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German Pages 442 [452] Year 1972
Olof Gigon · Studien zur antiken Philosophie
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Olof Gigon
Studien zur antiken Philosophie
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1972
Herausgegeben von Andreas Graeser
ISBN 3 11 003928 1 © 1972 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Gösdien'sche Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp., Berlin 30, Genthiner Straße 13. Printed in Germany Alle Rechte, insbesondere das der Ubersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomedianischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz und Drude: Franz Spiller, Berlin.
Inhaltsverzeichnis Die Vorsokratiker
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Zu Anaxagoras
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Die Theologie der Vorsokratiker
41
Gorgias „Über das Nichtsein"
69
Studien zu Piatons Protagoras
98
Das Einleitungsgespräch der Gesetze Piatons
155
Piatons Euthyphron
188
Piaton und die politische Wirklichkeit
225
Der Historiker Poseidonios
242
Rez.: Studien zu Poseidonios
259
Rez.: Späthellenistische Berichte
268
Zur Geschichtsschreibung der römischen Republik
275
Probleme der römischen Religionsgeschichte
295
Cicero und Aristoteles
305
Die Szenerie des ciceronischen Hortensias
326
Rez.: Cicero, De Natura Deorum ed. by A. S. Pease
349
Akusilaos, Cicero und Varro
365
Plinius und der Zerfall der antiken Naturwissenschaft
370
Rez.: Latin fathers and the classics
391
Zur Geschichte der sogenannten Neuen Akademie
412
Quellenangaben
432
Register
433
Die Vorsokratiker Der philosophierende Umgang mit den Texten der Vorsokratiker ist immer wieder ebenso faszinierend wie gefahrvoll. Faszinierend ist er, weil mit den Vorsokratikern das beginnt, was wir die Tradition der abendländischen Philosophie zu nennen haben. Wohl hat Theophrast, der Schüler des Aristoteles, einmal behauptet, es habe vermutlich schon vor Thaies manche Philosophen gegeben, von denen wir bloß nichts mehr wüßten. Doch diese Behauptung stützt sich nicht auf Kenntnisse, die Theophrast noch besessen hätte, wir aber nicht mehr besitzen, sondern ist lediglich eine Folgerung aus bestimmten kulturhistorischen Hypothesen. Wir können sie beiseite lassen, ja noch mehr: schon unser spärliches Wissen von Thaies erlaubt uns die Gegenfrage, wie denn ein philosophisches Denken jenseits von Thaies überhaupt ausgesehen haben könnte. Thaies ist wirklich der Anfang, — womit nicht gesagt sein soll, daß es nicht (vor allem in den frühen Theogonien) Vorstufen zu seiner Leistung gegeben hätte; aber da handelt es sich eben noch nicht um Philosophie. Wir werden auch nicht bestreiten, daß es ganz außerhalb der griechischen Welt Bemühungen gegeben hat, die wir Philosophie zu nennen berechtigt und verpflichtet sind; man mag etwa an Indien denken. Doch sie bleiben hier außer Betracht. Historisch gibt es zwischen ihnen und den Spekulationen der Vorsokratiker keinerlei Beziehungen, die philosophisch relevant genannt werden könnten. So bleibt es denn bei Thaies als dem Archegeten der abendländischen Philosophie. So ist auch der Wunsch legitim und drängend, an Thaies und seinen Nachfolgern verifizieren zu wollen, ob das, was sie als Philosophie verstanden haben, auch noch für uns als Philosophie gelten kann. Werden wir feststellen können, daß die Tradition ungebrochen blieb und daß es eine und dieselbe Philosophia perennis ist, die sowohl Thaies und Anaximander vor Augen stand, wie auch uns selbst im Sinne ist? Oder meinen wir heute | etwas ganz Anderes und war der Weg der Vorsokratiker ein (wenn auch begreiflicher) Irrweg? Oder endlich sind wir es, die der ursprünglichen und eigentlichen Intention allen Philosophierens untreu geworden sind? Diese Fragen sind es, auf die wir eine Antwort geben möchten. Dies zu versuchen ist freilich überaus schwierig und gefahrvoll. Denn was wir besitzen, sind nur Fragmente und Berichte aus zweiter und dritter Hand.
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Die Vorsokratiker
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Es ist eine Tatsache, daß von den Werken der großen Vorsokratiker nur ganz wenige bis in die Zeiten Ciceros oder gar Plotins erhalten geblieben und gelesen worden sind. Heraklit und Empedokles sind zu nennen, und in den Schulbibliotheken der Akademie und des Lykeion scheinen noch Parmenides und Anaxagoras vorhanden gewesen zu sein. Daß Demokrits Oeuvre, von einer Reihe ethischer Maximen abgesehen, fast spurlos untergegangen ist, gehört zu den Rätseln der Überlieferungsgeschichte im Felde der antiken Philosophie. Bei ihm wie bei den alten Milesiern und anderen, geringeren Gestalten, hat sich die spätere Antike mit den Berichten begnügt, die Aristoteles und seine Schüler geliefert haben —, mit den Berichten selbst oder auch bloß (und in der Regel) mit Auszügen aus ihnen. Über das naheliegende Problem, wie weit diese Berichte historisch zuverlässig sind, wird seit rund hundert Jahren unablässig diskutiert, und ein Ende der Diskussion ist noch nicht abzusehen. Wir dürfen uns hier mit der banalen Feststellung begnügen, daß die Wahrheit in der Mitte liegt: so sicher es ist, daß die Berichterstatter ihre eigene Terminologie, ihre eigenen Gesichtspunkte und Interessen in die Berichte einmengen, so zuversichtlich darf aber auch behauptet werden, daß sie nirgends bewußt fälschen und daß sie nur selten die Texte, über die sie berichten, in schwerwiegender Weise mißverstehen und mißdeuten. Dies sind indessen Fragen, die in erster Linie den Philologen angehen. Wir haben es hier aber mit den philosophischen Fragen zu tun. Ich würde meinen, daß drei Hauptfragen gestellt werden müssen. Die erste Frage ist die, was die Vorsokratiker unter Philosophie eigentlich verstanden haben und wie dieser ihr Begriff der Philosophie in den rund hundertfünfzig Jahren zwischen Thaies und Demokrit sich gebildet hat. Als die zweite Frage möchte ich die bezeichnen, die auf die geschichtliche Verantwortung der Philosophie in ihrer eigenen Zeit zielt; denn die Philosophie ist ja etwas anderes als eine gehobene Freizeitbeschäftigung: sie will das Meinen der Menschen in ein Denken verwandeln, also naive Behauptungen durch Fragen und naive Fragen durch verläßliche Antworten ersetzen, und so wirkt sie geschichtlich. Wie also die Vorsokratiker geschichtlich gewirkt haben, ist die Frage. Die dritte Frage endlich wurde schon an- | getönt. Es ist die Frage nach der Relevanz der Philosophie der Vorsokratik für unser eigenes Philosophieren. Die erste Frage ist schematisch in zwei Teilfragen aufzugliedern. Die erste Teilfrage betrifft den Gegenstand der Philosophie. Wie haben die Vorsokratiker der Sache nach ihre Aufgabe aufgefaßt? Es scheint mir, daß sie zunächst von zwei sehr verschiedenen Fragestellungen geleitet worden sind. Fürs erste besteht unzweifelhaft eine Beziehung zwischen den Kosmogonien der Milesier und den alten Theogonien. Intentionen, die bei einem
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Hesiod noch durch jene Anschauungsweise verdeckt sind, die wir mit einem — allerdings allzu vieldeutigen — Worte mythisch zu nennen pflegen, treten von Thaies an in zunehmender Klarheit hervor. Ich nenne nur Stichworte. Da ist zunächst der Blick auf den Anfang von Allem, den einen Ursprung, der von vorne herein so angelegt sein muß, daß die Vielheit unserer Welt auf ihn zurückgeführt werden kann als auf das Einfachste, über das hinaus es nicht weitergeht; und zugleich muß eben diese Einfachheit so beschaffen sein, daß es begreifbar wird, wie aus ihr die Vielheit, die wir sehen, werden kann. Nahe verwandt mit der Frage nach dem Ursprung ist die Frage nach dem Überdauernden. Denn das Philosophieren sucht nicht nur das Eine jenseits des Vielen, sondern auch das Dauerhafte jenseits des Wandelbaren, also dasjenige, was von Anfang an und stetsfort da ist, von dem sich das Wandelbare abhebt und auf das es sich stützt. Treten wir von der Kategorie der Zeit in diejenige des Raumes über, so begegnet drittens die Frage nach dem Umfassenden, die dem also, was die Welt um uns zu einem Ganzen macht. Die Anschauung verlangt nach einem solchen Ganzen noch mehr als das Denken. Die Philosophie der Vorsokratiker ist hin und her gerissen zwischen einem Begriff des Umfassenden, das nichts anderes ist als die äußerste Grenze des kugeligen Kosmos selbst, und einem Ausblick auf das Grenzenlose, bei dem der Begriff des Ganzen selbst fragwürdig wird. Endlich ist viertens mit der Frage nach dem Umfassenden verwandt die Frage nach der Ordnung. Zu den ältesten und erstaunlichsten Leistungen der Milesier gehört die Konstruktion eines Kosmosmodells, an welchem zu sehen war, wie die Bahnen von Mond, Sonne und Fixsternen in geregelten mathematisch fixierten Distanzen über einander aufgebaut waren. Damit ist nicht nur das Problem gestellt, wie weit in unserer Welt eine einheitliche, unverrückbare und für uns erkennbare Ordnung besteht; hier bahnt sich auch jene Sonderstellung der mathematischen Wissenschaften an, | mit der sich das Denken bis auf den heutigen Tag auseinanderzusetzen hat. Schon in der Vorsokratik stehen einander gegenüber die Bereitschaft, in der Mathematik die höchste aller Wissenschaften zu erkennen, und das tiefe, aber nicht leicht zu begründende Mißtrauen gegen eine Wissenschaft, die nur für Quantitäten, nicht aber für Qualitäten zuständig ist. Nach dem Ursprung, dem Überdauernden, nach dem Umfassenden und nach der Ordnung von Allem fragt die Vorsokratik. Sie gelangt damit zunächst zu den Systemen der Kosmogonie und Kosmologie, dann aber in einem entscheidenden Schritt über diese hinaus zu jenem Gegenstande, in dem alle Intentionen der Vorsokratik sich gewissermaßen zu erfüllen scheinen: zum Sein als solchem. Bei Parmenides wird das Sein als Gegenstand der Philosophie zum ersten Male sichtbar, und durch Parmenides wird die Zeit der Vor-
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Die Vorsokratiker
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sokratiker in zwei Epochen aufgegliedert. Auf verschiedenen Wegen nähern sich ihm die Früheren, und von den Späteren gibt es keinen, der sich nicht gezwungen gesehen hätte, sich zu allererst mit seinen Thesen auseinanderzusetzen. Es sind aber nun nicht nur die alten Theogonien, von denen das Denken der Milesier sich leiten läßt. Noch ein zweiter Ansatzpunkt der Philosophie läßt sich erkennen, dem Leben des Alltags ungleich näher als Hesiods Theogonie. Zu allen Zeiten haben sich in der Natur Dinge ereignet, die den normalen und voraussehbaren Ablauf durchbrachen, Verfinsterungen von Sonne und Mond, Nordlichter und Kometen, auch Erdbeben mit all ihren seltsamen Begleiterscheinungen, Vulkanausbrüche und Sturmfluten. Gefürchtet hat man solche Phänomene immer, und fromme Gemüter verstanden sie als Ausdruck göttlichen Unwillens. Es bezeichnet auf diesem Felde den Durchbruch zur Philosophie, wenn dergleichen nicht mehr nur ängstlich und fromm überstanden, sondern als Problem aufgefaßt wird, das der philosophische Scharfsinn zu lösen hat. Es entsteht neben der Systembildung die Problemforschung. Gegeben sind die einzelnen Fragen. Ihre Beantwortung erfolgt zwar von einer Gesamtanschauung her, aber eine ausdrückliche systematische Zusammenordnung der Probleme erfolgt nicht. Daß Phänomene von kosmischen Dimensionen zunächst die A u f merksamkeit auf sich lenken, ist verständlich; doch zieht die Problemforschung von der späteren Vorsokratik an immer weitere Kreise und endet schließlich bei den ausgefallensten Kleinigkeiten: die unter dem Namen des Aristoteles erhaltenen Problematasammlungen sind nur der letzte Ausläufer einer Richtung des Fragens, die grundsätzlich schon mit den alten Milesiern anhebt. | Doch damit ist noch nicht Alles gesagt. Wie die systematische Kosmologie schließlich zum Begriff des Seins gelangt, so entwickelt die vorsokratische Problemforschung einen zweiten Begriff, der sich nahezu ebenbürtig neben denjenigen des Seins stellt. Es ist der Begriff der Ursache. Denn ein befremdliches Naturphänomen verliert dann seine Befremdlichkeit, wenn man erkannt hat, wie es zustande kommt, also welches seine Ursache ist. Und nicht erst seit Aristoteles können die Phänomene dann als philosophisch und wissenschaftlich verstanden gelten, wenn es gelungen ist, ihre Ursache nachzuweisen. Soviel zur Sachfrage. Neben ihr steht die methodische Frage. Über sie läßt sich freilich bei dem Zustand der Texte und beim gegenwärtigen Stande der Forschung viel weniger sagen als über die Sachfrage. Die Methodik des philosophischen Argumentierens entwickelt sich historisch betrachtet an der Polemik.
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Die Vorsokratiker
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Die griechische Philosophie ist ohne Polemik „Aller gegen Alle" nicht denkbar. Jeder Philosoph erhebt den Anspruch, es besser zu machen als seine Vorgänger. Frühere Generationen von Forschern pflegten in solchem Zusammenhang gerne vom agonalen Element des griechischen Charakters zu sprechen und dazu Pindars Siegeslieder zu zitieren. Das mag man tun, so lange man sich bewußt bleibt, daß jede philosophisch regsame Epoche mit Notwendigkeit auch polemisch gewesen ist. Wer mit jener Leidenschaft Philosophie vorträgt, ohne die es nun einmal kein wirkliches Philosophieren gibt, der tut dies nicht nur, weil ihn die Sache ergriffen hat, sondern auch, weil er Dinge begriffen zu haben glaubt, die man von ihm noch nicht begriffen hatte; das wird er dann auch sagen, und als Philosoph auch zu begründen haben, wie er dazu kommt, zu wissen, was die Früheren noch nicht wußten. Dies ist heutzutage nicht anders als bei den Griechen; der Unterschied ist zur Hauptsache der, daß sie offener und härter polemisierten als es heute üblich ist. Aus der Polemik erwächst die Methode. Schon der Vorsokratiker sieht sich gezwungen, darzulegen, aus welchen Gründen die Theorien seiner Vorgänger, die er zu überwinden sucht, falsch sind und auf welche Gründe sich seine eigene, bessere Theorie stützt. So entstehen denn die philosophischen Beweismethoden. Wie sie bei den früheren Milesiern aussahen, können wir nur ahnen; primitiv waren sie gewiß. Der Schluß vom alltäglich Überschaubaren und zunächst Selbstverständlichen auf das Ferne und Befremdliche war das wichtigste: Man erklärte den Donner, indem man auf das Platzen einer Schweinsblase hinwies und diese Analogie so weit als möglich durchzuführen suchte. Bei Parmenides kommt auch da etwas grundlegend Neues dazu, der Ansatz der Logik, des zwingenden logischen Beweises; | zwei Generationen später gibt die Sophistik den Anstoß, die Begriffe zu definieren und damit zugleich in systematische Ordnungen einzufangen. Die zweite der Hauptfragen bezieht sich auf die geschichtliche Verantwortung der vorsokratischen Philosophie. Wie hat sie auf die Menschen ihrer Zeit gewirkt und wirken wollen? Auch da liegt es allerdings sowohl am Zustand der Texte wie auch an der Lage der Forschung, daß wir nicht so viel wissen als wir vielleicht gerade in unserer heutigen Situation wissen möchten. Drei Momente seien in aller Kürze angedeutet. Als Systemkonstruktion wie als Problemforschung ersetzt die Vorsokratik die Götter durch unpersönliche Kräfte und einsehbare Ursachen. Aus Poseidon wird das feuchte Element, und Erdbeben sind durch Gleichgewichtsstörungen im Inneren der Erde verursacht. Alle Phänomene werden schließlich deutbar, ohne daß der Rückgriff auf eine waltende Gottheit notwendig zu sein scheint. Insofern wendet sich die Vorsokratik primär gegen den Mythos, sekundär aber auch gegen die Religion. Es läßt sich
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nicht bestreiten, daß in ihrem Bemühen eine aufklärerische Komponente mitgeht. Immerhin gibt es auch so etwas wie eine Gegenrichtung. Je mehr es gelingt, im Kosmos im allgemeinen und in der Gestirnwelt im besonderen eine sinnvolle Ordnung nachzuweisen (und zwar im Aufbau der Dinge ebenso wie im Ablauf der Vorgänge), desto mehr drängt sich der Gedanke auf, in dieser Ordnung das Werk einer besonderen geistigen Kraft zu vermuten. Es ergibt sich mindestens der Ansatz einer philosophischen Theologie; die Gottheit dieser Theologie hat freilich mit dem Gott des religiösen Glaubens nicht mehr viel gemein, und es erstaunt nicht, wenn am Ende dieser Entwicklung (immerhin erst im Hellenismus) Gott und Natur zu beliebig auswechselbaren Begriffen werden. „Deus sive natura" ist der adäquate Ausdruck einer Theologie, die nicht mehr Religion ist, und einer Aufklärung, die mit ordnenden Kräften rechnet, ohne sich über deren Wesen weitere Gedanken zu machen. Diese ganze Entwicklung beginnt schon in der Vorsokratik. Das dritte Moment ist anderer Art. Es ist darin zu erkennen, daß die Arbeit an philosophischen Fragen sich zu einer eigenen Lebenform verdichtet. Es gibt verschiedene Gründe anzunehmen, daß das Bild des Philosophen, der ohne jeden politischen oder materiellen Ehrgeiz sein ganzes Leben der Erforschung des Himmels und des gesamten Kosmos widmet, schon in der späten Vorsokratik entstanden ist. Bekannt sind die Erzählungen von Thaies, Anaxagoras und Demokrit. Piaton spielt auf sie an, und Aristoteles erinnert sich an sie dort, wo er neben die Lebensform des | Genießers und des Politikers diejenige des Philosophen, den Bios theoretikos stellt. Im Kerne sind diese Erzählungen sicherlich älter als Piaton und Sokrates. Allerdings eröffnen gerade sie einen Ausblick auf jene Entwicklung der Philosophie, die nach alter und allgemeiner Tradition mit dem Namen des Sokrates verknüpft ist. Da wirkt denn die Philosophie nicht mehr nur auf bestimmte Bezirke des geschichtlichen Lebens ein, sondern erhebt den Anspruch, dieses Leben im Ganzen aus eigener Einsicht neu zu gestalten. Es entsteht die philosophische Ethik. Doch von ihr hat hier nicht die Rede zu sein. Es bleibt die letzte der drei Hauptfragen, und in gewisser Weise die wichtigste. Inwiefern ist das, was Thaies und seine Nachfolger als Philosophie verstanden haben, auch heute noch für uns Philosophie? Hier werden wir aber schon bei der Frage innehalten. Denn es gibt ebenso viele Antworten als es Möglichkeiten der Interpretation der A u f gabe der Philosophie schlechthin gibt. Wer die Aufgabe der Philosophie strikte auf die Kritik der menschlichen Erkenntnis beschränkt sehen möchte, wird anders antworten als derjenige, für den die Philosophie der Umgang eines Erkennenden mit einem Erkennbaren ist. Desgleichen wird
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anders antworten derjenige, für den die Philosophie überhaupt gegenstandslos geworden ist, da (wie er glaubt), die Naturwissenschaft in vollem Umfang das Geschäft der Naturphilosophie und die Soziologie in ebenso vollem Umfang das Geschäft der Ethik übernommen hat; und wieder anders antwortet natürlich derjenige, der entgegengesetzter Meinung ist und in der Philosophie eben jene „Kleinigkeit" sieht, die noch übrig bleibt, nachdem Naturwissenschaft und Soziologie ihre Aufgaben restlos erledigt haben werden, jene Kleinigkeit, auf die zuweilen aufmerksam zu machen der platonische Sokrates für zweckmäßig gehalten hat, — und auf die unter Umständen Alles ankommt. Vor allem gilt es zum Schlüsse, sich durch Äußerlichkeiten nicht irre machen zu lassen. Es ist eine beliebte Behauptung, daß die antike Staatstheorie, die bekanntlich überwiegend mit Staaten in der Größenordnung zwischen San Marino und Dahomey redinet, für den modernen Mittel- und Großstaat völlig uninteressant geworden sei. Diese Behauptung, die sich keine Mühe nimmt, Probleme quantitativer Art von Strukturproblemen angemessen zu sondern, wird dadurch nicht zutreffender, daß sie noch heute bis zum Uberdruß wiederholt wird. Genau so steht es im Felde der Naturphilosophie, wie mir scheint. Wir wissen alle, daß durch die Instrumentalisierung des Forschens das naturwissenschaftliche Wissen eine erstaunliche Ausdehnung erfahren hat. Dies besagt aber noch keineswegs, daß die | Grundbegriffe, auf denen jede Naturerkenntnis beruht, gegenüber der Antike, und der Vorsokratik im besonderen, prinzipiell andere geworden wären. Mindestens muß die Frage in unserem Zusammenhang ausdrücklich offen gelassen werden. Antworten auf diese wie auf die anderen genannten Fragen zu versuchen kann allerdings nicht mehr die Aufgabe dieser Einleitung sein. ]
Zu Anaxagoras Anaxagoras hat als erster die ionische Physik in Athen vorgetragen Diese Tatsache bezeichnet seinen Platz in der Geschichte der griechischen Bildung. Man wird annehmen dürfen, daß er um 456 nach Athen kam (DielsKranz, VS, 5. Aufl.; Anaxagoras 59 Α 1 Anm.) und etwa 30 Jahre dort verbrachte. Er scheint sich von den andern σοφισταί dadurch unterschieden zu haben, daß er niemals Vortragsreisen durch Hellas unternahm, über den geschlossenen Kreis vornehmer Athener hinaus, dessen Gastfreundschaft und Schutz er genoß. So konnte er später als reiner θεωρητικός gelten, der sich um irdische Dinge nicht kümmert, während die nach alter Rhapsodensitte reisenden σοφισταί von Xenophanes bis auf Gorgias wohl oder übel von ihrem Berufe leben und sich ihre Vorträge bezahlen lassen mußten. Gegen Ende seines Lebens wurde Anaxagoras verurteilt nach dem Antrag des Diopeithes, wonach diejenigen zu bestrafen seien, die die Gottheit nicht anerkennten und λόγοι περί των μεταρσίων vortrügen (VS 59 A 17). Wir wissen, daß den Anaxagoras seine astronomischen Theorien zu Falle brachten. Es ist für den Geist Athens in jener Zeit sehr bezeichnend, daß es sich um Lehren handelte, die anderswo längst bekannt waren. Man darf sich durch die athenischen Berichte nicht täuschen lassen. Wenn Capelle (Neue Jahrbücher Bd. 43, 1919, S. 87) bemerkt: „Dabei darf nicht übersehen werden, daß — abgesehen von den Atomisten und ihrem Nachfahren Epikur — Anaxagoras der einzige griechische Naturphilosoph ist, der die Himmelskörper nicht für ζώα, geschweige denn für θεία hielt", so ist dies den Texten der Vorsokratiker gegenüber nicht aufrecht zu halten. Einer früheren entsprechenden Äußerung Capelles hat schon E. Pfeiffer, Studien zum antiken Sternglauben (Leipzig 1916) widersprochen und zu Anaximander (S. 20 vgl. S. 41) ausgeführt, daß er die „Sterne schwerlich für Götter gehalten haben kann". Doch läßt sich Capelles Ansicht | noch viel entschiedener widerlegen. Während man bei Anaximander zweifeln könnte, hat man schon bei Anaximenes, der die Gestirne durch Aufdampfung entstehen ließ, die größte Mühe, an Göttlichkeit zu glauben. Und wenn gar in Erweiterung seiner Theorie die beiden großen Aufklärer Xenophanes und Heraklit von dem aus dem Meere aufdünstenden ήλιος νέος εφ' ήμέρη reden (Xenophanes 21 A 38,
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Zu Anaxagoras
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4 1 ; Heraklit 22 Β 6), so könnte auch der weitherzigste Theologe darunter nicht mehr ein θείον oder auch nur ein ζωον verstehen. Nur e i η Vorsokratiker weicht völlig ab: Alkmeon, der italische Arzt und Pythagoreer lehrt (24 Α 12) die Unsterblichkeit der Gestirne. Dieser grundsätzliche Unterschied in einem der wichtigsten Probleme der Kosmologie ist von größter Bedeutung für das Gesamtbild nicht nur der vorsokratischen, sondern auch besonders der platonischen und aristotelischen Physik. In der ganzen ionischen Physik dürfte sich kaum eine Spur von Gestirnglauben finden. Diese reine Naturwissenschaft kommt mit Anaxagoras nach Athen. Aber Athen empfand sie als blasphemisch; sie hat sich denn auch, wie gerade Piaton zeigt, mindestens in diesem Punkte nicht durchsetzen können. Was die Chronologie des Anaxagoras betrifft, so muß ein Punkt erörtert werden, in dem wir mit den meisten Forschern nicht einig gehen können: Aristoteles bestimmt das gegenseitige Verhältnis von Empedokles und Anaxagoras folgendermaßen: Met. p. 984 a 1 1 (VS 59 A 43) „'Αναξαγόρας δέ ό Κλ. xfj μέν ήλικίςι πρότερος ών τούτου (Empekdokles) τοις δ' εργοις ύστερος . . . " . Zeller-Nestle, Pbilos. d. Gr. I 6 126 ft., bespricht die Stelle ausführlich und nennt für ύστερος drei Übersetzungsmöglichkeiten: jünger, vollkommener, unvollkommener. Die dritte Bedeutung fällt von vorneherein weg. Zeller-Nestle und alle Späteren wählen die erste Möglichkeit und entnehmen der Stelle, daß Anaxagoras später als Empedokles geschrieben habe. Interpretieren wir aber den Satz rein für sich, so scheint die zweite Ubersetzung noch besser zu sein. Denn Aristoteles war es bei seinem problemgeschichtlichen Uberblick im Anfang der Met. doch einzig und allein um das s a c h l i c h e Verhältnis der beiden zu tun, wobei das Geburtsverhältnis völlig gleichgültig sein konnte. Bei der Erklärung von Zeller wirkt der erste Teil des Satzes eigentlich überflüssig. Einen vollen und ausgewogenen Sinn scheint nur die mittlere Möglichkeit zu bieten: | „Anaxagoras lebte (und lehrte) zwar früher, war aber in seiner Lehre fortgeschrittener" (eine verwandte Formel Theophrast Phys. opin. Frg. 9 Diels, Doxogr. S. 484). Das entspricht am besten dem, was Aristoteles von seinen Vorgängern wissen und an jener Stelle sagen konnte. Die rein zeitliche Erklärung wäre erlaubt, wenn wir anderweitig völlig sicher wären, daß Empedokles älter war, und Aristoteles vor einem chronologischen Irrtume wenigstens bezüglich der Schriften beider retten wollten. Aber wir sind nidit sicher. Die Stellen, die man für Abhängigkeit des Anaxagoras von Empedokles angeführt hat, sind nicht zwingend. Um Späterem nicht vorzugreifen, sei hier nur eine genannt: Capelle a. 0 . 1 9 7 vergleicht Empedokles 31 Β jo mit Anaxagoras 59 Β 19, zwei Wetterregeln, die auffallend miteinander übereinstimmen. Aber Anaxagoras 59 Β 19 berührt sich seinerseits ebensosehr mit Xenophanes 21 Β 32. Könnten nicht Anaxagoras und Empedokles unabhängig vonein-
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Z u Anaxagoras
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ander beide auf Xenophanes zurückgehen? Wir werden bei der Lehre vom Νοΰς auf diese Frage zurückkommen1. Für Anaxagoras 59 Β 19 erinnere man sich auch an das oben Gesagte: Xenophanes ist gerade dem Gestirn glauben gegenüber der radikalste Aufklärer (s. Diels, Arcb. Gesch. Phil. 10, 530 ff.), — andererseits wird Anaxagoras gerade wegen seiner λόγοι περί των μεταρσίων verurteilt. Sollte er die polemisch-aufklärerische Tendenz2 von Xenophanes übernommen haben? Was ihn dagegen mit Empedokles verbindet, ist im Ganzen doch nicht allzuviel. Die Bedeutung des Anaxagoras für die Geschichte der griechischen Bildung liegt darin, daß er die ionische Physik nach Athen brachte. Wenden wir uns nun seiner Stellung in der Geschichte der Philosophie zu. Sie ist, kurz gesagt, dadurch bezeichnet daß er es unternommen hat, die von den Milesiern her übernommene Physik mit der eleatischen Metaphysik zu verbinden. Darin trifft er sich freilich mit Empedokles. Aber es wird sich zeigen, daß im einzelnen doch die Unterschiede weit überwiegen, zumal wenn | man die Atomistik zum Vergleich heranzieht, die eine Reihe entscheidender Prinzipien von Anaxagoras übernommen hat. Gerade die Vereinigung von ionischer und eleatischer Lehre soll durch das Folgende verdeutlicht werden. Denn gleich das erste Fragment 59 Β ι wird erst dann ganz verständlich, wenn man nach diesem bisher, wie mir scheint, in seiner Bedeutung zu wenig beachteten Gesichtspunkte vorgeht. „Alle Dinge waren beisammen, unbegrenzt an Menge und Kleinheit; denn das Kleine war eben unbegrenzt. Und als alles beisammen war, war nichts darin unterscheidbar wegen der Kleinheit. — Alles nämlich enthielten Luft und Äther, beide unbegrenzt; denn diese sind im Ganzen das Größte an Menge und Größe." Das Frg. wird schon dem Wortlaute nach beherrscht von zwei korrespondierenden Begriffen, die es in zwei Hälften teilen: 1. Die Dinge απειρα και πλήθος και σμικρότητα,2. Luft und Äther απειρα, d.h. μέγιστα... και πλήθει και μεγέθει. Zahl und K l e i n h e i t steht gegen Zahl und G r ö ß e 3 . Zugrunde liegt unzweifelhaft die logische Antithese von Groß und Klein: Im ganzen gibt es einerseits Kleines, andererseits Großes, beide unbegrenzt. Um der Entsprechung willen hat Anaxagoras auch das Wort πλήθος wiederholt, wenn auch nicht ganz konsequent: πλήθος ist der Zahlbegriff gegenüber den Massenbegriffen Klein — Groß. Das Kleine ist natürlich zahlenmäßig unbegrenzt, da es das All der Dinge ist. Vom Großen kann das nicht in gleicher Weise gelten, da es ja aus zwei bestimmten Massen, Luft und Äther, besteht. Aber 1
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F ü r unsere Chronologie ließe sidi noch — wenn audi mit Vorsicht — die jedenfalls durch ihr Alter ausgezeichnete Alkidamasstelle Diog. L . 8, 56 anführen. Die vielleicht deutlicher w a r , als w i r heute sehen; vgl. GefFcken Hermes 42, 1 9 1 0 , S. 1 2 7 fr. Will man den Parallelismus noch genauer ausgedrückt sehen, so könnte man für 1. die Lesart des Aristoteles bei j j A 60 aufnehmen: &π. καΐ πλήθει και σμικρόχητι.
Zu Anaxagoras
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für Anaxagoras ist in diesem Stücke wesentlich und primär der abstrakte Gegensatz: unendlich Klein: unendlich Groß. In ihn hinein baut er die physikalischen Begriffe Luft und Äther. Die Herkunft dieses Gegensatzpaares können wir glücklicherweise mit aller Sicherheit angeben: wir besitzen die Quelle in Zenon von Elea Frg. 29 Β ι und 2. Zenon ist bemüht, den Vertretern der Vielheit, den βροτοί (im Sinne des Parmenides 28 Β 6) im allgemeinen und wohl den Physikern im besonderen nachzuweisen, daß sie auf Grund der parmenideischen Ontologie und ihrer eigenen Voraussetzungen gezwungen sein, vom All entgegen- | gesetzte Eigenschaften anzunehmen, namentlich dies: daß das All bzw. seine Teile sowohl unendlich klein wie audi unendlich groß sein müßten. Klein, weil das Einzelne (nach Parmenides 28 Β 8, 22) ungeteilt, d. h. körperlos sein müsse; groß, weil das Seiende keine Grenze haben könne (mit der es an das Nichtsein stieße). Zenon verstand dieses antilogische Beweispaar als die notwendige absurde Voraussetzung der Physik. Anaxagoras nahm aber gerade diese Absurdität an und machte sie zur Grundlage seiner Lehre. Zenon zeigte, was herauskomme, wenn man die in ihrem Ursprung falschen Annahmen der Physiker (die Vielheit) nach richtigen Prinzipien zu Ende dächte. Anaxagoras verwandte eben jene Resultate zur Konstruktion seiner Physik. Nur wurde aus der von Zenon gemeinten logischen Identität von Groß und Klein ein physisches Nebeneinander und Ineinander von Stoffen im All. Dies Verhältnis zwischen Anaxagoras und Zenon ist darum so wichtig, weil es das genaue Gegenstück zum Verfahren des Parmenides in seinem Gedichte ist, wie es Reinhardt, Parmenides und die Gesch. der Gr. Phil. (Bonn 19x6), besonders S. 69 ff., erkannt hat. Die physikalische Konstruktion der parmenideischen δόξα geht aus von der in sich absurden These der Identität von Sein und Nichtsein und „ist nichts anderes als eine Übersetzung d e r . . . logischen Kategorien ins Räumliche" (a. O. S. 71). Wie für Parmenides Sein und Nichtsein als Licht und Nacht erschienen, so hier Klein und Groß als „πάντα χρήματα" und „Luft und Äther". Aber darüber hinaus behalten die beiden die wichtigsten Eigenschaften des Seins ihre Geltung. Wir werden etwa beim Begriff der Mischung noch davon zu reden haben. Von einer ontologisch falschen Grundlage aus wird die Physik aufgebaut, bei Anaxagoras wohl so gut wie bei Parmenides im Bewußtsein ihrer relativen Geltung gegenüber den absoluten Einheitsansprüchen der Ontologie. Als Zenon in Athen das Gedicht des Parmenides und seine eigene Prosaschrift dazu4 vortrug (vgl. Zenon 29 A 4), hat ihn Anaxagoras wohl gehört. 4
Die man mit Stenzel, Metaph. des Altertums, Kommentar zu Parmenides nennen könnte.
München 1 9 3 1 , S. 61, beinahe einen
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Zu Anaxagoras
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Über Anaxagoras hinaus müssen wir nun zwei weitere wichtige Stellen anführen: Die eine ist bisher kaum beachtet, | gewinnt aber in unserm Zusammenhang eine gewisse Bedeutung. Leukipp-Demokrit haben bekanntlich für die χρήματα des Anaxagoras die „unteilbaren Gestalten" eingesetzt. Nun berichtet Aristoteles (Demokrit 68 A 37), daß Demokrit die Atome sich audi der Größe nach unterscheiden ließ, und ein anderer Bericht (68 A 43) bemerkt ausdrücklich, daß Demokrit im Gegensatz zu Epikur audi ganz große neben den kleinen Atomen angenommen habe; da Epikur selber gegen eine solche Ansicht polemisiert (zu 68 A 43 zitiert), wird man an der Tatsache kaum zweifeln dürfen, auch wenn man auf die Nachricht des Aetius (68 A 47), Demokrit hätte sogar Atome von der Größe eines Kosmos gelehrt, nicht allzuviel geben wird. Jedenfalls blickt hier das Gegensatzpaar des Anaxagoras durch, wohl direkt übernommen. Die Stellen stützen einander gegenseitig. Es sind beides Annahmen, die physikalisdi ganz unbegründet waren, ja, wie Epikur bemerkt, dem Augenscheine geradezu widersprachen, aber logischen Forderungen zu genügen hatten. Es ist kein Wunder, daß Theophrast weder mit der Lehre des Anaxagoras, noch mit derjenigen des Demokrit etwas Rechtes anzufangen gewußt hat. Für jenen gibt uns das Frg., für diesen Epikur die richtige Auskunft. Wenn wir nun sehen, wie Anaxagoras und Demokrit in der ursprünglidien, unbegrenzten Masse des physischen Alls das zenonisdie Paar Groß — Klein verkörpert sein lassen, so liegt es nicht allzu ferne, als Dritten Piaton anzuschließen, der in seiner unveröffentlichten Vorlesung (eine Hauptstelle Aristot. Phys. 187 a 17 ff. und Met. 987 b 20 f.) dem εν als dem είδος die ΰλη gegenüberstellte, die άπειρος ist und aus dem μέγα και μικρόν besteht, die beide απειρα sind (s. Arist. Phys. 206 b 27 ff., eine Stelle, auf die wir zurückkommen müssen). Natürlich kann nicht geleugnet werden, daß Piaton im Zusammenhang seiner zumal mathematischen Spekulation diesem Gegensatzpaar eine neue Begründung und Bedeutung gab, aber dies schließt nicht aus, daß man mit einiger Wahrscheinlichkeit es seiner Herkunft nach an Zenon, Anaxagoras, Demokrit anknüpfen darf. Wir werden später noch einen Hinweis finden. Wir können hier ohnehin, was Piaton betrifft, nicht mehr als eine Andeutung geben. Anaxagoras Frg. 1 ist nach einem logisch-theoretischen Verhältnis aufgebaut. Wie dahinein die Physik eingeordnet wird, zeigt das einzelne, dem wir uns nun zuzuwenden haben. Berühmt war | der Eingang. Der für das gesamte System entscheidende Begriff όμοϋ steht voran. Er kehrt gleich wieder in Frg. 4, doch erst in Frg. 6 wird sein voller Sinn deutlich. Das ήν soll einfach die Urzeit bezeichnen. Wenn Aristoteles (59 A 52) und Simplicius (59 A 45) schreiben: ήν όμοΰ πάντα, so erinnert das direkt an die bekannten Eingänge: ήν χρόνος (Protagoras 80 C 1, Kritias 88 Β 25). Damit folgt Anaxagoras dem „genealogischen" Schema der Milesier, die
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mit dem „Anfang" einsetzten. Wahrscheinlich ist andererseits, wie H. Gomperz, Sophistik und Rethorik (Leipzig 1912) S. 252, bemerkt, daß der ebenso berühmte Eingang des Protagoras (80 Β ι) demjenigen des Anaxagoras nachgebildet ist. Damit ist die historische Stelle des Anaxagoras schon angedeutet: Zwischen Zenon, dem Milesiern und Protagoras. Protagoras hat ihn sicher in Athen gehört. Aristoteles hat das Buch genau gelesen, und es ist ganz interessant, wie er gerade im ersten Stück 59 Β 1 mehrere Ausdrücke kritisiert: so findet er gleich das όμοΰ ungeschickt (59 A 6r), und das σμικρότητι möchte er seltsamerweise durch όλιγότητι ersetzen (59 A 60); offenbar identifiziert er das πάντα χρήματα mit Luft und Äther, und meint, Anaxagoras habe durch σμικρότητι die Zahl zwei bezeichnen wollen. Das ist ein Mißverständnis des Aristoteles. Die Unbegrenztheit wird nun begründet durch die Kleinheit: weil die Dinge so klein sind, sind sie (an Zahl) unendlich. In Frg. 3 führt Anaxagoras diesen Gedanken näher aus, wo der Zusammenhang mit Zenon wiederum greifbar wird. Dann wird das όμοΰ beschrieben; es ist nichts Einzelnes in ihm unterscheidbar, so klein sind die Dinge. Zu dieser räumlichen Ununterschiedenheit tritt später in Frg. 4 die weitere Eigenschaft: es ist auch keine Farbe im όμοΰ untersdieidbar. Die beiden Stellen sind offenbar aufeinander bezogen und bewußt parallel. Dies zeigt, daß das folgende γάρ keine Begründung der Ununterschiedenheit mehr ist (denn sie ist schon gegeben durch die Kleinheit), sondern eine allgemein weitere Charakterisierung des Urwesens einleitet. Die zweite Hälfte des Gegensatzpaares, die zwei unendlichen Größen, werden nun genannt. Das κατειχεν übersetzt Diels mit „hielt nieder". Das ist sachlich kaum zu verstehen, während die andere Übersetzung von Burnet, Die Anfänge der Gr. Phil. (Leipzig 1913) S. 237: „überwog" lexikalisch schwerlich | angehen kann. Die richtige Erklärung scheint mir Aristoteles zu bieten, der in De caelo p. 302 b 1 ff. (59 A 43 Ende) auf unsere Stelle anspielt: „Anaxagoras nennt... Luft und Feuer ein Gemisch von diesen (den Homöomerien) und allen anderen Samen (dies aus 59 Β 4). Denn jedes von beiden sei aus allen unsichtbaren Homöomerien angesammelt. So entstünde auch Alles aus ihnen. Feuer und Äther nennt er übrigens dasselbe". Hier entspricht das αόρατος dem ουδέν ενδηλον, und das ήθροισμένον dem κατεΐχεν des Frg. Danach bedeutet dieses „enthalten". Die Dinge sind in Luft und Äther drin, als in ihrer Urgestalt. Die Vorstellung scheint zu schwanken zwischen derjenigen von einem „räumlichen Behälter" und einem „Urstoff". Es sei gleich bemerkt, daß dies für die Beurteilung der milesischen Lehre wichtig ist. 5
Vgl. Theophrast bei 12 A 9. Das μείγμα des Empedokles gehört insofern auch in die Nähe Anaximanders. Aber wie die Kugelform u. a. zeigen, ist das „Mischungsverhältnis" von ionisdier und eleatisdier Lehre bei Empedokles durdiaus ein anderes.
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Ein Widerspruch ist bei Anaxagoras freilich nicht zu verkennen: Einerseits e n t h a l t e n Luft und Äther alle Dinge, andererseits sind sie (wie der Schluß des Frg. zeigt) nur der größte Teil des Alls (εν τοις σύμπασι). Dieser Widerspruch mag Diels zu seiner Übersetzung bewogen haben. Aber während die Diels'sche Auffassung problemgeschichtlich undenkbar ist, läßt sich der Widerspruch wohl begreiflich machen. E r beruht darauf, daß die Verschmelzung von Physik und Logik noch nicht völlig gelungen ist. Luft und Äther sind zwei physische Größen, und w o bei den Vorsokratikern eine solche Zweiheit erscheint, kann man annehmen, daß es sich um ein Gegensatzpaar handle. Dies bestätigt die Doxographie eindeutig: wir sahen schon oben, daß Aristoteles den Äther als Feuer erklärte. Dies wiederholt er in 59 A 73 und 59 A 84. Damit stimmt Theophrast überein. Neben j