung, BZ 32 (1988) 1–14; 7f.; A. GRAUPNER, Der Elohist (WMANT 97), Neukirchen-Vluyn 2002, 203 u.ö. 4 Für Bearbeitung von J und gleichzeitige Selbständigkeit von E plädieren etwa W. RICHTER, Die sogenannten vorprophetischen Berufungsberichte (FRLANT 101), Göttingen 1970, 130; E. ZENGER, Die Sinaitheophanie (fzb 3), Würzburg 1971, 161; WEIMAR, Untersuchungen, a.a.O. (Anm. 2), 108–111; R. SMEND, Die Entstehung des Alten Testaments, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1978, 85f.
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nahme eines eigenständigen „E“ geführt haben. Es ist daher schwerlich zufällig, dass der jüngste Aufsatz H.-C. Schmitts wieder bei den Argumenten J. Wellhausens ansetzt und sich mit Gen 20–22 (bzw. Gen 20–21) dem Textkomplex zuwendet, der in der Kontroverse um die Existenz eines Elohisten stets den relativ sichtersten Ausgangspunkt bildete5. Die folgenden Überlegungen versuchen, seine Gedanken weiter voranzutreiben – ob in eine ihm genehme Richtung, muss sich erst zeigen. Während Schmitt vor allem den erzählerischen Prämissen von Gen 20–21(22) nachgegangen ist, um die Frage des Einsatzes der elohistischen Darstellung zu klären, bemühen sich meine Erörterungen darum, Gen 20–22 als Ganzheit zu verstehen. Gen 20–22 (genauer 20,1–22,19), der erste und bei weitem größte zusammenhängende Block innerhalb der klassisch elohistischen Texte, ist nur durch zwei kürzere Einschübe unterbrochen: einerseits durch die knappe Erzählung von der Geburt Isaaks, die in einer älteren Gestalt zum Block dazugehört haben muss, da sie in 21,8ff. sachlich und formal (V.8 ist kein Erzählungsanfang) vorausgesetzt wird, jetzt aber von priesterschriftlicher Sprache beherrscht wird, wenn auch älteres Material verarbeitet ist (Gen 21,1–7); zum anderen durch die nachträglich zugefügte zweite Engelrede in Gen 22,15–18, die in einer hochtheologischen, teilweise dtr geprägten Sprache die schon abgeschlossene Erzählung Gen 22 deutet und dabei voller Rückverweise auf voranstehende Vätertexte ist6. Sieht man von diesen beiden deutlich jüngeren Texten einmal ab, bleiben vier längere Erzählungen: Abraham bei Abimelech in Gerar (Gen 20), die Vertreibung von Hagar und Ismael (Gen 21,8–21), der Vertrag Abrahams mit Abimelech (Gen 21,22–34) und die Opferung Isaaks (Gen 22,1–14.19). Drei dieser vier Texte laufen dabei geschehensmäßig und konzeptionell einander parallel, wie sogleich zu zeigen ist, und wollen aufeinander bezogen gelesen und ausgelegt werden. Separat steht einzig Gen 21,22–34, die Erzählung vom Vertrag Abrahams mit Abimelech. Zum einen handelt es sich um den einzigen der vier Texte, der deutlich aus zwei literarischen Schichten zusammengesetzt ist, wie die ältere und neuere Forschung nahezu einmütig anerkennt, wenn auch die Scheidung der Schichten im Einzelnen unterschiedlich vorgenommen wird; zum anderen ist Gen 21,22ff. ganz ungewöhnlich eng auf das umstrittene Kapitel Gen 26 bezogen und ohne diesen Bezug nicht eindeutig interpretierbar. Aus diesen Gründen möchte ich Gen 21,22–34 im Folgenden unberücksichtigt lassen, ohne damit eine positive oder negative Vorent5 H.-C. SCHMITT, Menschliche Schuld, göttliche Führung und ethische Wandlung. Zur Theologie von Gen 20,1–21,21* und zum Problem des Beginns des „Elohistischen Geschichtswerks“, in: Gott und Mensch im Dialog, Bd. 1 (FS O. Kaiser [BZAW 345/1]), hg. von M. Witte, Berlin/New York 2004, 259–270. 6 Vgl. bes. E. BLUM, Die Komposition der Vätergeschichte (WMANT 75), NeukirchenVluyn 1984, 363ff.
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scheidung treffen zu wollen, ob zumindest die ältere der beiden literarischen Schichten, aus denen der Text zusammengesetzt ist, mit dem Elohisten der anderen drei Texte zu identifizieren ist. Verglichen werden im Folgenden Gen 20, Gen 21,8–21 und Gen 22,1–14.197, wobei der Einfachheit halber weithin nur die Kapitelzahlen gebraucht werden.
1. Einzusetzen hat eine Überprüfung der konzeptionellen Einheit von Gen 20–22 zwingend bei den beiden Texten, die einander am nächsten stehen: Gen 21,8– 21 und Gen 22,1–14.19. Diese beiden Texte verlaufen so weitgehend parallel – und zwar sowohl erzähltechnisch (Abschnitt I) als auch konzeptionell (Abschnitt II) –, dass sie offensichtlich von vornherein zusammen gelesen und zusammen ausgelegt werden wollen. Eine je isolierte Lektüre würde Zusammengehöriges auseinanderreißen und müsste daher wesentliche Aspekte der Aussage verlieren oder doch zumindest unsachgemäß isolieren. Die Gemeinsamkeiten zwischen beiden Texte sind, wenigstens partiell, immer beobachtet worden8. Am stärksten galt dies stets für die auffälligste Parallelerscheinung, den hier wie dort am Höhepunkt der Erzählung rettend „vom Himmel rufenden Engel“ Gottes (Gen 21,17; 22,11). Die Beobachtung als solche ist freilich noch von recht geringem Nutzen, zumal der Gottesname in beiden Erzählungen gerade bei Einführung des Engels variiert, während er im übrigen Erzählverlauf weitestgehend analog verwendet wird. Jedoch ist eben nicht nur die Einführung beider Erwähnungen des rufenden Engels nahezu identisch, sondern auch ihre Position innerhalb der Erzählung. Insofern nötigt letztlich schon diese eine, ohne jede Mühe beim ersten Lesen der Texte gewonnene Parallele zum Vergleich der beiden Kapitel. Bei näherem Zusehen sind die Parallelen weit zahlreicher. Ich beschränke mich im Folgenden auf die wichtigsten und führe sie in der Reihenfolge auf, in der sie in den beiden Kapiteln begegnen. Die als erste zu nennende Gemeinsamkeit zwischen Gen 21,8ff. und Gen 22 ist unscheinbar, aber sachlich von großem Gewicht. Sie könnte als zufällig 7 Vgl. dazu MCEVENUE, The Elohist, a.a.O. (Anm. 2), 316 u.ö., der im Blick auf diese drei Texte von einer „Trilogie“ spricht. 8 Am genauesten sind sie in neuerer Zeit von H. SPECHT, Die Abraham-Lot-Erzählung. Der Beginn der literarischen Abrahamsüberlieferung und ihre Neudeutung durch den Jahwisten und Elohisten, Diss. München 1983, 107ff. 329ff., und MCEVENUE, The Elohist, a.a.O. (Anm. 2), herausgestellt worden; vgl. BLUM, Komposition, a.a.O. (Anm. 6), 314, und H.-C. SCHMITT, Die Erzählung von der Versuchung Abrahams Gen 22,1–19* und das Problem einer Theologie der elohistischen Pentateuchtexte, BN 34 (1986) 82–109; 97f., wieder abgedruckt in: DERS., Theologie in Prophetie und Pentateuch, Gesammelte Studien (BZAW 310), Berlin/New York 2001, 108–130; 120f.
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abgetan werden, wenn sie nicht von den folgenden Beobachtungen gestützt würde. In beiden Erzählungen beginnt die eigentliche Handlung mit einer Gottesrede, die sich an Abraham richtet: „Da sprach Gott zu Abraham“ (21,12) bzw. „da sprach er (Gott) zu ihm (Abraham)“ (22,1b). Im Falle von Gen 22 ist dieser Erzählungsanfang evident, denn voraus geht einzig die überschriftartige, zusammenfassende Deutung der Geschehnisse in V.1a: „Nach diesen Ereignissen prüfte Gott Abraham“. In Gen 21 dagegen bedarf der Leser vorgängiger Informationen, um die nachfolgende Erzählung verstehen zu können. Dazu gehört zu allererst der Plan der Sara, ihre Magd Hagar und deren Sohn Ismael zu vertreiben (V.10), weiter die Begründung dieses Planes durch die Grenzüberschreitung des Ismael (V.8f.) 9 , schließlich der Widerstand, den Abraham dem Plan entgegenbringt (V.11). Gerade dieses letztgenannte Motiv verdeutlicht, dass wir uns in der Exposition der Erzählung befinden und noch nicht in ihren Verlauf selber eingetreten sind; die unterschiedliche Einschätzung der Lage durch Sara einerseits und Abraham andererseits hemmt den Handlungsbeginn, und es bedarf erst der Initiative des Gotteswortes, damit der Plan der Sara in die Tat umgesetzt werden kann, die den Spannungsbogen der Erzählung eröffnet. Unmittelbar auf die Gottesrede folgt in beiden Texten der Satz: „Da machte sich Abraham frühmorgens auf“ (21,14; 22,3). Mit ihm wird der pünktliche Gehorsam des Erzvaters herausgestellt; offensichtlich setzt der Satz voraus, dass Gott in der Nacht zu Abraham geredet hat 10 . Mit der Betonung der Pünktlichkeit fällt indirekt auch Licht auf den Inhalt der Gottesrede. Hatte Gen 21,11 explizit herausgestellt, dass Abrahams eigene Beurteilung der Lage derjenigen Gottes diametral entgegengesetzt war, so bedarf es eines entsprechenden Hinweises in Gen 22 nicht. Schlechterdings unüberbietbar ist die Zumutung, die in den sich steigernden Appositionen zum Ausdruck kommt: „Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebst, den Isaak …“ Zwar ohne terminologische Anklänge, aber in der Sache analog folgen in beiden Texten, sehr ausführlich beschrieben, Abrahams Reisevorbereitungen für Hagar bzw. sich selber. Sie wirken umständlich, spiegeln aber gerade darin die Zumutung Gottes wider: Brot und Wasser in Gen 21,14 dienen schon als Vorspiel auf (Hunger und) Durst; die Reihen Esel – Knechte – Isaak bzw.
9 Wenn Sara Ismael beim צהקpi. beobachtet, so ist damit nicht ein kindliches Spiel gemeint, auch nicht ein moralisch anstößiges Gelächter, sondern – wie das Wortspiel mit dem Namen Isaak verdeutlicht – ein „Isaacing“, ein „pretending to be Isaac“ (G. W. COATS, The Curse in God’s Blessing, in: Die Botschaft und die Boten [FS H. W. Wolff], hg. von J. Jeremias/L. Perlitt, Neukirchen-Vluyn 1981, 31–41; 37f.; F. ZIMMER, Der Elohist als weisheitlich-prophetische Redaktionsschicht, Frankfurt a.M. 1999, 90). 10 Im vorausgehenden Kap. 20, das zu 21–22 sachlich unlöslich hinzugehört, wie noch zu zeigen ist, ist an entsprechender Stelle ausdrücklich das Reden Gottes mittels eines Traums in der Nacht dargelegt (V.3.6).
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satteln – nehmen – Opferholz spalten – gehen in Gen 22,3 lassen in ihrer jeweiligen Steigerung das Dunkel, das auf Abraham zukommt, ahnen. Während die Beschreibung des langen Weges, den Abraham und Isaak zurücklegen müssen (22,4–8), in Gen 21 auf den Satz: „Sie zog los und verirrte sich in der Wüste Beerscheba“ (V.14b) beschränkt ist, wird in beiden Kapiteln die Lebensgefahr des Kindes breit dargelegt (21,15f.; 22,9f.). Dabei sind in der anfänglichen Gottesrede beide Kinder betont als Verheißungsträger eingeführt worden – Ismael explizit in 21,13, Isaak in 21 noch betonter (V.10b.12b), in 22,2 nach der Vertreibung Ismaels indirekt in der Begrifflichkeit „dein einziger, den du liebst“11. In scharfem Kontrast dazu wird die Lebensgefahr der beiden Kinder als unaufhaltsam dargestellt und führt zu scheinbar rettungsloser Verlorenheit – Hagar hat Ismael schon aufgegeben (21,16), Abrahams Handlungen in 22,9f. dienen in einem grauenhaften Ritardando mit gewissenhafter Präzision nur dem Ziel der gebotenen Darbringung des Sohnes. In ebendieser scheinbar aussichtslosen Situation heißt es hier wie dort: „Da rief der Engel Gottes/Jahwes vom Himmel Hagar/ihn (Abraham) an und sprach: ,Tu nicht …, denn …‘“ (21,17f.; 22,11f.). Auffällig ist, dass in beiden Fällen der Ruf des Engels, mit dem die Abwendung der tödlichen Gefahr eingeleitet wird, nahtlos in Gottesrede übergeht, wenn Hagar bzw. Abraham die entscheidende theologische Mitteilung unterbreitet wird, die auf den Leser zielt. Das logische Subjekt sowohl der Verheißungserneuerung „denn ich will ihn zu einem großen Volke machen“ (21,18b) als auch der Zielbestimmung der Prüfung Abrahams „denn jetzt weiß ich, dass du gottesfürchtig bist“ (22,12b), also beider Begründungssätze in der Aufforderung der Engelsstimme, kann nur Gott sein. Der Vorgang der Rettung selber geschieht jeweils durch ein plötzliches „Sehen“, das zu einem „Gehen“ führt. Hagar, der von Gott „die Augen geöffnet“ wurden, „sah einen Brunnen mit Wasser, ging, füllte den Schlauch mit Wasser und tränkte den Knaben“ (21,19); Abraham „erhob seine Augen und 11
Dieser – bes. von G. von Rad in seinen verschiedenen Arbeiten zu Gen 22 stets betonte – Sachverhalt wird von vielen Auslegern verkannt, am stärksten naturgemäß von denen, die Gen 22 am entschlossensten von Gen 21 isolieren, etwa: C. WESTERMANN (Genesis [BK I/2], Neukirchen-Vluyn 1981, 413f.425 u.ö.: Gen 20–22 enthalten unzusammenhängende Nachträge zu J), T. VEIJOLA (Das Opfer des Abraham – Paradigma des Glaubens aus dem nachexilischen Zeitalter, ZThK 85 [1988] 129ff.); etwas zurückhaltender BLUM (Komposition, a.a.O. [Anm. 6], 311ff.329f.: Die Parallelen in Gen 21 zu Gen 22 beruhen auf sekundärer Anpassung einer älteren Erzählung an Kap. 22). Vgl. auch L. SCHMIDTs Formulierung, Abraham sei bei E „der einzelne exemplarische Fromme“ (Pentateuch, in: DERS./H. J. Boecker/H.-J. Hermisson/J. M. Schmidt [Hg.], Altes Testament, Neukirchen-Vluyn 1983, 96; etwas vorsichtiger in: DERS., Weisheit und Geschichte beim Elohisten, in: Gesammelte Aufsätze zum Pentateuch [BZAW 263], Berlin/New York 1998, 156–158). Behutsamer hebt SCHMITT hervor, dass die Verheißung der Volkwerdung in Gen 22 nicht thematisiert wird (Erzählung, a.a.O. [Anm. 8], 85; Neudruck 111).
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sah einen Widder …; er ging und nahm den Widder und brachte ihn statt seines Sohnes als Brandopfer dar“ (22,13). Aber noch nicht die Rettung der gefährdeten Verheißungsträger bringt die beiden Erzählungen zum Abschluss, sondern sie kommen erst dort zur Ruhe, wo sie über das „Wohnen“ der Hauptperson berichten. Hier besteht allerdings der Unterschied, dass nach 21,20 Ismael schon als herangewachsen gilt mit eigenem ,Beruf‘ als Bogenschütze – „er wohnte in der Wüste …“ (V.20); „er wohnte in der Wüste Paran“ (V.21) –, während Kap. 22 das Entsprechende von Abraham mitteilt, nachdem er von seiner Reise zurückgekehrt war: „Abraham wohnte in Beerscheba“ (22,19).
2. Zwei Erzählungen, die sowohl in ihrem Handlungsablauf als auch in der verwendeten Begrifflichkeit so bewusst miteinander verzahnt sind, müssen zusammen gedeutet werden, müssen sich gegenseitig interpretieren. Die entscheidende Erkenntnis in diesem Zusammenhang scheint mir zu sein, dass nicht nur gewisse einzelne Handlungsabschnitte einander parallel verlaufen, sondern die Ereignisse als ganze in ihrer Szenenabfolge. Daraus folgt, dass der Geschehensbogen insgesamt hier und dort miteinander verglichen werden muss. Aus dieser Forderung ergibt sich von selbst, dass die Texte von ihrer „Lösung“ her, also von ihrem Abschluss her ausgelegt werden müssen. Das heißt entscheidend: Es sind jeweils Rettungserzählungen, in denen berichtet wird, wie Gott in scheinbar aussichtsloser Lage einen für die Betroffenen auch nicht ansatzweise erkennbaren Weg aus Lebensgefahr weist, indem er 1) seinen gütigen Engel vom Himmel her sendet und „rufen“ lässt, um den gefährdeten Menschen ihre Furcht zu nehmen (21,17) bzw. sie vor dem Äußersten zu bewahren (22,12), und 2) sie ihre Rettung „sehen“ lehrt, die vor ihnen liegt und für die ihnen doch „die Augen aufgetan“ werden müssen (21,19; 22,13). Das Hören des Notschreie beantwortenden „Rufes“ des Engels und das „Sehen“ der (zuvor gehaltenen) Augen gehören beim Vorgang der Rettung in beiden Erzählungen engstens zusammen, auch wenn von der stofflichen Eigenart der jeweiligen Tradition her das „Hören“ in der Ismaelgeschichte (21,17a.b) und das „Sehen“ in der Isaakgeschichte (22,14a.b.; vgl. V.2.8.13) den Vorrang hat. Und doch ist mit diesen Feststellungen das Wesentliche der beiden Texte noch nicht erfasst. Es liegt im Spannungsbogen der Erzählungen, d.h. in der Verknüpfung ihres Anfanges mit ihrem Ende. Es ist ja jeweils Gott selber, der die beschriebene Lebensgefahr der beiden Kinder überhaupt erst herbeiführt, aus der er im Verlauf der Erzählungen auf überraschende Weise auch wieder rettet. Die Kinder werden somit von Gott selber tödlich gefährdet und zugleich von ihm aus Lebensgefahr gerettet. Das zentrale Anliegen des Erzäh-
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lers in beiden Texten ist offensichtlich, dass Gott weder nur der Gefährdende noch der Rettende ist, sondern dass er beides zugleich ist12. Dabei wird die Gefährdung der Kinder dadurch bewusst gesteigert und die göttliche Handlungsweise rationalem Zugang betont entzogen, dass beide Kinder, wie wir schon sahen, Kinder Abrahams sind und vor aller Gefährdung programmatisch als Verheißungsträger eingeführt werden, die Ahnherren eines großen Volkes werden sollen (21,12f.). Gott gefährdet also nicht nur das Leben der beiden Abraham-Söhne, sondern er gefährdet gleichzeitig sein eigenes Wort, seine eigene Zusage, die an diese Kinder gebunden ist. Damit gefährdet er letztlich sich selber, denn das biblische Israel hat sich stets geweigert, einen Gott anzuerkennen, der beliebig Zusagen geben und revozieren kann, also die verkörperte Unzuverlässigkeit und Willkür ist13. Hat man einmal diese Voraussetzungen in beiden Erzählungen gesehen, so wird die Konsequenz unumgänglich, dass der Anfang der Erzählungen, die Gefährdung der Kinder, nie für sich, also ohne die abschließende Rettung erzählt worden sein kann. Der Erzählungsbogen ist unteilbar, Gefährdung und Errettung gehören als Tat ein und desselben Gottes unlöslich zusammen. Die Größe der Gefahr ist das Maß für die Größe der Rettung. Beide Erzählungen zielen also darauf ab, dass Gott auch dann noch nicht aufhört, für die Kinder Abrahams der Rettende zu sein, wenn die Gefahr am allergrößten ist, wenn sie nämlich von ihm selber kommt. Diese Textverwandtschaft ist etwas gänzlich Anderes als das mit dem – inzwischen zum Modewort gewordenen – Sammelbegriff der „Intertextualität“ Bezeichnete, den G. Steins14 in die Diskussion eingeführt hat. Wie W. Groß15 in seiner klugen Kritik aufgewiesen hat, vermag G. Steins sein differenziertes Methodenprogramm in der faktischen Analyse nicht durchzuhalten. Die mangelnde Unterscheidung unterschiedlichster Bezugebenen zwischen verwandten Texten führt ihn zu der abwegigen Annahme, bei der Menge an Bezügen, die er zu Gen 22 herausstellt, sei Gen 22 stets der nehmende, nie der gebende Part gewesen (S. 217).
12 Diesen Sachverhalt hat SCHMITT (Erzählung, a.a.O. [Anm. 8], 94ff. bzw. 118ff.) schärfer als alle anderen Exegeten herausgestellt. 13 Vgl. J. JEREMIAS, Die Reue Gottes (BThS 31), Neukirchen-Vluyn ²1997, 119–123.149– 157. 14 Die „Bindung Isaaks“ im Kanon (Gen 22). Grundlagen und Programm einer kanonischintertextuellen Lektüre (HBS 20), Freiburg/Base/Wien 1999. 15 Ist biblisch-theologische Auslegung ein integrierender Methodenschritt?, in: F.-L. Hossfeld, Wieviel Systematik erlaubt die Schrift? (QD 185), Freiburg/Basel/Wien 2001, 121 Anm. 25.
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3. Allerdings führt ebendieser Gedanke auch zwangsweise zur Wahrnehmung der Unterschiede zwischen beiden Erzählungen. Gefährdung und Rettung sind in Gen 21 einerseits und in Gen 22 andererseits in völlig anderen Kategorien dargestellt. Geht es bei Hagar und Ismael um die Erfahrung physischer Not des Verdurstens, so bei Isaak um die göttliche Zumutung an Abraham, sein Kind selbst als Opfer darzubringen. Für Ismael besteht seine Weise der Gefährdung auch künftighin, denn er siedelt sich in ebenjener Wüste an, die ihm die Gefahr des Verdurstens brachte und weiterhin bringen wird (Gen 21,20f.). Im Falle Isaaks ist eine analoge Formulierung unmöglich. Auf dem Berg im Lande Moria (nach 2Chr 3,1: auf dem Zion) wird in der Zukunft ein Widder dargebracht in ständigem Gedenken an die Rettung Isaaks. Isaaks Leben ist ein für allemal gerettet, ausgelöst durch den Widder16. Allerdings enthält diese Beobachtung nur die halbe Wahrheit. Der längste Passus in Gen 22, der in Gen 21 keinerlei Parallele findet – 22,4–8 –, breitet mit dem belastenden Gespräch zwischen Abraham und Isaak auf dem Weg eine Erörterung von derart grundsätzlichem Charakter vor dem Leser aus, wie sie unmöglich nur für die eine Situation der Erzählung selber, wie sie vielmehr für eine Fülle entsprechender Situationen verstanden sein will. Insbesondere die Antwort Abrahams auf Isaaks drängende Frage nach dem Opfer: „Gott wird sich das Schaf ersehen“ weist in ihrem Ausweichen, in ihrer Offenheit, aber auch in dem zum Ausdruck gebrachten Vertrauen deutlich über den Horizont des Erzählten hinaus. Wie der „gottesfürchtige“ Abraham Recht behält und den heiligen Ort im Rückblick „Jahwe ersieht“ nennt, so will diese Gottesfurcht ansteckend wirken und Isaak und seine Nachkommen zum Vertrauen auf Jahwe selbst in unverständlichem Dunkel locken. Dass die Nachkommen Isaaks ohne Erfahrung des Dunkels bleiben würden, will der Text gewiss nicht sagen, so deutlich er darauf beharrt, dass die Zumutung Gottes an Abraham, den eigenen Sohn darzubringen, ein einmaliges und unwiederholbares Ereignis war, ohne das es Isaak und seine Nachkommen gar nicht gäbe. Es bleibt also in der Tat bei der Feststellung G. von Rads17, dass die überlieferungsgeschichtliche Analyse für Gen 22 – nicht für jeden Vätertext! – so gut wie nichts erbringt. So gewiss die Ablösung des Kindesopfers durch ein
16 Analog deutet die Ergänzung in 22,15–18: Dem im Äußersten bewährten Abraham gelten Segen und Mehrungsverheißung endgültig und für alle Zeiten. 17 Das Opfer des Abraham (KT 6), München 21976, 26 u.ö. Vgl. schon D. LERCH, Isaaks Opferung christlich gedeutet (BHTh 12), Tübingen 1950, 166f. Anders D. C. HOPKINS in seiner Diskussion der Auslegung von Rads (Between Promise and Fulfilment, BZ NF 24 [1980] 180–93).
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Tieropfer stofflich dem Erzähler vorgegeben war18, so zeigt doch gerade die Parallelisierung von Gen 21 und 22, wie frei und souverän dieser Erzähler mit seinem Stoff umging! Das „Vorrecht“ der Nachkommen Isaaks gegenüber den Nachfahren Ismaels ist demnach, dass Gott sie in eine noch weit größere Gottesferne und Gottesfinsternis führt. Rettung aus Not erfährt auch Ismael, und wie er werden seine Nachkommen sie erfahren. Darin entsprechen sich grundsätzlich die Erfahrungen beider Gruppen von Menschen, die sich von einem Abrahamssohn herleiten. Aber Isaak und seinen Nachkommen wird zugemutet, Gott auch dort noch wahrzunehmen und ihm zu vertrauen, wo er scheinbar sein eigener Widersacher, scheinbar sein eigener Widerspruch geworden ist. Zwei nebensächliche Züge mögen diesen Unterschied noch beleuchten. 1) Gegen die Vertreibung Ismaels lehnt Abraham sich anfangs auf, bis Gott sie ihm befiehlt; angesichts der Zumutung Gottes, den geliebten Sohn zu opfern, verstummt er. In Gen 21 versteht Abraham Gott nicht, weil er anderer Ansicht ist; in Gen 22 begegnet ihm Gott in der Maske eines Gegengottes. Gen 21 zeichnet anfangs ein Problemfeld, zu dem es verschiedene Auffassungen der betroffenen Menschen gibt (21,9–11); Gen 22 kennt anfangs nur Gottes schlechterdings unverständliches Wort und Abrahams Tat. 2) Umgekehrt aber ruft Abraham der „Engel Jahwes“ vom Himmel her an und nicht mehr der „Engel Gottes“ wie in 21,17. Mit dem Jahwenamen wird in 22,11 (und V.14) ein persönliches Vertrauensverhältnis zwischen Abraham und seinem Gott angedeutet, wie es jenseits aller Erfahrungen von Hagar und Ismael liegt.
4. Aus den bisherigen Erörterungen ist längst deutlich geworden, dass der erzählerische Wille, die Ereignisse von Gen 21 und 22 aufeinander zu beziehen, nicht die Treue des Historikers widerspiegelt, also nicht das Interesse an einer vergangenen Epoche der Erzväter, sondern Gegenwartsinteresse. Bevor aber dieses Gegenwartsinteresse näher untersucht wird, soll zunächst ein Blick auf den dritten Text geworfen werden, in dem ebenfalls ein Mensch aus Lebensgefahr gerettet wird, auf Gen 2019. Die Verwandtschaft mit Gen 21,8ff. und 18 Die weitergehenden Versuche, die vorgegebene Tradition bzw. Erzählung zu rekonstruieren bei H. GRAF REVENTLOW, Opfere deinen Sohn (BSt 53), Neukirchen-Vluyn 1968, 52ff. sowie R. KILIAN, Isaaks Opferung (SBS 44), Stuttgart 1970, 88ff. sind zu spekulativ; vgl. die berechtigte Kritik von BLUM, Komposition, a.a.O. (Anm. 6), 320f., Anm. 53. 19 Dabei halte ich mit SCHMITT, Menschliche Schuld, a.a.O. (Anm. 5), 261f., und BLUM, Komposition, a.a.O. (Anm. 6), 405f., Gen 20 für im Wesentlichen einheitlich und die von ihnen bestrittenen literarkritischen Argumente von P. Weimar, I. Fischer, Th. Seidl und F. Zimmer u.a. für nicht überzeugend.
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22,1ff. ist mit Händen zu greifen, auch wenn sie nicht so weit in die Begrifflichkeit hineinreicht wie bei den anderen beiden Texten untereinander. Erheblich stärker als im Falle von Gen 21 ist die Eigengesetzlichkeit einer vorgeprägten Erzählung in Anschlag zu bringen. Gen 20 greift auf Gen 12,10ff. (und Gen 26!) zurück und deutet diese älteren Texte20. Er setzt auch beim Leser die Kenntnis des Stoffes von Gen 12,10ff. voraus und spielt auf ihn mit einer anfänglichen Situationsangabe an, die in ihrer Kürze kaum noch verständlich ist (V.2)21, um die ältere Erzählung sodann in Gestalt längerer Reden in eine Problem-Abhandlung zu übersetzen. Wiederum ist es wie in Gen 21 und 22 Gott selber, der die akute Lebensgefahr Abimelechs herbeiführt, und zwar erneut in einer Rede, mit der die eigentliche Handlung (nach Exposition in V.1f.) einsetzt (V.3–7). Gott verhängt über den König von Gerar das Todesurteil, obwohl der König subjektiv schuldlos ist. Gott weist Abimelech freilich zugleich, auf dessen Beteuerung lauterer Gesinnung hin, einen Weg aus der Lebensgefahr. Er gefährdet und rettet, wie er es auch in Gen 21 und 22 tut. Wiederum wird der pünktliche Gehorsam des Betroffenen, hier also Abimelechs, mit den Worten: „Da machte sich Abimelech früh morgens auf“ (V.8) unmittelbar nach der Gottesrede hervorgehoben. Die Gottesrede ist dabei in Gen 20 explizit als Traum in der Nacht bezeichnet. Auf ihre Weise, d.h. in ihrem allerdings weit eingeschränkteren Bereich, sind Abimelech und seine Untertanen wie Abraham (22,12) „gottesfürchtig“, was sich im präzisen Gehorsam gegenüber dem Gotteswort zeigt (20,8b); davon ahnt Abraham anfangs nichts (V.11). Gerade wenn man diese Gemeinsamkeiten mit Gen 21 und 22 gesehen hat, fallen die Unterschiede nur umso deutlicher ins Auge. Abimelech wird nicht durch eine unmittelbare Gottesbegegnung in Gestalt des vom Himmel rufenden Engels gerettet, sondern a) nach Beseitigung der Schuldursache, die ihn ins Unheil führte, und b) durch Vermittlung Abrahams. Nur in Gen 20 wird die Lebensgefahr des Betroffenen mit geschehener Schuld in Verbindung gebracht, die zuvor beseitigt bzw. getilgt werden muss, bevor die Rettung einsetzen kann. Und nur in Gen 20 ist von einem indirekten Gottesverhältnis 20
Das haben für Gen 12 VAN SETERS, Abraham, a.a.O. (Anm. 2), 167ff., und WESTERGenesis, a.a.O. (Anm. 11), z.St., für Gen 12 und 26 SPECHT, Die Abraham-LotErzählung, a.a.O. (Anm. 8), 309ff.; BLUM, Komposition, a.a.O. (Anm. 6), 405ff.; MCEVENUE, The Elohist, a.a.O. (Anm. 2), 326ff., u.a. mit zwingenden Argumenten gezeigt. Insbesondere die Abraham verteidigenden und entschuldigenden Sätze sind dieser Eigengesetzlichkeit der Thematik zuzuordnen und können für unseren Vergleich unberücksichtigt bleiben (Gen 16 als Vorlage für 21,8ff. war mit weit weniger anstößigen Einzelzügen für E belastet.). 21 Erst in V.11 erfährt der Leser, warum Abraham Sara als Schwester ausgab, erst in V.17, wie Jahwe Abimelech und Gerar betraft hat. MANN,
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die Rede. So gewiss Gott unmittelbar mit Abimelech redet, so erfolgt doch Abimelechs Bewahrung vor dem Tod weder durch seinen direkten Gotteskontakt, der ihm vielmehr nur den möglichen Weg weist, noch durch Beseitigung seiner Schuld allein, so gewiss sie unabdingbare Voraussetzung ist, sondern letztlich durch die Fürbitte des erwählten „Propheten“ Abraham. An Israel und seiner Erwählung vorbei kann Abimelech nicht gerettet werden, sondern nur aufgrund der Erwählung Israels und nur durch sie vermittelt; diese Erwählung zeigt sich insbesondere in der Gabe der Prophetie und ihrer Vollmacht zur Fürbitte. Wie Gen 12,3 von einem Segen spricht, den die Völker nur über die und nur aufgrund der Erwählung Abraham-Israels gewinnen können, so Gen 20 von einer Bewahrung der Völker am Leben, wie sie nur durch den fürbittenden Einsatz des prophetischen Abraham möglich ist. Vielleicht muss man im Verfolg dieses Gedankens sogar noch weiter gehen. Nach Gen 20,15 bietet Abimelech in vorbildlicher Großzügigkeit Abraham ein „Wohnen“ (vgl. den analogen Begriff am Abschluss der beiden anderen Erzählungen: 21,20f.; 22,19) an beliebiger Stelle seines Landes an. Lässt sich auch diese Aussage verallgemeinern, so dass eine entsprechende Großzügigkeit gegenüber Israel von den Abimelech-Nachkommen als Voraussetzung ihres „Lebens“ (V.7) bzw. ihrer „Heilung“ (V.17) aufgrund der prophetischen Fürbitte erwartet wird?
5. Die Parallelität der drei Rettungserzählungen in Gen 20–22 weist darauf hin, dass es grundlegende Gotteserfahrungen gibt, die in Gestalt von Lebensgefährdung und Lebensbewahrung durch Gott alle Menschen betreffen, die aber dennoch verschiedene Kollektive sehr unterschiedlich treffen. Gen 20–22 teilt die Menschheit in drei Gruppen ein. Grundlegend ist zunächst die Unterscheidung zwischen Kanaanäern (Gen 20)22 und Israeliten (Gen 22), insofern Lebensgewinn für erstere nur durch Vermittlung letzterer möglich ist. Eine Mittelstellung nehmen diejenigen Völker ein, die ebenfalls Abrahamskinder sind, aber nicht zur „berufenen Nachkommenschaft Abrahams“ (21,13) gehören, die dem „geliebten einzigen“ Sohn (22,2) vorbehalten ist23. Charakteristisch für sie ist, dass sie nicht wie das erwählte Israel im Kulturland wohnen, sondern in der südlichen Steppe und Wüste (21,20f.), in der auch Israels eigene Anfänge in der klassischen Mosezeit lagen. 22
Für Gen 20,2 ist Abimelech „der König von Gerar“. Nichts deutet in 20,1–18 darauf hin, dass er wie in 21,32.34 (und in Gen 26) als „Philister“ vorgestellt sei. 23 P übernimmt dieses Urteil: Einerseits gilt ebenso wie Isaak auch Ismael der Segen mit der Mehrungsverheißung (Gen 17,20), andererseits betont Gott, dass sein Bund einzig Isaak vorbehalten ist (V.19).
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Die genannte Dreiteilung hat offensichtlich einen anderen Sinn als die urgeschichtliche Dreiteilung der Menschheit bei J und P in Gen 10. Die weltweite Perspektive der Völkertafel liegt nirgends im Interesse des Erzählers von Gen 20–22. Es geht ihm vielmehr um eine „Ortsbestimmung“ Israels gegenüber seinen unmittelbaren Nachbarn, und zwar in typologischer Gruppierung. Darin berührt sich Gen 20–22 weit enger mit der ebenfalls kleinräumigen Dreiteilung der Nachkommen Noahs in Sem, (Ham bzw.) Kanaan und Japhet in den Fluch- und Segenssprüchen von Gen 9,25–27, die dem Jahwisten offensichtlich schon vorgegeben waren24. Der wesentliche Unterschied zwischen Gen 9,25–27 und Gen 20–22 besteht darin, dass die Sprüche das Machtverhältnis der drei Menschengruppen zueinander klären und festigen wollen – man vgl. die stereotyp einhämmernd herausgestellte Knechtschaft Kanaans in V.25b.26b.27b, auf die der Hauptton fällt –, Gen 20–22 dagegen das je unterschiedliche Gottesverhältnis der drei Völkertypen behandeln und miteinander vergleichen25. Bei dieser Thematik ist dann die relative Nähe Ismaels zu Israel beachtenswert, auch wenn sie in Grundzügen dem Erzähler von Gen 21 aus Gen 16 sachlich schon vorgegeben war. So deutlich der Erzähler die Kanaanäer vom erwählten Volk geschieden weiß, so deutlich hält er seinen Lesern gegenüber die geschichtliche Verbundenheit Israels mit den Nomadengruppen des Südens und Ostens fest. Wer ist dann aber „Ismael“? Denkt der Erzähler an ein begrenztes geographisches Gebiet, oder denkt er weiträumig? Diese Frage ist deshalb schwer zu beantworten, weil „von Ismael weder in diesen Sagen [scil. der Mosezeit] noch in den historischen Erzählungen von Davids Raubzügen in den Negev 1Sam 27,30 die Rede ist …; Ismael haust eben jenseits der Interessenssphäre der um Juda sich gruppierenden Südstämme“26. Einzig in Ri 8,24 und Ps 83,7 tauchen die Ismaeliter kurz als Feinde Israels auf, aber auch dort nicht als selbständig handelnd; in Ps 83,7 sind im Süden Judas alle nur denkbaren Feinde aufgezählt, und der Zusatz in Ri 8,24 erwähnt sie nur wegen ihres Reichtums, den sie als Handelsvolk besaßen (Gen 37,25ff.). Isaak-Israel ist mit seinem Halbbruder Ismael offensichtlich nie ernsthaft in Konflikt geraten. In Gen 21,21 wird mit dem Namen Paran, der üblicherweise für die Gegend im Norden der Sinai-Halbinsel und westlich des wādi el-ʿaraba steht, zwar ein eingeschränktes Siedlungsgebiet bezeichnet; aber es kann sich hier um die Angabe des Ursprungs Ismaels handeln, zumal Ismael nach Gen 16 am Brunnen von Beer-Lahai-Roi (im südlichen Negev; vgl. Gen 24,62; 25,11?) geboren wird. Jedenfalls führt die – P offensichtlich vorgegebene, in sich 24 Der Jahwist verbindet die Sprüche und ihren Kontext durch 9,18 mit der Sintflut und durch 9,19 mit der Erzählung vom Turmbau (vgl. O. H. STECK, Gen 12,1–3 und die Urgeschichte des Jahwisten, in: Probleme biblischer Theologie [FS G. von Rad], hg. von H. W. Wolff, München 1971, 525–554; 537 Anm. 35 = DERS., Wahrnehmungen Gottes im Alten Testament, Gesammelte Studien, München 1982, 130 Anm. 35), rückt sie also entgegen ihrer ursprünglichen Intention in einen universalen Horizont. 25 Denkbar ist, dass der Vf. von Gen 20–22 die Dreiteilung der Menschen in Palästina aus Gen 9 (und möglichen ähnlichen Sprüchen) bei seinen Lesern voraussetzt und bewusst auf eine neue Ebene versetzt. 26 E. MEYER, Die Israeliten und ihre Nachbarstämme, Halle (Saale) 1906, 325.
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gewachsene – Liste der 12 Ismaelitersöhne bzw. -stämme in Gen 25,13–15 (18?) in einen viel weiteren Raum, dem E. A. Knauf in seiner Dissertation unter Identifikation von Ismael mit den assyrischen Šumuʾil nachgegangen ist27. Er rechnet mit einer Grundschicht der Liste, die 6–7 Namen enthielt und frühestens im 8., eher aber im 7. Jh. entstanden sei, da die Stämme selbst nur teilweise schon im 8. Jh. v. Chr., teilweise aber erstmals im 7. Jh. belegt sind. Als Nabonid Mitte des 6. Jh.s nach Arabien zog und Tema zum Zentrum erhob, habe der Stämmeverband vermutlich schon nicht mehr bestanden; die Aufnahme Temas in die Liste bezeuge, dass der Name „Ismael“ in der Folgezeit unspezifisch für ganz Nordarabien stehe28. Der Stämmeverband der Ismaeliter habe insgesamt von Nordwestarabien (im Süden bis zur Nefūd) bis Edom und an die syrischen Ränder des fruchtbaren Halbmonds gereicht.
Was immer der Name „Ismael“ in früherer Zeit bedeutet haben mag, im ausgehenden 8. und im 7. Jh. v. Chr. bezeichnet er, wenn Knauf mit seinen Erwägungen auch nur im Groben Recht hat, eine „protobeduinische Konföderation“, die nahezu alle nomadisierenden Nachbarn Israels – genauer: Judas – umfasste. Eine solche umfassende Bedeutung ist auch von der Völkertypologie in Gen 20–22 her überaus wahrscheinlich. Als Abfassungszeit ergäbe sich damit für Gen 20–22 das 7. Jh. Diese Ansetzung lässt sich auch aus theologiegeschichtlichen Gründen wahrscheinlich machen.
6. Nähere Auskunft über den theologischen Ort des Erzählers wird man am ehesten Gen 22 entnehmen dürfen. In diesem Kapitel konnte der Erzähler freier formulieren, da er nicht wie im Falle von Gen 20 und 21 an eine vorgegebene Erzählung (Gen 16 bzw. 12 und 26) gebunden war und deren Eigengesetzlichkeit berücksichtigen musste. Wenn Israel nach Gen 22 darin vor den anderen Abrahamssöhnen ausgezeichnet ist, dass es der dunkelsten Seite Gottes, ja seines scheinbaren Selbstwiderspruches gewürdigt wird, so setzt eine solche Aussage voraus, dass das Gottesvolk von Gott schwerstes Geschick empfangen hat, ja mehr: Erfahrungen mit Gott gemacht hat, die seinen Erwartungen in jeder Hinsicht widersprachen, scheinbar zum Ende seines Gottesverhältnisses führten und ihm dennoch letztendlich unerhoffte Rettung brachten. Ohne das Erlebnis des Untergangs des Nordreichs, ohne die Erfahrung der Belagerung und Befreiung Jerusalems im Jahre 701 erscheinen mir solche Aussagen kaum denkbar, so gewiss derartige Urteile beim Stand unseres Wissens nur mit großer Behutsamkeit geäußert werden können. Mit dem Zeitalter Jesajas wäre freilich erst ein theologiegeschichtlicher terminus a quo gewonnen. 27
E. A. KNAUF, Ismael. Untersuchungen zur Geschichte Palästinas und Nordarabiens im 1. Jahrtausend v. Chr. (ADPV 7), Wiesbaden 1985, bes. 60ff. 28 A.a.O., 89.109.113; vgl. U. HÜBNER, Art. Ismaël/Ismaëliter, NBL 2 (1995) 244–246.
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Näheren Aufschluss wird man von den beiden zentralen theologischen Begriffen in Gen 22 erwarten können: von נסהpi. „prüfen“ im überschriftartigen Einleitungsvers und von der „Gottesfurcht“ im entscheidenden Deutevers der Erzählung (V.12). Bezüglich des ersten der beiden Begriffe hat H.-C. Schmitt in kritischem Anschluss an M. Greenberg und E. Blum überzeugend nachgewiesen, dass seine Verwendung in Gen 22 erkennbar unterschieden und älter ist als der vergleichsweise häufigere dtn und dtr Gebrauch in Dtn 8,2.16; 13,4 bzw. in Ex 15,25; 16,4; Ri 2,22; 3,1.429. In letzteren Belegen geht es stets um eine Gehorsamsprobe gegenüber dem (schriftlich) überlieferten Gotteswillen, zumeist in Zeiten, da Abfall und Absage nahe liegen. In Gen 22 handelt es sich demgegenüber um ein Handeln Gottes, das auf ein Ziel aus ist, das mit dem Begriff der „Gottesfurcht“ umschrieben wird. Als Abrahams „Gottesfurcht“ offen zutage liegt, beendet Gott die „Versuchung“; sie hat erreicht, was sie sollte. Die deutschen Begriffe „prüfen“, „versuchen“ sind als Bezeichnung für diesen Vorgang allenfalls ein Notbehelf, aufgrund ihrer andersartigen Assoziationen aber eher irreführend. Im Unterschied zur deutschen Begrifflichkeit setzt נסהpi. in Gen 22,1 zum einen ein schon bestehendes enges Vertrauensverhältnis des „Versuchten“ zu Gott voraus, das durch die „Versuchung“ gefestigt werden soll, und es betrifft zum zweiten nicht beliebige Erfahrungen, sondern den Extremfall der „Hiobproblematik des Gottvertrauens auch in der Leiderfahrung“30, freilich im Horizont des Gottesvolkes als Ganzheit. Für diesen vor-dtr Gebrauch des Theologumenons der „Versuchung“ gibt es im Alten Testament nur eine einzige, aber sachlich überaus gewichtige Parallele: die elohistische Deutung der Sinaioffenbarung in Ex 20,20. Dieser Vers ist – zusammen mit seinem Kontext – auf dreifache Weise mit Gen 22 verbunden: a) Als Sinn der Offenbarung Gottes am Sinai ist wie im Falle der Zumutung an Abraham Israels „Versuchung“ angegeben; b) das Ziel dieser „Versuchung“ ist wiederum die Herbeiführung von „Gottesfurcht“ AbrahamIsraels; c) das entscheidende Geschehen findet am 3. Tage statt (Ex 19,11.15. 1631; Gen 22,4). Es kann mithin kein Zweifel daran bestehen, dass die Texte sich gegenseitig auslegen wollen: Gen 22 ist die vorweggenommene Sinaioffenbarung zur Väterzeit, wie umgekehrt Ex 20 zur Deutekategorie von Gen 22 wird32. 29 Erzählung, a.a.O. (Anm. 8), 89ff. bzw. 114ff. Ihm folgt ZIMMER, Der Elohist, a.a.O. (Anm. 9), 237–241. Vgl. zuvor L. RUPPERT, Das Motiv der Versuchung durch Gott in vordeuteronomischer Tradition, VT 22 (1972) 55–63, und danach I. WILLI-PLEIN, Die Versuchung steht am Schluss, ThZ 48 (1992) 100–108. 30 SCHMITT, Erzählung, a.a.O. (Anm. 8), 90 (bzw. 114). 31 Dabei sind 19,10–16a* von den anerkannt „elohistischen“ Versen kaum zu trennen; vgl. JEREMIAS, Theophanie, a.a.O. (Anm. 3), 195–199. 32 Beobachtungen wie diese, deren es viele gibt, sprechen gegen die Annahme, es habe keine vorpriesterliche Verbindung der großen Pentateuchthemen gegeben (K. SCHMID, Erzvä-
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Für unsere Fragestellung ist von Gewicht, dass in Ex 20 die Konsequenz aus „Versuchung“ und „Gottesfurcht“ Israels – also aus der für Menschen unverständlichen Gefährdung durch Gott und aus dem Vertrauen auf den ungreifbaren und unbegreiflichen Gott, auf das sie abzielt – doppelt formuliert ist: 1. V.20 Ende nennt explizit das Vermeiden von Schuld aller Art; 2. die rahmenden Verse 19 und 21 zielen auf das stellvertretende Handeln des Propheten Mose ab: auf das gefahrvolle Sich Nahen der Gegenwart Gottes und das vermittelnde Reden33. Beide Aussagen verbinden Ex 20 mit Gen 20. Freilich ist das Verhältnis von Gen 20 zu Ex 20 zunächst nur antithetisch zu bestimmen. Während Abimelechs Versuch, schuldlos zu bleiben, trotz aller Lauterkeit seiner Gesinnung zum Scheitern verurteilt ist, ist Israel nach der Offenbarung Gottes am Sinai ein Vermeiden aller Verfehlungen möglich. So viel bewirkt die „Gottesfurcht“ als primäres Ziel der Offenbarung und der mit ihr verbundenen „Versuchung“. Allerdings wird das empirische Israel auch künftig schwere Schuld auf sich laden, wie sie nach der Sinaioffenbarung nur umso schwerer wiegt. Nicht nur, aber auch aus diesem Grund verfügt Israel seit seiner grundlegenden Gottesbegegnung über ein mosaisch-prophetisches Amt, das das Gottesvolk vor tödlicher Gottesbegegnung bewahrt. Auch Israel selber also ist auf Vermittlung (des prophetischen Mose) angewiesen, die es nun seinerseits gegenüber dem Heiden Abimelech in Gestalt prophetischer Fürbitte leisten muss, da es in Gerar-Kanaan weder eine Willensoffenbarung Jahwes noch Propheten gibt, obwohl auch in Gerar (auf die Weise, in der es hier möglich ist) Gottesfurcht vorhanden ist. Theologiegeschichtlich führt diese Aussage in das Vorfeld des dtn (und des dtr.) Prophetenverständnisses von Dtn 18,9–15 (bzw. 18,16–22) 34 , das von der Vorstellung beherrscht ist, dass Gehorsam gegenüber Gott mit dem Gehorsam gegenüber dem prophetischen Wort identisch ist, weil die Propheten als Kenner der Zukunft Gottes die eigentlichen Fortführer der Funktionen Moses sind. Die in jüngerer Zeit mehrfach geäußerte Vermutung, dass Gen 22 „in der späteren Königszeit“ entstanden sei35, bewährt sich also. ter und Exodus [WMANT 81], Neukirchen-Vluyn 1999; J.-CHR. GERTZ, Tradition und Redaktion in der Exoduserzählung [FRLANT 186], Göttingen 2000, u.a.), so gewiss man zwischen traditionsgeschichtlicher und literarischer Verbindung unterscheiden muss (E. BLUM, Die literarische Verbindung von Erzvätern und Exodus, in: J.-Chr. Gertz/K. Schmid/M. Witte [Hg], Abschied vom Jahwisten [BZAW 315], Berlin/New York 2002, 122f.). 33 G. VON RAD hatte im Blick auf die Bitte des Volkes um Moses Vermittlung in Ex 20,19 von einer „Ätiologie des Kultuspropheten“ gesprochen (in: DERS., Gesammelte Studien zum Alten Testament I, München 41971, 37). 34 Zur literarkritischen Scheidung von Dtn 18,9–15 und 18,16–22 vgl. W. H. SCHMIDT, Das Prophetengesetz in Dtn 18,9–22, in: Deuteronomy and Deuteronomic Literature (FS C. H. Brekelmans), hg. von M. Vervenne/J. Lust, Leuven 1997, 55–69. 35 So WESTERMANN, Genesis, a.a.O. (Anm. 11), 435; vgl. BLUM, Komposition, a.a.O. (Anm. 6), 328f.; SCHMITT, Erzählung, a.a.O. (Anm. 8), 104 (bzw. 126); vgl. DERS., Menschliche Schuld, a.a.O. (Anm. 5), 269 zu Gen 20 und 21.
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Probleme alttestamentlicher Gottesbilder
Freilich darf man die Konzeption der behandelten E-Kapitel auch nicht zu nah an das Kern-Deuteronomium heranrücken. Verglichen mit letzterem sind in ihr die Kanaanäer erstaunlich positiv gesehen, auch wenn sie durch drei zentrale Gaben, die Israel ihnen voraushat, von diesem getrennt sind: die Kenntnis des Gotteswillens, das Moseamt des Propheten und die Erfahrung der äußersten Dunkelseiten Gottes, die zu einem Wissen führt, dass man diesem Gott noch in seiner tiefsten Verborgenheit Heil zutrauen soll und darf.
Gotteslob und Gottesferne in den Psalmen
13. Lob Gottes und Erkenntnis des Menschen in den Psalmen Das von mir gewählte Thema besitzt eine biographische Dimension, die mich in der Sache mit dem Jubilar verbindet. Mehr als zwei Jahrzehnte bin ich Glied einer kleinen Dialogkommission zwischen der Orthodoxen Kirche Rumäniens und der EKD gewesen, in der ich die Rolle des Exegeten zu übernehmen hatte. Ich habe in ihr über die Jahre viel von den Kirchengeschichtlern und Systematikern beider Seiten über orthodoxe Theologie gelernt. Eine Erkenntnis, die mir nicht ganz neu war, deren Implikationen mir aber nicht voll bewusst waren, hat mich über die Jahre besonders beschäftigt. In Aufnahme von Gedanken der Kirchenväter des Ostens pflegen orthodoxe Forscher Theologie gern als Reflexion des Gottesdienstes zu definieren. Die Feier der Liturgie besitzt für sie Vorrang vor allem theologischen Nachdenken. Die Liturgie ist nicht Ergebnis von Theologie, sondern deren Voraussetzung; es gäbe ohne sie keine Theologie. Theologie hat damit primär die Aufgabe, das Geschehen der Liturgie zu deuten und verständlich zu machen. M.E. ist diese Verhältnisbestimmung zwischen Gottesdienst und Theologie durchaus biblisch und besonders durch alttestamentliche Texte gedeckt. Das biblische Israel lobte Gott, bevor es versuchte, seine Gotteserfahrungen zu begreifen. Je älter ich werde, desto höheres Gewicht gewinnt für mich die Tatsache, dass die ältesten Texte des Alten wie des Neuen Testaments Hymnen sind. Der Apostel Paulus bezieht sich mehrfach auf vorgegebene Hymnen als Fundament seiner Theologie. Viele Exegeten halten das Mirjamlied, mit dem ich einsetzen möchte, für den ältesten Text der Bibel. Ob letztere Annahme nun wirklich zutrifft oder nicht: Wichtiger als derartige Datierungsfragen ist, dass auch im Alten Testament (zumindest die älteren) Hymnen eine Quelle der Theologie bilden. Nicht weniger bedeutsam ist allerdings die andere Seite der Medaille: Es gibt im Alten Testament keinen Hymnus ohne den erkennbaren Willen, das von Gott Erfahrene zu deuten, d.h. ohne Tendenz zur theologischen Formulierung. Es gibt keine Hymnen, die nur Fakten aufzählen ohne die Reflexion darüber, was diese Fakten für die betroffenen Menschen bedeuten. Dieser Sachverhalt soll im ersten Teil des Aufsatzes an drei Beispielen illustriert werden.
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Gotteslob und Gottesferne in den Psalmen
1. Lob Gottes und menschliche Erkenntnis. Drei Beispiele: Ex 15,21; Ps 136; Ps 118 Mein erstes Beispiel ist Ex 15,21, eben jenes Mirjamlied, das für viele Forscher den ältesten Text des AT darstellt (für andere dagegen eine Zusammenfassung des vorausgehenden, jüngeren Moseliedes 15,1–18)1: Mirjam sang ihnen (folgendes Lied) vor: Singt Jahwe, denn er hat sich hoch erhaben erwiesen: Ross und Streitwagenkämpfer warf er ins Meer.
Für das mögliche hohe Alter des Textes sprechen zwei Beobachtungen: zum einen auf formaler Ebene, dass das Kennzeichen typisch israelitischer und kanaanäischer Poesie, der Parallelismus membrorum, fehlt; zum anderen im Blick auf den Inhalt die Tatsache, dass der Vorgang durchaus unanschaulich geschildert ist, so dass er für Menschen, die nicht an ihm anwesend waren, schwer vorstellbar ist. Nicht einmal die Ägypter sind genannt; andererseits ist die starke Hervorhebung der Streitwagentruppe in der Frühzeit besonders verständlich, weil eine solche Truppe den Bauern und Hirten, aus denen das älteste Israel bestand, ein schlechterdings unüberwindbarer Gegner war. Der kurze Hymnus enthält formal vier Teile: Zunächst fordert ein Vorsänger bzw. eine Vorsängerin eine nicht genannte Gruppe im Imp. pl. zum Loben auf. Es folgt im Dativ die Angabe dessen, dem das Lob gilt. Begründet wird der Aufruf mit einer charakteristischen Partikel כיund einem folgenden Perfekt, bevor am Schluss ein längerer Satz (mit vorangestelltem Objekt), wiederum im Perfekt, den ersten Satz erläutert. Dabei hat die Partikel כי, wie F. Crüsemann gezeigt hat2, eine doppelte Funktion: Sie nennt die Gründe für den Aufruf zum Lob und markiert zugleich den Punkt, an dem die aufgerufene Gruppe mit dem Lob zu beginnen hat. Für unser Thema ist das Verhältnis der beiden Sätze von Gewicht, die auf die Partikel כיfolgen. Grammatisch erläutert der zweite Satz den ersten („Gottes Erhabenheit zeigte sich daran, dass …“); logisch aber ist der erste Satz die Folgerung aus dem zweiten („indem Jahwe Ross und Streitwagenkämpfer ins Meer warf, hat er sich als hoch erhaben erwiesen“). Dennoch dürfte in der Logik des Hymnus die Reihenfolge der beiden Sätze nicht umgedreht werden. Die menschliche Erkenntnis („Er hat sich hoch erhaben erwiesen“) steht vor der Erfahrung, auf die sie sich stützt. Der Rekurs 1
Als Repräsentant der ersten Ansicht sei F. CRÜSEMANN, Studien zur Formgeschichte von Hymnus und Danklied in Israel (WMANT 32), Neukirchen-Vluyn 1969, 19–24 genannt, als Repräsentant der Alternativsicht F. M. CROSS/D. N. FREEDMAN, The Song of Miriam, JNES 14 (1955) 237–250. 2 CRÜSEMANN, Formgeschichte, a.a.O. (Anm. 1), 32–35.
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auf die Erfahrung hat nur noch dienende Funktion; die gewonnene Erkenntnis Gottes steht ganz im Mittelpunkt. Im Mirjamlied lernen wir eine Form des Lobens Gottes kennen, die man spezifisch israelitisch nennen kann. Jahwe wird gepriesen, indem man seine Taten (im Hebräischen steht das Perfekt) erzählt, wobei die Taten nicht in aller Breite ins Gedächtnis gerufen werden müssen, weil sie dem Vorgang der Erkenntnis Gottes dienen. Verglichen mit den großen Kulturlandnationen, Mesopotamien und Ägypten, war das biblische Israel eher zögerlich im Gebrauch von Adjektiven für Gott im Hymnus. Lieber bezog man sich auf Gotteserfahrungen in der Geschichte, reduzierte diese Erfahrungen aber nicht zu reinen Fakten, sondern stellte die Erkenntnis, die aus ihnen gewonnen wurde, ins Zentrum. Das kurze Mirjamlied impliziert drei wesentliche theologische Folgerungen, die erst spätere Generationen entschieden zogen. Die erste Folgerung vollzog sich im Bereich jüngerer Hymnen und verband sich mit dem Begriff des „Wunders“. In Aufzählungen von Heilstaten Gottes, wie wir sie gleich in unserem zweitem Beispiel, Ps 136, kennenlernen werden, wurde keine Tat Gottes so oft gepriesen wie die Rettung Israels am Schilfmeer. Es war diese Rettungserfahrung, die für spätere Hymnen zum Bezugspunkt wurde für jede Art nachfolgenden Lobes von Gottes Taten, und in der Aufzählung solcher heilvollen Gottestaten steht die Rettung am Schilfmeer häufig in Psalmen an der Spitze. Historisch gesprochen war es eine absurde Konfrontation. Ein mit modernsten Waffen gerüsteter Feind stand Bauern und Hirten gegenüber, die im Wesentlichen kriegsunerfahren waren und ad hoc zu den Waffen gerufen wurden. Eben deshalb konnte die Erfahrung, dass Gott sich als stärker als die mächtigen Ägypter erwiesen hatte, als geeignetes Modell für alle Erfahrungen der Rettung aus aussichtsloser Not dienen. Die Rettung am Schilfmeer wurde für das spätere Israel zum Ur-„Wunder“3 schlechthin. Andere, spätere „Wunder“ wurden an diese Erfahrung angeschlossen und galten als Bestätigung der Urerfahrung. Die Anrede: „Du bist ein Gott, der Wunder tut“ (Ps 77,12.15; 78,12; 88,11 etc.), wurde in manchen Hymnen zu einer Art Motto des Lobes. Ein zweites wichtiges theologisches Thema, das aus der Erfahrung am Schilfmeer erwuchs, war das Thema des „Glaubens“. In der Prosaerzählung, die unserem Hymnus unmittelbar vorausgeht, sagt Mose zum Volk: „Fürchtet euch nicht, stellt euch hin und seht die Hilfe Jahwes an, die er euch heute bringt … Jahwe wird für euch kämpfen, ihr aber sollt stille sein“ (Ex 14,13f.). Hier wird scharf unterschieden zwischen menschlicher Handlung („stille sein und schauen“) und der Handlung Gottes („kämpfen für Israel“); der Wille, jede Form von Synergismus beim Reden vom Handeln Gottes auszuschließen, 3
Dabei zielt der alttestamentliche Begriff des Wunders nicht auf die Durchbrechung von Naturgesetzen, sondern auf Erfahrungen der Hilfe Gottes in Situationen, in denen menschliche Möglichkeiten des Handelns am Ende sind.
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Gotteslob und Gottesferne in den Psalmen
ist prägend für alle Belege des alttestamentlichen Glaubensbegriffes. Gott handelt, Israel schaut zu. Kein menschliches Handeln kann als Modell für die Erwartung des Handelns Gottes dienen. Das dritte Thema, das in der Erfahrung der Rettung am Schilfmeer wurzelt, ist das der „Erwählung“. Mit diesem Begriff hat das jüngere Israel betont, dass es die Rettung am Schilfmeer nicht als beliebige Gotteserfahrung, die von anderen Erfahrungen überboten oder abgelöst werden könnte, verstand, sondern als Grunderfahrung, mit der sich Gott an Israel für alle Zeit gebunden hatte. Deshalb kann sich Gott beim Propheten Hosea etwa so vorstellen: „Ich bin Jahwe, dein Gott, vom Land Ägypten her“ (Hos 12,10; 13,4). Jeder, der diese Rettungstat kennt, weiß letztlich genug von den Besonderheiten des Gottes Israels. Wegen der Rettung am Schilfmeer ist Gott Israels Gott, ist er „dein Gott“. Daher wird im Eingang des Dekalogs in der Gefolgschaft Hoseas als einzige Begründung des ersten und zweiten Gebotes gesagt: „Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus dem Land Ägypten herausgeführt hat, aus dem Sklavenhaus“ (Ex 20,2f.; Dtn 5,6f.). Die Rettung am Schilfmeer bedeutet eine exklusive Bindung an Israel, und sie ruft daher konsequent nach Israels exklusiver Verehrung dieses einen Gottes. Natürlich sind die zuletzt genannten großen theologischen Folgerungen aus der Rettung am Schilfmeer das Ergebnis theologischen Nachdenkens späterer Generationen. Aber sie liegen in der Konsequenz der ersten Folgerung, die schon das Mirjamlied selber sieht, indem es Gott als „hoch erhaben“ preist. „Hoch erhaben“ ist keine Begrifflichkeit des Augenblickseinfalls; vielmehr gehört der Begriff in den Traditionskreis des Lobes des Königs der Welt. Schon das Mirjamlied bekennt in seinem Lob, dass es keine Macht gibt, die Gott vergleichbar wäre. Als zweites Beispiel habe ich Ps 136 gewählt. In diesem zweifellos jungen Psalm wird der Zusammenhang zwischen Lob Gottes und menschlicher Erkenntnis noch deutlicher. Die in Ps 136 gewählte Form ist eine Weiterentwicklung der Form des kurzen Hymnus in Ex 15,21. Ich zitiere die Rahmenverse 1–6 und 23–26: Preist Jahwe, denn er ist gut, ja, seine Güte währt für alle Zeiten. Preist den Gott der Götter, ja, seine Güte währt für alle Zeiten. Preist den Herrn der Herren, ja, seine Güte währt für alle Zeiten. Ihn, der große Wunder tut, er allein, ja, seine Güte währt für alle Zeiten. Ihn, der die Himmel in seiner Weisheit schuf, ja, seine Güte währt für alle Zeiten. Ihn, der die Erde über den Wassern festigte, ja, seine Güte währt für alle Zeiten.
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… der in unserer Not unserer gedachte, ja, seine Güte währt für alle Zeiten, und uns von unseren Feinden befreite, ja, seine Güte währt für alle Zeiten, der allem Fleisch Speise gibt, ja, seine Güte währt für alle Zeiten. Preist den Gott des Himmels, ja, seine Güte währt für alle Zeiten.
Formal steht Ps 136 Ex 15,21 sehr nahe. In V.1 folgen dem Imp. pl. ein Dativ, der den Adressaten einführt, und die Partikel כי, die den Aufruf zum Lob begründet und das Lob einführt. Aber daneben gibt es eine Reihe von Besonderheiten, deren wichtigste ich kurz nennen will: Ps 136 ist eine Litanei; die Gemeinde antwortet auf die unterschiedlichen Aussagen des Lobes mit einem Refrain. Das Lob umfasst eine lange Liste der Gottestaten, die grammatisch in der Gestalt von Partizipien aufgezählt werden. Auf diese Weise besteht der Psalm aus einem einzigen Satz. Die unterschiedlichen Taten Gottes, die das Lob aufzählt, gehören in die Kategorie der „Wunder“ (V.4). V.4 dient als eine Art hermeneutischer Überschrift. Gleichzeitig beherrscht ein bemerkenswert polemischer Unterton das Gedicht. V.2–3 gebrauchten für diesen Zweck den Superlativ, während V.4 die Unvergleichlichkeit Gottes hervorhebt („er allein“). Das erste Gebot mit seiner Unterscheidung der Mächte bildet die Basis dieses Satzes4. Wichtiger als die vorangestellten Beobachtungen ist aber die theologische Erkenntnis, die in dem Refrain der Gemeinde enthalten ist. Der Refrain wagt die Aussage: „Seine Güte währt für alle Zeiten“. Das ist eine neue Erkenntnis, verglichen mit Ex 15,21. Der Refrain beansprucht, dass es möglich ist, Aussagen über Gott zu machen, die dauerhaft gültig sind, aufgrund der Erfahrungen, die im Psalm aufgezählt werden. Er beansprucht gleichzeitig, dass Israel Gottes Freundlichkeit nicht nur zu besonderen Gelegenheiten erfuhr, sondern stets und beständig, sogar in Situationen, in denen das Volk nichts von ihr spürte. Das ist eine kühne Behauptung, und es ist evident, dass sie nicht durch eine Einzelerfahrung begründet werden kann, sondern nur durch eine Kette von Erfahrungen (die im Corpus des Psalmes in der kanonischen Reihenfolge aufgezählt werden: Exodus – Wüste – Land, V.10–22). Wesentlich ist, dass die Kette der Erfahrungen bis in die Gegenwart reicht (V.23–25). Sie beginnt schon mit der Schöpfung (V.6–9), die hier als allererste Handlung Gottes in der Geschichte qualifiziert wird. Jede dieser Erfahrungen ist für den Psalm in sich ein „Wunder“; jede dieser Erfahrungen bezeugt die Wahrheit des ersten 4 Vgl. dazu W. H. SCHMIDT, Das erste Gebot: Seine Bedeutung für das Alte Testament (ThEx 165), München 1969, 40–42.
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Gebotes (V.4). Dennoch können nur alle diese Erfahrungen zusammen die Folgerung tragen, dass Gottes Güte für alle Zeiten währt. Dabei sind die besonderen Untertöne zu berücksichtigen, die beim hebräischen Begriff חסד mitschwingen und die das deutsche Wort „Güte“ nicht wiedergeben kann: חסד setzt eine bestehende Beziehung voraus, impliziert aber immer das Element des Unerwarteten und des Überraschenden in einer zwischenmenschlichen Beziehung oder in einer Gotteserfahrung5. In diesem Zusammenhang erscheint mir die Beobachtung wichtig, dass die Erkenntnis des Refrains: „Seine Güte währt für alle Zeiten“ nicht auf die Hymnen des Alten Testaments beschränkt ist. Wenn Menschen in Not bekennen, dass sie nicht nur Jahwe als Person vertrauen, sondern spezifischer seiner ( חסדetwa in Ps 13,6 und 52,10), dann beziehen sie sich auf die Wahrheit des Hymnus, dass Jahwes Freundlichkeit nicht nur eine Erfahrung guter und froher Tage ist. Es ist eine Erfahrung, die für alle Tage gilt, sogar für die, in denen nichts von ihr zu spüren ist und in denen Jahwe zu schweigen scheint, wenn der betreffende Mensch zu ihm betet. Mein drittes Beispiel ist von einem Hymnus genommen, der singulär im Blick auf seine Form ist. Ps 118 ist uns wohl vertraut, weil er Teil der Osterliturgie ist. Der Psalm beginnt und endet wie ein typischer Hymnus (V.1.29), aber in seinem Corpus sind die Elemente eines kollektiven Hymnus äußerst selten, während Formmerkmale hervortreten, die üblicherweise Teil eines Dankliedes eines Einzelnen sind. Das Lob der Gemeinde ist hier Reaktion auf die Erfahrungen eines Einzelnen. Da die alttestamentlichen Danklieder dazu tendieren, didaktische Elemente aus sich zu entlassen, wird die Gemeinde aufgerufen, aus der Rettung eines Einzelnen durch Gott ihrerseits zu lernen. Die Erfahrungen des Einzelnen können und sollen auch die Erfahrungen der Gemeinde sein. Ich konzentriere mich im Folgenden auf die Verse 1 und 5–9: Preist Jahwe, denn er ist gut, ja, seine Güte währt für alle Zeiten … In meiner Enge rief ich zu Jah(we): Jah(we) antwortete mir mit weitem Raum. Jahwe tritt für mich ein, ich fürchte mich nicht, was können mir Menschen tun? Jahwe tritt für mich ein als mein Helfer, ich aber schaue herab auf meine Feinde. Besser ist es, sich bei Jahwe zu bergen, als auf Menschen zu vertrauen. Besser ist es, sich bei Jahwe zu bergen, als auf einflussreiche Große zu vertrauen.
5
Vgl. H. J. STOEBE, Die Bedeutung des Wortes ḥäsäd im Alten Testament, VT 2 (1952) 244–254; A. JEPSEN, Gnade und Barmherzigkeit im Alten Testament, KuD 7 (1961) 261– 271.
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Die zuletzt zitierten Verse 5–9 bilden eine sachliche Einheit. Sie beginnt in V.5 mit der Erzählung, wie ein Einzelner in Not Rettung erfuhr. Aber diese Erzählung ist äußerst kurz; es fehlt jedes biographische Detail. Der Psalmist begrenzt seine Erzählung auf eine Aussage, die er generalisieren möchte. Dennoch enthält sie eines der schönsten Bilder im ganzen Alten Testament. Die Not des Individuums wird mit einer Enge verglichen, die gleichzeitig Angst und Bedrängnis von außen symbolisiert; Rettung wird dementsprechend im Symbol eines weiten und freien Raumes, in dem man sich nach allen Richtungen hin bewegen kann, widergespiegelt. Ausführlicher werden in V.6–9 die Konsequenzen genannt, d.h. die Erkenntnis, die die Gemeinde aus der Erfahrung des Einzelnen gewinnen soll. Zwei Verspaare dienen diesem Zweck, das erste (V.6f.) im Ich-Stil, das zweite (V.8f.) schon in einem verallgemeinernden didaktischen Stil. Dieses zweite Verspaar greift ein vielfach belegtes Thema im Alten Testament auf, die Unterscheidung zwischen Gottvertrauen und Vertrauen auf menschliche Macht. Im Blick auf letztere werden in diesem Psalm einflussreiche Personen hervorgehoben, während in anderen Texten „Pferde“ (Jes 31,3 etc.) oder „Jünglinge“ auf dem Gipfel ihrer Kraft (Jes 40,30f.) die gleiche Rolle spielen. Im gottesdienstlichen Hymnus werden die üblichen Werte des Alltagslebens vertauscht. Das scheinbar Evidente – der Gebrauch von Macht, die Idealisierung jugendlicher Kraft, die Beziehung zu wichtigen Menschen – erscheint als Fehlplanung. Das scheinbar Unsichere – das Vertrauen auf Gott, den Ungreifbaren und Unbegreiflichen – gilt als die eigentliche Basis des Lebens.
2. Das Gotteslob der Völker Der Zusammenhang von Loben Gottes und menschlicher Erkenntnis wird noch erheblich evidenter, wenn die Völker das Subjekt des Lobes sind, d.h. wenn die Völker aufgerufen werden, Gott zu preisen. In solchen Zusammenhängen muss die Verbindung zwischen Lob und Erkenntnis deutlich expliziert werden, weil die Völker selber ja nicht wirklich im Gottesdienst Israels gegenwärtig sind; sie sind nur dem Ideal nach präsent. Ich nenne im Folgenden vier Beispiele. Ein erstes Beispiel ist Ps 117, der kürzeste Psalm im ganzen Alten Testament. Er folgt deutlich der Grundform alttestamentlicher Hymnen, wie wir sie in Ex 15,21 kennen gelernt haben, in der Abfolge von Imp. pl., Nennung des Adressaten im Dativ, Vokativ, Partikel כיund Verb im Perfekt: Lobt Jahwe, alle Völker, erhebt ihn, alle Nationen, denn stark erwies sich seine Güte über uns und Jahwes Treue für alle Zeiten. Halleluja!
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Gotteslob und Gottesferne in den Psalmen
Drei wesentliche Abweichungen von der üblichen Form des Hymnus sind festzuhalten: Die einleitenden Imperative sind nicht länger liturgisch im eigentlichen Sinne. Die zum Lob aufgeforderten Menschen sind nicht gegenwärtig; sie werden von Israel repräsentiert. Vorausgesetzt ist dabei, dass die ganze Welt Jahwe dienen müsste, weil er König der Welt ist. Aber das ist eine eschatologische Perspektive; für die Gegenwart gilt, dass die Gemeinde den Gottesdienst stellvertretend für die ganze Welt abhält. Die Völker selber verfügen über keine spezielle Erfahrung des Gottes der Bibel, aber die Erfahrungen Israels genügen, die Völker dazu aufzurufen, Israel im Gottesdienst zu begleiten. Die Menschen, die zum Lob aufgefordert werden, und die Menschen, die den Grund des Lobes kennen, zerfallen in zwei verschiedene Gruppen. Natürlich erhebt sich an dieser Stelle die Frage, wie denn die Völker zu ihrer Gotteserkenntnis kommen sollen. Ich werde auf sie sogleich zurückkommen. Da der Psalm mit dem Aufruf an die Völker, Jahwe zu loben, ein Grundproblem berührt, wird als Grund des Aufrufs – statt der Aufzählung von Taten Jahwes wie in Ps 136 – nur die wesentliche Erkenntnis aus solchen Erfahrungen erwähnt, nämlich Jahwes Güte und Treue. Die Völker können an Israels Gottesdienst nur teilnehmen, wenn sie eine basale Erkenntnis dieser Eigenschaften Gottes besitzen. Bis in die Zeit der Gegenwart des Psalms wird die Freundlichkeit Gottes nur von Israel bewusst erfahren; das entsprechende Bewusstsein der Völker wird für eine spätere Zeit erwartet. Wie aber sollen die Völker zu ihrer heilbringenden Gotteserkenntnis kommen? Für Deuterojesaja werden sie selber Zeugen sein, wenn Gott Israels Heil verwirklicht („alle Enden der Welt sehen die Hilfe unseres Gottes“, Jes 52,10). Jedoch denken die Hymnen des Psalters an eine andere Weise der Vermittlung. In diesen Texten wird erwartet, dass Israels eigener Gottesdienst Auswirkungen auf die Völker haben wird. Ich zitiere die ersten Verse von Ps 96 als mein zweites Beispiel: Singt Jahwe ein neues Lied, singt Jahwe, alle (Länder der) Erde, singt Jahwe, preist seinen Namen, verkündet Tag um Tag seine Hilfe! Erzählt unter den Völkern von seiner Glorie, unter allen Nationen von seinen Wundern! Denn groß ist Jahwe und hoch zu preisen, furchterregend über allen Göttern. (Ps 96,1–4)
Wieder lässt sich die Grundform des Hymnus beobachten: Imp. pl., Adressat im Dativ, Vokativ (V.1) und Begründung mit ( כיV.4). Aber die Imperative sind nur noch teilweise liturgisch (dreimal: „Singt“). Sie werden von Verben fortgesetzt, die dazu dienen, Menschen außerhalb der feiernden gottesdienstli-
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chen Gemeinde zu informieren. Das erste Verb ( בשֹ רpi.) bezieht sich von Haus aus auf einen Boten, der Menschen, die nichts vom Ausgang einer Schlacht wissen, die Siegesbotschaft übermittelt. Wichtiger noch ist das zweite Verb ( ספרpi.); es steht üblicherweise für die Erzählung eines Einzelnen, der aus Not gerettet worden ist, im Kontext eines Dankgottesdienstes, zu dem er oder sie Verwandte und Freunde eingeladen hat. In einem solchen KasualGottesdienst findet zweierlei statt: zunächst der Dank in der Anrede unmittelbar an Gott; daneben aber jenes ספרpi., d.h. die Erzählung von der Rettung an die „Brüder“ (Ps 22,23), die aus dieser Erzählung für ihr eigenes Leben lernen sollen. Auch der Begriff „neues Lied“ gehört in den Zusammenhang eines solchen Dankgottesdienstes (vgl. Ps 40,10; 144,9; etc.)6. „Neu“ ist dieses Lied, weil es von einer neuen Gotteserfahrung spricht. Auf diese Weise wird im Kontext des Gottesdienstes von Ps 96 die Erzählung eines Einzelnen, der Rettung aus Not erfahren hat, zum Modell für die Weise, auf die die Völker von Gottes Taten erfahren sollen. Ps 96 denkt nicht an missionarische Handlungen seitens Israels, sondern rechnet mit der Wirkung, die von Israels Reden über Gottes Taten im Gottesdienst ausgeht. Der wichtigste Inhalt dieses gottesdienstlichen Lobes ist Jahwes „Glorie“ ()כבוד, weil sich diese göttliche Herrlichkeit in seinen Taten erweist. Wiederum zeigt sich also, dass das gottesdienstliche Lob Israels nicht auf die Weitergabe reiner Fakten beschränkt ist, sondern vielmehr theologische Erkenntnis wecken will, die für die Völker grundlegend ist. Von besonderer Bedeutung für unser Thema sind zwei andere Psalmen, Ps 100 und Ps 46, die ich als mein drittes und viertes Beispiel zitieren möchte. Beide Psalmen fordern die Völker zu einer bestimmten Gotteserkenntnis auf. In Ps 100 wird der Imp. pl. der Grundform dazu genutzt, die Völker zur Teilnahme an Israels Gottesdienst aufzurufen (zweimal: „Tretet ein“ in V.2.4). Es ist nicht ein beliebiger Gottesdienst, zu dem sie eingeladen werden, sondern ein Festgottesdienst („zujauchzen“ ist ein term. techn. für den Festgottesdienst). Jauchzt Jahwe zu, ganze Erde! Dient Jahwe mit Freuden; tretet vor sein Angesicht mit Frohlocken! Erkennt, dass Jahwe – dass er Gott ist! Er hat uns gemacht und nicht wir selber zu seinem Volk und zu Schafen seiner Weide. Tretet in seine Tore ein mit Loben, in seine Vorhöfe mit Preisen; lobt ihn, ehrt seinen Namen!
6 Vgl. den genaueren Nachweis bei J. JEREMIAS, Das Königtum Gottes in den Psalmen (FRLANT 141), Göttingen 1987, 126.
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Gotteslob und Gottesferne in den Psalmen
Denn Jahwe ist gut; seine Güte währt für alle Zeiten und von Generation zu Generation seine Zuverlässigkeit. (Ps 100,1–5)
Die Wirkung solcher Teilnahme der Völker am Gottesdienst wird im zentralen Imperativ formuliert, der zwischen die beiden Einladungen zum Eintreten in den Tempel steht (V.3): Erkennt, dass Jahwe – dass er Gott ist! Er hat uns gemacht und nicht wir selber7 zu seinem Volk und zu Schafen seiner Weide.
Dieser Vers ist insofern höchst ungewöhnlich, als er es wagt, die alte Bundesformel, die das zentrale Thema des Alten Testaments bildet, auf die Völker auszuweiten. V.3 zitiert die bekannte Bundesformel, wie sie in Ps 95,7 (und 79,13) belegt ist, und modifiziert sie: Denn er ist unser Gott, und wir sind das Volk seiner Weide und die Schafe seiner Hand. (Ps 95,7) Wir aber, dein Volk, die Schafe deiner Weide, wollen dir für alle Zeiten danken, von Geschlecht zu Geschlecht deinen Ruhm erzählen. (Ps 79,13)
Die Bundesformel kann in Ps 100 auf die Völker ausgeweitet werden, weil sie schöpfungstheologisch begründet wird. Ps 95 hatte Israel auf seine Erwählung hin angesprochen und ihm die Notwendigkeit des Gehorsams eingeprägt. Im Gegensatz dazu zielt Ps 100 mit dem Hinweis auf Gottes Schöpfung auf die Erkenntnis, dass die Völker zur feiernden Gemeinde hinzugehören. Allerdings bedarf es hierfür der Grunderkenntnis, die in V.3a formuliert ist: Nur Jahwe ist Gott. Vergleichbar mit dem berühmten Bekenntnis der Völker in Jes 45,23, das Paulus in Röm 14,11 aufgreift, wird auch in Ps 100 das erste Gebot auf die Völker ausgeweitet. Dieses Gebot – in Gestalt eines Aussagesatzes, nicht einer Aufforderung – wird die Grundlage der Gotteserkenntnis der Völker. Sie gewinnen diese Erkenntnis im Zusammenhang des Gottesdienstes und aus der Einsicht in ihre eigene Geschöpflichkeit. Entscheidend bei dem allen ist, dass die Erkenntnis der Völker nach Ps 100 nicht eine Voraussetzung ihrer Teilnahme am Gottesdienst ist; vielmehr wird sie während und im Zusammenhang des Gottesdienstes gewonnen8. Mit seiner Einladung zum Gottesdienst und zur Erkenntnis setzt Ps 100 wahrscheinlich schon Ps 46 voraus. Ps 46, einer der Zionspsalmen, ist an7
Die Nähe zu den sogleich zu nennenden Psalmen kommt noch deutlicher zum Ausdruck, wenn man mit dem Qere sowie zahlreichen Handschriften liest: „Er hat uns gemacht, und ihm gehören wir“. 8 Vgl. zu Einzelheiten J. JEREMIAS, Ps 100 als Auslegung von Ps 93–99, Skrif en Kerk 19 (1998) 605–615 (siehe Beitrag Nr. 16 in diesem Band).
13. Lob Gottes und Erkenntnis des Menschen in den Psalmen
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fangs geprägt vom unerschütterlichen Vertrauen der Gemeinde, dass keine Gefahren sie wirklich bedrohen können, weil Gott in ihrer Mitte ist. Dieser Gedanke wird in der mittleren Strophe (V.5–8) in einem sehr feinsinnigen Wortspiel wiedergegeben: Während Jerusalem durch Jahwes Gegenwart unmöglich „wanken“ ( )מוטkann (V.6), ist schon ein potentieller Angriff der Völker in sich ein solches „Wanken“, d.h. von vornherein zum Scheitern verurteilt: Ein Fluss – seine Wasserläufe erfreuen die Stadt Gottes, die heiligste der Wohnungen des Höchsten. Gott in ihrer Mitte, sie kann nicht wanken; Gott hilft ihr beim Anbruch des Morgens. Völker lärmten, Königreiche wankten – er ließ seine Stimme ertönen, da schwankte die Erde. Jahwe Zebaoth ist mit uns; eine Burg ist uns der Gott Jakobs.
Wichtiger für unseren Zusammenhang ist, dass der Gedanke der Vergeblichkeit des Ansturms der Völker gegen Jerusalem in der letzten Strophe (V.9–12) noch gesteigert wird: Kommt, schaut die Taten Jahwes an, der Schauriges auf der Erde vollbringt. Er beendet die Kriege bis zum Ende der Erde, zerbricht den Bogen, zerschmettert den Speer; Wagen verbrennt er im Feuer. „Lasst ab und erkennt, dass ich Gott bin, erhaben unter den Völkern, erhaben auf der Erde!“ Jahwe Zebaoth ist mit uns; eine Burg ist uns der Gott Jakobs.
Mit Hilfe von Vorstellungen, die der Prophetie entnommen sind9, wird ausgesagt, dass Jahwe nicht nur alle gegen den Zion anstürmenden Völker abwehren wird – das ist die Vorstellung der aufgegriffenen alten Tradition –, sondern dass er den aggressiven Völkern schon die Möglichkeit jeglichen Ansturms nehmen wird, indem er allen Waffen ein Ende macht (V.10)10. Dann aber wird die Erkenntnis der Völker Realität werden. Was Israel jetzt schon weiß, weil Jahwe auf dem Zion wohnt, werden die Völker mit der Zerstörung ihrer Waffen lernen: Jahwe ist allein Herr der Welt (V.11). Es ist jene Erkenntnis, die Ps 100 als Basis für die Integration der Völker in den Gottesdienst Israels nennt (Ps 100,3). Vom Vertrauen auf Waffen und damit vom Vertrauen auf die eigene Macht befreit, können die Völker sich der Wahrheit 9
Vgl. R. BACH, „Der Bogen zerbricht, Spieße zerschlägt und Wagen mit Feuer verbrennt“, in: Probleme biblischer Theologie (FS G. von Rad), hg. von H. W. Wolff, München 1971, 13–26. 10 Anders als in Jes 2,2–4 und Mi 4,1–3 wird also hier nicht erwartet, dass die Völker am Zion zur Erkenntnis der Sinnlosigkeit ihrer Waffen kommen.
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Gotteslob und Gottesferne in den Psalmen
des israelitischen Gottesdienstes öffnen und ihr Vertrauen nun ganz auf Gott setzen.
3. Das Loben Gottes als Zeichen des Lebens Die theologische Erkenntnis, die aus den Hymnen des biblischen Gottesvolkes gewonnen wird, ist umfassend. Sie beginnt bei Jahwes Überlegenheit über alle Mächte der Welt, die sein Königtum in Frage stellen könnten („er ist hoch erhaben“, Ex 15,21); sie dringt durch zu der Wahrheit, dass Gottes Güte ohne Ende ist und lebenslang erfahrbar ist (Ps 136); sie umfasst die Leitlinien der Lebensführung, indem sie Vertrauen auf Gott und Vertrauen auf Menschen einander gegenüberstellt (Ps 118); sie reicht bis zu Gottes unlöslicher Bindung an seine Gemeinde (vgl. die Bundesformel in Ps 100,3) und zur Erwartung einer Zeit ohne Kriege (Ps 46). Für die Psalmen ist diese Erkenntnis fundamental. Darum ist ein Leben ohne sie so wenig möglich wie ein Leben ohne das Loben Gottes. Zehnmal ist im Alten Testament der Satz überliefert: „Die Toten loben Gott nicht“. Wie längst erkannt ist11, betrifft dieser Satz nicht primär die Toten, sondern die Lebenden. Ihnen will er verdeutlichen, wo vollgültiges Leben endet. Wo kein Lob ist, ist kein Leben; wo kein Lob ist, dringt die Macht des Todes tief ins physische Leben ein. Das hängt damit zusammen, dass Loben der Sinn des Lebens ist: Möge mir Leben beschieden sein, dass ich dich loben kann, und mögen deine Rechtsentscheide mir helfen. (Ps 119,175) Ich werde nicht sterben, sondern leben, auf dass ich die Taten Jah(we)s erzähle. (Ps 118,17)
In diesen Sätzen wird das Loben zum elementarsten Merkmal aller Lebendigkeit des Menschen erklärt. Loben ist nicht etwas, was es im Leben eines Menschen geben kann und was auch einmal fehlen mag, sondern es ist die Grundbedingung vollen Lebens schlechthin. Aus diesem Grund muss der Mensch sich vor einer Gefahr besonders hüten: Lobe Jahwe, meine Seele, und alles was in mir ist seinen heiligen Namen; lobe Jahwe, meine Seele, und vergiss nicht alle seine Wohltaten, der alle deine Verschuldungen vergibt, der alle deine Gebrechen heilt … (Ps 103,1–3) 11
123.
Vgl. bes. C. WESTERMANN, Das Loben Gottes in den Psalmen, Göttingen 31963, 120–
13. Lob Gottes und Erkenntnis des Menschen in den Psalmen
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Wo der Mensch das Loben Gottes schuldhaft vergisst, schneidet er sich selbst vom Leben ab. Denn das „Vergessen“ (als Gegenbegriff zum „Gedenken“) ist kein nur intellektueller Akt, sondern der Begriff bezeichnet die Lebensorientierung. Ein gutes Beispiel für die Implikationen eines solchen „Gedenkens“ bietet Ps 25,6f.: Gedenke deiner Barmherzigkeit und Güte, Jahwe, denn sie sind von ältester Zeit an; der Sünden meiner Jugend und meiner Vergehen gedenke nicht, gedenke aber mein nach deiner Güte.
Würde Gott der Schuld der Jugend gedenken, würde er strafen und niemand könnte überleben. Aber die Gemeinde hofft stattdessen, dass Gott ihrer gemäß seiner Güte gedenken wird und also ihre Schuld vergeben wird. Weil so Entscheidendes am „Gedenken“ ( )זכרder Taten Gottes in den Hymnen hängt, gibt es in der Spätzeit der alttestamentlichen Hymnendichtung Beispiele, die den Aufruf zum Lob mit dem Aufruf verbinden, ständig Gottes zu „gedenken“. Der Anfang von Ps 105 mag als Beispiel dienen: Preist Jahwe, ruft seinen Namen an, macht seine Taten unter den Völker kund. Singt ihm, spielt ihm auf, sinnt nach über alle seine Wunder. Rühmt seinen heiligen Namen; es freue sich das Herz derer, die Jahwe suchen. Fragt nach Jahwe und seiner Kraft, sucht sein Antlitz ständig. Gedenkt seiner Wunder, die er getan hat, seiner Zeichen und der Urteile seines Mundes, du Nachkommenschaft Abrahams, seines Knechtes, ihr Söhne Jakobs, seines Erwählten. (Ps 105,1–6)
Ps 105 verbindet die Notwendigkeit, den Völkern (im Gottesdienst) die Erkenntnis der Taten Jahwes zu vermitteln (V.1), mit dem Nachsinnen über (V.2) und dem Gedenken an (V.5) die Wunder Gottes. Für das Nachsinnen und das Gedenken aber ist nicht die Privatheit des eigenen Hauses der Ort, sondern der Gottesdienst (V.4). Er hindert die teilnehmenden Menschen am „Vergessen“. Ich möchte den Gedankengang schließen mit einem der in meinen Augen großartigsten Worte der Psalmen. Wie eingangs ausgeführt, bekennen Ps 136 (und viele ähnliche Psalmen), dass Gottes Güte für alle Zeiten währt, nicht dann und wann, sondern lebenslang. Ps 63,4 steigert dieses Lob noch. Er wagt eine Aussage, die eigentlich das Denken des Alten Testamentes selber sprengt: Ja, deine Güte ist besser als Leben; meine Lippen preisen dich.
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Gotteslob und Gottesferne in den Psalmen
Für die Mehrzahl der Psalmen zeigt sich Gottes Güte im Leben: im vollgültigen Leben, das durch eine intakte Beziehung zu Gott und zu den Menschen bestimmt ist. Für Ps 63 gibt es eine Erfahrung der Güte Gottes auch außerhalb des vollen Lebens, d.h. in der Dunkelheit des Leides, der Einsamkeit, des Unheils. Er hält daran fest, dass Gottes Güte wichtiger ist als diese Dunkelheit. Hier hat die Erkenntnis, dass Gottes Güte für alle Zeiten währt, noch einmal eine neue Dimension gewonnen, die schon in das Neue Testament hinüberreicht.
14. Die Erde „wankt“ Kann die Erde „wanken“? Nein, antworten zahlreiche Psalmen, das ist für alle Zeiten ausgeschlossen, und sie begründen diese prinzipielle Bestreitung mit Jahwes Königtum über die Welt (Ps 93,2) oder mit seiner Präsenz auf dem Zion (Ps 46,6)1. Doch, sagen andere Psalmen, und sie begründen diese Behauptung mit der gegenwärtigen Erfahrung: Im „Wanken“ der Erde liegt letztlich alles Leid dieser Welt begründet (Ps 75,4; 82,5 u.ö.)2. Wie verhalten sich diese beiden scheinbar gegensätzlichen Aussagereihen in den Psalmen, wie verhalten sich in ihnen religiöse Tradition und ihr entgegenstehende Erfahrung zueinander?
1. Ich beginne mit der erstgenannten Aussagenreihe, für die sich Ps 93 als exemplarischer Text anbietet. Ps 93 hat Thomas Krüger vor kurzer Zeit und m.E. zu Recht „(in seinem Grundbestand) so etwas wie den – oder jedenfalls einen – ‚Basis-Mythos‘ des Jerusalemer Tempel-Kultes in der Königszeit“ genannt3. Er gehört zu der Gruppe unter den Jahwe-König-Psalmen, die Diethelm Michel als „Themapsalmen“ bezeichnet hat4, weil sie den überschriftartig vorangestellten Huldigungsruf „Jahwe ist König“ sachlich entfalten. In Ps 93 erfolgt die Entfaltung des Königtums Gottes in zwei Strophen; zweimal wird von der objektiv beschreibenden Redeweise über Gottes Herr-
1 Jeweils מוטnif.; vgl. weiter Ps 104,5; 125,1 und in Abhängigkeit von Ps 93,1 ferner Ps 96,10; 1Chr 16,30. 2 Hier herrscht größere terminologische Vielfalt vor. Neben מוטnif. wie in den zuvor genannten Belegen (Ps 82,5) begegnet das q. (Ps 46,3; 60,4; beide Stämme Jes 24,19), außerdem מוגnif. (Ps 75,4; vgl. das q. in Ps 46,7) und ( רגזAm 8,8). Jes 24,19f. nennt noch eine Reihe weiterer Wurzeln. – Außer Betracht bleiben die zahlreichen Belege für ein Beben bzw. Wanken der Erde als Folge des Erscheinens bzw. Eingreifens Jahwes, die nur die unwiderstehliche Macht Jahwes verdeutlichen, vgl. aber unten Teil 3 zu Ps 46,7. 3 TH. KRÜGER, „Kosmo-Theologie“ zwischen Mythos und Erfahrung. Psalm 104 im Horizont altorientalischer und alttestamentlicher „Schöpfungs“-Konzepte, BN 68 (1993) 49–74; 70. 4 Erstmals in: D. MICHEL, Tempora und Satzstellung in den Psalmen (AET 1), Bonn 1960, 218.
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Gotteslob und Gottesferne in den Psalmen
schaft in 3. Pers. (V.1.3f.) zur Gebetsanrede (V.2.5) übergegangen 5 . Beide Strophen unterscheiden sich sachlich darin, dass die Festigkeit und Unerschütterlichkeit der göttlichen Weltherrschaft in der ersten (V.1f.) nur behauptet, in der zweiten (V.3–5) dagegen im Vollzug geschildert wird, d.h. in der Konfrontation mit Gefährdungen in der Welt. In der ersten Strophe wird Jahwe zunächst mit einer „Kleidung“ gezeichnet, die in Gestalt von „Hoheit“ und „Macht“ die traditionellen Qualitäten des göttlichen Königtums im Alten Orient widerspiegelt: königlichen Glanz und kriegerische Kraft6 (V.1a). Die Folge (V.1b) und die Summe der Darlegung in der Gebetsanrede (V.2) lauten: 1b So ist der Erdkreis fest gegründet7, kann nicht ins Wanken geraten. 2 Fest steht dein Thron von uran, von fernster Zeit her bist du.
Hier wird mit der gleichen hebräischen Wurzel ( )כוןzweimal von der Festigkeit der Welt gesprochen. Jedoch liegen beide Aussagen keineswegs auf einer Ebene. Während die Stabilität der bewohnten Erde als Folge der Auswirkung des göttlichen Königtums formuliert ist, ist die Unerschütterlichkeit dieser Herrschaft selber in einem selbstgewichtigen Nominalsatz als unableitbares Urdatum, das mit der Existenz Gottes gegeben ist, ausgedrückt. Indirekt und abgeleitet hat die bewohnte Erde Anteil an dieser Unerschütterlichkeit; wie dieser Anteil näher zu beschreiben ist, zeigt die 2. Strophe. Sie beschreibt Jahwes Königtum im Vollzug und geht dafür zum dreigliedrigen klimaktischen Parallelismus über, wie er in Ugarit geläufig ist. Sie hat ihre Eigenart darin, dass die beschreibenden Sätze trotz dieser gemeinsamen Stilform zwei völlig verschiedene syntaktische Konstruktionen verwenden: Verbalsätze in V.3, Nominalsätze in V.4: 3 Es erhoben Ströme, Jahwe, es erhoben Ströme ihr Brausen, (immer wieder) erheben Ströme ihr Tosen.
5 Vgl. zur näheren Begründung des Aufbaus J. JEREMIAS, Das Königtum Gottes in den Psalmen (FRLANT 141), Göttingen 1987, 16. Anders gliedert R. MOSIS, „Ströme erhoben, Jahwe, ihr Tosen …“ Beobachtungen zu Ps 93, in: Ein Gott, eine Offenbarung (FS N. Füglister), hg. von F. V. Reiterer, Würzburg 1991, 223–251. 6 Vgl. zu mesopotamischen und zu biblischen Parallelen bes. E. LIPINSKI, La royauté de Yahwé dans la poésie et le culte de l’Ancien Israël (VVAW. L 27), Brüssel 21968, 108ff. u.ö. 7 Zur Diskussion der hier und in Ps 96,10 abweichenden Lesart der LXX (vgl. Vg, Pesch, Tg): „Er hat den Erdkreis fest aufgestellt“ vgl. H. IRSIGLER, Thronbesteigung in Ps 93?, in: Text, Methode und Grammatik (FS W. Richter), hg. von W. Groß/H. Irsigler/T. Seidl, St. Ottilien 1991, 155–190; 157 Anm. 11.
14. Die Erde „wankt“
231
4 Mehr als das Brausen mächtiger Wasser, gewaltiger als8 die Brecher des Meeres, ist gewaltig in der Höhe Jahwe.
Während in mythischer Terminologie die „(Urmeer-)Ströme“ – pluralisch entgöttlichte Mächte, die den Chaoskampfgegner Baals „Herrscher Strom, Fürst Meer“ in Ugarit ersetzen – ihre faktischen (Perf.) und immer wiederkehrenden (Imperf.) unheilvollen Aktivitäten entwickeln, wird der König der Welt ihnen in Zustandssätzen, die unwandelbare Dauer beanspruchen 9, nur komparativisch gegenübergestellt. Hier findet kein Kampf mit zweifelhaftem Ausgang statt, sondern sobald von den gefahrvoll tosenden, aggressiven Wassern auf Jahwe als den überlegenen Weltenherren geblickt wird, erstarren die Handlungssätze in zuständlichen Aussagen10. Der Kampf ist entschieden, bevor er begonnen hat, obwohl den „Strömen“ mit ihrer brausenden „Stimme“ ( )קולin V.3 und mit dem Adjektiv „gewaltig“ ( )אדירin V.4 auf verborgene Weise mythisch-göttliche Macht zuerkannt wird11. Jedoch dient diese Hochschätzung ihrer Macht nur dazu, aus menschlicher Perspektive die von den Wassern ausgehende Gefahr zu umschreiben, wie sie durch den kurzen angstvollen Vokativ „Jahwe“ in V.3a verdeutlicht wird. Sind die Menschen und ihre Lebenswelt bedroht, so doch nicht Jahwe, der durch die Lokalisierung seines Thrones (V.2) „in der Höhe“ (V.4) in seiner schlechthinnigen Überlegenheit charakterisiert wird. Die Differenz zwischen der unableitbaren, uranfänglichen Festigkeit der Gottesherrschaft und der von ihr abhängigen, unselbständigen Festigkeit der bewohnten Erde aus der ersten Strophe wird also in der 2. Strophe zugespitzt. Die Herrschaft Gottes „in der Höhe“ ist unerschütterlich, die Stabilität der bewohnten Erde ist durch die „Ströme“ gefährdet. Diese Gefährdung aber widerspricht in der Logik des Psalms nicht dem Satz von V.1b, demzufolge die bewohnte Erde „nicht ins Wanken geraten kann“. Das könnte sie offensichtlich nur, wenn Gott durch die „Ströme“ in seiner Herrschaft gefährdet wäre.
8
So die allgemein anerkannte Konjektur J. DYSERINCKs (Kritische scholien bij de vertaling van het Boek der Psalmen, ThT 12 [1878] 279–296). MT bietet die Parenthese: „… (in der Tat) gewaltig sind die Brecher des Meeres“. 9 Vgl. V.5b: „… für die Dauer der künftigen Zeit“. 10 Der von B. JANOWSKI vorgeschlagene Begriff „Stilform der ‚behobenen Krise‘“ (ZThK 86 [1989] 408) ist für diesen textlichen Kontrast wenig glücklich gewählt. Es handelt sich um eine permanente „Krise“ (V.3b), die jeweils neu an Jahwes Überlegenheit ihre Grenze findet (V.4). 11 Zu den mythischen Konnotationen der „mächtigen (bzw. zahlreichen) Wasser“ vgl. H. G. MAY, Some Cosmic Connotations of MAYIM RABBIM, Many Waters, JBL 74 (1955) 9–21. – Allerdings „erheben“ ( )נשׂאdie Ströme ihre „Stimme“ nur, können sie nicht wie Jahwe häufig (vgl. u. Ps 46,7) und Baal in Ugarit kampfentscheidend „geben“ ()נתן.
232
Gotteslob und Gottesferne in den Psalmen
Dem Menschen in seiner ambivalenten Welterfahrung wird somit in Ps 93 ein Doppeltes vergewissernd nahezubringen versucht: Er lebt in einer Welt, die (durch Ungerechtigkeit im Innern, Feinde von außen, Naturkatastrophen, Krankheit, Seuchen etc.) vielfältig gefährdet ist, die aber dennoch aufgrund der Weltherrschaft Gottes „nicht ins Wanken geraten“ kann, sondern stabil ist. Der Psalm ist also nicht in dem Sinne Ausdruck eines ,,naiv“-optimistischen Lebensgefühls, dass er nicht von akuten Bedrohungen der Lebenswelt der Menschen wüsste. Nur weiß er Gott stärker. Insofern treten schon in Ps 93 implizit Glaube und Erfahrung auseinander. Unterpfand der geglaubten Stabilität der Welt ist der Tempel, dessen „Heiligkeit“ die Präsenz Gottes ausmacht, und zwar nicht dann und wann, sondern gültig „für die Dauer der künftigen Zeit“ (V.5). Der Weltenherr, der „von der Höhe“ (V.4) allen Gefährdungen der Welt unendlich überlegen ist, und der im Tempel Gegenwärtige, dessen Nähe im Gottesdienst gepriesen wird, ist ein und derselbe Gott.
2. Und doch beklagt Israel andernorts das „Wanken“ der Erde. Dabei kann es sich um konkrete geschichtliche Erfahrungen (Ps 60,4; 75,4; vgl. Am 8,8), um generelle Aussagen über den Zustand der Welt (Ps 82,5) oder aber um potentielle (Ps 46,3) bzw. zukünftige Ereignisse (Jes 24,19f.) handeln. Wenn die Erde „wankt“, muss Gott sie wiederum „fest hinstellen“. Woran dabei gedacht ist, zeigt am instruktivsten Ps 75. Der Psalm beginnt als Hymnus, genauer: als Selbstaufforderung der Gemeinde im Wir-Stil, Gott aufgrund seiner Wunder zu preisen (V.2). Bevor des Näheren aber von diesen Wundern die Rede ist, folgt unmittelbar auf die hymnische Einleitung das Zitat eines Gottesspruches, der möglicherweise durch einen Propheten vermittelt war (V.3f.)12: 3 Wenn ich mir den Zeitpunkt auch vorbehalte, ich selber halte gerechtes Gericht. 4 Mögen die Erde und all ihre Bewohner wanken, habe ich doch ihre Säulen fest verankert.
Wie Ps 93 unterscheidet auch der Jahrhunderte jüngere kollektive Vertrauenspsalm Ps 75 zwischen gegenwärtig erfahrener Gefährdung der Welt und geglaubter Weltherrschaft Jahwes, ohne doch für letztere die traditionellen Aussagen der Hymnen über das Königtum Gottes heranzuziehen. Damit hängt 12
Vgl. einerseits die sprachlichen Gründe für diese Annahme bei J. JEREMIAS, Kultprophetie und Gerichtsverkündigung in der späten Königszeit Israels (WMANT 35), Neukirchen-Vluyn 1970, 112ff. (in Anknüpfung an H. Gunkel und S. Mowinckel), andererseits die prinzipielle Skepsis von E. S. GERSTENBERGER, Psalms, Part I (FOTL XIV), Grand Rapids 1988, 82.
14. Die Erde „wankt“
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zusammen, dass das „Wanken der Erde und all ihrer Bewohner“ jetzt zu den Aussagen gezählt wird, die die Bedrohung des Bestandes der Welt belegen, und nicht mehr zu denjenigen, die – in Form der Verneinung – die ungefährdete Überlegenheit des Königtums Gottes zum Ausdruck bringen. Dadurch fallen die Akzente erheblich anders als in Ps 93. In Ps 93 war aus der Perspektive der Weltherrschaft Jahwes geredet und von hier aus auf die Bedrohungen der Welt geblickt worden. In Ps 75 ist die Perspektive genau die umgekehrte. Die Gegenwart mit ihren Erfahrungen von Ungerechtigkeit (V.5ff.) bestimmt das Denken. Ihr wird vergewissernd die Zukunft Gottes entgegengehalten, jedoch in einer Weise, die zurückliegende Enttäuschungen erkennbar macht: Der Durchbruch der Gerechtigkeit Gottes erfolgt nicht in der unmittelbaren Zukunft, sondern zum Zeitpunkt, den nur Gott weiß. Allerdings ist der Durchbruch der Gerechtigkeit Gottes für den Psalm deswegen nicht weniger gewiss. Das wird schon daran deutlich, dass dieser Durchbruch als Konsequenz der Schöpfung, d.h. der mit ihr gesetzten Stabilität der Welt betrachtet wird, vor allem aber daran, dass aufgrund des zitierten Gottesspruches schon jetzt, in der unmittelbaren Gegenwart der Erfahrung von Ungerechtigkeit, die Mächtigen, die für sie Verantwortung tragen, im Blick auf Gottes bevorstehendes Gericht ultimativ verwarnt werden (V.5ff.). Der Psalm schließt mit der jubelnd vorgetragenen Erwartung, dass die Zeit der Machtfülle („Hörner“) der Ungerechten vorüber ist und der Machtfülle („Hörner“) der Gerechten Platz macht. Wenn in dieser Akzentverschiebung gegenüber Ps 93 das „Wanken der Erde“ auf die Seite der Erfahrung von Leid und Ungerechtigkeit zu stehen kommt, wird deutlich, wie viel stärker die Weltherrschaft Gottes für Ps 75 in die Verborgenheit entrückt ist. Für Ps 93 wurden die ständig anbrausenden „Ströme“ und die überlegene Macht des Weltenherrn gleicherweise erfahrbar, letztere vor allem im Gottesdienst Jerusalems; in Ps 75 sind die Erfahrung gegenwärtiger Ungerechtigkeit und die Erwartung künftiger Gerechtigkeit Gottes auseinandergetreten. Anders ausgedrückt: Der Gottesdienst vermittelt nicht länger das Wissen von der Weltüberlegenheit Gottes, sondern er vermittelt die Hoffnung auf ihre Durchsetzung trotz einer gottlos gewordenen Welt. Die Gemeinde preist im Vorgriff auf diese Erfahrung und in der Gewissheit ihrer Realität Gottes „Wunder“, d.h. sowohl die vergangenen Erfahrungen unerwarteter Rettung aus übermächtiger Bedrängnis, wie sie die Generationen der Väter machten, als auch die erhoffte analoge Wende im Vorgriff auf einen Wandel, wie ihn nur Gott herbeizuführen vermag. Was Ps 75 unter dem Eindruck realer Erfahrung ausdrückt, formuliert Ps 82 im Blick auf den Zustand der Welt im Ganzen. Hier erscheint Jahwe anfangs in einer hochmythologischen Szenerie als oberster Richter in einer Götterversammlung, in deren Verlauf das Leiden in der Welt von ihm selber auf die praktizierte Ungerechtigkeit der Götter (der Völker) zurückgeführt
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Gotteslob und Gottesferne in den Psalmen
wird13. Schmerzlich muss er erkennen, dass auch ultimative Warnungen und Mahnungen (V.2–4) die Götter nicht zu verändern vermögen, so dass ihre Verurteilung, d.h. ihre bevorstehende Entgöttlichung und Entmachtung (V.6f.), einziges Mittel zur Rettung der Welt bleibt. Bevor Gott die Götter entmachtet, wird im Gerichtsverfahren ihre bleibende Uneinsichtigkeit und Unansprechbarkeit konstatiert, deren unheilvolle Folge lautet (V.5b): So geraten alle Grundfesten der Erde ins Wanken.
Es liegt vermutlich an der mythologischen Redeweise des Psalms, dass einzig hier die genau gleiche Begrifflichkeit ( מוטnif.) für das Wanken der Erde gebraucht wird, die die eingangs genannten Psalmen nur mit negativem Vorzeichen verwenden. Vielleicht ist umgekehrt gerade deswegen nicht die bewohnte Erde selber Subjekt der Aussage, sondern ihre „Fundamente“, d.h. die sie tragenden Berge (Mi 6,2)14. Wie immer es sich damit verhält, es ist ein Äußerstes an Gefährdung angezeigt, ein Zustand, der Jahwe zum Eingreifen zwingt. Ähnlich wie in Ps 75 ist für die den Psalm betende Gemeinde aber nicht einen Moment zweifelhaft, dass Jahwe seine im Himmel gesprochene Verurteilung der Götter in Bälde vollstrecken und auf Erden spürbar werden lässt; deshalb bittet sie abschließend leidenschaftlich um Verwirklichung der schon visionär geschauten alleinigen Weltherrschaft Jahwes (V.8). Andererseits macht ebendieses abschließende Gebet deutlich, wie sehr sie unter dem Auseinandertreten von Glaube (Verurteilung der Götter) und Erfahrung (von Ungerechtigkeit in der Welt) leidet. Noch eindeutiger als in Ps 75 wird also in Ps 82 von der gegenwärtigen Gefährdung der Welt ausgegangen, wenn nicht nur das „Wanken“ der Erde auf die Seite der Erfahrung zu stehen kommt, sondern wenn es darüber hinaus in mythischen Kategorien umschrieben wird. Elemente dualistischen Denkens blitzen auf, die insgesamt im Alten Testament eher selten begegnen; die Differenz zwischen Erfahrung und Aussagen der Tradition hat sich gegenüber Ps 75 noch vergrößert. Die damit gegebene noch größere Distanz zu den Psalmen der ersten Gruppe, die ein „Wanken“ der Erde bestreiten, ist aber nicht primär eine Frage des Alters – die Thematik von Ps 93 wird in nachweislich jungen Texten wie Ps 96,10; 104,5 und 1Chr 16,30 aufgegriffen –, sondern beruht auf einer Verschiebung im Inhaltlichen. Denken Ps 93 und seine Parallelen beim „Wanken“ der Erde primär an kosmologische Erschütterungen – auch wenn diese wie in Ps 96,10 im Raum der Geschichte angesiedelt sind –, 13 Zur vieldiskutierten Frage, ob in Ps 82 Götter oder Menschen als Verursacher der Ungerechtigkeit der Welt gemeint seien, vgl. zuletzt H. NIEHR, Götter oder Menschen – eine falsche Alternative. Bemerkungen zu Ps 82, ZAW 99 (1987) 94–98, und W. S. PRINSLOO, Psalm 82: Once again, Gods or Men?, Bib. 76 (1995) 219–228. 14 Der Begriff ist schon ugaritisch belegt (msdt arṣ, KTU 1.4: I: 41); F. I. ANDERSEN, A Short Note on Psalm 82,5, Bib. 50 (1969) 393f., bezieht ihn zu Unrecht auf die Unterwelt.
14. Die Erde „wankt“
235
so Ps 75 und – evidenter noch – Ps 82 an das Ausbleiben von Gerechtigkeit, insbesondere bei denen, die auf sie besonders angewiesen sind („Geringe, Waisen, Bedürftige, Gebeugte“, kurz „Arme“, Ps 82,3f.) und die daher stets den Maßstab bilden, an dem Gerechtigkeit im Alten Testament gemessen wird. Es stehen sich also in den beiden scheinbar gegensätzlichen Aussagereihen vom ,,Nicht-Wanken-Können“ und vom faktischen „Wanken“ der Erde die gewusste Weltherrschaft und -erhaltung Gottes und die Erfahrung von Ungerechtigkeit einander gegenüber, wobei letztere für die Psalmen mehr und anderes ist als nur die Auswirkung der Launen einzelner Mächtiger. Den Unterschied beider Aspekte der Weltordnung kann man sich am Vergleich zwischen Ps 96 und Ps 82 verdeutlichen. Beide Psalmen erleben gegenwärtig eine Gefährdung der Welt, von deren Begrenztheit sie überzeugt sind, weil die ordnungschaffende Rechtsdurchsetzung Gottes ( )שׁפטihr ein Ende schaffen wird (Ps 96,13; 82,8). Da Ps 96 diese bevorstehende Ordnung Gottes primär auf das Verhältnis der Völker untereinander (und auf die unbelebte Natur, V.11f.) bezieht, kann er schon in der Gegenwart – mit einem Zitat aus Ps 93,1 – zur Proklamation der Königsherrschaft Gottes über alle Völker auffordern, mit der die Stabilität der Welt, eben ihr „Nicht-WankenKönnen“, als zwingende Folge gegeben ist (V.10). Für Ps 82 dagegen mit seinem Leiden an der Ungerechtigkeit auf der Welt ist zwar das bevorstehende שׁפטGottes über die Welt nicht weniger gewiss, aber er fleht es inständig herbei, eben weil es der Ungerechtigkeit auf allen Ebenen der Erfahrung – und damit dem „Wanken der Grundfesten der Erde“ – ein Ende bereiten wird. Die hinter Ps 82 stehende Konzeption steigert, allerdings mit anderer Terminologie, Am 8,8. Der Vers folgt auf eine aktualisierend dargebotene Summierung der Anklagen des Amos (V.4–6), deren Gewicht der abschließende Schwur Jahwes, diese Taten Israels nie zu vergessen (V.7), unüberhörbar einprägt. V.8 zieht die Konsequenz in Form einer Frage: Muss deswegen nicht die Erde erbeben und ihre gesamte Bewohnerschaft trauern/vergehen …?
Schwere Schuld wie die in Am 8,4–6 angeprangerte wirkt sich universal und bis in den Bereich der Natur aus. Dieser traditionelle Gedanke (vgl. Hos 4,3; Jer 3,3; 12,4; 23,10; Hab 3,17 u.ö.)15 wird in Am 8,8 mit der Darstellung eines Erdbebens verbunden. Auf diese Weise entsteht die Vorstellung einer schuldhaft verursachten kosmischen Erschütterung. Im ehemaligen Buchschluss Am
15
Vgl. bes. R. STAHL, „Deshalb trocknet die Erde aus und verschmachten alle, die auf ihr wohnen …“, in: Alttestamentlicher Glaube und Biblische Theologie (FS H. D. Preuß), hg. von J. Hausmann/H.-J. Zobel, Stuttgart 1992, 166–173; H. GESE, Amos 8,4–8: Der kosmische Frevel händlerischer Habgier, in: Prophet und Prophetenbuch (FS O. Kaiser [BZAW 185]), hg. von V. Fritz/K.-F. Pohlmann/H.-C. Schmitt, Berlin/New York 1989, 59–72; 63ff.
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Gotteslob und Gottesferne in den Psalmen
9,5f. wird sie weithin wörtlich wieder aufgegriffen16, nachdem zuvor in der letzten Vision des Amos von der Entweihung des Tempels und der Unzugänglichkeit Gottes die Rede war. Nach Am 8–9 gibt es also ein Maß an Schuld, das die Stabilität der Welt gültig (vorübergehend? bleibend?) außer Kraft setzt. Freilich ist nicht nur die schwere Schuld, sondern auch Gottes Rückzug aus dieser Welt (Am 9,1.6) Voraussetzung dieser gesteigerten Vorstellung des „Wankens“ der Erde.
3. Nur ein Seitenblick sei auf diejenigen Belege geworfen, die das „Wanken“ der Erde ebenfalls als gegenwärtige Erfahrung beschreiben, es aber als Auswirkung eines göttlichen Straf- bzw. Zorneshandelns verstehen. Eine solche Verwendung des Begriffs lag schon deshalb nahe, weil die traditionellen Theophanieschilderungen des Alten Testaments das Kommen und Erscheinen Jahwes bzw. sein Eingreifen gemeinhin dadurch in seiner unwiderstehlichen Macht beschreiben, dass sie den Aufruhr und die Erschütterung der Erde als seine Folge darstellen 17 . Im wichtigsten Beleg, dem Volksklagelied Ps 60, wird die gegenwärtige politische Not auf Gottes destruktives Zorneshandeln zurückgeführt (V.3) und im Blick darauf leidenschaftlich erbeten (V.4): Du hast die Erde erschüttert und zerspalten: Heile ihre Brüche18, sie wankt ja schon!
Ist an die Zerstörung Jerusalems und den Untergang Judas gedacht, wie zahlreiche Ausleger vermutet haben? In jedem Fall steht die Erfahrung einer schweren Niederlage im Hintergrund der Klage, die Israel an der Tragfähigkeit seines Glaubens zweifeln ließ, nicht in dem Sinne, dass Jahwe einer stärkeren Macht unterlegen wäre, wohl aber in dem Sinn, dass er sein Volk aufgegeben haben könnte (V.3.12). Wäre das der Fall, wären die Fundamente der Welt zerstört. Schon „wankt“ die Erde, in ihrem Bestand bereits stark gefährdet. In dieser Situation eines Auseinandertretens von Glaube und Erfahrung vergewissert in Ps 60 – ähnlich wie in Ps 75 (s.o.) – eine prophetische Stimme im Namen Gottes oder eher das Zitat eines älteren Prophetenspruches die 16 Wobei eher Am 8,8 von 9,5 abhängig ist als umgekehrt; vgl. J. JEREMIAS, Hosea und Amos. Studien zu den Anfängen des Dodekapropheton (FAT 13), Tübingen 1996, 193–197. 17 Vgl. J. JEREMIAS, Theophanie. Die Geschichte einer alttestamentlichen Gattung (WMANT 10), Neukirchen-Vluyn 21977. Freilich wird dabei nie das in den hiesigen Überlegungen im Zentrum stehende Verb מוטverwendet und auch nur in erklärbaren Ausnahmefällen (qal: Am 9,5; Ps 46,7; hitpal.: Nah 1,5) die Wurzel מוג. 18 Eine sehr andersartige Deutung („It is trembling, yea tottering …“ durch Ableitung des Verbs von der Wurzel )רפףschlägt A. R. JOHNSON, The Cultic Prophet and Israel’s Psalmody, Cardiff 1979, 166, vor.
14. Die Erde „wankt“
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Gemeinde, dass Gott zu ihr steht und ihre Feinde fest unter Kontrolle hat (V.8–10), so dass auch in Zeiten, in denen nichts von Gottes Hilfe spürbar ist (V.12), Gott ihre einzige Zuflucht bleibt (V.13f.). Selbst die rissige und „wankende“ Erde ist noch immer in guten Händen, auch wenn es die gleichen Hände sind, die sie verwundet haben; sie allein vermögen diese Wunden wieder zu heilen19. Diese bemerkenswert theozentrische Sicht von Leid und Heil findet sich ähnlich wie in Ps 60 in dem sonst so völlig andersartigen Schöpfungspsalm Ps 104, der ein unüberbietbar heiteres Bild einer von Gott versorgten Welt zeichnet. Bedrohungen der Welt von außen kennt er nicht. Nachdem er eingangs allen chaotischen Mächten die Fähigkeit abgesprochen hat, die Welt zu gefährden, weil Gott ihnen eine unüberschreitbare Grenze gesetzt hat (V.5–9), nachdem er im Hauptteil den Löwen als Tieren der Nacht in der ägyptischen Hymnentradition alle dämonischen Züge geraubt und sie in ihrer Angewiesenheit auf Gottes Versorgung geschildert hat (V.20–22), selbst den traditionellen Chaosdrachen als Spielzeug Gottes dargestellt hat (V.26) und zuletzt den Tod als ein Handeln Gottes verstehen gelehrt hat (V.28–30), vermag er nur eine einzige bedrohliche Gefahr für diese Welt zu benennen (V.32): der die Erde (nur) anblickt – schon bebt sie, der die Berge (nur) anrührt – schon rauchen sie.
Deutlicher kann die weltüberlegene Macht Jahwes – zum Heil wie zum Unheil – kaum dargestellt werden. In Am 9,5f. wird – in Weiterführung von Ps 104,32 – die Zerstörung des Tempels (in Jerusalem) als Ausdruck dieser Macht gedeutet und mit dem Bekenntnis zur bleibenden Weltherrschaft Jahwes als Gott des Himmels verbunden.
4. Es gibt einen Psalm, in dem alle bisher diskutierten Nuancen des „Wankens der Erde“ zusammenlaufen und in dem sie sich gegenseitig interpretieren: den Zionpsalm Ps 46, den Martin Luther in seinem Bekenntnislied „Ein feste Burg ist unser Gott“ nachgedichtet hat. Nicht weniger als dreimal begegnet in ihm als Leitwort das Verb מוט, in immer neuer Akzentuierung. Unser Thema findet in ihm gleichsam seine Zusammenfassung und Krönung. Wie seine beiden engsten Parallelen, die Zionspsalmen 48 und 76, beginnt er mit Nominalsätzen, die bleibend Unveränderliches und vielfach „Bewährtes“ über Gott aussagen wollen. Anders als in den beiden – vermutlich älte19
Man vergleiche die terminologisch verwandte Selbstaufforderung zur Umkehr, weil es der gleiche Gott ist, der „schlägt und verbindet“, in Hos 6,1–3 (und die folgende prophetische Kritik an ihr in V.4–6).
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ren – Parallelpsalmen wird dieses Verlässliche aber in Ps 46 anfangs nicht in objektivierender Sprache mit der Tradition des Völkeransturms belegt (Ps 48,5ff.; 76,4ff.), sondern in Gestalt kollektiver Bekenntnissprache dargeboten20 und mit äußerst extremen Folgerungen versehen (V.2–4): 2 Gott ist uns Zuflucht und Stärke, als Hilfe in Nöten sehr bewährt. 3 Deshalb fürchten wir uns nicht, selbst wenn die Erde schwanken21 sollte, selbst wenn die Berge mitten ins Meer wanken würden, 4 mögen seine Wasser auch toben und schäumen, mögen die Berge angesichts seiner Hoheit erbeben.
Das geradezu trotzige Gottvertrauen, das die Gemeinde zu Beginn des Psalmes äußert, wird auch für den Extremfall bekannt, dass eine in der Erfahrung der Menschheit noch nicht erlebte Herrschaft chaotischer Mächte eintreten sollte, denen selbst die Symbole der Stabilität der Erde, die Berge, nicht standhalten können. Die Besonderheit dieses ungewöhnlichen Bekenntnisses wird erst sichtbar, wenn erkannt ist, dass der syntaktisch verwendete Potentialis („selbst wenn …“) sachlich ein Irrealis ist. In V.3 werden nämlich die zuvor behandelten Aussagen über das „Wanken“ der Erde und der Berge als Ausdruck der Erfahrung derart gesteigert, dass sie die Grenze schon partiell überschreiten, mit der der Verlust der Weltherrschaft Jahwes markiert ist. Das gilt besonders für die Aussage, dass die Berge ,,mitten ins Meer“ wanken, da diesem selben „Meer“ in V.4 mit dem Begriff „Hoheit“ königliche Macht zugesprochen wird, so dass assoziativ die Dimension eines Götterkampfes um die Weltordnung wachgerufen wird, in dem das Meer – in Ugarit als der Gott Jammu Gegner des Wettergottes Baal – die Oberhand behielte22. Die Tendenz zum Irrealen in V.3f. verdeutlicht die 2. Strophe des Psalms, die sich explizit Jerusalem zuwendet und in der – nur zwei Verse später – in scharfem Kontrast zu V.3f. der Satz begegnet (V.6a): Gott in ihrer Mitte – sie kann nicht ins Wanken geraten.
Was Ps 93 und seine Parallelen wörtlich identisch (verneintes מוטnif) von der Gehaltenheit der Welt aussagten, weil Gott die Herrschaft über sie ausübt, 20
Vgl. zu den Implikationen GERSTENBERGER, Psalms, a.a.O. (Anm. 12), 191.193. Mit LXX, Pesch., Vg., unabhängig von der Frage, ob eine Wurzel מורII nif. (vgl. L. KOEHLER/W. BAUMGARTNER, Art. מורII, HAL 1 [2004] 531) oder ein Schreibfehler anzunehmen ist, aufgrund des par. membrorum. 22 Auch das Verb „ המהlärmen, toben“ enthält Chaoskampfreminiszenzen (vgl. Jes 17,12; 51,15; Jer 5,22; 6,23 u.ö.). – Um das Gedankenspiel nicht zu weit zu treiben, ist das Meer bei seiner ersten Nennung in V.3 in den Plural versetzt worden, obwohl die in V.4 folgenden Suffixe, die auf es sachlich bezogen sind, singularisch verwendet werden. Damit wird die „(königliche) Hoheit“ grammatisch schon, in Vorwegnahme von V.7, Jahwe zugeschrieben; vgl. H. SPIECKERMANN, Stadtgott und Gottesstadt, Bib. 73 (1992) 1–31; 23f. Anm. 5. 21
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preist Ps 46,6 spezieller als Qualität des Zion, weil Gott auf ihm Wohnung genommen hat und er dadurch zum Mittelpunkt der Welt geworden ist (V.5). Dazu wird wieder, wie zu Beginn des Psalms, ein Nominalsatz verwendet, um die unveränderliche Dauer der Einwohnung Gottes auf dem Zion auszudrücken. Noch ein drittes Mal begegnet das Verb „wanken“ ( )מוטin Ps 46, sogleich im folgenden Vers, jetzt aber in kühner Übertragung auf ein neues Subjekt: Völker tobten, Königreiche wankten – er ließ seine Stimme ertönen, da schwankte die Erde.
In einer nicht mehr überbietbaren Kürze wird hier die Tradition vom urzeitlichen Völkeransturm gegen den Zion, die die Parallelpsalmen breiter belegen (Ps 48,5ff.; 76,4ff.), aufgegriffen und mit Verben ausgemalt, die schon im Kontext der Chaoskampfthematik von V.3f. Verwendung fanden. Das aggressive „Toben“ der Völker greift das „Toben“ der Wasser aus V.4 auf, womit die Völker als Verkörperung des Chaos gezeichnet sind; ihr „Wanken“ dagegen greift das „Wanken“ der Berge aus V.3 auf, wodurch das Unternehmen der Völker als von vornherein gescheitertes charakterisiert ist (vgl. Ps 2,1: „Die Nationen planen Vergebliches“). Es bedarf nur einer einzigen kurzen Äußerung der machtvollen Donnerstimme Gottes – nicht dass die Völker zerstieben: Von ihnen redet V.7 gar nicht mehr, sondern –, dass die Erde erschüttert wird. Hier sind das „Wanken“ der Völker und das „Schwanken“ der Erde betont begrifflich aufeinander bezogen, jedoch mit einem wesentlichen Unterschied: Während die „tobende“, d.h. Unordnung stiftende Aggressivität der Völker schon ohne jede Außenwirkung in ihrem „Wanken“ endet, ohne die Erde gefährden zu können, kann die Erde nur dann „schwanken“, wenn sie unter dem Kriegsruf des Weltenherrn in Aufruhr gerät. Jedoch ist solches „Schwanken“ für sie ohne Gefahr, weil dieser Weltenherr der gleiche ist, der in Jerusalem Wohnung genommen hat, mit der Folge: „… sie kann nicht ins Wanken geraten.“ So führt Ps 46 unser Thema in abgründiger Weise auf seinen Höhepunkt: Formal-syntaktisch spricht er positiv von einem „Wanken“ der Berge als Symbol aller Grundlagen der Existenz bis „mitten ins Meer“ (wörtlich: „ins Herz der Meere“); er macht also auch vor dem Gedanken des Endes der bisher erfahrenen Welt nicht Halt. Gleichzeitig aber bestreitet er sachlich, dass der Ort der Einwohnung Gottes je „ins Wanken geraten“ könne, und zeichnet die potentiellen Kräfte, die eine solche extreme Gefährdung der Welt herbeizuführen vermöchten, selbst als „Wankende“, d.h. als effektlos nichtige Mächte, denen die einzig wirkliche Macht entgegengestellt wird, deren bloßer Kriegsruf die Erde schon zum „Schwanken“ bringt, ein Kriegsruf, wie er allerdings nur zu ihren Gunsten erklingt. Wer das begriffen hat, wird in der letzten Strophe des Psalms (V.9–11.12) aufgerufen, alles Vertrauen auf Waffen
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und auf alle menschlichen Machtmittel zu verabschieden. Am Zion, im Angesicht der Präsenz Gottes, ist das Ende aller Waffen schon eingeläutet worden. Wie denn die Erde nicht wanken kann, so mögen auch nach dem Ende der beruflichen Tätigkeit „die Schritte“ des Kollegen „nicht ins Wanken geraten“ (Ps 17,5), dem diese Gedanken in Dankbarkeit für die gemeinsame Wegstrecke in den USA (1960/61) und in Marburg (ab 1993) gewidmet seien.
15. „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“ Psalm 130 und Luthers Psalmlied Als einer der traditionellen sieben Bußpsalmen hat Ps 130 in der Kirche des Westens stets eine herausgehobene Rolle gespielt. Seine Bedeutung war noch dadurch verstärkt, dass er gleichzeitig zu den 15 Gradual- bzw. StufenPsalmen (Ps 120–134) gehörte, wie sie im Mittelalter üblicherweise an den Mittwochen der Fastenzeit gebetet wurden. Hinzu kam seine regelmäßige Verwendung am Abschluss der Beerdigungsliturgie und außerdem in der Messliturgie bei der praeparatio des Priesters. Ab dem 14. Jh. erschienen die Übersetzungen der Bußpsalmen in die Volkssprache, deren bedeutendste vom Vertreter der Devotio moderna, Geert Groote, stammte, und mancherlei allgemeinverständliche Auslegungen, so dass die Bußpsalmen in der privaten Frömmigkeit eine immer größere Rolle spielten1. An diese Tradition konnte Martin Luther anknüpfen, als er 1517 seine erste selbständige Veröffentlichung der Verdeutschung und für das Volk bestimmten Auslegung der Bußpsalmen widmete2 und ihr 1525 eine gekürzte Neubearbeitung folgen ließ3. Zwei Jahre vor dieser Neuausgabe hatte Luther den 130. Psalm in einem Gemeindelied („Aus tiefer Not …“) nachgedichtet und hatte ihm auf diese Weise für alle kommende Zeit im protestantischen Gottesdienst einen festen und bedeutenden Ort gegeben. Die Nachdichtung hält sich sehr eng an den Wortlaut des Psalmes, verdeutlicht dessen Intention aber an manchen Stellen bewusst und verstärkt sie. Diesen Akzentsetzungen wollen die folgenden Erwägungen nachgehen, indem sie sie mit der ursprünglichen Aussage des 130. Psalmes innerhalb seines ersten, d.h. des alttestamentlichen Kontextes vergleichen. Zu diesem Zweck muss Ps 130 zunächst als ein Psalm der alttestamentlichen Gemeinde ausgelegt werden.
1. Für die Erfassung des 130. Psalmes ist die Erkenntnis von entscheidendem Gewicht, dass er innerhalb der alttestamentlichen Psalmen unbestritten ein sehr junger Psalm ist. Auf den ersten Blick bietet diese Aussage scheinbar nur 1
Vgl. E. HERTZSCH, Art. Bußpsalmen, RGG3 1 (1957) 1538f. WA 1,154ff. 3 WA 18,467ff. 2
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ein rein historisches Urteil, das den Psalm grob in die fast tausend Jahre umfassende Geschichte alttestamentlicher Hymnologie einordnet, seine Aussage aber nicht oder kaum tangiert. Denn die Eigenart der Geschichte des alttestamentlichen Psalters beruht gerade auf einer auffälligen prinzipiellen Konstanz der Formen und der Sprache, so dass den Datierungen von Psalmen nach üblicher Ansicht nicht annähernd die Bedeutung zukommt wie etwa den Datierungen der Texte des Pentateuchs oder der Prophetie. Aber diese Ansicht ist zu bestreiten. So gewiss sich Psalmen im Allgemeinen mit einem ungleich geringeren Maß an Wahrscheinlichkeit zeitlich einordnen lassen als andere literarische Bereiche im Alten Testament und die Erarbeitung von Kriterien zu solcher Datierung noch bedauerlich gering fortgeschritten ist4, so ist doch das sachliche Gewicht und die theologische Konsequenz solcher Einordnungen keineswegs geringer einzuschätzen. Das lässt sich gerade an Ps 130 klar aufweisen. Im Falle von Ps 130 besagt die relativ junge Abfassung primär, dass die Gemeinde, die diesen Psalm betet, mit dem Beten von Klagepsalmen über Generationen hinweg vertraut ist, oder anders ausgedrückt: ein von vielen Generationen herkommendes Beten solcher Psalmen schon voraussetzt. Als Konsequenz dessen brauchen viele Dinge nicht mehr ausgesprochen zu werden; es genügt, dass sie angedeutet werden. Was ältere Psalmen im Alten Testament noch relativ breit darlegen und beschreiben, wird hier teilweise in einem einzigen Begriff zusammengefasst. Es muss nicht alles vor Gott gesagt werden, was diese Gemeinde auf dem Herzen hat. Dabei trifft sie eine bewusste Auswahl aus den vielfältigen Gebeten anderer, ihr schon vertrauter Psalmen. Diese Auswahl beruht auf einer bewussten Gewichtung. Nur das Allerwichtigste wird Gott vorgetragen. Das andere ist nicht vergessen, sondern mitgemeint. Aber es braucht in dieser Konzentration auf das Wesentliche nicht expliziert zu werden. Die älteren Gebete Israels sind viel spontaner, unmittelbarer geprägt von soeben zurückliegenden Erfahrungen. In Ps 130 wird abgewogen, und nur das Allerwichtigste wird vor Gott getragen. Es ist also eine Art Summe allen Betens, die dieser Psalm bietet, eine Quintessenz aller Gebete, die er schon voraussetzt. Weil die Gemeinde, die diesen Psalm betet, mit dem Beten wohl vertraut ist, kann sie die tradierten Gebetsinhalte auf das allein ihr wichtig Erscheinende reduzieren. Dieses Wichtige aber muss vor Gott gebracht werden. Ich will im Folgenden versuchen, das bewusste Bemühen des Psalmes um Konzentration der Gebetsinhal-
4 Ein hohes Verdienst kommt in dieser Frage den verschiedenen überlieferungsgeschichtlichen Analysen von W. Beyerlin in seinen zahlreichen Psalmen-Monographien zu.
15. Psalm 130 und Luthers Psalmlied
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te auf das Wesentliche durch einen Vergleich mit anderen Psalmen aufzuzeigen5.
2. 2.1. Die Not Nach der Überschrift beginnt der Psalm mit einer Beschreibung der Situation des Beters, die auf seine Grundbefindlichkeit reduziert ist. Aus Wassertiefen rufe ich, Jahwe, zu dir, Herr, höre meine Stimme! Deine Ohren mögen aufmerken auf mein lautes Flehen!
Mehr als dieses eine: „aus Wassertiefen …“ wird über die Not des betenden Menschen nicht gesagt. Alles andere scheint sich von selbst zu verstehen. Während in der Mehrzahl der Klagegebete des Alten Testaments die Klage über die Not, aus der Gott retten soll, einen großen Raum im Psalm einnimmt, ist sie hier auf dieses eine Wort beschränkt. Alle konkrete und spezielle Einzelnot, die ein Mensch durchleben kann, ist mit diesem Begriff abgedeckt, der ihr Wesen erfassen will. Der Begriff als solcher ist in den Psalmen zwar nicht geläufig, aber keineswegs ungewöhnlich oder gar auffällig. „Wassertiefen“ sind eines der vielen gebräuchlichen Elemente der Beschreibung des Chaos im Alten Testament; sie charakterisieren also Tod und Verderben. Ich nenne zwei Beispiele: Du hast mich hinunter in die tiefste Grube gelegt, in Finsternisse, in Meerestiefen. (Ps 88,7)
Hier macht schon der Parallelbegriff der „Grube“ deutlich, dass vom Tod und von der Totenwelt geredet wird; im Übrigen ist die Welt des Todes das zentrale Thema des Psalmes 88 in allen seinen Versen. Rette mich aus dem Schlamm … und aus den Wassertiefen! Lass nicht die Wasserflut mich überströmen, lass nicht die Tiefe mich verschlingen! (Ps 69,15f.)
Hier machen die Parallelbegriffe („Schlamm“, „Tiefe“) deutlich, dass die „Wassertiefen“ ein Bild für die Totenwelt darstellen. Alle Psalmen, die vergleichbare Begriffe wie den der „Wassertiefen“ gebrauchen, sind der Überzeugung, dass der Beter bzw. die Gemeinde, die dieses Gebet betet, in ihrer Not Todeserfahrung macht. Der Tod – davon wissen die Psalmen vielfältig zu 5
Damit schließe ich mich der vorzüglichen Auslegung des Psalmes durch W. H. SCHMIDT, Gott und Mensch in Ps 130. Formgeschichtliche Erwägungen, ThZ 22 (1966) 241– 253 an, der ich entscheidende Einsichten verdanke.
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reden – ist eine Macht, die sich nicht erst am Ende des Lebens eines Menschen zeigt, sondern in vielfältiger Weise schon mitten im Leben auf den Menschen eindringt. Er ist mehr und anderes als nur das physische Verlöschen von Leben. Er kann Leben auslöschen, auch wo das Herz des Menschen noch schlägt. Deutlich wird daran, wie für das Alte Testament auch „Leben“ mehr und anderes ist als physische Existenz. Es kann enden, wenn es wesentliche Merkmale durch Einschränkung einbüßt6. Entscheidend sind die angeführten Parallelen (Ps 69 und 88) von Ps 130 aber darin unterschieden, dass sie die Art und Weise, wie die Todesmacht in das Leben eines Menschen dringt, näher umschreiben. In Ps 69 etwa geschieht das dadurch, dass sich selbst die allernächsten Vertrauten des Beters, selbst die eigenen Kinder und die Mutter, von ihm abwenden, weil ihm sein rückhaltloser Einsatz für Gott und seinen Tempel Schmach eingebracht hat (V.8–10). Hinzu kommen in Ps 69, wie in so vielen Psalmen, Feinde, die sich über sein Elend freuen und ihm nach dem Leben trachten (V.23ff.). Es sind hier also diese Feinde – zu denen sich als Steigerung die allernächsten Vertrauten gesellen –, durch die die Todesmacht in das Leben des Beters dringt. Und wie in so vielen anderen Psalmen auch spielt die entsprechende Bitte um Rettung vor den Feinden eine zentrale Rolle im Psalm. Ganz anders Ps 130. Von menschlichen Feinden ist mit keinem Wort die Rede. Sie sind damit gewiss nicht ausgeschlossen, wenn von den „Wassertiefen“ die Rede ist, aber sie sind nichts Entscheidendes für die Erfahrung dieser „Tiefen“. Nirgends wird daher auch im Psalm um die Rettung aus der Hand von Feinden gebetet. Die Todesmacht dringt in Gestalt von „Wassertiefen“ im Psalm auf viel weniger greifbare, weniger spektakuläre, viel schwerer erkennbare Weise in das Leben des Menschen ein. Worin besteht sie dann? Anstelle einer langen Notschilderung tritt in Ps 130 eine Reflexion: Wenn du Sünden anrechnen wolltest, Jah – Herr, wer könnte bestehen? (V.3)
Die Not, aus der heraus dieser Psalm gebetet wird, die Todeserfahrung, die mitten im Leben gemacht wird, meinen nicht außergewöhnliche Einzelerlebnisse, die in ihren Abläufen näher umschrieben werden müssten, sondern vielmehr eine dauerhaft bestehende, permanente Erfahrung. Die „Wassertiefen“ sind Symbol und Sinnbild für die Abwesenheit Gottes, für die Ferne Gottes aufgrund menschlicher Schuld. Es ist die immer wieder erschreckend wahrgenommene Unterbrechung des Gotteskontaktes durch schuldhaftes Handeln des Beters. In anderen Psalmen kommt dieser Gedanke dadurch zum Ausdruck, dass ein Beter oder Gemeinde mit der Schilderung der Not, in der sie sich befinden und aus der sie von Gott gerettet werden möchten, ihre eige6 Vgl. dazu CHR. BARTH, Die Errettung vom Tode in den individuellen Klage- und Dankliedern des Alten Testaments, Zürich 21987 (Zollikon 1947).
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ne Schuld in der 1. Person bekennen und damit das eigene Verhalten für die Not letztendlich verantwortlich machen (etwa Ps 38,19; vgl. 32,5). Ps 130 unterscheidet sich von solchen Schuldbekenntnissen dadurch, dass zum einen – wie schon erwähnt – eine spezifische Not, die aus der Schuld entsprungen ist, nicht genannt wird; vor allem aber dadurch, dass auch nicht eine besondere Schuld des Menschen vor Gott bekannt wird, sondern vielmehr zum Ausdruck gebracht wird, dass der Mensch vor Gott immer als schuldiger dasteht. Kurzum: Die Not, aus der heraus in Ps 130 gebetet wird, ist eine Dauer-Not. Sie betrifft das Leben des Menschen nicht je und dann einmal, sondern ständig. Es gibt für diesen Psalm einen Kontakt des Menschen zu Gott immer nur in der Relation des Schuldigen zum Heiligen. Der Psalm wechselt also keineswegs zufällig am Übergang von V.2 zu V.3 vom Gebetsstil der Ich-Rede zur theologisch-reflektierenden Sprache der ErRede. Hatte er begonnen: Aus den Wassertiefen rufe ich, Jahwe, zu dir …
so fährt er verallgemeinernd-distanzierend fort: Wenn du Sünden anrechnen wolltest, Jah – Herr, wer könnte bestehen?
Darin bringt dieser Psalm zum Ausdruck, dass hier zwar ein Einzelner für seine Not zu Gott betet, dass er aber diese Not mit der Not anderer Menschen zusammendenkt und insofern über die Lage des Menschen allgemein vor Gott reden kann. Er bittet nicht nur für sich, sondern er bittet für alle Menschen7. Seine eigenen individuellen Erfahrungen sind ihm zweitrangig; die Stellung des Menschen vor Gott ist ihm wesentlich. Er redet von sich und meint alle Menschen. Für diesen Psalm ist das Leben des Menschen im Kern bedrohtes Leben. Es ist Leben, das vom Tod umfangen ist, weil die Menschen vor Gott schuldig werden. Es ist Leben, das ganz und gar auf Gott angewiesen ist. Wäre Gott nur gerechter Gott – und würde „Schuld anrechnen“ –, wäre Menschenleben nicht möglich. Der Psalm sagt diesen Gedanken genauer aus: Herr, wer könnte bestehen? (V.3b)
Die Frage „Wer kann bestehen“ hatte für jeden alttestamentlichen Hörer oder Leser dieses Psalmes eine ihm bekannte Herkunft. Sie hing mit dem Gottesdienst am Tempel zusammen. Zu Beginn dieses Gottesdienstes wurde die Frage laut: Jahwe, wer darf weilen in deinem Zelt? Wer darf wohnen auf deinem heiligen Berg? (Ps 15,1)
7 Vgl. SCHMIDT, Gott und Mensch, a.a.O. (Anm. 5), 245, und P. D. MILLER, Psalm 130, Interpr. 33 (1979) 176–181; 179.
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Gotteslob und Gottesferne in den Psalmen
Die Antwort in der Liturgie gab der Priester mit einer Reihe von Aufzählungen exemplarischer Einzeltaten, die die Gemeinschaft der Menschen extrem gefährden: Wer mit seiner Zunge nicht verleumdet, wer seinem Nächsten nichts Arges tut und seinen Nachbarn nicht schmäht … (Ps 15,3)
Diese alte Liturgie wollte den Zugang zum Heiligtum so regeln, dass sie auf die Konsequenzen des Gottesdienstes für den Alltag hinwies8. Es gibt Verhaltensweisen, die für die Gemeinde Gottes unmöglich sind. Im Tempelgottesdienst Israels sollte mit der Liturgie der Zusammenhang von Gottesdienst und Alltag eingeprägt werden. In Ps 130 hat sich zweierlei verändert: 1) Es geht jetzt nicht mehr nur um die Frage der Zulassung zum Heiligtum, sondern um die Stellung des Menschen vor Gott schlechthin. 2) Bei dieser verschärften Sichtweise wird die Möglichkeit des Menschen zu eigener „Gerechtigkeit“ vor Gott grundsätzlich verneint. Der Mensch kann sich wohl vor extremer Schuld bewahren, aber er kann nicht vor Gott schuldlos bleiben. In Ps 15 (und Ps 24) konnten aufrichtige Menschen, die sich vor Taten hüten, die die Gemeinschaft aufs Äußerste gefährden, glücklich gepriesen werden. In dem viel jüngeren Ps 130, in dem Israel weit intensivere Erfahrungen mit Gott gemacht hatte, kommt eine solche Sicht gar nicht mehr in den Blick. Jetzt gilt, was der verwandte Ps 143 in V.2 so auf den Begriff bringt: Gehe nicht mit deinem Knecht ins Gericht; denn vor dir ist kein Lebender gerecht!
2.2. Die Bitte Da in Ps 130 nicht aus einer akuten Sonder-Not heraus gebetet wird, sondern aus einer Dauer-Not heraus, verändert sich auch die Bitte. Es ist zunächst nur die Bitte um das bleibende Gespräch mit Gott. Herr, höre meine Stimme! Lass deine Ohren aufmerken auf mein lautes Flehen! (V.2)
Keinerlei Bitte um Rettung aus der Not steht in diesem Vers. Das hat seinen guten Grund. Die Not, aus der heraus gebetet wird, ist ja nur die Möglichkeit, dass der Mensch aufgrund seiner Schuld aus dem Kontakt mit Gott herausgerissen werden könnte und damit der Todesmacht, den „Wassertiefen“, preisgegeben wäre. Wenn Gott auf das Gebet des Einzelnen und das Gebet Israels 8
Vgl. K. KOCH, Tempeleinlaßliturgien und Dekaloge, in: Studien zur Theologie der alttestamentlichen Überlieferungen (FS G. von Rad), hg. von DERS./R. Rendtorff, NeukirchenVluyn 1961, 45–60.
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hört, kann der Kontakt nicht abreißen, kann Israel nicht in Gottesferne geraten, kann es nicht den Schrecken des Schweigens Gottes erfahren. Die Mehrzahl der Klagepsalmen im Alten Testament bittet um ein Hören Gottes, damit er die Not des Beters erfährt und ihn aus dieser Not errettet; in Ps 130 dagegen ist das Hören Gottes selbst schon die Lösung der Not, weil es die Trennung von Gott überwindet. Der schuldige Mensch ist der von Gott getrennte Mensch. Auffälligerweise bittet der Beter des Psalmes nun aber nur um das Hören Gottes, während eine Bitte um Vergebung fehlt. Dieses Fehlen hat zwei Gründe. Zum einen gilt, dass mit der Bitte um Gottes Hören die Bitte um Vergebung letztlich mitgesetzt ist. Ein Aufrechnen der Schuld würde zum Ende des Gotteskontaktes führen und ein Hören Gottes verhindern. Der zweite Grund ist der wichtigere. Der gesamte Psalm ist von einer großen Gewissheit geprägt. Was er erbittet, ist ihm nicht zweifelhaft: Denn bei dir ist die Vergebung, dass man dich fürchte. (V.4)
Hier wird die Gestalt der Aussage gewählt, um etwas zu erbitten, dessen Gewährung dem Bittenden völlig sicher ist, weil ohne es jeglicher Gotteskontakt aller Menschen unmöglich wäre. Während V.3 sagt, wie der Mensch vor Gott steht – nämlich stets als der Schuldige –, so sagt V.4, wie sich Gott gegenüber dem Menschen verhält – nämlich als der Vergebende. Was der Beter dieses Psalmes erbittet, ist schon im Voraus gegeben, anders ausgedrückt: Die Gemeinde bittet hier um das, worauf sie beruht, um die Grundlage ihrer Existenz als Gemeinde: eben die Vergebung. Aber sie bittet um diese Vergebung, indem sie Gott als den Vergebenden bekennt. Sie drückt damit aus, dass sie ohne Erfüllung der Bitte gar nicht leben und schon gar nicht beten könnte9. Die erfüllte Bitte hat ein Ziel: „… dass man dich fürchte“. So gewiss der Begriff der „Gottesfurcht“ in unserer Sprache nicht sehr geläufig ist, so ist doch für das Alte Testament mit ihm Unüberbietbares gesagt. „Gottesfurcht“ ist eine nicht mehr zu steigernde Beschreibung eines intakten Gottesverhältnisses. Zwei Beispiele möchten dies näher erläutern: a) Über allem Bemühen um Weisheit und Gotteserkenntnis im Alten Testament steht als Leitvers der Satz aus Spr 1,7: „Die Furcht Jahwes ist der Anfang (aller) Erkenntnis“. Er will zum Ausdruck bringen, dass an der „Gottesfurcht“ schlechterdings alles Verstehen im Leben hängt. Wo sie vorhanden ist, ist Einsicht möglich, wo nicht, entsteht menschliche Hybris (Jes 5,21 u.ö.). Gemeint ist mit dem Begriff ein Wissen des Menschen um seine Grenzen, das nicht in Resignation, sondern in eine letzte Geborgenheit in Gott führt, die
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Vgl. dazu J. J. STAMM, Erlösen und Vergeben im Alten Testament, Bern 1940.
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Gotteslob und Gottesferne in den Psalmen
den Menschen in die Lage versetzt, die Gaben seines Verstandes in die rechte Richtung zu lenken. b) Worauf diese Geborgenheit gründet, sagt das andere Beispiel aus Gen 22. Dort wird ein Vertrauen auf Gott noch im tiefsten Dunkel, das der Erzvater Abraham durchschreiten muss, mit dem Begriff der „Gottesfurcht“ bezeichnet (V.12). „Gottesfurcht“ meint in Gen 22 die Gewissheit Abrahams, dass Gott auch dann noch Wege zum Heil weiß, wenn er scheinbar sein eigener Gegner geworden ist, indem er von Abraham den Verheißungsträger, den geliebten Sohn Isaak, fordert. „Gottesfurcht“ ist für Abraham das Ziel eines Weges, auf dem der Mensch keinerlei Licht erkennen kann. Das Ziel ist ein Vertrauen auf Gott, aus dem keine noch so unverständliche Erfahrung den Menschen mehr reißen kann. – Dieses Ziel, sagt Ps 130, erreicht Gott beim Menschen durch Vergebung. Die Vergebung nimmt danach den Platz ein, den nach Ex 20,20 die Offenbarung am Sinai innehat: Hier wird gesagt, dass Gott einzig dazu sich dem Gottesvolk offenbart hat, damit Israel ihn „fürchte“. 2.3. Die Hoffnung Die Gewissheit des Beters in Ps 130, dass seine Bitte von Gott erhört wird, weil Gott der Vergebende ist, führt ihn dazu, am Schluss des Psalmes eine doppelte Hoffnung auszudrücken. Der erste Teil seiner Hoffnung ist auf die unmittelbare Gegenwart seines Lebens bezogen, die zweite auf die endzeitliche Zukunft der Gemeinde als ganzer. Der erste, auf die Gegenwart bezogene Teil der Hoffnung ist in besonders kurzen Sätzen formuliert und lautet im hebräischen Text so: Ich hoffe auf Jahwe, meine Seele hofft, ja, auf sein Wort harre ich. Meine Seele (hofft) auf den Herrn, mehr als die Wächter auf den Morgen, ja, die Wächter auf den Morgen. (V.5f.)
Solche Formulierungen der Hoffnung werden grundsätzlich in vielen Psalmen geäußert. Aber in der ganz überwiegenden Mehrzahl der Gebete des Psalters steht ein derartiger Ausdruck der Hoffnung vor der folgenden Bitte und nicht nach ihr. Als beliebiges Beispiel soll Ps 39,8f. dienen: Doch nun, worauf soll ich hoffen, Herr? Mein Harren gilt dir allein. Errette mich …!
In Ps 39 ist damit deutlich hervorgehoben, dass sich die Hoffnung des Menschen in der Not allein darauf richten kann, dass Gott ihn aus dieser Not retten wird. Ganz anders setzt Ps 130 die Akzente. Das Wort Gottes, auf das der Betende hier hofft, ist nicht die Zusage der Rettung aus konkreter Einzelnot,
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sondern vielmehr die Zusage, dass Gott der ist und bleibt, als der er schon zuvor vom Beter gepriesen wurde: der Vergebende. Das Wort Gottes, das Reden Gottes, ist die Weise, auf die er mit den Menschen Kontakt hält, ihnen nahe bleibt, auf die er die Bitte des Psalmes: „Herr, höre meine Stimme …“ erfüllt. Um es deutlicher auszudrücken: Das Wort, auf das der Beter mit seinem ganzen Leben harrt, ist nicht wie in den älteren Psalmen die Zusage der definitiven Beendigung einer Einzelnot, sondern ist als Zusage der Vergebung ein Wort, auf das der Betende ständig angewiesen ist, ohne das er nicht leben könnte, weil er ohne es aus dem heilvollen Kontakt mit Gott herausgerissen wäre. Weil an diesem Reden Gottes alles für ihn hängt, wird die Intensität seines Hoffens so stark betont; wie Wächter das Ende der gefährlichen Nacht sehnsüchtig erwarten, so und noch mehr der Beter die Vergebung, d.h. das Nicht-Eintreten seiner Trennung von Gott. Indem an dieser Stelle die Anrede an Gott verlassen wird und der Beter von Gott in der 3. Person spricht („Ich hoffe auf den Herrn“), bekommt der Psalm bewusst etwas Lehrhaftes. Seine Sehnsucht nach dem vergebenden Wort Gottes drückt der Beter deswegen so ausführlich aus, weil er die anderen Glieder der Gemeinde dazu bewegen möchte, ihre Abhängigkeit von diesem vergebenden Wort zu erkennen und ebenso wie er selber auf dieses Wort zu hoffen. Im zugewachsenen Schlussteil des Psalmes10 greift die Hoffnung des Gebetes aber noch weit über die Gegenwart hinaus und richtet sich auf die Vollendung der Welt. Israel hoffe auf Jahwe; denn bei Jahwe ist die Güte und viel Erlösung bei ihm. Ja, er wird Israel erlösen von allen seinen Sünden. (V.7f.)
Am Schluss des Psalmes wird deutlich, dass das Gebet, in dem bisher immer eine Einzelstimme im Ich-Stil laut wurde, zumindest in seiner überlieferten Gestalt in den Gottesdienst der Gemeinde hineingehört. Das Vertrauen, das in dem Gebet bisher zum Ausdruck kam, ist seinem Charakter nach überindividuell und generell (V.3f.) und wird daher Gott von allen Gliedern der Gemeinde entgegengebracht. Es wird noch dadurch untermauert, dass nach V.3f. auch in V.7 wiederum zwei Aussagen über Gott gemacht werden, die ständige Gültigkeit beanspruchen und nicht nur eine spezielle Einzelerfahrung betreffen: Wie er nach V.4 der Vergebende ist, so nach V.7 der Gütige und der Erlösende. Der Ausdruck der „Güte“ Gottes bezeichnet dabei in der Ursprache eine Erfahrung Gottes, die zum einen verlässlich ist, weil sie sich an einer schon vorgegebenen Beziehung orientiert und ihr entspricht, die zum anderen aber in dieser Beziehung alles rechtens zu Erwartende weit übertrifft. Beide 10 Vgl. zum Nachweis des Wachstums des Psalmes A. SZÖRENYI, Psalmen und Kult im Alten Testament, Budapest 1961, 554ff.; SCHMIDT, Gott und Mensch, a.a.O. (Anm. 5), 251.
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Elemente sind für den Psalm entscheidende Merkmale der Erfahrung von Vergebung. Ganz ungewöhnlich – und im Alten Testament singulär – ist aber nun die zweite Aussage über Gott. Zwar wird Gott häufig als der Erlöser gepriesen, aber wo das Alte Testament diesen Begriff gebraucht, meint es üblicherweise entweder die Erlösung aus Ägypten am Anfang seiner Geschichte, durch die Israel überhaupt erst zum Gottesvolk wurde, oder aber später die Erlösung aus dem Exil. Es gibt – außerhalb von Ps 130 – im Psalter nur zwei (späte) Ausnahmen, die nicht zufällig jeweils einen Psalm beschließen: Erlöse Gott, Israel, aus allen seinen Nöten! (Ps 25,22) Jahwe erlöst das Leben seiner Knechte, lässt nicht zuschanden werden alle, die sich auf ihn verlassen. (Ps 34,23)
Beide Belege gebrauchen bewusst eine schillernde Sprache. Sie geben nicht deutlich zu erkennen, ob mit der Not, aus der erlöst wird, eine äußere oder innere Not gemeint ist bzw. aus welcher Bedrohung das Leben der „Knechte Jahwes“ befreit wird. Keiner der beiden Parallelbelege geht aber annähernd so weit wie Ps 130,8. Die Erlösung von Schuld, d.h. die endgültige Beseitigung aller Schuld, ist eine parallellose Bitte im Alten Testament, mit der Ps 130 ins Neue Testament hineinreicht. Die Erfahrung der Vergebung als Ermöglichung eines ununterbrochenen Kontaktes mit Gott trotz aller menschlichen Schuld lässt die Hoffnung nicht mehr Halt machen vor der Vision eines Gottesvolkes, das ohne alle Schuldbelastung ist. Hier wird die Bitte von Ps 130 zur eschatologischen Bitte. Ein irgendwie gearteter Anspruch des Menschen auf die Einlösung dieser Erwartung besteht nicht; sie ist einzig in Gottes „Güte“ (V.7) begründet.
3. 1) In Ps 130 werden die vielfältigen menschlichen Nöte, in denen ältere Gebete des Psalters das Einbrechen der Todesmacht ins Leben bezeugen, auf eine einzige Grund- und Basisnot reduziert: die Gottesferne aufgrund der Schuld des Menschen. Im Blick auf die Voraussetzungen im menschlichen Handeln ist sie keine je und dann auftretende akute, sondern eine ständige Not, die zudem allen Menschen gemeinsam ist, weil ihnen ein Leben ohne Schuld vor Gott unmöglich ist (V.3). So müsste die Todesmacht der „Wassertiefen“ die Menschen eigentlich permanent in den Abgrund reißen. Charakteristisch für Ps 130 ist jedoch, dass nicht darum gebeten wird, dass dies nicht geschieht, sondern Gott als der Vergebende und Gütige bekannt wird. Wäre Gott nicht der Vergebende, wären alle Menschen verloren.
15. Psalm 130 und Luthers Psalmlied
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2) Allerdings genügt dem Psalm dieses Wissen nicht. Vielmehr muss die Vergebung ständig von neuem zugesprochen werden. Darum wird die Bitte um Gottes immer neues Hören und sein immer neues antwortendes Reden geäußert. Darum sehnt sich der Beter so intensiv nach dem Wort Gottes, das – wie beim Wächter der Morgen – seine „Nacht“ beendet, obwohl er ganz und gar gewiss ist, dass der Zuspruch ergehen wird. . 3) Wesentlich ist zudem, dass der Zuspruch den Menschen in einer doppelten Weise verändert. a) Der Mensch weiß immer mehr von seiner völligen Angewiesenheit auf Gott, die ihn vor aller Selbstüberschätzung bewahrt, und er weiß immer mehr von einer Güte Gottes, die alle seine Erwartungen und Vorstellungen übertrifft. Beides zusammen bestimmt im Alten Testament den Begriff der „Gottesfurcht“ (V.4). b) Aufgrund solcher Erfahrung kann seine Hoffnung sich mit nicht weniger begnügen als mit der Erwartung einer „Erlösung von aller Schuld“, d.h. eines Gotteskontaktes, der durch keine noch so verborgenen Züge hybriden Selbstvertrauens mehr beeinträchtigt ist. Es ist vor allem anderen Luthers Verdienst gewesen, diesen Gedankengang des Psalmes überhaupt erst wieder offengelegt zu haben. Dabei war ihm das 1509 in Paris erschienene „Quincuplex Psalterium“ des Jacobus Faber Stapulensis eine willkommene Hilfe, mit dem Faber den nur begrenzten Wert der Vulgata aufweisen wollte. Unter den mancherlei Abweichungen der Vulgata vom hebräischen Text in Ps 130 war die bei weitem gewichtigste am Schluss von V.4 zu finden, wo die Vulgata, der griechischen Texttradition folgend, zwar äußerlich nur den letzten Buchstaben des letzten Wortes änderte (statt תוראim MT: תורהbzw. )תורתך, aber mit „propter legem tuam“ einen völlig neuen Gedanken in den Psalm brachte, den sie – wie schon die LXX zuvor – auf den ersten Satz in V.5 bezog: „Um deines Gesetzes willen hoffe ich auf dich, Herr“. Luther ist dieser Gedanke, der stilistisch die poetische Diktion des Urtextes vernachlässigt, sachlich unerträglich gewesen. „Aus der Gerechtigkeit des Gesetzes geht nichts andres hervor als Abgötterei. Und insbesondere die Werkgötterei ist Abgötterei, denn sie bildet sich einen andern Gott ein und betet im Grunde nur sich selber an … Weil es denn also nicht anders sein kann, als dass Gott bei unserer Werkgerechtigkeit seinen Namen und Gottesdienst, seine Majestät verliert und nicht mehr gefürchtet wird, so kann es nichts Besseres geben, als dass Gott spricht: Ich will Gott bleiben, ich will geliebt, geehrt und gefürchtet sein, und darum spreche ich: Ihr sollt umsonst gerechtfertigt werden, damit ihr mich nicht verachtet und nicht vermessen werdet … Gott fürchten und ehren und aus dem Gesetz gerecht werden wollen, dies beides widerstreitet einander mehr als Feuer und Wasser, als Gott und der Teufel.“
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Unmittelbar zuvor heißt es: „Wenn wir außerhalb der Vergebung der Sünden oder außerhalb der Gnade Gottes stehen und nichts von Gottes Durch-dieFinger-Sehen und Nicht-Zurechnen wissen, dann sind wir verloren … Denn unsre Gerechtigkeit besteht darin, dass Gott nichts von unseren Sünden weiß, sondern sie umsonst vergibt. Da ist ein Mönch nicht besser als eine Ehefrau … Dieser Vers (gemeint ist die Zusage der Vergebung) ist die Summe und Sonne christlicher Lehre, die die heilige Kirche Gottes erleuchtet. Mit diesem Artikel steht und fällt die Kirche. Darum bläue ich ihn so oft ein, er kann auch nicht genug eingebläut werden … Bei dir ist die Vergebung – das ist die Gerechtigkeit, Erlösung, Errettung im Reich Gottes und das Faktotum der Kirche“11. In der Tat verbindet sich in keinem anderen Klagepsalm die Hoffnung eines Einzelnen oder auch der Gemeinde mit dem Gesetz. In Ps 130 ist ein solcher Gedanke durch das unmittelbar zuvor stehende Bekenntnis zu Gottes Vergebung praktisch ausgeschlossen12. Jedoch war der Streit um das rechte Verständnis von Ps 130,4–5 keineswegs rein akademisch, Wie schon eingangs erwähnt, war Ps 130 seit altkirchlicher Zeit unter anderem bei Begräbnisfeiern rezitiert worden, wie es noch heute bei der Kirchen sowohl des Ostens als auch des Westens verbreiteter Brauch ist. Zu Luthers Zeiten war er insbesondere für Seelenmessen genutzt worden. Der Anfang des Psalmes: „Aus Wassertiefen rufe ich, Jahwe, zu dir …“ war auf die im Fegefeuer schmachtenden Seelen bezogen worden. Gegen diesen Gebrauch des Psalmes hat Luther intensiv und mit Erfolg gekämpft. In einer Predigt aus dem Jahre 1534 hat er ihn im Rückblick so kommentiert: „Man soll das nicht vergessen und, so oft wir diesen Psalm ansehen, Dank sagen, weil wir aus solchem Irrtum und solcher Marter erlöst sind. Der Psalm hätte uns zum Trost dienen sollen, aber er hat uns geplagt“13. Luther sah sich also einem Gebrauch des Psalmes in der Kirche seiner Zeit gegenüber, durch den dieser in sein Gegenteil verkehrt wurde. Der Psalm, der die Angewiesenheit aller Menschen auf die Vergebung Gottes ausdrückt, war zu einem Instrument geworden, durch das Menschen in Angst und Zweifel versetzt wurden; durch diese Angst wurden sie aber nicht auf Gott gewiesen, sondern auf kultische Ersatzleistungen der Kirche, die sie teuer bezahlen mussten. Aus der Zusage der Güte Gottes im Psalm war die Furcht geworden, dass die kultische Handlung nur ja auch pünktlich erfolge und häufig genug dargebracht würde. Genau das ist für Luther „Werkgerechtigkeit“, von der im oben genannten Zitat die Rede war. Demgegenüber betont er in seinen Predigten immer wieder, dass wir allein 11
WA 40 III, 348ff., zit. nach E. MÜHLHAUPT (Hg.), Luthers Psalmen-Auslegung, 3. Band, Göttingen 1965, 556–558. 12 Vielleicht ist die innergriechische Textvariante „um deines Namens (onoma) willen“ statt „um deines Gesetzes (nomos) willen“ auf diese sachliche Schwierigkeit zurückzuführen. 13 WA 37,520f., zit. nach MÜHLHAUPT, Psalmen-Auslegung, a.a.O. (Anm. 11), 562.
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aus Gnade vor Gott gerecht geworden sind, dass aber das Wissen um die Vergebung zu guten Werken treibt, zur Liebe des Nächsten. „Jetzt soll er (d.h. der Psalm) reiche Beute machen, zuvor hat er sich lassen schinden“14. Die „reiche Beute“ repräsentiert mehr als alles andere Luthers Psalmlied, das Generationen von protestantischen Gottesdienstbesuchern geprägt hat. Da Luther den Psalm stets außerordentlich geschätzt hat15, hält sich seine Nachdichtung ungewöhnlich eng an den biblischen Wortlaut und zeigt in ihren kongenialen Sprachformen primär, wie genau Luther den Text gelesen und ihn sich vergegenwärtigt hat. Vornehmlich in den Mittelstrophen 2 und 316 hat er die Form der Paraphrase bewusst verlassen und interpretierende Aussagen gebildet, die keine unmittelbare sprachliche Vorlage im Psalm finden17. Es sind die Kernsätze seines Verständnisses des Psalmes: Bei dir gilt nichts denn Gnad und Gunst, die Sünde zu vergeben. Es ist doch unser Tun umsonst, auch in dem besten Leben. Vor dir niemand sich rühmen kann, des muss dich fürchten jedermann und deiner Gnaden leben. Darum auf Gott will hoffen ich, auf mein Verdienst nicht bauen. Auf ihn mein Herz soll lassen sich und seiner Güte trauen, die mir zusagt sein wertes Wort. Das ist mein Trost und treuer Hort, des will ich allzeit harren.
Am Anfang der 2. Strophe hat Luther in Vorwegnahme des Gedankens, den wir oben aus seiner Vorlesung über die Stufenpsalmen von 1532/33 zitierten, den Gliedern seiner Gemeinden unüberhörbar einzuschärfen versucht, dass es 14
A.a.O. Er gehörte für ihn neben drei anderen Bußpsalmen (32.51.143) zu den zentral „Psalmi Paulini“ (WA TR 1, Nr. 390f., S. 374f.). 16 Mit G. HAHN, Evangelium als literarische Anweisung. Zu Luthers Stellung in der Geschichte des deutschen kirchlichen Liedes, München 1981, 259, gehe ich davon aus, dass die kürzere vierstrophige Fassung (WA 35,421f.) gegenüber der fünfstrophigen (WA 35,419f.) „wohl am zwanglosesten als eine überbotene und überholte Vorstufe anzusehen ist“. So auch J. BROSSEDER, „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“. Theologische Marginalien zu den Eingangsversen von Luthers gleichnamigem Lied, in: H. Becker/R. Kaczynski (Hg.), Liturgie und Dichtung. Ein interdisziplinäres Kompendium, Bd. I, St. Ottilien 1983, 645–657, hier 647f. 17 Darüber hinaus hat er in der 4. Strophe den Begriff „Israel“ ausgelegt als „Israel rechter Art, der aus dem Geist erzeuget ward“, und in der 5. Strophe mit „Ob bei uns ist der Sünden viel, bei Gott ist viel mehr Gnaden“ einen Satz geprägt, den er in der 2. Ausgabe der Bußpsalmen mit 1Joh 3,20 begründet (WA 18,520,32–35). 15
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kein noch so wertvolles Handeln des Menschen gibt, durch das er aufhören würde, auf Gottes Vergebung angewiesen zu sein („… auch in dem besten Leben“). Luther zeigt damit deutlich, dass er den Psalm gar nicht anders als paulinisch verstehen kann und verdeutlicht dies durch ein explizites PaulusZitat („vor dir niemand sich rühmen kann“). Das „Rühmen“ des Menschen wäre nämlich der genaue Gegensatz zu der „Gottesfurcht“, die im Psalm Ziel des Bekenntnisses zum vergebenden Gott ist, zugleich aber die Hoffnung der Verse 5ff. begründet, auf die es Luther entscheidend ankommt18. Das „Rühmen“ ist die extremste Form jenes Selbstvertrauens, von dem die 3. Strophe spricht („… auf mein Verdienst nicht bauen“). Indem Luther den Psalm in paulinischen Kategorien nachspricht, werden zugleich die impliziten didaktischen Töne des Psalmes verstärkt. Der Mensch kann, der 3. Strophe des Liedes gemäß, nur entweder „auf Gott hoffen“ oder aber „auf sein Verdienst bauen“. Beide Aussagen schließen einander radikal aus. Zu dem erstgenannten Verhalten will das Lied locken, vor letzterem dringend warnen. Interessant ist nun, dass die Auseinandersetzung um das Verständnis des Textes von Ps 130 bis in unsere Zeit hineinreicht. In einem Gesangbuch der katholischen Kirche aus Mainz mit dem Titel „Gelobt sei Jesus Christus“19 wird Luthers Nachdichtung des 130. Psalmes aufgegriffen und zugleich bewusst verändert. Die oben zitierte 2. Strophe des Liedes lautet nun so: Bei dir, Herr, ist der Gnade viel, die Sünden zu vergeben. Herr, dein Gesetz führt uns zum Ziel, wenn wir nach ihm nur leben …
Die Lesart der Vulgata zu V.4: „propter legem tuam“ ist hier voll und betont in die Nachdichtung eingegangen. Freilich ist nun eine Aussage entstanden, die dem Gedankenduktus des Psalmes diametral entgegengesetzt ist. Das seit 1975 gebrauchte katholische Einheitsgesangbuch „Gotteslob“ hat diese Veränderung des Lutherliedes daher auch nicht mitgemacht, aber auch nicht Luthers Lied übernommen, sondern eine Kompromissform gewählt (Lied Nr. 163): Es steht bei deiner Macht allein, die Sünde zu vergeben, auf dass dich fürchte Groß und Klein, du einzig Heil und Leben …
18
Ein seltsames Missverständnis sowohl des Psalmes als auch der Deutung Luthers bietet die Auffassung von H. KURZKE, die Zielangabe der Gottesfurcht zeige, dass die Vergebung in Ps 130 „um Gottes, nicht um des Menschen willen“ erfolge (Säkularisation oder Realisation? Zur Wirkungsgeschichte von Ps 130 [„De profundis“] in der deutschen Literatur von Luther bis zur Gegenwart, in: H. Becker/R. Kaczynski [Hg.], Liturgie und Dichtung. Ein interdisziplinäres Kompendium, Bd. II, St. Ottilien 1983, 69). 19 Zitiert bei KURZKE, a.a.O., 75.
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Aus Luthers „… auch in dem besten Leben“ – mit dem er die Möglichkeit ausschließen wollte, dass der Mensch sich durch noch so vorbildliches Handeln seine Seligkeit selbst verdienen könnte – ist hier eine ziemlich nichtssagende hymnische Formel geworden: „… du einzig Heil und Leben.“ So gewiss Luthers Deutung des 130. Psalmes in der Theologie der katholischen Kirche der Gegenwart letztlich nicht umstritten ist, so wird doch nach wie vor der Gemeinde in ihrem Gottesdienst nur ein „gereinigter“ Luther zugemutet bzw. zugetraut20.
20
Mit diesen Ausführungen möchte ich den Kollegen und Freund Reinhard Schwarz zu seinem Ehrentag grüßen. Über viele gemeinsame Erfahrungen hinaus verbindet mich mit ihm ein für mich unvergessliches gemeinsames Seminar zu exemplarischen Beispielen der Psalmenauslegung in der Geschichte der Kirche, bei dem Luthers Auslegung das Zentrum bildete. An dieses Seminar knüpfen die voranstehenden Überlegungen an.
16. Ps 100 als Auslegung von Ps 93–99* In mehrfacher Hinsicht ist Ps 100 ein ungewöhnlicher Psalm: 1) Formal zeigt er eine unverwechselbare Besonderheit darin, dass er Trikola nicht nur – wie zahlreiche andere Psalmen – in einzelnen Versen, sondern durchgehend verwendet. Es bilden in ihm jeweils drei poetische Versglieder eine Sachaussage. 2) Redaktionsgeschichtlich gehört er zu den wenigen Psalmen, von denen die gegenwärtige Forschung zu sagen vermag, dass sie einzig an der Position, in der sie im Psalter stehen, denkbar sind, ja dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit für diese Position geschaffen wurden. 3) Inhaltlich ist seine Intention überaus kühn, insofern er auf ungewöhnliche Weise traditionell partikularistische Israel-Aussagen mit universalen Völker-Aussagen verbindet.
1. Trikola sind in den Psalmen, wenn sie nicht isoliert stehen, häufig ein Indiz für die Berührung alttestamentlicher Poesie mit kanaanäischer Dichtung, wie sie uns in den Texten von Ras Schamra, dem antiken Ugarit, entgegentritt. Vor allem der große Amerikaner W. F. Albright hat in zahlreichen Studien auf diese Nähe aufmerksam gemacht und insbesondere darauf verwiesen, wie bei den Trikola die formale Nähe zwischen biblischer und ugaritischer Poesie mit einer inhaltlichen Nähe Hand in Hand geht 1. Lange vor Albright hatte H. L. Ginsberg schon in den Jahren der Pionierarbeit an den ugaritischen Texten erkannt, dass Trikola in Ugarit häufig in der Gestalt des „repetierenden“ oder aber (S. R. Driver, Albright) „klimaktischen“ Parallelismus gehalten sind, bei dem die ersten beiden Wörter der jeweils ersten beiden Kola iden-
* In den vergangenen Jahren habe ich mich – in Südafrika wie in Europa – überaus häufig mit Willem S. Prinsloo über Probleme der Psalmenexegese unterhalten. Nun ist dieses Gespräch so unerwartet plötzlich an sein Ende gekommen; im Rückblick erscheint es nur umso kostbarer. Die folgenden Ausführungen sollen ein Zeichen der Dankbarkeit für die Begegnungen sein; sie seien seiner Frau Avrille gewidmet. 1 Grundlegend in seinem Aufsatz „The Psalm of Habakkuk“, in: H. H. Rowley (Hg.), Studies in Old Testament Prophecy (presented to Th. H. Robinson), Edinburgh 1950, 1–18; 3–8.
16. Ps 100 als Auslegung von Ps 93–99
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tisch sind2. In solchen Fällen trägt das dritte Kolon, das die neue Sachaussage bringt, den Hauptton (daher Drivers und Albrights Begriff „klimaktisch“). Im Alten Testament ist die poetische Form der repetierenden Trikola äußerst selten. Sieht man von Variationen wie Ps 29,1f. und Ps 118,15f. ab, bleiben – ohne Anspruch auf Vollkommenheit – Ps 77,17(–20); 92,10; 93,3 (–5) und Hab 3,8. Da alle genannten sechs Texte um den Themenkreis Chaoskampf und göttliches Königtum kreisen und dabei eine überaus enge sprachliche Nähe zu Texten aus Ugarit zeigen, wird deutlich, wie das alttestamentliche Israel mit der Form der (repetierenden) Trikola auch die Themen „kanaanäischer“ Hymnen übernahm. Was haben dann aber die sehr andersartigen Trikola von Ps 100 mit den archaischen bzw. archaisierenden Aussagen der genannten Psalmen zu tun? Sie haben sich a) einerseits formal aus ihnen entwickelt und bleiben b) redaktionsgeschichtlich auf sie bezogen. Ich beginne mit dem Letzteren. Wie im folgenden Abschnitt ausführlicher auszuführen sein wird, bilden die Psalmen 93–100 die Kerngruppe der Komposition des 4. Psalmbuches (Ps 90–106); es handelt sich um jene Psalmen, die um das Thema des Königtums Gottes kreisen. In diesem Zusammenhang ist nun höchst auffällig, dass nicht nur Ps 100, sondern auch Ps 93 von Trikola geprägt ist. Allerdings besteht insofern ein wichtiger Unterschied, als Ps 93 in seinem zweiten Teil (V.3–5) sozusagen „klassische“ Trikola bietet, die mit einem repetierenden Parallelismus einsetzen, und Hand in Hand damit „klassische“ Themen von Psalmen mit Trikola behandelt: 3 Es erhoben Fluten, JHWH, es erhoben Fluten ihr Brausen, (ja ständig) erheben Fluten ihr Tosen! 4 Mehr als das Brausen mächtiger Wasser, gewaltiger als die Brecher des Meeres ist gewaltig in der Höhe JHWH. 5 Deine Setzungen sind wahrhaft zuverlässig; deinem Haus gebührt Heiligkeit, JHWH, für die Dauer der Tage3.
Am Anfang der Verse steht das Erschrecken der Gemeinde angesichts bedrohlich chaotischer Mächte, das im angstvollen Vokativ „Jahwe“ in V.3 zum Ausdruck kommt; es findet seine Entsprechung in anderen Trikola mit repetierendem Parallelismus, die ebenfalls im 1. Kolon den Vokativ „Jahwe“ in der Gebetsanrede bieten (Ps 77,17; Hab 3,8). Am Ende der Verse steht mit 2 Orientalia 5 (1936) 171; vgl. C. H. GORDON, Ugaritic Textbook. Grammar (An Or 38), Rom 1965, 133. 3 Vgl. zur Begründung der Übersetzung J. JEREMIAS, Das Königtum Gottes in den Psalmen (FRLANT 141), Göttingen 1987, 15.
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V.5b wieder ein Vokativ „Jahwe“, aber nun in einem ganz anderen Ton: in der staunenden Anerkenntis, dass der Gott, der den vielfältigen Gefahren dieser Welt als der schlechthin Überlegene entgegengestellt wird (V.4), inmitten seines Volkes auf dem Zion Wohnung genommen hat, und zwar für alle Zeiten. Alle folgenden Psalmen, einschließlich Ps 100, setzen die Wohnung des weltüberlegenen Gottes auf dem Zion voraus. Wenn nun Ps 100 in seiner Gestaltung in Trikola auf Ps 93 bezogen erscheint, so ist er formal als der andere Rahmenpsalm der Kerngruppe Ps 93– 100 kenntlich gemacht; keiner der dazwischenstehenden Psalmen 94–99 ist von Trikola (im Plural) geprägt. Allerdings bietet nun Ps 100 keineswegs mehr „klassische“ (repetierende) Trikola, bei denen das letzte der drei Kola den Hauptton trägt. Vielmehr steht bei der Mehrzahl der Trikola in Ps 100 das erste Kolon separat, gefolgt von zwei Kola im parallelismus memborum (A/B+C); nur das 3. Trikolon (V.4) ist gegenläufig (A+B/C) gestaltet. 1 Jauchzt JHWH zu, ganze Erde! 2 Dient JHWH mit Freude, kommt vor sein Angesicht mit Frohlocken! 3 Erkennt, dass JHWH – (nur) er! – Gott ist: Er hat uns geschaffen, so gehören wir ,ihm‘4, sind sein Volk und Schafe seiner Weide. 4 Kommt in seine Tore mit Danken, in seine Vorhöfe mit Loben; preist ihn, segnet seinen Namen! 5 Denn JHWH ist gut; seine Huld währt für alle Zeiten, seine Treue von Geschlecht zu Geschlecht.
Diese vier „modernen“ Trikola lassen sich auf zweierlei Weise untergliedern: 1) Drei der vier Trikola sind im Imp. pl. gestaltet und rufen eine universale Gemeinde (V.1) zum gottesdienstlichen Lob auf. Davon unterscheidet sich das vierte und letzte Trikolon (V.5), das, mit כיeingeleitet, formal die Begründung für die Imperative liefert, sachlich den Gegenstand des Lobes nennt, zu dem aufgerufen wird5. 4 Ein klassisches Ketib-Qere-Problem, bei dem die Auffassung des Ketib (לא: „Er hat uns geschaffen und nicht wir selbst“) genauso sinnvoll ist wie diejenige des Qere. Jedoch sprechen die traditionsgeschichtlichen Parallelen (s.u. 2.) für das gut bezeugte Qere. 5 Vgl. zu dieser Doppelfunktion des כיbei imperativischen Hymnen F. CRÜSEMANN, Studien zur Formgeschichte von Hymnus und Danklied in Israel (WMANT 32), NeukirchenVluyn 1969, 24.32–35. Mit Recht wendet sich CRÜSEMANN, a.a.O., 68, gegen die Aufteilung des Psalms in zwei Strophen durch H. Gunkel und H. J. Kraus in ihren Kommentaren (aufgrund einer fragwürdigen Deutung des andersartigen כיin V.3). Leider leidet auch die schöne Auslegung von N. LOHFINK, „Die Universalisierung der ,Bundesformel‘ in Ps 100,3“, ThPh 65 (1990) 172–183, unter der falschen Gliederung im Anschluss an Gunkel.
16. Ps 100 als Auslegung von Ps 93–99
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2) Zwei der drei imperativischen Trikola (V.1f. und 4) rufen zum Vollzug des Gottesdienstes und des Lobens Gottes in ihm auf. Das dazwischen stehende mittlere Trikolon (V.3) dagegen ruft in einer für Hymnen analogielosen Art zur Erkenntnis Gottes auf, die im Folgenden näher inhaltlich expliziert wird. Die zentrale Position dieses Trikolons wird auch daran deutlich, dass es zwischen den beiden einzigen wiederholten Imperativen („ באוtretet ein“, „kommt“) in V.2b und V.4a steht. Bevor diese formale Beobachtung inhaltlich ausgewertet werden soll (u. Kap. 2.), ist aber noch einmal auf die Trikola zurückzukommen. Am zentralen V.3 wird deutlicher als an V.1f. und V.5, warum das erste – und nicht wie bei den „klassischen“ repetierenden Trikola das letzte – Kolon den Ton trägt: Es ruft programmatisch zur Gotteserkenntnis auf, die in den folgenden Kola B+C im parallelismus membrorum inhaltlich expliziert wird. Entsprechend wird im ersten Trikolon V.1f. das „Jauchzen“ des Festgottesdienstes im folgenden parallelismus expliziert und im letzten Trikolon V.5 die allem gottesdienstlichen Lob zugrunde liegende Güte Gottes. Demgegenüber handelt es sich im anders strukturierten V.4 (A+B/C) um eine explizierende und präzisierende Wiederaufnahme des abschließenden Imperativs von V.2, die im letzten Kolon C, das den Ton trägt, den anfänglichen Aufruf zum Festjubel (V.1) in einer inclusio aufgreift und in zwei verschiedenen Verben näher ausführt (V.4b). Der vorherrschende Eindruck „moderner“ Trikola, bei denen das erste Kolon den Ton trägt, ist also in Ps 100 wesentlich von dem formal wie sachlich zentralen V.3 geprägt. Wie sogleich zu zeigen sein wird, war aber auch schon die Vorlage von V.3, die er modifiziert zitiert (Ps 95,7a), trikolisch gestaltet. Auch von dieser Beobachtung her erweist sich V.3 als das Zentrum des Ps 100. Es ist allerdings nicht unmöglich, dass auch Ps 93,5 seine Wirkung ausgeübt hat, da der Schlussvers dieses weit älteren Psalmes in der Logik seiner Trikola schon weit von den „klassischen“ repetierenden Trikola der Verse 3 und 4 entfernt ist. Denkbar ist solcher Einfluss angesichts der Tatsache, dass Ps 93,5 die Sphäre der mythisch-kosmischen Aussagen in V.3f. verlässt und sich der menschlichen Erfahrungswelt (schriftliche „Setzungen“ Gottes sowie sein Tempel auf dem Zion) zuwendet. Die Möglichkeit solchen Einflusses gilt allerdings nur unter der Voraussetzung, die das folgende Kapitel zu prüfen hat, dass Ps 100 schon in Kenntnis von Ps 93–99 als deren Abschluss verfasst worden ist.
2. Schon mehrfach ist beobachtet worden, dass Ps 100 ungewöhnlich viele Aussagen mit den unmittelbar vorangehenden Psalmen teilt, sei es wörtlich, sei es
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Gotteslob und Gottesferne in den Psalmen
sinngemäß6. Als Mindestes ist aus dieser Beobachtung zu folgern, dass Ps 100 sehr bewusst an seine jetzige Position gestellt worden ist, um den Abschluss der Untergruppe Ps 93–100 zu bilden7. Sehr wahrscheinlich trifft auch die weitergehende Folgerung zu, dass Ps 100 für diese Funktion gedichtet worden ist8. Zunächst ist festzuhalten, dass sich die evidenten Berührungen von Ps 100 mit benachbarten Psalmen auf die Psalmen 95–99 beschränken9. Wenn also, wie im vorigen Abschnitt gezeigt, die formale Struktur des Psalms wahrscheinlich an Ps 93 zurückerinnern soll, so werden inhaltlich die Aussagen der von Ps 93 und Ps 100 umrahmten Psalmen aufgenommen und zu einer neuen Synthese vereinigt. Ps 100 ist auf diese Weise nicht nur der Abschluss der Psalmengruppe 93–100, sondern – im Sinne der Komposition – auch ihr Höhepunkt. Es sind vor allem sechs Aussagen der vorangehenden Psalmen, die in Ps 100 „zitiert“ werden: 1) Die erste und die letzte Anspielung gelten Ps 98 und sind aufeinander bezogen zu deuten, zumal sie in Ps 98 zwei Nachbarverse betreffen. V.1b („Jauchzt Jahwe zu, ganze Erde!“) entspricht wörtlich Ps 98,4. Er sichert zunächst, dass Ps 100 wie die vorausgehenden Psalmen als Festhymnus mit dem Thema des Königtums Gottes zu verstehen ist, auch wenn letzteres nicht direkt bei Namen genannt ist. Denn das Verb רועhif., das in den Psalmen (mit Ausnahme von Ps 41,12) stets im Imp. pl. (bzw. Kohortativ) belegt ist, begegnet vorwiegend in Jahwe-König-Psalmen (Ps 47,2; 95,1f.; 98,4.6) und außerhalb ihrer in expliziten Festhymnen (Ps 66,1; 81,2). Dem entspricht, dass das Substantiv תרועה, wo es nicht im Kontext des Krieges steht, den Jubel der Menge bei der Königskrönung (Num 23,21; 1Sam 20,24 u.ö.) oder aber an herausragenden Festtagen (2Sam 6,15; Lev 23,24 u.ö.) bezeichnet. Gleichzeitig sichert V.1b den universalen Horizont des Psalmes.
6 Vgl. etwa die Auflistungen von Berührungen bei E. ZENGER, „Das Weltenkönigtum des Gottes Israels“, in: DERS./N. Lohfink, Der Gott Israels und die Völker (SBS 154), Stuttgart 1994, 167. 7 Vgl. dazu G. H. WILSON, The Editing of the Hebrew Psalter (SBL. DS 76), Chico (Calif.) 1985, 178f.; D. M. HOWARD, JR., The Structure of Psalms 93–100 (Biblical and Judaic Studies 5), Winona Lake 1997, 180f. 8 So K. KOENEN, Jahwe wird kommen, zu herrschen über die Erde (BBB 101), Weinheim 1995, 76. – Auf solche literarische Bezüge pflegte auch W. S. PRINSLOO sehr genau zu achten und sie – trotz aller seiner Vorbehalte gegenüber den spekulativen Seiten der historischkritischen Forschung – für eine Datierung zu nutzen; vgl. etwa „Psalm 146“ in: DERS., Van kateder tot kansel, Pretoria 1984, 136–153. 9 Allenfalls die Schlussaussage des Psalms in V.5b könnte einen sachlichen Bogen zu dem ähnlichen Abschluss des 1. Verses in Ps 90 schlagen wollen. Die weitergehenden Berührungen mit Ps 90, auf die KOENEN, Jahwe, a.a.O. (Anm. 8), 77, seine Argumentation stützt, scheinen mir ausnahmslos fragwürdig zu sein.
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2) Als Grund des universalen Lobes am Fest nennt Ps 100 im abschließenden Begründungssatz V.5 die Erfahrung immerwährender „Huld“ ( )חסדund „Treue“ ( )אמונהJahwes. Beide Substantive bestimmen auch Ps 98, in dem – in engem Anschluss an Deuterojesaja10 – die erfahrenen „Wunder“ der Rettung, die für Israel Anlass zum Singen eines „neuen Liedes“ sind (V.1f.), als Beweis der Bewährung von göttlicher „Huld und Treue“ (V.3) gepriesen werden. Während aber in Ps 98 Gottes „Huld und Treue“ von Israel erfahren werden und dieses Geschehen sich vor den Augen der Völkerwelt vollzieht (V.3b), die Völker also zu Zeugen des Heiles Israels werden und daraufhin selber der Erfahrung der Gerechtigkeit Gottes entgegensehen (V.9), ist solche Differenzierung in Ps 100 fortgefallen. Alle Welt wird zum Festjubel aufgrund unbegrenzter Erfahrung von Gottes „Huld und Treue“ aufgerufen. Hier wird eine Universalisierung von Traditionen erkennbar, die von Haus aus Geschichtstraditionen und als solche partikularistisch geprägt waren. Analoges ist an dem noch kühneren V.3 beobachtbar (s.u.). 3/4) Der zentrale V.3 in Ps 100 wird gerahmt von zwei Imperativen, die die Gemeinde zum „Kommen“ bzw. „Eintreten“ ( )באוauffordert (V.2b.4a). Möchte man diesen Aufruf auf den ersten Blick für ein Allerweltsthema halten, so lehrt ein Blick in die Konkordanz, dass der Imp.pl. „Kommt!“ in den Psalmen nur noch zweimal, in Ps 95,6 und Ps 96,8, belegt ist. Da in Ps 95,6 באוaber vor Kohortativen steht und von daher die Funktion einer Interjektion („auf!“) einnimmt, ist Ps 96,8 der näherliegende Bezugstext. Diese Annahme ist umso wahrscheinlicher, als in Ps 100 der generelle Imp.: „Kommt vor sein Angesicht mit Frohlocken!“ (V.2b) durch den spezifischeren und präziseren „Kommt in seine Tore mit Danken, in seine Vorhöfe mit Loben!“ (V.4a) expliziert wird, der in Ps 96,8 „(Tragt Gaben herbei und) kommt in seine Vorhöfe!“ seine unmittelbare Entsprechung findet. Sachlich ist die Aufnahme von Ps 96,8 in Ps 100,2.4 insofern bemerkenswert, als alle Belege für den Aufruf zur Wallfahrt bzw. zum Eintritt ins Heiligtum mit dem Verb בואim Imp. pl. außerhalb des Psalters an Israel gerichtet, also partikularer Perspektive sind (Am 4,4; Joel 1,13; Jer 50,5; 51,10). Auf diesem Hintergrund erscheint Ps 96,8 (und ebenso Ps 100,2.4. in dessen Gefolge) als höchst ungewöhnlich, was in Ps 96,7–9 auch daran erkennbar wird, dass in diesen Versen eine weit ältere Liturgie, die die himmlische Huldigung des Weltenkönigs zum Thema hat (Ps 29,1f.), „historisiert“ und auf die Völkerwelt übertragen wird. 5) Noch eine weitere Aussage in Ps 100 ist von Ps 96 her inspiriert. Der Abschluss der Imperative in Ps 100,4b, der den anfänglichen Aufruf zum Festjubel in V.1b expliziert, bringt zwei Verben zueinander, die in den Psalmen (außerhalb von Ps 145,10) nie ein Wortpaar bilden: „preist ihn“ ()הודו und „segnet ( )ברכוseinen Namen“. In Ps 145,10 ist die ungewöhnliche Zusammenstellung durch zwei ganz verschiedene Subjekte bedingt: Gott „prei10
Vgl. den Nachweis bei JEREMIAS, Königtum, a.a.O. (Anm. 3), 133f.
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Gotteslob und Gottesferne in den Psalmen
sen“ sollen „alle deine Werke“, ihn „segnen“ dagegen „deine Frommen“. In jüngerer Zeit hat K. Koch zu zeigen versucht, wie ganze Psalmengruppen bzw. -sammlungen sich dadurch voneinander unterscheiden, dass sie entweder das Verb „(Gott) segnen“ verwenden oder aber „ הודהpreisen“11. In der Gruppe der Jahwe-König-Psalmen begegnet „segnen“ mit Menschen als Subjekt nur noch in Ps 96,2 und dort mit dem gleichen Objekt wie in Ps 100,4: „deinen Namen segnen“12. In Ps 96,2 geht der Imperativ eine wiederum in den Psalmen singuläre Verbindung mit einem anderen Verb ein, dieses Mal mit dem Verb „ שׁירsingen“: „Singt JHWH, segnet seinen Namen!“ Wenn das geläufige Verb שׁירin Ps 100,4 durch הודהersetzt wird, so hängt das mit dem zugehörigen Substantiv תודהzusammen, das unmittelbar zuvor in V.4a steht. Wesentlich erscheint mir, dass beide Verben die Konnotation des Dankens in sich tragen13 (daher heißt auch die Überschrift: „ein Psalm zum Dank[-gottesdienst]“). Fragt man sich, wofür die Völker danken sollen, kann die Antwort nur lauten: für die in V.2 und V.4 ausgesprochene Zulassung zum Festgottesdienst, die ihre entscheidende Begründung in V.3 findet. 6) Waren die äußeren Rahmenaussagen in Ps 100 (V.1.5) von Ps 98 bestimmt und die inneren Rahmenaussagen (V.2.4) von Ps 96, so ist der zentrale V.3 von Ps 95 geprägt. Alle 3 Kola in V.3 sind abgewandelte Zitate aus Ps 95,7a. Man vergleiche Erkennt, dass JHWH – (nur) er! – Gott ist: Er hat uns geschaffen, so gehören wir ,ihm‘, sind sein Volk und Schafe seiner Weide.
mit: Denn er ist unser Gott, wir aber Volk seiner Weide und Schafe seiner Herde.
Ps 100 hat die eher ungewöhnliche Variante der sog. „Bundesformel“ in Ps 95,7 zugunsten der geläufigeren Formulierung verlassen, wie sie Ps 79,13 bezeugt: Wir aber sind dein Volk und Schafe deiner Weide.
Diese traditionelle Formel wird in Ps 100 aber nun – höchst ungewöhnlich, wenngleich der bisher beobachteten Tendenz des Psalms voll entsprechend – aus ihrem partikularen Verständnis gerissen und kühn auf die Völkerwelt an11 K. KOCH, „Der Psalter und seine Redaktionsgeschichte“, in: Neue Wege der Psalmenforschung (FS W. Beyerlin), hg. von K. Seybold/E. Zenger, Freiburg/Basel/Wien 1994, 243– 277. 12 Möglicherweise hat auch Ps 99: „Sie sollen deinen Namen preisen“ ( )יודוeingewirkt. 13 Für הודהvgl. CRÜSEMANN, Formgeschichte, a.a.O. (Anm. 5), 279ff.; für das „Segnen des Namens Gottes“ vgl. J. SCHARBERT, Art. ברך, ThWAT 1 (1973) 824.
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gewandt. In Ps 95 hatte sie noch dazu gedient, Israel als das Gottesvolk auf seine Erwählung hin anzusprechen und ihm in einer drohenden Warnpredigt seine Pflicht zum Gehorsam einzuprägen. In Ps 100,3 wird die Formel dagegen schöpfungstheologisch begründet und damit aus ihrer heilsgeschichtlichen Verankerung gelöst, um auf die Völker ausgeweitet zu werden. Hier findet in der Tat ein „Universalisierung der ,Bundesformel‘“ 14 statt. Allerdings vollzieht sich diese Umprägung der „Bundesformel“ nicht so, dass die Zusage, die sie an Israel enthält (Ps 95,7; 79,13), einfach ausgeweitet wird, sondern die Völker werden zur Erkenntnis aufgerufen. Damit betreten wir den Boden derjenigen Aussagen in Ps 100, die nicht von Ps 95–99 gedeckt sind.
3. Es sind vor allem zwei Aussagen in Ps 100, die im Blick auf Israels sonstige Hymnen als höchst ungewöhnlich bezeichnet werden müssen: 1) Der anfänglich Aufruf an die universale Gemeinde zum Festjubel (V.1b) wird in V.2a fortgeführt mit: Dienet JHWH mit Freude! Kommt vor sein Angesicht mit Frohlocken!
An diesem doppelten Imperativ ist natürlich nicht die gottesdienstliche Freude ( )שׂמחהauffällig, die im Psalter vielmehr überaus häufig wie in Ps 100,2b mit dem „Angesicht Jahwes“, d.h. mit seiner im Gottesdienst erfahrenen Nähe verbunden ist15. Wohl aber ist a) die Verbindung des Verbes Jahwe „dienen“ ( )עבדmit der Näherbestimmung „in/mit Freude“ singulär und b) der Imp. „dient“ sehr ungewöhnlich (nur noch Ps 2,11). Um mit dem Letzteren zu beginnen: Das Verb Gott „dienen“, in den Psalmen fast ausschließlich auf die Völker als Subjekt bezogen16, gehört üblicherweise in den Horizont zukünftiger Erwartung: unbekannte Völker (Ps 18,44), ja alle Völker (Ps 72,11) werden dem König als Gottes Stellvertreter dienen, alle Nationen werden auf dem Zion Jahwe dienen (Ps 102,23)17. Außerhalb von Ps 100,2 ruft einzig Ps 2,11 die Völker zum Dienen auf, aber das ist ein Aufruf an unbotmäßige und aufrührerische Völker, die daher Jahwe (und seinem Gesalbten) „in Furcht“ und „in Zittern“ dienen sollen, weil sie andernfalls von 14
So der Titel des oben Anm. 5 genannten Aufsatzes von LOHFINK zu Ps 100,3. Vgl. Ps 4,7f.; 16,11; 21,7; 43,3; 68,4; auch 97,11f. Andernorts bezieht sich die Freude auf Gottes Hilfe (Ps 30,12; 106,5; vgl. 51,10). 16 Ausnahmen: Ps 22,31 (nicht nur alle Welt, sondern auch kommende Generationen werden Jahwe dienen) und Ps 106,36 (Vorwurf an Israel, Göttern gedient zu haben). 17 Auf die politischen Konnotationen des Verbes „dienen“ macht J. L. MAYS, Worship, World, and Power. An Interpretation of Psalm 100, Int 23 (1969) 321f., mit Recht aufmerksam. 15
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Gotteslob und Gottesferne in den Psalmen
seinem glühenden Zorn verschlungen werden. Wie andersartig ist dagegen Ps 100,2 mit der Einladung an die Völkerwelt zum „Dienen mit Freude“, die kaum anders als bewusster Kontrast zu Ps 2,11 gelesen werden kann18. Denn ein „Dienen mit Freude“ ist ein Dienen in der Nähe und Gegenwart Jahwes, wie sie sonst Israel erfährt. Ps 100,2 stellt die Völker Israel gleich. 2) Allerdings bedarf es dazu einer Bereitwilligkeit, die der folgende V.3 so formuliert: Erkennt, dass JHWH – (nur) er – Gott ist!
Sooft auch in den Psalmen von Erkenntnis Gottes und der Menschen die Rede ist, der Imperativ „erkennt!“ findet sich nur noch ein einziges Mal in den Hymnen des Psalters19. Da es sich um den gleichen Sachzusammenhang handelt wie beim vorangegangenen Beispiel, wird die Vermutung zur Gewissheit, dass Ps 100 wie Ps 2,11 so auch Ps 46,11 voraussetzt und umprägt20. Denn wieder sind es in Ps 46 die aufrührerischen Völker, deren Ansturm gegen den Zion scheitert, die angesichts der „Wunder“ Jahwes ihrer Machtlosigkeit der Waffen gewahr werden und am Ende des Psalms aufgerufen werden: Lasst ab und erkennt, dass ich Gott bin, erhaben über die Völker, erhaben über die Erde!
Jedoch führt diese Erkenntnis der Völker in Ps 46 nur zum bedingungslosen Vertrauen Israels auf Gottes Hilfe (Refrain V.8.12) und zur Einsicht der Völker in ihre Ohnmacht angesichts des wunderwirkenden Gottes. Die Völker bleiben, auch als die Einsichtigen, die Feinde, die das Gottesvolk vergeblich bedrohen. Wie anders Ps 100,3! Die Erkenntnis der Völker betrifft die Einsicht in die eigene Geschöpflichkeit und als deren Folge die Zugehörigkeit zu dem einen Gott und Schöpfer, und diese Erkenntnis öffnet den Völkern das Tor zur gleichberechtigten Anteilhabe an Israels Gottesdienst. Daher wird in V.3b die Bundesformel auf die erkennenden Völker übertragen, die in den rahmenden Versen 2b und 4a zum „Kommen“ bzw. „Einzug“ durch die Tempelvorhöfe hin zum Ort der Erfahrung göttlicher Nähe aufgerufen werden. Wesentlich erscheint mir dabei, dass die Struktur des Psalms erweist, dass die Erkenntnis der Völker nicht Vorbedingung ihrer Teilnahme am Gottesdienst ist, sondern sich vielmehr im Zuge der Teilnahme am Gottesdienst ereignet. So hat die alttestamentliche Gemeinde in Ps 100 wie selten sonst die eigenen Schranken niedergerissen, die Gott an diejenige Menschengruppe band, die ihn in ihren besonderen Geschichtserfahrungen als Retter in Not gepriesen 18
So schon LOHFINK, Universalisierung, a.a.O. (Anm. 5), 177. Sonst noch einmal als Aufruf an die Feinde zu wissen, dass Gott die Gebete der Klagenden hört (Ps 4,4). 20 ZENGER, Weltenkönigtum, a.a.O. (Anm. 6), 169, vermutet, dass mit diesem Zitat die gesamte Psalmengruppe 46–48 im Blick des Psalmendichters sei. 19
16. Ps 100 als Auslegung von Ps 93–99
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hatte. Die Universalität des Königtums Gottes, die alle Jahwe-König-Psalmen lobend anerkennen, hat in Ps 100 ihre letzte Konsequenz gefunden: die universale Gemeinde aus allen Völkern der Welt.
Zur Theologie der Prophetenbücher
17. Die Anfänge der Schriftprophetie1 1. Die nachbiblische jüdische Tradition unterteilt bekanntlich die biblischen Propheten von Anbeginn in „frühere“ und „spätere Propheten“ (נביאים ראשׁנים und )נביאים אחרונים. Sie setzt mit guten Gründen den entscheidenden Einschnitt innerhalb der Geschichte der Prophetie dort, wo eine neue Literaturgattung entsteht: das Prophetenbuch. In der Tat ist ein gewichtigerer Umbruch in der Prophetie kaum vorstellbar. Man kann sich den Wandel leicht an der Tatsache verdeutlichen, dass der Alte Orient zwar – vornehmlich in Mesopotamien, aber auch im syrischkleinasiatischen Raum – eine Fülle unterschiedlicher Zukunftsspezialisten kennt, unter denen sich auch verschiedene Klassen von Propheten befinden2, dass hier aber nur ganz selten schriftlich niedergelegte Prophetenworte begegnen, deren Überlieferung sich ungewöhnlichen Umständen verdankt. Im Mari der Hammurapi-Zeit sind die Prophetenworte zumeist von treuen Beamten auf Briefen an den König festgehalten worden, wenn sie auf ihren Inspektionsreisen durch die königlichen Besitztümer Propheten begegneten; die im Namen der Gottheit gesprochenen prophetischen Worte an den König haben die Beamten oft mit Bemerkungen versehen, aus denen hervorging, für wie glaubhaft bzw. gewichtig sie die Worte einschätzten3. Dagegen wurden die ein volles Jahrtausend jüngeren neuassyrischen Königsorakel des 7. Jahrhunderts v. Chr. vermutlich aus Legitimationsinteresse am Hof systematisch aufbewahrt und teilweise auf Sammeltafeln geschrieben 4. Die Literaturgattung Prophetenbuch dagegen ist im gesamten Alten Orient gänzlich unbekannt.
1
Die Grundgedanken des Aufsatzes wurden in wechselnder Gestalt als Antrittsvorlesung in Marburg (Mai 1995), anlässlich des 60. Geburtstags von W. H. Schmidt in Bonn (Juni 1995) und als Gastvorlesung in Mainz (Januar 1996) vorgetragen. 2 Vgl. im Alten Testament Jer 27,9: Die Könige der Nachbarvölker Judas wenden sich in einer außenpolitischen Notlage ebenso an verschiedenste Zukunftsfachleute wie an Propheten. 3 Vgl. etwa S. B. PARKER, Official attitudes towards prophecy at Mari and in Israel, VT 43 (1993) 50–68. Möglicherweise verbot es die Etikette in Mari, dass die Propheten sich direkt mündlich an den König wandten, so dass sie auf die Vermittlung der schreibenden Beamten angewiesen waren. 4 Vgl. etwa M. WEIPPERT, Assyrische Prophetien der Zeit Asarhaddons und Assurbanipals, in: F. M. Fales (Hg.), Assyrian Royal Inscriptions: New Horizons, Rom 1981, 71–115.
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Zur Theologie der Prophetenbücher
Sie ist bei näherem Zusehen ja auch etwas ganz und gar Unerwartetes und Ungewöhnliches. Im Unterschied etwa zu Rechtssätzen und Ritualen, die in staatlichem Kontext um ihrer Verbindlichkeit willen der Schriftlichkeit bedürfen, ist Prophetie ein wesenhaft mündliches Phänomen. Soweit Propheten nicht von sich aus den Kontakt mit der Gottheit suchen, etwa wenn ein Bittsteller in Not zu ihnen kommt, um sie um ihr vollmächtiges Gebet zu bitten (1Kön 14,1ff.; 2Kön 1,2ff. u.ö.; sogenannte induktive Prophetie), wissen sie sich von Gott ungebeten zu einer bestimmten Stunde zu bestimmten Menschen mit einer ganz bestimmten Botschaft gesandt (sogenannte intuitive Prophetie). Haben sie ihr Wort den Adressaten ausgerichtet, haben sie ihre Schuldigkeit getan. Ob die Adressaten sich von der Gottesbotschaft berühren ließen oder nicht, lag nicht in ihrer Hand (vgl. Ez 33,1ff.). Die Entscheidung, in die sie die Adressaten der Botschaft stellten, war situationsgebunden; wie immer sie ausfiel, sie war prinzipiell definitiv, d.h. mit der Situation, auf die sie bezogen war, ein für allemal vorüber und vergangen. Mündliche Prophetie war – wie uns insbesondere der Zufallsfund der Maribriefe gezeigt hat – Prophetie für den Tag, die Fragen und Probleme berührte, die auf diesen besonderen Tag bezogen waren. Das war grundsätzlich in Israel nicht anders als in Mari. Was sollte hier überlieferungsbildend wirken?
2. Nun gab es in Israel freilich eine Überlieferung prophetischer Worte, längst bevor Prophetenbücher entstanden, eben die Erzählungen von den eingangs genannten „früheren Propheten“. Sie hielten das Außergewöhnliche fest, sozusagen die Ausnahme der zuvor genannten Regel. Dieses Auswahlprinzip wird schon daran deutlich, dass – außerhalb des Sonderfalles der Elisaerzählungen – so gut wie ausschließlich Könige das Gegenüber der Propheten sind. Es versteht sich von selbst, dass die Propheten vor Amos nicht primär oder gar ausschließlich Umgang mit Königen gepflegt haben; eine derartige Vermutung erweist sich allein schon deshalb als abwegig, weil die Propheten, von denen Worte überliefert sind, nach Gad und Nathan fern vom Königshofe lebten. Dennoch kennen wir von Samuel fast nur seine Auseinandersetzungen mit Saul, von Ahia von Silo fast nur seine Auseinandersetzungen mit Jerobeam I., von Elia im Wesentlichen seine Auseinandersetzungen mit Ahab (und Isebel). Aber auch hier gilt bei näherem Zusehen, dass keineswegs jede beliebige Begegnung zwischen König und Prophet tonbandartig festgehalten worden ist. Vielmehr zeigen die Erzählungen aus prophetischen Kreisen – häufig aus erheblichem zeitlichem Abstand zum Dargestellten verfasst – eine auffällige
17. Die Anfänge der Schriftprophetie
271
Konzentration auf primär drei Konfliktfelder, die für die Nachgeborenen von grundlegender Bedeutung waren: 1) das Gebiet des Krieges, in dessen Kontext das älteste Israel seine frühesten Gotteserfahrungen machte5 und das nun, unter den Bedingungen des Staates, in die alleinige politische Entscheidungsvollmacht des Königs zu geraten drohte (z.B. 1Sam l5; 2Sam 24); 2) das Gebiet des Rechts, dem der König, von der Torgerichtsbarkeit nicht belangbar, scheinbar nicht unterworfen war (z.B. 2Sam 12; 1Kön 21; 2Kön 1); 3) das Problem der Legitimation des Königtums. Hier beanspruchte die Prophetie (des Nordreichs), Könige im Namen Jahwes einzusetzen (z.B. 1Sam 9–10; 1Kön 11,29ff.), sie aber im Fall des Ungehorsams gegen den – prophetisch vermittelten – Willen im Namen Jahwes auch wieder abzusetzen (z.B. 1Sam 15; 1Kön 14), kurzum: eine Kontrolle des Königtums, das sich dieses – verständlicherweise – nicht gefallen lassen wollte. Auch von diesen Erzählungen über die „früheren Propheten“ mit ihrer Beschränkung auf wenige fundamentale Problemfelder des Konfliktes König – Prophet6 führt kein unmittelbarer Weg zu der neuen und analogielosen Literaturgattung des Prophetenbuches. In ihr wirkt sich vielmehr die Absicht der Tradenten aus, so etwas wie die Summe der Verkündigung des einzelnen Propheten festzuhalten, ein Ganzes, das in seiner notwendigen Verdichtung der mündlichen Rede repräsentativ für die prophetische Botschaft insgesamt stehen sollte. Das Gegenüber ist nur noch in den seltensten Fällen der König. Am häufigsten sind es verschiedene Berufsgruppen im Volk – Bauern, Richter, Priester, Politiker, andere Propheten –, und auch sie eher selten um ihrer selbst willen, weit häufiger als Stände, deren Vergehen repräsentativ für diejenigen des Volkes insgesamt stehen. Oft wird auf alle derartige Differenzierungen auch ganz verzichtet und sogleich das Volk als ganzes angeredet, während prophetische Worte an Einzelne in den Prophetenbüchern eine verschwindende Minderheit darstellen. Andere ebenso frappante Differenzen zwischen den „früheren“ und den „späteren“ Propheten kommen hinzu, die gleichfalls verdeutlichen, dass hier keinesfalls ungebrochene Kontinuität herrscht. Ich erwähne nur zwei der wichtigsten:
5 Vgl. etwa G. VON RAD, Der Heilige Krieg im alten Israel, Göttingen 51969 (Zürich 1951); F. STOLZ, Jahwes und Israels Kriege (AThANT 60), Zürich 1972; M. WEIPPERT, „Heiliger Krieg“ in Israel und Assyrien, ZAW 84 (1972) 460–493. 6 Erst die Elia-Überlieferung mit ihren religionspolemischen Themen (Dürre bzw. Ausschließlichkeitsanspruch) hat einen umfassenderen Anspruch, auf den sogleich näher einzugehen ist. Eine Sonderstellung nimmt die ihr weithin vorauslaufende Elisa-Überlieferung ein; vgl. zu ihr etwa H.-CH. SCHMITT, Elisa, Gütersloh 1972; H. SCHWEIZER, Elischa in den Kriegen (StANT 37), München 1974.
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Zur Theologie der Prophetenbücher
1) Die Rolle der Tradition. Die Propheten vor Amos berufen sich auf die überkommene Tradition (des Jahwekriegs bzw. des Rechts), um ein emanzipatorisches Königtum, das sich in seinen Idealen weithin an Vorbildern des Alten Orients, besonders Ägyptens und Mesopotamiens, orientierte, in seinem Machtstreben in die Schranken zu weisen. Vereinfachend gesprochen, waren die Propheten in diesem Konflikt die beharrenden, konservativen Kräfte, die Könige dagegen die Neuerer gegenüber den Bräuchen der Richterzeit7. Die Propheten ab Amos dagegen konnten sich für ihre harten Urteile über die gesellschaftlichen Verhältnisse ihrer Generation weit weniger auf Tradition berufen als ihre Vorgänger. Sie überstrapazierten, „überforderten“ (v. Rad) diese Tradition, die etwa eine Folgerung wie die des Amos in seiner berühmten 4. Vision: „Das Ende ist gekommen für mein Volk Israel“ (Am 8,2) oder wie in der Benennung des jüngsten Hoseakindes: „Ihr seid nicht (mehr) mein Volk“ (Hos 1,9) nicht kannte8. Ein Amos ist in seinen Anklagen und kollektiven Strafankündigungen weit weniger von der Tradition gedeckt als seine Vorgänger; ja, wir lesen immer wieder, wie die Gegner der klassischen Propheten die Tradition gegen diese selbst ins Feld führen (z.B. Mi 2,6ff.). Cum grano salis könnte man formulieren, dass die verurteilten Zeitgenossen jetzt die bewahrenden, konservativen Kräfte waren, die klassischen Propheten dagegen das Bild eines intakten Gottesvolkes entwarfen, das den Horizont der Tradition, jedenfalls in deren gängiger Interpretation zu ihrer Zeit, weit überschritt. 2) Mit diesem Traditionsgebrauch hing der Grad ihrer Ablehnung durch die Zeitgenossen zusammen. Während die Propheten vor Amos anscheinend zumindest einen gewissen Rückhalt in breiteren Kreisen des Volkes fanden, waren die klassischen Propheten zu ihrer eigenen Zeit Außenseiter der Gesellschaft, die nur bei ihnen eng vertrauten Gruppen, die ihre Worte tradierten, Unterstützung fanden 9. Ja, die neue Überlieferungsgestalt der Prophetenbücher hängt mit diesem hohen Grad an Ablehnung eng zusammen10. Wo Propheten die Niederschrift ihrer Worte einmal begründen (besonders in Jes 8,16–18, 30,8; Jer 36), ist stets das von den Hörern abgewiesene Wort im 7
Vgl. etwa F. CRÜSEMANN, Der Widerstand gegen das Königtum (WMANT 49), Neukirchen-Vluyn 1978, bzw. L. SCHMIDT, Menschlicher Erfolg und Jahwes Initiative (WMANT 38), Neukirchen-Vluyn 1970. 8 Bei schwerer Schuld sah die Tradition stattdessen die Bestrafung der Schuldigen vor. Hinzu kam, dass die klassischen Propheten eng definierte Schuldkategorien wie „( חמסlebensbedrohende Gewalttat“: Knierim) oder „( דמיםBlutschuld“) auf Tatbestände ausweiteten, in denen kein Blut floss und Leben „nur“ eingeengt, beschränkt wurde. 9 Breitere Geltung fanden sie offensichtlich erst im Exil, als ihre Botschaft durch die Zerstörung (Samarias bzw.) Jerusalems als bestätigt galt und sie dazu verhalfen, die erlebte Katastrophe als Gericht Gottes und nicht als Verwerfung Israels zu deuten. 10 Das hat insbesondere K. KIDA, Die Entstehung der prophetischen Literatur bei Amos, Diss. München 1972, nachgewiesen.
17. Die Anfänge der Schriftprophetie
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Blick. Die Schriftlichkeit des Wortes garantiert gegenüber hörunwilligen Zeitgenossen die Gültigkeit des Gotteswortes. Die Schriftlichkeit demonstriert, dass das Gotteswort der Propheten mit seiner Ablehnung durch die ersten Hörer nicht am Ende ist, sondern sich neue Menschen sucht, bei denen es zum Ziele kommt, nur dass es sich jetzt um Leser handelt. Man kann spekulativ fragen, ob es Prophetenbücher je gegeben hätte, wenn das mündliche Prophetenwort bei seinen Hörern bereitwillige Aufnahme gefunden hätte; m.E. muss die Frage eindeutig verneint werden. Man müsste dann freilich sogleich spekulativ weiterfragen, ob es die entschiedene Ablehnung der klassischen Propheten durch ihre Generation je gegeben hätte, wenn diese Propheten die überkommene Tradition nicht derart verschärft und radikalisiert hätten, wie sie es taten. Wieder müsste m.E. auch diese Frage verneint werden. Wie immer es sich aber damit verhält, der neue Anspruch der klassischen Propheten, Gottes Willen für das gesamte Gottesvolk anzusagen, ihre Verschärfung und Radikalisierung der Tradition sowie die entschiedene Ablehnung, die sie durch ihre Generation erfuhren, sind eindeutige Indizien dafür, dass die neue Literaturgattung Prophetenbuch Ausdruck eines neuen Verständnisses der prophetischen Funktion war.
3. Bei dieser groben Andeutung der Unterschiede zwischen „früheren“ und „späteren“ Propheten soll es hier sein Bewenden haben. Wichtiger als deren präzise und vollkommenere Beschreibung scheint mir die Beantwortung der Frage zu sein – die m.W. kaum je gestellt worden ist –, wie die alttestamentliche Prophetie selber diesen tiefgreifenden Einschnitt in ihrer Geschichte wahrgenommen und reflektiert hat. Gibt es prophetische Texte, die den Wandel im Verständnis der prophetischen Funktion direkt widerspiegeln? M.W. finden sich zwei derartige Textkomplexe, denen die folgenden Überlegungen nachgehen möchten11: a) die Wanderung Elias an den Horeb, um am Ort der Mose-Offenbarung den grundlegend neuen prophetischen Auftrag Jahwes zu erhalten, b) die Visionsberichte des Amos, in denen der Prophet über seinen Erkenntnisweg von einem früheren zu einem späteren Verständnis prophetischer Funktion Rechenschaft ablegt.
11
Indirekte Belege finden sich zahlreicher. Ich nenne nur den berühmtesten: die sogenannten Konfessionen des Propheten Jeremia, in denen dieser beschreibt, wie Jahwes Worte in ihm anfangs „Freude und Wonne“ auslösten, wenn er sie erhielt (15,16), während sie ihn danach in die unerträgliche Isolation trieben (V.17), weil Jahwe ihm, statt „lebendiges Wasser“ (2,13) zu sein, zum „Trugbach“ wurde (15,18).
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Zur Theologie der Prophetenbücher
Das evidenteste Beispiel ist 1Kön 19, die Erzählung von der Wanderung Elias an den Horeb. In ihr fällt jedem sorgfältigen Leser als erstes ins Auge, wie Elia programmatisch mit Mose parallelisiert wird. Ich nenne auswahlweise einige wichtige Parallelen: a) wie Mose 40 Tage und Nächte auf dem Sinai verbringt, so wandert Elia 40 Tage und Nächte bis zum Horeb12; b) wie Mose bei seiner engsten Begegnung mit Jahwe von diesem in eine Höhle gestellt wird (Ex 33,22), so erlebt Elia seine Gottesbegegnung nach der Nächtigung in einer Höhle, die dem Leser mit Artikel als ihm bekannt eingeführt wird (1Kön 19,9; vgl. V.13); c) wie Moses Gottesbegegnung mit dem ungewöhnlichen TheophanieBegriff „ עברvorüberziehen“ beschrieben wird (Ex 33,22; 34,6), so bei Elia (1Kön 19,11); d) wie bei Mose findet bei Elia die Gottesbegegnung in den frühen Morgenstunden statt (Ex 34,2.4; 1Kön 19,11)13. Häufig ist bei der Beobachtung dieser Zusammenhänge in der Forschung hervorgehoben worden, dass Elia „als ein zweiter und neuer Mose erscheinen“ solle14, ein alttestamentlich nicht überbietbares Würdeprädikat. Kaum je diskutiert worden ist aber, warum diese Würde gerade Elia zukommt. Es wird ja von keinem anderen Propheten, auch von keiner sonstigen Gestalt des Alten Testaments nach Mose eine Begegnung mit Gott am Berg der grundlegenden Theophanie und des Bundesschlusses mit Israel erzählt. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass Elias Kampf um die Reinheit des Jahweglaubens und sein Sieg über die Menge der Baalspropheten der Grund der Würde sei. Aber diese Annahme ist aufgrund des Kontextes von 1Kön 19 ausgeschlossen. Dieser Kontext zeichnet einen völlig andersartigen Elia als das vorangehende Kapitel: nicht einen kämpferischen und triumphierenden, sondern einen verzweifelnden, resignierenden und todesmüden Elia15, der sich unter einem Ginster in der Wüste von Beerscheba zum Sterben niederlegt, auch dies ein typologischer Zug der Erzählung, aber einer, der Elia 12
Zum Namen „Horeb“ vgl. L. PERLITT, Sinai und Horeb, in: Beiträge zur alttestamentlichen Theologie (FS W. Zimmerli), hg. von H. Donner/R. Hanhart/R. Smend, Göttingen 1977, 302–322. 13 Vgl. zu zahlreichen weiteren Mose-Parallelen etwa G. FOHRER, Elia (AThANT 31), Zürich 1957, 48f.; O. H. STECK, Überlieferung und Zeitgeschichte in den Elia-Erzählungen (WMANT 26), Neukirchen-Vluyn 1968, 110ff.; K. SEYBOLD, Elia am Gottesberg, EvTh 33 (1973) 3–18; 10ff.; G. HENTSCHEL, Die Elijaerzählungen (EThSt 33), Leipzig 1977, 103f. 185–187; S. WAGNER, Elia am Horeb, in: Prophetie und geschichtliche Wirklichkeit im alten Israel (FS S. Herrmann), hg. von DERS./R. Liwak, Stuttgart/Berlin/Köln 1991, 415–424;421. 14 FOHRER, Elia, a.a.O. (Anm. 13), 49; H. GESE, Der Tod im Alten Testament, in: DERS., Zur biblischen Theologie (BEvTh 78), München 1977, 46, nennt Elia sogar einen „Moses redivivus, der die Moseoffenbarung … in gesteigerter Weise fortsetzt“. 15 1Kön 19,1–3a ist, wie seit langem erkannt, als redaktionelle Brücke zwischen beiden Kapiteln konzipiert.
17. Die Anfänge der Schriftprophetie
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nicht mit Mose, sondern mit der Hagar der Vätererzählungen (Gen 21) verbindet16. Woher stammt dann diese – in der Abfolge der Kapitel – so überraschende Resignation? Die entscheidende Antwort nennt die Klage des Propheten in V.4: Genug nun, Jahwe, nimm mein Leben, denn ich bin nicht besser als meine Väter!
Der Kontext verdeutlicht, dass mit diesem „nicht besser“ kein ethisches Werturteil gefällt wird, sondern die Sinnfrage gestellt ist: Elia hat nicht mehr erreicht als seine Vorgänger. Ein gescheiterter Prophet wünscht sich den Tod. Nun hat man in neuerer Zeit gelegentlich – m.E. zu Recht für die verwertete Tradition in V.3–6, zu Unrecht aber für den Kontext – die Resignation Elias als vorübergehende Stimmung gedeutet, die nur Jahwes stärkende Fürsorge in V.5ff. wachrufen solle, analog der Stärkung Elias durch die Raben zur Zeit der Dürre (17,2ff.). Aus einer solchen Sicht ergibt sich dann, dass die Parallelisierung Elias mit Mose den Zweck habe, Israel wieder seine „Entscheidungssituation“ bewusst zu machen, „ob es sich von ganzem Herzen Jahwe zuwenden oder zum kanaanäischen Baal abfallen“ wolle17, da doch nun im Wirken Elias „Jahwes große Heilstaten in der Geschichte des Volkes Israel … wieder lebendige Gegenwart“ geworden seien18. Diese freundliche Sicht des Textes, die den sachlichen Bruch zwischen 1Kön 18 und 1Kön 19 einebnet, ergibt sich allerdings nur aufgrund eines hohen Preises: der literarischen Ausscheidung von V.(14)15–1819. Was bleibt, ist ein nahezu beliebig deutbares Fragment 20 . Ein überlieferungsgeschichtliches Wachstum des Textes (etwa V.3–6 als ursprüngliche Einzelerzählung: Steck) ist denkbar, ja überaus wahrscheinlich; eine literarkritische Abtrennung der Verse (14)15–18 stellt dagegen eine Operation dar, die der Text als Patient nicht überlebt21. Sie geschieht bei den genannten Autoren aufgrund der – berechtigten – Beobachtung der relativ jungen Entstehung der Verse (14)15–18, aber in der – unberechtigten – 16
Vgl. STECK, Überlieferung und Zeitgeschichte, a.a.O. (Anm. 13), 27f. FOHRER, Elia, a.a.O. (Anm. 13), 50. 18 HENTSCHEL, Elijaerzählungen, a.a.O. (Anm. 13), 247. 19 Vgl. neben FOHRER, Elia, a.a.O. (Anm. 13), 36ff., und HENTSCHEL, Elijaerzählungen, a.a.O. (Anm. 13), 56ff. 223ff., auch J. GRAY, I and II Kings (OTL), London 21970, 374.410; E. WÜRTHWEIN, Die Bücher der Könige (ATD 11/2), Göttingen 1984, 226ff., und TH. SEIDL, Mose und Elija am Gottesberg, BZ N.F. 37 (1993) 1–25; 11. 20 SEIDL, Mose, a.a.O. (Anm. 19) rechnet explizit mit Textverlust; WÜRTHWEIN, Könige, a.a.O. (Anm. 19) rekonstruiert eine wenig plausible Wallfahrtserzählung. 21 In der wiederum programmatischen Theophanieschilderung der Verse 11ff. ist die „Stimme“ Jahwes, die den Naturgewalten Sturm – Erdbeben – Feuer kontrastierend entgegengestellt wird, kaum von seinem Reden zu trennen, das nach V.13 von der „Stimme“ ausgeht; vgl. SEIDL, Mose, a.a.O. (Anm. 19), 17f., im Gefolge von STECK, Überlieferung und Zeitgeschichte, a.a.O. (Anm. 13), 118, und J. JEREMIAS, Theophanie (WMANT 10), Neukirchen-Vluyn 21977, 203. Alle Erwartung des Lesers ist also auf die Gottesrede gerichtet, die in V.15–18 folgt. 17
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Absicht, einen älteren Kern des Textes isolieren zu können, und vor allem unter der grundsätzlichen Verkennung der Programmatik des Kapitels: 1Kön 19 ist als Ganzes „eine theologische Grundierung, Zentrierung und Interpretation der Elia-Geschehnisse, das heißt, dass die Elia-Überlieferungen von dieser Mitte her gelesen und verstanden werden wollen“22. Ein solcher abschließender Deuterahmen der Elia-Erzählungen aber steht zeitlich nicht am Anfang, sondern am Ende der textlichen Ausgestaltung23. Elias Resignation (V.4) sagt im Sinne des Kapitels nichts Abschließendes über den Propheten aus, sondern leitet die folgenden Ereignisse erst ein. Sie findet ihre Präzisierung und notwendige Explikation in der Klage Elias, die dieser in der Stunde der Gottesbegegnung am Horeb Jahwe entgegenhält (V.14) 24 ; der Kontrast zum Triumph des Propheten auf dem Karmel wird durch sie fast unerträglich zugespitzt: Leidenschaftlich geeifert habe ich für Jahwe, den Gott der Heerscharen, haben doch die Israeliten deinen Bund verlassen25, haben sie doch deine Altäre eingerissen und deine Propheten mit dem Schwert getötet; ich bin allein übriggeblieben – und jetzt suchen sie mir das Leben zu nehmen.
Hier werden eine Religion bzw. ein Glaube an ihrem Ende dargestellt: ohne Gotteskontakt, ohne Kultstätte und ohne Propheten – außer Elia. Dieses Ende aber haben nicht etwa fremde Mächte (Isebel) oder Feinde im Innern (Baalanhänger) heraufgeführt, sondern die Anhänger dieses Glaubens selber. Ihre Entschlossenheit, dem destruktiven Handeln zum endgültigen Erfolg zu verhelfen, steht unmittelbar vor der Vollendung; nur noch Elia ist ihnen im Weg. Anders ausgedrückt: In dieser Lage eines darniederliegenden Glaubens ist die Wahrheit Gottes ausschließlich in Elia greifbar. Nun versteht sich von selbst, dass mit solchen zugespitzten Sätzen nicht einfach vordergründig die historischen Verhältnisse der Eliazeit beschrieben werden sollen. Es genügt der Seitenblick auf das vorangehende Kapitel, in dem erzählt wird, wie einer der höchsten Minister des Staates, dem die Palastverwaltung unterstand und der ein Sympathisant Elias war, Obadja, unter 22
WAGNER, Elia am Horeb, a.a.O. (Anm. 13), 420. Vgl. auch den Nachweis STECKs, Überlieferung und Zeitgeschichte, a.a.O. (Anm. 13), 23, dass 1Kön 19 schon die vorangehenden Elia-Erzählungen „als festformulierte voraussetzt“. 23 Das hat in aller Deutlichkeit schon vor drei Jahrzehnten die genannte Monographie von Steck gezeigt, nur dass sie m.E. 1Kön 19 (im Blick auf die unbestreitbar verarbeiteten Erfahrungen der Aramäerkriege) erheblich zu früh ansetzt. 24 Den Sinn der Verdopplung der Klage in V.10 haben unabhängig voneinander HENTSCHEL, Elijaerzählungen, a.a.O. (Anm. 13), 77f., und R. SMEND, Das Wort Jahwes an Elia (1975; in: DERS., Die Mitte des Alten Testaments. Gesammelte Studien I [BEvTh 99], München 1986, 138–153; 139) ähnlich und sehr plausibel erklärt. 25 Statt „deinen Bund“ bietet LXX in V.10 und (teilweise) in V.14: „dich“, möglicherweise die ältere Lesart.
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Einsatz seines Lebens 100 Jahwe-Propheten vor der Verfolgung durch die phönizische Königin Isebel verbarg und sie mit Nahrung versorgte (1Kön 18,4.13). Die Differenz liegt klar zutage. Sie ist nicht nur darin zu erkennen, dass Elia in 1Kön 19,14 allein ist (wie er ähnlich programmatisch auch in 1Kön 18,22 den zahlreichen Baalpropheten allein gegenübersteht), sondern auch darin, dass in 1Kön 18 die phönizische Königin Isebel die Propheten verfolgte, in 1Kön 19,14 aber ganz Israel das gleiche tut, weil ganz Israel sich von Jahwe (bzw. seinem Bund) abgewandt hat 26 . Unter diesen Umständen erhält die Resignation des Propheten fast tragischen Charakter, weil eine Situation gezeichnet ist, in der die Wahrheit allein in ihm verkörpert ist. Aus welcher Zeit stammt dann aber diese so ungewöhnlich programmatische Prophetenerzählung mit ihrer Parallelisierung von Elia mit Mose bei gleichzeitiger Konzentration der Wahrheitsfrage einzig und ausschließlich auf Elia? Sucht man nach Analogien, wird man ohne Mühe auf die JeremiaÜberlieferung verwiesen 27 . Die Resignation eines Propheten angesichts der Erfolglosigkeit seines Wirkens, die bis zum – vergeblichen – Versuch führt, sich aus dem Prophetenamt zu lösen, ist (vor der sehr andersartigen JonaNovelle) nur einmal außerhalb von 1Kön 19 belegt: in den sogenannten Konfessionen des Propheten Jeremia (vgl. bes. Jer 20,7–9). Gleicherweise ist die Klage, ganz Israel habe – ohne jegliche Ausnahme – sich von Gott abgewandt und Jahwe „verlassen“, charakteristisch für die Prophetie Jeremias, und zwar durchgehend für ihre unterschiedlichen Überlieferungsstufen28. Diese Beobachtungen führen zu dem Schluss, dass Prophetenkreise aus dem Umfeld der Jeremiatradition in 1Kön 19 darstellen, wie jene Prophetie begonnen hat, und zwar bei Elia begonnen hat, mit der sie sich beschäftigen29 und die für sie nicht nur die einzig wahre Prophetie ist, sondern darüber hinaus der einzige Ort, an dem in einer religiös gleichgültig gewordenen Generation die Wahrheit Gottes noch anzutreffen ist. Kurzum: Für Prophetenkreise des beginnenden 6. Jahrhunderts v. Chr. ist 1Kön 19 so etwas wie die Ätiologie der kriti-
26 Diese Differenz hat am klarsten wiederum STECK, Überlieferung und Zeitgeschichte, a.a.O. (Anm. 13), 24.30.109ff u.ö., herausgestellt. 27 Das hat deutlich schon E. VON NORDHEIM, Ein Prophet kündigt sein Amt auf. Elia am Horeb, in: DERS., Die Selbstbehauptung Israels in der Welt des Alten Orients (OBO 115), Fribourg 1992, 147f., erkannt; vgl. auch SEIDL, Mose, a.a.O. (Anm. 19), 23. Vorsichtiger formuliert W. THIEL: „… aus einigem Abstand von der Zeit Elias … , mindestens … die Zeit nach Hosea“: Zu Ursprung und Entfaltung der Elia-Tradition, in: K. Grünwaldt/H. Schroeter (Hg.), Was suchst du hier, Elia?, Rheinbach-Merzbach 1995, 27–39; 38f. 28 Für die Totalität der Schuld denke man etwa an die Bilder in Jer 5 (alle, Große und Kleine, sind schuldig) und Jer 6 (die Nachlese des prophetischen Winzers ist vergeblich; keine Rebe ist zu finden); zum „Verlassen Jahwes“ vgl. Jer 1,16; 2,13.17.19; 5,7.19 u.ö. 29 Vgl. Jer 28,8: „Die Propheten vor mir und vor dir haben seit alters … Krieg, Unheil und Pest geweissagt“.
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Zur Theologie der Prophetenbücher
schen Gerichtsprophetie30, die zugleich Schriftprophetie im zuvor genannten Sinne ist. Trifft diese Annahme zu, muss der Hauptton in 1Kön 19 auf den neuen Auftrag fallen, den der verzweifelte Elia am Berg der grundlegenden Gottesbegegnung Israels empfängt und der durch die vorangehende Theophanie dem Auftrag zum Bundesschluss in Ex 24 an die Seite gestellt ist. Nach 1Kön 19,15–18 soll Elia drei Gestalten durch Salbung berufen und installieren: zwei Könige, beide mordgierige Usurpatoren, deren einer, Jehu, in blutiger Revolution die gesamte Omri-Dynastie ausrotten wird, deren anderer, Hasael, als Israels Erbfeind die ein Jahrhundert währenden blutigen Aramäerkriege initiieren wird, und einen Propheten, Elisa, seinen Nachfolger. Es wird angekündigt, dass alle drei Gestalten furchtbar töten werden, bis nur noch der kleine Rest der 7000 übrig ist, deren Knie sich nicht vor Baal gebeugt hat. Natürlich weiß nicht erst die kritische Wissenschaft unseres Jahrhunderts, sondern schon der Erzähler selbst, dass der historische Elia nur Elisa berufen wird und erst dieser (bzw. seine Schüler) mit den genannten Königen in Beziehung treten wird. Ebenso gut weiß er, dass Elia seinen Nachfolger nicht salben, sondern durch Mantelwurf berufen wird, wie es die unmittelbar folgende ältere Perikope V.19–21 darlegt. Wenn es ihm trotzdem um die unlösliche Verbindung dieser drei so verschiedenen Männer geht, die in der gemeinsamen Salbung, d.h. in ihrer öffentlichen Einsetzung zum Zweck des Tötens31, zum Ausdruck kommt und in der gemeinsamen Herleitung ihrer Taten vom Auftrag Gottes an Elia, so deshalb, weil mit der Berufung Elisas durch Elia Prophetie eine völlig neue Bestimmung erhält. 1Kön 19 verdeutlicht, dass prophetische Funktion seit Elia etwas Furchtbares ist: Elia muss im Auftrag Gottes die Vernichtung des Gottesvolkes ins Werk setzen, Elisa muss sie sogar durchführen, terminologisch in nichts von den beiden blutrünstigen Königen unterschieden. Analog ist Jeremia, aus dessen Tradentenkreisen 1Kön 19 am ehesten stammt, gerufen, den furchtbaren Babylonierkönig Nebukadnezar als Jahwes Strafwerkzeug zu deuten, der – im Namen Jahwes! – Jerusalem zerstören wird. Elias Prophetie vor seiner Wanderung an den Horeb war nach 1Kön 18 leidenschaftlicher Kampf um die Erkenntnis Jahwes zur Zeit der Gefahr seiner Verwechslung mit Baal: voller Hoffnung geführt und im Triumph am Karmel endend. Prophetie seit seiner von Gott initiierten Wanderung an den 30 Ähnlich spricht SEYBOLD, Gottesberg, a.a.O. (Anm. 13), 17, von 1Kön 19 als einer „prophetischen Apologie“, mit der „eine bisher in Israel nicht gekannte prophetische Aktivität … ihre Rechtfertigung suchte“. SMEND, Wort Jahwes, a.a.O. (Anm. 24), 151, nennt „das eigentliche Thema“ von 1Kön 19 „die Prophetie schlechthin“, und THIEL, Ursprung und Entfaltung, a.a.O. (Anm. 27), 38, formuliert treffend: „Elia und die Elia-Überlieferung werden anscheinend zum Medium des Ausdrucks prophetischer Erfahrungen“. 31 SEYBOLD, Gottesberg, a.a.O. (Anm. 13), 14, spricht zu Recht von einer „theologischen Stilisierung“.
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Horeb 32 dient dazu, Gottes tödlichem Vernichtungswillen zum Vollzug zu verhelfen. Um es in der Sprache der Erzählungen von den alten Jahwekriegen, die aufgegriffen wird, auszudrücken: Wie Israel bisher Gottes Macht in Wundern der Rettung erfuhr, durch die es vor militärischer Übermacht bewahrt wurde, so wird es jetzt die gleiche Macht Gottes mit umgekehrtem Vorzeichen erleben und damit Vernichtung statt Rettung, Tod statt Leben, weil Gott auf Seiten der Feinde ist. Der Prophet hat nicht mehr Gottes Wunder zu deuten (vgl. etwa Ex 15,20f.), sondern im Namen Gottes die Feinde zu rufen (Elia) bzw. selber – durch die Macht seines Wortes – tödlich zu wirken (Elisa). Der Rest der 7000 aber ist nicht primär Hoffnungszeichen, sondern Beleg für den vollzogenen Bann, d.h. für die Totalvernichtung33. Ich breche den Gedankengang hier ab, um ihn am Ende der Darlegungen noch einmal kurz aufzugreifen, weil 1Kön 19, wie sich gezeigt hat, der jüngere der beiden Texte ist, die programmatisch den Wandel von den „früheren Propheten“ zu den „späteren Propheten“ thematisieren. Zuvor soll der ältere Text betrachtet werden, der – wenn wir 1Kön 19 zutreffend eingeordnet haben – mehr als eineinhalb Jahrhunderte vorausgeht.
4. Kein Prophet vor Jeremia hat derart grundsätzlich über seine Funktion gesprochen wie Amos in seinen Visionsberichten. Amos hat seine Visionen nacheinander empfangen, vermutlich in längeren zeitlichen Abständen; jedenfalls nehmen die Visionen auf unterschiedliche Jahreszeiten Bezug, und zwar in der Reihenfolge, die der Abfolge des Jahres entspricht 34 . Der Leser der schriftlichen Visionsberichte soll die Visionen jedoch keineswegs einzeln und separat aufnehmen, sondern soll sie in ihrem sachlichen Zusammenhang verstehen. Dazu sind ihm die ersten vier Visionen bis in Einzelheiten hinein paarweise angeordnet; je zwei Visionen laufen auf eine analoge Erkenntnis hinaus, wobei die jeweils zweite innerhalb des Paares die erste steigert. Viel 32
Die geläufige Rede von einer „Wallfahrt“ Elias ist dem Text ganz und gar unangemes-
sen. 33 Vgl. dazu den Nachweis von STECK, Überlieferung und Zeitgeschichte, a.a.O. (Anm. 13), 106f. Die hoffnungsvollen Assoziationen des Restgedankens in V.18 könnten mit der Thematik des Nordreichs zusammenhängen; auch die – verhaltene – Heilsverkündigung des Propheten Jeremia richtete sich, wie oft beobachtet, an die Bevölkerung des Nordreichs, die Gottes Gericht schon erfahren hatte. 34 Die in der 1. und 4. Vision erwähnten Jahreszeiten – die Zeit der „Spätsaat“ ( )לקשׁim Frühjahr und die Zeit des „Sommerobstes“ ( )קיץim Herbst – sind schon im ältesten Kalender Palästinas, dem achtteiligen sogenannten Bauernkalender von Gezer (10./9. Jahrhundert v. Chr.), als „Monats“-Namen belegt (letzterer in der älteren Form ;)קץvgl. etwa ANET3, 320; K. JAROŠ, Hundert Inschriften aus Kanaan und Israel, Fribourg 1982, Nr. 11.
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Zur Theologie der Prophetenbücher
wichtiger aber ist, dass die beiden Visionenpaare in schärfstem sachlichen Kontrast zueinander stehen. Amos selber ist über die Visionen einen Erkenntnisweg geführt worden, der für ihn unumkehrbar war und in allen anderen Texten des Amosbuches schon vorausgesetzt wird; insofern dienen die Visionsberichte innerhalb des Amosbuches als (nachträgliche) Legitimation der Botschaft des Amos. Der Leser der Visionsberichte aber wird mit diesem Erkenntnisweg als einem fertig vorliegenden und abgeschlossenen konfrontiert, den er sinnvoll, wie die paarweise Gestaltung der Visionen zeigt, nur als ganzen, d.h. vom Ergebnis her wahrnehmen darf, ohne bei den Zwischenstadien zu verweilen. Wie Strophen eines Gedichts wollen die Visionsberichte in ihrer künstlerischen Gestaltung aufeinander bezogen gelesen werden35. Die ersten beiden Visionen (Am 7,1–3.4–6) führen dem Propheten jeweils ein verheerendes Unheil vor Augen, das Jahwe im Augenblick der Schau in die Wege leitet. In der ersten Vision ist es einer jener gefürchteten Heuschreckenschwärme, wie sie bis zum Beginn unseres Jahrhunderts Palästina immer wieder heimgesucht und alles Pflanzenwachstum vernichtet haben, im Falle der Vision besonders gefährlich, weil der Spätwuchs des Korns im Frühjahr betroffen ist und damit das lebensnotwendige Getreide vor den langen regenlosen Sommermonaten; in der zweiten Vision schaut Amos steigernd einen kosmischen Brand, der die gesamten Grundwasservorräte der Erde vertilgt, so dass jegliches Pflanzenwachstum von vornherein unmöglich wird 36 . Beide Male begehrt der Prophet beim Vorgang der Schau leidenschaftlich auf: „Mein Herr Jahwe, vergib doch!“ heißt es in der ersten Vision, womit zum Ausdruck gebracht wird, dass der Zusammenhang von Unheil und Schuld des Volkes dem Propheten sogleich evident ist; „mein Herr Jahwe, halt doch ein!“ heißt es, deutlich verzagter, in der zweiten Vision. Beide Male ist die Begründung der Bitte wörtlich identisch: „Wie soll Jakob bestehen, er ist doch so klein!“ Amos appelliert nicht an Gottes Gerechtigkeit, als sei die Strafe unangemessen hart für die geschehene Schuld, sondern er appelliert an Gottes Mitleid, indem er mit „Jakob“ jene Bindung Gottes an Israel benennt, die später technisch „Erwählung“ genannt wird, und mit der „Kleinheit“ Jakobs auf die totale Angewiesenheit des Gottesvolkes auf seinen Herrn anspielt. Als Gott den Namen „Jakob“ hört, hält er mitten im Strafen inne: „Da ließ es sich Jahwe leid sein: ‚Es soll nicht geschehen‘ (bzw.: ‚auch das soll nicht geschehen‘), hat Jahwe gesagt“. Der fürbittende, Gott bedrängende Prophet bewahrt sein Volk vor der Katastrophe. Würde der Text hier abbrechen, müsste er besagen: Das Gottesvolk lebt davon, dass es Propheten wie Amos hat, die es selbst im Stadium großer Schuld vor Gottes Strafgericht bewahren. 35 Das gilt auch noch im gegenwärtigen Text, in dem sie durch zwei lange kommentierende Textkomplexe (Am 7,9–17; 8,3–14) voneinander getrennt worden sind. 36 Vgl. zur Diskussion der strittigen Einzelheiten der Schau J. JEREMIAS, Der Prophet Amos (ATD 24/2), Göttingen 1995, z.St.
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Aber die beiden folgenden Visionen (7,7f.; 8,1f.), wiederum paarweise gestaltet, besagen genau Gegenteiliges. Jetzt schaut Amos kein Geschehen wie in den ersten beiden Visionen, sondern ein statisches Bild, das der Deutung bedarf, ein Symbol. In der 3. Vision ist es ein seltenes Metall, Zinn, das Gott in seiner Hand hält, während er auf einer Mauer aus dem gleichen Metall steht37, in der 4. Vision ist es ein Korb mit (bzw. für) Sommerobst. Beide Male wird Amos von Gott gefragt, was er schaut; beide Male antwortet er mit der Nennung des Symbols: Zinn bzw. Sommerobst. Wie der Kontext zeigt, ist mit den Fragen Gottes mehr und anderes gemeint als die Vergewisserung, dass Amos die Vision verstanden hat: Indem der Prophet in der Vision das geschaute Symbol benennt, ruft er dessen Wirklichkeit herbei. Beide Male wird ihm erst jetzt die Deutung des Symbols eröffnet, beide Male in einem überraschenden Wortspiel. In der 3. Vision heißt es: „Siehe, ich bin jetzt dabei, Zinn mitten in mein Volk Israel zu legen“, das heißt wohl: Waffen in Israel hineinzutragen, zugleich aber im Wortspiel („ אנךZinn“ – „ אנכיich“): selber tödlich in Israels Mitte zu treten (vgl. Am 5,17); in der 4. Vision lautet das Wortspiel: „Gekommen ist der Sommer/das Ende ( )קץ – קיץzu meinem Volk Israel“. Beide Visionen enden wörtlich identisch, auf diese Weise unlöslich aufeinander bezogen: „Ich kann nicht mehr (schonend) an ihm (d.h. Israel) vorübergehen“. Mit dem „nicht mehr“ ist kontrastierend der Bezug zu den ersten Visionen hergestellt. Wo für Gott ein „( עבר לvorübergehen an“) nicht mehr möglich ist, tritt sein עבר בein, sein tödliches „Hindurchschreiten durch“ (Am 5,17), ein Begriff, der in der Tradition die tödliche Präsenz Gottes in der Passanacht umschreibt (Ex 12,12.23). Es folgt als Höhepunkt eine 5. Vision (Am 9,1–4), die ohne Parallele steht und Amos verdeutlicht, wie „das Ende“ kommt: Gott zerstört sein eigenes Heiligtum und macht auf diese Weise jeden Gotteskontakt für Israel unmöglich. Die Folge ist panische Flucht, ohne jegliche Aussicht auf Erfolg.
5. Im scharfen Kontrast der Visionspaare sagen die Visionsschilderungen primär etwas über Gott aus, und so sind sie in aller Regel auch mit Recht ausgelegt 37 Um die Art des Metalls und die Assoziationen, die sich mit ihm verbinden, ist seit dem Beginn unseres Jahrhunderts, besonders aber in den letzten Jahrzehnten viel gestritten worden. Da Zinn nie rein, sondern zur Legierung mit Kupfer zu Bronze verwendet wird, ist wohl auf Waffen angespielt, für die Bronze primär verwendet wurde. Kupfervorkommen gibt es in Palästina selbst, das kostbare Zinn musste über Zypern importiert werden. Vgl. zur Diskussion der Deutungsmöglichkeiten JEREMIAS, Amos, a.a.O. (Anm. 36), 101–103, und ausführlicher DERS., Das unzugängliche Heiligtum. Zur letzten Vision des Amos (Am 9,1–4), in: DERS., Hosea und Amos. Studien zu den Anfängen des Dodekapropheton (FAT 13), Tübingen 1996, 244–256; 246–248 mit Lit.
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worden. Es gibt eine Grenze der göttlichen Geduld angesichts eines Ausmaßes an Schuld, das ihm ein Verschonen seines Volkes unmöglich macht. Solange Gott es eben vermag, verschont er Israel – aufgrund seiner Bindung, die der Begriff „Jakob“ in der Fürbitte ausspricht. Er tut es selbst dann noch, wenn ihm ein Vergeben der Schuld schon nicht mehr möglich ist. Die ersten beiden Visionen unterscheiden theologisch sorgfältig zwischen Vergebung und Verschonung38. Amos bittet in der 1. Vision um Vergebung – in der 2. Vision wagt er es nicht mehr – und erreicht statt ihrer Verschonung. Wäre seine Bitte im Vollsinn gewährt worden, wäre nach alttestamentlichem Verständnis die Schuld beseitigt gewesen39. Die Abfolge der Visionen impliziert, dass eine derartige Nachsicht Gott von Anbeginn der Visionen nicht mehr möglich war. Vielmehr fällt er, weil er nicht mehr vergeben kann, seinem eigenen Strafwillen in den Arm – solange er es vermag. Sein Wille zum Verschonen ist ein Äußerstes zur Rettung Israels, wenn Vergebung schon nicht mehr möglich ist. Aber auch diese letzte Weise einer Bewahrung seines Volkes stößt an ihre Grenze. Es gibt ein Maß an Schuld, das sie unmöglich macht. Dann tritt der Tod Israels ein, sein Ende, wie es die 4. Vision nennt. Die Visionen des Amos sagen aber zugleich – und nicht weniger gewichtig – etwas über den Propheten und seine Funktion aus40. Amos bzw. seine Vertrauten veröffentlichten die Visionen, die von Haus aus intime Gotteserfahrungen darstellen, um nach außen zu dokumentieren, dass Amos weder freiwillig noch gern zu dem harten Ankläger Israels geworden ist, als der er auftreten musste. Er hat sich, solange er es vermochte, mit aller Kraft gegen das von Gott geplante Unheil zur Wehr gesetzt. Ein Prophet wie Amos ist etwas anderes als ein Trichter, in den Gott von oben sein Gotteswort gießt, das die Adressaten unverändert als verständliches Menschenwort erreicht. Amos ist am Gestalten des Gotteswortes mitbeteiligt. Er wehrt sich gegen Gottes Unheilspläne und tut dies zunächst erfolgreich wie andere (vor und) nach ihm41. Höher kann man von einem Propheten kaum denken. Ein Prophet wie Amos während der ersten beiden Visionen steht als Mittler zwischen Gott und Volk. 38 Das hat schon in aller Klarheit H. W. WOLFF, Dodekapropheton 2. Joel und Amos (BK XIV/2), Neukirchen-Vluyn 31985, 344, erkannt; vgl. genauer J. JEREMIAS, Die Reue Gottes. Aspekte alttestamentlicher Gottesvorstellung (BSt 65), Neukirchen-Vluyn 1975, 40ff. (BThSt 31, Neukirchen-Vluyn 21997). 39 Es genügt dafür auf die Tatsache zu verweisen, dass „ נשׂא עוןdie Schuld tragen“, d.h. unter den Folgen der Schuld zu leiden haben, mit göttlichem Subjekt „vergeben“ heißt. 40 Das hat schärfer als alle seine Nachfolger E. WÜRTHWEIN erkannt (Amos-Studien [1950]; in: DERS., Wort und Existenz, Göttingen 1970, 68–110; 86–93), nur dass seine Kategorien („Heilsnabi – Unheilsprophet“) nicht mehr die heutigen sind. 41 Erinnert sei nur an den Vorwurf Ezechiels an die gegnerischen Propheten, sie seien in der Stunde der Gefahr „nicht in die Bresche getreten“ (Ez 13,5), oder an die dtr Sicht, dass Mose mit seiner Fürbitte das zum goldenen Kalb abgefallene Volk vor der Vernichtung bewahrt habe (Ex 32,9–14).
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Er teilt dem Volk den Willen Gottes mit, wie er ihn in Auditionen und Visionen erfährt, aber er vertritt gleicherweise das Volk vor Gott, indem er sich in der Fürbitte für es einsetzt. Er wird um dieser Gebetsvollmacht willen von Gliedern des Volkes in verschiedensten Notlagen aufgesucht (vgl. etwa 1Sam 9,6; 1Kön 14,1ff.; 2Kön 1,2ff.; Jes 37,1ff.; Jer 37,3ff.)42. Ein Prophet wie Amos ab der 3. Vision ist ein völlig andersartiger Funktionsträger. Er ist einerseits in seiner Vollmacht beschränkt, geradezu amputiert, insofern ihm die Möglichkeit seines Einsatzes gegen Gottes Unheilspläne und für sein Volk genommen worden ist43. Wo Gott nicht mehr verschonen kann, kann ein Prophet nicht mehr auf das Verschonen Gottes einwirken. Aber andererseits ist die Vollmacht des Propheten erheblich gesteigert. Denn wie er nun, von der Möglichkeit zur Fürbitte abgeschnitten, ganz auf die Seite des strafenden Gottes treten muss, so ist auch seine Rede dem vormaligen Zwiespalt entnommen, dass sie gleicherweise Rede im Auftrag Gottes und Rede an Gott zugunsten des Volkes war. Jetzt ist sie eindeutig, ist nur noch Wiedergabe des Redens Gottes, auch wenn dieses für den Propheten ein furchtbares und erschreckendes Reden ist, das er lieber nicht weitergeben würde. Wie Amos und seine Nachfolger hat sich kein Prophet zuvor uneingeschränkt einzig als Sprachrohr Gottes verstanden – und sei es des richtenden Gottes. Letztlich haben die großen programmatischen Identifikationen von göttlichem und prophetischem Reden in den späteren Jahrhunderten ihre Wurzel in diesem Wandel des Verständnisses der prophetischen Funktion bei Amos. Ich erinnere nur an die beiden wichtigsten: 1) Wenn der Prophet Jeremia in seinen Auseinandersetzungen mit gegnerischen Propheten zu der berühmten Definition des Wortes Gottes gelangt, der zufolge es „wie Feuer (wirkt) und wie ein Hammer, der Felsen zerschlägt“ (Jer 23,29), so wird mit diesen Bildern vornehmlich der Zwangscharakter des Wortes festgehalten (im Kontrast zum leichter manipulierbaren Traum). Denn bevor der Prophet im Aussprechen des Wortes das Volk die erschreckende Wirkung des Wortes spüren lässt, erfährt er sie zunächst an sich selbst, wird durch sie seiner Sinne beraubt (23,9) oder möchte sich aus ihrer Umklammerung lösen und kann es doch nicht (20,9). 2) In der ebenso grundlegenden Definition des Wortes Gottes bei Deuterojesaja wird dieses wie ein Werkzeug beschrieben, das seine Wirkung so sicher zeitigt wie Regen und Schnee, die Gott sendet, die Erde zu feuchten. Nur wird jetzt durch den Vergleich die Wirkung nicht als eine furchterregende, sondern als eine lebensspendende und heilschaffende charakterisiert (Jes 55,10f.). Um es anders auszudrücken: Die Propheten seit Amos treten mit einem Wahrheitsanspruch auf, den die ältere Prophetie so noch nicht kannte. Wo 42
Vgl. Näheres zu diesem Vorgang bei J. JEREMIAS, Kultprophetie und Gerichtsverkündigung in der späten Königszeit Israels (WMANT 35), Neukirchen-Vluyn 1970, 140ff. 43 Vgl. das an Jeremia ergehende Verbot der Fürbitte in Jer 7,16; 11,14; 14,11.
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Zur Theologie der Prophetenbücher
diese ältere Prophetie mit Hilfe der Tradition gegen ein sich mehr und mehr aus sich selber begründendes Königtum und eine Tendenz zum Synkretismus argumentierte, da beanspruchen Propheten seit Amos, Gottes definitives Urteil über eine ganze Generation zu sprechen, ein Urteil, wie es in seiner Härte und Konsequenz in keiner Tradition vorgezeichnet war. Zugespitzt formuliert: Der Wandel von den „früheren“ zu den „späteren“ Propheten, der in der Entstehung der neuen Literaturgattung Prophetenbuch seinen Ausdruck fand, hat sich in der Biographie des Amos selber vollzogen und in den Visionsberichten seinen formelhaften Ausdruck gefunden. Denn die Prophetenbücher setzen beides gleicherweise voraus: 1) den gesteigerten Wahrheitsanspruch der Propheten, Gottes gültiges Urteil nicht nur für bestimmte Menschen oder Gruppen, sondern für das gesamte Gottesvolk zu sagen, und 2) den Widerstand der Zeitgenossen, die keineswegs bereit waren, diesem prophetischen Urteil – d.h. ihrer eigenen Verurteilung – widerspruchslos zuzustimmen, sondern die sich an die Aussagen der Tradition über Gottes Güte und Barmherzigkeit klammerten. Die Gattung der Prophetenbücher aber geht auf Gruppen zurück, die sich parteiisch auf die Seite der Propheten schlugen und die mit der Schriftlichkeit die Gültigkeit der prophetischen Worte festhalten wollten, gerade wo diese Worte noch nicht geschichtliche Erfahrung geworden waren und von der Mehrheit der Zeitgenossen umso entschiedener abgelehnt wurden.
6. So gewiss beide behandelten Texte, 1Kön 19 und die Visionsberichte des Amos, den gewichtigsten Wandel in der Geschichte der Prophetie thematisieren, der zur Entstehung prophetischer Bücher führte, so deutlich sind sie untereinander auch wieder charakteristisch unterschieden. Während die Visionsberichte des Amos definitiv vom „Ende“ Israels reden, blickt 1Kön 19 andeutend über die Mauer des göttlichen Vernichtungshandelns hinweg (V.18), und die programmatische Parallelisierung Elias mit Mose, die in einer zweiten Sinaioffenbarung gipfelt, lässt im Zusammenhang mit der Berufung Elisas zum Nachfolger – eine in der Prophetie analogielose Sukzessionsregelung – eine Fortsetzung prophetischer Erfahrungen nach Art derjenigen des Elia für die kommenden Propheten erwarten. Dennoch ist die innerbiblische Wirkungsgeschichte beider Texte, die hier nur noch mit einem Seitenblick und exemplarisch berührt werden kann, äußerlich zwar sehr unterschiedlich, der Sache nach aber erstaunlich ähnlich verlaufen. Für die Eliatradition mag die Betonung der Einzigartigkeit des Propheten als Beispiel dienen. Wie wir oben sahen, ist für die Klage Elias vor
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Jahwe am Horeb charakteristisch, dass dem Ende des Gottesverhältnisses und dem Ende des legitimen Gottesdienstes in Israel das Töten aller Propheten außer Elia entspricht (1Kön 19,14). Die Wahrheit Gottes ist damit nur noch und ausschließlich in dem einen Propheten, Elia, vorhanden. Auffälligerweise gebraucht nun aber die von Haus aus ältere Erzählung über das Gottesurteil auf dem Karmel die gleiche Begrifflichkeit für Elias Auseinandersetzung mit den Baalspropheten. Der Menge der Baalspropheten steht auf dem Karmel der eine und einzige wahre Prophet gegenüber, „allein übriggeblieben als Prophet Jahwes“ (1Kön 18,22), obwohl doch wenige Verse zuvor von der Rettung der 100 Propheten Jahwes durch Obadja die Rede war (V.4.13). In der Endfassung der Karmelerzählung ist die prophetische Wahrheitsfrage längst gelöst von ihrer inhaltlichen Zuspitzung auf die Gerichtsverkündigung für Israel. Sowohl der richtende Gott von 1Kön 19 als auch der triumphierende Gott von 1Kön 18 sind vertreten durch den einen Propheten. Ein tiefes Misstrauen gegenüber jeder großen Anzahl an Propheten durchzieht beide Texte, analog der Auseinandersetzung Micha ben Jimlas mit den 400 Propheten (1Kön 22) und analog der Auseinandersetzung Jeremias mit seinen Gegnern (vgl. bes. Jer 23,25ff.). Programmatisch ist dieses Prophetenverständnis in Dtn 18 festgehalten: Um die verbindliche Wahrheit der Sinaioffenbarung unverfälscht zu erhalten, gibt Gott jeder Generation einen Propheten „wie Mose“ (V.18): einer genügt, weil die Wahrheit Gottes eine ist. Eine ganz ähnliche Tendenz spiegelt die Wirkungsgeschichte der Visionsberichte des Amos wider. Ich nenne zwei Beispiele44. Zum einen bestand für spätere Generationen ein dringendes Bedürfnis, bei der Deutung der AmosVisionen den Punkt genau zu benennen, an dem Gottes Geduld zum Verschonen ein für allemal endet. Als Antwort auf diese Frage steht im Amosbuch, den ursprünglichen Zusammenhang der Visionen durchbrechend, die bekannte Erzählung vom Konflikt des Priesters Amazja mit dem Propheten Amos in Bet-El, in deren Verlauf Amos ein Auftreten in Bet-El vom Priester verboten wird. Auf die Einzelheiten des Konflikts kann ich in diesem Zusammenhang nicht eingehen, möchte mich vielmehr ganz auf die Funktion der Erzählung im Kontext beschränken, mit dem sie terminologisch vielfältig verzahnt ist45. 44 Ich lasse dabei intensiver untersuchte Felder der Wirkungsgeschichte bewusst außer Acht; vgl. etwa R. SMEND, „Das Ende ist gekommen“. Ein Amoswort in der Priesterschrift (1981; in: DERS., Die Mitte des Alten Testaments. Gesammelte Studien I [BEvTh 99], München 1986, 154–159); W. H. SCHMIDT, Nachwirkungen prophetischer Botschaft in der Priesterschrift, in: Mélanges bibliques et orientaux en lʼhonneur de M. Mathias Delcor (FS M. M. Delcor [AOAT 215]), hg. von A. Caquot/S. Légasse/M. Tardieu, Kevelaer/Neukirchen-Vluyn 1985, 369–377; W. BEYERLIN, Reflexe der Amosvisionen im Jeremiabuch (OBO 93), Fribourg 1989. 45 Das hat am genauesten H. UTZSCHNEIDER, Die Amazjaerzählung (Am 7,10–17): zwischen Literatur und Historie, BN 41 (1988) 76–101, 83ff., nachgewiesen; vgl. zu den Konsequenzen JEREMIAS, Amos, a.a.O. (Anm. 36), 107ff.
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In diesem Kontext besagt sie, dass Gottes Möglichkeiten zum Verschonen seines Volkes dort an ihre Grenzen gelangen, wo ein selbstherrlicher Staat, den der Priester Amazja repräsentiert, dekretiert, wo und unter welchen Bedingungen Gottes Prophet, bzw. genauer: Gott durch seinen Propheten, reden darf. Israel ist noch nicht verloren, wenn es vor Gott und im menschlichen Miteinander schuldig wird; wohl aber ist es rettungslos verloren, wenn seine staatlichen Repräsentanten46 Gottes Propheten das Reden verbieten, der ihm doch seine Schuld aufdecken und es somit zur Besinnung bringen möchte. Wiederum wird deutlich, wie eng auch für diesen Text Gottes Wahrheit und sein Prophet zusammengehören. Wo der Prophet schweigen muss, stirbt Israel dahin: Höher kann man die Funktion des Propheten kaum noch einstufen47. Eine analoge Einschätzung kommt dort zum Ausdruck, wo die Tradenten des Amosbuchs die dringendste Frage der Generationen nach dem Exil zu beantworten versuchen, wie denn das unüberbietbar harte göttliche Urteil der 4. Vision: „Das Ende ist gekommen für mein Volk Israel“ (Am 8,2) den Überlebenden der Exilskatastrophe auszulegen sei. Durften sie sich aufgrund ihres Lebens als Gerettete verstehen, oder gab es Bedingungen, die sie erfüllen mussten? Auf diese Frage antworten zentrale Verse im Schlusskapitel des Amosbuches (Am 9,8–10); sie nennen zwei Bedingungen der Rettung: 1) zunächst die Distanzierung vom schuldigen Staat, der sich in seinem Verbot, Amos reden zu lassen, an die Stelle Gottes gesetzt hat und unrettbar verloren ist (V.8)48; 2) sodann die ernsthafte und kontinuierliche Beschäftigung mit den Amosworten (V.10)49. Hier ist die Lektüre des Prophetenbuches zur entscheidenden Bedingung des Heils geworden. Es gibt im Alten Testament nur einen Textbereich, der in seiner Hochschätzung der Rolle des Propheten selbst diese Aussagen der Elia- und AmosÜberlieferung noch übersteigt. Der große Heilsprophet des Exils, den wir mit dem Kunstnamen Deuterojesaja benennen, unternimmt in den sogenannten „Gerichtsreden“ den kühnen und in der Bibel singulären Versuch, die Gottheit Gottes nachzuweisen, indem er in einem fiktiven Gerichtsverfahren Jahwe 46 Die von Am 7,10–17 abhängige dtr Anklage Am 2,11f. nennt Israel selbst als Subjekt des Redeverbots an Amos und seine Nachfolger. 47 Genaueres bei J. JEREMIAS, Die Rolle des Propheten nach dem Amosbuch (in: DERS., Hosea und Amos [FAT 13], Tübingen 1996, 272–284), 277–279. Die Argumentation steht in der Tradition hoseanischer Theologie; vgl. Hos 6,1–6 und dazu J. JEREMIAS, Der Prophet Hosea (ATD 24/1), Göttingen 1983, z.St. 48 Spätere haben dem mit der Verheißung der Wiedererrichtung der „Hütte Davids“ (V.11) die Perspektive des gottgewollten Staats entgegengehalten. 49 In V.9f. ist dieser Gedanke im Bild des Siebes als ein Sichtungsvorgang dargestellt, bei dem alle, die auch nach der Zerstörung Jerusalems die Worte des Amos noch nicht ernst nehmen, der Vernichtung anheimfallen.
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den Göttern gegenüberstellt. Zwei sich ausschließende Ansprüche treffen hier aufeinander: der Anspruch der Götter, Gott zu sein, und der weitergehende Anspruch Jahwes, alleiniger Gott zu sein (etwa Jes 41,21–29). Als Testgebiet gilt die Geschichte. Für deren Deutung bedarf es zum „Gottesbeweis“ des zuverlässigen prophetischen Wortes. Die Götter der Völker verfügen zwar über punktuelle Zukunftsorakel (44,25), können aber die Geschichte als ganze weder deuten noch vorhersagen. Jahwe vermag dies: Weil sich sein Gerichtswort durch die Propheten in der Zerstörung Jerusalems als wahr erwiesen hat, ist auch seine nun ergehende Ankündigung kommenden Heils durch Kyros glaubwürdig. Um es plakativ und verkürzt auszudrücken: Hier sind im Alten Testament die Propheten zu Gottes Gottesbeweis geworden. Eine solche – nicht mehr überbietbare – Einschätzung der Prophetie war dieser Bewegung nicht in die Wiege gelegt; an ihrem Anfang standen viel eher Urteile abschätziger Verachtung (vgl. etwa 1Sam 10,11f. oder Num 11,28). Vielmehr hat die Hochschätzung der Prophetie im Alten Testament letztlich ihre Wurzeln im veränderten Verständnis von der Aufgabe der Propheten, wie sie in den Visionsberichten des Amos ihren ersten und in der Erzählung von der Wanderung Elias an den Horeb ihren programmatischen Ausdruck fand.
18. Das Rätsel der Schriftprophetie Mit dem Titel des Beitrags werden vier Problemkreise berührt, die die gegenwärtige Prophetenforschung intensiv beschäftigen, die aber voneinander zu unterscheiden sind: 1) Die Schriftlichkeit der Prophetie generell. Prophetie ist von Haus aus ein wesenhaft mündliches Phänomen: Propheten suchen im Auftrag von Bittstellern in Not den Gotteskontakt, um den Bittstellern eine möglichst günstige Gottesbotschaft zu vermitteln, wie es mit ihrer Not weitergehen wird (sog. induktive Prophetie), oder sie werden ungewollt von einer Gottesbotschaft ergriffen, die sie an deren Adressaten weiterzuleiten haben (sog. intuitive Prophetie). Beide für die Prophetie im Alten Orient wie im Alten Testament typischen Tätigkeiten sind alltägliche Vorgänge, die sich mündlich vollziehen und von sich aus zu keiner Schriftlichkeit führen. Deshalb sind die Umstände zu klären, unter denen Prophetie einerseits im Alten Orient, andererseits im Alten Testament schriftlich niedergelegt worden ist. 2) Das Wesen schriftlicher Prophetie. Inwieweit hat die Schriftlichkeit der Prophetie die mündliche Verkündigung der Propheten verändert? Wieder lohnt ein Vergleich zwischen altorientalischer und alttestamentlicher Prophetie. 3) Die Entstehung von Prophetenbüchern. Da Prophetenbücher im Alten Orient unbekannt sind, bedürfen die Gründe, die zur Entstehung solcher Schriften im Alten Testament geführt haben, besonderer Untersuchung. 4) Die Eigenart genuiner Schriftprophetie, d.h. einer Gestalt von Prophetie, die keine mündliche Vorgeschichte kennt. Sie ist ein Phänomen der nachexilischen Zeit und setzt vorhandene Prophetenbücher voraus. Der mit diesen Fragen angedeutete Weg von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit und über die Entstehung von Prophetenbüchern hin zur genuinen Schriftprophetie spiegelt eine immer höhere Wertung der Prophetie im Alten Testament wider. Es versteht sich von selbst, dass ein einzelner Aufsatz nur gewichtige Teilaspekte des komplexen Fragenkreises der Schriftprophetie herausgreifen kann.
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1. Die altorientalischen Parallelen Wie sehr die alttestamentlichen Prophetenworte durch ihre schriftliche Gestalt geprägt sind, in der sie uns überkommen sind, ist erst der jüngeren Forschung voll bewusst geworden. Es bedurfte dazu des Vergleichs mit der altorientalischen Prophetie. Ein solcher Vergleich aber war über lange Zeit nicht möglich, weil so gut wie keine altorientalischen Prophetentexte bekannt waren. Als etwa vor gut einem Jahrhundert die heftigen Wogen des sog. Babel-BibelStreits über die Gebildeten in Deutschland hereinbrachen, blieb die alttestamentliche Prophetie weitgehend unberührt. Zwar belegten die vom Spaten der Archäologen freigelegten Texte verschiedene Klassen von Propheten in Mesopotamien, aber nur ganz selten wurde ein prophetischer Ausspruch in einem Brief oder einem Bericht eher beiläufig zitiert wie etwa in dem berühmten Reisebericht des Ägypters Unamȗn aus dem 11. Jh. v. Chr., der einen Ekstatiker aus Byblos beschreibt, oder auf der Stele, die der König Zakkur von Hamath ca. 800 v. Chr. zum Dank an Baal-Schamȋn errichten ließ, der ihm in akuter Kriegsnot durch Seher und Zukunftsdeuter ein Heilsorakel hatte zukommen lassen1. Das überraschende Fehlen von Parallelen zu biblischen Prophetentexten unter den Textfunden des Alten Orients war umso auffälliger, als das Alte Testament ja selber in mehreren Beispielen bezeugt, dass auch die Nachbarvölker Israels Propheten besaßen. Erinnert sei nur an den Seher Bileam, den der moabitische König um Hilfe ruft (Num 22–24) und der uns inzwischen auch außerhalb der Bibel bezeugt ist (s.u.); oder an die 400 Baal- und Aschera-Propheten, mit denen sich Elia auf dem Karmel auseinandersetzen musste (1Kön 18); oder an die Propheten, die die Könige von Edom, Moab, Ammon, Tyrus und Sidon zu ihrem Gefolge zählten, als sie in Jerusalem berieten, welche Maßnahmen sie gegen einen bevorstehenden Feldzug des babylonischen Königs Nebukadnezar treffen sollten (Jer 27,9). Die genannten Könige reisten offensichtlich deshalb nicht ohne ihre Propheten zu dieser konspirativen Versammlung, weil sie sicher sein wollten, dass ihre politischen Pläne im Einklang mit dem Willen der jeweiligen Gottheit standen. Heute hat sich der Stand unserer Kenntnis altorientalischer Prophetentexte erheblich verbessert. Neben einer Fülle von mehr oder weniger zufälligen Einzelbelegen aus unterschiedlichen Kontexten sind es vor allem die Bibliothek des altbabylonischen Königs Zimrilim aus Mari, die Archive der letzten neuassyrischen Könige und die Inschriften des auch im Alten Testament bekannten Propheten Bileam vom Tell Deir ʿAllā im Jordantal, die dem alttes-
1 Vgl. etwa K. GALLING (Hg.), TGI, Tübingen 21968, 41–48 einerseits und H. DONNER/ W. RÖLLIG (Hg.), KAI, Wiesbaden 1964, Text 202 andererseits.
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tamentlichen Exegeten erhebliche Erkenntnishilfen geboten haben 2 . Jedoch liegen die Hilfen der genannten Texte auf ganz verschiedenen Ebenen. Es handelt sich eben jeweils um archäologische Zufallsfunde. Von der Möglichkeit, die Funktion der Schriftlichkeit für die Prophetie des Alten Orients generell beschreiben zu können, sind wir noch weit entfernt. Warum in Mesopotamien zwar zahlreiche Klassen von Propheten, aber nur so wenige prophetische Worte schriftlich belegt sind, haben vor allem die altbabylonischen Briefe mit prophetischen Botschaften aus der riesigen königlichen Bibliothek in Mari am mittleren Euphrat gezeigt, deren Mehrzahl in den dreißiger Jahren des vergangenen Jh.s veröffentlicht wurde 3. In diesen Briefen, die vornehmlich treue Beamte an den König von Mari sandten, die auf ihren Inspektionsreisen durch die königlichen Besitztümer von Begegnungen mit Propheten berichteten, tritt uns eine Gestalt der Prophetie entgegen, die ohne Zweifel zur Vorgeschichte der alttestamentlichen Prophetie gehört, auch wenn sie nahezu ein Jtsd. älter als diese ist. Phänomenologisch ist die Nähe beider Formen von Prophetie frappierend: Hier wie dort legitimieren sich die Propheten durch die sog. Botenformel, hier wie dort berufen sie sich auf die gleichen Offenbarungsmittel (Traum, Vision, Ekstase), hier wie dort gibt es unter ihnen Laien und Berufspropheten, Männer und Frauen, Einzelne und Gruppen, hier wie dort steht ungefragte (intuitive) neben erbetener (induktiver) Gottesbotschaft. Trotz dieser phänomenologischen Nähe sind die Inhalte der prophetischen Botschaft im Alten Testament und in Mari erstaunlich unterschiedlich. Den kultischen Forderungen der Erneuerung eines Tempeltores bzw. der staatlichen Lieferung von Opfertieren oder aber den Warnungen vor politischen Aktionen in den Briefen aus Mari steht in den alttestamentlichen Texten etwa die grundsätzliche Frage gegenüber, wie sich die Verantwortung des Königs zur Autorität Gottes verhält bzw. unter welchen Umständen ein König der König Gottes sein und bleiben kann. Wenn man anfangs diese unverkennbaren Differenzen sogleich mit der Überlegenheit der biblischen Gottesvorstellung gegenüber derjenigen in Mari begründen wollte4, so urteilte man freilich vorschnell5. Die genannten Differenzen ver2
Die heute bekannten Prophetentexte in ihrer Gesamtheit nennt M. NISSINEN, Spoken, Written, Quoted, and Invented: Orality and Writtenness in Ancient Near Eastern Prophecy, in: E. Ben Zvi/M. Floyd (Hg.), Writings and Speech in Biblical and Ancient Near Eastern Prophecy (SBL Symposium Series 10), Atlanta 2000, 235–271; 236–238. 3 Vgl. etwa F. ELLERMEIER, Prophetie in Mari und Israel, Herzberg 1968 und M. DIETRICH, TUAT II/1, Gütersloh 1986, 83–93. Zu den zuletzt edierten Briefen aus Mari mit prophetischem Inhalt vgl. M. NISSINEN, Prophets and Prophecy in the Ancient Near East. Writings from the Ancient World 12, Atlanta 2003, 13–77 und zuletzt R. PIENTKA-HINZ, TUAT N.F. 4, Gütersloh 2008, 53–55. 4 Selbst M. NOTH war nicht frei von solchen Erwägungen; vgl. sein „Geschichte und Gotteswort im Alten Testament“ (1949), in: DERS., Gesammelte Studien zum Alten Testament (TB 6), München 1957, 230–247; 240f.
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danken sich erst in zweiter Linie solchen hintergründigen Verschiedenheiten, primär sind sie dagegen mit der unterschiedlichen Textentstehung zu erklären. Die Maribriefe belegen mündliche Prophetie in schriftlicher Gestalt. Die Beamten haben in ihren Briefen so getreu wie nötig, wenngleich auch so kurz wie möglich, die mündlichen Worte der Propheten, denen sie auf ihren Inspektionsreisen begegneten, festgehalten; sie galten ja nicht ihnen, sondern dem König. Ob die Etikette am Hof von Mari es den Propheten (und Beamten) unmöglich machte, direkt vor den König zu treten, wie zu vermuten ist – auch Hofdamen und selbst die Schwester des Königs übermitteln ihm ihre prophetischen Träume schriftlich –, oder ob ihnen nur der Weg zum Hof zu weit war: Sie bedurften des vermittelnden Beamten, und nur deshalb sind ihre Worte schriftlich überliefert. Es waren wesenhaft mündliche Worte, die die Beamten für den König niederschrieben, und als solche Worte für den Tag bzw. die unmittelbar folgenden Tage. Der König muss die jeweiligen Botschaften nach gewisser Zeit vernichtet haben, weil sie sich überholt hatten und er in seiner Bibliothek Platz für aktuellere Briefe und für Rechts- und Wirtschaftsurkunden benötigte. Die Texte, die wir besitzen, verdanken wir einem Zufall. Wäre die Decke der Bibliothek einen Monat später eingestürzt, hätten die Ausgräber sehr wahrscheinlich Briefe mit anderen Prophetenworten vorgefunden. Nun gibt es freilich auch in Mesopotamien wie im Alten Testament bewusst schriftlich tradierte Prophetie, wenngleich nur während einer kurzen Epoche. Die Belege sind erheblich jünger als die Prophetie aus Mari, sie stehen der klassischen Prophetie im Alten Testament dafür zeitlich äußerst nahe. Im Blick ist die neuassyrische Prophetie. Ihre ersten Texte waren schon viel früher als die Maribriefe bekannt6, aber trotz ihrer auffälligen Nähe zu den sog. Heilsorakeln Deuterojesajas hat man ihnen anfangs wenig Aufmerksamkeit geschenkt. J. Begrich etwa hat seine bekannte Rekonstruktion des „priesterlichen Heilsorakels“ ohne einen Blick auf sie vollzogen7. Die gegenwärtig bekannten Belege hat S. Parpola 1997 publiziert, und vor allem M. Weippert und M. Nissinen haben ihre Bedeutung für das Alte Testament herausgestellt8. 5
Mit Recht ist in neuerer Zeit häufig betont worden, dass auch die prophetischen Maritexte deutliche Kritik am König äußern können; vgl. bes. M. NISSINEN, Das kritische Potential in der altorientalischen Prophetie, in: DERS./M. Köckert (Hg.), Propheten in Mari, Assyrien und Israel (FRLANT 201), Göttingen 2003, 1–32. 6 Seit 1875. Vgl. etwa H. GRESSMANN, AOT, Berlin 21926, 281f. 7 J. BEGRICH, Das priesterliche Heilsorakel, ZAW 52 (1934) 81–92 = DERS., Gesammelte Studien zum Alten Testament (TB 21), München 1964, 217–231. 8 S. PARPOLA, Assyrian Prophecies (State Archive of Assyria 9), Helsinki 1997; M. WEIPPERT, Assyrische Prophetien der Zeit Asarhaddons und Assurbanipals, in: F. M. Fales (Hg.), Assyrian Royal Inscriptions: New Horizons, Orientis Antiqui Collectio VII, Rom 1981, 71–116; DERS., Aspekte israelitischer Prophetie im Licht verwandter Erscheinungen des Alten Orients, in: Ad bene et fideliter seminandum (FS K. Deller [AOAT 220]), hg. von
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Es handelt sich um Orakel, die überwiegend von der Göttin Ischtar, besonders der Ischtar von Arbela, aber auch etwa von Assur oder Nabu gesprochen und durch Propheten – überwiegend Prophetinnen – vermittelt wurden, deren Namen und Herkunft im jeweiligen Kolophon sorgsam notiert wurden; sie waren an die Könige (bzw. teilweise noch Kronprinzen) Asarhaddon und Assurbanipal gerichtet9. Es sind Beispiele von Heilsprophetie an den König, die am Königshof tradiert wurde. Die Orakel beginnen gemeinhin mit der Selbstvorstellung der redenden Gottheit10, enthalten Beistands- und Siegeszusagen für den König und sind in der Mehrzahl – aber nicht immer – an der „Beschwichtigungsformel“ (M. Weippert) „Fürchte dich nicht!“ erkennbar. Diese Orakel sind in zweierlei Gestalt auf uns gekommen: teilweise (sechs Belege) auf Einzeltafeln im Querformat, die dann jeweils nur ein Orakel enthielten, teilweise aber auch als Sammeltafeln im Längsformat und mit zwei oder drei Schriftkolumnen, die zehn, sechs oder drei Einzelorakel zusammenfassten. Letztere betreffen ausschließlich Asarhaddon; sie sind nach sachlichen Gesichtspunkten angeordnet und gelten dem Sieg Asarhaddons in seiner Auseinandersetzung mit seinen Brüdern um die Thronfolge, seiner Thronbesteigung und der Zeit seiner ersten Regierungsjahre. Auch ein Orakel an Assurbanipal ist als Tafel im Längsformat gestaltet worden. Während nun für die Einzelorakel auf Tafeln im Querformat ganz verschiedene Anlässe ihrer schriftlichen Abfassung denkbar sind – sie könnten etwa zu Zeiten der Abwesenheit des Königs an die Prophetin oder den Propheten ergangen sein11 –, so nicht mehr bei den Sammeltafeln für Asarhaddon und der Tafel im Längsformat für Assurbanipal. Hier liegt deutlich bewusste Archivierung vor: Die Könige haben die Prophetenworte zu Legitimationszwecken schriftlich überliefern lassen. Die beiden letzten großen Könige des neuassyrischen Reiches, Asarhaddon und Assurbanipal, waren auf unterschiedliche Weise in Thronwirren verwickelt und mussten sich mit Brüdern auseinandersetzen, die mit gleichem oder gar mit mehr Recht den vakant gewordenen Thron für sich beanspruchten. Die Heilsorakel der Hofpropheten boten ihnen eine willkommene (zusätzliche) Legitimation ihrer Herrschaft.
G. Mauer/U. Magen, Neukirchen-Vluyn/Kevelaer 1988, 287–319; M. NISSINEN, References to Prophecy in Neo-Assyrian Sources (State Archive of Assyria Studies 7), Helsinki 1998; DERS., Prophets and Prophecy, a.a.O. (Anm. 3), 97–132; vgl. K. HECKER, TUAT II/1, Gütersloh 1986, 56–82 und zuletzt R. PIENTKA-HINZ, TUAT N.F. 4, Gütersloh 2008, 55–60. 9 Das gilt sachlich auch dort, wo ein Orakel formal einmal an die Mutter des Königs bzw. an die Bevölkerung von Assur adressiert war. 10 Die unterschiedlichen Funktionen dieser Selbstvorstellungen hat M. WEIPPERT, „Ich bin Jahwe“ – „Ich bin Ištar von Arbela“. Deuterojesaja im Lichte der neuassyrischen Prophetie, in: Prophetie und Psalmen (FS K. Seybold [AOAT 280]), hg. von B. Huwyler/H.-P. Mathys/ B. Weber, Münster 2001, 31–60 herausgestellt. 11 Diese Möglichkeit erwägt NISSINEN, Spoken, Written, a.a.O. (Anm. 2), 247.
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Für den Alttestamentler sind diese Texte unter ganz anderem Gesichtspunkt von großem Wert als die Maribriefe. Sie bezeugen erstmalig einen schriftlichen Traditionsprozess in der außerbiblischen Prophetie des Alten Orients und mit ihm, zumindest auf den Sammeltafeln, nicht nur den Vorgang einer bewussten Auswahl, sondern mit ihm verbunden auch die Gestaltung der prophetischen Worte in einer gewissen Stilisierung. Es lassen sich grob vier verschiedene Texttypen unterscheiden, denen entsprechend die Orakel der Sammeltafeln gestaltet sind12. Man muss im Blick auf die bisher behandelten Belege altorientalischer Prophetenworte in schriftlicher Form also zwei Arten von Schriftlichkeit deutlich unterscheiden: Gelegenheitsschriften, die sich den äußeren Umständen verdanken, aber wesenhaft mündliche Prophetie bleiben – für sie sind die Maribriefe mit prophetischen Botschaften und die Einzeltafeln der neuassyrischen Prophetie Beispiele –, und eine Prophetie, die auf bewusste Archivierung zurückgeht13. Die archivierten Orakel hätten theoretisch in der Ausbildung der Schreiber als Vorbild dienen können, wäre das neuassyrische Reich nicht so bald nach Assurbanipals Tod untergegangen. Die auf den Sammeltafeln belegte Prophetie war als Königsprophetie naturgemäß eng an die Dynastien gebunden, an die sie gerichtet war. Jedoch zeigt der überaus gewichtige neueste Textfund schriftlich niedergelegter Prophetie aus Israels unmittelbarer Nachbarschaft, dass die Unterscheidung zwischen prophetischen Gelegenheitsschriften und archivierter Prophetie nicht ausreichend ist. Gemeint ist der außergewöhnliche Fund von (alt-)aramäischen Inschriften vom Tell Deir ʿAllā im Jordantal14, die für den Alttestamentler nicht nur darum von Bedeutung sind, weil sie aus Israels unmittelbarer Nachbarschaft stammen und mit dem beginnenden 8. Jh. v. Chr. aus der Zeit der einsetzenden „klassischen Prophetie“ im Alten Testament, auch nicht nur, weil sie die Gesichte des auch biblisch gut bekannten Sehers Bileam festhalten, sondern vor allem, weil sie die engste Sachparallele zur umfassenden Unheilsprophetie der biblischen Propheten bieten. Sie waren mit roter und schwarzer Tinte auf Verputz geschrieben, der zu Boden gefallen war, waren also, solange das Gebäude – nach Meinung der niederländischen Ausgräber ein Heiligtum – stand, an der Wand des betreffenden Raumes für jedermann zu jeder Zeit zu lesen. Leider sind sie nur fragmentarisch erhalten, aber da die (nur in Bruchstücken rekonstruierbare) zweite Kombination von Textfragmenten wie auch die zweite Hälfte der ersten weisheitliche Begriffe 12
Vgl. WEIPPERT, Assyrische Prophetien, a.a.O. (Anm. 8), 76. Zu diesem Ergebnis kommt auch M. NISSINEN in seiner materialreichen und sorgfältigen Untersuchung der Schriftlichkeit in der altorientalischen Prophetie im zuvor genannten Beitrag „Spoken, Written“, a.a.O. (Anm. 2), 268f. 14 Erstpublikation von J. HOFTIJZER/G. VAN DER KOOJ, Aramaic Texts from Deir ʿAllā (DMOA 19), Leiden 1976. 13
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und Bilder enthalten15, ist es wahrscheinlich, dass die Texte aus didaktischen Gründen an die Wand geschrieben wurden, ohne dass wir zu sagen vermögen, ob im Raum generelle Bildung oder spezifisches Prophetenwissen vermittelt wurde. Die weit besser erhaltene erste Kombination bietet in Form einer Erzählung „die Schrift des Gottessehers Bileam, Sohn des Beor“, der in einer nächtlichen Gotteserscheinung von einer kommenden Katastrophe erfährt, auf die er mit Weinen und Fasten, d.h. mit sog. „Selbstminderungsriten“ (E. Kutsch), reagiert. Seinen Mitbewohnern (?), die nach dem Grund seines Weinens fragen, berichtet er von einer Götterversammlung, auf der die Schaddajin-Götter der Sonnengöttin Šmš16 gewähren, den Himmel zu verfinstern und Schrecken heraufzuführen. In der schwer verständlichen Fortsetzung wird eine menschliche Gesellschaft geschildert, die völlig gestört ist, wobei nicht klar ist, ob die chaotischen Zustände Anlass oder Folge des Grimmes der Sonnengöttin sind, und es werden Mahnungen und Warnungen an die Menschen laut. Für Leser, die von den prophetischen Belegen aus Mari und Ninive herkommen, bietet die Inschrift des Sehers Bileam zahlreiche Überraschungen. Sie beginnen bei dem hohen literarischen Niveau, das zuvor niemand an einem kleinen Ort im Palästina des 8. Jh.s v. Chr. erwartet hätte; es setzt eine Ausbildung von im höchsten Maße qualifizierten Schreibern voraus. Es bestanden im Palästina des 8. Jh.s offensichtlich Möglichkeiten komplexer Textproduktion auch außerhalb des Königshofes. Diese schriftliche Prophetie hat – im Unterschied zu den mesopotamischen Belegen – nichts mit dem Königshof zu tun und nichts mit dessen kultischen und politischen Alltagsproblemen. Statt dessen präsentiert die Inschrift einen Propheten, der Zugang zur göttlichen Ratsversammlung besitzt, der von umfassendem Unheil weiß, das die Götter – und insbesondere die Sonnengöttin als Repräsentantin der Ordnung und Gerechtigkeit – über die Menschen bringen werden, und der die Menschen dringlich angesichts dieser Zukunft warnt17. Er steht den Unheilspropheten des Alten Testaments geographisch und sachlich ungleich näher als 15 Vgl. H.-P. MÜLLER, Die aramäische Inschrift von Deir ʿAllā und die älteren Bileamsprüche, ZAW 94 (1982) 214–244; E. BLUM, Israels Prophetie im altorientalischen Kontext. Anmerkungen zu neueren religionsgeschichtlichen Thesen, in: I. Cornelius/L. Jonker (Hg.), „From Ebla to Stellenbosch“ (ADPV 37),Wiesbaden 2008, 81–115; 89–96. 16 Während HOFTIJZER, Aramaic Texts, a.a.O. (Anm. 14), 272ff. und DERS., TUAT II/1, Gütersloh 1986, 138ff. und H. und M. WEIPPERT, Die „Bileam“-Inschrift von Tell Dēr ʿAllā, ZDPV 98 (1982) 77–103 noch für die Lesung šgr plädieren, lesen M. WEIPPERT, Der „Bileam“-Text von Tell Dēr ʿAllā und das Alte Testament (1991), in: DERS., Jahwe und die anderen Götter (FAT 18), Tübingen 1997, 163–188; 168.179f. und E. BLUM, Israels Prophetie, a.a.O. (Anm. 15), 89 im Gefolge von A. CAQUOT/A. LEMAIRE, Les textes araméens de Tell Deir ʿAllā, Syria 54 (1977) 189–208, šmš. 17 Vgl. die eindrückliche Zusammenfassung BLUMs, Israels Prophetie, a.a.O. (Anm. 15), 95f.
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alle anderen Propheten des Alten Orients, von denen wir Kenntnis haben, auch wenn es sich nicht um aktuelle Prophetenrede an konkrete Adressaten handelt. Insgesamt zeigt sich, dass die drei wichtigsten Zeugnisse für schriftliche Prophetie im Alten Orient, die uns gegenwärtig bekannt sind, weder in irgendeiner Beziehung zueinander stehen noch als repräsentativ für Prophetie in Schriftform generell gelten können. Im Falle von Mari mag die Schriftlichkeit mit der Etikette am Hof zu erklären sein, im Fall der neuassyrischen Belege mit dem Bedürfnis der letzten großen neuassyrischen Könige nach Legitimation, im Fall des Tell Deir ʿAllā mit der besonderen Ausstrahlung des Sehers Bileam und seiner Unheilsvisionen. In allen drei Fällen verdankt sich die Schriftlichkeit speziellen Umständen. Prophetie ist im Alten Orient wie im Alten Testament ein wesenhaft mündliches Phänomen, und im Alten Orient bleibt sie es – im Unterschied zum Alten Testament.
2. Die Anfänge der Schriftprophetie im Alten Testament Obwohl schriftliche Prophetie im Alten Orient selten belegt ist, obwohl sie alles andere als eine Selbstverständlichkeit war, so bedeutete sie doch einen sachlichen Einschnitt in den alltäglichen Vorgang der mündlichen Verkündigung von Prophetenworten. Solange ein Prophet nicht selbst geschrieben hat, was die große Ausnahme gewesen sein wird18, tritt mit dem Schreiber eine weitere Größe neben dem Propheten zwischen die Gottheit als Absender der prophetischen Botschaft und ihren Empfänger. Die Schreiber sind nicht immer neutrale, unbeteiligte Übermittler gewesen. Die Beamten in Mari etwa geben dem König mehrfach zu erkennen, was sie von der jeweiligen Gottesbotschaft der Propheten halten, ob sie sie für vertrauenswürdig, für dringlich oder für fragwürdig halten. Auch ist das schriftliche Prophetenwort in der Regel weit kürzer als die mündliche Prophetenrede, also ein Kondensat und kein Tonbandprotokoll und somit automatisch ein Vorgang der Gewichtung und der Deutung. Im Alten Testament kann man sich diesen Sachverhalt daran verdeutlichen, dass Propheten wie Hosea, Jesaja und Jeremia zwei oder mehr Jahrzehnte als Propheten aufgetreten sind, aber nur relativ wenige, offensichtlich als besonders gewichtig bewertete Worte von ihnen überliefert worden sind. Die neuassyrischen Orakel zeigen zudem, wie sehr die schriftliche Überlieferung von Prophetenworten Formzwängen unterliegen konnte. „At the very moment the prophetic message is written down it becomes a more or less re18
Vgl. K. VAN DER TOORN, From the Oral to the Written: The Case of Old Babylonian Prophecy, in: E. Ben Zvi/M. Floyd (Hg.), Writings and Speech in Biblical and Ancient Near Eastern Prophecy (SBL Symposium Series 10), Atlanta 2000, 219–234; 229.
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fined literary form, adjusted to necessary scribal conventions and stylized according to prevailing customs.”19 Im Alten Testament kommen zwei wichtige Aspekte des Übergangs vom mündlichen zum schriftlichen Prophetenwort hinzu, die einen Hinweis auf die Entstehung der schriftlichen Überlieferung bieten. Zum einen ist die weit überwiegende Anzahl an überlieferten Prophetenworten poetisch gefasst. Auch wenn sich nicht ausschließen lässt, dass Propheten einzelne Orakel in poetischer Form vorgetragen haben, so spricht doch in der Mehrzahl der Belege schon die verdichtete Sprache der überlieferten Texte, deren Inhalt sich oft erst nach mehrfachem Lesen öffnet, dafür, dass sich in diesen Texten eine konzentrierte Zusammenfassung längerer Reden widerspiegelt, die in ihrer poetischen Gestalt besser gelernt werden konnten. Weit gewichtiger aber ist die in den Texten auf Schritt und Tritt begegnende Ablehnung der prophetischen Botschaft, die mit ihrem (neuen) Inhalt zusammenhängt und zu deren erster Niederschrift geführt hat. Solche Niederschriften mögen sich anfangs eher zufälligen Gelegenheiten verdanken; aber dabei ist es nicht geblieben. Der Übergang von einer Gelegenheitsniederschrift zur archivierten Prophetie ist gut an Jer 36 zu erkennen. Nach Jer 36,17 hat Baruch auf Diktat des Propheten Jeremia eine Schriftrolle abgefasst, die von ihm öffentlich verlesen werden sollte, da Jeremia selbst am Vortrag verhindert war. Jeremias Worte wurden demnach zunächst nur für diesen einen Zweck niedergeschrieben, möglicherweise „in schneller Kursivschrift“. Für diese in Eile geschriebene Rolle mag die Bezeichnung „eine Art Stenogrammblock“20 nicht allzu übertrieben sein. Keinesfalls aber dürfte man die gleiche Charakterisierung auf die zweite Rolle anwenden, die Jeremia seinem Schreiber Baruch auf Befehl Jahwes diktiert hat, nachdem der König Jojakim die erste Rolle verbrannt hatte; nicht weil die zweite Rolle umfangreicher war und noch „viele entsprechende Worte“ (V.32) enthielt, sondern weil die neue Rolle als Zeugnis gegen einen König und ein Volk dienen sollte, „die nicht hören wollten“ (V.31). Weil das Wort Jahwes durch Jeremia für den König eine Gefahr war, insofern es seine Stellung im Volk unterminierte, wollte er es beseitigen. Das neu von Jahwe bekräftigte Gotteswort der zweiten Rolle richtete dieses scheinbar vernichtete Wort nun wieder auf, damit es seine Wahrheit gegenüber seinen Gegnern bezeugen sollte. Konnte man im Blick auf die erste Rolle noch sagen, dass sie einen „gewissermaßen zufällig und nur aus praktischen Gründen in einer Niederschrift vorliegenden Text“ biete21, so wäre diese Charakterisierung für die 19
NISSINEN, Spoken, Written, a.a.O. (Anm. 2), 244. So I. WILLI-PLEIN, Spuren der Unterscheidung von mündlichem und schriftlichem Wort im Alten Testament, in: DIES., Sprache als Schlüssel. Gesammelte Aufsätze, hg. von M. Pietsch/T. Präckel, Neukirchen-Vluyn 2002, 116–129; 119. 21 A.a.O., 129. 20
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zweite Rolle unangemessen. Nicht die erste, wohl aber die zweite Niederschrift des Baruch bezeugt in der Erzählung die Geburtsstunde des Jeremiabuches, wie ja auch schon die ältere Forschung unter Berufung auf Jer 36 von einer „Urrolle“ des Jeremiabuches sprach. Die zweite Rolle war nicht für die Situation einer einmaligen Verlesung gedacht, sondern als der Garant der Wahrheit eines Gotteswortes bis zu seiner Bestätigung durch den Verlauf der Geschichte. Was sich an der Erzählung Jer 36 beobachten lässt, kann weithin für die erste Niederschrift anderer Prophetenworte verallgemeinert werden. Einer der wesentlichen Unterschiede zwischen dem mündlichen Wort der klassischen Propheten des Alten Testaments und dem schriftlichen Text, in dem es uns überkommen ist, liegt darin, dass der schriftliche Text schon die Wirkung des mündlichen Wortes, genauer: dessen Ablehnung, kennt und auf sie reagiert22. Man könnte an den Abschluss der „Denkschrift“ Jesajas (Jes 8,16–18) oder an Jes 30,8 erinnern, wo jeweils die Ablehnung der prophetischen Botschaft als wesentlicher Grund der Niederschrift erscheint, oder an die so häufig belegten Einwände von Hörern gegen die Worte der Propheten (vgl. etwa Hos 9,7–9; Am 7,10–17; Jes 5,18f.; Mi 2,6–11 u.o.). In der Mehrzahl der Fälle geschieht die Abweisung der Botschaft des Propheten in den überkommenen Texten erkennbar implizit23, in einer Reihe von Fällen aber auch explizit. Für Letzteres ist Jes 30,15 ein Beispiel: So spricht JHWH, der Herr, der Heilige Israels: In Umkehr und Stille hätte eure Rettung gelegen, in Ruhe und Vertrauen hätte eure Stärke bestanden – aber ihr habt nicht gewollt.
Das mündliche Wort des Propheten ist offensichtlich in eine noch offene Entscheidungssituation hinein ergangen, in der der Prophet zumindest noch eine gewisse Hoffnung gehabt haben muss, dass König und Volk ihr – in seinen Augen illusionäres – Zutrauen auf die eigenen militärischen Machtmittel und 22
Diese Veränderung des mündlichen Wortes hat besonders O. H. STECK in seinen Aufsätzen zur „Denkschrift“ Jesajas intensiv beschäftigt; vgl. DERS., Bemerkungen zu Jesaja 6*, in: Wahrnehmungen Gottes im Alten Testament, Gesammelte Studien (TB 70), München 1982, 149–203. Noch in seinem letzten Buch „Gott in der Zeit entdecken. Die Prophetenbücher des Alten Testaments als Vorbild für Theologie und Kirche“ (BThSt 42), NeukirchenVluyn 2001, hat er im Blick auf die frühen Jesajatexte betont, dass deren Formulierungen „immer [!] schon die Erfahrung der Ablehnung in sich schließen“ (155, Anm. 75). Vgl. präzisierend dazu in jüngster Zeit F. HARTENSTEIN, Das Archiv des verborgenen Gottes (BThSt 74), Neukirchen-Vluyn 2011, XI. 3f. u.ö. 23 Ein Beispiel für die in den Texten implizit vorausgesetzte Ablehnung des Gotteswortes der Propheten ist die Tatsache, dass zahlreiche Mahnworte der Propheten in einem Kontext stehen, der ihre Abweisung voraussetzt; vgl. H. W. WOLFF, Das Thema „Umkehr“ in der alttestamentlichen Prophetie (1951), in: DERS., Gesammelte Studien (TB 22), München ²1973 (1964), 130–150.
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auf die Unterstützung ägyptischer Truppen aufgeben und stattdessen dem Gotteswort des Propheten Vertrauen schenken möchten. Der schriftliche Text hat diese Situation schon im Rücken. Die Entscheidung ist gegen das prophetische Gotteswort gefallen, und der Text sieht das Volk auf seine Katastrophe zulaufen. Alle frühen schriftprophetischen Texte enthalten schon Geschichtsdeutung aus der Perspektive des abgewiesenen Gotteswortes. Jes 30,15 bezeugt den das Gotteswort Verwerfenden, dass die Katastrophe kommen wird – und er warnt später diejenigen, die schon durch die Katastrophe gegangen sind, davor, dass auch sie entsprechend ihr Leben verfehlen können. Aber dieses weitergehende Anliegen des Textes ist seine spätere, nicht seine primäre Intention. Es ist dieser Befund, der die jüngst von R.G. Kratz u.a.24 vertretene These, die sog. klassischen Propheten seien in ihrer mündlichen Verkündigung in nichts von den zeitgenössischen Propheten des Alten Orients unterschieden gewesen und erst ihre Tradenten hätten sie unter dem Eindruck der staatlichen Zusammenbrüche von 722 und 587 v. Chr. zu Unheilspropheten werden lassen, so schwer verständlich macht. Schon 1997 dekretierte Kratz: „Jesaja war ein Heilsprophet … Erst in der Retrospektive wird aus ihm in der Denkschrift Jes 6–8 ein Gerichtsprophet für Israel und Juda, was die Überlieferer mit dem Topos der Ablehnung des Propheten begründen.“ 25 Hier macht sich Kratz seine Argumentation allzu leicht. Bei der Ablehnung der Gerichtspropheten handelt es sich keineswegs um einen literarischen „Topos“ oder, wie Kratz zuvor formuliert, um ein „Motiv“26, die in wiederholter Begrifflichkeit und Fügung begegnen würden, sondern um einen Sachverhalt, der, wie wir sahen, in gleicher Weise direkt (Hos 9,7–9; Am 7,10–17; Mi 2,6f. u.ö.) wie indirekt in der Gestaltung der Prophetenworte belegt ist, deren Wortlaut schon auf die vorausgehende Abweisung im Stadium der mündlichen Verkündigung verweist. Auch die innerprophetischen Auseinandersetzungen (vgl. nur Mi 3,5–8) werden von Kratz übergangen. Wenn für Kratz „die unbedingte Gerichtsprophetie … ein Produkt der Überlieferungsbildung“27 ist, ohne Anhalt an der mündlichen Botschaft der Propheten, so ist dieses Urteil in seiner Pauschalität weniger ein Ergebnis exegetischer Einsicht28 als vielmehr grundsätzlicher Überzeugungen. Für Kratz kann „die unbe-
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Ich nenne nur K.-F. Pohlmann und U. Becker. Da Kratz seine These bei weitem am intensivsten begründet hat, konzentrieren sich die folgenden Gedanken auf ihn. Zudem ist die nachexilische Datierung zahlreicher Unheilsworte der klassischen Propheten durch U. Becker in jüngster Zeit mit m.E. schlagenden Argumenten von E. BLUM, Israels Prophetie, a.a.O. (Anm. 15), 97f. zurückgewiesen worden. 25 R. G. KRATZ, Die Redaktion der Prophetenbücher, in: DERS./Th. Krüger (Hg.), Rezeption und Auslegung im Alten Testament und in seinem Umfeld (OBO 153), Fribourg 1997, 9– 27, zitiert nach: DERS., Prophetenstudien. Kleine Schriften II (FAT 74), Tübingen 2011, 32– 48; 44. 26 A.a.O., 42. 27 A.a.O., 44. 28 Ergebnis exegetischer Untersuchungen ist die Einsicht, wie schwer der Rückgriff von der mit redaktionsgeschichtlichen Mitteln gewonnenen ältesten literarischen Schicht eines Prophetenbuches auf die zugrunde liegende mündliche Verkündigung ist; vgl. R. G. KRATZ, Die Worte des Amos von Tekoa, in: M. Köckert/M. Nissinen (Hg.), Propheten in Mari, Assyrien und Israel (FRLANT 201), Göttingen 2003, 54–89 = DERS., Prophetenstudien, Kleine
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dingte Gerichtsverkündigung“ nicht für die klassische Prophetie in Anspruch genommen werden, weil sie „vor 587 v. Chr. nicht in die religionsgeschichtliche Landschaft passt“29. „Die Schriftpropheten sind ein Fremdkörper in der israelitisch-judäischen Religionsgeschichte der vorexilischen Zeit, die sich hier wie sonst von der kanaanäischen Religionsgeschichte in nichts unterscheidet.“30 Diese kühnen Behauptungen, die der Beschränkung und Zufälligkeit unserer gegenwärtigen Kenntnisse der altorientalischen Prophetie wenig Beachtung schenken31, übersehen vor allem die Implikationen der Wandinschriften vom Tell Deir ʿAllā, wie Kratz in jüngster Zeit mit Recht von J. Chr. Gertz, A. Scherer und E. Blum entgegengehalten worden ist 32. Mir selbst ist unverständlich, wie man sich unter den Prämissen von Kratz die Überlieferungsbildung nach dem Fall Samarias vorstellen soll. Welche Tradenten sollten sich die Freiheit genommen haben, aus Verkündigern einer Heilsbotschaft, deren Inhalt man ja teilweise noch kannte, „unbedingte Gerichtspropheten“ zu machen? Wie soll man sich unter diesen Voraussetzungen die so charakteristische (und sogleich näher darzustellende) Verschiedenheit des ältesten schriftlichen Stadiums der klassischen Prophetenbücher erklären wollen? Mit Blum formuliert: Hier geschieht „eine Aufhebung der Gerichtsprophetie in ein Phänomen der theologischen Schriftgelehrsamkeit“33.
Wenn aber die ältesten Prophetentexte nicht einfach das mündlich ergangene Prophetenwort bezeugen, sondern das prophetische Gotteswort als ein von den Hörern abgewiesenes, so hat diese Abweisung natürlich, wie man seit langem gesehen hat, mit dem Inhalt der Botschaft der klassischen Propheten zu tun. Das braucht hier nicht im Einzelnen dargelegt zu werden. Wesentlich erscheint mir nur hervorzuheben, dass diese Propheten, verglichen mit ihren Vorgängern, darin mit einem erhöhten Anspruch auftraten, dass sie das ihnen anvertraute Gotteswort nicht primär wie diese an Einzelne oder bestimmte Berufsgruppen und im äußersten Fall (wie die Propheten in Mari und Assyrien) an den König richteten, sondern – wie sonst nur die Vision des Sehers Schriften II (FAT 74), Tübingen 2011, 310–343, wenn man im Ergebnis auch anderer Meinung sein kann. 29 Redaktion, a.a.O. (Anm. 25), 42, unter Zustimmung zu einem ähnlichen Urteil Pohlmanns. 30 Das Neue in der Prophetie des Alten Testaments, in: DERS., Prophetenstudien. Kleine Schriften II (FAT 74), Tübingen 2011, 49–70; 57. 31 Dabei kann KRATZ andernorts (Probleme der Prophetenforschung, in: DERS., Prophetenstudien. Kleine Schriften II [FAT 74], Tübingen 2011, 3–17) mit Recht betonen, wie lückenhaft unsere Kenntnisse im Blick auf die Entstehung der Prophetenbücher, ihre Trägerkreise und die Gründe für das Nebeneinander von Prophetenerzählungen und Prophetenbüchern sind. 32 J. CHR. GERTZ, Die unbedingte Gerichtsankündigung des Amos, in: Gottes Wege suchend (FS R. Mosis), hg. von F. Sedlmeier, Würzburg 2003, 153–170; A. SCHERER, Vom Sinn prophetischer Gerichtsverkündigung bei Amos und Hosea, Bib. 86 (2005) 1–19; E. BLUM, Israels Prophetie, a.a.O. (Anm. 15), passim. KRATZ hat inzwischen auf seine Kritiker reagiert (Der Zorn Kamoschs und das Nein JHWHs, in: DERS., Prophetenstudien. Kleine Schriften II [FAT 74], Tübingen 2011, 71–98; 91–96), jedoch gerade im Blick auf die Bileam-Inschrift sehr unbefriedigend, deren Verständnis vor allem Blum erheblich vorangetrieben hat. 33 BLUM, Israels Prophetie, a.a.O. (Anm. 15), 85.
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Bileam vom Tell Deir ʿAllā – an das Volk als ganzes. Dieser Unterschied, den Kratz mit einer Handbewegung beiseite wischt34, war es, verbunden mit den hohen, nur wenigen Hörern vermittelbaren Maßstäben, an denen die Propheten das von ihnen angesprochene Volk in seiner Stellung vor Gott beurteilten, die zur Ablehnung ihrer Botschaft und in deren Folge zu ihrer ersten Niederschrift geführt hat. Zwar werden auch die Zeitgenossen der klassischen Propheten Schuld in ihrer Gesellschaft wahrgenommen haben; aber sie hielten sie für die Schuld Weniger, die sie mit den priesterlichen Kategorien von צדיק und רשׁעbeurteilten. Die Gesellschaft als ganze betrachteten sie als intakt, auch in ihrem Gottesverhältnis. Die klassischen Propheten aber sahen diese Gesellschaft an den Maßstäben von חסדund ( דעת אלהיםHosea) bzw. משׁפטund ( צדקהAmos, Micha) scheitern. Das ihnen aufgetragene Gotteswort beinhaltete nahezu ausschließlich Unheil und Untergang für den Staat bzw. das Gottesvolk, und dieses Gotteswort bildete das Maß ihres Urteilens35.
3. Die Entstehung von Prophetenbüchern Allerdings ist zwischen der anfänglichen Niederschrift der Worte der klassischen Propheten und der Entstehung von Prophetenbüchern deutlich zu unterscheiden. Erstere war Reaktion auf die Abweisung des mündlichen Prophetenwortes und sollte dessen Wahrheit gegenüber seinen Bestreitern bleibend bezeugen. Die Tradierung der vermutlich weithin einzeln, teilweise nach thematischen Gesichtspunkten (Jes 5,8ff.; Jer 21,11–23,40), teilweise am Abschluss einer bestimmten Verkündigungsepoche (Jes 8,16–18; 30,8; Jer 36) niedergeschriebenen Worte kann anfangs nur in kleineren (Oppositions-) Kreisen erfolgt sein, die dem prophetischen Wort Glauben geschenkt hatten36. Demgegenüber stellen Prophetenbücher schon in ihrem ältesten erreichbaren literarischen Stadium Dokumentationen dar, die – trotz einer strengen Auswahl der aufgenommenen Prophetenworte – das Ganze einer prophetischen Wirksamkeit bezeugen wollen. Als solche setzen die Prophetenbücher ausnahmslos den Fall Samarias und den staatlichen Zusammenbruch des Nordreichs voraus. Wir können kein Prophetenbuch mit auch nur einer gewissen Wahrscheinlichkeit rekonstruieren, das vor den Fall Samarias und den
34 „Dass sich die altorientalische Prophetie meistens an den König, die alttestamentliche meistens an das Volk richtet, ist nur eine, an sich nicht sonderlich gravierende, Folgeerscheinung dieser speziellen Ausprägung der Prophetie.“ (KRATZ, Worte, a.a.O. [Anm. 28], 322). 35 Vgl. bes. W. H. SCHMIDT, Zukunftsgewissheit und Gegenwartskritik. Studien zur Eigenart der Prophetie (BThSt 51), Neukirchen-Vluyn ²2002 (1973), VIIff.; DERS., Alttestamentlicher Glaube, Neukirchen-Vluyn 112011, 336ff. 36 Vgl. dazu C. HARDMEIER, Verkündigung und Schrift bei Jesaja. Zur Entstehung der Schriftprophetie als Oppositionsliteratur im alten Israel, ThGl 73 (1983) 119–134.
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staatlichen Zusammenbruch des Nordreichs zurückreichen würde37. Vielmehr war es das Ende des Nordreichs, das den Vorgang der Sicherung der prophetischen Botschaft initiierte. Sachlich ist damit impliziert, dass die ältesten Prophetenbücher die Bestätigung – genauer: die partielle Bestätigung – des prophetischen Wortes voraussetzen. Alle Prophetenbücher kommen schon von der Erfüllung der prophetischen Gottesworte her. Sie müssen daher – zumindest grundsätzlich – um die in ihnen verbürgte Wahrheit nicht mehr kämpfen; sie ist vielmehr die Voraussetzung der Absicht, die Botschaft eines Propheten als Ganzheit zu dokumentieren. In der Betonung dieses Einschnitts liegt nach meinem Urteil der Wahrheitskern der zuvor diskutierten weitreichenden These von R.G. Kratz. Es ist sein Verdienst, auf das Gewicht des Jahres 722 v Chr. für die Frage, wie und wann Prophetenbücher entstanden sind, verwiesen zu haben38. In der Tat ist ja für die ältesten Prophetenbücher des Südreichs, so unverwechselbar sie auch gestaltet sind, vorauszusetzen, dass sie die Bücher Hosea und/oder Amos in deren ältestem Stadium schon kannten. Dafür spricht nicht zuletzt, dass sich einige Jesajatexte auf Amostexte zurückbeziehen39 und dass sich Jesajas Kritik an der Außenpolitik Judas in Jes 28–31* auffällig mit derjenigen in Hos 5,8–7,16 berührt. Auch Micha hat sich, wenngleich seltener, auf Amos und Hosea bezogen, am deutlichsten in Mi 3,1f. (auf Hos 5,1 und Am 5,14f.).
In der Folge der systematischen Dokumentation der Prophetenworte eines Hosea und Amos durch ihre Tradenten nach 722 v. Chr. vollzog sich schrittweise eine ungeheure Aufwertung ihrer Texte. Galten die zuvor abgewiesenen Propheten durch den Fall des Nordreichs als wahr und von Gott bestätigt, so wurden ihre Worte mit der Zeit für immer breitere Kreise der Überlebenden im staatlichen Zusammenbruch in ihrer Situation der Niedergeschlagenheit und Orientierungslosigkeit zu einer Hilfe in der Frage nach den notwendigen Schritten. Die Propheten hatten ja im Voraus die Gründe genannt, aus denen die Katastrophe erfolgen musste; sie hatten damit gleichzeitig den Überlebenden die Wege gewiesen, wie ein Neubeginn möglich sein könnte. An der Weise, wie in der kunstvollen Ringkomposition Am 5,1–17 die ältere Anklage des Propheten gegen Israels verfehlte Gottessuche auf nutzlosen Wallfahr37 Allenfalls könnte die älteste Zeitangabe in der Überschrift des Amosbuches „zwei Jahre vor dem Erdbeben“ implizieren, dass dieses schwere Erdbeben als eine erste göttliche Verwirklichung der Ankündigungen des Amos (vgl. Am 2,13; 9,1) aufgefasst worden wäre und eine Vorstufe des Amosbuches eingeleitet hätte; vgl. J. JEREMIAS, „Zwei Jahre vor dem Erdbeben“ (Am 1,1), in: DERS., Hosea und Amos. Studien zu den Anfängen des Dodekapropheton (FAT 13), Tübingen 1996, 183–197. 38 Vgl. KRATZ, Das Neue, a.a.O. (Anm. 30), 68f.; zuvor schon: DERS., Redaktion, a.a.O. (Anm. 25), 41–43. Auch wird man nicht bestreiten können, dass manche Prophetenworte nach 722 im Rückblick verstärkt und präzisiert wurden; vgl. für 587 v. Chr. das analoge Phänomen etwa in Mi 2,4f. 39 Vgl. dazu bes. E. BLUM, Jesaja und der דברdes Amos, DBAT 28 (1992/93) 75–95 in Korrektur und Weiterführung von R. FEY, Amos und Jesaja (WMANT 12), NeukirchenVluyn, 1963.
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ten (V.4f.) in einen Aufruf zum Lebensgewinn durch die „Suche des Guten“ und die Aufrichtung des Rechts überführt wird40 – freilich unter dem Vorzeichen des charakteristischen prophetischen „Vielleicht“ –, mag als Modell für die Weise dienen, auf die die mündlichen Anklagen der Propheten nach 722 zu neuen Anweisungen umgestaltet wurden. So wurden die Prophetenbücher allmählich zur wesentlichen Hilfe für immer größere Zahlen an Überlebenden, so dass ihr Glaube über die Katastrophe hinweg trug41 – und für die Judäer zur Warnung, dass ein analoges Geschick auch ihr Land treffen könne. Entscheidend waren dabei die prophetischen Ankündigungen, dass Jhwh einem abtrünnigen Volk seine großen Gaben – Land, König und Gottes Gegenwart und Erreichbarkeit im Tempel – wieder nehmen werde42. Sie lehrten die Leser (und Hörer) der Prophetentexte, dass die Katastrophe eine Strafe Gottes war und nicht als seine Niederlage gegenüber den assyrischen Göttern verstanden werden musste. Angesichts dieser grundlegenden Gemeinsamkeit ist es nun höchst überraschend zu sehen, wie verschieden die Bücher der einzigen beiden Propheten unter den sog. Schriftpropheten, die im Nordreich auftraten, Hosea und Amos, ausgefallen sind, und zwar sowohl im Blick auf ihre Gestaltung und ihren Aufbau als auch auf ihre Intention. Diese Unterschiede werden gewiss damit zu tun haben, dass Amos von Haus aus Judäer war und wahrscheinlich noch zu Lebzeiten nach Juda zurückgekehrt ist (vgl. Am 7,10–17), so dass nur das Hoseabuch im Nordreich entstanden ist. Aber eine zureichende Erklärung für die Differenzen bietet diese Erwägung nicht. Für die judäischen Propheten des 8. Jh.s gilt Entsprechendes eher noch mehr. Weder das älteste Jesajabuch noch das älteste Michabuch haben sich das Hosea- oder das Amosbuch als Vorbild oder gar als Modell genommen. Eine Gattung Prophetenbuch hat es anfangs offensichtlich nicht gegeben. Diese Feststellung gilt auch unter dem Eingeständnis, dass ein Exeget sich vom vorgegebenen späten Prophetenbuch Schritt für Schritt zu den vorausliegenden Stadien zurücktasten muss, so dass die älteste Gestalt dieser Bücher nur mit einem hohen Maß an Unsicherheit rekonstruiert werden kann, wovon noch später die Rede sein soll. Vielmehr haben die Prophetenbücher der klassischen Propheten eine ganz verschiedene Geschichte gehabt. Klammert man das älteste Jesajabuch einmal 40 Vgl. zur Differenzierung H. W. WOLFF, Joel und Amos (BK XIV/2), Neukirchen-Vluyn 2004, und J. JEREMIAS, Der Prophet Amos (ATD 24,2), Göttingen 32013, z.St. 41 Freilich kennen wir nur (indirekt) die Stimmen derer, die nach Juda flohen, wo die Prophetenbücher weitertradiert wurden. Aber ihre Zahl muss groß gewesen sein, wie uns die Archäologie gelehrt hat. Von den im Nordreich Verbliebenen besitzen wir keine Zeugnisse. Vgl. die (teilweise spekulativen) Erwägungen von W. SCHÜTTE, Wie wurde Juda israelitisiert?, ZAW 124 (2012) 52–72. 42 Nur angedeutet sei, dass Hand in Hand mit der Akzeptanz dieser prophetischen Aussagen eine intensive Beschäftigung mit der Frühgeschichte des eigenen Volkes eingesetzt zu haben scheint, in der es noch ohne Land, König und Tempel gelebt hatte. 4
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aus, weil seine Texte im Augenblick noch sehr umstritten sind43, so kann man – zugespitzt – formulieren, dass das Hoseabuch seine Herkunft aus dem Nordreich und aus der Zeit nach 722 noch deutlich verrät, während das Amosbuch ein wesenhaft exilisches Buch ist, das seine prägende Gestalt nach dem Fall Jerusalems erhalten hat, und das Michabuch ein wesenhaft nachexilisches Buch. In diesen Differenzen liegt ein zurzeit noch kaum zu lösendes Rätsel der Prophetenbücher. Ich beginne mit groben Charakterisierungen des Hoseabuches, da das älteste Amosbuch offensichtlich jünger ist als das älteste Hoseabuch. Der Einfluss von Hoseatexten auf Formulierungen der Amostexte ist nicht nur ungleich breiter belegt als umgekehrt, sondern er findet sich im literarischen Kernbereich des Amosbuches, während der umgekehrte Einfluss von Amostexten auf Hoseatexte nur in jüngeren Schichten des Hoseabuches belegt ist44. Hosea hat seine Stimme offensichtlich bis wenige Jahre vor dem Fall Samarias erhoben45, jedenfalls deutlich über die Jahre des sog. syrisch-ephraimitischen Kriegs 733/32 hinaus, und ist auf diese Weise durch den unmittelbar danach erfolgenden Zusammenbruch des Nordreichs in seiner Botschaft ungewöhnlich schnell bestätigt worden. Welchem Zweck diente die älteste Dokumentation der Hoseaworte? Geht man mit der überwiegenden Mehrheit der Ausleger davon aus, dass der Kern des Hoseabuches in den Kapiteln 4–11 (bzw. 4–9) zu suchen ist46, so ist zur Beantwortung der Frage von der auffälligen Wortfügung in diesen Kapiteln 43
Immerhin finden in den jüngsten Arbeiten erfreuliche Annäherungen statt. Standen in den 70er Jahren des vorigen Jh.s mit den Kommentaren von H. Wildberger (im BK) und von O. Kaiser (im ATD; zunächst zu Jes 13–39) noch zwei diametral gegensätzliche Auslegungen gegenüber, die eine von einem fast grenzenlosen Vertrauen in die frühe Tradition bestimmt, die andere vom Diktum W. Schottroffs geleitet, dass einem Propheten jedes Wort abzusprechen sei, das sich auch aus einer späteren Zeit erklären lasse (O. KAISER, Der Prophet Jesaja, Kapitel 13–39 [ATD 18], Göttingen 1973, 4); galt im Übergang zu unserem Jh. Analoges für die Deutungen von Jes 6–8 und 28–31 durch J. BARTHEL (Prophetenwort und Geschichte [FAT 19], Tübingen 1997) und U. BECKER (Jesaja – von der Botschaft zum Buch [FRLANT 178], Göttingen 1997), so sind in letzter Zeit die Differenzen erheblich geringer geworden; vgl. K. SCHMID, Jesaja: Jes 1–23 (ZBK 19,1), Zürich 2011; J. KREUCH, Unheil und Heil bei Jesaja (WMANT 130), Neukirchen-Vluyn 2011; HARTENSTEIN, Das Archiv, a.a.O. (Anm. 22) und zuletzt R. MÜLLER, Ausgebliebene Einsicht (BThSt 124), Neukirchen-Vluyn 2012. 44 Vgl. den Nachweis bei J. JEREMIAS, Die Anfänge des Dodekapropheton: Hosea und Amos, VT.S 61 (1995) 87–106 = DERS., Hosea und Amos, Studien zu den Anfängen des Dodekapropheton (FAT 13), Tübingen 1996, 34–54. 45 Vgl. bes. H. W. WOLFF, Dodekapropheton I. Hosea (BK XIV/1), Neukirchen-Vluyn ²1965, XII. 46 Vgl. nur so unterschiedliche Exegeten wie R. G. KRATZ, Erkenntnis Gottes im Hoseabuch, in: DERS., Prophetenstudien. Kleine Schriften II (FAT 74), Tübingen 2011, 287–309 und seinen Schüler R. VIELHAUER, Das Werden des Buches Hosea (BZAW 349), Berlin 2007 einerseits und W. SCHÜTTE, „Säet euch Gerechtigkeit!“ Adressaten und Anliegen der Hoseaschrift (BWANT 179), Stuttgart 2008 andererseits.
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auszugehen. Einleitungs- und Legitimationsformeln fehlen, ja alle Rahmenformeln werden vermieden und stattdessen Worte mit Brückenfunktion eingestreut, die den Leser zum ständigen Weiterlesen nötigen und ihm keine Atempause gönnen. Gottes- und Prophetenrede gehen nahtlos ineinander über, und an die Leser werden plötzliche Anreden und rhetorische Fragen gerichtet, die sogleich wieder verlassen werden. Diese analogielose Wortfügung scheint am ehesten Diskussionen im Kreis der Schüler bzw. Tradenten widerzuspiegeln, die die Botschaft ihres Meisters nach innen sichern und bewahren wollten und nicht sogleich an eine Außenwirkung dachten. Für diese Annahme spricht insbesondere die Beobachtung, dass die Themen der prophetischen Kritik am Kult und an der Politik anfangs breiter je für sich (4,4–5,7; 5,8–7,16) abgehandelt werden, um im Folgenden miteinander und mit neuen Themen in Beziehung gebracht und immer dichter formuliert zu werden, so dass die späteren Texte ohne vorausgehende Lektüre der voranstehenden schwer verständlich sind: Versuche, die Einzelauftritte und Einzelanliegen des Propheten miteinander zu verbinden, um eine übergreifende Ganzheit seiner Theologie herauszustellen. Außerdem wird die Schuld Israels von Einheit zu Einheit gesteigert, und die Gerichtsankündigungen werden immer härter. Die einst mündlich verkündeten Einzelworte Hoseas üben in der Gesamtdarstellung nur noch eine dienende Funktion aus; sie haben zumeist ihr Eigengewicht verloren, um nur noch als Beispiele und Paradigmen der übergreifenden Gesamtbotschaft zu dienen47. W. Schütte hat jüngst das älteste Hoseabuch als „Insiderliteratur“ mit „archaische(m) Literaturcharakter“ gedeutet und (in Anlehnung an F. Crüsemann) zur Entstehung des Buches auf die Analogie der politischen Lyrik des Alkaios verwiesen, die in seiner Hetairie schriftlich tradiert und bei deren Symposien mündlich vorgetragen wurde. Sie spiegelt „gruppeninterne Diskurse“ wider und enthält wie das Hoseabuch plötzliche Anreden48. Jedenfalls wird sich auch das anfängliche Wachstum des Hoseabuches in den Kreisen abgespielt haben, die mit seiner Verkündigung vertraut waren, auch nach deren Übersiedlung nach Juda. Die große Zahl typisch judäischer Zusätze (4,5.15; 5,5; 8,14 etc.) lässt sich erstaunlich leicht von ihrem Kontext abheben. Auch für das älteste Amosbuch ist eine primäre Zusammenstellung im Kreis der Tradenten für gruppeninterne Zwecke nicht a priori auszuschließen. Das Gewicht, das den prophetischen Visionen am betonten Ende des Buches zukommt, könnte für eine solche Annahme sprechen. Aber die Vermutung ist 47
Vgl. den Nachweis bei J. JEREMIAS, Hosea 4–7. Beobachtungen zur Komposition des Hoseabuches, in: DERS., Hosea und Amos. Studien zu den Anfängen des Dodekapropheton (FAT 13), Tübingen 1996, 55–66. 48 W. SCHÜTTE, „Säet euch Gerechtigkeit!“, a.a.O. (Anm. 46), 18–22. 192–200. Dabei stützt er sich auf die Untersuchung D. RÖSSLERs, Dichter und Gruppe. Eine Untersuchung zu den Bedingungen und zur historischen Funktion früher griechischer Lyrik am Beispiel des Alkaios, München 1980.
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viel unsicherer als im Fall des Hoseabuches. Anders als dieses zeigt das Amosbuch weder sprachliche Spuren seiner Herkunft aus dem Nordreich noch einer intensiven Diskussionskultur49 . Vielmehr ist das Amosbuch von Kompositionen typisch literarischer Art geprägt. Das gilt sowohl für die Wortsammlung Am 3–6 als auch für deren Rahmung durch die aufeinander bezogenen und strophisch gegliederten Völkersprüche und Visionsberichte50. Teilweise – wie im Fall der Ringkomposition Am 5,1–17 – besitzen diese Kompositionen eine hohe künstlerische Qualität, die eine tiefe Reflexion über das Verhältnis des Heils- und Unheilswirkens Gottes impliziert51. Ja, in mehreren – mindestens zwei – Stadien ist das Amosbuch als ganzes zu einer Ringkomposition ausgebaut worden, mit Am 5,1–17 als Zentrum 52 . Diese Kompositionen setzen einen weit größeren zeitlichen Abstand zur mündlichen Verkündigung des Propheten voraus, als dies im Hoseabuch der Fall ist53. Das Amosbuch wird daher (eventuell im Unterschied zu möglichen Teilsammlungen) von vornherein in Juda entstanden sein. Texte wie Am 6,1–7, die „Zion“ in Parallele zu „Berg Samarias“ setzen, zeigen, wie ein ursprünglich gegen Samaria gerichtetes Amoswort in seiner schriftlichen Gestalt judäische Leser im Blick hat54, Texte wie Am 8,4–7, wie ein Amoswort des 8. Jh.s (Am 2,6– 8) für Zustände im 7. Jh. aktualisiert wurde55. Präzisere Aussagen über den Sinn des Amosbuches lassen sich für die Jahre nach der Zerstörung Jerusalems machen, weil das Amosbuch seine entscheidende literarische Prägung in der Exilszeit erhalten hat56. Zu dieser Zeit lässt sich ein doppelter Gebrauch des Buches nachweisen: 49 Am 3,3–6.8 wendet sich mit seinen Fragen an Außenstehende und besitzt Legitimationscharakter. 50 Vgl. den Nachweis in den Beiträgen „Amos 3–6“ und „Völkersprüche und Visionsberichte im Amosbuch“, in: J. JEREMIAS, Hosea und Amos. Studien zu den Anfängen des Dodekapropheton (FAT 13), Tübingen 1996, 142ff. 51 Vgl. J. JEREMIAS, „Tod und Leben in Am 5,1–17“, in: DERS., Hosea und Amos. Studien zu den Anfängen des Dodekapropheton (FAT 13), Tübingen 1996, 214–230. 52 Vgl. D. U. ROTTZOLL, Studien zur Redaktion und Komposition des Amosbuchs (BZAW 243), Berlin 1996, 3f. und passim. 53 Dem widerspricht nicht, dass mit dem Leichenlied (Am 5,2), den Wehworten (5,18; 6,1), absurden rhetorischen Fragen (6,12) etc. zahlreiche charakteristische Elemente einer mündlichen Verkündigung im Gedächtnis der Tradenten erhalten geblieben sind. 54 Vgl. E. BLUM, „Amos“ in Jerusalem. Beobachtungen zu Am 6,1–7, Henoch 16 (1994) 23–47, der jedoch mit einer mündlichen Aktualisierung rechnet. 55 Vgl. J. JEREMIAS, Am 8,4–7 – ein Kommentar zu 2,6f., in: DERS, Hosea und Amos. Studien zu den Anfängen des Dodekapropheton (FAT 13), Tübingen 1996, 231–243. Die Annahme der umgekehrten Abhängigkeit durch CHR. LEVIN, Das Amosbuch der Anawim, ZThK 94 (1997) 407–436 = DERS., Fortschreibungen. Gesammelte Studien zum Alten Testament (BZAW 316), Berlin/New York 2003, 265–290; 271ff. ist mir schwer verständlich. 56 Die relativ wenigen nachexilischen Einfügungen im Korpus des Buches ändern an diesem Urteil nichts, und die späten Heilsworte in Am 9,11–15 wirken wie ein Anhang, der das Buch abrunden will.
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Zur Theologie der Prophetenbücher
1) Zum einen zeigen die das Prophetenbuch rahmenden (Am 1,2 und 9,5f.) und gliedernden (4,13 im Kontext von 4,6–13; 5,8f.) Doxologien, wie eine bußfertige Gemeinde mit Hilfe der Verlesung des Amosbuches die Zerstörung Jerusalems und das babylonische Exil als verdientes und gerechtes Gericht Gottes gepriesen und Gott die Ehre gegeben hat57. Hier ist die Blickrichtung rückwärts gewandt; das Prophetenbuch ist ein öffentliches Gut geworden und wird von der gottesdienstlichen Gemeinde genutzt. 2) Die andere Blickrichtung belegen die zahlreichen dtr Zusätze im Amosbuch58. Sie zeigen, wie das Amosbuch – und für diese Zeit auch analog das Hoseabuch – zur Neuorientierung nach dem staatlichen Zusammenbruch Judas genutzt wurde, unter Konzentration auf die Forderungen des Dtn (vgl. Am 2,4) und besonders auf das dtr verstandene erste Gebot. Diese Verwendung der Prophetenbücher als Handlungsanweisungen in einer notvollen Gegenwart hat ihren Gebrauch in den folgenden Jahrzehnten stark bestimmt. Für den Abschlussvers des exilischen Amosbuches (Am 9,10) ist ein Überleben der dem staatlichen Untergang Judas Entronnenen nur möglich, wenn sie sich entschieden an den Worten des Amos orientieren. Im Fall des Michabuches hat sich bei der Mehrheit der Exegeten in der neueren deutschsprachigen Forschung trotz aller Differenzen im Detail eine weitreichende grundsätzliche Übereinstimmung ergeben. Sie bedeutet im Kern eine Rückkehr zu den Ergebnissen B. Stades aus den Jahren 1881– 188459: Alte Micha-Überlieferung findet sich nur in den Anfangskapiteln 1–3. Demgegenüber bieten die beiden großen Fortschreibungen in Mi 4–5 und Mi 6–7 eine nur relativ kleine Zahl an exilischen Texten, während die Mehrzahl der Belege nachexilisch ist. Das Michabuch ist wesenhaft ein nachexilisches Prophetenbuch. Diese ungewöhnliche Gestaltung hängt offensichtlich mit der entscheidenden Ankündigung des Propheten Micha zusammen. Den Kapiteln 1–3 scheint eine Art Rechenschaftsbericht des Propheten zugrunde zu liegen, da die Texte vom „Ich“ des Propheten durchzogen sind60. Dieser Bericht zielte von Anfang 57 Vgl. K. KOCH, Die Rolle der hymnischen Abschnitte in der Komposition des Amosbuches, ZAW 86 (1974) 504–537; J. JEREMIAS, Die Mitte des Amosbuches (Am 4,4–13; 5,1– 17), in: DERS., Hosea und Amos. Studien zu den Anfängen des Dodekapropheton (FAT 13), Tübingen 1996, 198–213. 58 Vgl. grundlegend W. H. SCHMIDT, Die deuteronomistische Redaktion des Amosbuches, ZAW 77 (1965) 168–193. 59 B. STADE, ZAW 1 (1881) 161–172; ZAW 3 (1883), 1–16; ZAW 4 (1884), 291–297; vgl. die Kommentare von H. W. WOLFF (Micha [BK XIV.4] Neukirchen-Vluyn 1982), R. KESSLER (Micha [HThK], Freiburg i.Br. 1999) und J. JEREMIAS (Die Propheten Joel, Obadja, Jona, Micha [ATD 24/3], Göttingen 2007), aber auch etwa von J. L. MAYS (Micah [OTL], London 1976) oder W. MCKANE (The Book of Micah, Edinburgh 1998). 60 Vgl. 1,8f.; 2,8f.; 3,1.3.5 und bes. 3,8. KESSLER, Micha, a.a.O. (Anm. 59), 94–97 spricht im Anschluss an Budde von einer „Denkschrift“.
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an auf die ungeheuerliche Ankündigung mit der er endet: Jhwh werde seine eigene Stadt und eigene Wohnung aufgrund der Schuld der einflussreichen Kreise der Jerusalemer und des Versagens der Jerusalemer Propheten zerstören (Mi 3,12). Nun ist es gewiss kein Zufall, dass diese erste Ankündigung einer Zerstörung Jerusalems durch Gott selber nicht nur einen großen Aufruhr hervorgerufen (vgl. Jer 26,18), sondern nach der erfolgten Bestätigung 587 v. Chr. auch die Frage geweckt hat, ob diese Zerstörung Gottes letzter Wille mit seiner Stadt war, so dass in Mi 4–5 in drei Fortschreibungsschüben 61 ein ganzes Konglomerat an prophetischen Texten mit unterschiedlichen Zeugnissen einer exilisch-nachexilischen Zionstheologie angehäuft wurde, als Opposition zu Mi 3,12, dem Dreh- und Angelpunkt des Buches, und in Mi 6–7 eine Sammlung von Texten zum Thema Schuld – und zwar neuer Schuld nach Gottes Gericht –, Strafe und Vergebung. Nicht auf die Einzelheiten kommt es hier an, wohl aber auf die zentrale Einsicht: Die theologische Reflexion der Gegenwart hat noch kaum bedacht, wie unterschiedlich die Prophetenbücher ausgefallen sind, die im Namen der klassischen Propheten herausgegeben wurden: Das Buch Hosea hat seine entscheidende Prägung im untergegangenen Nordreich erhalten, das Buch Amos während der Exilszeit, das Buch Micha in der nachexilischen Zeit. Ob man jeweils mit den gleichen Trägerkreisen zu rechnen hat, ist mehr als fraglich.
4. Die genuine Schriftprophetie Bei unseren bisherigen Überlegungen konnte nur angedeutet werden, dass jeder Exeget, der über die ältesten Stufen der Prophetenbücher urteilt, notwendigerweise unsicheres Gelände betritt. Die überlieferten Prophetenbücher, von denen jede Analyse auszugehen hat, bieten die ältesten Prophetentexte in einer Gestalt, in der sie über Jahrzehnte und Jahrhunderte immer wieder neu aktualisiert, d.h. auf veränderte historische Situationen bezogen worden sind. Der Ausleger muss sich vom vorliegenden Prophetenbuch wie ein Archäologe Schicht für Schicht zum ältesten Text zurückarbeiten. Die Aktualisierungen gehen von der Anerkennung der Prophetentexte als wahres Gotteswort aus und versuchen, seine Geltung als Orientierungshilfe zunächst für judäische Leser im 7./6. Jh. v. Chr., danach aber für die Generationen nach dem Fall Jerusalems in der babylonischen, persischen und hellenistischen Epoche herauszustellen. Im Fall des Buches Jesaja ist dieser Auslegungsprozess über einen Zeitraum von einem halben Jahrtausend zu beobachten. 61 Vgl. J. JEREMIAS, Micha 4–5 und die nachexilische Prophetie, in: M. Köckert/M. Nissinen (Hg.), Propheten in Mari, Assyrien und Israel (FRLANT 201), Göttingen 2003, 90–115.
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Zur Theologie der Prophetenbücher
Auch in dieser Hinsicht urteilt Kratz m.E. zu sorglos, wenn er formuliert: „Der Übergang vom Wort zur Schrift nimmt das Wort aus der Ursprungssituation heraus und gibt ihm einen zeitübergreifenden Sinn“, der auf „bleibende, ewige Gültigkeit“ abzielt 62 . Der schriftliche Prophetentext besitzt gerade darin seine Eigenart, dass er – trotz aller Aktualisierungen – an die Ursprungssituation des mündlichen Wortes gebunden bleibt. Im Amosbuch wird die älteste Zeitangabe „zwei Jahre vor dem Erdbeben“ (Am 1,1) beibehalten, bei Jesaja das Datum seiner Sendung „im Todesjahr des Usija“ (Jes 6,1), und im Ezechiel- und Sacharjabuch werden mehrfach nicht nur Jahr und Monat, sondern auch der Tag des Empfangs des Gotteswortes sorgsam notiert. Obwohl das Prophetenwort im Zuge seiner Aktualisierungen für neue Situationen mancherlei spezifische Züge seiner Ursprungssituation verliert, um transformierbar zu sein, so wird es doch nie zu einem zeitlosen Grundsatz wie ein Weisheitswort, sondern bleibt, auch in seiner aktualisierten Gestalt, das Wort des unverwechselbaren Propheten und damit auch das Wort seiner unverwechselbaren Ursprungsstunde, nur dass der Prophet in der Buchperspektive nicht mehr nur die nahe, sondern auch die weit entfernte Zukunft und deren Probleme im Blick hat63.
Jedoch bleiben die jüngeren, zugewachsenen Texte des Prophetenbuches nicht auf derartige Aktualisierungen beschränkt. Sie führen zugleich – ab der Exilszeit und vermehrt in der nachexilischen Zeit – neue Prophetentexte ein, die als Kommentar und häufiger noch als sachliche Ergänzung der überlieferten Prophetentexte gedacht sind. Sie sind gemeinhin „aus vorgegebenen Texten im näheren und weiteren Kontext sowie in anderen Büchern gespeist. Das ist aber nicht Zeichen mangelnden Sprachvermögens und fehlender Originalität, sondern Absicht“ 64 , denn primäre Intention der Zufügungen ist es, die Worte der einzelnen Propheten aus ihrer Isolierung zu lösen und aufeinander zu beziehen. Das geschah anfangs, d.h. in spätexilisch-frühnachexilischer Zeit, überwiegend buchintern, mehr und mehr aber auch buchübergreifend, wie ja das Amosbuch schon vorexilisch auf Aussagen des Hoseabuches hin redigiert worden ist65. Alle diese Zufügungen sind auf dem Weg zu einer neuen Ganzheit: einer umfassenden Theologie eines einzelnen Propheten, einer Theologie mehrerer Propheten und zuletzt einer Theologie der Prophetie insgesamt. Diesen Fragen, die am Schluss dieses Beitrags nur noch gestreift werden können, ist insbesondere Odil Hannes Steck in seinen letzten Lebensjahren nachgegangen; er hat dabei schärfer als Andere zwischen buchinternen und buchübergreifenden Ergänzungen unterschieden66. Steck hat sich dabei 62
KRATZ, Redaktion, a.a.O. (Anm. 25), 45. Vgl. bes. O. H. STECK, Die Prophetenbücher und ihr theologisches Zeugnis, Tübingen 1996, 25; DERS., Gott in der Zeit, a.a.O. (Anm. 22), 156. Mit Recht betont STECK, Prophetenbücher, 163f., dass die Aktualisierungen der vorgegebenen Prophetentexte nur etwas herausstellen, was ihrer Ansicht nach implizit in den älteren Texten schon enthalten ist, die stets mitgedacht und mitgelesen werden. 64 So mit Recht KRATZ, Redaktion, a.a.O. (Anm. 25), 38. 65 Vgl. oben S. 303. 66 STECK, Prophetenbücher, a.a.O. (Anm. 63); DERS., Gott in der Zeit, a.a.O. (Anm. 22).– Für die gegenwärtige Forschungssituation charakteristisch ist, dass ein Jahrzehnt nach Stecks tiefschürfenden Erwägungen zu den Prophetenbüchern ein Aufsatzband der „European 63
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insbesondere auf seine überaus gewichtigen Forschungen zu Tritojesaja gestützt. Mir selbst liegt in diesem Zusammenhang daran zu betonen, dass noch in der Spätzeit des Wachstums der Prophetenbücher, in der hellenistischen Epoche, bei der Suche nach einer übergreifenden gesamtprophetischen Theologie unterschiedliche Intentionen vorherrschen, wie Judith Gärtner überzeugend an einem Vergleich der jüngsten Texte des Jesajabuches mit denen des Zwölfprophetenbuches aufgewiesen hat67. Ab der späten Perserzeit gibt es keine Prophetenbücher mehr, die auf mündlicher Prophetie fußen68. Vielmehr sind im Zuge der aktualisierenden, kommentierenden und ergänzenden Schriftprophetie auch eigene Prophetenbücher entstanden, die von vornherein für Leser (und Vorleser) gedacht waren. Da auf diesem Gebiet noch vieles umstritten ist, nenne ich nur das älteste und das jüngste Beispiel: Obadja und Deuterosacharja. An beiden Büchern kann man gut erkennen, wo die wesentliche Neuerung gegenüber den älteren Prophetenbüchern liegt: In diesen Büchern berufen sich die Propheten nur noch äußerst selten auf unmittelbare persönliche Offenbarung, zumeist legitimieren sie sich durch explizite (z.B. Joel 3,5) oder implizite Zitate von älteren Prophetenworten oder aber durch deutliche Bezugnahmen auf sie, weil sie der Überzeugung sind, dass Gott zu ihrer Zeit das Wort seiner früheren Boten einlösen und bewahrheiten wird. Am Buch Obadja lässt sich der Umgang mit älteren prophetischen Texten – hier: Jer 49 – gut ablesen: Anfangs (V.1–7) wird konstatiert, dass sich die älteren Ankündigungen zu erfüllen beginnen, dann (V.8–14) werden die überlieferten Aussagen aus neuen geschichtlichen Erfahrungen heraus zugespitzt und verschärft, und zuletzt (V.15–17.21) werden die beginnenden Erfüllungen mit dem Anbruch der Endzeit – hier: des unüberbietbaren „Tages Jhwhs“ – verbunden69. Verglichen mit dieser Aktualisierung hat der jüngste Text in Deuterosacharja, Sach 14, ein weit umfassenderes Ziel: Er will als Höhepunkt und Abschluss des Zwölfprophetenbuches die Botschaft der sog. Kleinen Propheten zusammenfassen und auf das für die Endzeit Wesentliche konzentrieren. Gegenüber solcher schriftgelehrten Prophetie, deren Hochschätzung mit jedem Vorgang der Neuauslegung stieg, hatte die weiterhin auftretende mündliche Prophetie auf Dauer keine Lebensberechtigung mehr. In Sach 13,2–6 wird sie nur noch als Gefahr gesehen, dass sie im Namen Gottes mehr und Association of Biblical Studies“ (EABS) erschien (D. V. Edelman/E. Ben Zvi [Hg.], The Production of Prophecy. Constructing Prophecy and Prophets in Yehud, London/Oakville 2009), in dem Stecks Arbeiten nicht einmal Erwähnung finden, obwohl das erstgenannte Buch ins Englische übersetzt worden war. Im Reflexionsniveau übertreffen Stecks Bücher alle Beiträge dieses Bandes um Längen! 67 J. GÄRTNER, Jesaja 66 und Sacharja 14 als Summe der Prophetie (WMANT 114), Neukirchen-Vluyn, 2006. 68 Eventuell war Joel (in Joel 1–2) der letzte. 69 Vgl. den Nachweis in JEREMIAS, Joel, Obadja, a.a.O. (Anm. 59), 59.
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Zur Theologie der Prophetenbücher
Anderes aussagen wolle als die überlieferte schriftliche Prophetie, und wird daher in einem Atem mit dem Götzendienst verurteilt.
19. Prophetenwort und Prophetenbuch Zur Rekonstruktion mündlicher Verkündigung der Propheten 1. Die wesentliche Eigenart biblischer Prophetie liegt in ihrer Schriftlichkeit begründet, genauer: in ihrer Zusammenfassung zu Prophetenbüchern. So vielfältig die Gestalten von Prophetie im Alten Orient und besonders in Mesopotamien sind, über die wir durch (mehr oder weniger zufällige) Ausgrabungen Kenntnis erhalten haben, so überaus mager sind auf der anderen Seite die schriftlichen Zeugnisse über Äußerungen dieser Propheten. Lässt man weniger belangreiche Einzelworte außer Betracht, so gibt es überhaupt nur zwei relevante Sammlungen an Prophetenworten, über die wir Kenntnis haben: die neuassyrischen Königsorakel des 7. Jh.s, die vermutlich aus Legitimationsinteresse am Hof systematisch aufbewahrt und zum Teil auf Sammeltafeln geschrieben wurden, und Prophetenworte aus der ersten Hälfte des 2. Jt.s v. Chr. aus Mari am mittleren Euphrat, die in Gestalt von Briefen, zumeist durch königliche Beamte im Zuge von Rechenschaftsberichten verfasst, an den König von Mari gerichtet und in dessen Bibliothek aufbewahrt worden waren; letztere bieten hochinteressante Momentaufnahmen, deren Schriftlichkeit mit der Etikette am Hof von Mari zusammenhing – Propheten konnten offensichtlich nicht beliebig vor den König treten – und deren Auswahl durch eine herabstürzende Decke bestimmt wurde, als der Königspalast der Zerstörung anheimfiel. Beide so unterschiedliche Sammlungen lassen die Vermutung so gut wie sicher erscheinen, dass es Prophetenbücher im Alten Orient außerhalb Israels nicht gegeben hat1. In der Tat ist die Schriftlichkeit von Prophetenworten etwas keineswegs Selbstverständliches. Propheten wissen sich zumeist von der Gottheit zu bestimmten Menschen mit einer bestimmten Botschaft gesandt, die sie in eine unverwechselbare historische Situation hineinzusprechen haben. Was in den Worten Ezechiels, in denen er als Wächter erscheint (Ez 3,16ff.; 33,1ff.), über die Pflicht des Propheten gesagt wird, gilt grundsätzlich: Ein Prophet haftet 1
Belege und nähere Begründung der These bei J. JEREMIAS, Das Proprium der alttestamentlichen Prophetie, ThLZ 119 (1994) 483–494, wieder abgedruckt in: DERS., Hosea und Amos. Studien zu den Anfängen des Dodekapropheton (FAT 13), Tübingen 1996, 20–33. Nur am Rande notiert sei, dass natürlich auch in Israel die Worte der überwiegenden Mehrzahl an Propheten nie schriftlich tradiert wurden.
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Zur Theologie der Prophetenbücher
dafür, dass er die Menschen, zu denen er von Gott gesandt ist, erreicht; er haftet dagegen nicht für die Willigkeit der Menschen zu hören. Hat er sein Wort ausgesprochen, hat er seinen Auftrag erfüllt. Das Wort keines anderen Berufsstandes ist so situationsgebunden wie das Wort eines Propheten. Für archivarisches Interesse war es ganz und gar ungeeignet. An wenigen Stellen begründen Propheten ihr Schreiben. Ohne in die Einzelheiten der Argumentation gehen zu wollen, ist für alle vier Belege charakteristisch, dass die Schriftlichkeit die Wahrheit des prophetischen Wortes gegenüber zweifelnden (Hab 2,2f.), zumeist rundweg ablehnenden Hörern (Jes 8,16–18; 30,8; Jer 36) bezeugen soll 2 . Die Schriftlichkeit garantiert damit zugleich, dass die Sendung der Propheten nicht vergeblich war. Wo die ersten Hörer das prophetische Wort abgewiesen haben, sucht es neue Adressaten, bei denen es zum Ziel kommt. Diese Adressaten aber sind nicht mehr Hörer, sondern Leser. Mit seiner Schriftlichkeit vollzieht sich nun aber ein grundlegender Wandel des mündlichen Wortes. Ich beschränke mich im Folgenden auf zwei zentrale Aspekte, die für die folgenden Überlegungen von Gewicht sind: 1a) Propheten wie Hosea und Jesaja sind über mehrere Jahrzehnte aufgetreten. Es versteht sich von selbst, dass die schriftliche Hinterlassenschaft nur einen kleinen Anteil ihrer Worte darstellt. Die Tradenten haben eine rigorose Auswahl getroffen. 1b) Die Nötigung zur Auswahl setzt eine Deutung des abgeschlossenen Ganzen der prophetischen Botschaft voraus3. Allein schon aus dieser Überlegung ergibt sich, dass Prophetentexte stets qualitativ etwas anderes sind als Tonbandnachschriften der mündlichen Worte. 2a) Das mündliche Wort sprach eine konkrete Gruppe von Menschen – oft Berufsgruppen wie Bauern, Richter, Priester – auf situations- und gruppenspezifische Schuld an. Die Leser des Textes leben unter anderen geschichtlichen Bedingungen und können anderen Berufsgruppen zugehören, müssen also die Schuldtatbestände auf ihre eigenen Lebensbedingungen hin übersetzen und aktualisieren. 2b) Um der Notwendigkeit solcher Aktualisierung durch die Leser willen wird in der Formulierung von Prophetentexten das situationsgebundene Einmalige des mündlichen Wortes in den Hintergrund gedrängt zugunsten des 2 Vgl. zu diesem Problemfeld ausführlicher CHR. HARDMEIER, Verkündigung und Schrift bei Jesaja. Zur Entstehung der Schriftprophetie als Oppositionsliteratur im alten Israel, ThGl 73 (1983) 119–134. 3 Bzw. – soweit die Propheten anfangs selber schreiben – die Deutung einer abgeschlossenen Verkündigungsepoche wie im Falle von Jes 6–8 des sog. syrisch-efraimitischen Krieges. Mit diesem Sachverhalt hängt zusammen, dass der schriftliche Text schon die Wirkung des mündlichen Wortes auf die Hörer kennt und in die Formulierung einbezieht. Vgl. dazu bes. die Aufsätze von O. H. STECK zu Jes 6–8 in: DERS., Wahrnehmungen Gottes im Alten Testament (TB 70), München 1982, 149ff.
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übertragbaren Grundsätzlichen. Allerdings wird die Ursprungssituation des prophetischen Wortes betont festgehalten – bei Ezechiel und Sacharja neben dem Jahr auch gelegentlich Monat und Tag –, so dass das Prophetenwort sich auch als Text prinzipiell von der zeitunabhängigen, allgemeingültigen Lehre eines Weisen unterscheidet. Beide Aspekte seien kurz mit einem Beispiel belegt. 1) Im Mittelteil des Amosbuches, der von den mehrstrophigen Dichtungen der Völkersprüche einerseits (Am 1–2) und der Visionsberichte andererseits (Am 7–9) gerahmt ist, haben die Tradenten versucht, eine Summe der Botschaft des Propheten darzustellen. Dass sie dazu nicht nur beliebige Einzelsprüche geordnet aneinandergereiht haben, etwa – wie die Forschung vor dem Zweiten Weltkrieg sich die Dinge vorstellte – nach Stichworten oder verbindenden Themen, geht zwingend daraus hervor, dass Am 3,1 programmatisch ein Gotteswort einleitet, das sich an das Gottesvolk richtet: Hört dieses Wort, das Jahwe über euch redet, ihr Israeliten!
Am 5,1 ist dagegen in analoger Programmatik ein Prophetenwort, das sich primär an den Staat richtet: Hört dieses Wort, das ich über euch als Leichenlied anhebe, Haus Israel!
Wer diese Unterscheidung für zufällig halten wollte, wird von der Beobachtung eines Besseren belehrt, dass die Kapitel 3–4 ausschließlich „ihr Israeliten“ als Anrede verwenden (3,1.12; 4,5), nie aber „Haus Israel“, die Kapitel 5–6 dagegen ebenso ausschließlich nie „ihr Israeliten“, dagegen häufig „Haus Israel“ (5,1.3.4.25; 6,1.14). Andererseits hat die Einteilung der Tradenten mit modernen formgeschichtlichen Klassifikationen nichts zu tun, denn nach deren Maßstäben enthalten die als Gotteswort eingeleiteten Kapitel 3–4 durchaus auch Prophetenworte (etwa 3,3–8), die als Prophetenwort eingeleiteten Kapitel 5–6 auch Gottesworte (etwa 5,4f.12.16f.). Jedoch verdeutlicht die Klassifikation, dass man im Sinne der Tradenten die Reihenfolge der Kapitel nicht umkehren darf, vielmehr Am 5–6 nur nach Am 3–4 lesen darf. Andererseits ist die systematisierende Anordnung der Tradenten der Schlüssel zu zwei häufig diskutierten Rätseln der Amosforschung: a) zu der Beobachtung, dass sich im Amosbuch zwei ähnliche Sammlungen an Worten gegen die Hauptstadt Samaria an verschiedenen Stellen finden, wobei die eine (Am 3,9–4,3) den Kern der als Gotteswort eingeleiteten Kapitel Am 3–4 bildet, die zweite dagegen (Am 6,1–11) einen gewichtigen Teil der als Prophetenwort eingeleiteten Kapitel Am 5–6 – beide Sammlungen waren für die Tradenten offensichtlich nicht gleichwertig; b) zu der Beobachtung, dass das so gewichtige Amosthema „Recht und Gerechtigkeit“ ( )משׁפט וצדקהsich ausschließlich in den Kapiteln 5–6 findet (5,7.12.15.24; 6,12), hier aber keineswegs nur in der Anklage, sondern insbesondere betont in den wenigen Worten des Amos-
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Zur Theologie der Prophetenbücher
buches, die noch (direkt oder indirekt) zu einem veränderten Verhalten aufrufen und ermahnen (5,14f.24; 6,12). Kurzum: In der Darbietung der Amosworte haben die Tradenten weit mehr getan, als dass sie sich nur um eine sinnvolle Anordnung Gedanken gemacht hätten. Sie haben vielmehr ein durchdachtes Ganzes der Botschaft des Amos überliefern wollen, in dem die Reihenfolge der Texte unaustauschbar ist und das ein Leser nur voll begreifen kann, wenn er dem Gedankengefälle von Anbeginn bis zum Ende folgt. Die Tradenten rechneten nicht mit Perikopenlesern. 2) Der andere gewichtige Wandel des prophetischen Wortes in seiner Schriftlichkeit hängt mit der Notwendigkeit zusammen, dass dieses Wort auf Leser trifft, die von andersartigen Erfahrungen herkommen als die ursprünglichen Hörer, die das Wort daher auf diese andersartigen Lebensumstände hin übersetzen und aktualisieren müssen. Dieser Wandel lässt sich naturgemäß am leichtesten an den Texten aufweisen, die ursprünglich im Nordreich gesprochene Worte nach dem Untergang Samarias für Leser im Südreich festhalten wollen. Hos 8 ist dafür ein gutes Beispiel. In seinem Hauptteil ist das Kapitel fast so etwas wie die Zusammenfassung der Botschaft Hoseas. Die anfängliche These, dass Israel auf keine Hilfe Jahwes hoffen dürfe, weil es „das Gute verworfen“ habe (V.1–3), wird anhand der zentralen Schuldherde belegt: die ständigen Machtwechsel (V.4), der Staatskult in Bet-El (V.5–6), der Verlust der religiösen Eigenart (V.7f.), die Außenpolitik (V.9f.) und zuletzt die Vermehrung der Gottesdienste auf dem Land (V.11–13). Unüberbietbar hart endet die Schuldauflistung mit der Reaktion Jahwes: „Sie müssen zurück nach Ägypten“ (V.13); Gott kündigt die Heilsgeschichte auf. Doch nun, da alles gesagt zu sein scheint, kommt am Ende des Kapitels in V.14 sozusagen post festum eine erneute Anklage, deren Abzweckung nicht zweifelhaft sein kann, da die abschließende Strafankündigung ein Zitat aus den Völkersprüchen des Amosbuches bringt und „Juda“ als neues Subjekt einführt. Israel vergaß seinen Schöpfer und baute Paläste, und Juda vermehrte befestigte Städte. Doch ich sende Feuer in seine Städte, dass es deren Palastfestungen verzehrt.
Für die judäischen Tradenten der Hoseaworte konnte der Katalog schwerster Schuldtatbestände, die die Aufkündigung des Gottesverhältnisses zur Folge haben würden, nicht gut ohne Erwähnung (des Luxus und) des Sicherheitsbedürfnisses in den Palästen der Hauptstadt, wie sie der Judäer Amos – im Unterschied zu Hosea – mehrfach thematisierte und der jüngere Zeitgenosse Jesaja sie in Jerusalem anprangerte (Jes 3; 30f.), zu stehen kommen. Ja, man kann mit guten Gründen fragen, ob sich ein judäischer Leser ohne diese Aktualisierung von den voranstehenden Vorwürfen gegen die Menschen des
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Nordreichs unmittelbar selber getroffen fühlen musste. V.14 verhindert somit, dass ein judäischer Leser die hoseanischen Vorwürfe unbeteiligt „historisch“ liest. Was sich in Hos 8 als judäische Aktualisierung leicht literarkritisch abheben lässt, ist andernorts (etwa Hos 10,13b) literarisch nicht ablösbarer Teil der Überlieferung geworden. Vor allem aber ist in diesem Zusammenhang darauf zu verweisen, wie die ersten Kapitel des Jeremiabuches hoseanische Sprache und Vorstellungen aufgreifen, um sie ein Jahrhundert nach Hosea auf judäische Verhältnisse anzuwenden4. Nach meiner festen Überzeugung hat man den Propheten Jeremia der Kapitel Jer 2–6 zumeist aufgrund der übernommenen Sprache und Vorstellungen viel zu „hoseanisch“ interpretiert und viel zu wenig auf die Neuverwendung geprägter Sprache für andersartige Probleme geachtet. Für diesen Nachweis ist hier freilich kein Platz5; es ging mir nur um die Problemanzeige als solche, die für die Deutung des Hoseabuches aus judäischer Perspektive – und ein anderes Hoseabuch kennen wir nicht – konstitutiv ist.
2. Gibt es unter diesen Umständen noch eine Möglichkeit, sich zur mündlichen Verkündigung der Propheten zurückzutasten? Die Antwort auf dieses umstrittene Problem muss m.E. doppelt lauten: 1) Die Naivität früherer Generationen, die vom vorliegenden Text aus unmittelbar auf das mündliche Wort des Propheten rückschließen zu können glaubten, ist uns ein für allemal genommen. Ein Zitat des großen Pioniers der formgeschichtlichen Forschung, H. Gunkel, mag diesen Wandel belegen: Die Propheten sind ursprünglich nicht Schriftsteller, sondern Redner gewesen. Wer beim Lesen ihrer Schriften an Tinte und Papier denkt, hat von Anfang an verspielt. „Höret!“, so beginnen ihre Stücke, nicht „leset!“ Vor allem aber muss der gegenwärtige Leser, wenn er die Propheten verstehen will, völlig vergessen, dass ihre Schriften lange Jahrhunderte nach ihnen in einem heiligen Buch gesammelt worden sind. Nicht als Teile der Bibel lese er ihre Worte, sondern er versuche es, sie mitten in das Volksleben Israels hineinzusetzen, in dem sie einst gesprochen worden sind. Da steht der Prophet im Vorhof des Tempels … Eine solche Situation stelle man sich, soweit es irgend möglich ist, bei jedem prophetischen Wort auch da, wo sie nicht ausdrücklich überliefert ist, lebhaft vor Augen … Und nun richte man die Augen von der Zuhörerschaft auf den Propheten selber und vergegenwärtige sich seine Art zu re-
4 Vgl. dazu insbesondere M. SCHULZ-RAUCH, Hosea und Jeremia. Zur Wirkungsgeschichte des Hoseabuches (CThM A 16), Stuttgart 1996. 5 Vgl. ansatzweise J. JEREMIAS, Hoseas Einfluss auf das Jeremiabuch – ein traditionsgeschichtliches Problem, in: Text and Theology (FS M. Sæbeø), hg. von A. TÅNGBERG, Oslo 1994, 112–134 = DERS., Hosea und Amos. Studien zu den Anfängen des Dodekapropheton (FAT 13), Tübingen 1996, 122–141.
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Zur Theologie der Prophetenbücher
den … Und beobachten wir, wie er sich dabei gebärdet! Er bricht in bitterem Schmerze über das kommende Unheil seufzend und stöhnend zusammen, er schlägt sich die Hüfte und klatscht in die Hände; er schwankt wie ein Trunkener …6
Bei Gunkel bedarf es nur der kontrollierten Phantasie des geübten Exegeten, um die äußeren Umstände des Prophetenwortes und dessen Stimmung lebhaft vor Augen zu malen. Die Schriftlichkeit der Texte ist nur eine leicht abzuhebende Schale, um zur mündlichen Rede als eigentlicher Frucht vorzudringen. Diesen direkten Weg zur Mündlichkeit haben redaktionsgeschichtliche Untersuchungen der letzten Jahrzehnte prinzipiell verbaut. 2) Vielmehr ist der Weg zum mündlichen Wort nur auf dem Weg kontrollierter Rekonstruktion möglich. Die Gründe für diese Notwendigkeit sind im Kapitel zuvor benannt worden. Während man aber noch vor einem guten Jahrzehnt betonen musste, dass dieser Weg der Rekonstruktion mühsam ist und keineswegs in allen Fällen zum Ziel führt, hat in jüngster Zeit in der Prophetenforschung eine Skepsis Platz gegriffen, die entweder auf jede Art Rekonstruktion um des Grades der Unsicherheit willen programmatisch verzichtet und sich nur noch der Exegese des Endtextes widmet, der Jahrhunderte vom redenden Propheten getrennt sein mag7, oder aber die Erfolgschancen solcher Rekonstruktionen für so gering erachtet, dass sie, wo sie einmal gelingen, zu einem Bild des redenden Propheten führen, das mit den überlieferten Texten in nur noch lockerem Zusammenhang steht oder ihnen geradezu entgegengesetzt ist8. Dieser Skepsis gegenüber möchte ich aus meiner Sicht betonen, dass die Rekonstruktion in einer Vielzahl von Fällen möglich ist, möchte dieses Votum allerdings in einer Hinsicht einschränken: Da die redaktionsgeschichtliche Forschung gezeigt hat, dass die Entstehung und das Wachstum jedes Prophetenbuches gesondert verlief, so dass von den Ergebnissen keines Buches einfach auf die des anderen geschlossen werden kann, sind die Probleme der Rekonstruktion der mündlichen Botschaft der Propheten auch in jedem Buch verschieden. Ich nenne deshalb im Folgenden kurze Beispiele aus den Büchern Hosea, Amos und Micha, mit denen ich besser als mit anderen vertraut bin, die in unserem Zusammenhang aber in ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden als repräsentativ für andere Prophetenbücher stehen können. 6 H. GUNKEL, „Einleitungen“ zu H. SCHMIDT, Die großen Propheten (SAT II/2), Göttingen ²1993, XXXVIf. 7 In den USA gibt es inzwischen auf der konservativen Seite ganze Kommentarreihen, die sich diesem Auslegungsprinzip verpflichtet fühlen. Auf der anderen Seite verzichtet etwa ein kritischer Exeget wie R. P. CARROLL programmatisch auf jede Rekonstruktion der mündlichen Verkündigung; vgl. DERS., Jeremiah. A Commentary, London 1986, 55ff. 8 Als Beispiel sei U. BECKER, Jesaja – von der Botschaft zum Buch (FRLANT 178), Göttingen 1997, genannt. Lässt sich von der Basis einer angeblich nationalreligiösen Heilsverkündigung des historischen Jesaja aus die komplexe Überlieferungsbildung von Jes 1–35 wirklich plausibel nachvollziehen?
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Wichtig ist mir bei diesem Beharren auf der Rekonstruktion mündlicher Prophetenworte ein theologischer Gesichtspunkt. Zwar gehört es, wie im vorigen Kapitel ausgeführt, zu den Eigenarten prophetischer Texte, dass sie das prophetische Wort in einer Gestalt überliefern, in der es in andere Situationen hinein übersetzbar ist, aber es gehört genauso zu den Eigenarten dieser Texte, dass sie für die späteren Leser die geschichtliche Ursprungssituation des mündlichen Wortes festhalten. Der Leser muss wissen, dass Jesaja im Todesjahr Ussias seine Berufungsvision schaute (Jes 6,1), dass Amos „zwei Jahre vor dem Erdbeben“ auftrat (Am 1,1), das den früheren Generationen noch im Gedächtnis war, etc. Das Prophetenwort bleibt auch als Text eines Prophetenbuches an seine Ursprungssituation rückgebunden. Alle – notwendigen – Aktualisierungen des Prophetenwortes im Zuge seiner Verschriftung und alle – ebenfalls notwendigen – Einbindungen des prophetischen Einzelwortes in ein systematisches Ganzes prophetischer Verkündigung lösen das prophetische Wort auch als Text nicht aus seiner Ursprungssituation. Die Suche nach dieser Ursprungssituation ist deshalb nicht nur ein Akt historischer Neugier, sondern ist von der Eigenart der Prophetentexte aufgenötigt. 2.1. Zu den Besonderheiten der Überlieferung von Hoseaworten gehört es, dass sie im Hauptcorpus Kap. 4–14, das auf die von erzählenden Texten geprägten Eingangskapitel 1–3 folgt, anfangs in literarischen Großeinheiten dargeboten wird, die einander paarweise zugeordnet sind. Dabei steht jeweils eine ausführlichere Großkomposition vor einer gedanklich parallel verlaufenden kürzeren9. Dieses Verfahren ist deutlich auf Leser ausgerichtet, denen zugemutet wird, einen zunächst breiter ausgeführten Gedankengang in einer kürzeren Fassung wiederzuerkennen und nachzuvollziehen. Der Sinn einer solchen komplexen Komposition ist natürlich nicht die pure Wiederholung, etwa aus Gründen pädagogischer Einschärfung. Vielmehr tritt in den kürzeren Parallelkompositionen stets eine neues Thema hinzu, das in der längeren Eingangseinheit noch nicht berührt war, so dass der Leser gezwungen ist, einen breit ausgeführten Argumentationsgang auf ein neues Themenfeld auszuweiten. In solchem Vorgehen spiegelt sich am ehesten eine interne Schuldiskussion wider, in der die Tradenten nach dem Verstummen der prophetischen Stimme bemüht waren, in der Vielfalt der vom Propheten berührten Themen übergeordnete Gesichtspunkte und Kategorien zu finden, die die verschiedenen Themen miteinander verbanden. Natürlich ist damit 9
Vgl. zum näheren Nachweis J. JEREMIAS, Hosea 4–7. Beobachtungen zur Komposition des Buches Hosea, in: Textgemäß (FS E. Würthwein), hg. von A. H. J. Gunneweg/O. Kaiser, Göttingen 1980, 47–58 = DERS., Hosea und Amos. Studien zu den Anfängen des Dodekapropheton (FAT 13), Tübingen 1996, 55–66; TH. NAUMANN, Hoseas Erben. Strukturen der Nachinterpretation im Buch Hosea (BWANT 131), Stuttgart/Berlin/Köln 1991, 26ff.
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eine unmittelbare Schuldiskussion zwischen Meistern und Schülern als Beginn dieses Prozesses nicht bewiesen, und obwohl ich sie für sehr wahrscheinlich halte, wüsste ich keine Indizien zu nennen, aufgrund derer die Texte eine solche Diskussion als Hintergrund zwingend erfordern würden. Was sie aber erfordern, ist – vermutlich bald nach dem Fall Samarias als frühe Bestätigung der Worte Hoseas – die Suche der Tradenten nach dem bestimmenden Ganzen der vielfältigen prophetischen Reden. Für unsere Fragestellung erscheint mir in diesem Zusammenhang wichtig, dass die Tradenten durchaus zu unterscheiden vermochten zwischen prophetischen Themen, die nur einer stichwortartigen Anspielung bedurften, um für die Leser verständlich zu sein, und solchen, deren Argumentation dem Leser nur auf dem Weg einer ausführlicheren Darlegung zu vermitteln war. Es sind natürlich diese letzteren Themen, in denen der Leser der mündlichen Stimme des Propheten am ehesten nahezukommen vermag. Ein einfaches Beispiel mag diesen Sachverhalt belegen. Wenn es in Hos 8,4a in äußerster Kürze heißt: Sie kürten Könige, doch ohne meinen Auftrag, bestellten Beamte, doch ohne mein Wissen,
so wird beim Leser wohl vorausgesetzt, dass er (aus Samuel- und Königsbüchern) weiß, wie ein Königsküren „mit Jahwes Wissen“ aussehen würde; es wird aber nicht vorausgesetzt, dass er sich aus einer derart kurzen Notiz die vom Propheten gerügten politischen Machenschaften vorstellen könne. Vielmehr nimmt diese Notiz Bezug auf die ausführliche, der mündlichen Verkündigung nahestehende Verurteilung der mehrfachen Königsmorde und Revolutionen in wenigen Jahren um des eigenen Machtgewinns willen in Hos 7,3–7, die die leidenschaftliche Entrüstung des Propheten noch deutlich erspüren lässt. Hier ist die Erregung des mündlichen Wortes in konkreter historischer Stunde (7,3–7) noch leicht unterscheidbar von der theologischen Deutung der Schuld aus größerem Abstand heraus und unter Bezug auf die schon vorliegende (frühprophetische) Überlieferung (8,4a). Wichtiger für unseren Zusammenhang ist ein charakteristischeres Beispiel aus den Kapiteln 4–5. Einer der übergeordneten Kategorien, mit der die Tradenten die vielfältigen Verkündigung Hoseas zusammenbinden, ist die der „Hurerei“ ()זנונים, weil vermutlich der Prophet selber sie in vielfältigen unterschiedlichen Kontexten gebrauchte. Wie immer dem sei, „Hurerei“ bezeichnet im Hoseabuch vornehmlich die lokalen Gottesdienste Israels als Bruch des Gottesverhältnisses (Hos 2,4ff.), aber auch etwa die Außenpolitik (Hos 8,9f.) und all die anderen schon oben aufgeführten Schuldtatbestände von Hos 8 in derselben Zuspitzung. Jedoch spielt der Begriff daneben auch weit vordergründiger auf jene religiösen Sexualriten an, deren Einzelheiten bis heute umstritten sind, die aber jedenfalls im lokalen Gottesdienst der „Höhen“ die Fruchtbarkeit des Mutterschoßes sichern sollten, für Hosea dagegen familien-
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zerstörend wirken. Da der Prophet damit a) Sachverhalte benennt, die den (judäischen) Lesern seines Buches sehr wahrscheinlich fremd, andererseits aber b) zum Verständnis der zentralen hoseanischen Schuldkategorie der „Hurerei“ unerlässlich waren, zitieren die Tradenten ausführlich die mündliche Verkündigung des Propheten in einer längeren Passage. Sie ist zugleich das Zentrum der ersten Großkomposition Hos 4,4–19: 11 Wein und Most rauben meinem Volk den Verstand. 12 Sein Holz befragt es, sein Stab soll ihm Auskunft geben! Ja, ein Geist der Unzucht hat (sie) irregeführt, so haben sie sich um der Unzucht willen von ihrem Gott abgewandt. 13 Auf Bergesgipfeln opfern sie, auf Anhöhen räuchern sie, unter Eiche, Pappel und Terebinthe, weil ihr Schatten so wohltut. So kommt es, dass eure Töchter Unzucht treiben, eure Schwiegertöchter die Ehe brechen. 14 Nicht ahnde ich’s an euren Töchtern, dass sie Unzucht treiben, nicht an euren Schwiegertöchtern, dass sie Ehe brechen: Sie selber gehen ja mit Huren beiseite, feiern Schlachtopfer zusammen mit Tempeldirnen! So kommt unverständiges Volk zu Fall10.
An diesem Abschnitt ist beides zugleich zu beobachten: die Nähe zur mündlichen Verkündigung des Propheten und die Entfernung von ihr zugunsten übergreifender Problembemühung. Die Nähe zum mündlichen Wort wird zunächst daran erkennbar, dass wir in Hos 4,11–14 die ausführlichste und präziseste Beschreibung der für die Späteren so negativ konnotierten Höhengottesdienste besitzen, bei der neben den inkriminierten Sexualriten auch Orakelwesen und Opferpraktiken beschrieben werden. Diese Beschreibung hatte für die judäischen Leser schwerlich die gleiche Aktualität wie für die Hörer des Propheten, wie der sogleich folgende V.15 zeigt, der mit einem Zitat aus dem Amosbuch analoge Gefährdungen der judäischen Bevölkerung im Wallfahrtswesen aufzuzeigen sucht. Weiter wird die Nähe zum mündlichen Wort am plötzlichen Übergang zur Anrede in V.13b–14a erkennbar. Zwar ist dergleichen im Hoseabuch auch als literarisches Mittel belegt (z.B. in Hos 5,3), aber in Hos 4,13f. spricht alle Wahrscheinlichkeit dafür, dass in der Anrede noch die Entrüstung des Propheten über die Sexualriten zum Ausdruck kommt. Die Entfernung von mündlicher Rede und bewusste literarische Gestaltung wird demgegenüber daran erkennbar, dass die Anklage des Propheten in V.12–14a künstlerisch gerahmt wird von einer Klage über die Ver10 Vgl. zur Begründung der Übersetzung J. JEREMIAS, Der Prophet Hosea (ATD 24/1), Göttingen 1983, 63f.
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lorenheit des unwissenden Volkes in V.11.14b, vor allem aber in der Wortprägung des „Geistes der Unzucht/Hurerei“ ()רוח זנונים. Denn dieser Begriff, der wohl auf den Propheten selber zurückgehen wird, zielt auf weit mehr als auf die Problematik der Höhengottesdienste. Wie die kürzere Parallelkomposition zu 4,4–19 in 5,1–7 zeigt, wo der Begriff betont wieder aufgenommen wird (5,3f.), umfasst er gleicherweise Rechtsbrüche (5,1f.), will aber weit grundsätzlicher noch aufweisen, warum ein von diesem „Geist“ bestimmtes Israel zu jeglichem Gotteskontakt unfähig geworden ist (5,4). So nötigt der Text den Leser – und darin überschreitet er alle mündlichen Worte –, die verschiedenen Schuldtatbestände, die der Prophet benannte, zusammenzuschauen und als Varianten der mangelnden „Gotteserkenntnis“ (5,4) zu begreifen. Andererseits bleibt er, wo immer es den Tradenten sachlich notwendig erscheint, so dicht wie möglich am – natürlich auf das Wesentliche reduzierten – mündlichen Wort Hoseas. 2.2. Sehr andersartig stellt sich die Problemlage dar, wenn wir uns dem Buch Amos zuwenden. Die eingangs kurz charakterisierte Systematisierung der Amosworte in den zentralen Kapiteln des Amosbuches spiegelt offensichtlich nicht wie im Fall des Hoseabuches eine Schuldiskussion wider, sondern ist nach außen gerichtet. Angesichts der kurzen Wirkungszeit des Amos, die nach der Überschrift „zwei Jahre vor dem Erdbeben“ ein Jahr kaum wesentlich überschritten haben wird, ist das Modell einer Schuldiskussion a priori unwahrscheinlich. Vielmehr spiegelt die ältere Amosüberlieferung in Am 3–6 – auf diese Kernkapitel werde ich mich im Folgenden beschränken – auf Schritt und Tritt das Bemühen wider, die harten Amosworte Menschen nahezubringen, die a) den Untergang Samarias schon erfahren haben und b) in Juda leben. Dass die Rekonstruktion der mündlichen Botschaft großenteils in Umrissen möglich ist, soll eingangs ein einfacher, dann ein gewichtigerer und komplexerer Beleg zeigen. Grundsätzlich gilt, dass aufgrund seiner besonders provokanten Äußerungen viele Formulierungen des Amos den folgenden Generationen im Ohr geblieben sind. Die bekannte Wirkungsgeschichte seiner unüberbietbar harten Rede vom „Ende Israels“ bei Ezechiel und in der Priesterschrift mag dafür als beliebiges Beispiel dienen 11 . Unter diese Kategorie gehört auch Am 4,4f. Zwar leiten diese Verse im gegenwärtigen Kontext eine sechsstrophige Bußli11 Vgl. dazu R. SMEND, „Das Ende ist gekommen“. Ein Amoswort in der Priesterschrift, in: Die Botschaft und die Boten (FS H. W. Wolff), hg. von J. Jeremias/L. Perlitt, München 1981, 67–72 = DERS., Die Mitte des Alten Testaments, Gesammelte Studien 1, München 1986, 154–159; W. H. SCHMIDT, Nachwirkungen prophetischer Botschaft in der Priesterschrift, in: Mélanges bibliques et orientaux (FS M. Delcor [AOAT 215]), hg. von A. Caqout/ S. Légasse/M. Tardieu, Neukirchen-Vluyn 1985, 369–377.
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turgie ein, die vermutlich exilischer Herkunft ist, und sind von ihr literarisch nicht zu trennen. Aber dem geschulten Auge des Exegeten fällt es nicht schwer, die von Anbeginn literarische Großeinheit 4,6–13, die für die exilische Aufnahme der Amosbotschaft und das exilische Amosbuch von zentraler Bedeutung ist12, deren Verfasser aber offensichtlich in die schon vorliegende Einheit 4,4f. nicht eingegriffen haben, als Fortschreibung und Deutung einer von Haus aus rhetorischen Einheit 4,4f. zu erkennen. Diese Einheit aber lässt in ihrer kühnen Perversion eines priesterlichen Aufrufs zur Wallfahrt mit dem Ziel, „Verbrechen zu üben“ bzw. „Verbrechen zu vermehren“, d.h. sich ein gutes Gewissen für die böse Tat zu holen, den Atem des aufrührerischen Propheten noch vernehmen. Es waren Texte wie Am 4,4f., die Gunkel zu seinen uns heute fremd anmutenden Sätzen führten, die ich oben zitiert habe. Schwieriger, aber keineswegs unmöglich, ist die Rekonstruktion mündlicher Amosworte in Fällen künstlerischer literarischer Kompositionen wie Am 5,1–17. Seit J. de Waard und S. Bergler13 unabhängig voneinander entdeckt hatten, dass hinter dem komplexen Gedankengang der Großeinheit, in die die ältere literarkritische Forschung bis zu W. Rudolph immer wieder zerstörerisch mit Umstellungen von Versen eingegriffen hatte, eine durchdachte Ringkomposition steht, ist diese Erkenntnis häufig bestätigt und immer mehr verfeinert worden14. Dabei hat man primär aufgedeckt, wie in dieser formal sehr artifiziellen, sachlich sehr komplexen Einheit die exilische Gemeinde, die schon durch die Katastrophe hindurchgegangen war, die dunklen Todesworte des Amos und seine hellen Worte vom möglichen Leben für die bevorstehende Zukunft auf sich zu beziehen versuchte – bei grundlegender Anerkennung der Zerstörung Jerusalems als verdientes Gericht Gottes. Man entdeckte zugleich, wie dieser Komposition eine analoge kürzere des älteren Amosbuches voranging, die nach dem Fall Samarias die judäische Gemeinde mit den Amosworten wachrütteln und zur Erkenntnis ihrer Schuld führen wollte. Ist unter solch komplizierter literarischer Nachgeschichte ein Zurück zum Wort des Amos noch möglich? 12 Vgl. dazu H. W. WOLFF, Dodekapropheton. 2. Joel und Amos (BK XIV/2), Neukirchen-Vluyn ³1985, 250ff. und ausführlicher J. JEREMIAS, Die Mitte des Amosbuches (Am 4,4–13; 5,1–17), in: DERS., Hosea und Amos. Studien zu den Anfängen des Dodekapropheton (FAT 13), Tübingen 1996, 198ff. 13 J. DE WAARD, The Chiastic Structure of Amos V 1–17, VT 27 (1977) 170–177; S. BERGLER, Die hymnischen Passagen und die Mitte des Amosbuches, Magisterschr. Tübingen 1978 (masch.). 14 Vgl. etwa N. J. TROMP, Amos V 1–17, OTS 23 (1984) 56–84; J. JEREMIAS, Tod und Leben in Am 5,1–17, in: Der Weg zum Menschen (FS A. Deissler), hg. von R. Mosis/ L. Ruppert, Freibourg/Basel/Wien 1989, 134–152 = DERS., Hosea und Amos. Studien zu den Anfängen des Dodekapropheton (FAT 13), Tübingen 1996, 214–230; zuletzt D. U. ROTTZOLL, Studien zur Redaktion und Komposition des Amosbuchs (BZAW 243), Berlin/New York 1996, 215–250.
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Es ist das Verdienst H. W. Wolffs, den Weg dazu mit einer hilfreichen methodischen Differenzierung gewiesen zu haben. Für die ältere Komposition, die den Text entscheidend geprägt hat – die jüngere Komposition hat in den ihr vorliegenden Text offensichtlich nicht eingriffen, sondern ihn nur ergänzt –, unterschied Wolff zwischen Textpartien unterschiedlicher Herkunft, die eng miteinander literarisch verknüpft sind, und solchen, für die das nicht gilt. Im ersteren Fall hielt er eine Rekonstruktion mündlicher Verkündigung für nicht mehr möglich, im letzteren dagegen wohl. Im Falle des berühmten Textes „Suchet das Gute und nicht das Böse, damit ihr am Leben bleibt“ (V.14f.) etwa, der für jede Amosdeutung so wichtig ist, weil er gegebenenfalls den sichersten Beleg für eine – wie auch immer verhaltene – Heilserwartung des Propheten liefert, hielt Wolff eine Rekonstruktion für nicht möglich und sprach stattdessen von der „Tätigkeit eines oder mehrerer Amosschüler“15, weil die Verse 14f. mit den vorangehenden Versen 7.10–12 literarisch unlöslich vernetzt sind. Für andere Teile der Komposition wie V.2f.4f.16f. gilt Entsprechendes nicht, und insbesondere bei den Leichenliedern V.2f. und V.16f.16, aber auch bei der Warnung vor Wallfahrten und bei dem mit ihnen verbundenen (ironischen?) Lebensangebot in V.4f. steht nach dem Grundsatz Wolffs der Annahme nichts im Wege, dass sich in diesen Versen mündliche Verkündigung unmittelbar niederschlägt, wenn natürlich auch immer als gedrängte Zusammenfassung. 2.3. Noch einmal anders liegen die Schwierigkeiten im Falle des Buches Micha. Es ist ungleich mehr als die Bücher Hosea und Amos von jüngeren Texten geprägt, die besonders in Mi 4–5 immer wieder um die Zukunft des Zion kreisen. Das hängt erkennbar damit zusammen, dass Micha als erster die Zerstörung des Zion durch Gottes eigene Hand ansagte und damit die Fragen nach Gottes Plan mit seiner Wohnung inmitten Israels auslöste (Mi 3,12). Da ebendiese Ankündigung des Untergangs Jerusalems im Hochverratsprozess gegen Jeremia (Jer 26) zitiert wird, stehen wir bei ihr im Bemühen um Rekonstruktion prophetischer Verkündigung auf selten sicherem Boden. Im Übrigen sind von Micha vornehmlich Streitgespräche überliefert. Sie sind zwar als Diskussionen um Berechtigung und Angemessenheit der Zerstörung Jerusalems und des Exilgeschickes an Hand der Botschaft Michas tradiert worden, aber diese jüngere Problemstellung lässt sich literarkritisch rela15 WOLFF, Joel und Amos, a.a.O. (Anm. 12), 276. – Zusätzlich ist daran zu erinnern, dass V.14b Sprache aufgreift, die sonst in den Zionpsalmen belegt ist, und V.15 den nicht sicher deutbaren Begriff „Josef“ verwendet. 16 G. FLEISCHER, Von Menschenverkäufern, Baschankühen und Rechtsverkehrern. Die Sozialkritik des Amosbuches … (BBB 74), Frankfurt a.M. 1989, 94ff.119ff., verbindet noch V.7 und 10 mit der rhetorischen Einheit V.16f.*
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tiv leicht ablösen17, so dass die zugrunde liegende Auseinandersetzung Michas mit seinen Zeitgenossen (Großbauern, konservativen Theologen und Propheten: 2,1–5.6–11*; 3,5–8) klar vor Augen liegt. Wie dicht man mit diesen Texten beim Propheten ist, lässt insbesondere der Vergleich mit einem jüngeren Text (Mi 6,1–8) gewahr werden, der von einem künstlichen Stimmenwechsel als literarisches Mittel geprägt ist. In anderen Fällen haben die Tradenten freilich mögliche Worte Michas so stark auf Texte anderer Propheten, besonders Hosea und Amos, bezogen (1,5–7; 3,1–4.9–11), dass eine Rekonstruktion der mündlichen Botschaft nicht mehr gelingt und vielleicht (besonders im Falle von 1,5–7) auch sachlich gar nicht angemessen ist. Eine ungewöhnliche historische Kostbarkeit bietet Mi 1,10–16. Da der Prophet hier zwar die Orte seiner unmittelbaren Heimat angesichts des Assyreransturms im Namen Gottes verurteilt, aber diese Verurteilung mit Hilfe von Wortspielen mit genereller Bedeutung durchführt, ist eine stark zeit- und ortsgebundene Rede auch späteren Lesern zur Hilfe geworden.
3. Ein zentrales Problem der Prophetenforschung kann am Ende nur noch gestreift werden: die sprachliche und sachliche Berührung von Prophetenbüchern bzw. -texten untereinander. Es versteht sich von selbst, dass solche Kontakte grundsätzlich im schriftlichen wie im mündlichen Stadium der Überlieferung denkbar sind, d.h. sowohl als Zeugnisse dafür, dass die Tradenten die einzelnen Propheten aus ihrer Isolierung nahmen und aufeinander bezogen lasen, als auch als Zeugnisse für die Kenntnis der Propheten untereinander oder für die Wirkung von Worten, die die jeweiligen zeitgenössischen Hörer der Propheten stark beschäftigten. Den intertextuellen Kontakten zwischen Prophetenbüchern auf schriftlicher Ebene hat sich die jüngste Prophetenforschung zugewandt, mit teilweise überraschenden Ergebnissen. Erstmalig trat seit Mitte der achtziger Jahre das Phänomen buchübergreifender Redaktionen in den Blick der Forschung. Das gegenwärtige Mühen um eine Prophetentheologie, die Frage also, was die vielfältigen prophetischen Stimmen der Bibel, die zu sehr verschiedenen Zeiten laut wurden, miteinander verband, erwies sich als so alt wie die Überlieferung der Texte selber. Natürlich ist es kein Zufall, dass der Prozess, prophetische Texte verschiedener Bücher aufeinander zu beziehen, in der Spätzeit des
17
Vgl. J. JEREMIAS, Die Deutung der Gerichtsworte Michas in der Exilszeit, ZAW 83 (1971) 330–354 und ausführlicher B. RENAUD, La formation du livre de Michée, Paris 1977, und H. W. WOLFF, Dodekapropheton. 4. Micha (BK XIV/4), Neukirchen-Vluyn 1982.
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Alten Testaments am evidentesten aufweisbar ist18, und genauso wenig ist es zufällig, dass dieser Prozess im Zwölfprophetenbuch, wo schon in früheren Stadien der Überlieferung mehrere Prophetenbücher auf einer Rolle standen, besonders gut verfolgbar ist19; aber ich selbst bin der Überzeugung, dass der im Hintergrund stehende Impetus der Frage nach dem gemeinsamen Gotteswillen in verschiedenen prophetischen Stimmen nahezu gleich alt ist wie die Schriftlichkeit der Prophetie selber20. Über dieser Entdeckerfreude wurde die Frage der älteren Forschung eher in den Hintergrund gedrängt, inwiefern die Texte nahelegen, mit einer vorgängigen Kenntnis älterer prophetischer Worte (und Texte) durch jüngere Propheten zu rechnen 21 . Angesichts der Kleinheit Judas, in dessen engen Grenzen alle sog. Schriftpropheten mit Ausnahme Hoseas aufwuchsen, ist eine solche Frage a priori mit hoher Wahrscheinlichkeit zu bejahen. Freilich ist die bloße Feststellung derartiger Berührungen als solche von geringem Wert; von entscheidendem Gewicht ist vielmehr die Frage, wie die jüngeren Propheten die überkommene prophetische Tradition verwendeten, sie also für neue Lebensumstände und gesellschaftliche bzw. religiöse Problemfelder aktualisierten. Dieser Prozess kann hier abschließend nur noch an zwei kurzen Beispielen angedeutet werden. Wie die höchst ungewöhnliche fünfte und letzte Vision des Amos, in der der Prophet als Explikation des „Endes Israels“ (Am 8,2) Gott sich gegen seinen eigenen Tempel wenden sieht (Am 9,1–4), von dem wenig jüngeren Jerusalemer Jesaja aufgenommen, aber zugleich in ganz neue theologische Dimensionen weitergedacht wird, hat vor kurzem in einer vor-
18 Vgl. etwa O. H. STECK, Der Abschluss der Prophetie im Alten Testament. Ein Versuch zur Frage der Vorgeschichte des Kanons (BThSt 17), Neukirchen-Vluyn 1991; DERS., Die Prophetenbücher und ihr theologisches Zeugnis, Tübingen 1996 (mit Lit.). 19 Vgl. etwa J. NOGALSKI, Literary Precursors to the Book of the Twelve (BZAW 217), Berlin/New York 1993; DERS., Redactional Processes in the Book of the Twelve (BZAW 218), Berlin/New York 1993; zuletzt A. SCHART, Die Entstehung des Zwölfprophetenbuches (BZAW 260), Berlin/New York 1998. 20 Vgl. J. JEREMIAS, Die Anfänge des Dodekapropheton: Hosea und Amos (VT.S 61), Leiden 1995, 87–106 = DERS., Hosea und Amos. Studien zu den Anfängen des Dodekapropheton (FAT 13), Tübingen 1996, 34–54; SCHART, Entstehung, a.a.O. (Anm. 19), 101–154; vgl. zuletzt E. BOSSHARD-NESPUTIL, Rezeptionen von Jesaja 1–39 im Zwölfprophetenbuch (OBO 154), Göttingen/Fribourg 1997. 21 Vgl. etwa R. FEY, Amos und Jesaja. Abhängigkeit und Eigenständigkeit des Jesaja (WMANT 12), Neukirchen-Vluyn 1963; D. BALTZER, Ezechiel und Deuterojesaja (BZAW 121), Berlin/New York 1971; G. STANSELL, Micah and Isaiah. A Form and Tradition Historical Composition (SBL. DS 85), Atlanta/Georgia 1981; W. BEYERLIN, Reflexe der Amosvisionen im Jeremiabuch (OBO 93), Göttingen/Fribourg 1989; U. WENDEL, Jesaja und Jeremia. Worte, Motive und Einsichten Jesajas in der Verkündigung Jeremias (BThSt 25), Neukirchen-Vluyn 1995; J.-H. CHA, Micha und Jeremia (BBB 107), Weinheim 1996.
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bildlichen Studie F. Hartenstein gezeigt22. Hier wird deutlich, wie in der Prophetie mit knappen sprachlichen Mitteln in der Weiterführung von Überkommenem neue Horizonte erschlossen werden können. Das zweite Beispiel harrt noch seiner Bearbeitung. In seiner bekannt präzisen Beobachtung von Texten hat E. Würthwein in einem glänzenden Aufsatz die vielfachen Berührungen zwischen den kultkritischen Texten im Hosea-, Amos-, Jesaja-, Jeremia- und Maleachibuch aufgewiesen. Er selbst hat diese Gemeinsamkeiten formgeschichtlich deuten wollen, von einer den Texten zugrunde liegenden Gattung des „Kultbescheids“ aus, was ich aus verschiedenen Gründen zu bestreiten versucht habe23. Als Alternative zur Erklärung der unbestreitbar engen Berührungen bleibt die Annahme, dass das ungewöhnlich harte Wort des ältesten unter diesen Propheten, Amos (Am 5,21ff.), traditionsbildend gewirkt hat. Es hat freilich bei Hosea zu einer nur formal vergleichbaren Verurteilung des Kults geführt, denn während Amos in Am 5,21ff. das Auseinanderbrechen von Gottesdienst und Alltag rügt, prangert Hosea eine Opfermentalität im Volk an, die er als Bruch des ersten Gebotes versteht und die sich für ihn auch in der Politik auswirkt (Hos 6,4–6)24. Demgegenüber werden Jes 1,10ff. und Jer 6,19–21 die Amos- und Hoseaworte schon als schriftliche Texte voraussetzen, die sie in fortgeschrittener Stunde noch einmal neu auslegen. Gerade an diesem letzten Beispiel wird erkennbar, wie sehr im gegenwärtigen Stand der Prophetenforschung die Kriterien für die Unterscheidung von traditionsgeschichtlicher und redaktionsgeschichtlicher Abhängigkeit noch weithin ungeklärt sind. Die voranstehenden Ausführungen hatten nur verdeutlichen wollen, wieviel von der Klärung dieser Kriterien abhängt. Unstrittig ist, dass sowohl der Prozess komplexer prophetischer Traditionsbildung als auch die Neudeutung schriftlicher Prophetentexte durch jüngere Texte als auch schließlich die Entdeckung buchübergreifender Redaktionen gleicherweise das höchste Interesse der Exegeten verdienen.
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F. HARTENSTEIN, Die Unzugänglichkeit Gottes im Heiligtum. Jesaja 6 und der Wohnort JHWHs in der Jerusalemer Kulttradition (WMANT 75), Neukirchen-Vluyn 1997, 109ff. 23 E. WÜRTHWEIN, Kultpolemik oder Kultbescheid? Beobachtungen zum Thema „Prophetie und Kult“, in: Tradition und Situation (FS A. Weiser), hg. von E. Würthwein/O. Kaiser, Göttingen 1963, 115–131; wieder abgedruckt in: DERS., Wort und Existenz. Studien zum Alten Testament, Göttingen 1970, 144–160; J. JEREMIAS, Kultprophetie und Gerichtsverkündigung in der späten Königszeit Israels (WMANT 35), Neukirchen-Vluyn 1970, 156–162; DERS., Der Prophet Amos (ATD 24/2), Göttingen 1995, 158–160; vgl. zu beiden Ansichten zuletzt O. KAISER, Kult und Kultkritik im Alten Testament, in: „Und Mose schrieb dieses Lied auf“ (FS O. Loretz), hg. von M. Dietrich/I. Kottsieper, Münster 1998, 401–426; 417f. 24 Vgl. zu dieser Unterscheidung schon W. H. SCHMIDT, Zukunftsgewißheit und Gegenwartskritik. Grundzüge prophetischer Verkündigung (BSt 64), Neukirchen-Vluyn 1973, 71f.
20. Gott und Geschichte im Alten Testament Überlegungen zum Geschichtsverständnis im Nordund Südreich Israels∗ Es ist das große und unverlierbare Verdienst der unmittelbar zurückliegenden Generation von Forschern in Deutschland gewesen, die Geschichte als die spezifische Kategorie herauszuarbeiten, in der sich der alttestamentliche Gottesglaube artikuliert. Nicht dass diese Erkenntnis völlig neu gewesen wäre – seit der genaueren Kenntnis der Religionen aus Israels Umwelt war sie grundsätzlich Allgemeingut –: neu war die Tiefe, mit der sie durchdacht wurde, und die Entschlossenheit, mit der Geschichte in den Mittelpunkt aller theologischen Reflexionen gerückt wurde. Berühmt wurde G. von Rads Definition: „Das Alte Testament ist ein Geschichtsbuch.“1 Aber gegen diese Definition erhob sich Widerspruch. Er kam verstärkt nicht zufällig besonders aus Großbritannien und Skandinavien, Ländern, in denen religionsgeschichtliche und kultgeschichtliche Forschung eine ungebrochenere Tradition hatten als in Deutschland zur Zeit des Vorherrschens dialektischer Theologie. Nicht dass man hier die Bedeutung der Geschichte für den alttestamentlichen Gottesglauben geleugnet hätte; aber man wollte sie als eine Größe unter mehreren begreifen: neben dem Recht, neben der Weisheit, vor allem neben dem Kult 2 . In der Tat ist das alttestamentliche Geschichtsverständnis nicht der Schlüssel für den alttestamentlichen Gottesglauben schlechthin. Ein einziger Blick in zentrale eschatologische Erwartungen der Propheten genügt, um zu verdeutlichen, wie viel kultisches und wie viel mythisches Gut hier etwa Eingang gefunden haben. Aber nicht erst die Verabsolutierung der Geschichte ist der Erfassung des alttestamentlichen Gottesglaubens wenig hilfreich, sondern auch schon jede pauschalisierende Rede von dem alttestamentlichen Geschichtsverständnis als solche. Wo sie gebraucht wird, sind zumeist – wenn ich recht sehe – ausgereifte Entwürfe von ∗ Vortrag gehalten anlässlich eines Studientags für Pfarrer im Oktober 1978 in München sowie im Januar 1980 beim Studienseminar für Superintendenten und Dekane im Predigerseminar der VELKD in Pullach. Der Charakter des Vortrags wurde bewusst nur unwesentlich verändert; die Anmerkungen bleiben auf das Notwendigste beschränkt. 1 EvTh 12 (1952/53) 23 = DERS., Probleme alttestamentlicher Hermeneutik, hg. von C. Westermann, München 1960, 11. 2 Vgl. zu dieser Reihung R. SMEND, Elemente alttestamentlichen Geschichtsdenkens (ThSt 95), Zürich 1968, 4.
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Geschichtsdeutung im Blick wie etwa die des Deuteronomiums oder des deuteronomistischen Geschichtswerkes. Die Eigenart dieser Entwürfe besteht darin, dass sie im Zuge restaurativer Bemühungen um die Reinheit des Gottesverhältnisses Geschichtstraditionen und -interpretationen sehr unterschiedlicher Art, insbesondere aber Überlieferungen des Nordreichs Israel einerseits und des Südreichs Juda andererseits, vereinheitlichen und systematisieren 3 . Da sich die alttestamentliche Wissenschaft weithin an diesem reifen Geschichtsverständnis der staatlichen Spätzeit orientierte, hat sie selten wahrgenommen, wie sehr die Auffassung von Gottes Handeln in der Geschichte im Südreich Juda und im Nordreich Israel in den uns erhaltenen Quellen differieren, solange letzteres noch als eigenständiger Staat existierte. Dieser Differenz im Geschichtsverständnis möchten die folgenden Beobachtungen nachgehen.
1. Über das Verständnis göttlichen Handelns im Raum der Geschichte in der Frühzeit Israels vor der Staatenbildung vermögen wir nur wenig Genaues zu sagen, das mit Sicherheit Allgemeingültigkeit beanspruchen kann. Das liegt zum einen daran, dass die ältesten Geschichtstraditionen im Pentateuch in ihrem überlieferungsgeschichtlichen Kern gedeutete Erfahrungen partikularer Gruppen enthalten, die erst im Laufe einer unterschiedlich langen Zeit gemeinsames Gut aller Stämme wurden; zum anderen daran, dass es uns bis heute nicht möglich ist, mit einiger Bestimmtheit zu sagen, inwiefern die älteste schriftliche Sammlung und Ausgestaltung dieser Traditionen durch den Jahwisten oder auch bedeutende Darstellungen der davidisch-salomonischen Zeit wie die „Erzählung vom Aufstieg Davids“ oder die „Erzählung von der Thronnachfolge Davids“ als repräsentativ für das Denken ihrer Zeit angesehen werden können 4 . Zu wenig wissen wir über die Trägergruppen dieser Darstellungen, zu wenig über deren Stellung im Volksganzen. Das wird anders, wenn wir uns der frühen Königszeit Israels nach der Reichsteilung zuwenden, in der Israel voll ins Licht der Geschichte tritt, in der wir über repräsentatives Quellenmaterial verfügen und in der sich die beiden 3 Vgl. S. HERRMANN, Die konstruktive Restauration. Das Deuteronomium als Mitte biblischer Theologie, in: Probleme biblischer Theologie (FS G. von Rad), hg. von H. W. Wolff, München 1971, 155ff. 4 Da sowohl die literarische Abgrenzung und damit die Geschichtskonzeption als auch die Datierung des Jahwisten in jüngster Zeit sehr umstritten sind, habe ich auf Einbeziehung jahwistischer Texte in die Darstellung verzichtet, wohl wissend, dass bei traditioneller Datierung die Konzeption des judäischen Jahwisten von der im Folgenden im Rückgriff auf die Psalmen beschriebenen Jerusalemer Sicht nicht unwesentlich abweichen würde. Die unten zu nennenden Unterschiede zum Nordreich würden freilich im Wesentlichen bestehen bleiben.
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Teilreiche zunächst ohne tödliche Bedrohung der mesopotamischen Weltmächte entwickeln konnten. Hier gilt für das Südreich Juda, dass die Betrachtung der Geschichte und die Rede von Gottes Handeln in der Geschichte nicht grundsätzlich unterschieden sind von der altorientalischen Geschichtssicht im weitesten Sinne. Es ist ja keineswegs so gewesen, dass die Völker des Alten Orients sich nicht mit ihrer Vergangenheit beschäftigt hätten (erinnert sei nur an Annalistik am Hof, an Königslisten, Bauinschriften, an didaktische Geschichtsschreibung wie in den fingierten Königsinschriften), und auch keineswegs so, dass die Religion dieser Völker das Handeln der Götter in der Geschichte ausgeklammert hätte. Eine Fülle von Klagegebeten über geschehenes Unglück, das die Götter verhängten, ist überliefert, eine Fülle von Hymnen, die göttliche Macht im Raum der Geschichte preisen und gelegentlich mit konkreten Einzelereignissen verbinden. Berührungen im Geschichtsverständnis ganz speziell Mesopotamiens mit den beiden Teilstaaten Israels sind daher in den letzten Jahren in mehreren Aufsätzen und Monographien herausgestellt worden5. Aber grundsätzliche Übereinstimmungen auf den verschiedensten Ebenen der Beschäftigung mit der Geschichte, zu denen sich auch immer wieder Unterschiede im Einzelnen nennen lassen, führen m.E. noch nicht ins Zentrum der Problematik gemeinsamen Gottes- und Weltverständnisses. Sie kommt erst dort in den Blick, wo die Tatsache reflektiert wird, dass die Vergegenwärtigung der Frühgeschichte im Festgottesdienst nun speziell Jerusalems den gleichen Ort einnimmt wie im Festkult von Babylon die Vergegenwärtigung des Ursprungsmythos. Das berühmte babylonische „Weltschöpfungsepos“ Enuma eliš erzählt die Schöpfung als Kampf: Der König der Götter, Marduk, besiegt die Chaosmächte, die die Welt in den Untergang reißen wollen, und errichtet über ihnen den Kosmos. Letzte Tat der Schöpfung nach Erschaffung von Himmel, Gestirnen, Erde und Lebewesen ist der Bau des Marduktempels in Babylon, und damit ist zugleich die Einrichtung des Königtums, das Marduk repräsentiert, impliziert. Der Sinn des Mythos wird sofort deutlich, wenn man beobachtet, dass er Jahr für Jahr am Neujahrsfest dramatisch aufgeführt, d.h. rituell bestätigt, wieder neu in Kraft gesetzt wird. Die Beschäftigung mit der Urzeit dient zur Vergewisserung des Menschen. Er lebt in einer tragenden Ordnung himmlischen Ursprungs, die auch weiterhin göttlich garantiert ist. Ihr Mittelpunkt ist der Tempel, als Gründung der Urzeit – vor aller geschichtlichen Erfahrung – selber Unterpfand der tragenden Ordnung. Ein weiteres Unterpfand ist das urzeitliche Königtum, das göttlich delegierte Macht ausübt. Geschichtliche Ereignisse sind Ereignisse innerhalb dieser 5 Vgl. H. GESE, Geschichtliches Denken im Alten Orient und im Alten Testament, ZThK 55 (1958) 127ff. = DERS., Vom Sinai zum Zion, München 1974, 81ff.; B. ALBREKTSON, History and the Gods, Lund 1967; H. H. SCHMID, Das alttestamentliche Verständnis von Geschichte in seinem Verhältnis zum gemeinorientalischen Denken, WuD NF 13 (1975) 9ff.
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Ordnung, auch wo sie Unglück und Unheil beinhalten. Gerechtes Handeln der Menschen – und insbesondere des Königs – und priesterliches Erkunden des Götterwillens können zudem vor solchem Unheil schützen. Nicht grundsätzlich anders war die Sicht der Geschichte im Juda der frühen Königszeit. Zwar kennt Juda keinen Urzeitmythos, der im Bau des Tempels gipfelte, sondern weiß, dass David die Lade nach Jerusalem überführte und der Tempel in Jerusalem von Salomo erbaut wurde. Aber es feiert in seinem Hauptfest Jahwe als den Weltenkönig vom Zion aus, der alle geschichtlichen Mächte, die Juda bedrohen könnten, fest in seiner Hand hält. Und es feiert den Zion in den Zionspsalmen in mythischer Sprache als Weltenberg, der – weil er die Wohnung Gottes trägt – von keiner Macht der Welt zu überwinden ist. Die heilgeschichtlichen Traditionen seiner Frühzeit – die Landgabe, der Sieg Gottes über die Völker – erhalten in diesen Psalmen Urzeitcharakter, werden gepriesen als Gottestaten mit universaler Auswirkung. Jahwe besiegt den Ansturm aller Völker am Zion und gibt mit der Landgabe der Welt eine Ordnung, die niemand zu verändern vermag (Ps 47)6. So rücken im Festgottesdienst Jerusalems die heilgeschichtlichen Taten Jahwes an die Stelle, die in Israels Umwelt der Urzeitmythos einnimmt. Ihre Vergegenwärtigung und neue Inkraftsetzung lassen die feiernde Gemeinde für das kommende Jahr gewiss sein, dass sie in einer von Gott gehaltenen und geschützten Welt lebt. Das Welt- und Lebensgefühl, das sich für den einfachen Bürger aus diesen Festen ergab, tritt uns in der Polemik gegen prophetische Unheilsankündigungen entgegen: „Ist nicht Jahwe in unserer Mitte? – Uns kann kein Unheil treffen.“ (Mi 3,11) Ebenso wenig kennt Israel ein urzeitliches Königtum, sondern weiß, dass sein Königtum mit dem unglücklichen Saul einsetzte und im großen David seinen prägenden Anfang erhielt. Aber: Im Gottesdienst Jerusalems wird David bzw. der Davidide „Sohn Gottes“ genannt, dem Jahwe als seinem Stellvertreter und Repräsentanten auf Erden die Weltherrschaft übergibt (Ps 2) und von dessen Gerechtigkeits- und Heilswirken er das Gedeihen der Erde abhängig macht (Ps 72,3.16). Seine Thronbesteigung wird gefeiert als neue Realisierung der göttlichen Weltherrschaft, da der König ja nicht seinen eigenen Herrschaftsbereich verwaltet, sondern den des Weltenkönigs (Ps 110). Im Land Juda bekennt man David als den Erwählten Gottes, auf den die zweiseitige Bundesformel („Ich will euch Gott sein – ihr sollt mir Volk sein“) übertragen wurde („Ich will ihm Vater sein – er soll mir Sohn sein“, 2Sam 7,14), so dass sich nun Israels Erwählung in der Erwählung des Königs realisiert. Darüber hinaus wird in David seine Dynastie „für alle Zeiten“ erwählt, und 6 Vgl. J. JEREMIES, Lade und Zion. Zur Entstehung der Ziontradition, in: Probleme biblischer Theologie (FS G. von Rad), hg. von H. W. Wolff, München 1971, 183ff., und zum konzeptionellen Zusammenhang der Jerusalemer Festpsalmen O. H. STECK, Friedensvorstellungen in Jerusalem (ThSt 111), Zürich 1972.
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die Verwerfung eines Davididen wird in explizitem Gegensatz zu Saul grundsätzlich ausgeschlossen (V.15f.). Kurz: Im Juda der frühen Königszeit und vor allem in Jerusalem ist Israels Vorstellung von Gottes Handeln in der Geschichte bei aller Eigenart der Herkunft tief verwurzelt im altorientalischen Denken. Es kreist entscheidend um die urzeitlichen Setzungen Gottes, die unverbrüchlich, unaufhebbar sind – als solche werden die eigene Früh- und Heilsgeschichte gedeutet. Es kreist entscheidend um die Gegenwart Gottes im Tempel inmitten Israels, die jene Lebensordnung als gültig in Kraft hält, die er selber geschaffen und bewirkt hat und die keine Gewalt der Erde zunichte machen kann. Es kreist um den König als den Vezier und Stellvertreter Gottes auf Erden, der Gottes Herrschaft ausübt und Gottes Gerechtigkeit zu realisieren hat. Alles Hoffen und Beten richtet sich auf den König, dass er in dieser Vollmacht wirken kann und so Israel ins Heil führt; dass er Gottes Willen in Israel aufrichtet, indem er intakte Gemeinschaft realisiert, in der die schwächsten Glieder („Witwen und Waisen“) zu ihrem Recht kommen. Bedroht ist Israels Unversehrtheit unter dieser grundsätzlichen Heilsordnung nicht eigentlich von Kräften von außen – sie vermögen nichts gegen Gottes Gegenwart zu bewirken –; bedroht ist es einzig durch einen versagenden König, durch dessen ungerechtes Handeln die Weltordnung erschüttert werden kann, so dass Israel den Schutz seines Gottes vorübergehend verliert.
2. Blicken wir von hier aus auf Geschichtstraditionen des Nordreichs aus der gleichen Zeit, so befinden wir uns scheinbar in einer anderen Welt. Wo von den Lebensordnungen gesprochen wird, in die alle einzelnen geschichtlichen Erfahrungen eingegliedert werden können, da wird auf die besondere Geschichte Gottes mit seinem Volk verwiesen, die Israel von allen Völkern unterscheidet. „Seht, ein Volk, das abseits wohnt, das sich nicht unter die Völker rechnet“, heißt es in den altertümlichen Bileamsprüchen (Num 23,9) 7 . Da wird in immer neuen Anläufen Jahwes Handeln von Baals Handeln unterschieden (etwa 1Kön 18), vor allem wird auf die nur Israel anvertraute Rechtsordnung verwiesen, die Israel andere Handlungsmaßstäbe an die Hand gibt als den Kanaanäern (etwa 1Kön 21). Wenn von Gottes Gegenwart geredet wird, dann nicht von seiner Wohnung inmitten Israels im Tempel, sondern von seinem je und je erfahrenen kämpferischen Eingreifen für Israel, das aber ausbleiben kann – dann erleidet Israel Niederlagen –, ja das sich gegen Israel richten kann (etwa Jos 7f.). Vor allem aber wird schon früh – durchaus nicht 7
Die entsprechende Südreichsüberlieferung der Bileamsprüche hebt dagegen charakteristisch den Segen des Gottesvolkes (Num 24,5ff.) und die Machtentfaltung Davids (24,17–19) hervor.
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erst zu Zeiten des deuteronomistischen Geschichtswerks – das Königtum als eine Gabe gesehen, die große Gefährdungen für Israels Glauben mit sich bringt, insofern der König zum Konkurrenten Jahwes werden kann, indem man im Kampf auf sein Geschick statt auf Jahwe baut; insofern der König Recht setzt, das neben und gegen das Gottesrecht tritt; insofern der König den Synkretismus zugunsten der Kanaanäer fördert8. Die königliche Gestalt, die in den Mittelpunkt aller Reflexionen tritt, ist nicht der große David, sondern der unglückliche Saul. In immer neuen Entwürfen wird die rätselhafte Erfahrung zu erklären versucht, wie der König, der doch Gabe Gottes zur Wendung der Philisternot war (daran wird stets festgehalten), zuletzt von Jahwe verworfen werden konnte9. Bis hinein in die Darstellungen der eigenen Vergangenheit, der Väterzeit, reichen diese Unterschiede. Als Beispiel für eine Vätererzählung des Südreichs darf etwa die novellistisch-breite Erzählung von der Brautwerbung für Isaak (Gen 24) mit ihrer Freude an ausschmückenden Einzelheiten, mit ihrer Fülle an höfischen Zügen und ihrer Konzentration auf das Thema des Segens gelten; als typische Erzählung aus dem Nordreich diejenige von der Zumutung Gottes an Abraham, seinen Sohn zu opfern, mit ihrem abgründigen Gottesbild – der Gott, der so Ungeheuerliches fordert, verhindert selber die Durchführung des Geforderten –; oder die Erzählung vom Traum Jakobs in Bethel, die damit endet, dass Jakob gelobt, Gott als seinen Herrn anzuerkennen, wenn er ihn heil nach Bethel zurückführt, und damit das Thema der geschichtlichen Entscheidung für oder gegen Jahwe schon in die Väterzeit verlegt. Wie sind diese ins Auge fallenden Unterschiede im Glaubens- und Geschichtsverständnis zu erklären: hier ein Königtum, auf dessen vollmächtiger Heilsverwirklichung die Hoffnungen der Gemeinde ruhen, dort ein Königtum, das als die entscheidende Gefahr für die Realisierung gottgewollten Lebens angesehen wird; hier die Hervorhebung der heilvollen Gegenwart Gottes im Tempel inmitten Israels, dort weithin ein auffälliges Schweigen von den Heiligtümern oder – später – allenfalls die Warnung vor fehlgeleitetem Gottesdienst (Am 4,4f.; 5,5; Hos 8,4–6; 10,5f.); hier der Preis Jahwes als Weltenkönig, dessen Macht die Völker anerkennen müssen (Ps 47), dort der Preis Jahwes als König Israels, der einen exklusiven Heilsweg nur mit Israel ging (Dtn 33,2–5. 26–29)10? 8 Vgl. in der Zeit vor Hosea (dessen schärfstes Wort in Hos 13,9–11 steht) besonders: 1Sam 15 und die ältere Überlieferung in 1Sam 8–12 und dazu H. J. BOECKER, Die Beurteilung der Anfänge des Königtums in den deuteronomistischen Abschnitten des 1. Samuelbuches (WMANT 31), Neukirchen-Vluyn 1969, 19ff.; W. H. SCHMIDT, Kritik am Königtum, in: Probleme biblischer Theologie (FS G. von Rad), hg. von H. W. Wolff, München 1971, 440ff. 9 Vgl. hierzu J. JEREMIAS, Die Reue Gottes (BSt 65), Neukirchen-Vluyn 1975, 27f. 10 Diesen Unterschied in der Prädikation Jahwes als König hat I. L. SEELIGMANN (A Psalm from Pre-Regal Times, VT 14 [1964] 75–92) herausgestellt.
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Man könnte zur Lösung dieser Frage auf die unterschiedliche geschichtliche Ausgangslage verweisen. Im Nordreich lebten die israelitischen Stämme weithin in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Kanaanäern, teilweise ihnen anfangs untertan, teilweise in Wirtschaftsbündnissen mit ihnen, teilweise auch in voller Symbiose. Wollten die Stämme des späteren Nordreichs nicht in der Kulturlandgesellschaft aufgehen, wollten sie überkommene Eigenarten bewahren, mussten sie sich notwendig von den Kanaanäern abgrenzen. Anders das spätere Südreich: Im Kernland Juda selbst waren die Kanaanäer eine verschwindende Minderheit, wesentlich begrenzt auf die Städte der Schephela, wo sie bald in die judäische Gesellschaftsordnung integriert wurden. Jerusalem war die einzige große Ausnahme. Darum konnte hier die Begegnung und gegenseitige Durchdringung kanaanäischer und altisraelitischer Traditionen viel problemloser vonstatten gehen. Man könnte auf die unterschiedliche Nähe beider Teilreiche zu den alten Heilstraditionen verweisen. In der Tat ist es überaus auffällig, dass die Mehrzahl der großen Pentateuchtraditionen, soweit sie lokalisierbar sind, auf das Haus Joseph, besonders den Stamm Ephraim weisen 11 , während das Haus Juda anfangs ein entfernteres Verhältnis zum Jahweglauben hatte12 und es bis heute eine ungeklärte Frage ist, wieweit Juda zu jenem ältesten Israel gehörte, das sich im gemeinsamen Jahweglauben verband. Aber mit diesen Lösungsversuchen, die durchaus ihr partielles Recht besitzen, ist die entscheidende Differenz zwischen den Nord- und Südreichstraditionen noch nicht genannt. Sie liegt in dem unterschiedlichen Ort begründet, an dem die Texte entstanden und überliefert wurden. Im Südreich waren es der Tempel mit seinen Sängergilden, der Hof und die weisheitliche Schultradition. Im Nordreich waren es vornehmlich prophetische Kreise. Während im Südreich die frühe Prophetie anscheinend in enger Verbindung zum Hof der Davididen und zum Tempel stand und die Impulse dieser Bewegung in die Traditionen am Hof und am Tempel selbst Aufnahme fanden, bildete sich im Nordreich früh eine eigene prophetische Tradition aus, die Tempel und Hof überwiegend kritisch gegenüberstand. Der große Historiker A. Alt, der als erster dieser Differenz seine volle Aufmerksamkeit schenkte13, ging zweifellos zu weit, wenn er vermutete, dass das Nordreich völlig anders verfasst gewesen sei als das Südreich, nicht dynastisch wie dieses, sondern mit einem Wahlkönigtum, bei dem die Akklamation des Königs durch das Volk auf die 11
Vgl. M. NOTH, Überlieferungsgeschichte des Pentateuch, Stuttgart 1948. Beachtliche neue, in der Forschung noch undiskutierte Gründe für die größere Distanz Judas zum traditionellen Jahweglauben nennt R. BARTELMUS, Heroentum in Israel und seiner Umwelt (AThANT 65), Zürich 1979, 112ff. 13 A. ALT, Das Königtum in den Reichen Israel und Juda, in: DERS., Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel II, München 1953, 116ff.; DERS., Die Staatenbildung der Israeliten in Palästina, in: DERS., Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel II, München 1953,18ff. 12
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Designation durch den Propheten gefolgt sei. Was A. Alt als Differenz der Verfassung begriff, war, wie wir heute wissen, eher prophetischer Anspruch 14 . Die Propheten beanspruchten Einsetzung – und nötigenfalls auch Absetzung – der Könige, beanspruchten, die Vollmacht des Geistes Jahwes zu verkörpern, der in den Gestalten der großen Helden und Richter der Frühzeit Machttaten vollführt hätte, nun aber im Staat, da die Könige aus Staatsraison ihre Entscheidungen trafen, zur Kontrolle ebendieses Königtums dienen musste, das sich immer weiter vom überlieferten Jahweglauben entfernte. Es waren die Propheten – weithin uns namentlich unbekannt –, die im Nordreich Israels die alten Geschichtstraditionen wachhielten, überlieferten und neu für die Gegenwart aktualisierten15. Es waren die Propheten, die mit einer schonungslosen Kritik den jeweils gegenwärtigen staatlichen Praktiken das überlieferte Gottesrecht entgegenhielten und den hohen Maßstab, den ihrer Meinung nach das Heilshandeln Gottes dem Handeln Israels setzte. Es waren die Propheten, die einem allein auf innere und äußere Sicherheit bedachten Staat den Untergang ansagten und damit zugleich die Hoffnung auf ein neues Gotteshandeln weckten, das Gott mit seinem Volk zum Ziel kommen lassen würde.
3. Betrachten wir kurz den größten der Nordreichspropheten, der wie kein anderer vor ihm die älteren Geschichtstraditionen Israels in ihrer ganzen Breite deutend aufgriff und für die Gegenwart aktualisierte: Hosea. Er kann es – wie schon die Propheten vor ihm – so tun, dass er ein einzelnes Geschichtsereignis heranzieht und so Israel am Spiegel der eigenen Vergangenheit die gegenwärtige Schuld vorhält oder aber diese Schuld dadurch vertieft, dass er sie mit einer Heilstat Jahwes konfrontiert 16. Häufiger aber zeichnet er die Gegenwart in ein umfassendes Geschichtsbild ein, das alles andere ist als ein Bemühen um Geschichte sine ira et studio, keineswegs voraussetzungslosobjektiv, vielmehr eine durch und durch parteiische Geschichtsdeutung, weil sich für den Propheten am Verständnis der Geschichte nicht weniger als Leben oder Tod des Gottesvolkes entscheidet. Er sieht sich einem Volk gegenüber, das in einem baalisierten Gottesdienst nur noch sich selber feiert (etwa 14 Vgl. dazu etwa H.-J. HERMISSON, Zukunftserwartung und Gegenwartskritik in der Verkündigung Jesajas, EvTh 33 (1973) 62, Anm. 22. 15 Möglicherweise im Bunde mit den Leviten; vgl. H. W. WOLFF, Hoseas geistige Heimat, in: DERS., Gesammelte Studien zum Alten Testament (TB 22), München 21973, 232ff. 16 Dieser Gebrauch der Geschichte scheint in der Prophetie der älteste zu sein. Er ist keineswegs auf das Nordreich beschränkt, ist vielmehr schon außerhalb Israels belegt; vgl. den Mari-Text A 1121 (in: F. ELLERMEIER, Prophetie in Mari und Israel, Herzberg 1968, 48ff.) und C. WESTERMANN, Grundformen prophetischer Rede, München 21964, 111ff.
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13,6), nur noch den eigenen Wohlstand zu sichern bemüht ist (7,14) und das mit dem Verlust am Interesse gegenüber der Geschichte 17 auch alle handlungsleitenden Maßstäbe verliert (8,11–13). Darum kann es dem Propheten nicht genügen, das Faktische der Geschichte einzuprägen (wie etwa manche Psalmen in ihrer Aufzählung der immer neu bestätigten Heilstaten Gottes), sondern es geht ihm um das Typische, Verallgemeinerbare, Grundsätzliche an der Geschichte. Ich nenne zwei Beispiele: 1) Als Israel jung war, gewann ich es lieb, aus Ägypten heraus rief ich meinen Sohn. Je mehr ich sie rief, desto mehr liefen sie vor mir fort: Den Baalen opferten sie, den Bildern räucherten sie. Dabei hatte ich doch Ephraim laufen gelehrt, indem ich sie an meine Arme nahm. Aber sie begriffen nicht, dass ich sie heilte. An menschlichen Stricken zog ich sie, an Seilen der Liebe: Ich behandelte sie wie einer, der ihnen das Joch an die Backen hebt: So neigte ich mich ihm zu, um ihm zu essen zu geben. Zurück muss er ins Land Ägypten, ja, Assur, der wird sein König, denn sie verweigern die Umkehr. (Hos 11,1–5)
Zwei schnell wechselnde Bilder dienen dieser Geschichtsschau. Eingangs werden Erwählung und Befreiung im Bild eines Adoptionsvorgangs beschrieben, auf den der undankbare Sohn mit einer ständigen Zurückweisung der Liebestat des Vaters reagiert; vergessen bleiben mühevolles Aufziehen des Kindes, Erweise von Güte im Leben und von Bewahrung vor Gefahr („heilen“). Dann folgt in bewusster Bild-Übersteigerung der Vergleich mit dem Bauern: Noch beim Zubereiten zum Pflügen erfährt das Rind Zuneigung und wird gespeist. Dieses Bild bleibt unausgeführt, insofern die Zurückweisung der Güte nicht erzählt wird, sondern sogleich die ungeheuerliche Konsequenz dieser Zurückweisung für beide Gleichnisse genannt ist, nun freilich ohne Bild: Die Geschichte wird von Gott revoziert. „Zurück nach Ägypten“ heißt: wieder in die Bedrängnis, aus der Gott einst befreite (im Bild: den Sohn herausrief). Die konkrete geschichtliche Gestalt dieser Unterdrückung heißt jetzt Assyrien. Gott gesteht das Scheitern seiner pädagogischen Bemühungen um den Sohn ein; das impliziert Aufkündigung von Schutz, Bewahrung und Lie17
Hosea nennt es: Verlust des „Wissens um Gott“; vgl. H. W. WOLFF, „Wissen um Gott“ bei Hosea als Urform von Theologie, in: DERS., Gesammelte Studien zum Alten Testament (TB 22), München 21973, 182ff.
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be gegenüber dem ungehorsamen Sohn. Hierin zeigt sich, dass alle Geschichte für diesen Propheten ihre Kontinuität, ihren Sinn, der alle kontingenten Einzelerfahrungen zusammenbindet, nur in Gott hat, und zwar nicht in einem unabänderlichen Geschichtsplan Gottes, bei dem die Menschen nur als Marionetten agieren, sondern in einem geschichtlichen Bezugsverhältnis Gottes zu seinen Menschen, in dem Gott und Mensch Handelnde sind. Diese Geschichte ist grundsätzlich offen, freilich mit einer doppelten Einschränkung: Sie kommt einerseits immer schon her von dem Erweisen der Güte und Liebe Gottes, und ihre Offenheit findet andererseits dort ihre Grenze, wo Gott mit der Aufkündigung seines Schutzes die Bindung an den Sohn, die Adoption selber, revozieren müsste: Wie könnte ich dich hingeben, Ephraim, wie dich preisgeben, Israel …! In mir stürzt mein Herz um, mit Macht entbrennt mein Erbarmen: Ich kann meinen glühenden Zorn nicht vollstrecken … (V.8f.)
2) Wie Hosea im zitierten Kap.11 die Geschichte Israels im Bild eines VaterSohn-Verhältnisses zeichnet, so in Kap. 2 kühner noch im Bild eines Liebesverhältnisses von einem Mann zu einem Mädchen. Da gibt es die Zeit der ersten Liebe: voller gegenseitiger Hingabe18. Dann aber lernt das Mädchen andere Liebhaber kennen und verlässt den Ehegatten. Mit deren reichem Schmuck angetan, feiert es rauschende Feste (2,13–15). Dann kommt die Zeit, wo ihr der Weg zu diesen Liebhabern versperrt ist und sie in Erinnerung an die frühere Güte zurück möchte zu ihrem Gatten (V.8f.)19. Hier aber muss der Gatte sehen, wie das Mädchen nicht mehr loskommt von seinen Liebhabern. Erst indem er ihr alles nimmt, was an die Liebhaber erinnern könnte – Nahrung, Kleidung, Feste, Schmuck und Freude –, schafft er die Voraussetzungen für einen Neuanfang: am Ort der ersten Liebe (2,16) und mit den neuen Brautgaben von Recht, Treue, Güte und Erbarmen, die künftig eine Beständigkeit der Zuneigung sichern (V.21f.). Wieder ist deutlich: Die gesamte Geschichte wird unter dem Gesichtspunkt des Gottesverhältnisses Israels betrachtet – nur unter diesem. Alles andere liegt außerhalb des prophetischen Gesichtskreises. Freilich sind bei näherem Zusehen die Bilder nicht einfach identisch und austauschbar: Beim VaterSohn-Bild ging es um die selbstlose Liebe des Vaters, seine gütigen Erziehungsmaßnahmen und die unverständliche Zurückweisung der Liebe durch 18 Explizit als Bild für die Wüstenzeit erst im Gefolge Hoseas bei Jeremia gebraucht (Jer 2,2f.), bei Hosea aber vorausgesetzt (2,16), in anderem Bild ausgedrückt (9,10) oder ohne Bild (13,5). 19 Im Buch Jeremia stellt Gott später bei analogem Bildgebrauch wie bei Hosea die Frage: Ist eine solche Rückkehr möglich? Nach dem Recht (Dtn 24,1–4) muss die Antwort eigentlich lauten: nein (Jer 3,1); bei Gott aber lautet sie – das Bild überhöhend –: ja (4,1ff.).
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den Sohn. Beim Ehebild geht es entscheidend um den Bruch eines anfänglich idealen Beziehungsverhältnisses. Es gab eine Zeit, in der Israel sich ganz dem Schutz und der Führung Gottes anvertraute. Die Gegenwart steht zu ihr in schärfstem Kontrast. Wo Hosea für diesen Gedanken die Bildebene verlässt, nennt er für diese beiden entscheidenden Epochen stets: Wüstenzeit und Landnahmezeit. Die Zeit der Wüstenwanderung war die Zeit, in der Israel – selber hilflos Gefahren ausgesetzt – sich ganz dem Schutz Gottes überließ und Segen erfuhr (13,5). Mit dem allerersten Moment der Landnahme aber – nun in gesicherten Verhältnissen lebend – „vergaß“ es seinen Gott und gab sich den Baalen hin. Letzteres heißt für Hosea wesentlich: Israel verwechselte den Geber der Gaben mit diesen Gaben selber (2,11) oder – wie es 13,6 ausdrückt – es lernte in der Sattheit des Wohlstandes, die zu überheblicher Selbstzufriedenheit führte, Gott gewohnheitsmäßig zu „vergessen“. Am schärfsten drückt Hos 9,10 den Kontrast der beiden Epochen aus: Wie Trauben in der Wüste – so fand ich Israel; wie erste Frühfeigen am Feigenbaum – so schaute ich eure Väter. Sie aber, kaum nach Baal-Peor gekommen, weihten sie sich schon dem Schandgott, wurden zum Abscheu wie ihr Buhle.
Hier wird unübersehbar, wie stark Hosea um des pädagogischen Effektes willen die Geschichte typisiert. Nicht Einzelereignisse der Wüste interessieren wie im Pentateuch, nicht Einzelereignisse der Landnahme, sondern Geschichtsepochen als Typos idealen und verfehlten Gottesverhältnisses. Dort in der Wüste wird Bergung bei Gott erfahren – hier in der Sicherheit des Landes die Güte Gottes sofort vergessen und der Reichtum selber angebetet. Ebendies aber ist für Hosea die Situation der Gegenwart, die mit ihrer Einbindung in die Geschichte den Charakter des kontingent Zufälligen und damit auch des Entschuldbaren verliert. Die Geschichte liefert dem Propheten Anschauungsunterricht für geglücktes und vollgültiges bzw. für verfehltes Leben am Maßstab der Heilstaten Gottes vom Anfang. Sie hilft, gegenwärtige Verfehlung Gottes schärfer aufzudecken, und weist zugleich Wege, wie ideale Gottesgemeinschaft zu finden ist. Das ist ihre Hauptfunktion. Kann das gegenwärtige Israel unter diesen Maßstäben nicht bestehen, wird ihm angesagt, dass Gott seine Geschichte mit ihm revoziert („zurück nach Ägypten“). Aber die Frage nach dem Sinn, dem Telos der Geschichte ist damit nicht beantwortet. Für den Propheten ist es unmöglich, das Scheitern des Heilswillens Gottes mit Israel als letztes Ziel der Wege Gottes anzusehen. Vielmehr erhält das „Zurück nach Ägypten“ eine überraschende Fortsetzung. Ein neues Israel wird noch einmal den Befreiungsruf „Heraus aus Ägypten“ hören (11,11). Oder im anderen Bild: Der Gatte wird die untreue Frau nochmals in die Wüste locken, wird sie
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nochmals vor Gefahren beschützen und sie überreich beschenken. Sie wird nochmals das herrliche Land erhalten (2,16f.) – dann aber ihren Gatten nicht mehr vergessen können. Kurz: Gottes Geschichte beginnt noch einmal von vorn, setzt wieder am Anfang ein – und kommt nun zum Ziel im voll realisierten Gottesverhältnis. Nicht weil Gottes Handeln sich ändern würde – es bleibt das gleiche, weil Gott sich treu bleibt. Neu ist das Verhalten der Frau. Von Dankbarkeit überwältigt, kann sie nicht mehr die eigenen Wege gehen (2,18ff.).
4. Das Aufregende und Unerwartete ist nun, dass sich parallel zu Hosea im Südreich etwas ganz Analoges vollzieht im Auftreten Jesajas. Nicht dass Jesaja je mit Hosea austauschbar wäre. Er ist unverwechselbar ein gebildeter Jerusalemer und hat möglicherweise seine Erziehung am Hof genossen. Er redet nicht von Baal, nicht vom unglücklichen Saul, nicht von Israels Frühzeit in der Wüste, sondern seine Themen sind Jerusalemer Themen: der Tempel auf dem Zion, der Davidide als Heils- und Verheißungsträger, Jerusalem als Stadt universaler Gerechtigkeit: Aber er nimmt diese großen überlieferten Themen nicht nur als Heilssetzungen Gottes – das sind sie für ihn auch –, sondern zugleich als einen Anspruch, an dem die vorfindliche Wirklichkeit des Jerusalem seiner Tage gemessen werden will. Ja, mehr noch: Er gliedert diese großen Themen Jerusalems ein in eine umfassende Geschichtsbetrachtung, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zugleich umfasst und die er den „Plan Jahwes“ nennt 20 . Auf diesen „Plan“ kann man „blicken“ (5,12 u.ö.) oder nicht, d.h. man kann sich an ihm orientieren oder nicht. Dass man es kann, dazu ist der Prophet da. Wo man es nicht tut, tritt dem „Plan Jahwes“ ein „Plan des Menschen“ (30,1 u.ö.) gegenüber, der von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. An diesen hohen Maßstäben gemessen, kann das Jerusalem der Zeit Jesajas nicht Bestand haben. Die Stadt universaler Gerechtigkeit und universalen Heils erweist sich als Stadt, in der jeder hohe Beamte auf eigenen Gewinn aus ist (1,21ff.). Der Davidide als der Verheißungsträger verweigert den „Glauben“ (7,9): das Trauen auf die Zusagen, die seit seiner Thronbesteigung über seiner Regierung stehen, das Trauen auf die schützende Gegenwart Gottes auf dem Zion. Vielmehr nimmt der aufgeklärte König Ahas sein politisches Geschick voll in die eigenen Hände. Damit ist er für den Propheten verworfen, 20 Vgl. dazu J. FICHTNER, Jahwes Plan in der Botschaft Jesajas (1951), in: DERS., Gottes Weisheit, Gesammelte Studien zum Alten Testament, Stuttgart 1965, 27ff.; G. VON RAD, Das Werk Jahwes, in: Studia Biblica et Semitica (FS Th. C. Vriezen), hg. von W. C. van Unnik/ A. S. van der Woude, Wageningen 1966, 290ff.
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denn es gibt für ihn kein „Planen ohne Gott“, das nicht zugleich „Planen gegen Gott“ wäre. Als letzte und äußerste Konsequenz dieses widergöttlichen Planens sieht Jesaja am Schluss seiner Wirksamkeit (möglicherweise) auch den Zion untergehen (32,14): das Unterpfand heilvoller Gegenwart Gottes. Denn Gott ist der „Heilige“, als der er nach uralter, längst vorisraelitischer Tradition in Jerusalem prädiziert wird, für den Propheten nur in abgründiger Ambivalenz: „heilig für“ oder aber „heilig gegen“ sein Volk, schützend „heilig“ oder aber verzehrend „heilig“. Zugleich aber wiederholt sich nun ein Vorgang bei diesem Südreichspropheten, den wir zuvor bei Hosea beobachteten: Je höher angesichts der großen Geschichtstraditionen die Maßstäbe wachsen, an denen der Prophet die Gegenwart beurteilt, je härter er angesichts dieser Maßstäbe die gegenwärtige Generation an Gott scheitern und ihrem Untergang entgegeneilen sieht, desto höher wächst die Hoffnung auf ein neues Gotteshandeln, das Israel dem Heil zuführt, das in den großen Traditionen – nun als Verheißung verstanden – angesagt war. Denn Gottes Handeln ist auch für Jesaja mit der Verwerfung des Davididen und mit dem Umsturz des Zion noch nicht am Ende – sonst hätten sich ja die Bindungen Gottes, von denen alles Denken des Propheten seinen Ausgang nimmt, als trügerisch erwiesen. Vielmehr ist Gott schon dabei, einen neuen Grundstein für den Zion zu legen; aber das wird nicht einfach der alte sein, sondern der Stein, auf dem eine Gemeinde gebaut wird, die modellhaft-universal Glauben (d.h. Rechnen mit Gottes Heiligkeit) und Gerechtigkeit verwirklicht (Jes 28,16f.). Zugleich ist Gott schon dabei, aus dem abgehauenen Wurzelstock Isais einen neuen David entstehen zu lassen; aber das wird wiederum nicht der alte sein, der „seinen eigenen Plan“ verwirklicht, sondern ein David, auf den der „Geist“ gelegt ist, der also in der Vollmacht Gottes handelt, der die Einsicht und Furcht Gottes verkörpert und als solcher eine Gerechtigkeit schafft, die sich – wie immer im Alten Testament – primär an den ärmsten und zu kurz gekommenen Gliedern des Gottesvolkes auswirkt21.
5. Das folgende Jahrhundert der Geschichte Israels – das Zeitalter Jeremias – bringt die prophetische Geschichtsdeutung zu einem letzten Höhepunkt vor der Katastrophe. Nachdem das Nordreich unmittelbar nach Hosea den Untergang erfahren hatte und für Jahrhunderte nahezu gänzlich unseren Blicken entschwindet, bis es erst wieder in Gestalt der Samaritaner neu ans Licht tritt, setzte eine große Fluchtbewegung vom Norden nach dem Süden ein. Die Ar21 Vgl. H.-J. HERMISSON, Zukunftserwartung und Gegenwartskritik in der Verkündigung Jesajas, EvTh 33 (1973) 58ff.
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chäologie hat uns gelehrt, dass in dieser Zeit alle Städte Judas eine ganz ungewöhnliche Bevölkerungszunahme erlebten, Jerusalem sogar mehr als eine Verdoppelung seiner Einwohnerschaft 22 . Diese Tatsache bewirkt, dass sich sowohl beim Propheten Jeremia als auch im Deuteronomium eine – im Einzelnen faszinierende – Mischung von Nordreich- und Südreichtraditionen vollzieht, wobei aufs Ganze gesehen die Nordreichtraditionen als die Traditionen aus Israels Frühzeit die Oberhand gewinnen. Das Deuteronomium redet ein jerusalemisch geprägtes Juda in fingierter Moserede so an, als sei es der Stamm Ephraim vor der Landnahme und könnte noch einmal die Realisierung intakten Gottesverhältnisses im Land beginnen, in neuer Nullpunktsituation freier Entscheidung. Jeremia führt seine Auseinandersetzung mit den Heilspropheten in hoseanischer Sprache, als seien diese Propheten Priester eines baalisierten Gottesdienstes. Es ist diese Tatsache der Traditionsmischung gewesen, die für lange Zeit die Erkenntnis verhindert hat, welche unterschiedlichen Wege Nordreich und Südreich in der jeweiligen Ausprägung ihres Geschichtsverständnisses und damit ihres Glaubens in der frühen Königszeit gegangen sind. Zugleich führt diese Traditionsmischung aber zu einer Kumulation grundlegender Forderungen, die das Deuteronomium dem fiktiven Israel während der Landnahme vor Augen stellt – es ist ein Israel, dem die ganze Fülle göttlicher Heilstaten als handlungsleitender Maßstab entgegengehalten wird, von dem ungeteilte Hingabe an Gott und den Nächsten erwartet wird und das zugleich schon mit seinem möglichen Untergang konfrontiert wird. Noch mehr werden durch die Traditionsmischung bei Jeremia die Maßstäbe verschärft, an denen das Israel der vorfindlichen Wirklichkeit gemessen wird. Jetzt fällt das harte Wort: Kann auch ein Schwarzer seine Hautfarbe wechseln oder ein Panther seine Flecken? Dann könntet auch ihr Gutes tun, die ihr an das Böse gewohnt seid. (Jer 13,23)
Immer wieder wird Israel an der Fülle göttlicher Heilstaten in der Geschichte gemessen, immer wieder lautet das Urteil: Vom Kleinsten bis zum Größten: alle häufen Gewinn an. Vom Propheten bis zum Priester: alle verüben Betrug. (Jer 6,13)
Je schärfer aber das Urteil über Israel ausfällt, je härter und unerbittlicher der Untergang des Gottesvolkes angesagt wird, desto ausladender wird die Hoffnung auf ein neues Gotteshandeln. Ein Beispiel muss genügen. Das bekannte Wort vom „neuen Bund“ aus jeremianischen Kreisen (Jer 31,31ff.) hat ein 22 Vgl. u.a. M. BROSHI, The Expansion of Jerusalem in the Reigns of Hezekiah and Manasseh, IEJ 24 (1974) 21ff.
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anderes Thema als aus dieser üblichen Charakterisierung sogleich hervorgeht. Der Inhalt des Bundes ist keineswegs neu; er bleibt der gleiche und kann gar nicht überhöht werden: „Ich will ihnen Gott sein, sie sollen mir Volk sein“ (V.33b). Neu ist der Weg Gottes, auf dem er sein Ziel erreicht: Gott gibt seinen Willen unmittelbar ins Herz der Menschen ein, sorgt selber für die menschliche Seite der Verwirklichung des Gottesverhältnisses. Ezechiel meint das gleiche, wenn er im Bild einer Organtransplantation vom fleischernen Herzen spricht, das dem Menschen von Gott eingesetzt wird, das zum Fühlen fähig ist und das steinerne Herz ersetzt (36,26). Hier wie dort wird nicht weniger erwartet als der neue Mensch, den Gott schafft und durch den er die heilvolle Gottesgemeinschaft herbeiführt, die Israel selbst nicht verwirklichen kann. Es ist ein Wort der Hoffnung, das genau den Gegensatz bildet zum Wort vom Schwarzen, der seine Farbe nicht wechseln kann. Noch nüchterner, noch pessimistischer als bei Hosea und Jesaja wird das Bild vom Menschen bei Jeremia; noch illusionsloser werden religiöse Praktiken als Selbstsicherungsstreben des Menschen angeprangert (etwa Jer 7). Noch höher aber wächst Hand in Hand damit die Hoffnung darauf, dass Gott in einem neuen Schöpfungsakt (nicht weniger als das ist gemeint) das Heil verwirklicht, um dessentwillen er seine geschichtliche Bindung an Israel einging. Denn dass Gott sich treu bleibt und die Geschichte dem Ziel zuführt, zu dem er sie begann, ist aufs Ganze gesehen den Propheten und den Tradenten, die ihre Worte überlieferten, über aller Aufdeckung menschlicher Schuldgeschichte nur immer sicherer geworden.
6. Werfen wir von hier aus einen kurzen abschließenden Blick auf den Umbruch in der Geschichte Israels, auf den Verlust staatlicher Eigenständigkeit, wichtiger: den Verlust von Land, Königtum und Tempel und damit all jener Größen, die dem bisherigen Israel als Stütze und Unterpfand seines Glaubens dienten. In entsprechender geschichtlicher Situation haben die großen Religionen des Alten Orients ausnahmslos ihr Ende gefunden (die Zerstörung des Marduktempels in Babylon etwa bedeutete der Idee nach nicht weniger als die Vernichtung der göttlichen Schöpfungsordnung). Israel war vor solcher Deutung keineswegs prinzipiell geschützt. Wir hören von Stimmen, die die Zerstörung Jerusalems und des Tempels entweder als Niederlage Jahwes deuteten oder aber als Verwerfung Israels durch Jahwe (etwa Jes 40,27). In dieser Situation hat Israels Glaube durch die prophetische Geschichtsdeutung noch einmal einen ganz neuen Anstoß erfahren. Der anonyme Exilsprophet – Deuterojesaja –, dessen Botschaft weithin ein einziges Gespräch mit der Verzweiflung seiner Hörer ist, teilt in einem Abs-
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traktionsvermögen, das uns geradezu modern anmutet, die Geschichte in zwei Phasen ein: in das „Frühere“ und das „Kommende“, in Vergangenheit und Zukunft. Wo er in einem kühnen Beweisgang die alleinige Gottheit Gottes und die Ohmacht aller Götter aufzuzeigen versucht, da stellt er die Götter in einer fiktiven Gerichtsszene vor die Probe, das Frühere und das Kommende im vollmächtigen Wort zu deuten (41,21ff. u.ö.). Das können sie nicht, hieran scheitern sie, weil sie über ein solches Wort nicht verfügen. Jahwe aber kann es: Wie sich im Früheren, d.h. im Untergang Jerusalems, das richtende und strafende Wort seiner Propheten bewahrheitet hat, so jetzt im Kommenden das Heilswort seines Boten von der Befreiung Israels und von der neuen Königsherrschaft Gottes. Das Wort vom Kommenden ist verlässlich, weil es sich im Früheren schon als verlässlich erwiesen hat. Gottes Geschichtslenkung, wie sie im deutenden Prophetenwort dargestellt wird (oder schärfer formuliert: das Prophetenwort als Deuter der Geschichtslenkung Gottes), ist zum Gottesbeweis Gottes geworden23. Neu an dieser Aufteilung der Geschichte in zwei Perioden aber ist vor allem die totale Abgeschlossenheit des Früheren, der Vergangenheit. In einer zugespitzten Formulierung heißt es: Denkt nicht mehr an das Frühere, und das Vergangene – beachtet es nicht mehr! Seht, ich schaffe jetzt Neues. Schon sprosst es; merkt ihr es denn nicht? (Jes 43,18f.)
Das Frühere – die Schuldgeschichte – ist ein für allemal vorbei. Wer sich in starrem Rückblick an ihm orientieren wollte, würde das Neue verfehlen, das schon im Anbruch ist, das man mit wachen Sinnen schon spüren kann. Diese Scheidung einer endgültig vergangenen und einer kommenden Geschichte, der Wurzelboden für die Lehre von den zwei Äonen in der Apokalyptik, setzt nochmals ganz neue Hoffnungen frei.
7. Man hat in der Vergangenheit oft das Geschichtsverständnis dieser Propheten notwendig missverstanden, wenn man ihre Gerichts– und ihre Heilsbotschaft isoliert je für sich zu deuten versuchte als zwei gleichrangige Möglichkeiten prophetischer Verkündigung. Sie sind nur zusammen verständlich, unlösbar aufeinander bezogen. Insbesondere bei den klassischen Propheten gibt es keine einzige Heilsankündigung, die als Wort für sich deutbar wäre und nicht inhaltlich engstens mit der vorausgegangenen Gerichtsankündigung zusam23
Vgl. dazu W. ZIMMERLI, Der Wahrheitserweis Jahwes nach der Botschaft der beiden Exilspropheten (1963), in: DERS., Studien zur alttestamentlichen Theologie und Prophetie, Gesammelte Aufsätze II, München 1974, 192ff.
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menhinge. Der neue David aus dem Wurzelstock Isais setzt eben voraus, dass der Baum der Davididen abgehauen wird. Das neue Liebeswerben Jahwes um die treulose Braut setzt voraus, dass sie getrennt von ihren „Liebhabern“ ist, dass Israel wieder in der Wüste ist. Wo man die klassischen Propheten nur als Gerichtsverkünder kennt oder nur als Boten neuen Heils, verkümmern sie entweder zu Reformern oder aber zu Utopisten. Nur wer bereit ist, mit diesen Propheten aus den alten heilsgeschichtlichen Traditionen des Alten Testaments die hohen Maßstäbe abzuleiten, mit denen sie ihre Gegenwart beurteilen und aufgrund derer sie leugnen, dass es irgendeinen Lebensbereich eigener Gesetzlichkeit gibt, der sich diesen Maßstäben entzöge, kann die hohen Hoffnungen auf ein neues Gotteshandeln als Zeichen des Festhaltens an der Treue Gottes begreifen. Der neutestamentlichen Gemeinde aber wird durch diese Propheten verdeutlicht, dass sie nur dann von der Einheit der Schrift sprechen kann, nur dann von einer Überhöhung aller prophetischen Heilserwartungen im Kreuz Christi und der mit Christus begonnenen Hoffnungsgeschichte, wenn sie zuvor das Kreuz Christi als Gericht gedeutet hat, und zwar nicht nur als Gericht über alle Selbstverwirklichung des Menschen, sondern abgründiger auch als Gericht über alle Versuche, den Willen Gottes zu leben.
21. „Wahre“ und „falsche“ Prophetie im Alten Testament Entwicklungslinien eines Grundsatzkonfliktes Jeder theologische Diskurs oder Disput ist explizit oder zumindest implizit eine Auseinandersetzung um die Wahrheitsfrage, so gewiss von Gott nicht gesprochen werden kann, ohne dass der Horizont der Wahrheit unseres Lebens in den Blick kommt. Den Gliedern des alttestamentlichen Gottesvolkes trat die Wahrheitsfrage nie sonst so bedrängend entgegen, wie wenn ein Prophet sie mit seinem autoritativen „So spricht JHWH“ unmittelbar mit einem Gotteswort konfrontierte. Daher ist es leicht verständlich, dass für sie keine entsetzlichere Situation denkbar war als jene, in der das Wort seiner Propheten des Irrtums und der Unzuverlässigkeit bezichtigt wurde, d.h. die Rede jenes Standes in Frage gestellt wurde, der wie kein anderer mit dem Anspruch auftrat, Gottes gültigen Willen für die Gegenwart auszusprechen. An wen, wenn nicht an die Propheten, sollte sich ein Glied des Gottesvolkes in seiner Suche nach Verbindlichkeit in Fragen der Lebensgestaltung halten? Diese Frage stellt sich umso dringlicher angesichts der Tatsache, dass die neuere Pentateuchforschung in ihrer Tendenz zur Spätdatierung der Texte wahrscheinlich gemacht hat, dass die Zahl an schriftlich formulierten Pentateuchtexten, die schon zur Zeit der klassischen Propheten Orientierung hätten bieten können, erheblich kleiner war, als noch die Forschung in den Jahrzehnten unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg vermutet hatte. Das Gewicht des prophetischen Wortes ist mit dieser wissenschaftlichen Erkenntnis noch erheblich gewachsen1.
1. Mit dem hohen Anspruch der Propheten, Gottes Wort zu sagen, hing zusammen, dass man ihnen häufig mit besonderer Vorsicht, ja mit Zweifeln begegnete. Allerdings gilt es zu differenzieren zwischen einem Misstrauen, das der Prophetie grundsätzlich entgegengebracht wurde, und einem solchen, das die 1
Man vergleiche demgegenüber, wie die Alte Kirche und ebenso die Reformationszeit die Funktion der Prophetie mit dem nachbiblischen Judentum darin sah, das vorgegebene Mosewort für ihre jeweilige Gegenwart zu aktualisieren. So kann Luther definieren: Prophetia enim nihil aliud quam expositio et (ut sic dixerim) praxis et applicatio legis fuit (WA VIII 105).
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Propheten im Kern ihrer Existenz traf, weil es ihre Berufung bzw. Sendung in Frage stellte. Bis es zu Zweifeln der letztgenannten Art kam, bedurfte es besonderer Umstände, von denen später zu reden ist. Demgegenüber ist man Propheten von allem Anfang an mit einer gewissen Skepsis begegnet. Das gilt zunächst deshalb, weil die Prophetie wesenhaft ein Phänomen war, das den Rahmen institutioneller Ordnungen sprengte. Vom jungen Josua ist der Schreckensruf überliefert: „Mein Herr Mose, mach ihrem Treiben ein Ende!“ (Num 11,28: gemeint sind Propheten ohne geordnete Bestallung). Es gilt vor allem aber deshalb, weil der Anspruch der Propheten, Gottes Wort zu sagen, für die Hörer des Wortes generell nicht überprüfbar war. Im Fall der beiden anderen geistlichen Stände, der Priester und der Lehrer, stand immerhin die (priesterliche bzw. weisheitliche) Tradition zur Verfügung, in der sie ausgebildet waren, um die aktuellen Worte der Vertreter dieser Stände wenigstens grob an diesem Maßstab zu messen. Eine analoge Schultradition gab es im Falle der Propheten nicht, vielleicht mit Ausnahme der Kreise um Elisa. Erschwerend kam hinzu, dass vom Gotteswort der Propheten ungleich mehr abhing als von der Weisung der Priester oder von dem Ratschlag der Lehrer. Am Gotteswort der Propheten sollte sich nicht nur eine gewichtige ethische Einzelfrage entscheiden, sondern Leben und Tod der Hörer, ja ihrer ganzen Generation. Solche Skepsis gegenüber dem prophetischen Wort war grundsätzlich nichts spezifisch Biblisches. In der einzigen wirklichen Parallele zur alttestamentlichen Prophetie aus vorbiblischer Zeit, der Prophetie aus Mari am mittleren Euphrat zur Zeit Hammurabis2, werden drei Maßnahmen getroffen, um die Verlässlichkeit eines Prophetenwortes zu überprüfen, das üblicherweise gute Beamte nach Anhörung eines Propheten dem König schriftlich übermittelten. Zum einen wurden den Propheten gewöhnlich eine Locke ihres Haupthaares und ein Zipfel ihres Gewandes abverlangt, „um sie es wissen zu lassen, dass man Gewalt über sie hat“3, indem man ihnen gegebenenfalls mittels dieser Bestandteile ihrer Person in einer – uns unbekannten – magischen Zeremonie Schaden zufügte, falls sie sich als „falsche“ Propheten herausstellen sollten. Zum anderen wird dem König mehrfach von den Beamten geraten, das Prophetenwort durch ein technisches Omen oder Orakel überprüfen zu lassen, dessen größere Vertrauenswürdigkeit damit deutlich herausgestellt wird. Zum dritten geben die schreibenden Beamten wiederholt ihrem persönlichen Eindruck von dem mündlichen Prophetenwort Ausdruck, indem sie 2
F. ELLERMEIER, Prophetie in Mari und Israel, Herzberg 1968; A. MALAMAT, Mari and the Bible, Jerusalem 31977; DERS., Mari and the Early Israelite Experience, Oxford 1989; E. NOORT, Untersuchungen zum Gottesbescheid in Mari (AOAT 202), Neukirchen-Vluyn 1977. 3 Vgl. M. NOTH, Bemerkungen zum 6. Band der Mari-Texte: „Haar und Gewandsaum“ (1956), in: DERS., Aufsätze zur biblischen Landes- und Altertumskunde 2, Neukirchen-Vluyn 1971, 239–242; 240.
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dem König entweder zu dringender Beachtung des Wortes raten oder aber aus ihrem Zweifel an der Verlässlichkeit des Wortes keinen Hehl machen. Alle diese Maßnahmen spiegeln letztlich aber nur die Hilflosigkeit der Hörer im Umgang mit prophetischen Worten auch in Mari wider, eben weil prophetische Worte hier wie in Israel einerseits mit einem unüberbietbar hohen Anspruch auf verbindliche Wahrheit geäußert wurden, andererseits letztlich für die Empfänger um der Zukunftsdimension ihres Inhaltes Willen unüberprüfbar blieben.
2. Das genannte Grundsatzproblem der Einstellung betroffener Hörer zu prophetischen Worten spitzte sich dramatisch zu, als im 8. Jh. v. Chr., d.h. im Zeitalter der klassischen Prophetie, einzelne Propheten ihren Berufskollegen die Wahrheit ihres Gotteswortes zu bestreiten begannen. Nun stand – unseres Wissens erstmalig – Prophetenwort gegen Prophetenwort. Wie sollte sich ein Hörer, der nicht selber Prophet war, nun verhalten? Jedoch blieb den Menschen des 8. Jh.s die äußerste Zuspitzung des Konflikts noch erspart. Es waren einstweilen vorläufige Lösungen, die für ein Problemfeld gefunden wurden, auf das in dieser Zuspitzung niemand vorbereitet war. Zu solchen vorläufigen Lösungen gehört die Skepsis gegenüber einer Menge an Propheten, die das Gleiche sagen oder das Gleiche tun (vgl. 1Kön 18,21ff.: 1Kön 22), wie es für die Folgezeit prägend blieb (vgl. etwa Jer 23,25ff.). Zu ihnen gehört weiter die erschreckende Erkenntnis, dass Propheten ein empfangenes Gotteswort aus Eigeninteresse so weit verändern können, bis aus dem „wahren“ faktisch ein „falsches“ Gotteswort geworden und dem Volk jegliche Orientierungsmöglichkeit mit Hilfe des Gotteswortes genommen worden ist (Mi 3,5). Propheten sind also alles andere als göttliche Trichter, die das von oben eingegossene Gotteswort, nur in anderer Gestalt, sachlich aber unverändert weiterreichen. Sie sind vielmehr am Gestalten des Gotteswortes notwendig mitbeteiligt. Nur so ergibt es ja auch einen Sinn, dass der junge Jeremia seine Berufung unter Hinweis auf seine Jugend abzuweisen versucht (Jer 1,6) und ein Mose entsprechend unter Hinweis auf seine mangelnde Redefähigkeit (Ex 4,10). Prophetisches Gotteswort gibt es nur als prophetisch vermitteltes und prophetisch verfälschbares Menschenwort. Und doch ist eben dieses Menschenwort, weil es Gottes Wort und damit wahres Wort ist, letztendlich Gottes „Gottesbeweis“, wie später der Evangelist unter den Propheten, Deuterojesaja, im Blick auf das ihm anvertraute Heil Gottes formulieren wird (Jes 41,21–29 u.ö.). Der Gedanke allerdings, dass diese faktisch – wohlgemerkt: vom Propheten Micha – als „falsch“ charakterisierten Propheten gar kein Gotteswort emp-
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fangen haben könnten, kommt auch einem Micha noch nicht; er blieb dem Zeitalter des Propheten Jeremia vorbehalten. Vielmehr rechnet Micha damit, dass Gott die derart leichtfertig und ganz vom Eigeninteresse geleitet redenden Propheten künftig dadurch mundtot machen wird, dass er ihnen alle Vollmacht entzieht und sie weder Worte hören noch Gesichte sehen lässt. Dann werden sie beschämt ihren Prophetenberuf an den Nagel hängen, weil ihm die Grundlage entzogen sein wird (Mi 3,6f.). Aber wie soll dann ein Nicht-Prophet zwischen Prophet und Prophet unterscheiden können? Nach 1Kön 22 kann er zwar ein Gespür dafür entwickeln, wo Gottes Wort durch die Propheten beeinflusst oder gar manipuliert wird (V.6f.13f.15–17); wirkliche Anhaltspunkte dafür, wo nichts anderes als „ausschließlich die Wahrheit im Namen JHWHs“ (V.16) ist, besitzt er aber nicht. Zumindest die jüngere Vision Micha ben Jimlas verlagert das Problem der „falschen“ Prophetie ganz in Gottes Willen zurück. Es ist nach V.19–23 Gottes Ratschluss, den israelitischen König durch Propheten betören zu lassen, die objektiv vom „Lügengeist“ (V.22) besessen, subjektiv aber durchaus wahrhaftig sind. Nur wer Einsicht in Gottes innersten Entscheidungs- und Planungskreis im himmlischen Hofstaat hat (vgl. Jer 23,18.22), verfügt über solches Wissen. Mit der Vorstellung, dass Gott sein eigenes Wort „verfälschen“ könne, wird freilich eine äußerste Dimension des göttlichen Gerichts aufgedeckt, die in der Möglichkeit der „Verstockung“ Israels (Jes 6,9f.) ihre engste formale und sachliche Parallele findet4 und die keiner der biblischen Autoren für eine beliebige, jederzeit erfahrbare Handlungsweise Gottes gehalten hätte.
3. Seine äußerste Zuspitzung erfuhr der Konflikt innerhalb der Prophetie erst in der Spätphase des Wirkens Jeremias im beginnenden 6. Jh. v. Chr., angesichts der Gefahr, dass die Babylonier dem Staat Juda ein Ende bereite könnten. Jetzt bestritt Jeremia den Gegnern unter seinen Berufskollegen jeglichen Offenbarungsempfang, und zwar unter Berufung auf Gott: Ich habe die Propheten nicht gesandt. und trotzdem laufen sie; ich habe nicht zu ihnen geredet, und trotzdem treten sie als Propheten auf (Jer 23,21),
und sie ihrerseits bestritten ihm jeglichen Offenbarungsempfang (Jer 43,2; vgl. 5,13). In dieser Zuspitzung war es ein Konflikt auf Leben und Tod. Nur 4 Vgl. bes. O. H. STECK, Bemerkungen zu Jesaja 6 (1972), in: DERS., Wahrnehmungen Gottes im Alten Testament, Gesammelte Studien (TB 70), München 1982, 149–170.
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eine Seite im Streit der Propheten konnte im Recht sein; ihre jeweiligen Gottesworte schlossen sich gegenseitig aus, sie wurden zugleich aber mit dem prinzipiellen Anspruch verkündet, dass sich an ihnen Rettung oder aber Untergang der Hörer entscheiden sollten. Spätestens in dieser Lage mussten gültige Kriterien gefunden werden, mit Hilfe derer die Hörer „wahre“ und „falsche“ Gottesworte voneinander unterscheiden können sollten, wenn anders Prophetie im Namen Gottes noch einen Sinn haben und sich nicht selber paralysieren sollte. Das Ringen um diese Kriterien gehört zum Ungewöhnlichsten und Wichtigsten innerhalb der alttestamentlichen Überlieferung. Wahrscheinlich waren auch jene Propheten an ihm beteiligt, die ebendiese Überlieferung aufgrund der Zerstörung Jerusalems als „falsche“ Propheten ausgeschieden hat; denn in ihrem beharrlichen Pochen auf Gottes Güte und Geduld noch angesichts der anrückenden Babylonier hatten diese sog. „Heilspropheten“ weite Teile der ihnen vorliegenden Tradition auf ihrer Seite. Es ist nicht auszuschließen, aber eben auch nicht nachzuweisen, dass sie diese Tradition als Kriterium verwendet haben, wie es auch ein Jeremia tat, freilich aufs Ganze gesehen mit eher größerer Mühe als sie (Jer 28,8). Manche der im Alten Testament selber gefundenen Kriterien spiegeln auch mehr die Schwere des Problems und die Hilflosigkeit bei der Suche solcher Kriterien wider. Zu dieser Gruppe gehört etwa Dtn 18,2f. (vgl. Jer 28,9), wo das Eintreffen des vom Propheten angekündigten Ereignisses als Kriterium zur Unterscheidung „wahrer“ und „falscher“ Propheten benannt wird. Wenn das Ereignis da ist, bedarf es keiner Propheten mehr; für die Hörer des aktuellen Prophetenwortes kommt dieses Kriterium zu spät. Da sich dieses faszinierende Ringen der Propheten und ihrer Tradenten um gültige Kennzeichen „wahrer“ Prophetie im 6. Jh. v. Chr. auf wenigen Seiten schlechterdings nicht angemessen darstellen lässt5, sei es mir am Ende dieser Darlegungen gestattet, drei solcher Kennzeichen unter subjektiven Gesichtspunkten auszuwählen, die ich selber auch für das Ringen um Merkmale der Wahrheit post Christum natum für unabdingbar halte. Sie sind alle dem m.E. wichtigsten Textkomplex zu diesem Problemfeld entnommen, Jer 23,9–32. 1) In V.13f. vergleicht Jeremia die Propheten seiner Tage mit den Propheten des schon vor über hundert Jahren untergegangenen Nordreichs mit dem
5 An wichtigen Versuchen solcher Gesamtdarstellung nenne ich exemplarisch: G. VON RAD, Die falschen Propheten, ZAW 51 (1933) 109–120; G. QUELL, Wahre und falsche Propheten, Gütersloh 1952; E. JACOB, Quelques remarques sur les faux prophètes, ThZ 13 (1957) 479–486; M. A. KLOPFENSTEIN, Die Lüge nach dem Alten Testament, Zürich 1964; H.-J. KRAUS, Prophetie in der Krisis (BSt 43), Neukirchen-Vluyn 1964; J. L. CRENSHAW, Prophetic Conflict (BZAW 124), Berlin 1971; F.-L. HOSSFELD/I. MEYER, Prophet gegen Prophet (BiBe 9), Fribourg 1973: G. MÜNDERLEIN, Kriterien wahrer und falscher Prophetie (EH XXIII/33), Bern/Frankfurt a.M./Las Vegas 21979 (1974); zuletzt H.-J. HERMISSON, Kriterien „wahrer“ und „falscher“ Prophetie, ZThK 92 (1995) 121–139.
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Ergebnis, dass das Versagen ersterer noch ungleich größer ist als dasjenige letzterer: Unter den Propheten Samarias sah ich Abstoßendes: Sie weissagten beim Baal und führten mein Volk Israel irre. Unter den Propheten Jerusalems sah ich Widerwärtiges; Ehebrechen, Wandel in der Lüge, so dass sie die Hände der Übeltäter stärken … (V.13f.).
Kann es noch etwas Schlimmeres geben als eine Prophetie, die den Ursprung ihrer Offenbarung verdunkelt, indem sie den lebendigen Gott mit dem Wohlstandsgott „Baal“ vermischt? Für Jeremia ist noch ungleich furchtbarer eine Prophetie, die Gott darin verfehlt (übertragener Gebrauch des Ehebildes), dass sie ihn mit einer Heilsillusion verwechselt. Entscheidend für diesen auf den ersten Blick sehr abstrakten Vorwurf ist für Jeremia, dass von der Heilsillusion keinerlei Impulse auf die angesprochenen Menschen mehr ausgehen, diese vielmehr in ihrer Selbstsucht und Selbstbezogenheit bestätigt werden. „Wahrheit“ ist für Jeremia ungleich mehr als das Aussprechen „wahrer“ Wörter6; sie ist „Wahrheit“ nur, wo sie mit ihrer Wirkung zusammengesehen wird, d.h. wo sie Menschen verändert7. 2) Über Jahrhunderte hin ist im Alten Testament der Traum als eine Weise göttlicher Kundgabe hochgeschätzt (vgl. die Josefsgeschichte) und oft dem prophetischen Wortempfang gleichwertig an die Seite gestellt worden (vgl. etwa Dtn 13,2). In der zugespitzten Situation des 6. Jh.s erscheint dies Jeremia unmöglich (V.28f.): Der Prophet, der einen Traum empfangen hat, erzähle den Traum; wer aber mein Wort empfangen hat, rede mein Wort zuverlässig. Was hat Stroh mit Korn zu schaffen? Spruch JHWHs. Ist nicht mein Wort wie Feuer, Spruch JHWHs, und wie ein Hammer, der Felsen zerschlägt?
Jeremia bestreitet nicht, dass Gott sich in seiner Willenskundgabe eines Traumes bedienen kann. Wohl aber bestreitet er dem Traum die Eindeutigkeit. Über Träumen kann man Gott vergessen bzw. die Hörer Gott vergessen lassen (V.27). Träume können ihren Inhalt in der Weitergabe verändern (V.30). Träume lassen ahnen, sind aber nicht Vehikel zuverlässiger Wahrheit. Letzteres gilt nur für das Wort, und zwar in seiner Qualität als Feuer und Hammer.
6 Vgl. M. BUBERs berühmten Satz, dass Hananja, der Gegner Jeremias, darum „falscher“ Prophet gewesen sei, obwohl seine Botschaft mit der Jesajas übereingestimmt habe, weil er zur Unzeit zum „Papagei“ Jesajas geworden sei (Falsche Propheten [1940], in: DERS., Werke II. Schriften zur Bibel, München/Heidelberg 1964, 945–949; 946). 7 Genaueres dazu bei J. JEREMIAS, Hoseas Einfluß auf das Jeremiabuch, in: DERS., Hosea und Amos (FAT 13), Tübingen 1996, 122–141; 130–132.
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Mit diesen Bildern berührt Jeremia ureigenste Erfahrungen, ohne die er schlechterdings die „Wahrheit“ des Gotteswortes nicht definieren kann. Als „Feuer“ hat er jenes Wort erfahren, mit dem er den verzehrenden Zorn Gottes über seine hörunwilligen Zeitgenossen ausgießen muss (5,14; 6,11), obwohl er selbst dieses Unheil nicht will (17,16). Als „Feuer“ hat er jenes Wort erfahren, von dem er sich lösen will, weil ihm seine Verkündigung nur Leid und Schmach einträgt, von dem er sich aber nicht lösen kann, weil es in ihm brennt (20,9). Es beraubt ihn seines Eigenwillens, macht ihn zu einem Trunkenen, der seiner Sinne nicht mehr mächtig ist (23,9). Aus solchen Erfahrungen heraus erscheint Jeremia das im Traum erlebte Heil seiner Gegner darum als unzuverlässig („Stroh“), weil es keine Möglichkeit bietet, Wunschvorstellungen („das Truggebilde ihres Herzens“, 23,16.26) von Gottes Wort zu unterscheiden. Für Jeremia ist das verkündigte Wort erst dann Gottes Wort, wenn es ehe es zu seinen Hörern gelangt, zuvor den Verkündiger selber bezwungen hat, dem es ebenfalls fremdes, unangenehmes und ungewolltes Wort ist. 3) Letztlich aber liegt der tiefste Grund der „Wahrheit“ des Wortes Jeremias und der „Falschheit“ der Botschaft seiner Gegner in ihrem jeweiligen Gottesbild begründet (V.23f.): Bin ich denn (nur) ein Gott aus der Nähe, Spruch JHWHs, und nicht (vielmehr auch) ein Gott aus der Ferne? Oder kann sich jemand in Schlupfwinkeln verbergen, ohne dass ich ihn sähe? Spruch JHWHs. Bin ich es nicht, der Himmel und Erde erfüllt? Spruch JHWHs.
Der Sinn dieses facettenreichen Gotteswortes ist ein vielfältiger8; ich muss mich hier auf die zentralen Gesichtspunkte beschränken. Die Gegner kennen JHWH nur als den hilfreichen, Israel ständig umsorgenden „lieben“ Gott; Jeremia kennt ihn auch als den befremdlich Furchtbaren, wie ihn etwa die älteste Sinaitradition (Ex 19) zeichnet. Damit wird primär Gottes Transzendenz zum Ausdruck gebracht, die der zuvor genannten Objektivität seines Wortes, das den Willen von Menschen bricht, entspricht. Götter „aus der Nähe“ sind nach Dtn 32,17 solche, die „neu“ sind, mit denen man keine Erfahrungen gemacht hat, also harmlose Götter. Ein Zweites kommt hinzu: „Nahe“ Götter nimmt man nur für angenehme Erwartungen in Anspruch, man kann sich ihnen beliebig entziehen („JHWH sieht uns nicht“, Ez 8,12); vor dem „fernen“ Gott bleibt nichts verborgen, man kann ihn nicht entrinnen, weil er der Schöpfer der Welt ist. Darum muss ein Prophet dieses Gottes mit aller Unerbittlichkeit auf die Schäden im Volk Gottes hinweisen (9,23; 22,15f.).
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Vgl. bes. W. E. LEMKE, The Near and the Distant God. A Study of Jer 23:23–24 in its Biblical Theological Context, JBL 100 (1981) 541–555; W. HERRMANN, Jeremia 23,23f als Zeugnis der Gotteserfahrung im babylonischen Zeitalter, BZ NF 27 (1983) 155–166.
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Natürlich sind auch diese Kriterien zur Unterscheidung von „wahrer“ und „falscher“ Prophetie nicht einfach handhabbar wie ein Rezept. Aber sie sind insofern „wahr“, als sie von der gesamten Existenz des Propheten Jeremia gedeckt sind. Indem sie entscheidend auf die Externität des Wortes und das extra nos des Heils verweisen, haben sie das entscheidende Anliegen mit der Theologie der großen Reformatoren gemeinsam. Freilich legen sie implizit jedem Verkünder der Botschaft Gottes auch post Christum natum eine hohe Verantwortung auf: Weil alle Gottesworte durch Menschen vermittelt sind, gibt es sie nicht ohne die Möglichkeit der Verfälschung, vor der niemand gefeit ist. D. Bonhoeffer hat dieses Problem für Christen auf den Begriff der „billigen Gnade“ gebracht.
22. Umkehrung von Heilstraditionen im Alten Testament Es gehört zu den Eigenarten der Schriftensammlung des Alten Testaments, dass in ihr erstaunlich häufig in der Weise auf ein älteres Wort oder auf eine vorgegebene Tradition Bezug genommen wird, dass dieses Wort bzw. diese Tradition mit einer Verneinung versehen bzw. in das Gegenteil verkehrt wird. Auf den ersten Blick vermitteln diese Belege den Eindruck purer Deutungswillkür. Sie scheinen ihre Ungebundenheit und Freiheit gegenüber der Tradition dadurch zum Ausdruck bringen zu wollen, dass sie mit der Tradition ihren Mutwillen treiben und nichts mehr als gültig anerkennen. So nennt Hosea in Hos 1,9 sein jüngstes Kind „Nicht-mein-Volk“ und begründet diese Benennung mit der Revozierung der berühmten Zusage Gottes an Mose in Ex 3,12.14 („denn ihr seid nicht mein Volk, und ich bin nicht ‚Ich bin‘ für euch“). Gleich zweimal widerruft derselbe Prophet die Basis jeglichen Redens von Gott im Alten Testament, indem er das Exodusbekenntnis, das er andernorts geradezu zur Definition Gottes gebrauchen kann (11,1; 12,10; 13,4), faktisch ins Gegenteil wendet: „Sie müssen zurück nach Ägypten“ bzw. „Efraim muss zurück nach Ägypten“ (Hos 8,13; 9,3). Umgekehrt bestreitet Deuterojesaja dem angekündigten zweiten Exodus, was für den ersten gerade wesentlich war: „Nicht in Hast werdet ihr ausziehen und nicht fluchtartig davongehen!“ (Jes 52,11). Noch erheblich willkürlicher scheint Joel mit der Tradition umzugehen, wenn er das schöne Wort von den Schwertern, die zu Pflugscharen verwandelt werden – gleich in zwei Prophetenbüchern überliefert (Jes 2,4; Mi 4,3) –, auf den Kopf stellt und zum Umschmieden von Pflugscharen zu Schwertern aufruft (Joel 4,10). Es sind aber nicht nur Propheten gewesen, die in einer solchen Freiheit mit der Tradition umgegangen sind, dass der Eindruck beliebiger Willkür entstehen kann. Die bekannteste Analogie im Hiobbuch ist die parodistische Verdrehung von Psalmen, die Gottes Nähe beim Menschen preisen, in ihr Gegenteil, d.h. zur Anklage Gottes, dass er dem Menschen keine Ruhe lässt und ihn statt dessen ständig überwacht (Hi 7,11ff.). Bei näherer Betrachtung zeigt sich allerdings sehr schnell, dass die aufgeführten Belege, die sich leicht erheblich vermehren ließen, keineswegs auf einer Ebene liegen. Am umfangreichsten ist die Gruppe der relativ ältesten Texte, in denen die sog. klassischen Propheten kommendes Unheil für Israel mit den Heilserfahrungen der Frühzeit kontrastieren (1.). Von ihnen geprägt sind die schon genannten Hiobbelege, die der (Psalmen-)Tradition die Erfahrungen des Einzelnen gegenüberstellen (2.). Völlig andere Funktion haben die
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prophetischen Texte, die – wie Jes 52,11f. – eine heilvolle Zukunft ankündigen, in der alle frühere Heilserfahrung weit überboten wird (3.). Am schwierigsten zu deuten sind die jüngsten Belege, in denen Parodie und Ironisierung der Tradition die Aussage bestimmen. Für sie soll im Folgenden Joel 4 (4.) als Beispiel dienen.
1. Was besagt es, wenn ein Hosea sagt: „Efraim muss zurück nach Ägypten“ (9,3) – und jeder Hörer bzw. Leser genötigt ist, dieses Urteil in seinem Kontrast zu 11,1 („Als Israel jung war, gewann ich es lieb, heraus aus Ägypten rief ich meinen Sohn“) oder zu 12,10 und 13,4 („Ich aber bin Jahwe, dein Gott, vom Land Ägypten her“) zu hören und zu lesen? Was besagt es, wenn ein Amos zur Leichenklage auffordert, weil Jahwe gesagt hat: „Ich schreite durch deine Mitte hindurch“ (Am 5,17) – und jeder Leser weiß, dass ein solches tödliches „Hindurchschreiten Jahwes“ bislang eine Erfahrung der Ägypter war, die Israel jährlich beim Passafest als Ereignis seiner eigenen Befreiung gefeiert hat (Ex 12,12)? Was besagt es, wenn ein Jesaja ein selbstsicheres Gottesvolk mit einem Handeln Jahwes konfrontiert, das sich „wie am Berge Perazim“ und „wie im Tal bei Gibeon“ vollzieht – und jeder Leser versteht, dass ein göttliches Eingreifen angesagt wird, das ehedem die Philister bzw. die kanaanäischen Könige vernichtend traf, jetzt aber Israel selber lebensgefährlich bedroht (Jes 28,21)? Was besagt es, wenn ein Jeremia die Judäer wortreich wie ein Heerführer seine Soldaten zur Flucht in die befestigten Städte ruft und diesen Ruf dann im Gotteswort begründet: „…denn Unheil führe ich heran von Norden und großen Zusammenbruch“ (Jer 4,5f.) – und jeder Leser begreift: Jetzt ist Jahwe am Kopf des feindlichen Heeres wie in der Frühzeit am Kopf der eigenen Streitkräfte? Offensichtlich implizieren solche Worte mehr als nur, dass Gottes Gericht an Israel sich in schonungsloser Härte vollziehen wird; denn wie die Schriften aller klassischer Propheten zeigen, lässt sich dieser Gedanke ebenso gut ohne Referenz auf frühere heilvolle Gotteserfahrungen ausdrücken. Diese Referenz stellt vielmehr einen Bezug her zwischen der Qualität und der Intensität vergangener und künftiger Gotteserfahrung, allerdings mit umgekehrtem Vorzeichen. Primär besagen somit alle soeben genannten Texte, dass die gleiche Strenge bis zur äußersten Konsequenz, mit der Jahwe in der Frühzeit Israels Feinde gestraft hat, nun Israel selber treffen wird bzw. die gleiche Leidenschaft, mit der sich Jahwe in der Frühzeit für Israel eingesetzt hat, sich nun gegen Israel wenden wird. Eine partielle Gotteserfahrung in dem Sinn, dass Jahwe sich im Gericht Zurückhaltung auferlegt oder dass er nur einen Teil Israels, etwa exzeptionell Schuldige, straft, ist damit von vornherein ausge-
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schlossen. Die Referenz auf frühere Heilstaten Jahwes dient dem Aufweis der Identität Gottes im Einsatz für und gegen Israel, wobei der Ton zugleich darauf fällt, dass diese Identität Gottes sich in der Unüberbietbarkeit und in der Totalität sowohl des Heils als auch des Unheils zeigt. Wie Israel in seiner klassischen Frühzeit Gottes Heil ganz und ungeteilt erfuhr, so nun in ebensolcher Ungeteiltheit Gottes Gericht. Am grundsätzlichsten hat Hosea diese Identität des Gotteshandelns in Heil und Unheil thematisiert. In einem kühnen, zeitraffenden Geschichtsrückblick, der von der Befreiung Israels aus Ägypten bis zur Gegenwart reicht, schildert er die Wandlung des Gotteshandelns vom Heil zum Unheil Israels folgendermaßen: Ich aber bin Jahwe, dein Gott, vom Land Ägypten her: Einen Gott neben mir kennst du nicht, einen Retter außer mir gibt es nicht. Ich war es, der dich in der Wüste ‚weiden ließ‘, im ausgedorrten Land. Je mehr sie weideten, desto satter wurden sie; satt geworden, erhob sich ihr Herz; so vergaßen sie mich. Da wurde ich ihnen zum Löwen, wie ein Panther lauere ich am Weg auf; ich falle sie an wie eine Bärin, die der Jungen beraubt ist, und zerreiße den Verschluss ihres Herzens; da ‚werden sie die Hunde‘ fressen, wilde Tiere sie in Stücke reißen. (Hos 13,4–8)1
Hier wird innerhalb einer einzigen Perikope der Wandel Jahwes vom rettenden Befreier zum angreifenden Löwen und zur reißenden Bärin beschrieben. Die Logik des Gedankenganges macht dabei jedem Leser deutlich, dass „Jahwe, dein Gott“ (V.4) einerseits und die Tierbilder von Löwe – Panther – Bärin (V.7f.) andererseits denkbar schärfste Kontraste darstellen. Die Explikation der kurzen Erwähnung Ägyptens in V.4 („Jahwe, dein Gott, vom Land Ägypten her“) mit Worten, die das erste Gebot in Gestalt einer Aussage enthalten, verdeutlicht zunächst, dass Rettung aus Not für Israel – damals an seinen Anfängen und künftighin – exklusiv an seine Gottesbeziehung gebunden ist. Denn wenn Israel außer Jahwe „keinen Gott kennt“, so ist damit kein theoretisches Wissen gemeint – es weiß von so vielen Göttern, wie es von Völkern weiß –, sondern es wird auf engste personale Beziehung angespielt, wie sie im zwischenmenschlichen Bereich zwischen Mann und Frau gilt (Gen 4,1 u.ö.). Es ist eine Beziehung gemeint, die sich aus geschichtlicher Erfahrung ergibt. Im Unterschied zu Jahwe heißen in traditionsgeschichtlichem Gefolge 1 Vgl. zur Begründung der Übersetzung J. JEREMIAS, Der Prophet Hosea (ATD 24/1), Göttingen 1983, 159.
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Hoseas die Mächte, die ihm Konkurrenz bilden wollen, „ungekannte Neulinge, die erst vor kurzem aufgetaucht sind“ (Dtn 32,17); sie werden damit als Mächte gekennzeichnet, deren Ansprüche und Angebote wie ungedeckte Schecks wirken, von keiner Erfahrung Israels bewährt. Darum also heißt „keinen Gott neben mir kennen“ für Hosea eben auch: „Einen Retter außer mir gibt es nicht“: Mächte mit dem Anspruch, Götter zu sein, gibt es zahlreich; in Israels Geschichte bewährte Helfer sind sie allesamt nicht2. So eingestimmt, erwartet jeder Leser nun die religionsgeschichtliche Debatte von V.1 fortgesetzt zu sehen: „Da verschuldete er (Efraim) sich mit dem Baal und starb.“ Auffälligerweise tritt aber an die Stelle der Baalthematik in Hos 13,4ff. Israels Undankbarkeit. In der Wüste noch auf Jahwe und seine Versorgung angewiesen (V.5), wird Jahwe in der Sattheit des Landes sogleich vom Gottesvolk „vergessen“. Auch das ist kein Begriff des Bewusstseins, sondern der Oppositionsbegriff zur soeben genannten engen personalen Beziehung des „Kennens“3. Israel braucht in der Sattheit Jahwe nicht mehr; er hat seine Schuldigkeit getan. Das ist für Hosea die Ursünde menschlicher Herzensüberheblichkeit: den Reichtum Baal zu verdanken (Hos 2,7 u.ö.) und diesen Reichtum im Stolz des Herzens sich selbst zuzuschreiben (13,6), sind für diesen Propheten zwei Seiten der gleichen Medaille. Jetzt aber wird Jahwe zum Löwen – Panther – ja, zur der Jungen beraubten blindwütigen Bärin. Das ist insofern der genaue Gegensatz zum eingangs genannten Retter, als an die Stelle der Bewahrung vor lebensbedrohender Not – nicht der Wegfall dieser Bewahrung, sondern – die schlechterdings tödliche Lebensbedrohung tritt. Vor Gott als Löwen gibt es, wie schon Hos 5,14 darlegte, grundsätzlich keine Rettung mehr. In Hos 5 war der Gegensatz zwischen Rettung und Verlorenheit ähnlich wie in Hos 13 ausgedrückt: Wo im geschichtlichen Konfliktfall die verfeindeten Bruderreiche Israel und Juda angesichts ihrer tödlichen Krankheit (die Jahwe selber ist! 5,12) in völliger Verkennung der Lage jeweils zum assyrischen Großkönig laufen, also die Not immanent politisch lösen wollen (5,13), da wird der potentielle Arzt, der allein die Krankheit hätte heilen können, zum reißenden Löwen, vor dem niemand retten kann. Tertium non datur: Jahwe ist für Israel Retter bzw. Arzt oder aber Löwe, wunderbarer Helfer oder aber personifizierter Tod4. Was er
2 Vgl. dazu H. D. PREUSS, Verspottung fremder Religionen im Alten Testament (BWANT 92), Stuttgart 1971, 189. 3 Das Wichtigste zu ihm hat H. W. WOLFF, „Wissen um Gott“ bei Hosea als Urform von Theologie (1952), in: DERS., Gesammelte Studien zum Alten Testament (TB 22), München 2 1973, 182–205; 188ff. gesagt. 4 Vgl. J. JEREMIAS, „Ich bin wie ein Löwe für Efraim …“ (Hos 5,14). Aktualität und Allgemeingültigkeit im prophetischen Reden von Gott am Beispiel von Hos 5,8–14, in: H. Merklein/E. Zenger (Hg.), „Ich will euer Gott werden“, Beispiele biblischen Redens von Gott (SBS 100), Stuttgart 1981, 75–95.
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jeweils ist, ist er mit seinem ungeteilten göttlichen Einsatz in Bezug auf Israel – nur mit je verschiedenem Vorzeichen. Jesaja hat beide Seiten Jahwes in einem Beziehungsbegriff zusammengefasst: der „Heilige Israels“. Jahwes Heiligkeit wirkt sich hiernach so oder so an Israel aus, Leben schaffend oder tötend. Dabei besteht allerdings der eine Unterschied: Ersteres hat Israel vielfältig in seiner Geschichte erfahren, Letzteres steht ihm als neue Erfahrung, die sich daher nur e contrario erläutern lässt, noch bevor, ja mehr: Ersteres ist die – in der Geschichte immer wieder bestätigte – Anfangserfahrung, von der Israel herkommt, von der es allein lebt; Letzteres ist und bleibt per definitionem eine singuläre Erfahrung, weil niemand Jahwes tödliche Heiligkeit überleben kann. Das Wort: „Efraim muss zurück nach Ägypten“ (Hos 9,3; vgl. 8,13) geht allerdings noch über das bisher Ausgeführte hinaus. Hos 11,1; 12,10 und 13,4 zeigen deutlich, dass es für Hosea eine Jahwe-Verehrung vor der Ägypten-Erfahrung Israels und an ihr vorbei nicht gibt. Das „Zurück nach Ägypten“ versetzt Israel aber in ebendiesen Raum, den auch schon der Name des jüngsten Prophetenkindes „Nichtmein-Volk“ (1,9) symbolisiert. „Ägypten“ impliziert Gottesferne: eine Existenz außerhalb von „Jahwes Land“, aus dem Israel vertrieben wird (9,3), und damit eine Existenz in der permanenten „Unreinheit“, d.h. ohne die Möglichkeit des Gottesdienstes (9,4f.). Ohne Gastrecht in „Jahwes Land“ und ohne die Möglichkeit der Gottesverehrung im Kult ist Israel ohne jeden Schutz, ohne Segen, ohne Fürsorge, abgeschnitten von allem, was sein Leben ausmachte, und unentrinnbar dem Tode geweiht. Überleben kann es nur, wenn Jahwe seine Geschichte mit Israel noch einmal von vorn beginnt (2,16f.; 11,11).
2. Diesem prophetischen Traditionsgebrauch kommt Hi 7 außerordentlich nahe und setzt ihn offensichtlich schon voraus. Wenn Hiob dort aus der „Bedrängnis seines Gemütes …, der Bitterkeit seines Lebens“ heraus redet und sich keinerlei Zurückhaltung mehr auferlegt, koste es ihn aufgrund lästerlicher Töne vor Gott auch sein Leben (V.11.16), so weiß der Leser des Buches, dass ihm nun Äußerstes zugemutet wird, das die Unerträglichkeit des Leidens Hiobs widerspiegelt. Dieses Äußerste ist die parodistische Umkehrung herrlicher Psalmenaussagen über die Nähe und den Schutz Gottes in ihr Gegenteil: das Erschrecken über eine quälende Nähe Gottes in Gestalt ruheloser Nächte mit entsetzlichen Träumen und plagenden Gesichten, das Entsetzen über eine unerträgliche Überwachung Gottes in Gestalt nicht endender Selbstvorwürfe, wo Hiob selber sich doch im Wachzustand keiner schweren Schuld bewusst ist (V.13f.20f.). Drei formal wie inhaltlich parallele Abschnitte bieten diese
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Umkehrung; sie beginnen jeweils mit einer Frage, die die völlige Unangemessenheit des göttlichen Handelns ausdrücken soll (V.12.17.20), und enden jeweils in Bitten, die allerdings syntaktisch auf sehr unterschiedliche Weise formuliert sind5. Die erste Frage lautet: Bin ich denn das Meer oder der Drache, dass du wider mich eine Wache aufrichtest? (V.12)
Wenn die Hymnen Israels die vorbiblische Überlieferung vom Chaoskampf des Königs der Götter aufgriffen – schon in den ugaritischen Texten sowohl in Gestalt des Kampfes gegen den Meeresgott Jammu als auch in Gestalt des Drachenkampfes belegt –, priesen sie damit Gottes machtvolle Gründung der Welt durch Besiegung aller bedrohenden Mächte bzw. ihre ständige Bewahrung vor allen potentiellen Gefährdungen, ob von außen oder von innen, kurz: ihre Sicherheit und Verlässlichkeit aufgrund ihres unerschütterlichen Haltes (Ps 74,12ff.; 89,10ff.; 93,3f.; 104,5–9 u.ö.). „Wächter“, die die Ordnung der Welt garantieren, indem sie die kosmischen Wasser zurückhalten, sind schon in enūma eliš IV 139f. genannt6. Was aber gegenüber dem Chaos eine sinnvolle, ja notwendige Maßnahme ist, erscheint Hiob als ein sinnloser und maßloser Aufwand Gottes gegenüber dem einzelnen Menschen. Die Chaoswasser sind, auch als besiegte Mächte, eine latente Bedrohung der Welt und bedürfen der zuverlässigen Kontrolle; Hiob aber kann gar nicht gefährlich werden, schon gar nicht Gott selber, wie die dritte Frage in V.20 feststellt: Habe ich gefehlt, was schade ich dir, du Menschenhüter? Warum hast du mich dir zur Zielscheibe gesetzt und bin ich ‚dir‘ zur Last geworden?
Spätestens hier ist Hiobs Rede gotteslästerlich geworden; die Massoreten haben die Aussagen nicht mehr ertragen und am Schluss des Verses in den Text eingegriffen. Hiob macht Gott eine Nutzen-Schaden-Rechnung auf, die jedoch, wie der folgende Vers zeigt, Schuld vor Gott nicht verharmlosen und bagatellisieren will, sondern primär bestreitet, dass diese Schuld ein zureichender Grund ist, um das unerträgliche Maß des Leidens Hiobs von ihr her zu begreifen. Hiob ist Gott zum Feind geworden, schlimmer noch: zur Zielscheibe, auf die er seine Waffen richtet, als wolle er sich seiner entledigen 5
Nur in V.16 mit einem Imperativ, in V.19 und 21 in Gestalt von Fragen (V.19 wörtlich: „Wie lange willst du nicht von mir wegblicken?“ soll heißen: „Wann endlich blickst du fort von mir!“ V.21: „Warum willst du mir denn nicht vergeben?“ ist durch die Begründung „denn nun muss ich mich in den Staub legen“ als – allerdings verhüllte – Bitte erkennbar). 6 Vgl. dazu jüngst die skeptischen Einschränkungen von D. A. DIEWERT, Yam, Tannin, and the Surveillance of Job, JBL 106 (1987) 203–215, und die kritische Entgegnung von J. G. JANZEN, Another Look at Godʼs Watch over Job (7:12), JBL 108 (1989) 109–116.
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als einer lästigen Beschwernis. Gewiss, Hiob weiß mehr von Gott als dies, wie der abschließende V.21 belegt mit seiner Erwartung, Gott könne ihn noch einmal suchen wollen, wenn es schon zu spät ist (vgl. V.8). Aber dieses Wissen nützt ihm momentan nichts, da Gott ihm gegenwärtig nicht die Ruhe eines einzigen Augenblicks gewährt (V.19). Der Gott, den die Tradition „Hirte“ oder „Wächter Israels“ nannte, weil er sein Volk unablässig vor Unheil bewahrt (Ps 80,2; 121,4 u.ö.), heißt nun „Menschenhüter“, weil er die Menschen ohne Unterbrechung überwacht. Zwischen diesen beiden Umkehrungen von Psalmenaussagen tritt in V.17f. die eher noch schwerer erträgliche Parodie von Ps 8: Was ist der Mensch, dass du ihn groß achtest und dass du auf ihn deinen Sinn richtest, dass du ihn Morgen für Morgen überprüfst, jeden Augenblick auf die Probe stellst?
Wo Ps 8 über das Wunder staunt, dass der Schöpfer Himmels und der Erde, der nur der Finger – nicht einmal der Hände, wie es die älteren Hymnen ausdrücken – bedurfte, um das Universum zu erstellen, sich zu dem winzigen Menschen beugt und sich so sehr „um ihn kümmert“, dass er ihn in die Statthalterschaft über seine Schöpfung stellt, da entsetzt sich Hiob über eine inadäquate und pausenlose „Überwachung“ des kleinen Menschen durch den großen Gott, wie sie sich in der ständigen Quälerei des leidenden Menschen erweist. Beides sagt gleicherweise im Hebräischen das Verb פקדaus, das – ursprünglich wohl ein Begriff des Beamtenrechts – eine Fülle verschiedenster Bedeutungsnuancen aus sich entlässt7. Deutlicher als durch die Wahl eines doppelsinnigen Begriffs könnte nicht zum Ausdruck gebracht werden, dass Hi 7 nicht Ps 8 bestreiten will, sondern dessen Aussagen nur mit negativem Vorzeichen versieht. Gott handelt sozusagen immer inadäquat am kleinen Menschen, der nie sein gleichwertiges Gegenüber ist: in seiner unbegreiflichen Zuneigung wie in seiner unerträglichen Weise der Leidzuteilung. Im einen Fall führt Gottes „Sehen“ zur Rettung der Bedrängten (Ex 3,7.9 u.ö.), im anderen Fall sehnt sich der Betroffene nach Gottes „Wegblicken“ (Hi 7,19). Wie beide Erfahrungen des Menschen miteinander zusammenhängen, deren erstere den Inhalt des Gottesdienstes bestimmt, deren letztere diesem scheinbar widerstreitet, ist das geheime Thema des Hiobbuches.
7 Die neueste Literatur nennen L. KOEHLER/W. BAUMGARTNER, Art. פקד, HAL 2 (2004) 899f. und G. ANDRÉ, Art. פקד, ThWAT 6 (1989) 709.
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3. Eine ganz andersartige Weise der Umkehrung überkommener Tradition zeigt eine Reihe von prophetischen Heilsankündigungen. In ihnen wird die Herrlichkeit der Zukunft Israels dadurch hervorgehoben, dass das neue Heil von aller früheren Heilserfahrung betont abgehoben wird. Als Beispiel soll Jes 52,11f. dienen, dessen Gewicht allein schon daraus erhellt, dass dieses Stück möglicherweise einmal einen älteren Buchschluss gebildet hat8. Weicht, weicht, zieht aus von dort, Unreines rührt nicht an! Zieht aus aus ihrer (d.h. Babylons) Mitte, haltet euch rein, ihr Träger der Geräte Jahwes! Denn nicht in Hast werdet ihr ausziehen und nicht fluchtartig davongehen, geht doch vor euch her Jahwe, und bildet eure Nachhut der Gott Israels.
Wie J. Begrich mit Recht hervorgehoben hat9, tritt der Prophet mit der Autorität eines zweiten Mose auf und ruft zum Exodus aus Babylon auf. Allerdings ist Babylon selber nicht genannt, sondern es erscheint nur indirekt im Suffix („ihre Mitte“) und anfangs im allgemeinen „dort“. Dieser Sachverhalt ist kaum als Indiz für eine verlorengegangene Verszeile zu werten (B. Duhm), sondern er weist eher auf die Grundsätzlichkeit der Aufforderung hin, für die Babylon (anders als 48,20) zum Typos des zweiten Ägypten geworden ist. Diese Deutung bietet sich vor allem deshalb an, weil der zweite Exodus in V.12a so bewusst und unübersehbar unter Aufgreifen geprägter Sprache der Exodustradition vom ersten abgehoben wird. Damit aber entsteht die Frage, zu welchem Zweck erster und zweiter Exodus in Jes 52,11f. einander so schroff gegenübergestellt werden10.
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So zuletzt nach mancherlei Vorgängern K. KIESOW, Exodustexte im Jesajabuch (OBO 24), Fribourg 1979, 118.161f. Dabei könnte der doppelte Imp.pl. „Weicht, weicht“ ein Echo zum Imp.pl. „Tröstet, tröstet“ am Beginn von Jes 40ff. bilden, wie das vorangehende Stück (52,7–10) mit dem Thema des Königtums Gottes eine Entsprechung zum Abschluss des Prologs (40,9–11) bildet. 9 Studien zu Deuterojesaja (BWANT 77), Stuttgart 1938, 152f.; Neudruck: TB 20, München 1963, 153f. 10 Man vgl. für diese Frage das Material, das H. D. PREUSS, Deuterojesaja. Eine Einführung in seine Botschaft, Neukirchen-Vluyn 1976, 42–45, für den Vergleich von erstem und zweitem Exodus bei DtJes zusammengestellt hat; außerdem B. W. ANDERSON, Exodus Typology in Second Isaiah, in: Israel’s Prophetic Heritage (FS J. Muilenburg), hg. von B. W. Anderson/W. Harrelson, New York 1962, 177–195; auch C. STUHLMUELLER, Creative Redemption in Deutero-Isaiah (AnBib 43), Rom 1970, wo allerdings merkwürdigerweise unser Text übergangen wird.
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Üblicherweise wird diese Frage dahingehend beantwortet, dass die Entgegensetzung als Steigerung und Überbietung gedeutet wird11. Dass damit grundsätzlich das Richtige ausgesagt ist, kann nicht zweifelhaft sein, wohl aber kann man fragen, ob die Härte der Verneinung mit dieser Charakterisierung ausreichend wiedergegeben wird. Immer wieder aufgefallen ist, dass Jes 52,11f. in einer für deuterojesajanische Texte ganz ungewöhnlichen Weise kultische Sprache aufgreift. Dem korrespondiert, dass in 52,12 mit חפזוןein Begriff verneint wird, der nicht nur allgemein der Exodustradition zugehört, sondern an beiden anderen Stellen, an denen er außerhalb von Jes 52 belegt ist, als terminus technicus innerhalb der Passaliturgie begegnet. Der Begriff der „hastigen Eile“ bezieht sich in ihr einerseits auf die ständige Aufbruchsbereitschaft der Feiernden (Ex 12,11 P), andererseits auf das ungesäuerte Brot als das „Brot des Elends“, wie es in der Hetze der Gefahr gegessen wird (Dtn 16,3). Mit der Erfahrung der Errettung werden beim Passafest die Gefühle von Angst und Bedrohung vergegenwärtigt. Die Feiernden durchleben noch einmal die Lebensgefahr ihrer Vorfahren. Ebendies wird beim zweiten Exodus nicht nur im Sinne einer Steigerung, sondern grundlegend anders werden. Wie Deuterojesaja andernorts das neue Heil Gottes in der Kategorie der Neuschöpfung und der totalen Umgestaltung der Natur (Jes 43,16ff. u.ö.) schildern kann, so kann er umgekehrt die Erfahrung des Exils als einmalig und unwiederholbar beschreiben, analog der Einmaligkeit der Sintflut (54,9f.). Es hängt mit dieser Sicht „des Früheren“, das es endgültig zu vergessen gilt (43,18), zusammen, dass die zukünftigen Generationen den zweiten Exodus nicht wie den ersten vergegenwärtigen werden. Der erste Exodus hält eine grundlegende Rettungserfahrung fest, die in Israels Geschichte vielfältige Bestätigung fand; der zweite Exodus wird nicht eine weitere solche Bestätigung bieten, und sei es in äußerster Steigerung, sondern einen Einschnitt der Geschichte, der schlechterdings unüberholbar ist. Mit dem Exil endet alle Erfahrung des Zornes Gottes (54,9f.); zugleich wird sich im Aufbau Jerusalems die Überwindung des Chaos vollenden (44,28). Der zweite Exodus vollzieht sich in Gestalt einer feierlichen Prozession mit dem Ziel der endgültigen Rückkehr in Jahwes Land. Mit der Trennung von „Unreinem“ wird der radikale Neubeginn in der Heimat vollzogen – in Jerusalem wird es keinen „Unreinen“ mehr geben (52,1). Ebenso wird es keinerlei Gefahr mehr geben können, weil Jahwe Vorhut und Nachhut bildet: auf dem Weg zu seinem uneingeschränkten und unüberbietbaren Königtum „vor den Augen aller Völker“ (52,7–10).
11 Vgl. z.B. ANDERSON, Exodus Typology, a.a.O. (Anm. 10), 190ff.; PREUSS, Deuterojesaja, a.a.O. (Anm. 10), 43.
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4. Den bei weitem anstößigsten Beleg für die Umkehrung einer Heilstradition – in diesem Falle einer prophetischen Heilsverheißung – im Alten Testament bietet Joel 4. Die herrliche Verheißung von den Völkern, die nach ihrer Wallfahrt zum Zion, der sichtbarlich zum Gottesberg erhöht worden ist, vom Gotteswort überzeugt, ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden – als Zeichen der Bedeutung doppelt in der Prophetie des Alten Testaments überliefert (Jes 2,2–4; Mi 4,1–4) –, hat nicht erst die Jugend der ehemaligen DDR in den vergangenen Jahren bewegt, sondern viele Menschen zuvor, freilich diese Jugend besonders eindrücklich. Und das mit Recht, will doch diese Verheißung etwas Letztgültiges sagen, insofern sie ältere Zionpsalmen bewusst überbietet, denen zufolge die Völkerwelt als verkörperte Chaosmacht gegen den Zion anstürmt, freilich gegen den Ort der Gotteswohnung nichts auszurichten vermag, sondern bei ihrem ersten Anblick (Ps 48,5–7) bzw. beim Ertönen der Stimme Jahwes (Ps 46,7; 76,6f.) in panischem Schrecken flieht. In den Zionpsalmen ist es Gott, der die Waffen der feindlichen Völker zerstört (Ps 46,10; 76,4), in der Verheißung von Jes 2 und Mi 4 erledigen dies die vom Gotteswort belehrten Völker selber. Dass beide Textkomplexe im Zusammenhang miteinander gelesen werden wollen, verdeutlicht am klarsten das an den Kontext des Chaoskampfes erinnernde Verb „strömen“ (Wurzel )נהר, mit dem in Jes 2,2 und in Mi 4,1 die Wallfahrt der Völker umschrieben wird. Es lässt noch erahnen, dass die Völker, deren Planen nach Jes 2 und Mi 4 vom Gotteswort gewandelt wird, einmal Feinde Gottes und Israels waren. Was aber kann dann der prophetische Aufruf in Joel 4,10, Pflugscharen zu Schwertern umzuschmieden, besagen wollen? Ist er ein Rückschritt hinter Jes 2 und Mi 4 in einer negativen Überbietung der Zionpsalmen? So gewiss jedoch Joel 4 bewusst auf Jes 2 par. Mi 4 reagiert und diese Verheißung voraussetzt12, so gewiss will das Kapitel nicht einfach den Gegensatz zu der Verheißung bieten. Anders als das viel grundsätzlicher urteilende Stück Jes 2 par. Mi 4 spricht das Kapitel Joel 4 in eine konkrete historische Situation hinein, in der die Völker schwere Schuld gegenüber Jahwe und Israel auf sich geladen haben; beispielhaft wird sie in V.2f. so charakterisiert: Sie haben (Israel) unter die Völker zerstreut, haben mein Land entweiht, über mein Volk das Los geworfen, Knaben für Huren eingetauscht, Mädchen für Wein verkauft und vertrunken.
12 Vgl. den Nachweis bei S. BERGLER, Joel als Schriftprophet (BEAT 16), Frankfurt a.M. 1988, 26–29.
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Diese Aufzählung will mit ihrer Hervorhebung der Missachtung göttlicher Ordnungen („mein Land“, „mein Volk“) und der menschenverachtenden Behandlung von Kriegsgefangenen deutlich ein Äußerstes an Schuld darstellen. Es ist dementsprechend die Vorstellung des Gottesgerichts, die das Kapitel prägt, und zwar sowohl zu Beginn als auch im Zentrum, und die Ortsangabe des Geschehens spricht mit ihrem Namen Josaphat, „Jahwe hält Gericht“ (V.2.12), für sich. Zwischen die beiden Ankündigungen des Gottesgerichts (V.2.12) tritt mit den Versen 9–1113 nun aber die sehr andersartige Vorstellung einer Entscheidungsschlacht, zu der die Völker aufgerufen werden. Dieses Nebeneinander könnte jedoch nur den überraschen, der nichts von der vorgeprägten Konzeption eines Kampfes der Völker gegen Jerusalem mit dem Zweck der eigenen Vernichtung wüsste, wie sie besonders die spätere Jesajaüberlieferung (Jes 8,9f.; 17,12–14; 29,5ff.), Ez 38–39 und Deuterosacharja (Sach 12,2ff.; 14) prägt14. Die Entscheidungsschlacht im Tale Josaphat ist die Weise, auf die die Völker gerichtet werden. Die Souveränität Jahwes über die Völker könnte nicht schärfer herausgestellt werden als dadurch, dass er seine Feinde auch noch in ihren bösen Plänen, die gegen ihn selbst gerichtet sind, leitet. Wenn nun die Völker in ihrer Vorbereitung der Entscheidungsschlacht ihre „Pflugscharen zu Schwertern“, ihre „Rebmesser zu Lanzen umschmieden“ (4,10), dann ist mit der totalen Mobilmachung eine letzte denkbare Stufe ihrer Bosheit erreicht, die doch gleichzeitig schon Teil des sich vollziehenden göttlichen Vernichtungsgerichtes ist. Die Waffen, die in den Zionpsalmen die Völker nicht vor der Flucht am Gottesberg bewahren können und die die von Jahwes Wort gewonnenen Völker zu Ackergeräten umschmieden (Jes 2 par. Mi 4), sind in der Umkehrung dieser Verheißung in einer ironischen Steigerung ins Absurde zum unüberbietbaren Symbol menschlicher Hybris geworden. Abgründigerweise sind sie gleichzeitig – und nicht erst in einem zweiten Schritt – zum Symbol unrettbarer menschlicher Verlorenheit geworden, richten sie sich doch letztlich gegen ihre Träger, insofern die Totalität der Bewaffnung die Totalität der eigenen Vernichtung widerspiegelt. In einer wesentlichen Hinsicht kommen Jes 2 par. Mi 4 und Joel 4, obwohl sie auf den ersten Blick das genaue Gegenteil des jeweils anderen Textes zu sagen scheinen, einander erstaunlich nahe. Das Misstrauen gegenüber den Waffen ist ihnen gemeinsam, die Überzeugung, dass Waffen gegen Gott schlechterdings nichts auszurichten vermögen 15 . Ja, Joel 4 geht darin noch 13
Die prosaischen Verse 4–8 sind anerkanntermaßen literarischer Zuwachs. Vgl. bes. Jes 8,9f., wo die Völker wie in Joel 4,9ff. zum Kampf aufgefordert werden, sowie die Belege und ihre Wertung bei H.-M. LUTZ, Jahwe, Jerusalem und die Völker (WMANT 27), Neukirchen-Vluyn 1968, passim. Der Form der „Aufforderung zum Kampf“ ist R. BACH in seiner Monographie „Die Aufforderung zur Flucht und zum Kampf im alttestamentlichen Prophetenspruch“ (WMANT 9), Neukirchen-Vluyn 1962, 51ff. nachgegangen. 15 Das hat bes. H. W. WOLFF, Schwerter zu Pflugscharen – Mißbrauch eines Prophetenwortes?, EvTh 44 (1984) 280–292; 281 hervorgehoben. 14
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über Jes 2 par. Mi 4 hinaus, dass der geradezu widergöttliche Charakter des Anhäufens von Waffen betont wird. Allerdings bleibt jenseits dieser Gemeinsamkeit ein unvereinbarer Gegensatz in der jeweiligen Einstellung zur Völkerwelt bestehen, wie er bekanntlich in der Spätzeit des Alten Testaments nicht auf diese beiden Texte beschränkt ist. Er hängt mit der jeweiligen Gesamtintention der Texte im Blick auf Israel zusammen: Jes 2,5 und Mi 4,5 wollen das Gottesvolk auffordern, die Erkenntnis der Völker im eigenen Handeln schon vorwegzunehmen16, Joel 4 will das Gottesvolk trösten, dass Gott der Unterdrückung seines Volkes wehren und den Tag seines Gerichts, den frühere Propheten ankündigten, an den Schuldigen wahrmachen wird; zu ihnen kann allerdings auch Israel selber gehören, wenn es sich nicht am gegenwärtig schon anbrechenden „Tag Jahwes“ zu Jahwe hält (Joel 2).
5. Keiner der Belege im Alten Testament, die auf eine vorgegebene Heilstradition Bezug nehmen und sie umkehren, will einfach das Gegenteil dieser Tradition sagen, schon gar nicht ihre Aussage bestreiten. Vielmehr ist gerade umgekehrt die Intention vieler Belegstellen, den Wert und die Gültigkeit der überkommenen Tradition dadurch herauszustellen, dass sie bis in ihr sachliches Gegenteil weitergedacht wird. In der überwiegenden Mehrzahl der Stellen geht es dabei um die Identität Jahwes. Er hört nicht auf, Jahwe zu sein, wenn er als Heerführer der Feinde statt früher als Heerführer Israels erscheint, wenn er statt ehemals durch die Ägypter nun durch Israel todbringend „hindurchschreitet“ (Am 5,17), wenn er das Israel, das er einst durch seinen Ruf aus Ägypten heraus schuf, als schuldiges wieder nach Ägypten zurückstößt (Hos 8,13; 9,3). Im Gegenteil: Es ist das Anliegen aller sogenannten klassischen Propheten, das Volk davor zu bewahren, dass es Jahwe durch einseitige, statische Deutung der Tradition zum Heil garantierenden Götzen degradiert. Vielmehr gilt es ihrer Auffassung nach, die unüberbietbare Macht Jahwes, die Israel am Anfang heilvoll zu seiner Rettung erfuhr, auch als Macht des Richters zu wissen, der ein Gottesvolk, das an der eigenen Macht Genüge hat und seiner nicht mehr bedarf, nicht nur beiläufig zur Rechenschaft zieht, sondern aus dem Bereich seines Heils hinausstößt, d.h. in die prinzipiell rettungslose Verlorenheit, in den Tod gibt. Die Identität Jahwes ist gleicherweise das zentrale Problem der Psalmenparodien in Hi 7 und des Hiobbuches im Ganzen. Die Frage, wie die grenzenlose Güte Gottes, von der die Psalmen reden, die Hiob aber von Geburt an auch selber erfahren hat (Hi 10,8ff. u.ö.), und der jedes Maß sprengende Zorn Gottes, der Gute wie Böse blindwütig schlägt und tötet, zusammenzudenken und 16
A.a.O., 288f.
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zusammen auszuhalten sind, prägt das Buch in seinen zentralen Passagen. Sie findet ihren Höhepunkt in den Worten der „Gewissheit der Erhörung“, in denen Hiob an den Gott des Rechts gegen den Gott der Willkür und des Zornes appelliert (16,18ff.; 19,23ff.). Letztlich geht es auch in den exilisch-frühnachexilischen Prophetentexten, die ein die Tradition überbietendes Handeln Jahwes erwarten, um die Identität Jahwes, nun aber in dem Sinne, dass er mit seinen Möglichkeiten noch nicht am Ende ist, wo man ihn nur in den starren Grenzen der Tradition handelnd erwartet; vielmehr gilt es, Gott als den Schöpfer von völlig Neuem am Werk zu sehen, der den Menschen umgestaltet (Jer 31,31ff.) und seinem eigenen Strafhandeln neue Grenzen setzt (Jes 54,9f.). Joel beharrt demgegenüber darauf, dass entscheidend Gottes Treue sein Handeln bestimmt und die Diskontinuität seiner Taten durch die Schuld der Menschen hervorgerufen wird, wie denn in der grauenhaften Heuschreckenplage der Gegenwart die Unbußfertigkeit Israels die Rettung des Gottesvolkes verhindern könnte (Joel 2). Unerschütterlich gewiss aber ist dem Propheten, dass Gott das Wort seiner früheren Boten wahrmacht und insbesondere den so vielfältig angesagten „Tag Jahwes“ kommen lassen wird, an dem die Völkerwelt dem Untergang geweiht ist. So gewiss sich Joel mit Jes 2 par. Mi 4 in der Einschätzung der Waffen grundsätzlich einig ist, so gewiss vermag er aufgrund seines Denkens vom Konzept des „Tages Jahwes“ her die Hoffnung jener Worte für die Völkerwelt nicht zu teilen. Muss man von daher urteilen, dass wenigstens Joel 4 – im Gegensatz zu allen anderen behandelten Belegen – die Aussage seines Bezugstextes bestreiten wollte? Undenkbar erscheint mir diese Vermutung nicht, da es im Vergleich von Jes 2 par. Mi 4 mit Joel 4 um das Handeln der Völker geht, in den anderen Belegen aber jeweils um die Taten Jahwes. Wahrscheinlich kann man die Vermutung dennoch schwerlich nennen, da uns ein solcher Schriftgebrauch sonst nicht belegt ist. Näherliegend erscheint mir die Annahme, Joel 4 wolle mit der betonten Umkehrung von Jes 2 par. Mi 4 einer schuldigen Völkerwelt ihren Untergang am „Tag Jahwes“ aufgrund der endgültig verpassten Chance ihrer Gotteserkenntnis ansagen. Ist Joel mit der Mehrzahl gegenwärtiger Exegeten ins 4. Jh. anzusetzen17, lägen in der ausgehenden Perserzeit genügend geschichtliche Erfahrungen für ein solches Urteil vor. Aber natürlich bleibt eine solche Vermutung spekulativ.
17
Vgl. J. JEREMIAS, Art. Joel/Joelbuch, TRE 17 (1988) 91f.
23. Gelehrte Prophetie Beobachtungen zu Joel und Deuterosacharja Die alttestamentliche Prophetie hat in ihrer mehr als achthundertjährigen Geschichte zahlreiche Wandlungen durchlaufen. Zwischen den Ekstatikergruppen zur Zeit Sauls, die sich mittels Musik in eine Begeisterung versetzten, die auf Menschen in unmittelbarer Nähe ansteckend wirkte und sie ihrer Zurechnungsfähigkeit entnahm, so dass sie „andere Menschen“ wurden (1Sam 10,6; vgl. 19,20–24), und etwa den Anklagen gegen Gott in den sog. Konfessionen des Propheten Jeremia liegen Welten. Kaum geringer ist der sachliche Abstand zwischen diesen emotionalen Gebeten eines Propheten und einem rationalen prophetischen Text der Spätzeit wie Sach 14, der Gottes Zukunftsplan über das Gottesvolk und die Völkerwelt in mehreren komplexen Stadien enthüllt. Unter den vielfältigen Wandlungen in der Geschichte der Prophetie in Israel sind drei Einschnitte als gravierend, ja als fundamental zu betrachten. Die beiden ersten hat man in ihrer kaum zu überschätzenden Wirkung stets gewürdigt, den dritten dagegen, von dem hier die Rede sein soll, in seinem Gewicht eher unterschätzt. Den ersten und wohl gewichtigsten Einschnitt stellt die Entstehung von Büchern dar, in denen die Worte eines Propheten von Tradenten systematisch gesammelt, auf ihre wesentlichen Inhalte begrenzt und zugleich aufeinander bezogen wurden1. Ob nun das Hosea- oder das Amosbuch als das ältere zu gelten hat, ob beide Vorstufen in Gestalt von Teilsammlungen kannten oder nicht: Offensichtlich hängt die Entstehung dieser neuen Gattung sowohl mit dem gewachsenen Anspruch der Propheten, mit ihrem Gotteswort das Geschick des gesamten Volkes zu bestimmen, als auch mit der Ablehnung ihrer Worte durch ihre Zeitgenossen zusammen, vor allem aber mit der frühen Beglaubigung ihrer Worte durch den Fall Samarias. Wie immer es sich damit verhält, fest steht, dass sich die Bedeutung der Prophetenworte mit ihrer Schriftlichkeit erheblich veränderte. Jetzt wurden sie etwa von Lesern zur Kenntnis genommen, die dem Propheten schon nicht mehr begegnet waren und seine Worte in ihre gewandelte Lebenssituation übersetzen mussten. Worte, die mündlich an bestimmte Berufsstände gerichtet 1 Als solchen wertet ihn die jüdische Tradition, die mit ihm die „früheren Propheten“ enden und die „späteren Propheten“ beginnen lässt.
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waren, sei es Bauern, Richter oder Priester, wurden nun von Menschen gelesen, die nicht zu diesen Ständen gehörten; Worte, die die konkrete Schuld einer Einzelsituation benannten, wurden von Menschen gelesen, die fähig waren, diese Schuld zu generalisieren bzw. sie auf andere Lagen zu übertragen. Als schriftlicher Text gewann das mündliche Prophetenwort auf diese Weise einen Doppelcharakter: Einerseits blieb es unlöslich an die historische Stunde gebunden, in der es ausgesprochen wurde – bei Ezechiel und Sacharja werden gelegentlich außer dem Jahr auch Monat und Tag des Ausspruchs penibel notiert –, weil es sich einem bestimmten Auftrag verdankte, der an unverwechselbare Menschen auszurichten war; andererseits blieb es als Text nicht an diese Ursprungsstunde gebunden, sondern erhob Anspruch auf Gültigkeit auch an spätere Leser, die es für ihre andersartige Zeit aktualisieren mussten. Ein zweiter, kaum weniger gewichtiger Bedeutungswandel in der Geschichte der Prophetie war mit der Zerstörung Jerusalems und seines Tempels sowie der Verbannung der geistigen und handwerklichen Oberschicht nach Babylon gegeben. Jetzt wurden die älteren prophetischen Texte, die zuvor nur in der kleinen Schar der Anhänger und Sympathisanten der Propheten tradiert worden waren, zur Orientierungshilfe für breite Schichten, die mit Hilfe dieser Texte die eingetretene Katastrophe als göttliches Strafgericht an Israel statt als Schwäche Jahwes gegenüber Marduk oder als Verwerfung Israels zu deuten vermochten. Zugleich ergab die Orientierung an den Worten der sog. Gerichts- oder Unheilspropheten, dass die Stimmen anderer Propheten aus den kontroversen Jahren des beginnenden 6. Jh.s v. Chr. aus dem Prozess der Weitergabe eliminiert wurden, etwa diejenigen der Gegner der Propheten Jeremia und Ezechiel; die schriftliche Überlieferung prophetischer Texte hatte eine eindeutige hermeneutische Leitlinie gefunden. Vor allem aber waren die Propheten der exilischen und frühnachexilischen Zeit ganz anders als ihre Vorgänger genötigt, den erwarteten Heilswillen Jahwes, den sie in den Mittelpunkt ihrer Verkündigung rückten, mit dem erfahrenen göttlichen Strafgericht in Zusammenhang zu bringen, also grundsätzlich über das Verhältnis von Gottes Heils- und Unheilshandeln zu reden. Der dritte und jüngste Einschnitt in der Geschichte der alttestamentlichen Prophetie dagegen, der sich in spätnachexilischer Zeit, also nach dem Wirken Nehemias und Esras, vollzog und dem die folgenden Überlegungen gelten sollen, ist in seiner Eigenart noch kaum wahrgenommen worden. Er ist mit einem stark veränderten Selbstverständnis der Propheten verbunden, das sich primär in drei auffälligen Merkmalen ausdrückt: 1) negativ: Die späten Propheten legitimieren sich selten, wenn überhaupt, durch eine Berufung auf Offenbarung. 2) positiv: Stattdessen legitimieren sie sich durch einen Rekurs auf schriftlich vorliegende ältere Prophetenworte.
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Zur Theologie der Prophetenbücher
3) Diese Auffassung von prophetischer Botschaft gipfelt in der Überzeugung, dass die prophetische Bewegung ihrem Ende entgegengeht.
1. An den spätesten prophetischen Schriften des AT, den Büchern Joel und Deutero- bzw. Tritosacharja (Sach 9–14), fällt zunächst auf, dass sie nur wenige Texte enthalten, die sich explizit auf eine Offenbarung Jahwes berufen2. Dabei ist zu bedenken, dass die Überschriften („Wort Jahwes“ in Joel 1,1 und „Ausspruch. Wort Jahwes …“ in Sach 9,1 und 12,1) traditionellen Mustern folgen 3 und dass sich in beiden Prophetenbüchern mindestens ein unstrittig redaktioneller Vers findet, der feierlich die Gottesspruchformel (Sach 12,4) bzw. die Legitimationsformel „denn Jahwe hat es gesagt“ (Joel 4,8) verwendet. Natürlich sind auch diese Belege von Gewicht, weil sie bezeugen, dass die jüngsten Redaktionen der Prophetenbücher die oft beobachtete Tendenz verfolgen, Offenbarungsformeln eher gehäuft zu verwenden. Sie lassen den gegenteiligen Befund in den hier behandelten Prophetenbüchern allerdings eher als noch auffälliger erscheinen. Nur kurz berührt sei der jeweils eine Beleg in beiden Prophetenbüchern, in dem ein Rekurs auf eine explizite Gottesrede aus formgeschichtlichen Gründen unumgänglich war. In Joel 2,19 wird das Erhörungswort Jahwes, das auf das vorangehende kollektive Gebet Israels am allgemeinen Bußgottesdienst (2,17) antwortet, feierlich eingeführt. In Sach 11,4ff. wird die Form einer Beauftragung zur prophetischen Zeichenhandlung aufgegriffen und abgewandelt; sie wird naturgemäß durch Berufung auf einen göttlichen Auftrag eingeleitet. Nach Abzug dieser – für unsere Fragestellung unergiebigen – Ausnahmen verbleiben in beiden Büchern jeweils zwei Belege, die einen je einheitlichen Gebrauch der Boten- bzw. Gottesspruchformel belegen. Im Buch Joel dienen beide dazu, schon vorliegende ältere Gottesworte zu zitieren, um deren Gültigkeit auch für die Gegenwart des Propheten hervorzuheben, also nicht, um aktuelle neue Gottesworte zu legitimieren. In Joel 2 ergeht auf dem Höhepunkt der Schilderung der furchtbaren Nöte des „Tages Jahwes“, die vom göttlichen Heer und letztlich von dessen Befehlshaber heraufgeführt werden, der überraschende Aufruf: „Doch auch jetzt noch (gilt) der Spruch Jahwes: 2 Unberührt von dieser Tatsache ist der für die Spätzeit typische nahtlose Übergang von Propheten- in Gottesrede und umgekehrt. 3 Vgl. zuletzt bes. A. SCHART, Die Entstehung des Zwölfprophetenbuchs (BZAW 260), Berlin/New York 1998, 31ff.; K. KOCH, Profetenbuchüberschriften, in: Verbindungslinien (FS W. H. Schmidt), hg. von A. Graupner/H. Delkurt/A. B. Ernst, Neukirchen-Vluyn 2000, 165–186.
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,Kehrt um zu mir mit eurem ganzen Herzen‘: mit Fasten, Weinen und Klagen!“ (V.14) Vermutlich sind bei dem Zitat insbesondere Dtn 4,29f. und 30,2 im Blick4, wo jeweils die „Umkehr (bis) zu Jahwe“ durch die Wendung „mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele“ präzisiert wird, die Joel seinerseits mit Begrifflichkeit aus dem Fastengottesdienst, zu dem V.15 aufruft, verdeutlicht. Durch Gottes drohendes endzeitliches Heer ist seine früher ergangene Einladung zur „Umkehr“ nicht außer Kraft gesetzt worden5. Noch eindeutiger wird in Joel 3,5 mit der Wendung „wie Jahwe gesagt hat“ („denn auf dem Berg Zion und in Jerusalem wird es Verschonung geben, wie Jahwe gesagt hat“) die bleibende Gültigkeit früherer Zusagen, hier aus Ob 17, festgehalten, und zwar wiederum trotz der Gewissheit der bevorstehenden Nöte des „Tages Jahwes“. Etwas anders, in der Tendenz aber dennoch ähnlich, wird die Gottesspruchformel in Sach 13,2 und 8 verwendet. Hier dient sie am ehesten der Hervorhebung von Aussagen des Textes, die die vorgegebene prophetische Tradition überschreiten, nach Meinung des prophetischen Verfassers des Textes jedoch in der Konsequenz dieser Tradition liegen. Da einer der beiden Belege am Schluss der Ausführungen ausführlich berührt wird6, belasse ich es hier bei dieser Andeutung. In jedem Fall aber gilt sowohl für das Buch Joel als auch für Sach 9–14: Gottesspruch- und Botenformel begegnen auffällig selten und dienen offensichtlich nicht zur primären Legitimation der Propheten. Vielmehr dient dazu ihr Rückgriff auf ältere Prophetenschriften.
2. Wie sieht nun dieser legitimierende Schriftgebrauch in den späteren Prophetenbüchern aus? Um der Komplexität der Bezüge auf ältere Prophetentexte willen beschränke ich mich im Folgenden auf das Joelbuch und in ihm auf das konzeptionell Wesentliche, unter Verzicht auf alle Einzelheiten. Das Buch Joel hat letztlich nur ein einziges Thema: den „Tag Jahwes“. In allen vier Kapiteln des Buches begegnet an zentraler Stelle der Terminus „Tag Jahwes“, der in anderen Prophetenschriften, wenn überhaupt, nur je einen Teilkontext des Buches prägt. Fragt man Joel, was denn der Tag Jahwes sei, so antwortet er mit einer Fülle von Zitaten: Es ist der Tag eines übermächtigen Gottesheeres, ein Tag der Finsternis und des Dunkels, ein Tag der 4
Vgl. A. GRAUPNER/H.-J. FABRY, Art. שׁוב, ThWAT 7 (1993) 1162. Vgl. zur Verbindung von Aufruf zur Umkehr und „Tag Jahwes“ aber auch schon Zeph 2,3 und Am 5,14f. mit 18– 20. 5 Vgl. zur Sache u. Abschnitt 2. 6 Vgl. u. Abschnitt 5.
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Zur Theologie der Prophetenbücher
Verfinsterung des Kosmos (2,1f.10f.). Wesentlich für diesen Tag ist, dass kein Mensch, der von ihm betroffen ist, ihn überlebt. Die Zitate stammen vor allem aus Am 5, Zeph 1 und Jes 13. Im Unterschied zu allen drei Kapiteln, in denen der Tag Jahwes entweder gegen Israel oder aber gegen die Völker gerichtet ist, betrifft er im Buch Joel das Gottesvolk und die Völkerwelt. Das zeigt zunächst, dass Joel der Überzeugung ist, dass keines der zitierten prophetischen Worte vom Tag Jahwes schon (etwa 586 v. Chr.) erfüllt ist, sondern dass sie der eigenen Generation gelten. So weit ist seine Aktualisation ein üblicher Vorgang; ähnliche hermeneutische Aktualisierungen bestimmen eine Fülle von Fortschreibungen prophetischer Texte. Aber der Tag Jahwes bei Joel ist in vielerlei Hinsicht völlig anders konzipiert als bei Amos, Zephanja oder in Jes 13. Ich beschränke mich auf den entscheidenden Aspekt. Der Tag Jahwes bei Joel ist zerdehnt in zwei Stadien des Schreckens, wie es vor dem Joelbuch nie belegt ist. In Kap. 1 wird über eine plötzlich hereingebrochene Heuschreckennot geklagt, die die Bauern in Verzweiflung führt und allen Gottesdienst unmöglich macht, bis in V.15, der Jes 13,6 fast wörtlich aufgreift, mit dem Tag Jahwes, völlig unerwartet für den Leser, eine Perspektive eröffnet wird, die die erfahrene Not aller Vergleichbarkeit mit ähnlichen Nöten entreißt. Wenn nun Kap. 2 von Anfang an vom Begriff des Tages Jahwes geprägt ist, so ist damit eine andere zeitliche Kategorie als in Kap. 1 impliziert, die unmittelbar bevorstehende Zukunft, geprägt durch ein endloses Heer, das gegen den Zion anrückt und nicht aufzuhalten ist; jeder Widerstand gegen es ist vergeblich. Die alte Streitfrage, ob mit diesem Heer die Heuschreckenthematik des Anfangskapitels in Steigerung fortgeführt wird (W. Rudolph) oder aber eine neue Dimension der Gefahr anvisiert ist, in Gestalt eines apokalyptischen Heeres (H. W. Wolff), lässt sich nicht im Sinne einer strikten Alternative beantworten. Für Wolff spricht, dass in Kap. 2 eine völlig andersartige Traditionssprache gebraucht wird als in Kap. 1, für Rudolph spricht, dass teilweise bewusst Begriffe und Wendungen gewählt werden, die Kap. 2 mit Kap. 1 verzahnen. Es handelt sich um die grandiose Sprache eines Dichters, der die Transzendenz der gegenwärtigen Erfahrung sprachlich aufweisen möchte. Wie immer es sich damit verhält, als der Prophet in 2,12ff. die Gemeinde vom jüngsten bis zum ältesten Glied zusammenruft, weil nur ein Gottesdienst die Wende der Not bringen kann, und er mit dem Bekenntnis zu Jahwes Barmherzigkeit und mit dem berühmten prophetischen „Vielleicht“, das Raum für einen Willenswandel Gottes lässt, die Zusage Jahwes erwirkt, dass die Heuschreckennot zu Ende geht, bleibt dem Leser eine doppelte Gewissheit: Zum einen ahnt er, dass die Heuschreckennot zum Tag Jahwes hätte werden können und damit, um mit Amos zu sprechen, zum „Ende Israels“ (Am 8,2), zum anderen, dass mit der Erhörung des Gebets der Gemeinde durch Jahwe zwar die Heuschreckennot abgewehrt ist, nicht aber die Drohung des Tages Jahwes generell. Sie bleibt, aber sie ist keine akute mehr für die
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gegenwärtig lebende Generation. Israel hat sich vorbildlich verhalten. Wenn ihm auch die Gewissheit des kommenden Tages Jahwes bleibt, so ist doch dessen drohende Nähe vorerst beseitigt. In dieser Zerdehnung bzw. Zweistufigkeit des Tages Jahwes liegt das Hauptanliegen Joels, wie insbesondere der Eingang des Joelbuches zeigt. Joel 1,2f. blickt offensichtlich schon auf die geschehene Wende der Heuschreckennot zurück, wenn er die Ältesten als die Hauptverantwortlichen und die gesamte Bewohnerschaft des Landes so dringlich zur Überlieferung der analogielosen Erfahrung auffordert und das in einer Sprache tut, die mit dem Verb „erzählen“ ( ספרpi.) Sprache des gottesdienstlichen Dankliedes aufgreift. Durch 1,2f. wird der Bußgottesdienst von 2,12ff. für die kommende Generation zum Modell: Die Dringlichkeit der erzählenden Weitergabe gründet in der Dringlichkeit des Tages Jahwes. Woher stammt diese konzeptionelle Zerdehnung der Thematik des Tages Jahwes in zwei Stadien, wie sie nie vor dem Buch Joel belegt ist? Sie bringt starke Veränderungen mit sich, insofern sie Jahwe die Möglichkeit einräumt, sein letztes Gericht hinauszuzögern, und Israel die Möglichkeit einräumt, diesem Gericht zu entrinnen. Ich sehe drei Quellen: 1) Die berühmte sog. Dürreliturgie in Jer 14,1–15,4 – eher eine literarische Nachahmung einer solchen Liturgie als ihre unmittelbare Widerspiegelung7 – verläuft ebenfalls in zwei Stadien. Wie in Joel 1 steht am Anfang eine Notschilderung über eine schon eingetretene Dürre, die von der Bevölkerung mit Entsetzen erfahren wird (V.2–6), an die sich in V.7–9 ein kollektives Schuldbekenntnis und eine kollektive Vertrauensäußerung anschließen, die vom Propheten stellvertretend als Fürbitte gesprochen werden. In V.10–16 erfolgt die Antwort Gottes, freilich in einer ungewöhnlichen Härte: Das Gebet des Volkes wird aufgrund seiner Schuld abgewiesen, die prophetische Fürbitte wird im Blick auf das unaufhaltsame Gericht verboten und eine Steigerung der Not in Gestalt von Schwert, Hunger und Pest angekündigt. Überraschenderweise erfolgt in V.17f. noch einmal eine prophetische Klage mit einer Notschilderung, nur dass die beklagte Not jetzt prophetisch geschaute Erfahrung von Schwert und Hunger beinhaltet. Wieder schließt sich ein kollektives Klagegebet mit einem Schuldbekenntnis (V.19–22) an, bevor in 15,1–4 Gottes Abweisung des Gebetes in denkbar harter und endgültiger Weise und die Ansage des Untergangs Israel erfolgt. Was soll der doppelte Durchgang durch Notschilderung, Schuldbekenntnis und göttliche Abweisung des Gebetes? Im Gedankengang der Liturgie wird Israel verdeutlicht, dass das Maß seiner Schuld voll und die Geduld Gottes am Ende ist. Die erfahrene Dürre, über die es klagt, erfährt nicht nur keine Wende, sondern ist Anfang 7
Vgl. etwa G. WANKE, Jeremia 1,1–25,14 (ZBK 20/1), Zürich 1995 z. St. Eine detaillierte Auswertung der Formparallele bietet S. BERGLER, Joel als Schriftprophet (BEAT 16), Frankfurt a.M. 1988, 111ff.
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eines viel furchtbareren und endgültigen Gerichts, bedeutet seinen Untergang8. 2) Sachlich noch näher als Parallele zum Joelbuch liegt der schon genannte Text Jes 13, der den Tag Jahwes gegen die Völker ankündigt und im Jesajabuch ein zentrale hermeneutische Stellung einnimmt, insofern er als Einleitung des zweiten Teiles des Jesajabuches dient. Schon in diesem Kapitel wird der Tag Jahwes doppelt, d.h. zweistufig entfaltet: in V.6–8 traditionell mit der Beschreibung furchtbarer Kriegsschrecken, in V.9–13 steigernd mit der Schilderung der Verdunklung und des Zusammenbruchs des Kosmos aufgrund des Zornes Jahwes. Dabei ist die Zweistufigkeit in Jes 13 am ehesten so gemeint, dass V.6–8 den Erwartungen der Leser über den Verlauf des Tages Jahwes entspricht, V.9–13 dagegen sie weit überbietet und mit dem Hinweis auf Gottes Zorn als auslösende Kraft theologisch untermauert9. 3) Die wohl wichtigste Quelle für den zweistufigen Gebrauch der Vorstellung des Tages Jahwes aber ist das komplexe Gottesbild des Propheten, das sich seinerseits ganz der älteren Prophetie verdankt. Schon mehrfach aufgefallen ist, dass Joel – im Unterschied besonders zu Jer 14 – nirgends auch nur mit einer Andeutung von einer Schuld Judas spricht 10 . Für das Joelbuch kommt der Tag Jahwes nicht, weil Juda große Schuld auf sich geladen hat, sondern um Judas ungeteilte Hingabe an Jahwe zu prüfen. Gott muss den Tag Jahwes bringen – aufgrund der großen Schuld der Völker, vor allem an Israel selber (Joel 4,1ff.) –, aber es bleibt die Frage, ob Israel selber zur massa perditionis gehören wird. Gott muss zwar den Tag Jahwes bringen – aber er möchte zugleich sein Volk retten. Durch die Härte der Notvorstellungen aufgrund von Heuschrecken, Dürre und Krieg hindurch schafft sich Gottes Mitgefühl im Buch Joel ständig verborgenen Raum. Am offensichtlichsten geschieht das dadurch, dass im Zentrum des Joelbuches das klassische Bekenntnis zu Jahwes Güte und Barmherzigkeit aus der Spätzeit des Alten Testaments aufgegriffen und in den Mittelpunkt gestellt wird: „Gnädig und barmherzig ist er, langsam im Zorn, aber reich an Güte“ (2,13). Es geschieht weiter dadurch, dass dieses Bekenntnis im Blick auf die ersten beiden Visionen des Amosbuches (Am 7,1–6) ergänzt wird: „und lässt sich das Unheil leid tun“. Gott kann auch dann, wenn er sein Unheil schon geplant hat, es noch zurücknehmen, ist nicht 8 Eine ähnliche zweistufige (literarische) Liturgie bietet vermutlich ursprünglich Hab 1; vgl. J. JEREMIAS, Kultprophetie und Gerichtsverkündigung in der späten Königszeit Israels (WMANT 35), Neukirchen-Vluyn 1970, 75ff. 9 Vgl. zum näheren Nachweis B. M. ZAPFF, Schriftgelehrte Prophetie. Jes 13 und die Komposition des Jesajabuches (fzb 74), Würzburg 1995, 125ff. und J. JEREMIAS, Der „Tag Jahwes“ in Jes 13 und Joel 2, in: Schriftauslegung in der Schrift (FS O. H. Steck [BZAW 300]), hg. von R. G. Kratz/Th. Krüger/K. Schmid, Berlin/New York 2000, 129ff. 10 Vgl. etwa R. SMEND, Die Entstehung des Alten Testaments (ThW 1), Stuttgart 41989, 171f.
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an seinen eigenen Plan gebunden. Es geschieht weiter dadurch, dass in zahlreichen Hinweisen in Joel 1–2 das Suffix der 1. Pers. sing. in einer Gottesrede Jahwes Mitgefühl mit dem Unglück Israels ausdrückt: In Joel 1,6f. verwüsten die mit Löwen verglichenen Heuschrecken „meinen Weinstock“ und „meinen Feigenbaum“, und in 2,1 zieht das furchtbare Heer der Endzeit gegen „meinen heiligen Berg“. In gleicher Weise appelliert das von Joel zusammengerufene Volk in seinem Gebet beim Gottesdienst daran, dass es „dein Volk“ und „dein Erbteil“ ist (2,17). Stärker könnte nicht zum Ausdruck gebracht werden, wie sehr Gott selber von seinem Tag und dem furchtbaren Gericht, das er heraufführt, betroffen ist. Woher stammt dieses Gottesbild, bei dem sich härteste Untergangsansage an Gottes Volk mit intensivem Mitleid mit diesem Volk verbindet? Es ist breit in der exilischen und frühnachexilischen Zeit belegt; ich nenne nur die m.E. beiden wichtigsten Quellen: 1) Die dtr Prophetentheologie, nach der Jahwe früh und spät Propheten sendet, um Israel vor seinem Gericht zu warnen11. Sie impliziert die Vorstellung, dass Gott selbst dann, wenn er härtestes Gericht durch die Propheten ansagen lässt, immer noch hofft, dieses Gericht nicht ausführen zu müssen und sein Volk retten zu können. 2) Das Verständnis vom Propheten im Ezechielbuch, nach dem Ezechiel von Gott als Wächter eingesetzt wird, um jedes Glied des Volkes angesichts tödlicher Gefahr zu warnen und selbst mit seinem eigenen Leben dafür einzustehen, dass jeder erreicht wird (Ez 3,12ff.; 33,1ff.). In dieser Beschreibung der Funktion eines Propheten sind die tödliche Gefahr, vor der er warnen muss, und der Auftraggeber, der ihm die Warnung befiehlt, identisch. Deutlicher könnte nicht zum Ausdruck gebracht werden, dass im Sinn dieser Texte Jahwe schon dann, wenn er Unheil plant, hofft, es nicht durchführen zu müssen. Er ist der eine und selbe Gott, der Israel aufgrund seiner Schuld strafen muss, zugleich aber dringlich retten möchte; er ist zugleich der tödliche Bedroher Israels und der gütige, unlöslich an Israel gebundene Gott, der das Gericht verhindern möchte.
3. Ein anderer Aspekt des Schriftgebrauchs der späten Prophetie liegt im Entstehen eines prophetischen Kanons begründet, im Falle des Buches Joel: in den letzten Stadien des werdenden Zwölfprophetenbuches. Ein Beispiel muss genügen. An Joel 1 fällt auf, dass die beklagte Not, die für den Propheten Indiz des nahenden Tages Jahwes ist, seltsam doppelbödig erscheint: Anfangs (V.4.6f.) ist eindeutig ein Heuschreckeneinfall Ursprung der Not, später (V.17–20) 11 Vgl. bes. O. H. STECK, Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten (WMANT 23), Neukirchen-Vluyn 1967, 137ff.
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ebenso eindeutig eine Dürre. Mehrere Verse in der Mitte des Kapitels schillern und sind nicht auf eine dieser beiden Möglichkeiten festzulegen. Dieses Nebeneinander zweier Verursacher der quälenden Not Judas verkompliziert noch einmal das ohnehin schwierige Ineinander von erfahrener Katastrophe und anbrechendem Tag Jahwes in Joel 1–2, von dem zuvor die Rede war. Ältere Forscher haben zum Hilfsmittel der Literarkritik gegriffen, um die beobachtete Spannung zu erklären, haben freilich das angenommene Wachstum des Textes nicht wirklich plausibel zu erklären vermocht12. Konservative Forscher haben gern Naturbeobachtungen bemüht und behauptet, dass Heuschreckeneinfälle oft zu ausgedehnten Dürren führen können13. Nach meiner Überzeugung ist die Lösung des Rätsels andernorts zu suchen. Das Joelbuch steht im Zwölfprophetenbuch unmittelbar vor dem Amosbuch und soll dem verständigen Leser als hermeneutischer Schlüssel zu dessen Verständnis dienen14. Gleichzeitig gilt allerdings, dass das jüngere Joelbuch viel vom älteren Amosbuch gelernt hat. Für unsere Frage wesentlich ist die bekannte Beobachtung, dass die ersten vier Visionsberichte im Amosbuch paarweise angeordnet sind, und zwar so, dass beide Visionenpaare in strenger Opposition zueinander stehen. Erreicht Amos mit seiner prophetischen Fürbitte in den ersten beiden Visionen, dass das tödliche Unheil, das Jahwe auf Israel zukommen lässt, in letzter Stunde von ihm wieder zurückgenommen wird (Am 7,1–6), so muss er im zweiten Visionenpaar lernen, dass die Grenze der göttlichen Geduld erreicht und das „Ende Israels gekommen“ ist (7,7f.; 8,1f.)15, ein Thema, das ein vorauslaufendes Amoswort mit dem „Tag Jahwes“ verbunden hatte (5,18–20). Es ist nun schwerlich zufällig, dass in den beiden Visionen des ersten Paares, bei dem Jahwe seinen Unheilsplan zurücknimmt, Heuschreckeneinfall und (kosmische) Dürre das Thema sind. Mit Heuschrecken und Dürre verbindet sich im Amosbuch folglich eine doppelte Assoziation: zum einen positiv, dass sie das „Ende Israels“ schon in sich tragen, aber noch revozierbar sind, zum anderen negativ, dass ihre Zurücknahme durch Gott noch nicht die Rettung Israels bedeutet, vielmehr die Todesgefahr des Tages Jahwes über einem schuldigen Israel bestehen bleibt. Genauso wenig zufällig ist aber, dass der Bußgottesdienst der Gemeinde zur Zeit Joels, mit dem der drohende Tag Jahwes – einstweilen – abgewehrt wird, sich auf die Erfahrung des Willenswandels Gottes rückbezieht, wie er die beiden ersten Amosvisionen prägt. Hieß es in Am 7 als Folge der prophetischen Fürbitte („Wie soll Jakob bestehen? Er ist doch so klein!“) jeweils: 12
So etwa TH. H. ROBINSON, Die Zwölf Kleinen Propheten (HAT 14), Tübingen ²1954,
59. 13
So selbst W. RUDOLPH, Joel (KAT XIII/2), Gütersloh 1971, z. St. Vgl. etwa A. SCHART, Zwölfprophetenbuch, a.a.O. (Anm. 3), 263ff. 15 Vgl. dazu R. SMEND, Das Nein des Amos, EvTh 23 (1970) 404ff. = DERS., Die Mitte des Alten Testaments. Gesammelte Studien, Bd. 1 (BEvTh 99), München 1986, 85ff., bes. 95f. 14
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„Da reute es Jahwe“ bzw. „da ließ es sich Jahwe leid sein“ ( נחםnif. V.3.6), so wird jetzt das oben zitierte Bekenntnis der alttestamentlichen Spätzeit zu Jahwes Güte („gnädig und barmherzig ist er, langsam im Zorn, aber reich an Güte“ erweitert: „und lässt sich das Unheil leid sein“ [Joel 2,14, wohl Zitat aus Ex 32,14])16. Über das tradierte Bekenntnis hinaus, das das Ungleichgewicht zwischen Güte und Zorn in Gott thematisiert, wird hier bekannt, dass er auch noch dann, wenn eine Vernichtung seines Volkes unvermeidbar erscheint, am liebsten auf die Vernichtung verzichtet. Schließlich ist drittens ebenso wenig zufällig, dass im Joelbuch das so erweiterte Bekenntnis zu einem Gott, der Vernichtung auch dann noch zu vermeiden versucht, wenn er nicht mehr vergeben kann, nicht als ein sicheres Wissen vorgetragen wird, sondern als ein letztes göttliches Geheimnis, das der Prophet mit dem berühmten „Vielleicht“ versieht: „Vielleicht tut es ihm noch einmal leid …“ (2,14). Denn auch dieses „Vielleicht“ (des göttlichen Heilswillens mitten im von Gott geplanten Gericht) ist ein Thema des Amos, das im Amosbuch dem „Tag Jahwes“ unmittelbar benachbart steht (Am 5,15.18–20) und schon von Zephanja direkt auf den Tag Jahwes bezogen wurde (Zeph 2,3). Ja, für Amos sowie Zephanja und in ihrem Gefolge auch für Joel ist das göttliche „Vielleicht“ die einzige Möglichkeit eines Entrinnens am Tag Jahwes17. Ein Joelbuch also – das ist die These –, das bewusst unter Aufnahme von Sprache und Vorstellungswelt des Amosbuches vor das Amosbuch plaziert wurde und auf diese Weise als Verständnis- und Lesehilfe für das Amosbuch dienen soll, will vor allem ein Doppeltes einprägen: 1) Es will einen Gott vor Augen stellen, der ebenso unabänderlich den Tag Jahwes für das Übermaß der Schuld der Menschen bestimmt hat, wie er inständig hofft, ihn (für seine Gemeinde) nicht ausführen zu müssen. 2) Es will die überragende Vollmacht der Propheten betonen, die mit ihrer Fürbitte – im Rahmen des Gottesdienstes (Joel) – Einfluss auf die göttliche Willensbildung und das göttliche Gericht nehmen können, deren Vollmacht allerdings am Tag Jahwes ihre Grenze findet, so dass die letzte Entscheidung dem göttlichen „Vielleicht“ vorbehalten bleibt.
4. Ein letztes Beispiel des Schriftgebrauchs im Joelbuch sei einem nichtprophetischen Textbereich entnommen. Wieder erscheint mir wesentlich, dass
16
Vgl. dazu J. JEREMIAS, Die Reue Gottes (BThSt 31), Neukirchen-Vluyn ²1997, 87ff.
146f. 17 Dies gilt unabhängig von der Tatsache, dass Joel 2,14 (wie Jona 3,9) einen moderneren Begriff für das „Vielleicht“ wählt als Am 5,15 und Zeph 2,3.
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Zur Theologie der Prophetenbücher
nicht nur einzelne Stellen zitiert, sondern zentrale Konzepte übernommen werden. Es ist schon häufig darauf verwiesen worden, dass sich Joel bei der Beschreibung der Gefahrendimension der Heuschrecken auf die Heuschreckenplage des Exodusbuches rückbezieht18. Jedoch ist dieser Bezug sachlich weit tiefsinniger als gemeinhin angenommen. Der wichtigste Gesichtspunkt, den das Joelbuch den Plagenerzählungen entnimmt, ist die Unvergleichlichkeit der Heuschreckennot. Bei keiner anderen Plage, die Jahwe dem Pharao sendet, ist die Unvergleichlichkeit der Not so häufig hervorgehoben wie bei den Heuschrecken. Wenn das Joelbuch die Hervorhebung der Heuschreckenplage aufgreift, so tut es dies mit doppeltem Interesse: 1) Es unterscheidet die Belege des Exodusbuches genau. Für die große Not der Bewohnerschaft Judas zur Zeit Joels, die alles normale Leben unmöglich machte, verwendet es nur eine vorläufige Gestalt der Unvergleichlichkeit aus Ex 10: „Ist dergleichen in euren Tagen geschehen oder in den Tagen eurer Väter?“ (Joel 1,2; vgl. Ex 10,6 und 9,18). Die Steigerungsfähigkeit dieser Anspielung wird erst erkennbar, wenn die zweite Anspielung auf Ex 10 verglichen wird, die sich auf den Tag Jahwes bezieht und nicht nur alles Vergleichbare in der Vergangenheit, sondern auch in der Zukunft ausschließt: „Ihm gleich gab es nichts seit Urzeit und wird es nach ihm nicht geben bis zu den allerfernsten Geschlechtern“ (Joel 2,2; vgl. Ex 10,14) 19 . Die erfahrene Not überstieg alles bisher Dagewesene, erst der Tag Jahwes aber ist schlechterdings analogielos, weil auch alle potentiellen Analogien in der Zukunft ausgeschlossen werden. 2) In der jüngsten Schicht der Plagentradition (Ex 10,1b–2) 20 , die dem Joelbuch offensichtlich schon vorlag, wird die Unvergleichlichkeit der Heuschreckenplage verbunden sowohl a) mit der Aufforderung zur erzählenden Weitergabe der Erfahrung bis zur Enkelgeneration, mit der das Joelbuch einsetzt (1,2f.), als auch b) mit dem Ziel solchen Erzählens, der Erkenntnis Jahwes, mit der das ältere (2,17) und ebenso das jüngere Joelbuch (4,17) einmal geendet haben wird21. Hieß es in Ex 10,2 im Anschluss an Formulierungen Ezechiels und der Priesterschrift: „Ihr werdet erkennen, dass ich Jahwe bin“ (ähnlich Joel 4,17), so in Joel 2,17 in Erweiterung dieser Wendung durch Formulierungen Deuterojesajas: „Ihr werdet erkennen, dass inmitten Israels ich bin und ich Jahwe, euer Gott, bin und keiner sonst“. Die Erfahrung der Joelgeneration muss nicht nur weitergegeben werden, damit kommende Ge18
Vgl. bes. BERGLER, Joel, a.a.O. (Anm. 7), 247ff. Vgl. zu dieser Unterscheidung W. H. SCHMIDT, Exodus 7–24 (BK II/2), NeukirchenVluyn 1999, 432f. 20 A.a.O. 418ff. 21 Zum Nachtragscharakter der Abschlussverse 4,18ff. vgl. H. W. WOLFF, Dodekapropheton 2. Joel und Amos (BK XIV/2), Neukirchen-Vluyn 31985. 19
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nerationen eine ähnliche Bewahrung vor dem Untergang am Tag Jahwes erleben, sondern darüber hinaus, weil ohne sie nicht recht von Gott geredet werden könnte.
5. Charakteristisch für Joel und Deuterosacharja ist aber vor allem, dass beide Prophetenbücher das Ende aller Prophetie erwarten, wenngleich mit denkbar verschiedener Begründung: Das Joelbuch in seiner Endgestalt sieht jedes Glied des Gottesvolkes zum Propheten werden, Sach 13 dagegen erkennt in der Prophetie eine Schuld, die dem Götzendienst gleichwertig ist. In Joel 1–2 ist es der Prophet, der Israel vor dem Untergang am Tag Jahwes bewahrt, indem er es zum Gottesdienst unter Beteiligung aller Glieder ruft (2,15–17), nach Joel 3 dagegen ist der Prophet entbehrlich. Vielmehr „schüttet“ nun Jahwe seinen Geist über alle Glieder des Gottesvolkes aus. Er „gießt“ ihn nicht aus wie an den meisten Parallelstellen, sondern schenkt ihn üppig und grenzenlos wie sonst nur noch in Ez 39,29, und zwar „allem Fleisch“. Dass mit diesem Begriff nicht die Grenze Israels überschritten wird, zeigt seine nähere Bestimmung „eure Söhne und eure Töchter“, aber dass nun wirklich alle gemeint sind, ist dem Text so wichtig, dass er mit dem Merismus „eure Alten“ – „eure Jünglinge“ die Bedeutung sichert und durch Erwähnung der Knechte und Mägde ausschließt, dass die Geistesgabe schichtenspezifisch gemeint sein könnte. Allerdings steht der letzte Vers des Abschnitts („ein jeder, der den Namen Jahwes anruft, wird gerettet werden“, V.5) mit seiner individualistischen Ausrichtung in einem gewissen Kontrast zur generellen Geistesgabe. Er verdeutlicht, dass nicht schon die Geistesgabe als solche die Rettung bringt, was innerhalb des Alten Testaments auch ein völlig analogieloser Gedanke wäre. Vielmehr ist die Wirkung des Geistes prophetischer Natur; er ruft Weissagungen, Träume und Visionen hervor. Wie diese prophetische Gabe mit der Rettung am Tag Jahwes vermittelt ist, zeigen die Verse 3f.: Der Geist ermöglicht, die Zeichen des drohenden Tages Jahwes zu deuten, d.h. ebenjene Funktion auszuüben, die zuvor der Prophet Joel wahrnahm, als er die Heuschreckenplage als Beginn des Tages Jahwes auslegte. In Zukunft also wird Joels Deutung nicht mehr nötig sein. Im Besitz der üppigen Geistesgabe wird jeder Einzelne im Wissen um die Zeichen des Tages Jahwes sein. Gewiss schafft der Geist noch nicht automatisch das rettende Bekenntnis; dafür ist jeder selbst verantwortlich. Aber er lehrt die Zeichen der Zeit zu erkennen, die bisher die Prophetie deutete, tritt also an die Stelle der Prophetie, deren Tätigkeit nicht mehr nötig ist. Joel, der Prophet, erhält einen Nachfolger, der nicht mehr wie Ezechiel als Wächter gemahnt werden muss,
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Zur Theologie der Prophetenbücher
jedes Glied des Gottesvolkes zu erreichen: Er ist in jedem Glied und befähigt es, sein eigener Prophet zu sein. Ganz anders begründet Sach 13 das Ende der Prophetie. In der erwarteten nahen Zukunft der religiösen Reinheit des Gottesvolkes bedarf es nach 13,2 vor allem der Beseitigung zweier Schuldherde: des Götzendienstes und der Prophetie. Da sich auch Deuterosacharja des Ungewöhnlichen dieser Aussage bewusst ist, beruft er sich hier – ausnahmsweise – auf ein Gotteswort22, obwohl er in V.2–6 ständig Prophetentexte zitiert und alle seine Argumente schriftgestützt sind. So entsteht das seltsame Bild, dass von einer doppelten Gefahr der Verführung Israels durch Götzendienst und Prophetie die Rede ist, erstere aber in einem Halbsatz nur gerade (im Anschluss an Hos 2,19) erwähnt, letztere in 4½ Versen breit ausgeführt wird. Die Beseitigung der Prophetie – durch Jahwe selber (V.2) – wird konkret auf zweierlei Weise dargestellt: Entweder sind die leiblichen Eltern eines Propheten – in einer grotesken Übersteigerung des Gerichtsverfahrens gegen den ungehorsamen Sohn in Dtn 21 – Jahwes Gerichtswerkzeug, indem sie ihren Sohn ohne förmliches Verfahren sogleich töten (V.3), oder aber die Propheten sehen ihren Irrtum selber ein und sagen der Prophetie ein für allemal ab (V.4–6). Was soll diese ungewöhnliche Beseitigung der Prophetie mit allen nur denkbaren Mitteln? Den Schlüssel zum Verständnis der Sätze bietet die negative Begrifflichkeit, mit der die Wirkung der Prophetie gekennzeichnet wird: Sie ist „Betrug“ ( שׁקרV.3) und „Täuschung“ ( כחשׁpi. V.4). Beide Termini stammen aus der Auseinandersetzung um „wahre“ und „falsche“ Prophetie (speziell aus Jeremia bzw. 1Kön 13)23, dienen in Sach 13 aber zur Kennzeichnung der Prophetie generell. Die Übertragung impliziert die Folgerung, dass die Wahrheit an den Tag tritt, wenn die gegenwärtigen Propheten verschwunden sind. Das aber ist eine prophetische Wahrheit, die im Buche steht24. Sach 13 verurteilt also alle Prophetie der eigenen Zeit, weil sie vorgibt, mehr zu wissen als die prophetischen Texte. Es ist demnach für diesen Text alles Nötige über Gott und seine Zukunft längst von Propheten gesagt und niedergeschrieben worden. Ein Mehr könnte nur zur Irreführung dienen.
22
Vgl. zur Problemlage o. Abschnitt 1. Vgl. zu ihrer Analyse neben den einschlägigen Wörterbuchartikeln noch immer bes. M. A. KLOPFENSTEIN, Die Lüge nach dem Alten Testament, Zürich/Frankfurt a.M. 1964. 24 Vgl. dazu bes. K. ELLIGER, Das Buch der zwölf Kleinen Propheten II (ATD 25,2), Göttingen 71975, 173f.; N. H. F. TAI, Prophetie als Schriftauslegung in Sach 9–14 (CThM A 17), Stuttgart 1996, 208ff. 23
23. Gelehrte Prophetie
377
6. Wenn auch die Begründung für das erwartete Ende der Prophetie in den Büchern Joel und Sach 9–14 denkbar verschieden ist, so zeigt sich doch an dieser Endperspektive beider Textkomplexe, welch ungeheurer Einschnitt in der Geschichte der (altorientalischen und der) alttestamentlichen Prophetie durch die Verschriftung der Prophetie herbeigeführt wurde, einen im Kontext des Vorderen Orients analogielosen Vorgang. Die Schriftlichkeit der Prophetie brachte es mit sich, dass in Israel das Wissen um Jahwes durch die Propheten verkündeten Willen ständig wuchs; immer mehr Prophetenbücher entstanden mit ständigen Erweiterungen und Neuaktualisierungen. Die Schriftlichkeit der Prophetie schuf in der Perserzeit das Bedürfnis, die vielen prophetischen Texte aufeinander zu beziehen, d.h. nach dem einen Willen Gottes hinter den vielen prophetischen Äußerungen zu fragen, so dass mit dem Groß-Jesajabuch und dem Zwölfprophetenbuch zwei denkbar komplexe Gesamtdeutungen der göttlichen Willensäußerung entstanden. Die Schriftlichkeit der Prophetie schuf schließlich in einer Zeit der Gefährdung der Orientierung am Willen Gottes durch eine Vielzahl prophetischer Stimmen in Sach 13 das Bewusstsein, dass Gott alles Entscheidende durch seine Boten schon gesagt hat und es nur noch der Auslegung der überlieferten Texte bedarf. Es ist ein langer Weg, der von den Ekstatikergruppen zur Zeit Sauls bis zu dieser Zuspitzung in der hellenistischen Epoche führte, ein Weg ständig wachsender Wertschätzung prophetischer Worte, die in ihrer schriftlichen Gestalt immer weniger akut situationsgebunden, immer stärker im umfassenden Sinn als generelle Lebensorientierung verstanden wurden.
Nachweis der Erstveröffentlichungen 1. Alttestamentliche Wissenschaft im Kontext der Theologie I. U. Dalferth (Hg.), Eine Wissenschaft oder viele? Die Einheit evangelischer Theologie in der Sicht ihrer Disziplinen (ThLZ.F 17), Leipzig 2006, 9–22
2. Neuere Entwürfe zu einer „Theologie des Alten Testaments“ VF 48 (2003) 29–58 (= B. Janowski [Hg.], Theologie und Exegese des Alten Testaments/der Hebräischen Bibel. Zwischenbilanz und Zukunftsperspektiven [SBS 200], Stuttgart 2005, 125–158)
3. Hauptprobleme einer Theologie des Alten Testaments Bisher unveröffentlicht
4. Das Gottesbild des Alten Testaments Newsletter of the „Reconstitution of Classical Studies“ Research Project No. 11, 2002: Special Issue: New Values to be discovered from Classics. A Report on the Sixth Symposium „Towards a Reconstitution of Classical Studies“, Kobegakuin University, Kobe, Japan 2002, 52–61
5. Schöpfung in Poesie und Prosa des Alten Testaments. Gen 1–3 im Vergleich mit anderen Schöpfungstexten des Alten Testaments I. Baldermann/E. Dassmann/O. Fuchs u.a. (Hg.), Schöpfung und Neuschöpfung (JBTh 5) Neukirchen-Vluyn 1990, 11–36
6. Schöpfung und Verantwortung im Alten Testament GlLern 7 (1992) 105–116
7. Liebe und Unterordnung? Zur Rolle der Geschlechter im Alten Testament V. Schubert (Hg.), Frau und Mann. Geschlechterdifferenzierung in Natur und Menschenwelt (Wissenschaft und Philosophie. Interdisziplinäre Studien 10), St. Ottilien 1994, 94–121
8. Gottes Zorn – eine unbeliebte Gottesaussage des Alten Testaments ThBeitr 40 (2009) 311–324
380
Nachweis der Erstveröffentlichungen
9. Konzeptionen des göttlichen Zorns im Deuteronomistischen Geschichtswerk P. Mommer/A. Scherer (Hg.), Geschichte Israels und deuteronomistisches Geschichtsdenken (FS W. Thiel [AOAT 380]), Münster 2010, 135–151
10. Jhwh – ein Gott der „Rache“ C. Karrer-Grube/J. Krispenz/T. Krüger u.a. (Hg.), Sprachen – Bilder – Klänge. Dimensionen der Theologie im Alten Testament und in seinem Umfeld (FS R. Bartelmus [AOAT 359]), Münster 2009, 89–104
11. Die „Opferung“ Isaaks (Gen 22) C. Klein/S. Tobler/E. Schlarb (Hg.), Spannweite. Theologische Forschung und kirchliches Wirken (FS H. Klein), Bukarest 2005, 74–84
12. Gen 20–22 als theologisches Programm M. Beck/U. Schorn (Hg.), Auf dem Weg zur Endgestalt von Genesis bis II Regum (FS H.-C. Schmitt [BZAW 370]), Berlin/New York 2006, 59–74
13. Lob Gottes und Erkenntnis des Menschen in den Psalmen F. Schönemann/T. Maaßen (Hg.), Prüft alles, und das Gute behaltet! Zum Wechselspiel von Kirchen, Religionen und säkularer Welt (FS H.-M. Barth), Frankfurt a.M. 2004, 461–476
14. Die Erde „wankt“ R. Kessler/K. Ulrich (Hg.), „Ihr Völker alle, klatscht in die Hände!“ (FS E. Gerstenberger [Exegese in unserer Zeit 3]), Münster 1997, 166–180
15. „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“: Psalm 130 und Luthers Psalmlied W. Homolka/O. Ziegelmeier (Hg.), Von Wittenberg nach Memphis (FS R.Schwarz), Göttingen 1989, 120–136 (= ThBeitr 20 [1989] 284–297)
16. Ps 100 als Auslegung von Ps 93–99 Skrif en kerk 19 (1998) 605–615
17. Die Anfänge der Schriftprophetie ZThK 93 (1996) 481–499
18. Das Rätsel der Schriftprophetie ZAW 125 (2013) 93–117
Nachweis der Erstveröffentlichungen
381
19. Prophetenwort und Prophetenbuch. Zur Rekonstruktion mündlicher Verkündigung der Propheten I. Baldermann/E. Dassmann/O. Fuchs u.a. (Hg.), Prophetie und Charisma (JBTh 14), Neukirchen-Vluyn 1990, 19–35
20. Gott und Geschichte im Alten Testament. Überlegungen zum Geschichtsverständnis im Nord- und Südreich Israels EvTh 40 (1980) 381–396
21. „Wahre“ und „falsche“ Prophetie im Alten Testament. Entwicklungslinien eines Grundsatzkonfliktes H. Klein (Hg.), Kirche – Geschichte – Glaube (FS H. Pitters), Erlangen 1998, 33–41 (= ThBeitr 28 [1997] 343–349)
22. Umkehrung von Heilstraditionen im Alten Testament J. Hausmann/H.-J. Zobel (Hg.), Alttestamentlicher Glaube und Biblische Theologie (FS H. D. Preuß), Stuttgart/Berlin/Köln 1992, 309–320
23. Gelehrte Prophetie. Beobachtungen zu Joel und Deuterosacharja C. Bultmann/W. Dietrich/C. Levin (Hg.), Vergegenwärtigung des Alten Testaments. Beiträge zur biblischen Hermeneutik (FS R. Smend), Göttingen 2002, 97–111
Stellenregister Altes Testament Genesis 1– 2Kön 25 1–11 1–3 1 1,2 1,3ff. 1,3 1,14–18 1,26ff. 1,28 1,31 2–3 2 2,1ff. 2,5 2,7 2,24 2,25 3 3,19 3,22 3,23 4 4,1 4,11f. 4,15 4,23f. 6–9 6–8 6 6,5ff. 6,5 6,11f. 6,11 6,12 8,21 8,22
30 119 83 55, 84, 92, 99, 107f., 113, 116f. 55, 103 103 92 55 116 114f., 117f. 103, 108, 114 55, 83f., 105, 121f., 133f., 137f. 55, 84, 105 114 134 105 135 136 76, 84, 114f., 136f. 105 105 134 110f., 115f., 133 353 110f. 175f. 173 55 36, 116, 133 108 116 152 115, 117 115 107f., 114 116 56, 75, 77, 108
9 9,1ff. 9,2 9,18f. 9,25–27 10 12 12,1–3 12,3 12,10ff. 14,19 16 17 17,4f. 17,19f. 18 20–21(22) 21 22 22,1–14.19 24 24,53 24,62 25,11 25,13–15 26 28 30,26 31,26 31,27 32,23ff. 33,20 37,25ff.
208 108, 114 118 208 208 208 209 133 131, 207 131, 206 87 132, 206, 208f. 63 108 207 189 198ff. 192ff., 199ff., 275 188ff., 248 199ff. 331 126 208 208 209 198, 206f., 209 32 124 124 123 194 52 208
Exodus 2 3 3,7.9 3,12.14 4,10
22 32, 194 357 351 345
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Stellenregister
9,18 10 12,11 12,12 12,23 14f. 14,13f. 15,1–18 15,20f. 15,21 15,25 16,4 19–24 19 19,11.15.16 20 20,2f. 20,18–21 20,20 21 21,20 22,16 24 32–34 32 32,7–14 32,9–14 32,14 33 33,22 34,2.4 34,6f. 34,6
374 374 359 281, 352 281 130 217 216 279 67, 216ff. 210 210 191 349 210 210 73f., 218 36 190f., 210, 248 177 174ff. 127 278 33, 61, 184 153, 164ff. 148, 166f. 282 373 77 274 274 35, 151, 155, 184f. 63, 274
Levitikus 17,4 19,18 23,24 26,25
111 173 260 180
Numeri 11,28 22–24 23,9 23,21 24,5ff. 24,17–19 31,2f.
287, 344 289 330 260 330 330 174
Deuteronomium 1–3.4 4,2 4,29f. 5 5,6–8 5,6f. 6,15 7 7,4 8,2.16 9–10 11,17 13,1 13,2 13,4 16,3 18,2f. 18,9–15 18,16–22 18,18 21 21,18ff. 22,23ff. 22,28f. 24,1ff. 24,1–4 26,5ff. 27 28,47ff. 29,26 30,2 31,17 32,17 32,35f. 32,35 32,43 33,2–5.26–29 33,2 33,26
163 9 367 163f. 74 73, 218 158 73 158 210 157, 163ff. 158 5, 9 348 210 359 347 211 211 285 376 126 127 127 127 335 21, 58 109 163 158 367 158 349, 354 179 173 175, 178 331 52 92
Josua 7f. 7 7,1 7,26 10,13 24,15
330 109, 158, 169, 171 158, 160 160 174 53
385
Stellenregister Richter 2 2,12 2,14.20 2,22 3,1.4 3,7.9 3,8 4–5 5,4f. 6,13 7 8,24 10,7 10,9–16 11,36 13–16 15,1 15,7 16,28
160 158, 170 158 210 210 160 158 130 52 189 130f. 208 158 160 173 123 123 175 175
1. Samuel 1–2 8–12 9–10 9,6 10,6 10,11f. 14,24 15 15,11 15,29 17 17,45ff. 18,25 19,20–24 20,24 24,13 27,30
128 331 271 283 364 287 175 271, 331 152 152 130 100 175 364 260 173, 178 208
2. Samuel 4,8 6,6f. 6,7 6,15 7 7,14ff. 12 22,48 24
174 144 159 260 51, 145 329f. 271 173f. 271
1.Könige 11,29ff. 12 13 13,34 14 14,1ff. 14,8ff. 14,9 14,15 14,16 15,29 16,2ff. 16,12 16,26 16,29ff. 17,2ff. 18 18,21ff. 19 21 21,19ff. 22 22,54
271 168 171, 376 162 271 270, 283 162 163 163 161 162 162f. 162 162 162 275 275, 277f., 285, 289, 330 345 274ff., 284f. 271, 330 162 285, 345f. 162
2. Könige 1 1,2ff. 9,7 10,17 13 13,3 14,27 15,13 17 17,2 17,18 21,15 22,17 23,26 23,27 24,3.20
271 270, 282 175, 178 162 158, 161 158 161 163 162 163 168 162, 168 162 158, 162 162 162
Jesaja 1–35 1,10ff. 1,21ff. 1,21 1,24
316 325 337 179 179
386 2,2–4 2,4 2,5 2,10–17 3 5,8ff. 5,12 5,18f. 5,21 6–8 6 6,1 6,2 6,9f. 7 7,1–16 7,9 8,9f. 8,16–18 10,5f. 13 13,6 17,12–14 17,12 24,19f. 24,19 28–31 28,14–22 28,16f. 28,21 29,5ff. 30f. 30,1–5 30,1 30,8 30,15 31,1–3 31,3 32,14 34 34,2–4 34,8 35,4 37,1ff. 40ff. 40–55 40,9–11 40,10 40,15ff. 40,27
Stellenregister 225, 360ff. 351 362 150 314 300 337 297 247 297, 303, 312 32 90, 308, 317 74 180, 346 72 86 337 361 272, 297, 300, 312 147 150, 153, 368, 370 368 361 238 229, 232 229 301, 303 147 338 147, 352 361 314 73 337 272, 297, 300, 312 297f. 74, 100 221 338 181 150 180ff. 179, 181f. 283 358 104 358 182 99f. 98, 103, 340
40,30f. 41,1–5.21–28 41,17 41,21ff. 41,21–29 42,8f. 42,16 43,1 43,16ff. 43,18f. 43,18 43,19f. 43,22ff. 44,2 44,24ff. 44,25 44,28 45 45,23 47,3 48,20 49,8 49,14 51,9ff. 51,9f. 51,15 52,1 52,7–10 52,10 52,11f. 52,11 54,5 54,9f. 54,9 55,10f. 57,16–18 59,15b–20 59,17f. 59,17 61,2 63 63,4 65,17 66,1
221 102 101 341 287, 345 102 101 100 359 102, 341 359 101 102 100 102, 104 287 359 102ff. 224 180f. 358 180 98, 103 98 101 238 359 358f. 222 352, 358f. 351 100 151f., 359, 363 63 104, 283 154 182f. 179 184 180f. 181 180f. 102 90
Jeremia 1,16 2–6 2,2f. 2,13.17.19
277 315 335 277
387
Stellenregister 2,13 3,1 3,3 3,12f. 3,13 4,1ff. 4,3f. 4,5f. 5 5,7.19 5,9.29 5,13 5,14 5,22 5,23ff. 6 6,11 6,13 6,19–21 6,23 7 7,16 7,18 7,25 9,8 11,14 11,20 12,4 13,23 14 14,1–15,4 14,11f. 14,11 14,13ff. 15,15 15,16ff. 17,16 18,20 20,7–9 20,9 20,10 20,12 21,11–23,40 23 23,9–32 23,9 23,10 23,14 23,18.22 23,21
273 335 235 149 151 335 149 352 277 277 179 346 148, 349 238 111 277 349 339 325 238 340 148, 283 74 149 179 148, 282 173, 178 110, 235 76, 339 370 369 148 283 148 173, 178 273 349 148 277 283, 349 173f. 173, 178 300 6f. 347ff. 283 110, 235 71 346 346
23,23 23,25ff. 23,25–29 23,29 26 26,18 27,9 28,8 31,31–34 32,31 36 36,26 37,3ff. 43,2 44,4 46,10 49 50f. 50,5 50,15 50,28 51,6.11 51,10 51,36
71 345 5, 285 283 322 307 269, 289 277, 347 76, 339f., 363 148 272f., 296f., 300, 312 340 283 346 149 180 309 180 261 174, 180 180 180 261 178, 180
Ezechiel 3,12ff. 3,16ff. 5,12f. 5,13 6,12 8,5ff. 8,12 9,23 11,19 13,5 16,20ff. 16,38 20 22 22,15f. 23,25 24,8 25,12.17 25,14 28 33 33,1ff. 36,26f. 36,26
371 311 148 148 148 149 349 349 154 282 149 148 149, 167 111 349 148 179 174 174 134 78 270, 311, 371 76 154
388
Stellenregister
38–39 39,29
361 375
Hosea 1–3 1,9 2 2,4ff. 2,7 2,11 2,16f. 2,16 2,18ff. 2,19 3,4 4–14 4–11 4–9 4–5 4,2f. 4,3 4,4–5,7 4,4–19 4,5.15 5,1–7 5,1 5,5 5,6f. 5,8–7,16 5,12ff. 6,1–6 6,1–3 6,4–6 7,3–7 7,14 8 8,4–6 8,4 8,4a 8,9f. 8,11–13 8,13 8,14 9,3 9,4f. 9,7–9 9,10 10,5f. 10,13b 11
317 272, 351, 355 335 318 354 336 337, 355 335 337 376 86 317 303 303 318ff. 111 235 304 319f. 304 320 301 304 147 301, 304 354 286 237 237, 325 318 334 314f., 318 331 86 318 318 334 86, 351, 355, 362 304 351f., 355, 362 355 297f. 335f. 331 315 77, 152f., 335
11,1–5 11,1 11,8f. 11,11 12,4 12,10 13 13,4–8 13,4 13,5 13,6 13,9–11 13,11 14
334 351f., 355 335 336, 355 148, 167 72, 218, 351f., 355 354 353f. 72, 218, 351f., 355 335f. 334, 336, 354 86, 147, 331 147 154
Joel 1 1,1 1,2f. 1,2 1,13 1,15 1–2 2 2,1–11 2,1f.10f. 2,1 2,2 2,12 2,13f. 2,13 2,14 2,15–17 2,17 2,19 3 3,1f. 3,5 4 4,1ff. 4,8 4,10 4,17 4,18ff.
368f., 371f. 366 369, 374 374 261 368 309, 371f., 375 362f., 366ff. 153 368 371 374 153 153 370 373 375 366, 371, 374 366 375 5 309, 367 352, 360ff. 370 366 351, 360f. 374 374
Amos 1–2 1,1 1,2 2,4
73, 313 308, 317 306 306
389
Stellenregister 2,6–8 2,11f. 2,13 3–6 3–4 3,1 3,2 3,3–6.8 3,10 4,4f. 4,4 4,6–13 4,13 5–6 5 5,1 5,1–17 5,2 5,5 5,8f. 5,14f. 5,15 5,17 5,18–20 5,18 5,21ff. 6,1–11 6,1–7 6,1 6,12 7–9 7,1–6 7,7ff. 7,7f. 7,9–17 7,10–17 8–9 8,1f. 8,2 8,3–14 8,4–7 8,4–6 8,7 8,8 9,1.6 9,1–4 9,1 9,5f. 9,5 9,8–10
305 286 301 305, 320ff. 313 313 73 305 115 331 261 306, 321 306 313f. 368 313 301f., 305, 321f. 305 331 306 301, 314, 367 373 281, 352, 362 150, 367, 373 305 325 313 305 305 305, 313f. 313 148, 166, 280, 370ff. 166 281, 372 280 285f., 297f., 302 236 281, 372 272, 286, 324, 368 280 305 235 235 229, 232, 235f. 236 281, 324f. 301 236f., 306 236 286
9,10 9,11–15
306 305
Obadja 1 17
309 367
Jona 3,9
373
Micha 1–3 1,5–7 1,10–16 2,1–5 2,4f. 2,6–11 2,6ff. 2,6f. 3,1–4.9–11 3,1f. 3,5–8 3,5 3,6f. 3,11 3,12 4–5 4,1–4 4,1–3 4,3 6–7 6,1–8 6,2 7,18–20
306 323 323 323 301 297, 323 272 298 323 301 298, 323 345 346 329 307, 322 306f., 322 360ff. 225 351 306f. 323 234 151
Nahum 1 1,2–8 1,2 1,3–6 1,5 1,6ff.
186 185 173, 184f. 186 236 184f.
Habakuk 1 2,2f. 3,3 3,8 3,17
370 312 52 90, 257 235
390
Stellenregister
Zephanja 1 1,14–16 1,15f. 1,17f. 2,3
368 150 153 150 367, 373
Sacharja 9–14 9,1 11,4ff. 12,1 12,2ff. 12,4 13 13,2–6 13,2 13,8 14
366f., 377 366 366 366 361 366 375ff. 309 367, 376 367 309, 361, 364
Psalmen 1 2 2,1 2,11 4,4 4,7f. 6 8 8,3 8,5f. 13,6 15 16,11 17,5 18,44 18,48 19,1ff. 19,2–7 19,8–14 21,7 22,23 22,31 24 24,1f. 25,6f. 25,22 29,1f. 29,10 30,6
31 329 239 263f. 264 263 144f. 22, 357 174 117 220 245f. 263 240 263 173f. 113 95 95 263 223 263 246 87, 112 227 250 257, 261 92 63, 78, 150
30,12 32 32,5 33,16 34,23 38 38,19 39,8f. 40,10 41,12 43,3 44,17 46–48 46 46,3 46,6 46,7 46,10 46,11 47 47,2 47,6 48 48,5ff. 48,5–7 51 51,10 52,10 58,11ff. 58,11 60 60,4 63,4 66,1 68,4 68,34f. 69 69,15f. 72,3.16 72,11 74,12ff. 75 75,4 76 76,4ff. 76,4 76,6f. 77,10 77,12.15 77,15ff.
263 253 245 100 250 144f. 145, 245 248 223 260 263 174 264 223ff., 237ff., 264 229, 232 229, 239 229, 231, 236, 360 360 264 91, 329, 331 260 90 237 238f. 360 253 263 220 178 173 236f. 112, 229, 232 227f. 260 263 92 244 243 329 263 98, 101, 356 112, 232ff. 112, 229, 232 237 238f. 360 360 151 217 101
391
Stellenregister 77,17(–20) 77,17 78,12 79,10 79,13 80,2 81,2 82 82,5 83,7 85,6 88 88,7 88,11 89,6ff. 89,6 89,10ff. 90–106 90 90,7f. 92,10 93–100 93–99 93 93,1 93,2 93,3(–5) 93,3f. 94–99 94 94,1f. 94,1 95–99 95 95,1f. 95,4f. 95,6 95,7 96 96,1–4 96,2 96,5 96,7–9 96,8 96,10 96,13 97 97,11f. 98 99
257 90, 257 217 175, 178 224, 262f. 357 260 112, 233ff. 112, 229, 232, 234 209 151 144f., 243f. 243 217 98, 101 113 356 257 144, 260 144 90, 257 257f., 260 256ff. 88ff., 112, 229ff., 257ff. 92, 112, 229, 235 229 257 356 258 185f. 179 173, 186 260, 263 91, 224 260 87 261 224, 259, 262f. 91, 235, 261f. 222f. 262 87 261 261 229f., 234 235 91 263 91, 260ff. 91, 183
99,8 100 100,3 102,23 104 104,5–9 104,5 104,32 104,35 105,1–6 106,5 106,36 110 117 118 118,6ff. 118,15f. 118,17 119 119,73 119,175 120–134 121,4 125,1 130 136 136,4 139,13ff. 143 143,2 144,9 145,10 148 149,7
173, 183ff. 223ff., 256ff. 225f., 263f. 263 91ff., 114, 237 356 229, 234 237 112 227 263 263 329 221f. 216, 220f., 226 100 90, 257 226 31 100 226 241 357 229 76, 241ff. 91, 150, 216ff. 72 100 253 246 223 113, 261 91 174
Hiob 7 7,11ff. 10,8ff. 14,13 14,15 16,9ff. 16,18ff. 16,20–22 19,23ff. 28 38 40 42,5
355ff., 362 351 100, 362 143 100 143, 147 363 147 363 97f., 113 97 97 97
392 Sprüche 1–9 1,7 6,34 7 8 8,22ff. 14,31 16,4 18,22 19,14 31,10–31 Hoheslied 8,1ff.
Stellenregister
133 247 175 22 94 113 87 87 133 133 133
Klagelieder 1 2 3,42–44
147 146f. 147
Prediger 3,11
97
1. Chronik 16,30
229, 234
2. Chronik 3,1
195, 204
132f.
Neues Testament Lukas 24,27
10
Apostelgeschichte 10 129 Römerbrief 5 12,19 14,11
133 173 224
Galaterbrief 3,27f.
129
Hebräerbrief 11,17–18 11,19
196 196
1. Johannesbrief 3,20 253