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German Pages [324] Year 1999
Stätten des Geistes
Stätten des Geistes Große Universitäten Europas von der Antike bis zur Gegenwart
Herausgegeben von Alexander Demandt
§ 1999
BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Stätten des Geistes: Große Universitäten Europas von der Antike bis zur Gegenwart / hrsg. von Alexander Demandt. Köln ; Weimar ; Wien : Böhlau, 1999 ISBN 3-412-01899-6 © 1999 Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Anakonda Ateliers, Frankfurt a. M. Umschlagabbildungen: Hintergrund: Friedrich-Wilhelms-Universität (Foto: A K G , Berlin); Vorderseite: Henry-Ford-Bau der FU-Berlin, Außenansicht (Foto: Jörg F. Müller); Rückseite: Henry-Ford-Bau der FU-Berlin, Innenansicht (Foto: Marius Sobolewski) Satz: Greiner Sc Reichel, Köln Druck und Bindung: Pustet, Regensburg Printed in Germany ISBN 3-412-01899-6
Inhalt Vorwort VII Hellmut Flashar Athen. Die institutionelle Begründung von Forschung und Lehre 1 Bernd Seidensticker Alexandria. Die Bibliothek der Könige und die Wissenschaften 15 Heinrich Schlange-Schöningen Konstantinopel. Eine Brücke des Wissens von der Antike zur Neuzeit 39 Peter Landau Bologna. Die Anfänge der europäischen Rechtswissenschaft Joachim Ehlers Paris. Die Entstehung der europäischen Universität
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Frank Rexroth Oxford. Vom »langen Mittelalter« der englischen Wissenschaft 91 Kaspar Elm Studium und Studienwesen der Bettelorden Die »andere« Universität? 111
Inhalt
Peter Moraw Prag. Die älteste Universität in Mitteleuropa
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Jürgen Miethke Heidelberg. Eine Gründung im Großen Abendländischen Schisma 147 Wilhelm Ernst Winterhager Wittenberg. Reformation und Wissenschaft
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Jürgen von Ungern-Sternberg Basel. Die Polis als Universität 187 Klaus Zernack Krakau. Ne cedat Academia
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Conrad Grau St. Petersburg. Die Akademie der Wissenschaften Rußlands von Peter dem Großen zu Lenin 223 Rudolf Vierhaus Göttingen. Die modernste Universität im Zeitalter der Aufklärung 245 Rüdiger vom Bruch Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin. Vom Modell »Humboldt« zur Humboldt-Universität 1810 bis 1949 257 Eberhard Lämmert Freie Universität Berlin. Veritas - Iustitia - Libertas Alexander Demandt Stationen europäischer Geistesgeschichte Die Autoren
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Vorwort
Während meines Dekanats im Fachbereich Geschichte 1995/1996 erreichte mich der Wunsch des Präsidialamtes der Freien Universität, zu deren 50. Jubiläum 1998 eine Ringvorlesung durchzuführen. Das Thema wurde im Kreise meiner Doktorschüler gefunden, das Programm mit Kollegen abgestimmt. Die Zahl der Vorträge war durch die Semesterwochen vorgegeben; es war nicht ganz einfach, festzulegen, über welche Stationen der Weg des Geistes von Athen nach Berlin zu nehmen sei - der eine oder andere Ort hätte ausgewechselt werden können. Meine Zweifel an der Möglichkeit, Redner zu finden, waren überwunden, als bei einem Gespräch auf der Fahrt vom Semmering nach Wien am 26. Oktober 1996 Eberhard Lämmert zusagte, den Schlußvortrag über die Freie Universität zu halten. Die Bereitschaft der Redner, mitzuwirken, und das lebhafte Interesse des Publikums, das sich jeden Donnerstagabend um 18 Uhr in der Rostlaube einfand, mit dem Abtrunk danach - derartiges gehört zu den schönsten Erfahrungen im akademischen Leben. Der Zauber der Geschichte führt Menschen zusammen. Der Titel »Stätten des Geistes« sollte zum Ausdruck bringen, daß Akademien und Universitäten gemeint sind. Andere Forschungseinrichtungen wie Gelehrtengesellschaften, Bibliotheken, Museen und Einzelinstitute mußten übergangen werden. Zugleich sollte der Titel anzeigen, daß der Schwerpunkt auf den Geisteswissenschaften liegt, ein Technik- oder Naturwissenschaftler hätte gewiß andere Akzente gesetzt. Die Redner hatten in der Behandlung ihres Gegenstandes freie Hand. Damit sollte nicht Beliebigkeit ausgelebt, sondern Vielfalt erreicht werden. Gründungsphase und Höhezeit der jeweiligen Anstalt, ihre bleibenden Leistungen und großen Köpfe, ihr innerer Aufbau und das Verhältnis zur Umwelt waren als Leitfragen vorgegeben. Die als »Universitätsvorlesung« mit Mitteln des Außenamtes durchgeführte Reihe trug auf Wunsch der begutachtenden Kommission den Untertitel: »Innovation und Tradition in der Geschichte der europäischen Universität«. N u r wenige Redner sind auf diese Begrifflichkeit eingegangen, der Sache nach ist sie der Thematik so eng verbunden, daß es nicht
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Vorwort
nötig schien, sie auch in der Druckfassung beizubehalten. Im Einvernehmen mit dem Programmleiter des Böhlau-Verlages, Johannes van Ooyen, habe ich sie wieder herausgestrichen. Daß sein Haus die Publikation übernommen hat, werden die Leser ihm danken. Eine unverhoffte Bereicherung bot Kaspar Elm mit seinem andernorts gehaltenen Vortrag über das Studienwesen der Bettelorden. Dessen dezentrale Struktur fällt etwas aus dem Konzept der Ortsbindung der Vorträge, beleuchtet aber eine ergänzende Facette der gesamten Thematik. Zweimal mußte die Rednerliste geändert werden. Die Behandlung von Göttingen hatte zunächst Hartmut Boockmann übernommen. Als ihn uns am 15. Juni 1998 der Tod entriß, sprang Rudolf Vierhaus ein. Für Sankt Petersburg hatte sich Hans-Joachim Torke bereit gefunden. Krankheit hinderte ihn zu sprechen, doch trat Conrad Grau kurzfristig an seine Stelle. Beiden sei dafür eigens gedankt.
Berlin, den 20. Juli 1999
Alexander Demandt
HELLMUT
FLASHAR
Athen Die institutionelle Begründung von Forschung und Lehre
Daß eine Ringvorlesung über Stätten des Geistes mit Athen beginnt, ist gut begründet, wenn auch Athen im Zuge der Entwicklung des griechischen Denkens und Wissens erst relativ spät, erst etwa in der Mitte des 5. Jhdts. v.Chr., eine Stätte des Geistes wurde. Im ionischen Bereich, wo Wissenschaft und Philosophie bei den sog. Vorsokratikern viel früher entstanden war, haben sich keine Institutionen gebildet, die einer Stätte des Geistes oder gar einer entsprechenden Institution, z.B. einer Universität vergleichbar gewesen wären. Gewiß gab es lockere Lehrer-Schüler-Verhältnisse, aber daraus Schulen zu folgern, war eine anachronistische Konstruktion der antiken Doxographen. Ähnlich steht es mit den in Unteritalien lebenden Pythagoreern. Hier gab es Kreise, vielleicht sogar Lebensgemeinschaften von Mitstrebenden und Lernenden, aber Schulen oder gar Hochschulen waren dies nicht. Und im Athen des 5. Jhdts., wo nun auch die ionische Naturphilosophie rezipiert wurde, waren Sokrates auf der einen und die gleichzeitig mit ihm auftretenden Sophisten auf der anderen Seite aus unterschiedlichen Gründen so individualistisch geprägt, daß an eine Institutionalisierung ihres Wirkens nicht zu denken war. Der platonische Dialog Protagoras zeigt anschaulich, wie der große Sophist im Hause des reichen Kallias eine Art Vorlesung mit anschließender Diskussion hält, aber eben doch in einem ganz privaten Zirkel. Und der Unterricht, den Sokrates in den aristophanischen Wolken in seiner Denkerwerkstatt blassen, weil lichtscheuen Schülern erteilt, ist ein von der Realität weit entfernter Zerrspiegel der Komödie. So ist denn die erste Institution in Athen, die eine Stätte des Geistes genannt werden kann, die Akademie, die Piaton bald nach dem Jahre 387 gegründet hat, nach der Rückkehr von einer längeren Reise, die ihn nach Unteritalien (zu den dortigen Pythagoreern) und nach Sizilien geführt hatte. Nun war diese Akademie keine Universität in unserem Sinne. Aber sie hat doch auf das stärkste das Selbstverständnis der Universität beeinflußt, im Grunde bis auf den heutigen Tag. Wir sprechen ja vom akademi-
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sehen Senat, von akademischen Prüfungen und meinen damit universitäre Einrichtungen. Wir sprechen von Akademikern (manchmal mit einer leicht pejorativen Note) und wir verwenden das Wort Akademie für Stätten des Geistes, übrigens auch wenn sie vom Geiste Piatons weit entfernt sind, ζ. B. im Falle einer Forstakademie. Piaton, der nicht unbegütert und Junggeselle war, kaufte in dem Hain des uralten, schon damals nur in blasser Erinnerung fortlebenden Heros Akademos ein Gartengrundstück, auf dem er neben kleineren Häusern ein Schulgebäude errichten ließ. Der Akademie-Hain lag außerhalb der Mauern Athens, genauer gesagt: 1,5 km von dem großen Dipylontor an der Stadtmauer in nordöstlicher Richtung entfernt, nicht in der Stadt. Heute befindet sich das Gelände inmitten einer relativ häßlichen Vorstadt; die Grabungen der 20-er Jahre liegen seit Jahrzehnten brach; man hat allerdings den tristen Eindruck, den ich von früheren Besuchen hatte, durch die Anlage eines kleinen Parkes abgemildert, - ich war zuletzt vor einem Jahr dort. Man kann mit einem Bus mit der Endstation Akademia Platonos hinausfahren. Der alte Baumbestand ist ohnehin nicht mehr da; ihn hat Sulla durch seine römischen Soldaten im Jahre 86 v. Chr. abholzen lassen und für Belagerungsmaschinen verwendet, die er - übrigens in seinem Sinn erfolgreich - gegen Athen eingesetzt und damit ein ungeheures Blutbad angerichtet hat. Die Trennung der Stätte philosophischen Unterrichtes von der Stadt (auf die Sokrates sein ganzes Wirken konzentriert und beschränkt hatte) durch Piaton war programmatische Absicht. Denn Piaton war inzwischen durch verschiedene Erfahrungen zu der Überzeugung gelangt, daß Gerechtigkeit und moralische Integrität in der Politik und damit im Gemeinwesen systemimmanent nicht mehr erreicht werden können, es sei denn die Politiker würden sich ernsthaft mit Philosophie beschäftigen oder die Philosophen würden sich an der Leitung des Staates beteiligen. Diese Überzeugung hatte Piaton nach Ausweis des sog. 7. Briefes (ob echt oder unecht, ist hier unerheblich) mit etwa 40 Jahren gewonnen, also zu der Zeit, als er die Akademie gründete. Gründung und Ort der Gründung müssen damit zu tun haben. Piaton wollte einen Ansatz außerhalb des politischen Getriebes finden. Nun war aber die Akademie alles andere als eine theoriegeleitete politische Kaderschmiede oder auch nur ein Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft. Aber was war die Akademie? Befragt man die nicht geringe Zahl der wissenschaftlichen Arbeiten über die platonische Akademie, so kann man feststellen, daß in ihnen des öfteren Probleme und Erfahrungen der eigenen Zeit auf die platonische Akademie zurückprojiziert werden. Als Hermann Usener einen Aufsatz mit dem Titel: Organisation der wissenschaftlichen Arbeit im Jahre 1884 veröffentlichte, da sah er in einer von ungebrochenem Wissenschaftsoptimismus beseelten Situation, in der ζ. B. die Preußische Akademie der Wissenschaf-
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ten Großprojekte wie die Inschriftencorpora in Angriff genommen hatte, das Modell der Organisation wissenschaftlicher Arbeit in der platonischen Akademie präformiert. Die Vermehrung von Wissen und Wissenschaft zu seiner Zeit nannte Usener »ein großartiges Schauspiel« und die griechische Wissenschaft war ihm »das Ergebnis einer wunderbaren Organisation der geistigen Arbeit« (100), wie sie vor allem in der platonischen Akademie und im Peripatos geleistet worden war. Ein für die platonische Akademie wesentlicher Aspekt ist damit in der Tat angesprochen worden, nämlich die Rolle der Wissenschaften in einer philosophischen Akademie und damit das Verhältnis der Einzelwissenschaften zur Philosophie. So ist ja der berühmte Mathematiker Eudoxos von Knidos Mitglied der platonischen Akademie gewesen und zeit seines Lebens geblieben. Er war etwa eine Generation jünger als Piaton, ein ganz bedeutender Mathematiker, Astronom und Geograph. Andere Wissenschaftler kamen dazu, für die die Akademie eine Attraktion bedeutete. Nach den Erschütterungen des ersten Weltkrieges war dann die Vorstellung von der Organisation großer Projekte aus der Deutung der platonischen Akademie verschwunden und einem Weg in die Innerlichkeit gewichen. Auf dem neutralen Boden der Schweiz erschien im Jahre 1921 eine Schrift des Züricher Gräzisten Ernst Howald mit dem Titel: Die Platonische Akademie und die moderne Universitas Litterarum. Hier findet man zur Charakterisierung der Eigenart der Akademie Piatons Ausdrücke wie »Erlebnis«, »Ekstase«, »Heilsweg«, »Erlösungslehre«, »Verfrommung«, »Ergriffenheit«. Howald sieht in der Akademie »Jüngertum an einem Heiland« und fügt hinzu: »Ich glaube behaupten zu dürfen, daß Piaton, wenn er unsere Universitäten sehen könnte, ihnen seine Mißbilligung aussprechen würde« (21). Das ist ein Urteil nicht etwa über unsere heutige Massenuniversität, sondern über die aus heutiger Sicht geradezu idyllische Universität der zwanziger Jahre noch dazu auf der Basis eines Schweizer Erfahrungshintergrundes. Im Jahre 1944 erschien in der Reihe der Kriegsvorträge der Universität Bonn eine Broschüre mit dem Titel: Piatons Akademie von Hans Herter. Der Inhalt ist sachlich, gelehrt. An die Zeitumstände erinnert nur der Zusatz hinter dem Namen des Autors: Mitglied des NS-Dozenten-Bundes und vielleicht eine Formulierung wie: »der Jüngling von guter alter Art« habe auf dem Gelände der Akademie »mit dem gleichgesinnten Kameraden seinen Übungslauf gemacht«. Der gleiche Vortrag erschien im Jahre 1946 in gleichen Wortlaut noch einmal und sollte nun dazu dienen, über die geistigen Trümmer der deutschen Universität hinwegzuhelfen. Also sieht man wieder in der platonischen Akademie die Urform der modernen Universität. Im gleichen Sinne hat Otto Seel als ersten Vortrag in einer Ringvorlesung zur Eröffnung des Studium Generale an der Universität Erlangen 1952 das Thema: Die platonische Akademie gewählt.
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All diese und andere (hier nicht genannte) Arbeiten enthalten wissenswerte Informationen; sie sind aber in Inhalt und Formulierung sehr stark Zeit und Anlaß ihrer Entstehung verhaftet. Fragen wir heute nach der Eigenart der platonischen Akademie, so gehen wir zunächst von den antiken Zeugnissen aus, wobei wir die ohnehin nur in spärlichen Fragmentsplittern greifbaren karikierenden Bemerkungen der Komödie hintanstellen. Demnach bestand die Akademie aus einem Scholarchen (der unserem Rektor oder Präsidenten entspricht), der auf Lebenszeit amtierte, zunächst natürlich Piaton selber, unmittelbar danach ein von ihm testamentarisch Bestimmter und danach ein in geheimer Wahl Gewählter. Sodann gab es Lehrende und selbständig Forschende, z.B. den (schon erwähnten) Eudoxos von Knidos, der Piaton bei dessen Abwesenheit in der Leitung der Schule vertreten haben soll (er soll in dieser Funktion den jungen Aristoteles in die Akademie aufgenommen haben) und schließlich die Lernenden. Die Akademie war angesehen; für junge Leute mit großen Ambitionen galt es als Ehre, Mitglied der Akademie zu sein. Aristoteles wurde mit 17 Jahren von seinen Eltern aus dem fernen Makedonien nach Athen in die Akademie geschickt. Es gab keine Studienzeitbegrenzung. Aristoteles gehörte der Akademie mehr als 20 Jahre an, bis zum Tode Piatons. Allerdings konnte der Lernende auch schon bald lehren. Aristoteles jedenfalls tat es in der Akademie. Man mußte nicht in allem Piatons Meinung sein; man konnte sogar Piatons Konzeption der Ideenlehre angreifen, aber die Anerkennung bestimmter Prinzipien (z.B. der Primat des Intellegiblen in der Ontologie) war unabdingbar. Piaton und eine Reihe anderer, wenn auch nicht alle Mitglieder wohnten auf dem Schulgelände in mehreren kleineren Häusern. Hermann Diels hat in einem Sitzungsbericht der Preußischen Akademie der Wissenschaften mit dem Titel Über Piatons Nachtuhr (1915) aus Angaben bei antiken Autoren nachgewiesen, daß und wie offenbar Piaton selber eine Art Weckuhr konstruiert hat, mit der er den Schülern das Signal zum Aufstehen und zum alsbaldigen Unterricht gab, ziemlich früh übrigens; gegen 5 Uhr morgens (für Dozenten und Studenten der Philosophie heute etwas ungewöhnlich). Diels hat die platonische Uhr am Modell nachgebaut. Es funktioniert so, daß eine angesammelte Wassermenge plötzlich in ein hermetisch verschlossenes Gefäß stürzt, aus dem die Luft nur durch eine Pfeife entweichen kann, die eine Art Sirenenton von sich gibt. Herter (in der erwähnten Schrift über die Platonische Akademie) bemerkt dazu, Piaton habe »der Welt den ersten Wecker geschenkt«. Es gab verschiedene Typen des Unterrichts: Lehrvorträge, das Lehrgespräch nach Art der platonischen Dialoge, Seminarübungen vornehmlich im Einteilen der Gattungen der Bereiche des Seins und der Lebewesen und Übungen im Definieren nach Art der Dihaeresen in den platonischen Spätdialogen.
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Was die Lehrinhalte betrifft, so wird man sie nicht trennen können von den Themen der mittleren und späten Dialoge, d. h. von Fragen der philosophischen Begründung der Politik, der Ethik, der Fachwissenschaften und deren Verhältnis zur Philosophie. Die Interessen der Mitglieder waren sicher unterschiedlich, allein wenn man bedenkt, daß ein politischer Feuerkopf wie Dion, der Schwager Dionys' I. von Syrakus, neben Wissenschaftlern wie Eudoxos und Aristoteles der Akademie angehörten, kann man die Bandbreite der Interessen ermessen. Es wird sich aber auch die Methode der Vermittlung von Wissen zumindest durch Piaton selber nicht völlig trennen lassen von dem Verfahren, das uns in den platonischen Dialogen entgegentritt. Das bedeutet, daß Erkenntnis nicht einfach abrufbar übermittelt, sondern in einem Prozeß der inneren Aneignung erworben wird, der - und hier wird der sokratische Impuls wirksam - mit der Beseitigung vorgefaßter Meinungen beginnt, mit dem Eingeständnis des Nichtwissens einsetzt, und dann Stufe um Stufe Wissen und Einsicht aufbaut, nicht gerade in Kurzstudiengängen. Es gibt an verschiedenen Stellen des platonischen Werkes Darstellungen von Erziehungs- und Bildungsphasen in ihrer Abfolge über mehrere Stufen. Wenn wir diese auch nicht schematisch auf die Akademie übertragen dürfen, so sind die Grundsätze doch auch für die Akademie gültig. Für Piaton beginnt jede Erziehung mit Übung und Gewöhnung in der Ausbildung einer auf Tüchtigkeit angelegten Naturanlage. Gymnastik und vor allem Musik haben hier ihren Ort als Mittel des Ausgleichs zwischen den verschiedenen Kräften der Seele, noch bevor der Verstand die Seele leitet und natürlich vor dem Eintritt des jungen Menschen in die Akademie. Dann gliedert sich das eigentliche Lernen in eine zunächst noch propädeutische Phase mit den Fächern Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Harmonielehre. Dabei kommt es Piaton auf den inneren Zusammenhang dieser Fächer an, wobei besonders der Mathematik eine einheitsstiftende Funktion zukommt. Diese erhält aber ihren Rang weniger ihres praktischen Nutzens wegen, sondern vor allem als paradigmatischer Vergewisserungsbereich für die Struktur des Seienden, insofern alles sinnlich Erfahrbare seine Begründung und überhaupt Existenz aus unsichtbaren Strukturverhältnissen, aus Zahlenproportionen erhält. Dies führt zur Ideenlehre und damit zur Philosophie als Disziplin nicht neben, sondern über den Einzelwissenschaften mit weiteren Abstufungen bis zum höchsten und letzten Seinsgrund. Die Philosophie ist darin also eine Grundwissenschaft, der alle anderen Wissenschaften untergeordnet sind, insofern sie die Voraussetzungen für und den Raum von Wissenschaft begründet. Die letzten und höchsten Prinzipien des Seins hat Piaton von der Schriftlichkeit ausgeschlossen; sie bleiben der Mündlichkeit, und zwar in der Akademie als innere Lehre vorbehalten, also dem dialektischen Gespräch mit dem Ziel, daß der Funke der Erkenntnis aufblitzt und der Gesprächspartner dann in einer synopti-
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sehen Anstrengung den Aufbau des gesamten Seins und damit zugleich des Wertgefüges (das oberste Seinsprinzip ist ja die Idee des Guten) erkennt. Es ist mir nicht zweifelhaft, daß die platonischen Grundsätze von Lehre, Lehren und Lernen maßgeblich die Konzeption Wilhelm von Humboldts der Bildungseinrichtungen und eben auch der Universität beeinflußt haben, obwohl ein direktes Zeugnis zu fehlen scheint. Aber Piaton war Humboldt natürlich präsent und wurde zusätzlich in den Jahren kurz nach 1800, in denen Humboldt seine Konzeption entwickelte und dann mit der Gründung der Berliner Universität in die Tat umsetzte, aktuell durch die Übersetzung Schleiermachers mit den Vorreden, in denen gerade die dialogische Kraft des Philosophierens besonders hervorgehoben wird. Zudem ist der Universitätsplan Humboldts unmittelbar von Schleiermacher beeinflußt, nämlich von seiner 176 Seiten umfassenden Denkschrift: »Gelegentliche Gedanken über Universitäten im deutschen Sinn, nebst einem Anhang über eine neu zu errichtende«. Und in der Tat: der Bildungsbegriff Humboldts, der auf den Menschen als Menschen eingerichtet ist, die von Humboldt betonte Bedeutung der Mathematik im Bildungsprozeß unabhängig von dem praktischen Nutzen, überhaupt die Hintanstellung der unmittelbaren positivistischen Verwertbarkeit und damit jeder Art von Fremdbestimmung, vielmehr die unablässige Suche nach Wahrheit, die dynamisch konzipierte Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden, die Bedeutung, die das Gespräch, d.h. auf der Stufe der Universität: das Seminar darin hat, schließlich die Bedeutung und Stellung der Philosophie in ihrem die Einzelwissenschaften transzendierenden Rang, wie er in der Konzeption der Philosophischen Fakultät zum Ausdruck kommt, für all das ist die platonische Akademie das Modell. Und in der (hier nicht in extenso zu erörternden) Frage, ob die heutige Universität sich völlig von Humboldt verabschiedet hat oder ob nicht einige Elemente daraus heute wieder zumindest im Bereich der Philosophischen Fakultät eine neue Berechtigung haben mögen, ragt mittelbar die platonische Akademie als eine der frühesten Stätten des Geistes im antiken Athen in unsere Gegenwart hinein. Allerdings müssen wir uns vor einer naiven Identifizierbarkeit hüten. Zum einen kommen bei Humboldt Komponenten hinzu, die bei Piaton keine Rolle spielen. Dazu gehört die Bildung an und durch die Sprache, bei Humboldt vornehmlich an der griechischen Sprache, wozu es bei Piaton keine Analogie gibt (es gab eben vor den Griechen keine Griechen), sodann die doch ganz andere soziologische Struktur der Gesellschaft und letztlich auch die spezifisch platonische Konzeption der Philosophie als Ontologie und die davon abhängige hierarchische Struktur des Wissenschaftskosmos. Die Wissenschaften waren für Piaton kein Selbstzweck, sondern Erkenntnisstufen auf dem Wege zur Erkenntnis der letzten Prinzipien, von denen alles Sein abhängt. Diese Rückführung auf den Seins-
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grund kennt weder Humboldt noch die moderne induktiv-empirische Wissenschaft, schon gar nicht in Verbindung mit der agathologischen Dimension, mit der Frage nach dem Guten. Das allerdings rief schon in der Akademie Piatons Verwunderung hervor. Wir haben einen (in der Deutung allerdings einigermaßen umstrittenen) Bericht des Aristoxenos, der sich dabei auf seinen Lehrer Aristoteles beruft, über eine Vorlesung Piatons in der Akademie mit dem Thema Über das Gute. Danach hätten die herbeigeströmten Hörer Ausführungen Piatons über das erwartet, was man allgemein unter einem Gut versteht, über Reichtum, Gesundheit, Kraft, Glück, Wohlbefinden. Piaton aber habe über mathematische Gegenstände geredet, über Zahlen, geometrische und astronomische Verhältnisse. Schließlich habe er gesagt, das Gute sei das Eine (εν). Das sei den Hörern ganz merkwürdig erschienen, man habe auf die Sache herabgesehen und geschimpft. Die den weiteren Kontext isolierende Anekdote ist verschieden gedeutet worden. Man hat sie mit einer Darstellung im 7. platonischen Brief in Verbindung gebracht, wonach es sich um eine Erprobung (πείρα), um eine Art Test handelt, die wirklich philosophischen und lernbereiten Naturen herauszufinden, indem man in einer ersten Zusammenkunft die Sache in ihrer ganzen Schwierigkeit und in vollem Ausmaß vor Augen stellt. Wer sich dann nicht abschrecken läßt, sondern weitermacht, erweist sich als der Geeignete für weitere Belehrung. Ich lasse einmal die Frage beiseite, ob ein solches Verfahren in unserem heutigen Universitätsalltag empfehlenswert sei. Auffällig ist jedenfalls, daß auch nach damaliger communis opinio (wie die Reaktion der Hörer zeigt) Piatons Verankerung des Guten und damit der Ethik in der Ontologie und in deren Prinzipien alles andere als selbstverständlich war. Schon dieser Ansatz macht deutlich, daß die Akademie Piatons weit entfernt von einer Stätte der Politologie uns geläufigen Sinnes war. Das grundsätzlich Neue ist die Begründung jeder ethisch relevanten aktiven oder passiven Bekundung nach außen (also auch jeder politischen Tätigkeit) in der Ontologie und ihren Prinzipien. Dabei darf nicht vergessen werden, daß die Akademie in Konkurrenz trat zu der Schule, die der ca. 20 Jahre ältere Rhetor Isokrates wenige Jahre zuvor in Athen (nicht, wie Piaton, außerhalb der Stadt) gegründet hatte. Wir sind über die Schule des Isokrates nicht im entferntesten so detailliert informiert wie über die Akademie Piatons. Aber einiges läßt sich doch sagen. Die Redner des 4. Jhdts. waren die Erben und Fortsetzer der Sophistik, die ihren Höhepunkt im 5. Jhdt. hatte. Unter ihnen war Isokrates derjenige, der durch die Art, wie er sophistische mit sokratischen Gedanken vermengte und mit traditionellen Wertvorstellungen teilweise sogar gegen radikale sophistische Positionen verband, in der Gesellschaft Athens seiner Zeit am ehesten konsensfähig. Er war Pragmatiker, trug den Realitäten Rechnung, im politischen Bereich in panhellenischer Öffnung zu den
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Makedonenherrschern. Er verfolgte ein Erziehungsideal, das auf Naturanlage und praktischer Übung ohne philosophische Dialektik beruhte und in der Tätigkeit zur formvollendeten Rede gipfelte. Piaton hatte diese Art von Rhetorik schon früh (im Gorgias) scharf kritisiert, gleichwohl aber Isokrates ein beträchtliches Maß an Begabung und Fähigkeiten zugestanden. Da Isokrates seine Fähigkeit ebenfalls als Philosophie bezeichnete, ergab sich schon eine gewisse Konkurrenzsituation, die durch die Gründung der Akademie auch in der äußeren Form manifest wurde (φιλοσοφία wurde zum Modewort, wie auch heute, w o jede Firma eine »Philosophie« hat). Wenn es im Athen des 4. Jhdts. so etwas wie ein Bewußtsein von einer kulturellen Identität gegeben hat, so verkörperte diese am ehesten Isokrates und seine auf common sense ausgerichtete Schule, der bedeutende athenische Politiker angehörten, die aus der Schule hervorgingen, wie königliche Kämpfer aus dem Bauche des trojanischen Pferdes. So hat es Cicero in seiner Schrift Über den Redner (II 94) einprägend formuliert. Die Schule des Isokrates war demnach gewiß auch eine Stätte des Geistes, aber ohne die Wissenschaften, vor allem ohne Mathematik, und ohne Philosophie im eigentlichen Sinne. Diejenigen, die sich von Piatons Vorlesung Über das Gute abgeschreckt fühlten, weil sie natürlich unter dem Guten äußere sichtbare Güter verstanden, dürften ihrem geistigen Habitus nach Isokrateer gewesen sein. Das Ideal des Isokrates entspricht, will man eine moderne Analogie heranziehen, dem Leitbild eines heutigen Politikers, der ohne wissenschaftliche Grundlage ausgewogen und pragmatisch reden kann, oder es wenigstens können sollte. Aber es ist weit entfernt von dem, was Piaton wollte. Von daher mag auch deutlich werden, warum die Versuche Piatons, in Syrakus praktische Politik im Namen der Philosophie zu beeinflussen, scheitern mußten. Piaton, der sich zu seinen praktischen Ratschlägen immer hat drängen lassen müssen, war eben kein Pragmatiker im landläufigen Sinne. Ich habe relativ ausführlich über die platonische Akademie und ihr Umfeld gesprochen, weil die Akademie schon in der äußeren Organisation ein gewisses Modell für die anderen Philosophenschulen in Athen geworden ist und diese im übrigen alle überlebt hat. Ich möchte aber die übrigen Schulen noch kurz besprechen, unter der Leitfrage, in welchem Sinne sie als Stätten des Geistes anzusehen sind. Aristoteles hat der platonischen Akademie aktiv bis zum Tode Piatons angehört, dem Namen nach aber für eine Reihe von Jahren auch noch danach in der Zeit seiner Abwesenheit von Athen. Als er im Jahre 335 nach 13-jähriger Abwesenheit nach Athen zurückgekehrt war, mochte er in die ihm durch die Nachfolger Piatons innerlich fremd gewordene Akademie nicht mehr eintreten. Er nahm seinen philosophischen Unterricht in einem öffentlichen Gymnasium auf, bei dem sich ein dem Apollon Lykeios geweihtes Heiligtum befand. Er hat dort eine Stätte des Geistes etabliert, nicht
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aber im juristischen Sinne eine Schule gegründet. Das konnte er nicht, weil er als Nicht-Athener mit eingeschränkten Bürgerrechten keinen Grunderwerb tätigen konnte, im Unterschied zu Piaton, der athenischer Bürger war. Wenn es so also zunächst noch keinen festen Schulverband gab, so hat Aristoteles doch irgendwie (wie, wissen wir leider nicht genau) Forschung und Lehre organisiert. Seine Schüler haben in ihm den jedenfalls geistigen Begründer der Schule gesehen, der im juristischen Sinne dann erst Theophrast, der Nachfolger des Aristoteles, wurde. Unter dem bis heute in seiner Bedeutung weit unterschätzten Theophrast erlebte die Schule, die zunächst nach dem im Grunde ungeklärten Beinamen des Apollon Lykeios Lykeion und erst später Peripatos hieß, ihre höchste Blüte. Der Name Lykeion lebt ja in unserem Lyzeum fort, wobei mir gänzlich unbekannt ist, warum jedenfalls in Deutschland bis vor etwa 50 Jahren höhere Mädchenschulen Lyzeum hießen. Unter Theophrast soll die Schule 2000 Mitglieder gehabt haben; der Lehrerfolg Theophrasts war außerordentlich. Der innere Zuschnitt und damit die Eigenart des Lykeion bzw. des Peripatos zur Zeit des Aristoteles und des Theophrast unterschied sich beträchtlich von der platonischen Akademie. Die Ontologie war zwar noch »erste Philosophie« (wie Aristoteles sie bezeichnet hat), aber sie war doch nach der Art einer Fachwissenschaft konzipiert und damit nur noch graduell von den übrigen Wissenschaften unterschieden. Zwar hat auch Theophrast sich mit metaphysischen Fragen beschäftigt, aber die einzelnen Lehrgebiete verselbständigten sich und waren nicht mehr in eine transzendente Orientierung eingebunden. Im Grunde ist der Peripatos zur Zeit Theophrasts einer Philosophischen Fakultät mit kulturwissenschaftlichem Schwerpunkt eher vergleichbar als die platonische Akademie. Die Philosophie behält ihre Dignität, ist aber nun ein Fach unter anderen. Und sie bekommt eine Geschichte, die bei Aristoteles noch Vorgeschichte zur eigenen Position ist, bei Theophrast in dem großen Werk Physikon Doxai aber doxographisch aufgearbeitet wird, wie auch unser heutiges Universitätsfach Philosophie zu einem nicht geringen Teil aus Geschichte der Philosophie besteht. Hinzu treten nun im Peripatos Literatur- und Kulturwissenschaften mit Materialsammlungen der verschiedensten Art, Poetik, Rhetorik, Musikwissenschaft, in der vor allem Aristoxenos Grundlegendes geleistet hat. Mit einer Fülle kleinerer Schriften zur Naturwissenschaft und vor allem der monumentalen Bearbeitung der Botanik durch Theophrast (durchgeführt nach dem Modell der Zoologie des Aristoteles) wird freilich der Bereich der heutigen Philosophischen Fakultät verlassen, wobei allerdings nicht vergessen werden darf, daß die Naturwissenschaften bis tief in das 20. Jhdt. zur Philosophischen Fakultät gehörten, in Berlin bis 1938. Nach Theophrast und vor allem nach dessen Nachfolger Straton setzt ein rapider Niedergang im geistigen Niveau des Peripatos ein so sehr, daß
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die Schule überhaupt nicht mehr als Stätte des Geistes, sondern lediglich als Stätte der Geselligkeit bezeichnet werden muß. Anders die Akademie. Sie wußte sich über die Jahrhunderte zu behaupten. Man bewahrte das Erbe Piatons, man feierte jedes Jahr den Geburtstag Piatons als eine Art Gründungstag der Akademie. Schon die antiken Gelehrten unterschieden zwischen Alter, Mittlerer und Neuer Akademie, wobei den einzelnen Phasen jeweils bestimmte philosophische Richtungen entsprachen. Dabei dominierte bald das dogmatisch-systematische, bald das skeptisch-aporetische Moment, das man als das jeweils Wichtige aus der Philosophie Piatons herausholte und weiterentwickelte. Die Akademie konnte so das Erbe Piatons über die ganze Antike retten und bewahren, vermochte aber nie wieder die Attraktivität und Ausstrahlung zu erlangen, die die Schule unter Piaton selber hatte. Das hängt auch damit zusammen, daß im Hellenismus in Athen zwei weitere Philosophenschulen entstanden, die den Reiz des Neuen für sich in Anspruch nehmen konnten, die Stoa und die Schule Epikurs. N u n gab es also vier Philosophenschulen in Athen; alle Philosophie wurde von Schulen aufgesogen. Athen blieb so ein Zentrum des Geistes in einer Zeit, in der es seine politische Vormachtstellung verloren hatte. Aber die Situation der Philosophie und der Wissenschaft hatte sich seit der Zeit Piatons und des Aristoteles tiefgreifend verändert. Für alle hellenistischen Philosophenschulen ist zunächst charakteristisch die Trennung von Philosophie und Wissenschaft, - von Ausnahmen abgesehen. Ohnehin ändern sich die Schwerpunkte der Wissenschaft und sie werden hauptsächlich außerhalb Athens, ja außerhalb des eigentlichen Griechenland betrieben. Das neue Zentrum heißt Alexandria, - und wie es dazu kam, das werden Sie in der nächsten Woche hören. Das Hauptaugenmerk lag nun auch nicht auf Mathematik und Naturwissenschaft, sondern auf Philologie und Literaturwissenschaft; das griechische literarische Erbe der klassischen Zeit wurde konserviert. Die Philosophie aber blieb in Athen. Sie zog auch Nicht-Athener an. Eine ganze Reihe von Schulhäuptern aller Philosophenschulen waren keine Athener. Die Philosophie war durch Piaton und Aristoteles in Athen fest etabliert. N u n zeigt sich (und das ist eine Beobachtung, die man auch sonst machen kann), daß Kulturwerte und geistige Errungenschaften noch andauern können, wenn Staatsgebilde, in denen sie sich entwickelt haben, schon zugrunde gegangen oder in ihrer Grundsubstanz verwandelt sind. Das trifft auf die hellenistische Philosophie in Athen zu, die nun in der entsprechenden Anerkennung, die sie ja genoß, umgekehrt auch wieder das politische Klima beeinflussen konnte und so dazu beitrug, daß die hellenistischen Fürsten (die Ptolemaeer zumal) Athen mit reichen Stiftungen bedachten, vor allem im 2. vorchristlichen Jhdt. Dadurch findet dann die Philosophie zu einem erhöhten Selbstbewußtsein zurück. Der äußere Aus-
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druck eines solchen Selbstbewußtseins war die berühmte Philosophengesandtschaft des Jahres 155. Die Behörden Athens schickten je einen Akademiker, Peripatetiker und Stoiker (bezeichnenderweise keinen Epikureer) mit dem Ziel der Befreiung Athens von einer Buße in einer eher untergeordneten Angelegenheit nach Rom. Plutarch berichtet, wie die bildungsdurstigen jungen Römer begeistert die Vorträge der Philosophen als etwas ganz Neues hörten, die diese römische Hörerschaft durch glänzende Rhetorik zu packen wußten. Sie hätten, so führt Plutarch fort, »die Jungend derartig in ihren Bann gezogen, daß sie alle ihre sonstigen Vergnügungen und Unterhaltungen vergessen hätten und nur noch für die Philosophie begeistert wären.« Athen hatte sich als Stätte des Geistes präsentiert. Die Stoa stand dem Bereich der Politik relativ am nächsten. Die Söhne hellenistischer Diadochenfürsten schlossen sich am ehesten dieser Schule an, die das philosophische Denken vor allem durch den Begriff der Pflicht bereichert hat, der über Cicero zu Kant und zum preußischen Ethos von Staat und Wissenschaft gelangte. Umgekehrt war die Devise Epikurs und seiner Schule, sich um nichts zu kümmern, was den Seelenfrieden stört, also nicht um Politik, sondern allein der freilich ganz sublimiert verstandenen Lust zu leben. Alle Philosophenschulen des Hellenismus verbreiteten ihre Lehren eingebunden in Systemkonstruktionen mit der stets gleichen Einteilung in Logik, Physik und Ethik. Im Vordergrund stand die Ethik. Sie sollte dem Menschen als Einzelwesen, nicht als Glied einer Gemeinschaft Lebensnormen vermitteln und Wege zum Glück aufzeigen in einer Zeit, in der der Einzelne nicht mehr im Bewußtsein des natürlichen Schutzes seitens der Gemeinschaft lebt, wie sie sich einst in den gegenseitigen Amts- und Kultpflichten der Polis manifestiert hatte. Der hellenistische Philosoph stand so vor der Aufgabe, den Menschen nicht nur zu belehren, sondern auch zu beraten, zu trösten und in allen Lebenslagen zu helfen. Entsprechend wurde in diesen Schulen nicht eigentlich Forschung und Wissenschaft betrieben. Die physikalischen und damit ontologischen Grundlagen übernahm man aus älterer Tradition, so Epikur den Atomismus Demokrits, den er nur modifizierte; die Modifikation ist bekanntlich das Thema der Dissertation von Karl Marx (die aber noch nicht eigentlich marxistisch ist). Im übrigen verstand Epikur seine Schule nicht als eine Art Forschungsgemeinschaft, sondern als einen Freundschaftsbund. Der einzige wirkliche Wissenschaftler, der einer hellenistischen Philosophenschule in Athen angehörte, war der Stoiker Poseidonios, dessen Werk leider nur ganz fragmentarisch greifbar und gerade deshalb von vielen schwer verifizierbaren Hypothesen der modernen Forschung umrankt ist. Erkennbar aber ist, daß Poseidonios (der übrigens Syrer war; geb. ca. 135 v. Chr.) in Athen der Stoa beitrat (wieder hat Athen seine Assimilationskraft für die Philosophie bewiesen), dann aber ausgedehnte Forschungsrei-
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sen unternahm und - wie ein antiker Alexander von H u m b o l d t - über ferne Länder und seine Bewohner schrieb, über den Ozean und seine Anwohner, über den Umfang der Erdoberfläche, über Gezeiten, über den Wasserhaushalt der Natur, über seismisch-vulkanische Erscheinungen und vieles mehr, vermutlich in einer Form, die dem persönlichen Forschungsreisebericht nahekam. Zugleich aber hat er die Beobachtung der vielen Einzelphänomene philosophischen Kategorien im stoischen Sinne untergeordnet. Der Kosmos ist für ihn ein beseelter Organismus, dessen Einheit auf der Spannkraft seiner Teile beruht. Die Begriffe Sympathie (ζ. B. zwischen Mensch und Gestirn) und Lebenskraft spielen dabei eine zentrale Rolle. So war Poseidonios der einzige in seiner Zeit, der die Kluft zwischen Philosophie und Wissenschaft überbrückt hat. Die hellenistische Wissenschaft war außer bei Poseidonios Forschung ohne Philosophie und daher außerhalb Athens. Gelegentlich haben Forscher für kurze Zeit in Athen in einer der Philosophenschulen studiert, so Eratosthenes, der Geograph, der den Erdumfang verhältnismäßig genau berechnet hat, dann aber nach Alexandria ging, dort Vorstand der Bibliothek wurde und sich fortan als Philologe fühlte. Wissenschaft war eben eher in Alexandria zuhause, wo es offenbar großzügige Forschungsmöglichkeiten gab, übrigens auch für die Medizin. Der Arzt Herophilos hat dort die wissenschaftliche Anatomie begründet, weil er in Alexandria ohne Einschränkung sezieren konnte. U n d der zweite große Mediziner des Hellenismus, Erasistratos, der die Nerven und fast den Blutkreislauf entdeckt hat, empfing wohl gewisse Anregungen von der demokriteisch-epikureischen Atomlehre als G r u n d lage der von ihm vertretenen Solidarpathologie, wirkte aber fern von Athen als Leibarzt am H o f e der Seleukiden. So ergibt sich für die Epoche des Hellenismus im ganzen, etwas pauschal ausgedrückt: Wissenschaft und Philosophie, bei Piaton eine untrennbare Einheit, bei Aristoteles und Theophrast organisch miteinander verbunden, treten im Hellenismus in ein sehr viel lockereres Verhältnis zueinander, wobei die Philosophie, in Systemen geformt und in Schulen organisiert, in Athen verbleibt, die Wissenschaft aber ihre Schwerpunkte in neuen Zentren, hauptsächlich in Alexandria, findet. In diesem Sinne also bleibt Athen eine Stätte des Geistes. Als solche wird die Stadt auch von den Römern angesehen, ungeachtet der Verwüstungen, die Sulla und seine Soldaten nicht nur in der Akademie angerichtet haben. Das eindrucksvollste Zeugnis dafür ist Cicero, der wie so mancher andere Römer eine Studien- und Bildungsreise nach Athen unternommen hat und angesichts des zerstörten und offenbar verlassenen Geländes der Akademie die Worte geprägt hat: tanta vis admonitionis inest in locis (De finibus bonorum et malorum V2). Er dachte dabei weniger an die kasuistisch-polemischen Lehrsätze der hellenistischen Akademie, als
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vielmehr an Piaton selber, an den Ursprung, den sich der Römer vergegenwärtigt. Mit der Einbürgerung der Philosophie in R o m verliert Athen den Primat, Stätte philosophischen Geistes zu sein. In der Folgezeit entstehen in verschiedenen Städten Philosophenschulen, die auch fremde, orientalische Traditionen aufnahmen. Selbst der Neuplatonismus, der in der späteren Antike zur mächtigsten philosophischen Strömung wird, ist nur zum Teil in Athen angesiedelt, hier aber vor allem mit dem bedeutenden Proklos (5. Jhdt. n.Chr.), in betonter Weiterführung der platonischen Akademie, weit über die hellenistischen Philosophenschulen hinaus. So ist denn die platonische Akademie erst im Jahre 529 n. Chr. nach über 900-jähriger wechselvoller auch durch Diskontiuitäten bestimmter Geschichte durch Justinian geschlossen worden, im Zeichen des Christentums als Beseitigung eines der letzten Reservate heidnischen-griechischen Geistes und Kultes; die Akademie war den (heidnischen) Musen geweiht, die hier verehrt wurden. Von jetzt an hörte Athen auf, Stätte des Geistes zu sein. Und so steht am Anfang und am Ende die von Piaton gegründete Akademie. Sie ist es denn auch, die am nachhaltigsten auf das geistige Selbstbewußtsein Europas gewirkt hat. Nach ihrem Modell ist die Florentiner Akademie der Renaissance geformt, an ihr orientieren sich die Academie frangaise, die moderne Konzeption der Universität in Verbindung mit dem Bildungsbegriff Wilhelm von Humboldts und viele Akademieinstitutionen der Neuzeit. Die heutige Universität scheint mir in der Mannigfaltigkeit ihrer Zielsetzungen einer Kombination zu bedürfen des forschenden und lernenden Ethos Piatons mit der wissenschaftlichen Nüchternheit eines Aristoteles, um beide Komponenten wirksam werden zu lassen in den vielen Fragestellungen, Methoden und Aufgaben der Gegenwart. N u r zu ihrem Schaden würde sie dabei Athen als Stätte des Geistes außer acht lassen. Vielleicht trifft auch heute noch zu, was der berühmte Kunsthistoriker Aby Warburg 1920 in einem Brief an T.S. Eliot geschrieben hat: »Athen will eben immer wieder neu aus Alexandrien zurückerobert sein«.
Literatur Zur Platonischen Akademie vgl. außer den im Text genannten Arbeiten: H . J . Krämer, Altere Akademie, in: H. Flashar (Hg.), Grundriß der Geschichte der Philosophie. Die Philsophie der Antike, Bd. 3, Basel 1983, bes. Das Kap.: Die Akademie als Institution. Schulgeschichte 4 - 7 ; C. W. Müller, Piatons Akademiegründung, in:Hyperboreus 1, 1994, 5 6 - 7 3 (gleichzeitig in: W. Frobenius (Hg.), Akademie und Musik. Festschr. F.W. Braun, Saarbrücken 1993); K. Trampedach, Piaton, die Akademie und die zeitgenössische Politik (Hermes Einzelschriften 66) Wiesbaden 1994.
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Zu den hellenistischen Phlosophensystemen vgl. die entsprechenden Darstellungen in: H . Flashar (Hg.), Grundriß der Geschichte der Philosophie ... Bd. 4 , 1 - 2 , Basel 1994. Über Humboldts Universitätsreform vgl. W. Rüegg, Die Strukturreform der Humboldtschen Universität, Bern 1969; über Schleiermachers Anteil vgl. W. Rüegg, Der Mythos der Humboldtschen Universität, in: Universitas in theologia - theologia in universitate (Festschr. H . Schmid), Zürich 1997,155-174. Zur Philosophengesandtschaft des Jahres 155 sind die Zeugnisse zusammengestellt bei H. J. Mette, in: Lustrum 27,1985, 66-70. Der Hauptbericht ist Plutarch, Cato maior 22. Zum letzten Satz vgl. A. Warburg, Gesammelte Schriften, Hrsg. v. der Bibliothek Warburg. Leipzig/Berlin Teubner 1932. Bd. 1., S. 534
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Alexandria Die Bibliothek der Könige und die Wissenschaften
»Viele werden genährt im volkreichen Ägypten,/Bücherkritzler, unablässig zankend / i m Käfig der Musen«, spöttelt Timon von Phleius in einem seiner satirischen Gedichte (F 12 Diels). In diesen Worten sind alle Elemente des Themas evoziert: da ist das volkreiche Ägypten mit seiner riesigen Metropole, lange Zeit die größte Stadt der Welt; da ist der viele nährende Patronat der ptolemäischen Monarchen; und da sind die wie seltene Vögel im Musenkäfig des Museion gehaltenen Literaten und Wissenschaftler, Büchersammler und Bücherschreiber, mit ihren persönlichen und wissenschaftlichen Rivalitäten. Die genannten drei Elemente bilden denn auch das Grundgerüst der folgenden Ausführungen. Nach eine kurzen Vorstellung Alexandrias (I) spreche ich zunächst über Museion und Bibliothek (II) und zeichne dann eine Skizze der großen Leistungen der alexandrinischen Wissenschaft (III). Den Abschluß bildet eine kurze Überlegung zu den Voraussetzungen dieser außergewöhnlichen Blüte (IV).
I. Alexandria Mit dem volkreichen Ägypten zielt Timon natürlich nicht auf das Land der Pharaonen mit seinen beiden uralten Königsstädten Memphis (in Unterägypten) und Theben (in Oberägypten), sondern auf Alexandria, das der fünfundzwanzigjährige Alexander im Frühjahr 331 bei seinem kurzen Ägyptenaufenthalt gegründet hatte und dessen Sonderstellung als makedonisch-griechische Großstadt am Rande Ägyptens bereits in der antiken Bezeichnung »Alexandria ad Aegyptum« sichtbar ist. Unsere antiken Quellen zur Gründung der Stadt betonen übereinstimmend die glückliche Wahl des Ortes. Der nicht einmal zwei km breite Kalksteinsporn zwischen Mittelmeer und Mareotis-See, ca. 25 km westlich des wichtigsten Nilarms, war ein tragfähiger Grund auch für große Bauten, und die schmale Landenge war leicht zu befestigen; kühler Wind vom Mit-
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telmeer garantierte im Sommer ein angenehmes Klima, und die Frischwasserversorgung war durch ein Kanalsystem vom Nil her einfach zu sichern. Vor allem aber boten die an dieser Stelle tiefe Mittelmeerküste und der Mareotis-See ideale Bedingungen für gute Häfen. Bereits Menelaos preist in der homerischen Odyssee (4, 354-59) den »gut anzulaufenden Hafen« der Ägypten vorgelagerten Insel Pharos. Zu den ersten Baumaßnahmen des rhodischen Architekten Deinokrates gehörten ein ca. 1300 m langer Damm, der die Stadt mit der kleinen Insel Pharos verband, und der Bau des berühmten Leuchtturms auf einem Inselchen vor der Nordwestecke der Insel. Der Damm teilte das Hafengebiet in zwei Becken, den sogenannten großen Hafen mit der durch Molen und Pharos gesicherten Zufahrt und den sogenannten Eunostos-Hafen (den »Hafen der guten Heimkehr«), der mit dem großen Hafen durch zwei Zufahrten und mit dem Mareotis-See durch einen Kanal verbunden war.
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Bildeten die beiden Küstenhäfen Alexandrias Tor zum Mittelmeer, dem Herz der hellenistischen Welt, so lief der umfangreiche Binnenhandel mit Ägypten über den Mareotis-Hafen, dessen Bedeutung noch erheblich dadurch gesteigert wurde, daß ein guter Teil des reichen Orienthandels (mit Arabien und Indien) durch Kanäle - vom Roten Meer zum Nil und von dort zum Mareotis-See - hier landete. Alle Voraussetzungen für den Erfolg der Stadtgründung waren also gegeben. Was nun noch fehlte, war der machtpolitische Impuls für den Aufschwung Alexandrias, und der kam, als acht Jahre später, nach Alexanders plötzlichem Tod in Babylon, Ptolemaios, der Leibwächter und General Alexanders, bei der Aufteilung des Erbes die Satrapie Ägypten übernahm und schon bald darauf den Regierungssitz aus der alten Königsstadt Memphis nach Alexandria verlegte, wohin er in der Folge auch den Leichnam Alexanders überführte, den er sich gesichert und zunächst in der Nekropole der alten Königsstadt bestattet hatte. Als das in wenigen Jahren von Alexander gewonnene Riesenreich in den langen Kämpfen der Diadochen auseinanderbricht, und die Statthalter des Makedonenthrons sich ihre eigenen Reiche bauen, wird Alexandria das politische, wirtschaftliche, administrative und kulturelle Zentrum der von Ptolemaios mit der Annahme des Königstitels im Jahre 305 begründeten ptolemäischen Dynastie. Die neue Stadt am Mittelmeer wird die erste und bedeutendste der hellenistischen Residenzen für die erste und dauerhafteste der hellenistischen Dynastien. Fast 300 Jahre, vom Ende des 4. Jhs. bis zum Sieg des Augustus bei Actium und dem Selbstmord Kleopatras VII im Jahre 30 v. Chr., regiert das ptolemäische Königshaus von Alexandria aus Ägypten - und weit mehr als nur Ägypten: In der Blütezeit gehören auch Kyrene, das südliche Syrien und Teile Arabiens sowie Zypern, ein guter Teil der kleinasiatischen West- und Südküste und der griechische Inselbund zum Imperium der Ptolemäer. Der unbestrittene Höhepunkt des Reiches und seiner Metropole liegt bereits im dritten Jh. unter den ersten drei Ptolemäern, mit den Beinamen Soter (323-283), Philadelphos (285/3-246) und Euergetes (246-241) und ihren bedeutenden Frauen Berenike I, Arsinoe II und Berenike II. Der Glanz der neuen Metropole lockte immer neue Menschen von überall her nach Alexandria und Ägypten: Abenteurer und Söldner, Bauern auf der Suche nach Land und Städter mit der H o f f n u n g auf einen Posten in der hochdifferenzierten ptolemäischen Verwaltung, Handwerker und Händler, kleine Geldverleiher und große Bankiers und Steuerpächter, Künstler und Wissenschaftler jeder Couleur. Die Tausende von Personen, die uns auf Papyri der ptolemäischen Zeit begegnen, kommen aus mehr als 200 Orten der griechischen Welt. Neben den Makedonen und Griechen sind es vor allem Juden, die sich in großer Zahl in Alexandria niederlassen. Dazu kommen Syrer, Perser, Araber, Inder, Italiker u. m. a.
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Das Tempo des Wachstums der Stadt war atemberaubend. Schon zu Beginn des 3. Jh. dürfte die Zahl von 100 000 Einwohnern überschritten worden sein. Spätestens am Ende des Jh. war Alexandria die größte Stadt der bekannten Welt, und für das 1. Jh. berichtet Diodor, daß 300 000 Freie (d. h. sicher mehr als 500 000 Menschen) in Alexandria lebten. Über den Ausbau der Stadt in ptolemäischer Zeit sind wir nur sehr unzureichend informiert. In kaum einer der bedeutenden Städte der alten Welt sind weniger Reste antiker Bauten erhalten, und kaum irgendwo sind die Möglichkeiten systematischer Grabungen schlechter als in Alexandria. Da mutet es angesichts der Entwicklung der Unterwassererarchäologie geradezu als ein Glück an, daß ein wichtiger Teil der antiken Stadt dadurch, daß die Küste sich in den letzten 1000 Jahren um mehr als 4 m gesenkt hat, heute unter Wasser liegt. Die spektakulären Funde der letzten Jahre nähren die Hoffnung, daß das bisher weitgehend hypothetische Bild der Stadt sich in den kommenden Jahren weiter verifizieren läßt. Unsere Kenntnisse der Topographie Alexandrias verdanken wir vor allem dem bedeutenden Geographen Strabo, der im Jahre 26 vor Christus im Gefolge des römischen Statthalters Gallus nach Ägypten kam und die Stadt detailliert beschrieben hat. So wissen wir, daß das in der Antike gern mit der Form der Chlamys, d. h. dem kurzen Militärmantel, verglichene Viereck, das den Grundriß der antiken Stadt bildet, ca. 5 km lang und knapp 1,5 km breit war und daß der Architekt Deinokrates das schon seit geraumer Zeit etablierte Modell eines rechtwinkligen Straßenrasters übernahm, als dessen Erfinder der Architekt Hippodamos von Samos gilt. Alexandria
Pharos
Ш Sg
Großer Hafen
Eunostos Hafen Palastbereich
Mareotis-See
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Allerdings wurde, so Kolb (S. 125), »die geometrische Schlichtheit und Nüchternheit der ionischen Stadtplanung unter dem Einfluß des Reichtums und der architektonischen Traditionen des Alten Orients ins Gigantische und Üppige umgeformt.« Die Hauptstraßen übertrafen mit einer Breite von 30 Metern die Straßen auch der großen griechischen Städte gleich um ein mehrfaches und waren von Säulenkolonnaden gesäumt, hinter denen sich Häuser und Villen, Tempel und Altäre und die öffentlichen Gebäude, die zur Standardausstattung einer griechischen Stadt gehörten, erhoben: Rathaus und Gericht, Theater und Gymnasion (mit Orchestra und Stadion), der große Markt mit seinen Läden und Hallen, aber auch Plätze und Parkanlagen - wie der wohl in der Mitte der Stadt künstlich angelegte Hügel des Pan - und natürlich die Basileia, der königliche Palast, der im Nordwesten der Stadt einen ganzen Stadtteil einnahm und durch die Mauer, die ihn gegen die Stadt abgrenzte, den Charakter einer orientalischen Residenzfestung hatte. Innerhalb des Palastviertes lagen auch das Museion und die Bibliothek.
II. Museion und Bibliothek 1. Das Museion »Viele werden genährt im volkreichen Ägypten, Bücherkritzler im Käfig der Musen« spöttelte Timon, und mit dem Musenkäfig meinte er natürlich das Museion und seine Mitglieder, die ptolemäische Akademie der Künste und der Wissenschaften, die Ptolemaios I Soter wohl am Ende seiner Regierungszeit in den 90er Jahren des 3. Jhs. v.Chr. gründete und die dann von seinen Nachfolgern, vor allem von seinem Sohn Ptolemaios II Philadelphos, großzügig ausgebaut wurde. In dieser einzigartigen Institution verbinden sich zwei ganz verschiedene kulturelle Traditionen der Griechen zu etwas völlig Neuem: der alte aristokratisch-tyrannische Patronat der Künste und das Modell der Philosophenschule, eine der großen Schöpfungen der athenischen Demokratie. Wenn die Ptolemäer Künstler, Dichter und Gelehrte an ihren Hof einladen, so tun sie genau das, was schon Polykrates von Samos, die Peisistratiden in Athen oder der sizilische Tyrann Hieron, aber auch ihre makedonischen Vorgänger Archelaos, Philipp und Alexander getan haben. Allerdings gewinnt der traditionelle aristokratische Patronat eine ganz neue Qualität. Eingeladen werden nicht nur Dichter und Künstler, die den Patron und seine Leistungen feiern und die offiziellen und privaten Feste verschönern sollen, sondern auch herausragende Vertreter der noch jungen Wissenschaften. So betont der Name »Museion« einerseits den musischen Charakter der Institution, in der die schönen Künste, und zwar vor allem
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die Literatur, und die Pflege des literarischen Erbes eine besondere Rolle spielen, und verweist andererseits auf die zweite Wurzel der Gründung. Denn sowohl die platonische Akademie als auch der aristotelische Peripatos, waren als Kultgemeinschaften zum Musenkult organisiert und hätten statt »Akademie« bzw. »Peripatos« oder »Lykeion« auch »Museion« heißen können. Daß Ptolemaios bei der Gründung seines Museion in erster Linie an die Schule des Aristoteles mit ihrer Verbindung von Geistes- und Naturwissenschaften anknüpfen wollte, zeigt sich im übrigen auch daran, daß er als erstes versuchte, den Nachfolger des Meisters, Theophrast nach Alexandria zu holen, der neben seinen bedeutenden Studien zur Botanik, Zoologie und Physik auch philosophische und theologische, literarische und rhetorische Werke verfaßt hat. Als der Universalgelehrte ablehnt, gelingt es, einen anderen bedeutenden Schüler des Aristoteles, Straton von Lampsakos, zu gewinnen, der allerdings auch nur kurze Zeit in Alexandria bleibt. 287 zieht er die Nachfolge des Theophrast als Schulhaupt des Peripatos vor und kehrt nach Athen zurück. Von weit größerer Bedeutung für die Kulturpolitik des Ptolemaios ist ein dritter Schüler des Aristoteles, der sich vor allem als Politiker einen Namen gemacht hat. Demetrios von Phaleron hatte von 317-307 an der Spitze eines promakedonischen Regimes Athen regiert, war dann aber in den Wirren der Diadochenkämpfe vertrieben worden und an den Hof des ersten Ptolemäers gegangen. Daß dieser Mann, der neben seiner politischen Tätigkeit auch ein umfangreiches und vielfältiges literarisches Oeuvre geschaffen hat, verantwortlich ist für die Gründung des Museion und den damit verbundenen Aufbau der Bibliothek, läßt sich zwar aus den kargen Quellen nicht sichern; es spricht aber manches dafür, daß er Ptolemaios I, wenn nicht inspiriert, so doch bestärkt und beraten hat. Man kann also Wilamowitz zustimmen, der konstatiert: »Der weltbeschattende Baum der alexandrinischen Gelehrsamkeit ist also auch nur ein Reis von dem heiligen Ölbaum am Roßhügel in Athen«. Allerdings muß man zugleich mit Rudolf Pfeiffer (S. 124) hinzusetzen, daß das neue Museion »keine Zweigniederlassung der athenischen Institutionen war, die irgendwelche Peripatetiker in Ägypten eröffneten, sondern eine eigenständige Metamorphose der Mouseia des Mutterlandes« darstellt. Die Breite der Konzeption der neuen alexandrinischen Akademie wird schon in den ersten Berufungen bedeutender Dichter und Gelehrter sichtbar, die Ptolemaios wohl noch vor der eigentlichen Gründung des Museion als Erzieher seiner Kinder an den Hof holte. Der erste war Philitas von Kos, dessen umfangreiches Werk bis auf wenige Fragmente verloren gegangen ist. Philitas ist der erste der alexandrinischen poetae docti, in deren Dichtung poetische Phantasie und hart erarbeitete Gelehrsamkeit eine ganz neue Symbiose eingehen. Seine Bedeutung als Dichter ist leider für
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uns nur noch indirekt in der enormen Wirkung, die er nicht nur auf seine berühmtesten Schüler Kallimachos und Theokrit, sondern auch auf die augusteischen Elegiker ausgeübt hat, greifbar; das wissenschaftliche Ethos des Mannes verdeutlicht die Anekdote, er sei infolge rastloser Arbeit schließlich so dünn und leicht geworden, daß er bei Wind Bleigewichte an den Füßen tragen mußte. Diesem poeta doctus, dessen wissenschaftliche Arbeit vor allem außergewöhnlichen Wörtern und Wendungen in der großen Dichtung der Vergangenheit galt, stellte Ptolemaios den bedeutenden Homerforscher und Archegeten der alexandrinischen Philologie, Zenodot von Ephesos, an die Seite und machte ihn zugleich zum ersten Leiter der Bibliothek. Dokumentieren diese beiden Berufungen die Bedeutung, die der König der Poesie und den Geisteswissenschaften beimaß, so kündigt sich in dem dritten Prinzenerzieher, die große Rolle an, die die Naturwissenschaften in der Akademie spielen werden. Straton von Lampsakos, der spätere Nachfolger Theophrasts als Schulhaupt des Peripatos, hat sich zwar wie dieser und wie ihr gemeinsamer Lehrer Aristoteles auf allen Gebieten der damaligen Philolosophie betätigt; der Beiname, den ihm die Antike offenbar bereits früh verliehen hat - Straton ho physikos, der Physiker - deutet aber darauf, daß es in erster Linie seine naturwissenschaftlichen Studien zum Vakuum, zur Optik oder zu den Farben waren, durch die er berühmt wurde. Was in der Wahl der drei Prinzenerzieher angelegt ist, wird in der sich schnell entwickelnden Akademie der Künste und der Wissenschaften zu Alexandria voll erblühen. Sieht man von der Philosophie einmal ab, deren Zentrum weiterhin in Athen bleibt, so sind im Museion neben der Poesie und Kunst die Geistes- und Naturwissenschaften mit allen ihren antiken Disziplinen vereint. Der Versuch, keinen geringeren als Theophrast, das Schulhaupt des Peripatos, abzuwerben, signalisiert, daß die Ptolemäer bemüht waren, die besten Gelehrten zu gewinnen. Eine systematische Untersuchung der Mitglieder und damit der im Museion praktizierten Disziplinen ist leider deswegen nicht möglich, weil unsere Quellen nur in Einzelfällen - und gerade nicht für die ptolemäische Zeit - die Berufung in das Museion ausdrücklich bezeugen. Es ist aber deutlich, daß die Institution zwar >überregional< (man könnte vielleicht auch sagen >internationalStipendien< sind nicht bekannt. In Einzelfällen berichten die Quellen von hohen Summen, wohl als
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einmalige Zahlungen; wahrscheinlich sind aber regelmäßige Zahlungen aus dem königlichen Stiftungskapital des Museion. Zu den Aufgaben der Mitglieder gehörten neben der im Mittelpunkt ihrer Arbeit stehenden Forschung auch die Lehre. Ein formeller Lehrbetrieb ist zwar nicht bezeugt; es kann aber kein Zweifel daran bestehen, daß öffentliche Vorträge und individueller Unterricht ebenso die Regel waren, wie die Teilnahme an den öffentlichen Disputationen der Mitglieder. Spätere Zeugnisse dokumentieren, daß Alexandria eine typische Universitätsstadt geworden ist. Auf einem Papyrus aus Oxyrhynchos (P. Oxy. 2190) ist der Brief eines Studenten an seine Eltern erhalten, der zunächst berichtet, daß er sich nun, nachdem auch der Bruder zum Studium nach Alexandria gekommen sei, nach einer neuen, größeren Wohnung umsehen müsse, und dann in eine lange Klage über den Mangel an Professoren und das niedrige Niveau der Lehrveranstaltungen ausbricht. »Für die sinnlosen und hohen Studiengebühren läßt sich aus den Professoren nichts Vernüftiges herausholen. Ich bin ganz auf mich selbst angewiesen.« Neben den Aufgaben in Forschung und Lehre war mit dem Patronat natürlich auch die Erwartung direkter Dienstleistungen für den Patron verbunden: so steigerten die Dichter und Philologen den Glanz der Könige nicht nur indirekt durch ihren eigenen Ruhm, sondern unterstützten und feierten ihre Gönner auch in vielfachen Formen der Hofpoesie, unterhielten sie (und die Stadt) mit literarischen Wettbewerben und Lesungen und trugen das ihre bei zu den vielen öffentlichen und privaten Symposia, während die Naturwissenschaftler - neben der im Zentrum ihrer Arbeit stehenden Grundlagenforschung - N u t z e n und Ehre der Könige auch direkt mehrten, indem sie ζ. B. die Technik von Wurfgeschützen optimierten oder eine entdeckte Sterngruppe zu Ehren der Königin »Locke der Berenike« tauften. U n d selbstverständlich konnte das wichtigste Arbeitsinstrument der gelehrten Bücherkritzler, die einzigartige Bibliothek, nicht einfach nur genutzt werden, sondern verlangte intensive Arbeit bei Sammlung und O r d nung, Erhalt und Auswertung ihrer Schätze.
2. Die Bibliothek An Berühmtheit stand die große Bibliothek - he megale bibliotheke, wie die Antike sie nannte - nicht hinter dem Leuchtturm von Pharos, dem Wahrzeichen und Weltwunder, zurück. O r t und Form der Bibliothek sind nicht bezeugt. Es kann aber kaum ein Zweifel daran bestehen, daß wir uns die Bibliothek nicht als separates Gebäude - wie unsere Universitäts- und Staatsbibliotheken - , sondern als große Institutsbibliothek des Museion vorzustellen haben. Hellenistische Parallelen zeigen, daß die große Menge der Papyrusrollen in kleineren
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Räumen, die sich an die von Strabo (s. o.) genannten Repräsentationsräume anschlossen, untergebracht waren. Die kleineren Räume konnten auch als Lese- und Unterrichtsräume benutzt werden, und natürlich wurde, wie in modernen Schlössern und Palästen, ein Teil der Bibliothek in besonders ausgestalteten Räumen zur Schau gestellt. Die Nischen für prachtvolle Bücherschränke sind an verschiedenen Orten der hellenistischen Welt noch erhalten und erlauben eine Rekonstruktion dieser repräsentativen Lesesäle. Der Aufbau einer Bibliothek war mit der Übernahme des aristotelischen Modells gegeben und sicher von Anfang an geplant. Das ehrgeizige Ziel der Ptolemäer ging allerdings weit über den Aufbau einer wissenschaftlichen Arbeitsbibliothek vom Umfang der aristotelischen Sammlung hinaus. Eusebios (Kirchengesch. 5, 8,11) berichtet, daß »Ptolemaios, der Sohn des Lagos (d. h. Ptolemaios I) den Ehrgeiz hatte, die von ihm in Alexandria gegründete Bibliothek mit den Schriften aller Menschen auszustatten, soweit sie ernstlich Beachtung verdienten.« Die Ptolemäer ließen in der Tat nicht etwa nur griechische Bücher aller Art sammeln, sondern bemühten sich auch darum, die wichtigsten Texte anderer Völker und Kulturen herbeizuschaffen und in Übersetzungen zur Verfügung zu stellen. A m bekanntesten ist die Geschichte der Übersetzung des alten Testaments durch jüdische Gelehrte, die zu diesem Zweck aus Jerusalem nach Alexandria eingeladen wurden. Und wenn man in diesem Falle noch vermuten konnte, daß die Septuaginta ihre Entstehung dem naheliegenden Interesse an der geistigen Welt der nach den Griechen größten Bevölkerungsgruppe in Alexandria herrührte, so gibt es für die Übertragung der dem Zarathustra zugeschriebenen persischen Texte keinen vergleichbaren Stimulus, und der Umfang von 2 ООО 000 Versen war immerhin beinahe hundertmal so groß wie Ilias und Odyssee zusammen (Plinius, Nat. Hist. 30. 4). Daß auch wichtige ägyptische Quellen übersetzt wurden, versteht sich da von selbst. Beim Aufbau der Museion-Bibliothek wurden keine Kosten und Mühen gescheut. Der verschwenderische Reichtum Ägyptens setzte der Sammelwut der Ptolemäer und ihrer Gelehrten keine Grenzen. Was der Buchhandel - mit seinen Zentren in Athen und auf Rhodos - bot, wurde bestellt, und was er nicht bot, versuchte man auf anderen Wegen zu bekommen und abschreiben zu lassen. So berichtet Epiphanios, Bischof von Salamis am Ende des 4. Jh. n. Chr. (de mensuris et ponderibus, Patrologia Graeca Bd. 43, S. 252), daß Ptolemaios I einen Brief an alle Könige und Herrscher der Erde geschrieben und diese aufgefordert habe, »ihm die Werke jedweder Autoren zu schicken: Dichter und Prosaiker, Rhetoren und Sophisten, Ärzte und Weissager, Historiker und alle anderen auch.« Galen (comm. II 4 in Hippocr. epidem. III) verdanken wir die Information, daß Ptolemaios III Euergetes den Befehl gab, von nun an, alle einlaufenden Schiffe zu durchsuchen, die dabei gefundenen Bücher zu konfiszieren und kopieren zu lassen und den Eigentümern anstelle des Originals die
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Kopie auszuhändigen. Die Originale wurden mit dem Vermerk »ek ploion« (von den Schiffen) in die Bibliothek eingestellt. Im gleichen Zusammenhang illustriert Galen die Bibliomanie des dritten Ptolemäers mit der Geschichte, wie das athenische Staatsexemplar der Tragödien der drei großen Tragiker Aischylos, Sophokles und Euripides in die alexandrinische Bibliothek gelangt sei: Ptolemaios habe die Rollen gegen eine hohe Kaution ausgeliehen, den Athenern dann aber lediglich eine besonders schöne Kopie zurückgegeben. Das kostbare Original war ihm den Preis wert. Über die Organisation der Bibliothek sind wir etwas besser als im Falle des Museion informiert. An der Spitze stand ein vom König ernannter Leiter. Wie die durch einen glücklichen Papyrusfund gesicherte Liste der ersten Leiter zeigt, wurden, jedenfalls in den ersten 100 Jahren, die besten Köpfe des Museion mit dieser Aufgabe betraut. In den meisten Fällen war das Amt mit der Aufgabe des Prinzenerziehers gekoppelt. Den berühmten Leitern der Bibliothek standen natürlich zahlreiche anonyme Helfer zur Seite: Acquisition und Katalogisierung, Ordnung, Aufstellung und Reparatur verlangten damals wie heute einen großen Verwaltungsapparat, und angegliedert war sicher auch ein Scriptorium, in dem ausgeliehene Bücher kopiert oder eigener Bestand für den Buchhandel kopiert wurde. Frazer (S. 327f.) stellt in diesem Zusammenhang die interessante Vermutung an, daß der Umfang der Arbeiten für die große Bibliothek wahrscheinlich zur Standardisierung von Schrift und Buchformat (ein Buch pro Rolle) geführt hat, eine Entwicklung, die auch im Interesse des wachsenden Buchhandels gewesen sein muß. Die enormen finanziellen und organisatorischen Anstrengungen haben dafür gesorgt, daß den Gelehrten des Museion in ganz kurzer Zeit eine nach antiken Maßstäben riesige Bibliothek zur Verfügung stand, die dann immer weiter ausgebaut wurde. Der Bestand dürfte sich spätesten am Ende der ptolemäischen Zeit auf mindestens 500000 Rollen belaufen haben. Kleinere Privatbibliotheken waren wohl bereits im 5. Jh. entstanden, und diese Entwicklung hat sich im vierten Jahrhundert, das der griechischen Kultur den endgültigen Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit brachte und eine erhebliche Erweiterung und Intensivierung der höheren Bildung sah, zweifellos fortgesetzt. Die wissenschaftliche Arbeit des Peripatos, die auch auf einer extensiven Sammlung und Auswertung von Quellen beruhte, ist ja ohne eine große Bibliothek gar nicht denkbar. Doch die Bibliothek der Könige stieß in eine ganz neue Dimension vor, die in der Antike unerreicht geblieben ist. Der Gedanke, alle Bücher in Alexandria zusammenzutragen, dürfte auch aus der Erkenntnis erwachsen sein, daß Wissen Macht ist, oder doch sein kann; er war aber sicher vor allem von dem Wunsch bestimmt, dem neuen Reich und seiner Residenz Glanz zu verleihen und mit dem gewonnenen Prestige die junge Dynastie zu stärken; und schließlich war die große Bi-
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bliothek nicht nur Prestigeobjekt und Herrschaftsinstrument. Sie verdankt ihren Aufbau auch dem vielleicht unbewußten Wunsch, wenn nicht der Könige, dann ihrer Gelehrten, an der großen Wende zu einer ganz neuen Zeit das geistige Erbe der alten Welt zu bewahren und zu tradieren, und sie diente der Förderung einer ganz neuen Literatur und der sich mit dem Optimismus einer neuen Zeit schwungvoll entwickelnden Wissenschaften.
III. Die Wissenschaften »Viele werden genährt im Käfig der Musen, Bücherkritzler, unablässig zankend«. Der unablässige Streit der Bücherkritzler, über den Timon spöttelt, kann vielleicht auch weniger negativ als Hinweis auf die fruchtbare Situation persönlicher und wissenschaftlicher Konkurrenz der Gelehrten des Museion verstanden werden. Im folgenden sollen ausgewählte Beispiele eine Vorstellung von dem unerhörten Reichtum der Forschungen und der Brillianz der Ergebnisse geben, die Alexandria in erstaunlich kurzer Zeit zum unbestrittenen Zentrum der geistes- und naturwissenschaftlichen Forschung und Lehre gemacht haben. Die konsequente Beschränkung auf das 3. Jh. ist dadurch gerechtfertigt, daß diese Zeit zweifellos den Höhepunkt der alexandrinischen Wissenschaft erlebte.
1. Geisteswissenschaften Wie heute waren es auch damals in erster Linie die Geisteswissenschaftler, die von der großen Bibliothek profitierten und sie aus diesem Grund pflegten und mehrten, und unter den Geisteswissenschaftlern vor allem die poetae docti, wie Kallimachos, Apollonios und Theokrit, und die Philologen. Gewiß erfreute sich unter der Ägide des ersten Ptolemäers, der selber eine bedeutende Geschichte der Feldzüge Alexanders geschrieben hatte, auch die Geschichtswissenschaft und -Schreibung besonderer Aufmerksamkeit und Förderung; weit bedeutungsvoller und dauernder waren aber die Fortschritte, die in der Philologie und in der Literaturwissenschaft gemacht wurden. Wir wissen, daß die Bücher nicht einfach inventarisiert, katalogisiert und eingestellt wurden, sondern daß von Anfang an einzelne Gelehrte mit der Aufgabe betraut wurden, die Schätze kritisch zu sichten und zu ordnen. Das erste Ziel dürfte dabei die Revision der Texte und die Herstellung kritischer Ausgaben gewesen sein. Besonders die Fülle der Homerabschriften, mit einem ganz unterschiedlichen Textbestand, verlangte gebieterisch nach einer kritischen Prüfung der handschriftlichen Überlieferung und führte zwangsläufig zur Schaffung der Grundlagen der modernen Textkritik. Von
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fundamentaler Bedeutung für die Edition der Texte war die systematische Einführung der Akzente durch Aristophanes von Byzanz und die Entwicklung der sogenannten kritischen Zeichen, mit denen fortan textkritische Entscheidungen am Rande des Textes vermerkt wurden. Die Erfindung des Obelos, des Zeichens, mit dem Zenodot seine Zweifel an der Echtheit überlieferter Homerverse kennzeichnete, bedeutet den ersten Schritt auf dem langen Weg zu den kritischen Ausgaben der heutigen Philologie. »Dies war das erstemal«, stellt Pfeiffer (S. 147) fest, »daß ein H e r ausgeber dem ernsthaften Leser und Gelehrten die Möglichkeit gab, seine kritische Entscheidung zu bewerten.« Da man editorische Entscheidungen nicht ohne gründliche grammatische, sprachliche und metrische Untersuchungen treffen kann, erfuhren auch Lexikographie, Grammatik und Metrik entscheidende Impulse auf dem Weg zu selbstständigen Teildisziplinen der Philologie, und es dauerte nicht lange, bis das gesammelte Wissen auch zu Kommentaren genutzt wurde. Kallimachos' biographische und bibliographische Studien (einschließlich Echtheitskritik) und die bezeugten Monographien über Dichter oder Gattungen, aber auch die Kanonbildung zeigen, daß in Alexandria mit der Philologie auch die Literaturgeschichte und die Literaturwissenschaft ihre wissenschaftlichen Grundlagen erhielten.
2. Die Naturwissenschaften Neben den Geisteswissenschaften förderten die Ptolemäer von Anfang an auch die Naturwissenschaften, die unter den besonderen Bedingungen Alexandrias in den ersten 150 Jahren von Museion und Bibliothek einen Höhepunkt erreichten, der in der Antike einmalig ist. Das gilt zwar nicht für alle Naturwissenschaften, die sich im Verlaufe des 5. und 4. Jhs. allmählich aus der allesumfassenden Naturphilosophie ausdifferenziert und sich unter dem Dach der platonischen Akademie und des aristotelischen Peripatos prächtig entwickelt hatten. Wichtige Disziplinen, wie die Chemie, oder im Falle der Biologie wichtige Teilbereiche, wie Zoologie, Botanik oder Mineralogie, machten keine nennenswerten Fortschritte, und dasselbe gilt auch für die Physik. Doch dafür strahlen die Fortschritte in anderen Bereichen der Wissenschaften um so heller, vor allem in der Astronomie und Mathematik, aber auch in der Medizin und in der Geographie sowie in Teilbereichen der angewandten Mechanik. Ich beginne in umgekehrter Reihenfolge mit der Mechanik. a) Mechanik Alexandria war vom 3. Jh. bis in die römische Kaiserzeit ein bedeutendes Zentrum der angewandten Mechanik. Unter den namentlich bekannten
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Mechanikoi nimmt Ktesibios von Alexandria als Erfinder und Theoretiker eine herausragende Stellung ein. Vitruvs Feststellung (10, 9, 1-4), er habe vieles Nützliche und Notwendige, aber auch manches zum bloßen Vergnügen erfunden, läßt sich an den ihm zugeschriebenen Erfindungen leicht dokumentieren. So konstruierte Ktesibios als Weihgeschenk für die Königin Arsinoe II ein goldenes Trinkgefäß, das, sobald der Wein ausfloß, einen lauten Trompetenton erschallen ließ; er erfand einen Handwaschapparat, der dem Gast beim Öffnen erst ein Stückchen Bimsstein reichte und dann Wasser in eine Handwaschschale fließen ließ, und er baute laut Vitruv die erste sogenannte Wasserorgel, deren regelmäßige Luftzufuhr durch eine einfache Kolbenpumpe reguliert wurde. Nicht zum Vergnügen der Patrone und der Mitwelt, sondern von erheblichem Nutzen waren dagegen seine Forschungen auf dem Gebiet der Kriegstechnik, die in erster Linie der größeren Reichweite und Genauigkeit der Wurfgeschütze dienten, und die Erfindung der ersten Kolbendruckpumpe, die allerdings erst in römischer Zeit perfektioniert und dann auf Schiffen und beim Bau, in der Landwirtschaft und vor allem als Feuerspritze genutzt wurde. Zu Ktesibios' Zeit fehlte es offenbar an der Möglichkeit, wirklich effiziente Kolben herzustellen. Da war Archimedes' Schraubenpumpe, die der berühmte Gelehrte aus Syrakus bei seinem Ägyptenbesuch, bei dem er die dort eingesetzten Wasserschöpfmethoden studierte, erfunden haben soll, einfacher zu realisieren. Sie wurde sofort nach ihrer Erfindung zur Bewässerung von Feldern eingesetzt. Interessanter als diese Details ist ein Bericht Philons von Byzantium (Bch. IV, 1 Diels-Schramm), des zweiten bedeutenden Mechanikers der ptolemäischen Zeit (etwa eine Generation nach Ktesibios), der berichtet, daß die Ptolemäer die ballistische Forschung ihrer Mechaniker mit »mit königlichem Aufwand« gefördert haben, die es den Forschern möglich machten, Kaliber und Zielgenauigkeit der konstruierten Geschütze in ausgedehnten Versuchsreihen experimentell zu testen. Wir dürfen wohl annehmen, daß auch die Forschungen für die ägyptische Landwirtschaft (Schöpfräder und Pumpen) subventioniert und genauso systematisch und experimentell betrieben worden sind. b) Geographie Im Jahre 246 beruft Ptolemaios III den etwa dreißigjährigen Eratosthenes von Athen nach Alexandria und macht ihn zum Leiter der Bibliothek und zum Prinzenerzieher. Eratosthenes aus Kyrene war ein Universalgelehrter von aristotelischem Zuschnitt. Studien zu Philosophie, Mathematik, Astronomie, Chronologie, Geographie und Grammatik sind bezeugt, ja sogar Dichtung. Seine Vielseitigkeit brachte ihm Spitznamen wie »Pentathlos« (Fünfkämpfer) ein, aber auch - boshafter - »Beta« (der Zweite), so als habe er zwar vieles auf vielen Gebieten, aber auf keinem das Allerbe-
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ste erreicht. Das mag im Ganzen zutreffen, gilt aber nicht für die Geographie. Große Entdeckungsreisen - wie der Versuch des Karthagers Hanno, von Spanien aus Afrika zu umsegeln, oder Pythias' Entdeckungsfahrt ins Nordmeer bis zu der märchenhaften Insel Thüle - vor allem aber Alexanders Feldzüge bis zum Indus, hatten zu einer enormen Erweiterung der geographischen Kenntnisse geführt, und die Diadochen setzten aus militärischen und wirtschaftlichen Gründen die Erkundungen systematisch fort. Auf der Basis des neuen Wissens und mit Hilfe seiner vorzüglichen mathematisch-astronomischen Kenntnisse nahm Eratosthenes im Museion von Alexandria die überfällige »Richtigstellung der Erdkunde« (wie Strabo seine Arbeit nennt) in Angriff und wurde so zum Begründer der wissenschaftlichen Geographie. Zwei Werke sind bezeugt. »Über die Vermessung der Erde« und das Hauptwerk, das zum ersten Mal den Titel »Geographika« (Geographie) trug. Die berühmteste Leistung des Eratosthenes war die erstaunlich präzise Berechnung des Erdumfangs, die auf einer genial einfachen mathematischen Überlegung beruhte: Eratosthenes maß am Tag der Sommersonnenwende die Winkeldifferenz der Sonnenstrahlen in Alexandria und in Syene (nahe dem heutigen Assuan), das nach seinen Berechnungen 5000 Stadien südlich von Alexandria auf demselben Meridian wie die Hauptstadt und genau auf dem Sommerwendekreis lag. Da alle Sonnenstrahlen parallel einfallen, gewann er auf diese Weise den Winkel der beiden Kreisradien und damit den Wert von 1/50 des Kreisbogens, den er nun nur noch mit der Entfernung Alexandria-Syene multiplizieren mußte. Die errechnete Summe von 250000 Stadien erhöhte Eratosthenes auf 252000 auf, um auf eine glatte Zahl von Stadien (700) pro Breitengrad zu kommen.
Erdumfangsberechnung des Eratosthenes nach Cleomed. De Motu circulari 1, 10, 3 f.
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Leider ist der Grad der Genauigkeit für uns nicht exakt zu bestimmen, da wir nicht wissen, welche der verschiedenen gebräuchlichen Stadienlängen (von 157,5-165,4 m) Eratosthenes zugrunde legte. Der zwischen 39600 km und ca 42 000 km liegende Wert ist jedenfalls erst am Ende des 17. Jhs. von Jean Picard verbessert worden. Diese Meisterleistung bildete die Basis für das eigentliche Ziel, eine möglichst genaue Erdkarte herzustellen, die Eratosthenes im dritten Buch seines Hauptwerkes vorlegte. Die Grundlage bildete ein rechtwinkliges Koordinatensystem von Parallelkreisen und Meridianen. Dabei führte die Mittellinie von den Säulen des Herakles (d.h. von Gibraltar) durch die Meerenge von Sizilien über die Südspitze Attikas und Rhodos am Südrand des Taurus entlang bis nach Nordindien; der Hauptmeridian am Nil entlang von Meroe über Alexandria nach Byzanz und zur Dnepr-Mündung und weiter bis zum fiktiven Thüle.
Erdkarte des Eratosthenes nach Strabon.
Da die drei Erdteile Europa, Asien und Libyen (= Afrika) eine zusammenhängende Insel bilden, die ringsum vom Ozean umgeben ist, konnte Eratosthenes, wie Strabo (1,4,6) berichtet, den bereits von Aristoteles geäußerten Gedanken einer Westverbindung nach Indien präzisieren: »Daher könnte man, wenn nicht die Größe des Atlantischen Meeres es verhindern würde, von Spanien nach Indien segeln über die restliche Distanz von ca. 175000 Stadien.« Zum Glück las Kolumbus nicht Strabo, sondern Seneca, der im Vorwort der »Naturales Quaestiones« schreibt: »Wie groß ist die Distanz von der äußersten Küste Spaniens bis nach Indien. Eine Distanz von wenigen Tagen, wenn ein Schiff bei günstigem Wind fährt.« Eratosthenes' weit korrektere Berechnung von ca. 28 500 km hätte Kolumbus vielleicht doch abgeschreckt.
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с) Medizin Die Geschichte der griechischen Medizin beginnt lange vor Alexandria und hatte bereits im 5. Jh. in den beiden Zentren Kos und Knidos einen ersten großen Höhepunkt erreicht. Dennoch stellt Frazer zu recht fest, daß die medizinische Forschung in Alexandria in wichtigen Teilbereichen ein Niveau erreichte, das nie zuvor erreicht worden war und vor dem 17. Jh. auch nicht wieder erreicht wurde. Der bedeutendste unter den alexandrinischen Ärzten des 3. Jhs. ist Herophilos von Chalkedon, über den wir kaum mehr wissen, als daß er ca. 320 in Chalkedon geboren wurde und - nach der Ausbildung bei dem bekannten Hippokrateer Praxagoras von Kos - in Alexandria, und das heißt doch wohl im Rahmen des Museion, forschte und lehrte. Seine Schriften sind alle verloren; die antiken Medizinhistoriker Rufus, Celsus, Soranus und Galen bieten allerdings soviele Informationen, daß wir uns ein Bild von seinen Forschungen machen können. Die bedeutendsten Leistungen des Herophilos, der in vielen Bereichen als traditioneller Hippokrateer erscheint, liegen auf dem Gebiet der Anatomie, die er überhaupt erst als Wissenschaft etabliert hat. Vor Herophilos waren die anatomischen Kenntnisse nur gering. Religiöse und moralische Tabus verhinderten die Sezierung von Leichen und die vergleichenden Tiersektionen der Akademie und des Peripatos hatten nicht weit geführt. Noch Aristoteles (Hist. Anim. 494b) erklärt, daß die inneren Organe des Menschen unbekannt seien. Herophilos ist der erste uns namentlich bekannte - Mediziner, der in größerem Umfang zu Forschungszwecken Leichen seziert, ja sogar Vivisektionen an Verbrechern vorgenommen hat, die er von den Königen aus den Gefängnissen erhielt. Der Umfang der später durchweg kritisierten Vivisektionen ist umstritten. Wahrscheinlich waren sie nur eine kurze Zeitlang und in begrenztem Umfang möglich; denkbar ist zudem, daß Herophilos nicht nur aus den Vivisektionen und aus der Sektion von Leichen gelernt hat, sondern auch aus Beobachtungen, die er bei Mumifizierungen machen konnte. Die Fortschritte, die mit der systematischen Sektion von Leichen und mit der barbarischen Methode der Vivisektion erzielt werden konnten, waren natürlich enorm. Im Bereich des Unterleibs beschrieb Herophilos zum ersten Mal präzise Leber, Nieren und das Darmsystem (der Name Zwölffingerdarm stammt wie mancher andere noch heute gültige medizinische Terminus von ihm) und stellte genaue Untersuchungen der Genitalien an. Er unterschied als erster Hoden und Nebenhoden, Prostata und Samenblase und entdeckte die Eierstöcke. Im Kopf galt sein besonderes Interesse neben dem Auge dem Gehirn. Er differenzierte als erster Großund Kleinhirn, beschrieb Hirnwindungen und Hirnventrikel und stellte endgültig fest, daß das Zentrum des Nervensystems nicht, wie Aristoteles
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gemeint hatte, im Herzen, sondern im Gehirn liegt. Den Vivisektionen verdankt er zudem die Differenzierung von motorischen und sensorischen Nerven. Der dritte Bereich der Forschungen des Herophilos war das Herz, dessen Aufbau und Funktion (als Pumpe) er erkannte. Von besonderer Bedeutung waren daneben seine umfassenden Studien zum Blutkreislauf und zum Puls und seinem diagnostischen Wert. Nimmt man all dies zusammen, so dürfte Frazers (S. 348) Formulierung nicht mehr überraschen: »Herophilos schuf die Grundlagen des anatomischen Unterrichts, der, wenn er in der Folge nicht wieder verlorengegangen wäre, Alexandrias größtes Geschenk an die Nachwelt gewesen wäre.« d) Mathematik Die hellenistische Mathematik ist die vielleicht größte Leistung der griechischen Wissenschaft (Lloyd, S. 51), und im Unterschied zu den anderen Wissenschaften ist die Quellenlage hier vorzüglich. Viele Werke gerade der größten Mathematiker der Zeit sind erhalten; der Höhepunkt liegt auch hier bereits im 3. Jh. Zwar arbeitete der originellste mathematische Kopf des 3. Jhs., Archimedes, nicht am Museion, sondern in Syrakus, doch die Tatsache, daß er viele seiner Schriften alexandrinischen Gelehrten wie den Astronomen Konon und Dositheos oder auch Eratosthenes schickte, damit diese sie in ihren Kreisen diskutierten, zeigt, daß er das Urteil seiner Kollegen in Alexandria schätzte. Neben den drei Genannten hat sich vor allem Apollonios von Perge, ein Zeitgenosse des Eratosthenes, mit seinen Untersuchungen über Kegelschnitte einen Namen gemacht. Die größte Wirkung ging aber nicht von Konon, Eratosthenes oder Apollonios aus, sondern von Euklid, dem großen Mathematiker Alexandrias, den neben Pythagoras noch heute jeder Gymnasiast kennt. Wann Euklid, der an der platonischen Akademie studiert hatte, nach Alexandria kam, ist nicht bekannt. Er gehört aber sicher zur ersten Generation des Museion, auch wenn die berühmte Geschichte von seinem Gespräch mit Ptolemaios I wohl erfunden ist: die Anekdote erzählt, daß Euklid auf die Frage des Königs, ob es denn keinen einfacheren Weg zur Erlernung der Mathematik gäbe als das Lehrbuch des Meisters, geantwortet haben soll. »Majestät, in der Mathematik gibt es keinen Königsweg (Stobaios II p. 228, 30 W).« Neben der Mathematik hat sich Euklid auch mit Astronomie und mit Fragen der Optik und der Musiktheorie beschäftigt. Doch es ist das Lehrbuch mit dem Titel »Elementa« (Grundlagen), die seinen Ruhm begründet hat, das älteste erhaltene Lehrbuch der Antike und das mit der intensivsten und dauerhaftesten Wirkung. Nach den »Elementa«, die schon in der Antike ins Lateinische und gleich mehrfach ins Arabische übersetzt wurden, ist in Rußland, Schweden und England noch im 19. Jh. unterrichtet worden. Der Ruhm Euklids beruht nicht auf seiner Originalität als mathemati-
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scher Denker. Die meisten der Lehrsätze stammten von den großen Mathematikern des 5 und 4. Jhs. Archytas, Eudoxos oder Theaitetos. Euklids Leistung lag vielmehr in der Stringenz und einfachen Eleganz der Beweise und in der vorbildlichen systematischen Gliederung des Lehrbuchs, das Schritt für Schritt vom Einfachen zum Komplizierten fortschreitet und die Lehrsätze durch Konstruktionszeichnungen erläutert, die in der handschriftlichen Überlieferung mit großer Genauigkeit tradiert sind. e) Astronomie Die Astronomie ist die älteste der griechischen Fachwissenschaften, deren früheste Spuren bereits in den Epen Homers und Hesiods zu finden sind. Schon zu Beginn des 6. Jhs. sagte Thaies von Milet zur Verblüffung seiner Zeitgenossen eine Sonnenfinsternis voraus, und spätestens mit Eudoxos von Knidos (zur Zeit Piatons), der sich mit seinem Versuch, die Planetenbahnen zu erklären und mit seiner Beschreibung der Sternbilder und ihrer Lage einen Namen gemacht hat, ist die Astronomie als Wissenschaft etabliert. Einen strahlenden Höhepunkt erreicht sie am Museion, an dem im dritten Jh. mit Aristarch von Samos, Konon, dem Hofastronomen der ersten Ptolemäer, Apollonios von Perge und Hipparch viele bedeutende Astronomen arbeiteten. Besonders interessant sind die Forschungen des Aristarch. Leider ist von diesem großen Gelehrten nur eine kleine Schrift erhalten, deren Titel das Problem nennt, daß Aristarch zu lösen versuchte: »Über die Messung der Abstände von Sonne und Mond«. Wie Eratosthenes' spätere Berechnung des Erdumfangs ist auch Aristarchs Lösung der Aufgabe genial einfach. Da bei Halbmond Erde, Sonne und Mond ein rechtwinkliges Dreieck bilden, muß sich durch die Messung des Winkels Mond-Erde-Sonne das Abstandsverhältnis der drei Körper berechnen lassen. Das ist natürlich kor-
Aristarchs Berechnung des Verhältnisses von Mond- und Sonnenentfernung ( = 1 : 1 9 ) .
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rekt und bleibt eine glänzende Leistung, auch wenn Aristarch weder den Zeitpunkt des Halbmonds noch den Winkel exakt genug bestimmen konnte und sein Ergebnis (1: 19) deswegen wesentlich weniger genau ist als Eratosthenes' Berechnung des Erdumfangs. Aufregender als diese scharfsinnige Anwendung eines trigonometrischen Grundsatzes war Aristarchs Postulat eines heliozentrischen Weltbildes. Eine Achsendrehung der Erde war verschiedentlich schon im 5. und 4. Jh. vertreten worden, und der Aristotelesschüler Herakleides von Pontikos rechnete mit der Bewegung der Planeten Merkur und Venus um die Sonne. Ein klares heliozentrisches Konzept hat aber erst Aristarch vorgelegt. Die einfachste Formulierung seiner These findet sich bei Ps. Plutarch (de facie in orbe lunae 6 p. 923A): »Er lehrte nämlich, die Fixsternsphäre stehe fest, die Erde aber kreise in einem geneigten Kreis um die Sonne und drehe sich gleichzeitig um ihre eigene Achse«. Der kühne Entwurf, der Aristarch den Vorwurf der Gottlosigkeit einbrachte, wurde durch neue Theorien seiner Nachfolger in den Hintergrund gedrängt und geriet schließlich mit dem Modell des kaiserzeitlichen Astronomen Klaudios Ptolemaios endgültig in Vergessenheit. Immerhin war sich Kopernikus des Vorgängers bewußt. In einem gestrichenen Passus der handschriftlichen Fassung der Praefatio seiner Auseinandersetzung mit dem ptolemäischen Weltbild von 1632 heißt es:»Mehrfach wird auch überliefert, daß Aristarch von Samos derselben Ansicht gewesen ist, der sich auch nicht von Aristoteles beeindrucken ließ.«
IV. Schluß Der knappe Überblick über Umfang, Originalität und Qualität der geistesund naturwissenschaftlichen Forschung im Alexandria des 3. vorchristlichen Jahrhunderts legt abschließend die Frage nahe, welche Bedingungen diese ganz außergewöhnliche Blüte der Wissenschaft hervorgebracht haben? Da ist natürlich zunächst einmal der Patronat der Könige, die die besten Forscher der Zeit nicht nur mit hohen Gehältern und mit den persönlichen Annehmlichkeiten, die der »Käfig der Musen« zu bieten hatte, nach Alexandria zu locken versuchten, sondern auch durch das Angebot idealer Arbeitsbedingungen. Von Bedeutung war ferner sicher auch, daß die institutionelle Form des Museion (mit seiner Bibliothek) eine gewisse Kontinuität der Forschung garantierte und damit auch die längerfristige und systematische Entwicklung und Verbesserung der Methoden ermöglichte. Ein weiterer besonders wichtiger Grund für die außergewöhnliche Blüte dieser Stätte des Geistes dürfte in der gleichzeitigen Anwesenheit so vieler bedeutender Gelehrter an einem Ort zu sehen sein. Der »unablässige Streit der
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Bücherkritzler«, über den Timon spöttelt, wirkte offenbar stimulierend. Persönliche und wissenschaftliche Konkurrenz trieb (damals wie heute) die Forschung voran, und die Breite des Spektrums der Wissenschaften, die im Museion miteinander verbunden waren, führte zu interessanten interdisziplinären Synergien: zwischen Philologie und Literatur, zwischen Mathematik, Astronomie und Geographie, zwischen Physik und Mechanik und zwischen diesen beiden Wissenschaften und der Medizin. Eine letzte Rahmenbedingung kann hier aus Zeitgründen nur angedeutet werden: die Umbruch- und Aufbruchstimmung am Beginn einer neuen Zeit. Alexanders megalomanische Träume und die Kämpfe seiner Erben um die Beute hatten eine völlig neue, weit offene Welt entstehen lassen, mit ganz neuen Formen der politischen Organisation und erheblichen sozialen und wirtschaftlichen, kultischen und kulturellen Veränderungen, die viele ängstigten, aber auch große neue Möglichkeiten und Herausforderungen mit sich brachten, die auch die Wissenschaften beflügelten. Die skizzierten idealen Rahmenbedingungen haben nur eine relativ kurze Zeit bestanden. Auf den strahlenden Höhepunkt des 3. Jhs. folgt ein allmählicher Niedergang, der seinen ersten Tiefpunkt in der Mitte des 2. Jh. erreicht als Ptolemaios VIII, mit dem Spitznamen »Kakoergetes« (der Übeltäter), die Gelehrten des Museion aus Alexandria vertreibt. Der Historiker Menekles von Barka ( F G r H . 270, F 9) kommentiert das Ereignis mit der sarkastischen Feststellung, daß es in Griechenland zu einer Erneuerung der Bildung gekommen sei, weil der König alle Inseln und Städte mit Grammatikern und Philosophen, Geometern, Musikern und Malern, Erziehern und Ärzten und jeder Art von Künstlern und Gelehrten angefüllt habe. In der Folgezeit kommt es immer wieder zu Phasen der Erholung: so am Ende der ptolemäischen Zeit, als Kleopatra die glanzvolle Vergangenheit zu erneuern versucht, und in den ersten beiden Jahrhunderten der römischen Kaiserzeit. Zwar verliert Alexandria unter der Herrschaft der römischen Kaiser seine politische Bedeutung; das Museion bleibt jedoch eine bedeutende Stätte des Geistes. Bis weit ins 3. Jh. n.Chr. hinein sind die Namen großer Philologen, Philosophen, Theologen und Wissenschaftler mit der Stadt und ihrer Akademie verbunden. Ich nenne nur den bedeutenden Mediziner Galen und den Astronomen Klaudios Ptolemaios oder die Philosophen Ammonios und - jedenfalls für längere Zeit - Plotin, den Vater des Neuplatonismus. Dann aber fallen die Schläge, von denen sich Alexandria und sein Museion nicht mehr völlig erholen. 272 richtet Aurelian, als er die von der nabateischen Königin Zenobia okkupierte Stadt, zurückerobert, schwere Verwüstungen an; fünfundzwanzig Jahre später verjagt Diokletian bei der schweren Bestrafung der Stadt nach einem Aufstand auch die Gelehrten. Ammianus Marcellinus und Hieronymus berichten übereinstimmend, daß die Gegend um den Königspalast danach verwüstet und verlassen dalag.
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Der letzte Gelehrte, für den die Mitgliedschaft im Museion bezeugt ist, ist der große Mathematiker Theon in der 2. Hälfte des 4. Jh. Im Jahre 391 befiehlt der Kaiser Theodosius, alle paganen Heiligtümer zu zerstören. Vielleicht ist diesem Dekret auch das Museion - als heidnischer Kultort der Musen - zum Opfer gefallen. Sicher ist, daß der Tempel des Serapis geplündert und in Brand gesteckt wird und daß mit ihm die kleinere der beiden großen Bibliotheken zugrunde geht, die der dritte Ptolemäer gestiftet hatte. U n d die große Bibliothek - das Prunkstück der Ptolemäer und kostbare Arbeitsinstrument der Gelehrten? Ihr Ende bleibt rätselhaft. Bis vor einiger Zeit galt es trotz vereinzelter Widersprüche als ausgemacht, daß die große Bibliothek, als Caesar im Jahre 48 beim Kampf um Alexandria Feuer in die feindlichen Schiffe warf, von den sich rasch ausbreitenden Flammen erfaßt wurde und völlig verbrannte. Das ist jedoch mit guten Gründen von Canfora u. a. bezweifelt worden. Letzte Sicherheit ist auf der Basis unserer Quellen nicht zu erreichen. Aber es spricht manches dafür, daß ihr Ende weniger dramatisch war - daß die Riesensammlung von mehr als 500 000 Rollen allmählich, durch Vernachlässigung und sukzessive Zerstörungen, vor allem am Ende des 3. Jhs., dezimiert wurde und die Reste schließlich im Jahre 642 nach der Einnahme durch die Araber verbrannt worden sind. Arabische Quellen des 11. Jh., hinter deren anekdotischen Charakter sich ein Körnchen Wahrheit verbergen mag, erzählen die Geschichte, daß der Kalif auf die Frage, ob die Bibliothek verschont werden solle, geantwortet habe: »Wenn der Inhalt der Bücher mit dem Koran übereinstimmt, sind sie überflüssig; stimmt er nicht mit dem Koran überein, sind sie gefährlich: verbrennt sie!« Das Museion zu Alexandria - mit seinem breiten Spektrum geistes- und naturwissenschaftlicher Disziplinen, mit seinen Labors und mit der großen Bibliothek - steht den heutigen akademischen Stätten des Geistes (in vieler Hinsicht) näher als die platonische Akademie, deren eindrucksvolle Vorstellung Hellmut Flashar mit der Aufforderung Schloß, wir alle sollten immer wieder - über Alexandria nach Athen zurückkehren, um unsere akademische Lehre befruchten zu lassen vom platonischen Gespräch. Die wechselvolle Geschichte des Museion führt zu einem weiteren Schluß. Sie lehrt, daß ein großzügiger und kontinuierlicher Patronat der Forschung und die Pflege erstklassiger Bibliotheken entscheidende Rahmenbedingungen sind für wissenschaftliche Höchstleistungen, eine Tatsache, deren Aktualität nicht ausdrücklich betont zu werden braucht.
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HEINRICH
SCHLANGE-SCHÖNINGEN
Konstantinopel Eine Brücke des Wissens von der Antike zur Neuzeit
»Für Homer und Hesiod, Demosthenes und Herodot, Thukydides, Isokrates und Lysias waren die Götter Führer zu jeglicher Bildung. Glaubten nicht die einen, sie seien dem Hermes, und die anderen, sie seien den Musen geweiht? Deshalb ist es doch ein Unding, daß die Interpreten ihrer Werke den von ihnen verehrten Göttern den Glauben verweigern.« Mit diesen Worten wandte sich Julian, der letzte heidnische Kaiser des Römischen Reiches, im Jahr 362 n.Chr. an diejenigen unter den Professoren im Römischen Reich, welche ihren Studenten die Inhalte der heidnischen Bildung vermittelten, selbst aber der christlichen Glaubensgemeinschaft angehörten. »Rechte Bildung«, so führte Julian aus, »besteht doch nicht im anspruchsvollen Ebenmaß der Satzgefüge, sondern in den richtigen Anschauungen über Gut und Böse, Schön und Häßlich. Wer also seine Schüler anderes lehrt als er denkt, scheint mir von der rechten Bildung weit entfernt zu sein« (Übs. nach B. Weis, Julian: Briefe, München 1973, S. 176ff.). Julian war in seiner Kindheit zwar unter die Aufsicht eines Bischofs gestellt und christlich erzogen worden, aber er hatte zugleich auch Homer und die griechische Philosophie kennengelernt, wobei ihn vor allem der stark religiös ausgerichtete Neuplatonismus des Jamblichos faszinierte. So führten ihn seine Studien dann auch nach Pergamon und Ephesos, wo neuplatonische Philosophen Unterricht erteilten, und später nach Athen, wo er die Akademie Piatons und den Unterricht des Philosophen Priskos besuchte. Von seinem Onkel Konstantios II. zur Mitherrschaft berufen, trat Julian vor der Öffentlichkeit weiterhin als Christ in Erscheinung, und erst als ihm die Alleinherrschaft zugefallen war, zeigte er sich als Anhänger der heidnischen Religion. Seine Maßnahmen, die darauf abzielten, das Heidentum zu stärken und das Christentum zurückzudrängen, haben ihm die Feindschaft der Christen eingebracht, die den Kaiser später als >AbtrünnigenApostolischen Lehre< aus dem III. Jahrhundert, - sie verlangte von den Christen, »sich der heidnischen Bücher vollkommen zu enthalten.« Andererseits aber gab es gelehrte Christen, welche die Missionskraft der Kirche durch eine gelehrte Auseinandersetzung mit den Inhalten der Philosophie zu stärken suchten. Zu erinnern ist hier an Klemens und Origenes, die beide um 200 n. Chr. in Alexandria unterrichteten und mit ihrer christlichen Logos-Lehre ein Element der stoischen Philosophie aufgriffen, um den Gebildeten die Bedeutung Christi zu erklären. Wer das ganze Ausmaß der christlichen Weisheit erkennen will, m u ß Klemens zufolge
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seinen Geist im Umgang mit der Philosophie stärken. Und nicht anders als die alttestamentlichen Propheten kündigten doch, so meint Klemens, auch die klassischen Philosophen Christus und seine Lehre an. Dieser vereinnahmende Umgang mit dem philosophischen Erbe ist ein wesentliches Charakteristikum der vielen Verteidigungs- und Lehrschriften, mit denen sich die Christen des III. und IV. Jahrhunderts an die gebildeten Heiden wandten. Auch die formalen Elemente der griechischen Bildung eigneten sich die Christen an, so daß sie ihre Glaubensbotschaft mit rhetorischer Raffinesse verkünden konnten. So beschwert sich Johannes, der Bischof von Konstantinopel, dessen Beiname >Chrysostomos< >Goldmund< auf seine Sprachgewalt verweist, am Ende des IV. Jahrhunderts, die Zuhörer würden seine Predigt zu oft mit lautem Beifall unterbrechen, wobei dieser Beifall weniger der Glaubensbotschaft, als den gekonnt eingesetzten sprachlichen Ausdrucksmitteln galt. Julian aber wollte die Christen auf ihre eigenen Schriften des Alten und Neuen Testaments verweisen, wollte ihnen den Zugang zu Homer, Aischylos und Sophokles, Piaton und Aristoteles verstellen. Es verwundert nicht, daß die Christen ein Jahr nach dem Sendschreiben an die Professoren bzw. dem Erlaß des Rhetorenedikts mit großer Erleichterung reagierten, als sie von Julians Tod im Perserkrieg erfuhren. Ihnen erschien der frühe Tod des Kaisers gottgewollt, wie eine erneute Rettung aus drohender Verfolgung, und so verbreitete sich später das fromme Gerücht, daß nicht ein feindlicher Soldat, sondern der heilige Merkurios die tödliche Lanze geworfen habe (vgl. Demandt, 1989, S. 106). Der vom dem Rhetorenedikt und dem begleitenden Sendschreiben ausgelöste Schock aberwirkte nach. Obwohl das römische Kaisertum mit Julians Nachfolgern Jovian und Valens zum Christentum zurückkehrte, mußten die christlichen Gelehrten Julians Herausforderung annehmen und eine allseits verständliche Antwort auf die Frage geben, wie man sich in Zukunft zur heidnischen Literatur und Wissenschaft stellen wollte. Die Lösung, die von den Kirchenvätern des IV. Jahrhunderts gefunden wurde, war von den christlichen Gelehrten früherer Zeiten wie Klemens vorbereitet worden und bestand darin, die heidnische Gelehrsamkeit zu einer Vorstufe der christlichen Lehre zu machen. Diese Einordnung des Heidnischen in das Christliche mußte nurmehr gefestigt und nachdrücklich verkündet werden. Dies haben, in Reaktion auf Julians bildungspolitische Maßnahmen und mit einer gar nicht zu überschätzenden Auswirkung für Byzanz und die abendländische Geistesgeschichte, vor allem Gregor von Nazianz und Basilios geleistet, - zwei Kirchenväter, die übrigens beide in Athen studiert hatten und dort auch mit ihrem Kommilitonen Julian zusammengekommen waren. Gregor von Nazianz, der später für einige Jahre als Bischof von Konstantinopel amtierte (379-381), verfaßte bald nach Julians Tod zwei Reden gegen den heidnischen Kaiser, um - wie er schreibt - »Julian wegen seiner
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Sünden gegen die Bildung« zu bestrafen (or. IV, 4). Julian habe versucht, »das Wort ελληνίζειν (>Griechisch sprechenRede an die Jugend über den nützlichen Gebrauch der heidnischen Literatur erklärt Basilios, daß man von den klassischen Autoren sowohl in moralischer als auch in intellektueller Hinsicht vieles lernen kann, was dann eine tiefere Erkenntnis der christlichen Lehre ermöglicht. So ist für Basilios z . B . die ganze Dichtung Homers »ein Hymnus auf die Tugend.« Und die Studenten sollten sich wie die Bienen auf der Wiese verhalten, die den Honig suchen, aber alles Giftige meiden. Die von den Kirchenvätern in der Auseinandersetzung mit einem kämpferischen, von Julian verkörperten Heidentum erzielte Positionsbestimmung eröffnet uns rückschauend den Weg in das byzantinische Zeitalter. Das Festhalten an der heidnischen Literatur und Wissenschaft bedeutete, daß 1. im christlichen Staat ein an den herkömmlichen Inhalten orientiertes Bildungswesen auch institutionell - allerdings nur in einer verhältnismäßig schwachen Ausprägung - etabliert werden konnte und 2. über Jahrhunderte das Interesse an den Hervorbringungen der Antike bestehen blieb und damit auch die für die Überlieferung der Texte notwendige Arbeit geleistet wurde. Während sich dabei der Osten vorrangig mit der griechischsprachigen Literatur der Antike auseinandersetzte, hat eine parallele Überlieferung im Westen, getragen zunächst vor allem von den Klöstern, einen bedeutenden Teil der lateinischen Literatur bewahrt.
I. Erst einhundert Jahre nach der Gründung Konstantinopels hat die neue Hauptstadt des Römischen Reiches eine Hochschule erhalten. Zwar ließ Konstantin, nachdem er im Jahr 324 die Herrschaft über das gesamte Imperium erlangt und die bis dahin recht unbedeutende Stadt Byzanz als seine Stadt - als Konstantinopel - zur Kaiserresidenz erhoben hatte, das Stadtgebiet um das Vierfache vergrößern und viele Bauten ausführen: neben seinem eigenen Palast gab es bald ein Senatsgebäude, einen goldenen Meilenstein, den Amtssitz des Stadtpräfekten und zahlreiche Säulenhallen.
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Aber irgendeine Maßnahme, die sich auf das öffentliche Bildungswesen Konstantinopels bezogen hätte, läßt sich für ihn nicht nachweisen. Im >Zweiten< oder >Neuen RomHellenen< auf der Suche nach Bildung (or. IV, 61). Tatsächlich hielten sich dann zu Beginn des V. Jahrhunderts bereits so viele Professoren in der Stadt auf, daß sich der Kaiser Theodosios II. genötigt sah, das Bildungswesen neu zu ordnen und das Durcheinander in den beengten Räumlichkeiten der kaiserlichen Säulenhalle, zu beenden. Jetzt wurde eine Bildungseinrichtung begründet, die in der Forschung gelegentlich als die erste Universität Konstantinopels bezeichnet wird, während der Kaiser selbst nur den Ausdruck >auditorium< verwendet hat (vgl. Schlange-Schöningen, 1995, S. 114 ff., bsd. S. 121, Anm. 102). Im Februar 425 erließ Theodosios II. ein an den Stadtpräfekten gerichtetes Gesetz, das zunächst die unhaltbaren Zustände beschreibt, die sich im Bildungsbetrieb der Stadt eingestellt hatten. Leute, die sich eigenmächtig als >magister< bezeichneten - gemeint sind also Professoren, die keine staatliche Überprüfung erfahren hatten - unterrichteten unerlaubterweise in den öffentlichen Gebäuden und führten ihre Studenten überall - man muß
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ergänzen: zum Zwecke der Werbung weiterer Studenten - herum. Von nun ab sollten diese Professoren nur noch in ihren eigenen vier Wänden unterrichten, wenn sie nicht den Entzug aller ihrer Privilegien und die Vertreibung aus Konstantinopel riskieren wollten. Hier empfiehlt es sich, kurz noch einmal auf den Bildungsbetrieb einzugehen, wie er sich während des 4. Jahrhunderts in der neuen Hauptstadt darstellt. Denn die Autobiographie des Libanios, eines Rhetors aus Antiochia, der um 340 n. Chr. einige Zeit auch in Konstantinopel unterrichtet hat, läßt erahnen, zu welcher Unruhe der öffentliche Wettstreit der Professoren um die Studenten führen konnte. Nach seiner Ausbildung in Antiochia und Athen versuchte Libanios, in Konstantinopel zu seiner ersten Anstellung zu gelangen. Voraussetzung dafür war es, bei den Honoratioren der Stadt und auch beim Kaiser als fähiger Lehrer bekannt zu werden. Die Qualität des Unterrichts aber ließ sich aus der Anzahl der Studenten ablesen, die ein Rhetor um sich versammeln konnte. U n d Studenten konnte man durch überzeugende öffentliche Auftritte gewinnen. So trat Libanios mit etlichen Reden vor das Publikum, um einem der angestellten Professoren zunächst seine Studenten und schließlich auch seine Anstellung abzujagen. »Meine Gegner«, so berichtet er selbst, »hatten ihr reichliches Auskommen vom Kaiser; mich unterhielten die Väter meiner Schüler und empfahlen mich weiter, und in wenigen Tagen hatte ich durch Zustrom von außen und Übertritte in der Stadt mehr als achtzig Schüler. Auch begeisterte Freunde von Pferderennen und Theater bekehrten sich zum Studium der Redekunst« (or. I, 37 in der Übs. von P. Wolf, Libanios. Autobiographische Reden, Zürich 1967, S. 47). Libanios erreichte schließlich sein Ziel, ohne daß dies zur Entlassung eines »Gegners« geführt hätte. Denn der Kaiser Konstantios II. erließ den Befehl, Libanios als zusätzlichen städtischen Professor anzustellen. Später aber, nachdem Konstantinopel als neue Hauptstadt und auch als Metropole der Bildung etabliert war, konnte die Konkurrenz unter den Professoren auf diesem Wege nicht mehr beigelegt werden. Kommen wir wieder zum Hochschulgesetz des Kaisers Theodosios II. zurück: Nach seinen einleitenden Bemerkungen über die umherlaufenden Professoren äußerte sich Theodosios zu den von der Stadt angestellten Professoren. Ihren Unterricht sollten sie von nun an ausschließlich im Kapital abhalten, einem Gebäude, dessen Entstehungszeit nicht genau zu datieren ist. Vermutlich war das Kapitol, das sich in der achten Stadtregion Konstantinopels befand, in der N ä h e des heute noch vorhandenen ValensAquädukts, schon einige Jahre lang als Unterrichtsort verwendet worden, sicher weiß man aber nur, daß sich bis zum Jahr 425 dort auch Garküchen befunden haben (vgl. Schlange-Schöningen, 1995, S. 107, Anm. 56). Mit insgesamt einunddreißig Lehrstühlen sollte das Kapitol ausgestattet werden, wobei die Fächerverteilung der besonderen Situation Konstant!-
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nopels als der Hauptstadt des Römischen Reiches im griechischen Osten entsprach. Dreizehn Professoren sollten die »Romanae eloquentiae doctrina« unterrichten, - spezialisiert entweder auf die Grammatik, die von zehn, oder auf die Rhetorik, die von drei Professoren gelehrt werden sollte. Fünfzehn Professoren sollten dagegen für die Vermittlung der »facundia Graecitatis« zuständig sein, wobei hier ebenfalls zehn Grammatiker, jedoch fünf Sophisten vorgesehen waren. »Da wir aber wünschen«, so fährt Theodosios in seinem Gesetz fort, »daß die glorreiche Jugend nicht nur in diesen Wissenschaften unterrichtet wird, fügen wir dem Lehrkörper noch weitere Professoren hinzu, welche die höheren Wissenschaften (profundior scientia adque doctrina) unterrichten sollen. Ein Professor soll berufen werden, der die Studenten in die Geheimnisse der Philosophie (philosofiae arcana) einführen kann, und zwei Professoren für den Unterricht in der Rechtswissenschaft« (Codex Theodosianus, XIV, 9, 3; XV, 1, 53). Das Gesetz endet mit der Aufforderung an den Stadtpräfekten, die für einen ungestörten Unterricht notwendigen Räume herzurichten. Jedem Lehrer sollte ein eigener Unterrichtsraum zugewiesen werden, damit sich weder Professoren noch Studenten gegenseitig behinderten. Der Unterricht sollten in den Exedren des Kapitols stattfinden, die dem Kaiser zum Teil aus ausreichend groß, zum Teil aber als zu klein erschienen. Die zu engen Räume sollten mit den benachbarten zusammengelegt werden. Kann man diesen Bildungsort nun als >Universität< bezeichnen? Im Hinblick auf das Fächerangebot fällt auf, daß bestimmte Fachwissenschaften wie etwa die Medizin oder die Architektur nicht vorgesehen waren, obwohl auch die Professoren dieser Disziplinen von der erwähnten allgemeinen Privilegierung profitiert haben. Ebenso werden Geometrie, Arithmetik und Astronomie im Kapitolgesetz nicht angeführt. Andererseits ist die Rechtswissenschaft vertreten, und dies alles deutet darauf hin, daß das neue Bildungszentrum weniger auf die Vermittlung des verfügbaren Wissens ausgerichtet war, als auf die Vorbereitung des Beamtennachwuches auf den Staatsdienst. Dieser verlangte im Osten des Römischen Reiches vor allem die sprachlichen Kenntnisse, die am Kapitol gelehrt werden sollten, die lateinische Sprache wurde am Kaiserhof, im Rechtswesen und im Militär verwendet, Griechisch aber war die Verkehrssprache des Ostens, welche die Mitarbeiter der Verwaltung und der Gerichte auch beherrschen mußten. Der Begriff >Universität< ist auch im Hinblick auf die rechtliche Grundlage der Kapitol-Schule problematisch. Das Kapitol-Gesetz unterscheidet sich von den Gründungsurkunden mittelalterlicher Universitäten dadurch, daß nicht einer Korporation Privilegien erteilt, sondern nur eine bestimmte Anzahl privilegierter Professoren auf einen Unterrichtsort verpflichtet werden. Daran ändert sich auch im VI. Jahrhundert nichts, als Justinian
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den Unterricht in den Rechtswissenschaften auf die Universitäten von Rom, Berytos und Konstantinopel beschränkt. Entsprechend ist die Kapitol-Schule kein Rechtssubjekt, sie hat auch keinerlei Selbstverwaltung; alles untersteht der Aufsicht des Senats von Konstantinopel bzw. des Stadtpräfekten. So wird in einem weiteren Gesetz Theodosios II. festgelegt, daß jeder Professor des Kapitols mit dem Ehrentitel eines >comes primi ordinisCentonenchristlicherUniversität des Bardas< bezeichnete (Fuchs, 1926, S. 18) hat sich inzwischen die Auffassung durchgesetzt, daß es sich auch hier nicht um eine kaiserliche Einrichtung, sondern um eine - in ihren Ausmaßen recht begrenzte - private Gründung gehandelt hat, die vorrangig den Ruhm des Mäzens mehren sollte (vgl. Speck, 1971, S. 7ff.; Weiß, 1986, S. 293). N o c h zwei weitere Bildungseinrichtungen, die früher als >Universitäten< von Konstantinopel angesprochen wurden, sind von der Forschung inzwischen als Beispiele eines zwar kaiserlichen Mäzenatentums bewertet worden, das aber nicht mit einer kontinuierlichen staatlichen Bildungspolitik gleichzusetzen ist. Die jeweiligen Gründungen haben keine institutionelle Selbständigkeit gewonnen und ihre Lebensdauer hat zumeist nur eine zweite oder höchstens dritte Generation von Professoren erreicht. Dies gilt für die Bildungseinrichtung des Konstantin VII. Porphyrogennetos im IX. Jahrhundert, die möglicherweise eine Fortsetzung der Schule des Bardas darstellte (vgl. Speck, 1974, S. 22 ff.), und für die sog. »Universität« des Konstantin IX. Monomachos aus dem XI. Jahrhundert (vgl. Weiß, 1973, S. 65 ff.). Letztere ist deshalb besonders interessant, weil hier - zumindest zeitweise - Rechtsunterricht erteilt und von dem jeweiligen Professor, der den Titel eines νομοφνλαξ erhielt, verlangt wurde, die lateinische Sprache zu beherrschen. Als erster »Wächter des Gesetzes« fungierte hier der spätere Patriarch Johannes Xiphilinos, dessen Konflikt mit dem Piatonfreund Michael Psellos bereits geschildert wurde. Neben der juristischen Abteilung gab es eine philosophische, der zunächst Psellos und später sein Schüler Johannes Italos vorstanden; beide trugen den Titel eines ύπατος των φιλοσόφων, eines »Konsuls der Philosophen«.
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Das Auftreten einzelner Gelehrtenpersönlichkeiten ist es auch, das die weiteren Jahrhunderte der byzantinischen Bildungsgeschichte sehr viel mehr kennzeichnet als klar konturierte Organisationsformen der jeweiligen Bildungsorte. Nachdem der für Byzanz so schmerzhafte Einschnitt der Lateinerherrschaft im Jahr 1261 zu Ende gegangen war, wurde Georg Akropolites (1217-1282), der zuvor als >Logothet< - man könnte sagen, als Minister - gedient hatte, von Michael VIII. Palaiologos zum Professor für aristotelische Philosophie ernannt. Ihm soll die Stadt einen neuen Aufschwung der Wissenschaften verdankt haben. Ein halbes Jahrhundert später ist es Theodoras Metochites (1260-1332), der zugleich mit seiner Tätigkeit als Logothet auch als Professor in Erscheinung tritt. Metochites unterrichtete Astronomie und Mathematik, er verfaßte Kommentare zu den Schriften des Ptolemaios und des Aristoteles, außerdem aber auch Lobreden auf Heilige. Sein Schüler Nikephoros Gregoras (1290-1359), ein weiterer großer Name unter den Gelehrten von Byzanz, Grammatiker, Theologe und Historiker, der sich stilistisch an Piaton orientierte, lebte im Chora-Kloster und erteilte hier seinen Unterricht in der εγκύκλιος παιδεία. Schließlich die Spätzeit Konstantinopels: ob Manuel Chrysoloras am Ende des XIV. Jahrhunderts an einer öffentlichen Hochschule oder als Privatlehrer unterrichtet hat, läßt sich nicht sagen, - und es ist für die Bedeutung und Wirksamkeit dieses Professor auch nicht entscheidend. Der Rang einer Stätte des Geistes ist Konstantinopel also nicht deshalb zuzusprechen, weil es hier über die Jahrhunderte eine Universität gegeben hätte. Die Gründung von Bildungsstätten sagt zwar einiges über das Repräsentationsbedürfnis der byzantinischen Kaiser aus. Aber diese mehr oder weniger universitären Einrichtungen haben zumeist nicht lange bestanden. Auch ließen sich die Gelehrten nicht unbedingt an diesen Hochschulen, sondern ebenso im Staatsdienst oder im Kloster finden. Es sind nicht die Institutionen, sondern die Personen, die aus Konstantinopel eine Stätte des Geistes gemacht haben. Betrachten wir nun, was die Gelehrten in Byzanz für den Erhalt und die Überlieferung des aus der Antike Ererbten getan haben. Anders als im Falle Athens oder Alexandrias darf sich dabei unser Blick auf die byzantinische Geistesgeschichte nicht auf eine Epoche beschränken; vielmehr müssen wir wie bei der Geschichte der Bildungsinstitutionen auch hier viele Jahrhunderte überblicken.
II. »Auch wenn ich aufrichtig Christus angehöre«, so schreibt Michael Psellos in seiner Verteidigung gegen den Patriarchen Xiphilinos, der ihm vorgeworfen hatte, ein platonischer, aber kein christlicher Philosoph zu sein,
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»brauche ich nicht jede gesunde Lehre und die Erkenntnis des Seienden, des geistigen sowohl wie sinnlich wahrnehmbaren, zu verwerfen. Gottes werde ich inne, so weit dies möglich ist, durch das Gebet und ich werde nach oben gerissen, wenn es mir so gegeben ist. Wenn ich aber wieder niedersteige, dann will ich auf die Wiesen des geistig-literarischen Lebens herabsteigen, mir da eine schöne Blume pflückend und dort eine andere aus Deinem Garten für meine Seele. Dann wieder verlasse ich dieses Gefilde, beschäftige mich mit logischen Fragen und mit naturwissenschaftlichen Lehren und mache mich auf die Suche nach den Seinsgründen dessen, was geschaffen ist. Ich will mich mit Geistigem beschäftigen und allem, was den Verstand transzendiert« (Übs. von H . G . Beck, Byzantinisches Lesebuch, München 1982, S. 144). Die Ausführungen des Psellos charakterisieren die Eigenart der byzantinischen Wissenschaft, denn diese dient in der Regel als Grundlage und Ausgangspunkt für die Theologie. Das Programm der byzantinischen Gelehrsamkeit besteht darin, die Vorgaben der Antike um die Dimension der Theologie zu erweitern. Die Gelehrten nähern sich den alten Schriften mit großem Interesse und großem Respekt und verwenden einen Großteil ihrer Kräfte und Fähigkeiten darauf, das Überkommene zu erhalten und zu ergänzen, um es für die Theologie fruchtbar zu machen. Entsprechend ist die byzantinische Wissenschaft in erster Linie eine kommentierende und erläuternde Wissenschaft. Dies soll nun zunächst an einem naturwissenschaftlichen Fach, der Zoologie, und danach an der Mathematik verdeutlicht werden, bevor schließlich die Philologie in ihrer Bedeutung für die Überlieferung der antiken Texte ausführlicher behandelt wird. Georg von Pisidien, der in der ersten Hälfte des VII. Jahrhunderts Diakon an der Hagia Sophia war, verfaßte eine Vielzahl von kunstvollen Gedichten mit zum Teil zeitgeschichtlichem und zum Teil theologischem Inhalt. Sein größtes Werk ist das Н е х а ё т е г о п , ein philosophisch-theologisches Lehrgedicht über die Erschaffung der Welt. Mehrere hundert Verse gelten der Tierwelt, und es zeigt sich, daß Georg auch zahlreiche Erzählungen aus Aelians (170-240) Tiergeschichte verarbeitet hat. - Das große enzyklopädische Sammelwerk, das Konstantin V I I . Porphyrogennetos ( 9 1 3 - 9 5 9 ) im X . Jahrhundert zusammenstellen ließ, war in dreiundfünfzig Fachgebiete eingeteilt und beinhaltete neben den historisch-politischen Teilen, die z . B . Gesandtschaften, Kriegslisten oder öffentliche Reden zum Inhalt hatten, auch Abschnitte, die der Landwirtschaft, Medizin und Zoologie gewidet waren. Dabei stellt die Zoologie (Συλλογή της περί ζφων ιστορίας) ein Exzerpt vor allem aus der Tiergeschichte und anderen naturwissenschaftlichen Werken des Aristoteles sowie aus der Tiergeschichte Aelians dar. - Zu Beginn des X I I . Jahrhundert verfaßte dann Michael von Ephesos ( 1 0 5 0 - 1 1 2 0 ) einen Kommentar zur Zoologie des Aristoteles.
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In der Zusammenschau zeigen Georg von Pisidien, Konstantin VII. und Michael von Ephesos die drei entscheidenden Elemente der byzantinischen Gelehrsamkeit: Sammlung sowie Kommentierung der antiken Quellen und Anwendung des Wissens im theologischen Zusammenhang. Aber zugleich stößt man auf eine Grenze, die besonders bei den byzantinischen Naturwissenschaften zu beobachten ist: eine weiterführende, sich auch des Experiments bedienende und das antike Wissen ergänzende Beobachtung hat es weder im Bereich der Zoologie noch in anderen Teilen der Naturwissenschaften wie der Botanik oder der Mineralogie gegeben. Insofern ist die Naturbetrachtung in Byzanz nicht aristotelisch, nicht forschend; sie ist vielmehr von der Vorstellung eines geheimnisvollen Zusammenhangs zwischen allen Teilen des Kosmos, zwischen Pflanze, Tier, Mensch und Gott bestimmt, und insofern fast eine theologische Hilfswissenschaft. Etwas anders stellt sich die Situation der mathematischen Wissenschaften in Byzanz dar. Seit langem schon standen Geometrie und Arithmetik neben der Astronomie, und von den byzantinischen Gelehrten sind die entsprechenden Fachschriften der Antike, die Werke des Archimedes, Euklid, Apollonios von Perge und Ptolemaios, Nikomachos und Diophant gelesen und tradiert worden. Welche Faszination mitunter in Byzanz von der Mathematik und der Astronomie ausging, verdeutlicht die Biographie des bereits erwähnten Theodoros Metochites. Zu Beginn des XIV. Jahrhunderts, im Alter von mehr als vierzig Jahren, suchte sich Metochites einen in der Astronomie kundigen Gelehrten (Manuel Bryennios), um sich von diesem in seinen freien Stunden Privatunterricht erteilen zu lassen. Mit aller Kraft arbeitete sich Metochites unter Anleitung seines Lehrers durch die Fachliteratur, so daß er bereits nach wenigen Jahren in der Lage war, Sonnen- und Mondfinsternisse vorherzusagen. Schließlich verfaßte er sogar ein astrologisches sowie ein mathematisches Kompendium (vgl. H u n ger, 1978, II, S. 248). Die Mathematik führte aber nicht nur zur Astronomie, sondern auch zur neuplatonischen Zahlenmystik, die der Welterklärung diente und deren Spuren sich noch im XI. Jahrhundert bei Michael Psellos und im XII. Jahrhundert bei Johannes Tzetzes (1110-1185) finden. Und sie führte schließlich auch zur Astrologie, mit der sich die Kirche niemals anfreunden konnte, die man jedoch neben der Theologie als die >Wissenschaft< bewerten muß, welche die breiteste Wirkung auch außerhalb der Gelehrtenkreise entfaltete. Es gibt noch Hunderte von griechischen Handschriften mit astrologischen Texten, die heute in einem eigenen Corpus, dem Catalogus Codicum Astrologorum Graecorum, gesammelt werden. Das »unleugbare Verdienst von Byzanz«, so hat Herbert Hunger geurteilt, besteht aber auch im Hinblick auf die Mathematik in der »Bewahrung und Tradierung des im Altertum Gewonnenen bis zu den Anfängen einer neuzeitlichen Naturwissenschaft«. Byzanz' Stärke, so führt Hunger weiter
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aus, habe aber weniger im Theoretischen, als vielmehr in der praktischen Anwendung des Wissens gelegen (Hunger, 1978, II, S. 221). Der großartigste Beweis dieser Fähigkeit zur praktischen Anwendung ist noch heute in Istanbul zu besichtigen. Die Hagia Sophia wurde von Konstantin begonnen und von seinem Sohn Konstantios II. vollendet, im Jahr 532 aber durch ein Feuer vollständig zerstört. Justinian ließ einen Neubau errichten, der alles bis dahin Bekannte in den Schatten stellen sollte. Die Bauleitung lag zunächst in den Händen des Mathematikers Anthemios von Tralleis, den Prokop als den »glänzendsten Ingenieur (επί σοφία τη καλούμενη μηχανικη λογιότατος) nicht nur der Gegenwart, sondern auch der Vergangenheit« bezeichnet (Bauten I, 1, 24; in der Übs. von O . Veh, Darmstadt 1977, S. 23). Nach seinem Tod im Jahr 534 wurde das Bauwerk dann von Isidor von Milet vollendet. Die großartige Kuppel der Hagia Sophia ist von der Konzeption her sein Werk, wenngleich eifi Erdbeben einige Jahre später einen Teileinbruch verursachte und einen Neubau in etwas veränderter Ausführung durch Isidor den Jüngeren, einen Neffen des Baumeisters, notwendig gemacht hat. Von Isidor weiß man aber auch, daß er eine Ausgabe der Schriften des Euklid besorgt und einen Kommentar zu der Schrift Herons (1. Jh. n. Chr.) über den Gewölbebau verfaßt hat Die Hagia Sophia stellt den frühen Höhepunkt der angewandten Wissenschaften in Byzanz dar. Im Vergleich mit diesem Bauwerk erscheinen die Automaten, die Liutprand von Cremona in der zweiten Hälfte des X . Jahrhunderts (968/9) im Kaiserpalast sah, eher als Spielerei. Liutprand, der als Gesandter Berengars im Jahr 949 nach Konstantinopel gereist war, berichtet von seinem Empfang bei Konstantinos VII. Porphyrogennetos: »In Konstantinopel ist eine Halle neben dem kaiserlichen Palast von wunderbarer Größe und Schönheit; die Griechen nennen sie Magnaura. Diese Halle ließ Konstantinus folgendermaßen herrichten. Vor dem Kaiserthron stand ein eherner, aber vergoldeter Baum, dessen Zweige erfüllt waren von Vögeln verschiedener Art, ebenfalls von Erz und vergoldet, die sämtlich nach ihrem Aussehen die Stimmen verschiedener Vögel ertönen ließen. Der Thron des Kaisers aber war so künstlich erbaut, daß er in einem Augenblick niedrig, bald größer und gleich darauf hoch erhaben erschien. Löwen von ungeheurer Größe, ich weiß nicht ob aus Metall oder aus Holz, aber mit Gold überzogen, standen gleichsam als Wächter des Thrones, indem sie mit dem Schweife auf den Boden schlugen und mit offenem Rachen und beweglicher Zunge ein Gebrüll erhoben. Bei meinem Eintritt erhoben die Löwen ihr Gebrüll und die Vögel zwitscherten je nach ihrem Aussehen; mich aber ergriff werden Furcht noch Staunen, da ich mich nach alledem bei Leuten, die damit wohl bekannt waren, genau erkundigt hatte« (Antapodosis VI, 5 in der Übs. von A. Bauer und R. Rau, Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte des Mittelalters, Bd. VIII: Quellen zur Geschichte der Sächsischen Kaiserzeit, Darmstadt 1971, S. 489).
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Die größten Leistungen der Byzantiner liegen auf dem Feld der Geistenwissenschaften u n d hier in der Philologie. Schon die hellenistischen Gelehrten in Alexandria hatten wissenschaftliche Editionen der klassischen Texte erarbeitet. H i e r soll nur an Zenodotos, den ersten Leiter der Bibliothek, u n d seine Nachfolger Aristophanes von Byzanz u n d Aristarchos von Samothrake erinnert werden. Ihre Arbeit w u r d e in der Römischen Kaiserzeit, ζ. B. von D i d y m o s >ChalkenterosMetacharakterismosUmschreibens< bezeichnet, ist gemeint, daß die bislang verwendete Majuskelschrift aufgegeben u n d an ihrer Stelle eine Minuskelschrift verwendet wurde. Ihre Vorteile lagen in einer großen Platzersparnis u n d einer schnelleren Schreibgeschwindigkeit, schließlich auch in einer besseren Lesbarkeit durch die Verwendung von Akzenten u n d Spiritus. Das Umschreiben - eine paralleler Vorgang von der Majuskel über die Halbunziale z u r Minuskel erfolgte übrigens beinahe zeitgleich auch im lateinischen Westen - ging in K o n stantinopel mit der Herstellung von Musterausgaben der jeweiligen Texte einher. Die vorhandenen Majuskel-Kodices w u r d e n kollationiert, u m die Textvarianten zu ermitteln, und auch diese w u r d e n in die neuen MinuskelAusgaben, gewissermaßen als kritischer Apparat, aufgenommen (vgl. Hunger, 1989, S. 64 ff.). N u r wenige der Schreiber, die in Byzanz mit der Abschrift u n d Vervielfältigung der Texte beschäftigt waren, sind namentlich bekannt. Aber mit Photios und Arethas hatten auch zwei byzantinische Gelehrte von Rang an dem Metacharakterismos, der Bewahrung der antiken Literatur in einer neuen Schrift, Anteil. Photios war ein Schüler des Philosophen Leon u n d unterrichtete seiner-
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seits als Privatlehrer Logik und Dialektik, Mathematik, Philosophie, Medizin und Theologie, bevor er in der Mitte des IX. Jahrhunderts den Patriarchenthron von Konstantinopel bestieg. Neben zahlreichen theologischen Werken stellte Photios auch die >Bibliothek< zusammen, bei der es sich nach seiner eigener Auskunft um eine für seinen Bruder Tarasios verfaßte Inhaltsangabe aller der Bücher handeln soll, die Photios während seiner Abwesenheit von Konstantinopel alleine gelesen hat. In dieser >Bibliothek< werden 279 Bücher von ungefähr 150 christlichen und heidnischen Autoren abgehandelt und etliche Werke exzerpiert, von denen heute, wie ζ. B. vom dem antiken Historiker Ktesias, nur noch diese Auszüge bekannt sind. Mit seiner >Bibliothek< wollte Photios dem Verlust antiker Texte durch den »alles auflösenden Chronos« entgegenwirken (zitiert nach Hunger, 1989, S. 67). Der Wunsch, die Überlieferung sicherzustellen, hat ihn auch dazu veranlaßt, an der Herstellung der Musterexemplare mitzuarbeiten. Photios gehörte die älteste heute erhaltene Platon-Handschrift (Cod. Par. gr. 1807). Zwischen 850 und 880 entstanden in Konstantinopel auf der einmal gewonnenen Textgrundlage mindestens zehn weitere Platon-Handschriften. Musterexemplare wurden damals auch von den physikalischen Schriften des Aristoteles erstellt, nachdem schon zu Beginn des IX. Jahrhunderts, unter Beteiligung von Photios' Lehrer Leon, Neufassungen wichtiger naturwissenschaftlicher Texte des Ptolemaios, Dioskurides und Paulos von Ägina entstanden waren. Eine Generation nach Photios wirkte Arethas, der zu Beginn des X. Jahrhunderts Metropolit von Kaisareia in Kappadokien wurde und dort zahlreiche theologische Schriften verfaßte. Zuvor hatte er sich in Konstantinopel eine eigene Bibliothek aufgebaut, für die er zahlreiche Werke der Antike kopieren und aus der Majuskel in die Minuskel umschreiben ließ. Mehr als zwanzig Handschriften können heute noch als ehemaliger Besitz des Arethas identifiziert werden, einige enthalten auch Scholien von Arethas' eigener Hand. Unter seinen Handschriften befanden sich z.B. die Werke von Euklid oder Lukian. Die >Selbstbetrachtungen< des Kaisers Marc Aurel hat Arethas für die Nachwelt gerettet, indem er sie aus dem wohl letzten noch vorhandenen, aber bereits halbzerfallenen Kodex abschreiben ließ (vgl. Erbse, 1961, S. 300; Hunger, 1989, S. 65). Betrachtet man die Rettung der antiken Literatur durch Byzanz, so darf man daneben auch die Verluste nicht übergehen. Verluste in einem Ausmaß, das schwer einzuschätzen ist, wurden durch innere, religionspolitische Wirren wie den Ikonoklasmus bewirkt, größere Verluste aber noch durch äußere Gewalt, die mit dem IV. Kreuzug oder der Eroberung Konstantinopels im Jahr 1453 einherging. Doch auch die ordnende und auf die Sicherung des Erbes ausgerichtete philologische Tätigkeit hatte zum Teil und ganz unbeabsichtigt die Folge, daß etliche Schriften nicht mehr tradiert wurden. Der byzantinische Gelehrte, dem das Sammelwerk des Pho-
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tios oder die Enzyklopädie des Konstantinos VII. Porphyrogennitos ausreichte, war an den vollständigeren Vorlagen nicht mehr interessiert. Die Zusammenstellung von Schulbüchern, Anthologien oder Teilausgaben führte zur Vernachlässigung der Gesamtwerke. So kann man heute von den beinahe 80 Dramen, die Aischylos geschrieben hat, nur noch sieben lesen, - sieben auch nur noch von den 130 Tragödien und Satyrspielen des Sophokles, 19 von den 90 Stücken des Euripides. Und diese Aufstellung ließe sich fortsetzen, für die antiken Dichter, Redner, Historiker, Philologen und Naturwissenschaftler. Bewahrung und Verlust stehen in Byzanz nahe beieinander. Der Westen Europas, der später von den Leistungen der byzantinischen Gelehrsamkeit profitieren sollte, hat zuvor zu ihrer teilweisen Zerstörung beigetragen. Der IV. Kreuzzug, von Venedig aus gegen Konstantinopel gelenkt, hat dieser Stadt einen schweren Schlag versetzt und ihre Verteidigungskraft gemindert. Wieviele Bibliotheken, wieviele Manuskripte außerdem, die zu Privatsammlungen gehörten, in dem dreifachen Brand Konstantinopels im Jahr 1204 zerstört wurden, läßt sich nicht angeben, aber das Ereignis wird für die antike Literatur von nicht weniger zerstörerischer Wirkung gewesen sein als für den in Konstantinopel bis dahin erhalten gebliebenen Bestand antiker Kunstschätze. Aus dem Urteil des Michael Choniates (1138-1222), der von 1182 bis 1205 als Erzbischof von Athen amtierte und dort erleben mußte, wie ihn die Kreuzfahrer seiner Büchersammlung beraubten, spricht der Zorn des wehrlosen Literaten, der beinahe mehr über die Mißachtung der Beute durch den Räuber, als über den Verlust selbst entrüstet ist: »Eher wird ein Esel die Harmonie des Lyraspiels verstehen«, so schreibt Michael, »und eher wird sich ein Mistkäfer an Parfüm erfreuen, als daß ein Lateiner die Schönheit griechischer Dichtung begreifen wird« (zitiert nach Wilson, 1983, S. 205). Andererseits belegt die Korrespondenz Michaels, daß schon in den Jahren vor dem IV. Kreuzzug ein reger Buchhandel zwischen Ost und West im Gange war. Michael beklagt sich nämlich über den hohen Preis, der für Bücher verlangt wurde, und erklärt diesen mit der Nachfrage, die sich von Italien aus nach Konstantinopel richtete (vgl. Wilson, 1983, S. 205). Auch haben einzelne lateinische Gelehrte, die während des XII. Jahrhunderts Konstantinopel besuchten, die Gelegenheit genutzt, die griechische Sprache erlernt und erste Übersetzungen angefertigt, z.B. Burgundio von Pisa (1110-1193), der sich als Gesandter seiner Stadt zeitweise in Konstantinopel aufhielt und hier Bücher kaufte. Burgundio übersetzte etliche Werke in das Lateinische, darunter Schriften des Hippokrates und Galen, des Johannes von Damascus und Johannes Chrysostomos. Insofern eröffnete sich für den Westen neben der arabischen Vermittlung allmählich ein zweiter, unmittelbarerer Weg zum griechischsprachigen Erbe der Antike.
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U m das ganze Interesse der italienischen Humanisten hervorzurufen, bedurfte es aber in Italien selbst der Vermittlung der griechischen Sprache. Die ernsthafte Beschäftigung mit der griechischen Sprache und Literatur setzte erst mit der Ankunft des Manuel Chrysoloras aus Konstantinopel in Italien ein. Chrysoloras war von seinem Kaiser, Manuel II., nach Italien geschickt worden, um hier die Hilfe der Abendländer gegen die Osmanen zu gewinnen. Aber weder in Frankreich noch in Italien wollte man der bedrängten Stadt beistehen. Chrysoloras hielt sich viele Jahre im Westen auf, ohne seine politischen Ziele erreichen zu können, aber während dieser Zeit entfaltete er eine folgenreiche Tätigkeit als Professor des Griechischen, zunächst an der Universität von Florenz, später auch in Mailand und Pavia. Den Beginn seiner Lehrtätigkeit in Florenz am 2. Februar 1397 kann man als ein »Schlüsseldatum der westlichen Geistesgeschichte« bezeichnen (Rüdiger, 1961, S. 562), denn zu Chrysoloras' Studenten gehörten etliche große Namen der italienischen Renaissance, - der Büchersammler Niccolo Niccoli (1364-1437), der sich um Cicero wie um Ammianus Marcellinus verdient gemacht hat, Leonardo Bruni (1370-1444), der später die Klöster Italiens nach lateinischen Handschriften durchsuchte, oder Poggio Bracciolini (1380-1459), der u.a. auf den Hersfelder Kodex mit den kleinen Schriften des Tacitus aufmerksam wurde. Für die Überlieferung der griechischen Literatur sind Guarino von Venedig und Francesco Filelfo wichtiger, zwei weitere Studenten des Chrysoloras, die durch ihren Griechischlehrer dazu angeregt wurden, nach Konstantinopel zu reisen und dort nach Handschriften Ausschau zu halten. Guarino (1374-1460), der später in Florenz, Venedig und Verona die griechische und lateinische Grammatik lehrte und dann Hoflehrer von Leonello d'Este wurde, kaufte am Anfang des XV. Jahrhunderts nicht nur in Konstantinopel, sondern auch in Süditalien und auf Rhodos zahlreiche Manuskripte und besaß schließlich eine Sammlung von 60 Kodizes. Francesco Filelfo (1398-1481) lebte von 1420 bis 1427 als Dolmetscher in Konstantinopel und brachte bei seiner Rückkehr nach Italien von dort etwa 40 Kodizes mit. Übertroffen wurden diese Büchersammler aber noch von Giovanni Aurispa (1369-1459), dem Horst Rüdiger den »Hauptruhm für die Rettung griechischer Kodizes aus Byzanz« zugesprochen hat (1961, S. 542). Er konnte sich während seines zweiten Aufenthalts in Konstantinopel 238 Kodizes beschaffen, und stolz listet er in einem Brief an einen Freund, den Humanisten und Ordensgeneral der Kamaldulenser Ambrogio Traversari, aus dem Jahr 1424 auf, welche Schätze er nach Italien gebracht hatte: einen vollständigen Piaton, Homer, Pindar, die Tragiker, Thukydides, Xenophon, Demosthenes, Plutarch, Plotin, Jamblich und Proclos, Strabon, Diodor, Prokop und viele weitere (vgl. Remigio Sabbadini [Hg.], Carteggio di Giovanni Aurispa, Rom 1931, Brief Nr. 7, S. 10 ff.). »Wo sind die Philosophen, die Rhetoren, die Professoren aller Wissenschaften geblieben«, so fragte der anonyme Verfasser einer >Klage um
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Konstantinopel< nach d e m Fall der Stadt (A. Ellisen, Analekten der mittelund neugr. Lit., B d . III, L e i p z i g 1857 [ N D L e i p z i g 1976], S. 138, Vers 243). Soweit sie, so kann man antworten, die E r o b e r u n g überlebt haben, sind sie den antiken Texten in den Westen gefolgt. N a c h d e m U n t e r g a n g von K o n stantinopel nahm das Studium der griechischen Sprache und Literatur in Italien einen großen A u f s c h w u n g , der sich aus der Anwesenheit vieler b y zantinischer Gelehrter wie z . B . G e o r g von Trapezunt, J o h a n n e s A r g y r o p o u l o s , T h e o d o r v o n G a z a oder D e m e t r i o s C h a l c o n d y l a s erklärt. Sie vermittelten hier einen bedeutenden Teil des antiken Wissens, ohne welches E u r o p a s Z u k u n f t anders ausgesehen hätte. D a s m o d e r n e E u r o p a ist aus Piatons A k a d e m i e und d e m M u s e i o n von Alexandria hervorgegangen, aber die Philosophie Athens und die Wissenschaften aus Alexandria haben ihren Weg in die M o d e r n e nicht zuletzt über B y z a n z gefunden.
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P E T E R LANDAU
Bologna Die Anfänge der europäischen Rechtswissenschaft
I. Einleitung Am 6. April 1220 sandte Papst Honorius III., der Nachfolger Innozenz' III., des bedeutendsten Papstes des Mittelalters, eine sog. Bulle, d.h. ein feierliches Schreiben, an die Bürger der Stadt Bologna, - >populo Bononiensi< - , in dem er die Stadt aufforderte, Gesetze zurückzunehmen, durch die sie die Freiheit der Studenten in eine Untertänigkeit, geradezu Knechtschaft (servitus), verwandelt habe. Der Papst stellte zunächst fest, daß sich die Stadt durch ihr restriktives Hochschulrecht schwer geschadet habe. Sie solle vielmehr bedenken, daß sie durch die Anwesenheit der Studenten und das Bestehen eines Hochschulstudiums unendliche Vorteile habe, da darauf vor allem ihr Ansehen beruhe und ihr Name in der ganzen Welt bekannt geworden sei. Bologna sei als Studienzentrum ein zweites Bethlehem geworden, eine Stätte, wo für die Jugend das Brot gebrochen werde, dessen Genuß die Führer des Volkes Gottes hervorbringe, die aufgrund ihres Studiums zur Leitung der Seelen befähigt seien.1 Mit diesen überschwenglichen Sätzen hebt der Papst die einzigartige Stellung der Universität Bologna hervor und preist damit zugleich die Rechtswissenschaft, da Bolognas Ruhm auf seiner Rechtsschule beruhte und allein die dort vermittelten Rechtskenntnisse zur Leitung der universalen Kirche qualifizieren konnten. Das einzigartige Dokument, das am Ende langjähriger Interventionen des Papstes in bolognesische Auseinandersetzungen zwischen Stadt und Studenten, zwischen >town and gownlex omnium generalisfaex< anstelle von >lexRechtsbuchcomitiva< bezeichnet wurde. Die auswärtigen Studenten in Bologna haben sich wohl schon aus Gründen des Selbstschutzes im 12. Jahrhundert landsmannschaftlich zusammengeschlossen. Sie verweilten lange in Bologna, da die reguläre Studiendauer im Zivilrecht acht Jahre und im kanonischen Recht sechs Jahre betrug. Studierte man nacheinander beide Materien, so gab es Anrechnungsmöglichkeiten - doch dauerte dann das Studium mindestens 10 Jahre. Allerdings konnte ein Student während dieser Zeit noch vor Erlangung des Doktorgrades als Baccalaureus nach 5 bis 6 Jahren Studium Ergänzungskurse in der Lehre übernehmen. Die landsmannschaftlichen Scholarenverbindungen, an deren Spitze von den Studenten gewählte Rektoren standen, werden zuerst von Johannes Bassianus, einem Schüler des Bulgarus, gegen Ende des 12. Jahrhunderts erwähnt - ich nehme an, daß sie spätestens 1184, zur Zeit der Dekretale Lucius' III., bereits bestanden. Englische Studenten stifteten bereits 1174 einen Altar für Thomas Becket in einer Bologneser Kirche; die lombardischen Studenten erwarben 1191 gemeinsam ein Grundstück. Zu Anfang des 13. Jahrhunderts gab es in Bologna wahrscheinlich mindestens vier landsmannschaftlich unterschiedliche Scholarenverbindungen. Sie waren freie Genossenschaften, die sich selbständig ihre Rektoren wählen konnten. Die Rektoren übten über die Studenten eine außerordentliche Macht aus, zumal der Student seinem
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Rektor einen Gehorsamseid leisten mußte. Sie konnten die Studenten sogar zur Auswanderung an einen anderen Hochschulort bewegen, so 1215 nach Arezzo. Die Stadt Bologna versuchte gegen die Autorität der studentischen Rektoren vorzugehen, wurde aber um 1220 von Papst H o norius III. in die Schranken verwiesen, der die studentische Selbstbestimmung rettete. Eine stärkere Integration unter den auswärtigen Studenten führte dazu, daß es um 1250 nur noch die beiden Zusammenschlüsse (universitates) der Citramontani für die Italiener und der Ultramontani, derjenigen von jenseits der Alpen, für alle Nichtitaliener gab; jede universitas bestand mit einem Rektor an der Spitze, so daß Bologna zwei studentische Rektoren hatte. Die Autorität dieser rectores scolarium erfaßte auch die Professoren, die den studentischen Rektoren Gehorsam schwören mußten und in der Wahrnehmung ihrer Lehrverpflichtungen von den Studenten streng kontrolliert wurden. Man legte in den Universitätsstatuten fest, daß die Professoren ein bestimmtes Lehrpensum an festliegenden Tagen erledigt haben mußten; zur Kontrolle wurde ein regelrechtes studentisches Denunziationssystem eingeführt. Wahrend in Paris Lehrer und Schüler miteinander korporativ zusammengeschlossen waren, bildeten in Bologna die Studenten eine völlig selbständige Korporation. Es gab folglich schon im 13. Jahrhundert zwei Modelle der UniversitätsVerfassung in Europa; Savigny hat das relativ demokratische Modell von Bologna auf den republikanischen Geist in dieser Stadt zurückgeführt. Die Abhängigkeit der Professoren von den Studenten ergab sich auch daraus, daß ihre Einnahmen aus der Lehrtätigkeit bis gegen Ende des 13. Jahrhunderts auf Sammlungen bei den Studenten beruhten, die für das Salär der Professoren aufkommen mußten. In einem Papstschreiben aus dem 13. Jahrhundert werden die Studenten ermahnt, die Geldzahlungen an die Professoren zu erbringen, da es sich dabei nicht um freiwillige Leistungen handle; die Studenten seien dazu verpflichtet. Die ungewöhnlich starke Stellung der Studenten in der Bologneser Universitätsverfassung läßt sich nur aus der Entstehungsgeschichte dieser ältesten Universität Europas erklären.
VII. Schluß Bologna war im 12. und beginnenden 13. Jahrhundert unbestritten das Zentrum der europäischen Rechtswissenschaft. Es konnte diese Stellung auch gegenüber Paris behaupten, da Papst Honorius III. 1219 ein Verbot des Zivilrechtstudiums für Paris erließ, das dort bis 1679 in Kraft war und dazu führte, daß sich in Frankreich die Rechtswissenschaft nur außerhalb der Hauptstadt entwickeln konnte. Die Legisten wichen von Paris in die Stadt Orleans aus, wo dann im späteren 13. Jahrhundert eine mit Bologna
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konkurrierende Rechtsschule blühte. In Italien selbst wurde die 1222 durch Auswanderung von Studenten aus Bologna gegründete Universität Padua zur ersten vollwertigen Konkurrenz. In Padua gab es von Anfang an ein großes Entgegenkommen der Stadt, die bereits 1228 500 Wohnungen für Studenten bereitstellte, also ausgesprochene Hochschulwerbung betrieb. Neben Bologna wurde Padua zu einer Universität von Weltruf und konnte im 15. Jahrhundert die ältere Schwester überflügeln. Im 14. Jahrhundert besaß Italien dann bereits eine Vielzahl von Universitäten, meist in Mittelitalien, das bis heute in Europa eine dicht besetzte Hochschullandschaft bildet. Als älteste europäische Universität steht Bologna auch für die Universitäten gegen Ende des 20. Jahrhunderts am Anfang einer Tradition, die inzwischen in der ganzen Welt übernommen und weitergeführt wird. Unter den Universitätsangehörigen müssen in erster Linie die Juristen Bolognas eingedenk sein. Bereits Savigny hat daran erinnert, daß die Blüte der Universität Bologna letzlich nicht auf der Förderung durch Stadt oder Kirche, sondern auf dem freien Bildungsstreben der mittelalterlichen Gesellschaft beruhte, die über eine zu Unrecht häufig immer noch unterschätzte geistige Dynamik verfügte. Ich zitiere zum Abschluß Deutschlands größten Juristen: »Einige Lehrer von großem Geist konnten eine Schule heben, und unter den ungeschickten Händen der nächsten Nachfolger konnte sie wieder versinken. Denn die Universitäten standen ganz allein, auf sich selbst gegründet, ohne Zusammenhang mit einer durchgehenden Nationalbildung, und ohne die unentbehrliche Grundlage gelehrter Schulen. Aber der geistige Anstoß, den Europa durch sie erhalten hat, ist dauernder gewesen als ihre eigene ursprüngliche Blüte, und wir Juristen besonders sollten niemals undankbar vergessen, daß die gelehrte Rechtswissenschaft neuerer Zeiten auf dem G r u n d der Schule von Bologna ruht.« 2
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Anmerkungen 1 Vgl. den Abdruck dieser Bulle bei Rashdall-Powicke, The Universities of Europe, vol. I, S. 586-588. 2 F.C. v. Savigny, Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter, Bd. III, S. 155 f.
JOACHIM
EHLERS
Paris Die Entstehung der europäischen Universität
Auch wenn das Thema von einem Mediaevisten behandelt wird, ist jedem Leser klar, daß die Universität Paris kein so mittelalterliches Gebilde war, daß sie mit der Epoche hätte vergehen müssen. Sie existiert ja auch noch, über das Stadtgebiet auf dreizehn Standorte verteilt, deren zwei den alten Namen weiterführen: Paris-Sorbonne (»Paris IV«) und Pantheon-Sorbonne (»Paris I«). Klar ist andererseits aber auch, daß hier und in Bologna eine europäische Universitätsgeschichte begonnen hat, die weder für Athen noch für Alexandria oder Konstantinopel einen legitimen Platz zu vergeben hat, ja man kann behaupten, daß Paris seinen unverwechselbaren Rang gar nicht so sehr als »Stätte des Geistes« erlangt hat, sondern als korporativ organisierte Rebellion methodisch geschulter Intelligenzen, die sich ihren sozialen O r t in den engen Grenzen einer hochmilitarisierten Agrargesellschaft suchen mußten. Diese Rebellion hat ihre Vorgeschichte, und sie gelang im Zusammenwirken mit einem Papsttum, das den unitarischen Anspruch der lateinischen Christenheit seit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts so formuliert hatte, daß er sich gemeinsam mit den westlichen Monarchien gegen kaiserliche Konzeptionen eines römischen Imperium durchsetzen ließ. Die Emanzipation der französischen Monarchie, deren Repräsentanten sich als Fortsetzer des fränkischen Königtums und damit als älteste katholische Dynastie im ehemals weströmischen Reich verstanden, wurde in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts durch die Entscheidung ihres Episkopats und ihrer hohen Schulen für Papst Alexander III. sinnfällig, für jenen Papst, den der Kaiser seit 1159 vergeblich mit Gegenpäpsten, diplomatischem und militärischem Druck zu beseitigen suchte. Indem König Ludwig VII. sich das Votum der Ecclesia Gallicana für Alexander III. zu eigen machte, stellte er das Königreich Frankreich endgültig in die Einflußzone jener Kräfte, denen die lateinische Christenheit nicht mehr als imperiale Ordnung, sondern nur noch als Gesellschaft nationaler Monarchien unter päpstlicher Autorität sinnvoll verfaßt schien. Daß die Universität zuerst in Paris ihre klassische Formation erfahren hat, ist demnach kein Zufall, son-
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dem das Ergebnis einer Synergie seinerzeit progressiver Kräfte. Wenn diese Universität sich später selbst als Gründung Karls des Großen sah und nicht, wie Bologna, ihr Gründungsprivileg auf den Namen eines römischen Kaisers fälschte, so ergab sich das aus eben jener karolingischen Tradition, deren legitimistisch-emanzipatorische Deutung und Aneignung in Frankreich seit langem eingeübt waren. Solche grundsätzlichen Überlegungen sind hier deshalb angebracht, weil wir beim Verfolgen der Entstehung und Organisation der Universität Paris Beobachtungen machen werden, die wesentliche Beiträge zu einer Typologie der europäischen Universität nicht nur des Mittelalters enthalten. Das hängt mit dem Erfolg und der aus diesem Erfolg ableitbaren Vorbildfunktion und Autorität von Paris zusammen. Die Stadt war seit dem Anfang des 6. Jahrhunderts eine der wichtigsten sedes des fränkischen Königtums gewesen und entwickelte sich unter den frühen Kapetingern immer deutlicher zur Hauptstadt der französischen Monarchie. Auch als Studienort war Paris seit dem Anfang des 12. Jahrhunderts bedeutend geworden, denn die Kathedralschule von Notre-Dame hatte über ihre gewöhnliche Funktion als Ausbildungsstätte für den Klerikernachwuchs der Diözese hinaus durch das Wirken bedeutender Lehrer überregionale, ja internationale Attraktivität gewonnen. Daneben hatten sich links der Seine, auf dem Mont Ste-Genevieve, freie Magister angesiedelt und boten Unterricht gegen Honorar. Als Johann von Salisbury 1135 zum Studium nach Paris kam, hörte er auf dem Berg außer bei Abaelard noch bei einem Magister Alberich und bei Robert von Melun, aber er konnte sich weitere Lehrer in der Stadt suchen. Spätestens seit den 40er Jahren des 12. Jahrhunderts unterrichteten in Paris also nicht nur die Lehrer der Kathedralschule, sondern in Privathäusern und -Wohnungen auch freie Magister in Ausübung eines selbständigen Gewerbes. Sie wirkten seit 1147 nur noch auf der lie de la Cite, unter der Lehraufsicht und Jurisdiktion des Kanzlers der Kathedrale, der allein berechtigt war, eine licentia für das Lehren der artes zu erteilen. In diesen Jahrzehnten ist Paris durch steigende Studentenzahlen und ein nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage immer mehr erweitertes Lehrangebot zur größten Unterrichtsstätte Frankreichs und zum angesehensten Studienort des lateinischen Europa geworden. Der Erzieher des späteren Königs Ludwig VIII., Aegidius von Paris, verfaßte für seinen Zögling vor 1198 ein Lehrgedicht, in dem er neben französischen Magistern Engländer und Italiener nannte, die den Fachgruppen der Artisten, Juristen, Mediziner und Theologen zugeordnet werden konnten, unter denen wiederum die Theologen besonderes Ansehen genossen. In dieser Art des freien U n terrichts gegen Honorar war die Gemeinschaft von Lehrern und Lernenden von vornherein angelegt, denn es ergaben sich Konkurrenzsituationen und Lehrstreitigkeiten.
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O b w o h l sich die Zahl der Lehrer und Schüler nicht angeben läßt, weist doch die Variationsbreite der Quellenzeugnisse darauf hin, daß es sich im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts u m eine so große G r u p p e gehandelt haben muß, daß sie in der Gesamteinwohnerschaft von Paris Gewicht hatte u n d neben den Bürgern, dem Klerus der städtischen Klöster und Stifte, den Angehörigen des königlichen H o f e s zunehmend Beachtung verdiente. Das warf Versorgungsprobleme auf, denn nur jene, die schon einer bestimmten geistlichen Gemeinschaft angehörten u n d sich weiterbilden wollten, w u r den von dieser unterstützt. Die Zahl der Notleidenden war also groß, die Parisiana fames sprichwörtlich, bedeutend die durch erfolglose Langzeitstudenten und Studienabbrecher genährte Subkultur der professionellen Vaganten, Liedermacher u n d drittklassigen Dichter. Sie bildeten ein K o n fliktpotential neben der spannungsvollen U n r u h e des letztlich rechtsfreien Raumes, in den die Menge der karrierebewußten Studenten mit ihren teilweise erbittert konkurrierenden Magistern hineinwuchs. Deren Selbstorganisation m u ß spätestens im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts begonnen haben, aber vor 1200 gibt es kein Zeugnis dafür. Seit 1150 vergab der Kanzler der Kathedrale N o t r e - D a m e die licentia docendi und suchte damit ein Mindestmaß an Aufsicht und Kontrolle in der expandierenden Schullandschaft zu sichern. Außerdem sollten die Einheit der Lehre und die anerkannten Lehrer (also keineswegs n u r die Kathedralschule selbst) vor bisweilen unlauterer K o n k u r r e n z geschützt werden. Weil dieses Instrument aber vor der Eigeninitiative der freien Magister versagte und die vielfältigen Schulformen und Lehrinhalte nicht hinreichend k o n trollieren, geschweige denn normieren konnte, mußte auf mittlere Sicht ein K o m p r o m i ß zwischen freiem u n d schon anerkanntem Lehrbetrieb gefunden werden. Weil beide Seiten die Vorteile eines solchen Kompromisses allmählich erkannten, kam er nach mehrjährigen Auseinandersetzungen schließlich z u stande: Die freien Artistenmagister schlossen sich zur Korporation zusammen u n d regelten angesichts einer nicht mehr beherrschbaren Vielfalt von T h e m e n u n d Schulen, harter K o n k u r r e n z u m zahlungsfähige Schüler u n d marktgerechter Niveausenkung den Wettbewerb im Sinne eigener Existenzsicherung; der Ortsbischof verfügte mit dieser Magisterkorporation fortan über eine weitgehend selbstregulierende Gewerbeaufsicht, die den Fächerkanon festschrieb und das Studium homogen organisierte. D e r Weg zu diesem K o m p r o m i ß war lang und verschlungen; wir brauchen ihn hier nicht im einzelnen zu verfolgen, müssen aber auf den typischen Sachverhalt achten, daß es ein »Gründungsdatum« f ü r die Universität Paris nicht gibt, aus der Vorgeschichte heraus ebensowenig geben kann wie bei den meisten anderen Universitäten des älteren Typus auch. Im Jahre 1200 hatte König Philipp II. den Angehörigen der Pariser Schulen den Schutz der kirchlichen Gerichtsbarkeit zugesichert; es m u ß damals
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also bereits eine als solche definierbare und privilegierungsfähige Gruppe gegeben haben, die der König wohl als Druckmittel gegen die Bürgerschaft von Paris benutzt hat. Der englische Chronist Roger von Howden meinte jedenfalls, daß Philipp II. einen Abzug der Studenten aus der Hauptstadt gefürchtet und mit seinem Diplom habe verhindern wollen. Hinsichtlich der Magister konnte Papst Innozenz III. 1208/09 bestätigen, daß er aus Briefen der Pariser doctores sacre pagine entnommen habe, daß die Lehrer einmütig aus ihrer Mitte acht angesehene Männer gewählt und diese Kommission mit Disziplinargewalt ausgestattet hatten; der Papst erkennt solche Befugnisse der offensichtlich bereits korporativ organisierten Lehrer an und benennt ihre Gemeinschaft als universitas vestra. Eben dieser universitas stellt der Bischof von Paris im August 1213 eine Urkunde aus, mit der er einen Streit zwischen dem Kanzler der Kathedrale einerseits, den Magistern und Scholaren andererseits konsensual beendet. 1215 schließlich gibt der päpstliche Legat Robert de Courgon universis magistris et scolaribus Parisiensibus weit ins einzelne gehende Statuten, und 1231 bringt Gregors I X . Bulle Parens scientiarum jenen Katalog, der detailfreudig Regeln vorschreibt, bis hin zur Bestimmung über maximal vier Wochen Sommerferien und zum Verbot bewaffneter Stadtgänge der Studenten. Die Rolle der Päpste wird schon aus diesen wenigen Daten klar; sie ist im 1219 ausgesprochenen Verbot der Zivilrechtsstudien ebenso manifest wie in der Anordnung des folgenden Jahres, den Franziskanern und Dominikanern Lehrstühle einzuräumen. Deutlich wird ebenso, daß sich der im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts angelaufene Prozeß sehr rasch beschleunigt hat: Seit 1208, spätestens seit 1212, gibt es in Paris eine Universität. Das Wort ist juristischer Terminus technicus für Genossenschaft, Zunft, Bruderschaft. Deshalb muß es im Einzelfall erläutert werden: universitas magistrorum et scholarium. Durch die zahlreichen Universitätsurkunden wird die Bezeichnung aber alsbald monopolisiert und allmählich ohne Zusatz verständlich. Gleichzeitig weist der Begriff darauf hin, daß die Universität ein Personenverband ist, kein »Institut« mit Gebäuden. Das wird auch ikonographisch deutlich, denn wenn »Universität« dargestellt wird, dann als Bild des Magisters im Kreise seiner Hörer. Das Siegel mit der Umschrift »S(igillum) V N I V E R S I T A T I S M A G I S T R O R ( u m ) (et) S C O L A R I V ( m ) PARISIVS« zeigt in einem Architekturbogen Maria mit Jesus, dem Heiligen Nikolaus und der Heiligen Katharina sowie zwei Doktoren und sechs Studenten mit Büchern. Erster räumlicher Mittelpunkt ist eine Kirche: In St-Julien-le-Pauvre auf dem linken Seineufer versammeln sich seit dem 13. Jahrhundert die amtierenden Magister aller Fakultäten zum Konvent, dem eigentlichen Leitungsgremium der Universität (für Kenner des Ortes: Die Kirche war bis 1651 um zwei Joch länger als der bestehende Bau). Erst seit dem 15. Jahrhundert beginnt die Universität Vorlesungsgebäude zu kaufen: Das Quartier Latin entsteht als Standort der Universität mit Kern in
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der Rue du Fouarre, der »Strohstraße« (vicus straminis), denn die Studenten sitzen auf Strohbündeln. Anders als in Bologna, Oxford oder Orleans ist in Paris kein mittelalterliches Universitätsgebäude erhalten. Die Universität ist wie jede andere Gilde oder Zunft zunächst eine Schutz- und Versorgungseinrichtung für ihre Mitglieder, sie pflegt die Kranken, begräbt gemeinsam ihre Toten und gedenkt der Verstorbenen. Sie ist juristische Person, d. h. sie kann vor Gericht auftreten, Urkunden empfangen und ausstellen. Sie befreit sich Schritt für Schritt von der Jurisdiktion des Kanzlers der Kathedrale, versucht die des Ortsbischofs zu mindern und setzt ihr dauerndes Recht auf Appellation an den Papst durch, verbunden mit der Drohung, bei Rechtsverweigerung durch örtliche Behörden in den Vorlesungsstreik zu treten. Es handelt sich hier keineswegs um bloßes Autonomiestreben, sondern, wie schon die Anerkennung des Klerikerstatus der Schulangehörigen durch Philipp II. gezeigt hatte, um den letztlich gelungenen Versuch, die Universität als ein corpus ecclesiasticum zu etablieren und ihre Stellung im kanonischen Recht entsprechend zu verankern. Dieser Korporation tritt man freiwillig bei, falls man von ihr akzeptiert wird, muß sich dann aber ihren Gesetzen unterwerfen. Zwar erstrebt die Universität als solche weitestgehende Freiheit, aber um diesem Ziel möglichst nahezukommen, unterwirft sie ihre Mitglieder intern scharfer Disziplin. Aus dieser Spannung zwischen Freiheit und Beschränkung lebt sie nicht nur, sondern sie hat mit ihr das Erfolgskriterium schlechthin gefunden: Rational gesteuerte Suche nach wissenschaftlicher Wahrheit um dieser Wahrheit selbst willen vollzieht sich als kollegial verfaßtes Studium, als beständiger Dialog in einer ziemlich heterogenen wissenschaftlichen Öffentlichkeit. Das nun ist fundamental neu, denn seit dem Zusammenbruch urbaner Zivilisation der Spätantike hat es Öffentlichkeit schlechthin nicht mehr gegeben, mit Ausnahme allenfalls der kirchlichen Synoden und Konzilien; jetzt konstituiert sie sich wieder in einigen Bischofsstädten, nördlich der Loire zum ersten Mal überhaupt, und muß östlich des Rheins noch fast anderthalb Jahrhunderte erwartet werden. Diese Universität steht über den individuellen Interessen ihrer Mitglieder, monopolisiert und professionalisiert Studium und Lehre; sie schränkt die Freiheit der Wissenschaft ein, wenn die Fakultäten sich auf bestimmte Lehrmeinungen einigen und wissenschaftliche Arbeit von Beschlußlagen abhängig wird. Das hat im Prinzip schon angefangen, als die sog. »scholastische Methode« sich monopolistisch etablierte und die älteren, primär bibelexegetisch bestimmten Formen wissenschaftlicher Arbeit aggressiv zu verdrängen begann. Weil die Universität als einzige Institution den allmählich steigenden Bedarf auch der Laiengesellschaft an wissenschaftlich gebildeten Kadern deckt, wird sie rasch als wichtiger Bestandteil eben dieser Gesellschaft angesehen. Nichts darf ihr ferner liegen als esoterische Sonderwege.
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Aus früherer Schulpraxis (die in Paris schon während des 12. Jahrhunderts höchstes Niveau erreicht hatte) kommen die Verfahren des Unterrichts und der Forschung: Vorlesung und Disputation. In der Vorlesung wird sichere Kenntnis der Autoritäten des jeweiligen Fachs kommentierend vermittelt, während die Disputation angefallene Probleme zunächst als quaestiones präzis formuliert, sie dann mit den Regeln der aristotelischen Logik nachprüfbar löst und dadurch den Weg freimacht, erprobte Lösungen in das fachspezifische Lehrgebäude einzufügen. Hieraus und aus dem Latein als Wissenschaftssprache ergibt sich der hohe Rang zweier artes, nämlich der Grammatik und der Dialektik: Wer die Sprache nicht bis in ihre Feinheiten beherrscht, kann die Probleme nicht erkennen, ohne Wissenschaft der Logik kann er sie nicht lösen. Weil nicht nur der Unterricht, sondern vermittels der Disputation auch der größte Teil der Forschung ein mündlicher Kommunikationsprozeß ist, muß das Wissen präsent sein, d.h. ständig repetiert und auswendig verfügbar gehalten werden. Für die Pariser theologische Fakultät ergeben sich daraus im Laufe der Zeit Studienzeiten zwischen 15 und 16 Jahren. Pariser Doktor- und Magistergrade gelten seit 1292 grundsätzlich in der ganzen lateinischen Christenheit; solche Graduierung ist Sache der Lehrenden. Der Papst behält sich allerdings das Recht vor, doctores bullati (d.h. durch Bulle) zu ernennen, denn er beansprucht höchste Zuständigkeit für die Universität (1.) zur Stärkung rationaler Kohärenz der christlichen Lehre (ausgearbeitet in der Öffentlichkeit der Lehrenden und zur Abwehr von Häresien); (2.) für den Ausbau päpstlicher Autorität in einer universal gedachten Christenheit (gegen das seinerseits universal konzipierte Kaisertum ebenso wie gegen regionale und deshalb segmentierend wirkende weltliche Mächte); (3.) im Sinne der Ausbildung von Personal für eben diese Ziele. Deshalb hat Gregor IX. 1231 bestätigt, daß der Kanzler von Notre-Dame keine Lehrbefähigung in Theologie oder Kanonischem Recht gegen die Stimmen der Lehrenden erteilen darf, die Magister wiederum lassen die Lizenz des Kanzlers erst dadurch wirksam werden, daß die universitätsinterne inceptio stattgefunden hat, eine mit Vereidigung auf die Universitätsstatuten verbundene Bevollmächtigung des Lizentiaten, seine Lehrtätigkeit zu beginnen. Das wiederum setzt voraus, daß alle Lehrenden den Kandidaten beurteilen und entspechend votieren können: Mit der Vorstellung seines Schülers bei den Kollegen setzt der Lehrer auch sich selbst einer Kontrolle aus. Die Prüfungen sind demzufolge öffentlich: Eine akzeptabel gehaltene Vorlesung führt zum Bakkalaureat, die erfolgreiche Disputation zum Lizentiat und öffnet damit den Weg zum zeremoniell verliehenen Doktorgrad als Voraussetzung eigener Lehrtätigkeit. Auf der Basis allgemeiner Gleichberechtigung kann solche Verfassung nicht funktionieren, deshalb sind nur die Magister Vollmitglieder der Universität. Das klingt hierarchischer als es faktisch ist, denn die Studenten der
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Theologie, des Rechts, der Medizin sind schon Magister, nämlich der artes; als junge und dynamisch-ehrgeizige Leute bestimmen sie mit ihrer Mehrheit das Geschehen und wählen den Rektor. Bloße »Angehörige« der Universität, unter deren Rechtsschutz stehend, aber ausgeschlossen von den Beratungen, sind die Studenten der artes (sehr junge Leute) und alle »sonstigen Dienstkräfte« (Diener, Pedelle, Schreiber). Studenten sind peregrini, Fremde, die als solche besonderen Schutz haben müssen. Die große Masse bilden die Anfänger der Artistenfakultät; ein solcher scholaris simplex ist 14-16 Jahre alt, erstmals immatrikuliert, ausgestattet mit einer fragwürdigen Lateinschulbildung. Er bleibt durchschnittlich etwas über 1 1 / 2 Jahre und erwirbt keinen Abschluß, denn nur wenige dieses Typs erreichen nach 2-2 1/2 Jahren den Grad des Baccalaureus artium. Sie sind dann 16—19jährig und machen zwischen 1350 und 1500 wohl 2 0 ^ 0 % der Universitätsbesucher aus. Nach 2-3 weiteren Jahren können sie den Magistergrad der Artistenfakultät erreichen, die Voraussetzung zum Studium in einer der höheren Fakultäten. Auf diese Ebene kommen maximal 10% aller Studenten; ein so Graduierter unterrichtet nun auf Honorarbasis in der Artistenfakultät jene, die sich ihn zum Magister gewählt haben; er bildet aus ihnen seine scbola oder familia und finanziert aus ihren Abgaben (collectae) sein eigenes Studium, dessen Ziel das Baccalaureat einer höheren Fakultät ist. Er kann aber schon vorher Dekan der Artistenfakultät werden oder auch Rektor der Gesamtuniversität. Weil der Magister für das gesamte Studium seiner Schüler verantwortlich ist, soll er in jeder Hinsicht Vorbild sein; bei der Lizentiatenprüfung erkundigt man sich auch nach Lebensführung und Charaktereigenschaften. Theologen sollen ihren Einfluß auf die Gläubigen bedenken, Juristen ihre Wirkung auf das allgemeine Rechtsbewußtsein, auf das gesellschaftliche und politische Leben, Mediziner ihre Verantwortung gegenüber den Kranken und als Kontrolleure des öffentlichen Gesundheitswesens. Allgemeine professorale Tugenden sind Ablehnung materiellen Gewinnstrebens, Wohlwollen gegenüber Schülern und Kollegen, würdiges Auftreten als Repräsentanten der Wissenschaft und nicht zuletzt gewissenhafte Arbeitsintensität. Mit leichter Ironie wird der Bologneser Jurist Azzo dei Porci als Muster zitiert, denn er sei zeitlebens nur in der vorlesungsfreien Zeit krank gewesen und auch in seinen Ferien gestorben. Der Student ist mehrere Jahre stummer Hörer der Vorlesungen und Disputationen, ohne Leistungskontrolle recht unsicher die Zulassung zum Bakkalaureat durch seinen Lehrer erwartend. Hat er diese H ü r d e genommen, so darf er aktiv an Disputationen teilnehmen und propädeutische Lehrverantaltungen abhalten. Lange Studiendauer und große Bedeutung des mündlichen Unterrichts führen zu enger gegenseitige Bindung von Lehrer und Schüler; sich auf einen berühmten Lehrer als dominus meus be-
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rufen zu dürfen, ist besonders dann eine Empfehlung, wenn dieser Lehrer inzwischen ein hohes Amt außerhalb der Universität erlangt hat. Studenten kommen, wie es der Ortstradition seit dem 12. Jahrhundert entspricht, aus allen Ländern der lateinischen Christenheit nach Paris, aber für das 13. Jahrhundert sind absolute Zahlen nicht zu ermitteln, weil die Studienorte universitär Gebildeter weitgehend unbekannt sind. Paris bleibt aber bis ans Ende des 15. Jahrhunderts die größte europäische Universität mit einem Höhepunkt im 14. und frühen 15. Jahrhundert; das leider nicht vollständige Personalverzeichnis von 1464 nennt 2.500 Angehörige der Universität. Sie ist damals aber schon nicht mehr sehr international, denn zwischen 1333 und 1494 gibt es in der Artistenfakultät nur ca. 3.300 Graduierungen aus den Reihen der anglogermanischen Nation, d.h. kaum über 20 pro Jahr. Grund dafür ist die wachsende Regionalisierung durch neu gegründete Universitäten; am Ende des 15. Jahrhunderts gehen 75% aller Studenten an eine Universität ihrer näheren Heimat. Den Skandinaviern ersetzt seit 1347 ein Studium in Prag den Aufenthalt in Paris, später Leipzig, seit 1419 Rostock und ab 1456 Greifswald. Magister und Studenten der Artistenfakultät sind in Paris seit 1222 in vier Nationen organisiert, die freilich nichts mit dem modernen Verständnis des Begriffs zu tun haben, denn in der französischen Nation sammeln sich die Studenten aus der Ile-de-France, aus Südfrankreich, Italien, Spanien, Portugal, Griechenland und Kleinasien; die normannische Nation ist dagegen nur auf die Diözese Rouen bezogen, zur pikardischen gehören die Studenten aus Nordostfrankreich und aus den Niederlanden bis zur Maas, zur anglogermanischen Nation jene aus England, Schottland, Deutschland, Ungarn, den slawischen und skandinavischen Ländern. Jede Nation hat ein eigenes Siegel, Matrikelbuch und Vermögen, aber im modernen Sinne nationale Charakteristika gibt es angesichts der disparaten Zusammensetzung nicht; Konflikte entstehen eher innerhalb als zwischen diesen Gruppierungen, und das Große Schisma mindert seit 1378 ihre Bedeutung, weil es die Universitätsnationen ebenso spaltet wie die lateinische Christenheit. 1470 müssen 400 Untertanen des Herzogs von Burgund die Universität Paris verlassen ohne Nachfrage, ob sie zur anglogermanischen oder zur pikardischen Nation gehören. Regional oder auch national bestimmt sind dagegen die Bruderschaften der Studenten, doch haben sie kaum Quellen hinterlassen. 1331 wird in Paris die Bruderschaft Notre-Dame d'Ypres zugelassen, in der sich überwiegend Artisten aus Ypem zusammenfinden; sie hat ihr Gegenstück in Ypern selbst und verbindet dort ehemalige Studenten, Kleriker und Laien, Männer und Frauen zu den üblichen Bruderschaftszwecken und ausdrücklich auch zur Förderung von Studenten. Das gleiche Organisationsschema zeigt am Ende des 13. Jahrhunderts die confraerie des clers et escoliers de l'universite de Paris que on dist de Notre-Dame de Douay.
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Wer so unterstützt wird, braucht nicht um einen gestifteten Freiplatz im Hospiz zu kämpfen, wie die Insassen des Kollegs der Bons-Enfants als Straßensänger seinen Lebensunterhalt zu verdienen, sich um eines der seit dem 13. Jahrhundert von Klerikern, Bürgern, Witwen oder Profesoren eingerichteten Stipendien (bursae volantes, d. h. an keine Institution gebunden) zu bewerben oder Geld aufzunehmen: Ausgewählte Pariser Bürger werden von der Universität vereidigt, damit sie als nuntii majores seriösen Studenten Kredit geben oder vermitteln. Weil in Paris nur die Artistenbakkalare und die Magisterstudenten der höheren Fakultäten als Studenten gelten, werden die simplices nicht in die Matrikel eingeschrieben und nur über die Bindung an ihren Lehrer Mitglieder der Universität. Von ihren älteren Kommilitonen werden sie als bejauni/beani (frz. bec jaune = »Gelbschnabel«) in einer rauhen Prozedur aufgenommen, die mit einem Trinkgelage endet, das die Initiierten bezahlen. 1289 beschließt die Artistenfakultät, ihre Studenten zentral zu registrieren, um boni ac legitimi autficti scolares discernere. Das ist gewiß nicht sinnlos, denn Jakob von Vi try ( f 1240) kritisiert Paris als ein internationales Parlament der Sünde, Treffpunkt lasterhafter Seelen aus aller Welt. Studiert würde nur im Winter, unstet die Lehrer wechselnd, nichts zu Ende führend und gerade so viel leistend, wie zur Erhaltung des Scholarenstatus eben nötig. Vorlesungen höre man, wenn sie zu Zeiten stattfänden, wo man bequem ausgeschlafen habe, und schwere Codices würden herumgeschleppt, um sich den Anstrich beschäftigter Gelehrsamkeit zu geben. Älteste Pariser Fakultät, die seit 1240 auch den Rektor stellt, ist die der Artisten; 1260 konstituieren sich die höheren Fakultäten. Als Zusammenfassung der Magister und Scholaren einer Disziplin sind Fakultäten die wichtigsten Untereinheiten der Universität mit eigenen Statuten, eigenem Rat, eigenem Dekan. Die Pariser Artistenfakultät ist stark philosophisch ausgerichtet mit Vorrang der Logik im Trivium, Ethik und Metaphysik als Ergänzung des Quadriviums. Das hängt mit der Aristotelesrezeption zusammen, die nicht nur eine plausible Naturphilosophie bekannt macht, sondern auch eine kohärente wissenschaftliche Terminologie, mit deren Hilfe Wissenschaft als systematisierte Einheit von Erkenntnissen definiert werden kann. Bei der Bewertung dieses epochebildenden Vorgangs müssen allerdings kirchliche Kommentare und Verfügungen als normative Texte quellenkritisch von jenen Zeugnissen unterschieden werden, die über den effektiven Lehr- und Studienbetrieb berichten. Ginge es nach den normativen Texten, hätte ernsthafte Rezeption in Paris gar nicht stattfinden dürfen: 1210 verbietet das Konzil von Sens alle Vorlesungen zur Naturphilosophie des Aristoteles, 1215 wird das in die Statuten der Artistenfakultät geschrieben und 1228/31 durch Papst Gregor I X . bekräftigt. Es gibt aber einen Pariser Studienführer aus den 30er Jahren des 13. Jahrhunderts mit Prüfungsfragen und Lektürehinweisen zur Logik als dem wichtigsten
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Fach, ferner zu nicht geprüften, wohl aber gelehrten Fächern: Metaphysik und Naturphilosophie auf der Basis von Aristoteles' Metaphysik, Physik und anderer naturphilosophischer Texte sowie den Büchern I—III der Ethik. Das wirkt auch auf die höheren Fakultäten, denn Theologenmagister wie Wilhelm von Auxerre ( f 1231) oder Wilhelm von Auvergne ( t 1249) zitieren in ihren Schriften mehrere naturphilosophische Aristotelestexte. Magister der Theologie sind aber auch an den Verurteilungen beteiligt: Peter von Corbeil ( f 1222) in Sens, Stephan Tempier (jetzt in seiner Eigenschaft als Ortsbischof) 1270 und 1277. Die Verbote von 1270/77 reagieren auf die 1255 von den Artistenmagistern beschlossene Studienordnung, die alle naturphilosophischen Werke und die Metaphysik des Aristoteles im Lektürekanon hat. Wie ambivalent die Haltung gegenüber einer hochkomplexen Studien- und Lehrpraxis insgesamt ist, zeigt die Einladung der Universität Toulouse, in Paris verbotene Bücher dort zu studieren ebenso wie die rasche Begnadigung der nach dem Verbot von 1231 verurteilten Pariser Magister und Studenten. Auf 1247 erhobene Vorwürfe des päpstlichen Legaten Odo von Chäteaurouge, daß Theologen wie Philosophen und Philosophen wie Theologen argumentierten, antwortet Albertus Magnus von einem der Pariser Dominikanerlehrstühle aus mit einer subtilen Differenzierung zwischen Philosophie und Theologie. Albertus erkennt Aristoteles als Autorität für Naturphilosophie an und sieht seine eigene Aufgabe darin, die entsprechenden Texte durch lateinische Paraphrasen zu erschließen. Wenig später wird Thomas von Aquin ( f 1274) mit der augustinischen Tradition brechen, indem er die Theologie nicht mehr als sapientia, sondern als scientia definiert. Das gesamte Studium der Artes gewinnt in Paris ebenso wie in Oxford und Cambridge auch deshalb ein spezifisches Profil, weil bis 1360 nur an diesen Universitäten theologische Fakultäten zugelassen sind, neben denen sich die Artisten mit ihrem Studium der heidnisch-antiken Autoren argumentativ behaupten müssen. Der bedeutendste Kommentator der Werke des Aristoteles, Averroös (Ibn Rushd, 1 1 1 9 8 ) , wird schon in den 60er und 70er Jahren des 13. Jahrhunderts in der Pariser Artistenfakultät intensiv studiert, die im übrigen wegen ihrer Naturphilosophie für Mediziner interessant ist, die mit dem Einfluß der Gestirne auf Gesundheit und Krankheit rechnen. Mit diesem Rückhalt kann das gespannte Verhältnis zu den Theologen leichter ertragen werden, zumal da alle Autoren der wichtigeren medizinischen Arbeiten auch gute Logiker, Astrologen und Naturphilosophen sind. Auch auf die Kanonisten wirken die Artisten, vor allem hinsichtlich der rhetorisch sicheren Formulierung. Im übrigen aber bleibt die Rhetorik Hilfswissenschaft der Grammatik und der Dialektik; in Paris unterrichtet man nur das 4. und 5. Buch der »Topik« des Boethius, und zwar seit den Statuten von 1215 an allgemeinen Feiertagen, die nicht durch ordentliche Vorlesungen belegt sind. Diese Randexistenz verdankt
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die Rhetorik der Tatsache, daß ihr seit Jahrhunderten jene Öffentlichkeit fehlt, die sie in der römischen Antike zur Blüte gebracht hat. Vom 12. Jahrhundert an durch Predigt und Korrespondenz als ars dictaminis aufgewertet, ist die Rhetorik seit der Mitte des 13. Jahrhunderts als produktive Wissenschaft wieder am Ende und nicht viel mehr als eine nützliche Technik, ehe der italienische H u m a n i s m u s im 15. Jahrhundert die Wende einleitet. Ü b e r das Pariser Studium des Quadriviums ist wenig bekannt; der einzige Hinweis auf Mathematik und Astronomie vor 1350 findet sich in den Vorschriften zur Eidesleistung der anglogermanischen Nation. Bald darauf aber m u ß sich das geändert haben, denn eine Krakauer astronomische Handschrift nennt die Entfernungen von Paris nach Wien, T h o r n und Marienburg, so daß Pariser Beobachtungen auf die genannten O r t e umgerechnet werden können, eine Mühe, die sich offensichtlich lohnt. Eng verwandt mit Mathematik u n d Astronomie ist die Musik, und hierfür bietet kaum eine andere europäische Universitätsstadt so gute Möglichkeiten wie Paris, weil die Lehrer enge Verbindung mit der Kathedrale u n d den Stiften StVictor und Ste-Genevieve halten. Müssen Schüler anderswo gewissermaßen als Trockenübung den Boethius lernen, so können sie in Paris hochelaborierte Musik auch hören. Trotz beachtlicher Einzelleistung der Fächer wirkt das Studium der Artes im Spätmittelalter neben den höheren Fakultäten oder einer reinen Juristenuniversität insofern diffus u n d zwiespältig, als bedeutende philosophische Leistungen im Rahmen eines gehobenen Anfängerinstituts erbracht werden müssen und die außeruniversitären Berufschancen von A r tistenmagistern sich im allgemeinen auf Schulmeisterei u n d niedere Ränge des städtischen Klerus beschränken. Das sieht in den höheren Fakultäten schon deshalb anders aus, weil deren Professoren eine durch Vorbildung u n d Lebensalter gereifte Schülerschaft gegenübersteht und die aus einem Studium ableitbare Karrierechance erheblich größer ist. Die Rechtswissenschaft ist durch das Verbot des Zivilrechtsstudiums zwar eingeschränkt, aber die Pariser Lehrer des kanonischen Rechts haben ein fast ebenso kanonisch zu nennendes Ansehen. Die Begründung des Papstes f ü r seine Dekretale gegen das Zivilrecht wird sich im übrigen sehr bald als unzutreffend erweisen: H a t H o n o r i u s III. argumentiert, daß im französischen Zivilprozeß kein Kaiserrecht angewandt werde und auch die Kirche römisches Recht praktisch nicht brauche, so sind f ü r die Jahre zwischen 1280 und 1320 in Südfrankreich 189 Legisten im Königsdienst bekannt, davon 54 mit dem D o k t o r g r a d . N i m m t man K o m m u n e n und Fürsten als Dienstherren hinzu, so ergibt sich ein hoher Bedarf mit stetig steigender Tendenz: Seit 1350 sind praktisch alle Mitglieder des Pariser Parlements, des höchsten Gerichtshofes der Monarchie, graduierte Juristen entweder des kanonischen oder des römischen Rechts.
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Ist die Kompetenz der Universität insoweit eingeschränkt, so können sich mit ihrer Medizinischen Fakultät seit dem Niedergang der Schule von Salerno im frühen 13. Jahrhundert nur Bologna und Montpellier vergleichen; bis ans Ende des Mittelalters bleibt Paris in dieser Spitzengruppe, die im 15. Jahrhundert durch Padua erweitert wird. Von den am Anfang des 14. Jahrhunderts in Frankreich registrierten 301 Ärzten haben denn auch die meisten, nämlich 58%, in Paris studiert, 35% in Montpellier, nur 3% an anderen französischen Universitäten und 4% im Ausland; diese Relation ändert sich bis zum Ende des 15. Jahrhunderts kaum. Die Medizinische Fakultät hat großen Einfluß auf das öffentliche Gesundheitswesen; sie entscheidet nach einer Prüfung über die Zulassung der Ärzte, die in der Hauptstadt praktizieren wollen, und erlaubt Chirurgen die Universitätslehre selbst dann nicht, wenn sie akademisch gebildet und in hervorragender Stellung tätig sind. Der in Montpellier graduierte Henri de Mondeville, Leibarzt Philipps des Schönen, erinnert deshalb an die unbestreitbare Tatsache, daß Gott zwar mehrfach als Chirurg wirkte, so bei der Erschaffung Evas aus Adams Rippe oder bei Jesu Blindenheilung durch Bedecken der kranken Augen mit Lehm, daß er aber niemals den Puls gefühlt oder Urin begutachtet hat. Anders als die Juristische oder die Medizinische Fakultät kann die Theologische beim Entstehen der Universität sogleich höchstes Niveau erreichen, weil seit Mitte des 12. Jahrhunderts prominente Magister der Theologie in Paris wirken und in enger Verbindung zur kirchlichen Hierarchie stehen. Petrus Cantor (f 1197) wird Bischof von Tournai, Petrus von Poitiers ( t 1205) Kanzler von Notre-Dame/Paris, Stephan Langton ( | 1228) Kardinal und Erzbischof von Canterbury. Papst Innozenz III. hat in Paris studiert, sein Kardinallegat Robert de Courgon ebenfalls, so daß Schüler von Magistern der ersten Generation die frühen Universitätsstatuten erlassen. Zwischen dem Verbot der Zivilrechtsstudien und dem Ausbau der Theologischen Fakultät gibt es im übrigen einen organisatorischen Zusammenhang, denn Honorius III. hebt 1218 die von Innozenz III. auf acht festgesetzte Zahl der theologischen Lehrstühle (scholae) an; 1230 hat Paris 12 theologische scholae, ist führendes Zentrum universitärer Theologenausbildung und Basis eindrucksvoller Karrieren: 50% der von Papst Gregor IX. zwischen 1227 und 1241 kreierten Kardinäle sind ehemalige Pariser Studenten oder Professoren. Seit den 80er Jahren des 13. Jahrhunderts bekommt Paris die Konkurrenz Oxfords zu spüren. Oxfords prominenteste Lehrer sind Franziskaner (Johannes Peckham, f 1292 als Erzbischof von Canterbury; Duns Scotus, t 1303), die heftige Vorwürfe gegen die Pariser Thomisten erheben: Die Dominikaner würden die Lehren der Kirchenväter ablehnen und sich fast nur noch auf Philosophen berufen, so daß die Studieninhalte beider O r d e n vollkommen entgegengesetzt seien. Natürlich sind die Dominikaner nicht
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sämtlich Aristoteliker, aber sie bleiben auf die Werke des Thomas von Aquin festgelegt und sind damit weniger flexibel, so daß Oxford seit der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts wichtiger wird als Paris und durch Schüler des Duns Scotus dort starke Wirkung hat. Die wissenschaftlichen Kontakte zwischen beiden Universitäten enden allerdings mit dem Ausbruch des Hundertjährigen Krieges und laufen nur mehr indirekt über Italien (vor allem Bologna) und Deutschland (Köln und Erfurt). Erst um die Mitte des 15. Jahrhunderts konsolidiert sich die Pariser Theologische Fakultät, überwindet ihre Richtungskämpfe und gewinnt die alte Bedeutung zurück. Im Fächerkanon der Universität fehlen alle technischen und (mit Ausnahme der Medizin) auch alle anwendungsorientierten naturwissenschaftlichen Disziplinen: Mit gesellschaftlichem Nutzen allein ist die wissenschaftliche Ausrichtung demnach nicht erklärbar, eher schon durch die Mißachtung der artes mechanicae, die trotz einer wissenschaftstheoretischen Wende im 12. Jahrhundert auch später noch von ersten Autoritäten auf mindere Ränge verwiesen werden. Gleichwohl ist darauf hinzuweisen, daß es mit der Wissenschaftssystematik nicht weit her ist, geraten doch seit dem 13. Jahrhundert die artes liberales ihrerseits gegenüber der aristotelischen Philosophie ins Hintertreffen, und die beiden Rechte sind als Disziplinen überhaupt nicht vorgesehen, erreichten aber Fakultätsrang. Ausschlaggebend ist offensichtlich die Theoriefähigkeit einer Wissenschaft, denn das verbürgt Freiheit: Die Jurisprudenz kann sich allzu enger Bindung an tägliche Gerichts- und Verwaltungspraxis entziehen, die Architektur hingegen kommt aus der patrimonial organisierten Bauhütte nicht heraus. Mithin gilt: J e potentieller der unmittelbare Berufsbezug, desto offener der Weg zur Fakultät. Auf dieser Freiheit vom Anwendungszwang beruht der intellektuelle Rang der Universität. Ihr Aufschwung schafft bald quantitative Probleme für Ausbildung und Versorgung, dem die Einrichtung von Kollegien abhelfen soll. Sie haben mit Hospizen nach Art des 1180 als Abteilung des Hospitals von NotreDame für 18 arme Schüler gegründeten College des Dix-huit kaum etwas zu tun, denn ihr Sinn ist nicht in erster Linie karitativ. Den Anfang machen die Bettelorden, die ihre eigenen Studenten geschlossen unterbringen, es folgen die Zisterzienser (College St-Bernard, 1248). Am bekanntesten und für das Pariser Kollegienwesen richtungweisend ist aber die Stiftung des Robert de Sorbon, eines Kaplans König Ludwigs IX., im Jahre 1257, mit der solche Theologiestudenten gefördert werden sollen, die keinem Orden angehören. Vivere socialiter et collegialiter et moraliter et scholariter lautet der Auftrag des Stifters an zunächst 16, später 30 Studenten und 6 Artistenmagister, die zugleich Doktoranden der Theologie sind. Der König schenkt ein Grundstück auf dem linken Seineufer in der Nähe der römischen Thermen, die Leitung hat ein Kuratorium aus kirchlichen und uni-
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versitären Amtsträgern, das den provisor für die Verwaltung bestellt. Die Kollegiaten wählen sich aus ihrem Kreis für jeweils ein Jahr den prior. Diesem Vorbild folgen bald andere; vor 1320 hat Paris 19 Kollegien, meist klein und für Studenten der Artistenfakultät, unter strikter Aufsicht der Universität. Der Zugang regelt sich über Patronage des Stifters und seiner Familie, der Stiftungsverwalter und auch der Kollegiaten, die mitunter kooptieren dürfen, oft landsmannschaftlich und bei Beachtung gewisser Studienleistungen. Im 15. Jahrhundert gibt es weitere 12 Gründungen, und alle diese Kollegien dienen der Elitebildung mit guten Arbeitsbedingungen, eigenen Bibliotheken, harter Disziplin und anspruchsvollem Studienangebot durch hauseigene Lehrer. Das 1304 durch Johanna von Navarra, die Gemahlin König Philipps IV., gegründete College de Navarre ist mit 70 Studenten in drei Klassen für Grammatik, übrige Artes und Theologie seit dem Ende des 14. Jahrhunderts als wissenschaftliches Zentrum fast bedeutender als die Universität; sein bekanntester Zögling ist der Theologe Jean Gerson (1363-1429), 1396 Kanzler der Universität und ihr mächtigster Vertreter auf dem Konstanzer Konzil. Als die Bourguignons 1418 Paris erobern, werden viele Kollegienhäuser zerstört, aber die Vitalität des Systems zeigt sich daran, daß 1445 über die Universität gesagt werden kann, daß sie in ihren Kollegien residiere, deren Zahl am Ende des 15. Jahrhunderts die 70 überschreitet. Sie sind durch das Angebot von Wohnung, Verpflegung und Bibliothek attraktiv für gute Lehrer und Studenten, soweit diese mindestens das Bakkalaureat der Artistenfakultät vorweisen können; 10-20% aller Pariser Studenten dürften damals Kollegiaten gewesen sein. Durch die Qualität ihrer Artes-Studien haben die Kollegien diesen Fächern zum Überleben verholfen und damit dem Humanismus seinen Ansatzpunkt in Frankreich geboten; Jean de Montreuil (1354-1418) und Nicolas de Clamanges (1365-1437) haben im College de Navarre die lateinischen Klassiker studiert, 1470 richtet Guillaume Fichet im College de la Sorbonne die erste Druckerei Frankreichs ein. Fichets Schüler ist Robert Gaguin (1433-1501), General des Trinitarierordens und einer der Lehrer des Erasmus von Rotterdam. Dies alles weist bereits über eine Universität hinaus, die seit dem Anfang des 14. Jahrhunderts von politischen Kämpfen zerrissen und schließlich gespalten wird. Tragen zunächst die Parteigänger Philipps des Schönen und Bonifaz' VIII. den Konflikt um die Autorität des Papsttums über die französische Kirche in die Universität hinein, so führt der Ausbruch des Großen Abendländischen Schismas 1378 in die Existenzkrise, denn die Universität muß sofort entscheiden, welchem der beiden Päpste sie ihre rotuli mit den Praebendenanträgen vorlegen soll. Da der König für Clemens VII. votiert, folgen ihm die französische und die normannische Nation gemeinsam mit den drei höheren Fakultäten, während die Mehrheit der anglogermanischen und der pikardischen Nation sich für Urban VI. ent-
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scheidet. Zahlreiche Magister der anglogermanischen Nation wandern 1383 nach Prag, Wien, Erfurt und Köln ab; Urban VI. gründet 1385 die Universität Heidelberg, die Pariser Graduierungen nicht anerkennt. Schon in der ersten Hafte des 13. Jahrhunderts waren fast alle der einst so zahlreichen englischen Artistenmagister nach Oxford und Cambrige abgezogen, 1347 hatte die Gründung der Universität Prag das Monopol von Paris und Oxford auf theologische Fakultäten gebrochen, und das theologische Studium begann sich in der Folge zu dezentralisieren, nicht zuletzt durch die steigende Konkurrenz der Mendikantenstudien in Italien. Dennoch bleibt die Autorität der Pariser Universitätstheologie unbestritten; Bologna erkennt als Vorleistung für das weitere Studium neben den eigenen Sentenzenvorlesungen nur die von Paris, Oxford und Cambridge an. Auch der politische Einfluß der Universität ist gewichtig, zwingt aber in die wechselvollen und mitunter vernichtenden Abläufe des Hundertjährigen Krieges hinein. 1405 bindet Jean Gerson in seiner berühmten Ansprache Vivat rex die Universität ausdrücklich an die Bestrebungen zur R e form der Monarchie und begründet das mit Argumenten, die für das Selbstverständnis der Korporation bezeichnend sind: Die Universität repräsentiere mit ihren vier Fakultäten die Gesamtheit des menschlichen Wissens, ihre Mitglieder kämen aus allen Ländern und Schichten, seien demzufolge ein Mikrokosmos der menschlichen Gesellschaft und prädestiniert zur Bestimmung des Gemeinwohls. Das ist charakteristisch sowohl für die Auffassung vom A m t des Universitätslehrers und seiner Verpflichtung zum Dienst an der Gesellschaft als auch für die Grenzen universitärer Autonomie. Von Anfang an an stilisiert sich die Universität als selbständige, nur der Wissenschaft verpflichtete Korporation, aber sie bleibt abhängig von den regionalen Bedingungen, den Ansprüchen bedeutender Familien, die ihr Söhne zur Ausbildung anvertrauen und die Investition als Karriere zurückerwarten, so daß der Wert akademischer Grade diesen Erwartungen entsprechen muß. In der ersten Häfte des 15. Jahrhunderts wandelt sich die Beziehung der Universität zum Königtum, denn mit der Lehre von der Souveränität des Königs in seinem Reich (rex Franciae in regno suo princeps est) ist der päpstliche Anspruch auf Privilegierung der Universität unterhöhlt worden, durch Schisma und Krieg ist er hinfällig. Während der angloburgundischen Besetzung von Paris seit 1418 steht die Universität loyal zum englischen König, denn er ist auch König von Frankreich und einzige Autorität zur Sicherung der Statuten und Privilegien. Konsequent verfügt Karl V I I . 1446, daß die Rechtsfälle der Universität künftig vom Parlement entschieden werden und veranlaßt sechs Jahre später den Kardinallegaten Guillaume d'Estouteville (dessen Familie seit langem der Krone verbunden ist) zur Revision der Universitätsstatuten im Sinne der Monarchie: Die Universität wird vom Studium generale zur Staatsuniversität reformiert.
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FRANK
REXROTH
Oxford Vom »langen Mittelalter« der englischen Wissenschaft
I. Einleitung »Nach einigen Tagen Reise erreichten wir die letzte Station - und bald danach die Stelle, von der man ... den ersten Blick auf die Metropole der Gelehrsamkeit werfen konnte. Ich strengte meine Augen an, um von diesem Land der Verheißung, nach dem ich mich so sehr gesehnt hatte, einen Blick zu erhäschen. Schwach tauchten von ferne Turmspitzen und Kuppeln auf. Dann wurde die Ansicht behindert, um sich uns nach und nach wieder zu eröffnen. Und so sahen wir die hohen Bäume, die den Kollegien Schatten spenden. An einem schönen Herbstnachmittag um drei Uhr fuhren wir in die Straßen Oxfords ein. Obgleich es kalt war, hatten wir alle Fenster unserer Postkutsche herabgelassen, und ich saß vornübergebeugt und verschlang mit gierigen Augen alles, was ich da sah. Universitätsangehörige unterschiedlichen Alters und Ranges schwebten im akademischen Habit durch die stillen Straßen der ehrwürdigen Stadt. Zwei oder drei Tage verwendeten wir darauf, sorgfältig zu untersuchen, was in Oxford von Interesse war. Das Auge kam auf seine Kosten, denn die äußere Erscheinung der Universität übertraf sogar das glänzende Bild, das meine jugendliche Vorstellungskraft gemalt hatte. Die Außenseite war stets bewundernswert. Ganz anders war es mit dem inneren Gehalt. Daß Erwartungen groß sind, ist wesentlich für das Ausmaß einer Enttäuschung. Meine Vorannahmen waren durch nichts zu übertreffen, und so hätte nichts vollständiger sein können als ihr Zusammenbruch. Es wäre unmöglich, meine Empfindungen wiederzugeben, ohne daß ich barsch und respektlos vom ehrwürdigen Oxford spräche.« Der Autor dieser Zeilen gehört nicht zur großen Schar der Oxforder Zelebritäten. Er schrieb keine grundlegenden Werke, und einen Nobelpreis konnte man ihm noch nicht verleihen. Sein Name ist Thomas Jefferson Hogg, und sein Name dürfte heute allenfalls den Freunden der Poesie bekannt sein. Hogg hatte nämlich das Glück, im Oxford der Jahre 1810 und 1811 einen glutäugigen Jüngling namens Percy Bysshe Shelley (1792-1822)
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kennenzulernen, der vielen einmal als der größte Dichter der englischen Romantik gelten sollte. Als sein Biograph hat Hogg eine gewisse Bekanntheit erlangt, und gemeinsam mit seinem romantisch veranlagten Freund hatte er auch den ersten Eklat in dessen Leben durchgestanden. Shelley und Hogg hatten gleich im ersten Jahr ihres Studiums Bekanntschaft mit der aristotelischen Logik gemacht, wie sich dies im Oxford des frühen 19. Jahrhunderts immer noch so gehörte. Sie hatten sich aber nicht damit begnügt, die scholastische Logik an den Sätzen der Nikomachischen Ethik zu erlernen; in ihren Privatgemächern lasen sie auch John Lockes »Essay concerning Human Understanding« (1690) und die Schriften David Humes (1711-1776) und wandten das gerade Erlernte, also die scholastische Methode, auf diese Schriften an. So entstand ein Bändchen, das sie unter dem provozierenden Titel »The Necessity of Atheism« anonym und außerhalb der Stadt publizierten. Ihre Alma Mater dankte es ihnen nicht: Unerfreuliche Anhörungen und Zwangsexmatrikulation folgten noch vor dem Ablauf des ersten Studienjahres. Shelley und Hogg verließen gemeinsam die Universität. So außergewöhnlich dieser Vorgang erscheinen mag - typisch daran ist die kritische Distanz zur Universität Oxford, zu der sich Hogg in seiner Shelley-Biographie versteigt. Wer sich im 19. Jahrhundert derart kritisch zu Englands ältester Universität äußerte, der stellte sich in eine ansehnliche Tradition. Es ist bezeichnend für die Geschichte dieser Bildungsinstitution, daß bereits im 17. Jahrhundert ein nicht mehr abbrechender Chor von Stimmen einsetzte, die sich allesamt skeptisch oder gar schroff ablehnend über die dort praktizierte Lebensform äußerten - so etwa im 17. Jahrhundert Stephen Penton, der sich zugute hielt, Oxford zwar nicht gerade gelehrter, aber doch immerhin nicht schlechter verlassen zu haben, als er dereinst gekommen war, und der damit Bezug nahm auf das ältere Wort Oxoniam veniunt multi, redeunt quoque stulti; dann Alexander Pope, für den die Oxforder Gelehrten schlicht der »müßige Teil der Menschheit« waren; später Jeremy Bentham in einem Brief an Simon Bolivar: Oxford und Cambridge seien »zwei große öffentliche Ärgernisse, ... Lagerhäuser und Kinderzimmer der politischen Verderbtheit in ihrer übelsten Form«; wiederum zwölf Jahre später Thomas Atwood: »Oxford und Cambridge sind Englands Ruin. Es kostet jedermann zwanzig Jahre, all den Unsinn wieder zu verlernen, den er dort gelernt hat«. Und letztlich äußerte sich auch Max Beerbohm in aphoristischer Schärfe: »Ich war ein bescheidener, gutmütiger Junge. Oxford war es, was mich unerträglich gemacht hat.« Manche Kritiker benannten deutlicher als der Satiriker und Karikaturist Beerbohm, was genau sie am Oxforder Leben so kritikwürdig fanden. Edward Gibbon schmiedete die berühmteste Fundamentalkritik der Oxbridge-Universitäten. Diese seien eben in einem dunklen Zeitalter falscher und barbarischer Wissenschaft gegründet worden, und damit seien sie auch
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im ausgehenden 18. Jahrhundert noch befleckt. Immer noch befänden sie sich in Klerikerhand - und damit in der Hand von Leuten, deren Augen vom Licht der Philosophie geblendet würden. Privilegien der Päpste und Könige hätten ihnen ein Bildungsmonopol verliehen, doch der Geist von Monopolisten sei eben niedrig, faul und bedrückend. Würde man dem großen Chor der kritischen Stimmen länger zuhören, dann könnte man ein Leitmotiv ausmachen, das sich durch diese Stellungnahmen zieht. Wieder und wieder taucht derselbe Duktus wie in Gibbons Text auf: Oxford sei ein Ensemble »mittelalterlicher«, »klerikaler«, ja »mönchischer« Institutionen, sei immer noch »scholastisch« orientiert und damit anachronistisch. Die »fellows« seiner »colleges« würden von Pfründnermentalität regiert und betrachteten ihre Stellen als Sinekuren - viele von ihnen dächten gar nicht daran, sich der akademischen Lehre zu widmen. Unweigerlich sieht man sich an ein Diktum aus Rankes Englischer Geschichte erinnert: Nirgends sei von den Institutionen des Mittelalters mehr beibehalten worden als in England. Diese Beobachtung mußte man lediglich aus der Selbstwahrnehmung der modernen Wissenschaft heraus ins Negative wenden, und schon erschienen zahlreiche Aspekte Oxforder Gelehrtenlebens wie Residuen eines Systems, das man längst hätte abschaffen müssen. George Trevelyan schrieb noch 1926, Oxford sei im 18. Jahrhundert nicht von akademischen Idealen erfüllt gewesen, sondern von einem »spirit of a relaxed monasticism«. In den nachfolgenden Ausführungen sollen diese kritischen Stimmen sozusagen beim Wort genommen werden, denn sie bieten einen ersten Anhaltspunkt, wie sich die Geschichte der ältesten englischen Universität aus der Selbstschau der Engländer heraus begreifen läßt. Gibbon und seine Mit-Kritiker ernstzunehmen, wird heißen, die Frage aufzuwerfen, was das Besondere an Oxford war - das heißt, welche Spezifik mit dem Verweis auf die bleibende »Mittelalterlichkeit« dieser Institutiton angesprochen war. Im folgenden Abschnitt (2.) soll es daher um die Geschichte Oxfords im Mittelalter gehen. Dabei wird zu zeigen sein, daß es damals neben den für vorreformatorische Generalstudien allgemeingültigen Aspekten schon etwas spezifisch Oxfordianisches gab - wobei freilich auf die Besonderheit dieser Bildungsanstalt im Vergleich mit den zeitgenössischen kontinentaleuropäischen Universitäten, nicht im Vergleich mit ihrer Nachbarin in Cambridge, abgezielt sein soll. Anschließend soll es um das »Erbe« dieser Spezifik in der Neuzeit gehen und damit um das, was eben als die »Mittelalterlichkeit« dieser Institution betrachtet wurde: um die Weiterentwicklung der Oxforder Stiftungslandschaft (3.) und um die spezifischen Formen der Vergemeinschaftung, die von dieser Stiftungslandschaft hervorgerufen wurden (4.).
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II. Oxford im Mittelalter Die monumentale, auf acht Bände angelegte »History of the University of Oxford«, die seit 1984 erscheint, beginnt ganz lapidar mit dem Satz: »The university of Oxford was not created; it emerged«. In der Tat gehört O x ford zusammen mit Paris und Bologna zur allerersten Riege europäischer Universitäten, sowohl was ihr Entstehungsdatum um das Jahr 1200 als auch was die Art ihrer Entstehung anbelangt. Auch hier schlossen sich Magister zu einer Schwureinung zusammen, gaben sich mit der Rechtsform der Willkür eine Ordnung, die sie zur Regulierung innerer Angelegenheiten und zugleich zur Wahrung ihrer Gruppeninteressen befähigen sollte. Eines förmlichen Gründungsaktes bedurfte es dazu nicht. Indem man so oft auf »Paris« und »Bologna« verweist, wenn es darum geht, die Anfänge der europäischen Universität zu beschreiben, verschweigt man diese dritte Universität der ersten Stunde. Dies tut man nur insofern mit einer gewissen Berechtigung, als die Verfassungen der Pariser und Bologneser Hochschulen die Muster abgaben, an denen man sich bei der Ausgestaltung der übrigen kontinentaleuropäischen Studienanstalten orientierte. Oxford entwickelte dagegen eine eigene, hochinteressante Verfassungsform, die man auf dem Kontinent nicht nachahmte, ja von der für lange Zeit sicher nur wenige wußten. Erst mit der Gründung weiterer Universitäten auf den britischen Inseln und dann auf dem amerikanischen Kontinent gelangte der »Modus Oxford« zu seinem Recht. Wieso aber gerade Oxford? Hätten die Kathedralschulen in York, Hereford und Lincoln nicht bessere Voraussetzungen für die Etablierung einer universitas magistrorum et scholarum geboten? Immerhin wurden die Artes, das Recht und die Theologie an ihnen gelehrt. Und auch die drei großen Schulen der Metropole London bei der dortigen Kathedrale sowie bei den Kirchen St. Martin-le-Grand und St. Mary-le-Bow standen in so gutem Ruf, daß man hier mehr hätte erwarten dürfen. Erinnert sei nur an den prägnanten Satz, mit dem Peter Classen zu erklären suchte, wieso sich gerade in Paris und nicht bei den übrigen französischen Kathedralstudien akademisches Treiben breitmachte: »Wer Weisheit und Wissenschaft nicht in der Einsamkeit eines Klosters, sondern in der Welt suchte, dem bot Paris mehr an Welt als Chartres, Laon oder Reims.« Fraglos wäre in England London die einschlägige Adresse gewesen, wenn es darum gegangen wäre, das Studium der scholastischen Wissenschaft mit der Urbanen Kultur des Hochmittelalters zu verbinden. Dennoch entstand die Universität der Metropole erst 1836, mit sechshundertjähriger Verspätung sozusagen. Den Duft der großen weiten Welt konnte man in Oxford wahrlich nicht atmen, dort duftete es bis zur Gründung der Morris-Motorenwerke 1912 nach nichts als nach Landwirtschaft. Und überdies befand sich im nicht weit entfernt gelegenen Northampton eine weitere Schule von erheb-
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lichem Ruf, die den Oxfordern 1238 sogar Scholaren abspenstig machen konnte. Die Frage, wieso eine der drei frühesten Universitäten Europas in einem unbedeutenden Städtchen mitten in England entstand, wird man also wohl nie befriedigend beantworten können. Immerhin mag man darauf verweisen, daß verschiedene Straßen hier zusammenführten, daß die Stadt Sitz eines Archidiakonats der Diözese Lincoln war, und vielleicht auch darauf, daß seit ca. 1100 der königliche Palast von Woodstock in greifbarer Nähe lag. Eine Schultradition gab es freilich, und diese war nicht unbedeutend. Schon vor 1100 hatte Theobald von Etampes hier gelehrt, Robert Pullen, einer der Pariser Lehrer des Johannes von Salisbury, weilte hier ebenso wie Galfried von Monmouth, der Autor der fabulösen »Geschichte der Könige Britanniens«. Möglich ist auch, daß gerade hier ein Lombarde namens Vacarius um 1149 die Beschäftigung mit dem römischen Recht inaugurierte. Als Gerald von Wales in den Jahren 1184/85 seine »Topographia Hibernica« beendet hatte, reiste er nach eigenem Bekunden gerade nach Oxford, da der englische Klerus dort besonders gelehrt sei. Fünf Jahre später nennt ein friesischer Student namens E m o Oxford in einem seiner Briefe ein Studium commune - und in der Tat beginnt um jene Zeit auch ein außergewöhnlicher Denker seine Lehrtätigkeit, der für die Institutionalisierung des Studienbetriebs besonders wichtig wurde, nämlich Robert Grosseteste ( t 1253). Der stärkste Indikator und zugleich Katalysator für die Verfestigung der Gelehrtengruppe bestand jedoch in einer ganz ungelehrten Begebenheit, und zwar in der Tötung einer Frau durch einen Scholaren im Jahre 1209. Da der Täter sofort floh, hielten sich Bürgermeister und Stadtgemeinde mit Rückendeckung König Johanns an dessen drei Mitbewohnern schadlos; sie richteten diese kurzerhand hin. Magister und Scholaren verließen daraufhin die Stadt, nur eine kleine Zahl von Lehrern scheint in der Stadt zurückgeblieben zu sein. Verbündete fand die Exodusgemeinde in Papst Innozenz III., der sich gerade in einem schweren Konflikt mit König Johann befand. Als der König 1214 in dieser Auseinandersetzung einlenkte, gelang es daher auch den Oxfordern, ihre Interessen durchzusetzen: Der päpstliche Legat diktierte ihnen eine Ordonnanz, die für den Fortbestand der Universität maßgeblich wurde und diese gegenüber der Stadt entscheidend bevorzugte: Die Täter von 1209 hatten sich nämlich einem rituellen Bittgang zu den Gräbern ihrer Opfer zu unterziehen, die Wohnungsmiete der Studenten und Professoren wurde für die Dauer von zehn Jahren halbiert, die Stadt mußte eine jährliche Rente in Höhe von 52 Schillingen für arme Studenten aussetzen und am Nikolaustag, dem Patrozinium der Scholaren, 100 Studenten mit Brot und Ale, Eintopf, Fleisch und Fisch verköstigen. Man legte den Höchstpreis für Lebensmittel, die an Universitätsangehörige verkauft werden sollten, fest, und überdies mußten jährlich an die 50 der
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>besseren< Oxforder Bürger die Einhaltung dieser Verpflichtungen öffentlich mit einem Eid bekräftigen. Und eine letzte Bestimmung machte den Triumph der Universität perfekt: Alle, die 1209 die Stadt verlassen hätten, durften zurückkehren und ungehindert ihre Studien wiederaufnehmen; die jedoch, die nicht weggegangen seien, die also zwischen 1209 und 1214 dageblieben seien (die >Streikbrecher< sozusagen), erhielten für drei Jahre Leseverbot. Die Ereignisse von 1209 bis 1214 fehlen deshalb in keiner Darstellung der englischen Universitätengeschichte, weil sie konstitutiv für die Entstehung der Universität Cambridge waren. Ein Teil der Oxforder Exodusgemeinde wanderte 1209 nämlich in das Städtchen an der C a m ab und fuhr dort mit der akademischen Lehre fort. Allerdings scheint es geraten, diese Begebenheit auch einmal in ihrer Aussagekraft für die Existenz und die Konsolidierung der Mutteruniversität zu würdigen. Man wird dann nicht nur auf den Sachverhalt der Abwanderung hinweisen, sondern mindestens genauso dringlich darauf, wie scheinbar mühelos sich die universitas nach der Beilegung des Konflikts wieder in Oxford einfand. Offenbar hatten die fünf Jahre im Exil nicht ausgereicht, das Gruppenbewußtsein der »Oxonians« zu zersetzen - eine Interpretation, die man leicht stützen kann durch unsere Kenntnis mittelalterlicher Schwureinungen. Zugehörigkeit zu einer Gruppe konnte relativ einfach konstituiert, doch nicht so ohne weiteres wieder gelöst werden. U n d gerade der Konflikt um die Hinrichtung der drei Scholaren mag das Gruppenbewußtsein erheblich gefestigt haben. So wissen wir auch aus dem quellenreicheren 14. Jahrhundert, daß der zweite gravierende Konflikt zwischen »town and gown«, der mit den pogromähnlichen Unruhen am Scholastikatag des Jahres 1355 ausbrach, das Wissen um den Gruppencharakter der Universität bis ins 20. Jahrhundert hinein prägte. Bis 1825 hielt die Universität an ihrer Forderung fest, daß die Vertreter der Stadt jährlich zu St. Scholastika die Marienkirche aufsuchen müßten, und noch zum Sechshundertjahrgedenken der Pogrome am 10. Februar 1955 traten sich Hochschule und Stadtgemeinde demonstrativ als Gruppen gegenüber - jetzt freilich, um friedliche Koexistenz zu beschwören: D e r Bürgermeister wurde zum Ehrendoktor der Universität, der Vizekanzler der Hochschule zum Ehrenbürger der Stadt gemacht. In der Ausgestaltung dieser unversitas lehnte man sich im 13. Jahrhundert zunächst so eng an die Pariser Universitätsverfassung an, daß der englische Gelehrte Hastings Rashdall noch Jahrhunderte später auf die Annahme verfallen konnte, Oxford sei durch einen Exodus englischer Scholaren aus der Pariser Hauptstadt entstanden. Traditionsbildend aber wirkte schließlich nicht die Übernahme der Pariser Verfassung, sondern deren Ausgestaltung nach eigenen Maßstäben, wie sie im letzten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts einsetzte. In jener hochinteressanten Phase der Emanzipation von Paris erfand man in Oxford auch seine eigene Tradition: Ein
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Gründungsmythos wurde geschaffen, dem zufolge die alma mater unmittelbar aus der antiken Bildungstradition Athens und Roms unter bewußter Ausschaltung des Zwischenschritts »Paris« hergeleitet wurde. Welche Besonderheiten standen hinter dieser Abgrenzung von der Pariser Vorbildanstalt? Was war so besonders an der Oxforder Gegenwart, daß man ihr eine unverwechselbare Vergangenheit hinzuerfand? Die erste auffallende Besonderheit dieses englischen Modus bestand in der Einbeziehung des Universitätskanzlers in die Universität selbst. Wurde Paris in seiner Frühzeit gerade durch Konflikte mit dem bischöflichen Kanzler bestimmt und wurde das Cancellariat an der Seine zu einer Uberwachungsinstanz über die Universität, so gelang es den Oxfordern, dieses Amt der Universität selbst einzuverleiben und damit vom Bischof von Lincoln abzurücken. In den ersten Jahren des 14. Jahrhunderts vermochten sie gegen äußere Widerstände ihren Anspruch auf Kanzlerwahl endgültig durchzusetzen und dem pontifex nur ein Approbationsrecht zu überlassen. Aus der Sicht eines Kontinentaleuropäers muß dieser Zustand außerordentlich befremdlich und verführerisch zugleich gewirkt haben: Die Universität ernannte ihren Kanzler, und dieser blieb dennoch zugleich bischöflicher Archidiakon. Die universitas wirkte so in die Führungsriege der ecclesia hinein, nicht umgekehrt. Dies blieb auch so, als man am Ende des Mittelalters anfing, einen auswärtigen Magnaten zum Kanzler zu ernennen, gewissermaßen eine Person des öffentlichen Lebens. Dieser sollte vor allem bei Hof als Freund und Patron der Universität wirken, nach wie vor also als Sprachrohr der Hochschule in der außerakademischen Umwelt und nicht umgekehrt. Und in der selben Phase, in der um das Jahr 1300 der Kanzler in die Universität hineingeholt wurde, erhöhte man die Integrationskraft der Hochschule im Vergleich zu der Pariser Vorbildanstalt noch dadurch, daß man nicht nur die magistri actu regentes, also die Elite der Lehrenden, sondern auch die frisch gekürten Magister in die convocatio als das größte Entscheidungsorgan hineinholte. Das Miteinander von »Congregation« (dem kleineren Zirkel der leitenden Professoren) und »Convocation« als der umfassenden Versammlung sämtlicher zu Magistern promovierten Personen blieb das Vermächtnis für die weitere Geschichte der Universität. Freilich erschöpften sich diese Besonderheiten der ältesten englischen Universität nicht im Verfassungsmäßigen. Auffällt zugleich die frühe Betonung der Naturwissenschaften in der Lehre, der positiven Haltung zur Empirie und zu den Sprachen. Hier wirkte die Lehrtätigkeit Robert Grossetestes nach, sein Interesse an der Mathematik und vor allem der Geometrie, seine Begeisterung für die griechische Sprache, die es ihm ermöglichte, die aristotelische Ethik zu lesen und zu übersetzen. Von ihm beeinflußt wurde wiederum Roger Bacon ( f um 1292), den Helene Wieruszowski als »den größten aller Oxforder Magister« bezeichnet hat. Ver-
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gleicht man aber die Bildungsgänge um 1300 diesseits und jenseits des Ärmelkanals, dann muß man auch ein Defizit benennen: Dadurch, daß man das englische common law nur durch ein Studium der Gerichtspraxis und ihrer Präzedenzien erlernen konnte, wurden für die Juristenausbildung die Londoner Inns of Court und nicht die juristischen Fakultäten Oxfords oder Cambridges maßgeblich. Daran änderte auch die Tatsache nichts, daß mit der Gründung des Allerseelenkollegs durch Erzbischof Henry Chichele im Jahr 1437/38 eine Institution entstand, die für die englische Kanonistik und Legistik besondere Bedeutung erlangen sollte. Nicht einmal königliche Initiativen zur Förderung der romanistischen Studien im 16. Jahrhunderts vermochten diesen Zustand zu ändern. Doch so signifikant diese Aspekte von Hochschulverfassung und Lehre auch waren - das, was als das eigentliche Charakteristikum der mittelalterlichen englischen Universität angesehen werden muß, war noch etwas anderes: nämlich der Bedeutungsaufschwung der universitären Kollegien, der »colleges«. Dabei hatte Oxford mit der Stiftung der ersten Kollegien ab der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts nur an einer Entwicklung Anteil, die ebenso das Gelehrtenleben von Paris bestimmte. Auch dort waren seit der Stiftung des College des dix-huit für 18 arme Scholaren Häuser entstanden, in denen eine konstante Zahl von Bewohnern zugleich die Möglichkeit wissenschaftlicher Betätigung und der liturgischen Praxis erhalten sollte. Gerade in den Jahren zwischen den Gründungen der beiden berühmtesten Pariser Kollegien, des Collegium Sorbonicum von etwa 1257 und des College de Navarre von 1304, entstanden auch in Oxford die ersten Häuser dieser Art, Merton College etwa oder Balliol College. Das letztere sei als Beispiel herausgegriffen. Balliol wurde errichtet in der Weise einer klassischen Bußstiftung, und zwar durch den normannischen Adligen Johann von Balliol und seine Frau, die Schottin Dervorguilla von Galloway. Die Statuten, die Dervorguilla diesem Haus 1282 gab, demonstrieren, wie fest die »colleges« in der Tradition mittelalterlicher Frömmigkeit verankert waren, wie wichtig die Motive der Stiftermemoria und der Caritas bei der Gründung dieser Häuser waren. Das Neue an dieser Form der Kollegiatkirche war, daß ihren Benefiziaten neben ihrer liturgischen Praxis Raum für fortgeschrittene Studien, das heißt im Mittelalter stets zugleich für die Lehrtätigkeit, gegeben werden sollte. Das blieb auch so, als im 14. Jahrhundert zunächst Exeter College, Oriel und Queen's hinzutraten. Mönchskongregationen wie die Benediktiner von Gloucester entdeckten das Institut des Kollegs für sich und schufen (in diesem Fall mit Gloucester College) Dependancen für die studierenden Angehörigen ihrer Orden, bedeutende Angehörige des Königshofes wie William von Wykeham (f 1404) wurden ebenfalls aktiv. Gerade dessen Doppelstiftung von Winchester College in Winchester und von New College in Oxford verdient besondere Aufmerksamkeit: Waren die Kollegien zuvor den Absolventen eines Ar-
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tistenstudiums vorbehalten, so plante Wykeham, daß man in seinen beiden Häusern einen ganzen Bildungsgang durchlaufen sollte. In Winchester wollte er 70 arme Anfänger-Scholaren für eine wissenschaftliche Elementarausbildung aufgenommen wissen, die dann anschließend nach Oxford ins N e w College entsandt werden sollten. Nicht nur architektonisch, sondern auch im Hinblick auf diese ganzheitliche Konzeption war Winchester College besonders einflußreich. Im späten Mittelalter, oder genauer: bis zur Herrschaft Königin Elisabeths I., wurde es zum Charakteristikum der englischen Kollegien, daß sie Studierwillige vom Anfänger bis zum angesehenen D o k t o r der Theologie zugleich beherbergten. Diese Entwicklung wurde dadurch noch verstärkt, daß die Kollegien über die Zahl der dotierten Stellen hinaus Anfängerstudenten gegen Gebühren zur Ausbildung aufnahmen. Von sämtlichen Oxforder Häusern blieben letztlich nur Merton College und All Souls reine Graduiertenanstalten. Den Blick für die Besonderheit des dadurch erreichten Zustandes kann man am leichtesten durch einen Vergleich mit den deutschen Universitäten und mit der Hochschule von Paris schärfen. Auch im römisch-deutschen Reich gab es seit der Stiftung des Prager Collegium Carolinum im Jahre 1366 Kollegien, doch freilich an keinem O r t so viele wie in Oxford, derer zur Zeit Königin Elisabeths schon 16 bestanden. Auch waren die deutschen Kollegien, deren Frühgeschichte gerade von Wolfgang Eric Wagner erforscht wurde, fast ausschließlich Häuser, die für die Professoren der Fakultäten reserviert waren. Als Unterkünfte für Scholaren blieben in Deutschland die undotierten Bursen bedeutender (man möchte sagen: die privaten Studentenwohnheime der Vormoderne). Die Bewohner der Bursen mußten für Kost und Logis in die eigene Tasche greifen, sie waren nicht bestiftet. Sie gab es in Oxford auch, und zwar in Gestalt der sogenannten »halls«: Im gesamten Spätmittelalter bestanden ihrer etwa 150. D o c h in der Konkurrenz mit den Kollegien verloren die Oxforder Bursen an Bedeutung, ja sie wurden oft sozusagen räumlich ausgeschlachtet, wenn es galt, ein neues Kollegium zu etablieren. Exeter College zum Beispiel >schluckte< nicht weniger als vierzehn solcher Bursen. U m die Reformationszeit wurden die Oxforder »halls« schon als anachronistisch angesehen, während die Neustiftung von Kollegien bis in die Gegenwart hinein anhalten sollte. D e r Vergleich mit Paris schärft den Blick auf die englischen Besonderheiten. Auch an der Seine entstanden während des Mittelalters etwa 70 Kollegien, und auch hier wurden einige davon sehr wichtig. D o c h konterkariert wurde ihr Bedeutungsaufschwung durch den hohen verfassungsmäßigen Stellenwert anderer universitärer Subsysteme, der Nationen und Fakultäten. Die beiden Oxforder nationes der »northerners« und »southerners« und zumal die vier Fakultäten hatten dem Aufschwung der Kollegien an der Themse wenig entgegenzusetzen. Auch entwickelten sich die Kollegien in England im Unterschied zu den französischen zu autokepha-
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len und autonomen Personenverbänden, in die die Gesamtuniversität kaum hineinregieren konnte. Dieser überragenden Bedeutung der Kollegien konnte auch der Mißkredit nichts anhaben, in den die Universität vorübergehend durch den angefeindeten Theologen Johannes Wyclif (f 1384) geriet. Im Gegenteil: Kollegneugründungen seit dem frühen 15. Jahrhundert und neue Statuten sollten gerade die Rechtgläubigkeit der alma mater Oxoniensis untermauern. Wichtig für die bleibende Bedeutung der Oxforder Kollegien war der Umstand, daß mehr und mehr akademische Lehre gerade in ihren Mauern praktiziert wurde, daß sie das Personal hierzu bereitstellten und daß die Fakultäten zur selben Zeit nicht viel zu sagen hatten. Hier wurde der Studienanfänger nicht nur seinem Magister untergeordnet, hier fand er auch einen Tutor, der sein Betragen und seine Studien kontrollierte. O h n e diese überragende Bedeutung der Kollegien hätte das Oxbridger »tutorial system« nicht entstehen können, das man später als den einheimischen Widerpart zum deutschen »professorial system« begreifen sollte. So hatte sich Oxford seit Beginn des 13. Jahrhunderts von einer europäischen Universität nach Pariser Vorbild zu etwas Eigenem entwickelt: zu einer Hochschule, die sich bei näherem Hinsehen eher als eine Summe von Kollegien erwies. Oxford, aus der Vogelschau besehen, präsentierte sich als eine Stiftungslandschaft, als ein cluster aus Stiftungen, die alle nach der Maßgabe der spätmittelalterlichen Frömmigkeit gefertigt waren und auf der Einheit von Wissenschaft und Totenmemoria beruhten. Die Kollegien waren es, die um 1500 sogar dem skeptischen italienischen Englandreisenden ein Wort der Anerkennung abrangen: ne quali studij vi sono fondati molti Collegij, per nutrimento delli scholari poveri. Nicht, daß man in den vorreformatorischen Kollegien besonders gut gelebt hätte, im Gegenteil: Der Lebensstandard war dort niedrig, die Kanoniker an einer englischen Kollegiatkirche hatten es fraglos besser. Doch gerade daß die Dotation eher bescheiden war, schützte das System. Kollegiatenstellen waren für Außenstehende auf Pfründensuche unattraktiv. Mit ironischem Unterton brachte dies William Pantin auf den Punkt: »... no royal place-hunter, no papal provisor ever sank so low as to ask for a fellowship or headship of a medieval Oxford college.« Die in den Kollegien versammelten Personengruppen vom Anfänger bis zum »master« waren in typisch mittelalterlicher Weise als Gemeinschaften Lebender mit den Toten angelegt, und selbst in den größten Häusern blieb die Zahl der dotierten Stellen überschaubar genug, um lebenslange Solidarität zu garantieren. Sie waren es, die die materielle Grundlage der wissenschaftlichen Betätigung abgaben, sei es in der neuen, humanistischen Ausrichtung, wie sie durch die Stiftungen Herzog Humphreys von Gloucester ( t 1447) angeregt und von Thomas Morus ( t 1535) und Erasmus von Rotterdam ( t 1536) gelobt wurden, sei es in der älteren scholastischen Tradi-
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tion. Schon zu Geoffrey Chaucers Zeiten, also noch vor dem Jahr 1400, war der »Oxonian« zum Inbegriff des Buchgelehrten geworden. Chaucer selbst dichtet im Prolog zu seinen Canterbury Tales: A clerk ther was of Oxenford also, That un-to logik hadde long y-go. As leene was his hors as is a rake, And he nas nat right fat, I undertake; But looked holwe and ther-to sobrely. (Da war aus O x f o r d ferner ein Scholar, D e r Logik schon studiert manch liebes Jahr. Sein äußerst magres Pferd glich einem Rechen, A u c h er war nicht grad fett, um wahr zu sprechen, Hohläugig sah er aus und ernst.)
III. Die Erweiterung der Stiftungslandschaft in der Neuzeit Die Vielzahl der Oxforder Personengruppen hervorzuheben, die durch Stiftungen entstanden, ist die Voraussetzung dafür, daß man die oft apostrophierte »Mittelalterlichkeit« der modernen Universität einordnen kann. Mit jedem Werk dieser Art, durch das ein »College« geschaffen wurde, entstand eine soziale Gruppe von hoher Kohärenz. Verschwanden die französischen Kollegien in der Napoleonischen Ära, so blieben sie für die englischen Universitäten konstitutiv. Neue Häuser kamen bis ins 20. Jahrhundert dazu: im 16. Jahrhundert Brasenose durch den Bischof von Lincoln, Corpus Christi durch den Bischof von Winchester, dank Kardinal Wolsey Cardinal College, aus dem Christ Church wurde, Trinity und St. John Baptist beide 1555 durch katholische Laien, 16 Jahre später die erste protestantische Stiftung: Jesus College. Auch die reformierte Kirche hielt im folgenden am Wert dieser Institution fest, die man nun als säkulare Anstalt, als »secular college«, begriff. So entstanden im 17. Jahrhundert dank der sehr vorteilhaften Eheschließung Nicholas Wadhams Wadham College, nominell durch König Jakob I. Pembroke. Im 18. Jahrhundert kamen auf Initiative von Sir Thomas Cooke Worcester College und durch den Reformer Richard Newton Hertford hinzu, im 19. Jahrhundert Keble, Mansfield und Ruskin (für Arbeiter und Arbeiterinnen), im 20. Nuffield und St. Catherine's. Doch der Akt der Stiftung blieb nicht auf den Typus »Kolleg« beschränkt. Noch zahlreicher als Kollegienstiftungen, weil erschwinglicher, waren solche für einzelne Lektorate und Professuren, die man an bestimmte Kollegien anbinden konnte: So schon 1524 zwei Lektorate für Medizin durch Thomas Linacre, die in Merton College eingegliedert wurden, im
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17. Jahrhundert Professuren für Geometrie, Astronomie, Natur- und M o ralphilosophie, Geschichte, Anatomie, Musiktheorie, Arabistik und Poesie, im folgenden Jahrhundert eine Professur für moderne Geschichte durch König Georg I., eine für Botanik, für Angelsächsisch, für das Common Law und klinische Medizin, für praktische Medizin, Chemie und Agrarökonomie. Im 19. und 20. Jahrhundert wird die Liste der Stiftungsprofessuren endlos, angefangen von der politischen Ökonomie und Sanskrit über vergleichende Sprachwissenschaft und Kunstgeschichte bis zur Assyriologie, der politschen Theorie und dem Neugriechischen. Fanden durch solcherlei Professuren Graduierte ihr Auskommen, so durch Stipendienstiftungen die Scholaren - angefangen 1538 mit einer Zustiftung zum Brasenose College, in deren Genuß gerade »undergraduates« kommen sollten, bis zu den berühmten Cecil-Rhodes-Stipendien für Bewohner der Kolonien, für Nordamerikaner und Deutsche. Zum Zweck der Nachwuchsförderung wurden Preise gestiftet. Zwei gingen zum Beispiel auf die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts und den Grafen von Lichfield zurück und honorierten lateinische Dichtung bzw. englische Prosa, sofern sie aus der Feder von »undergraduates« stammten. Ein weiterer Preis für englische Dichtung kam 1809 dazu. Und selbst mit dieser Aufzählung fehlt noch eine ganze Gruppe von Stiftungen, mit der die Landschaft der Museen und Laboratorien bereichert wurde. Zwischen 1598 und 1602 stattete Sir Thomas Bodley die Universitätsbibliothek neu aus und sicherte ihr eine reichsweite Bedeutung, indem er mit der »Stationers' Company« einen vorteilhaften Vertrag abschloß: Von jedem in England erschienenen Werk sollte ein Exemplar kostenlos an seine Bibliothek abgegeben werden (ausgenommen wurden hiervon nur die Bücher, die in Cambridge erschienen waren). Bis zur Gründung des Britischen Museums 1759 fungierte die Bodleian Library gleichsam als Nationalbibliothek, und noch anderthalb Jahrhunderte danach war sie umfangreicher als die British Museum Library. Andere Freunde der Wissenschaften stifteten den Botanischen Garten, Elias Ashmole steuerte 1683 das Ashmolean Museum bei, in dem verschiedene Sammlungen, aber auch naturwissenschaftliche Laboratorien Platz finden sollten. Herbarien wurden gegründet, eine insektenkundliche Sammlung gelangte ebenso an die Universität wie diverse Spezialbibliotheken und eine Pinakothek. Der Architekt Christopher Wren baute im Auftrag des Erzbischofs von Canterbury das Sheldonian Theatre als den Zeremonienraum der Hochschule. Von ihm sagte ein Zeitgenosse: »It is in truth a fabrick comparable to any of this kind of former ages, and doubtless exceeding any of the present, as this University does for Colledges, Librairies, Scholes, Students, and order [!], all the Universities in the world.« Wren baute nach dem Vorbild des römischen Marcellus-Theaters, und so war dem erzbischöflichen Stifter der Bau schließlich zu heidnisch - angeblich betrat er ihn nie. All dies wurde stän-
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dig weiter unterstützt durch zahllose Schenkungen, also einmalige Legate. Zugleich konzentriert und gestreut wurden diese Institute in Oxford: Konzentriert insofern, als es in England bis zum 19. Jahrhundert neben Cambridge keinen O r t gab, der zum Rivalen um die Gunst dieser wissenschaftlich motivierten Werke hätte werden können. Wer sich wissenschaftlich ausbilden lassen wollte, der bevorzugte die Oxbridge-Universitäten, und hatte er später Karriere gemacht, dann waren die Städte an Themse und Cam die gegebenen biographischen Anknüpfungspunkte für eine Stiftung. Zugleich wurden die Institute aber insofern gestreut, als sie jeweils einzelne und unabhängig voneinander existierende juristische Personen waren, auf die die Gesamtuniversität nur in sehr beschränktem Maße Zugriffsrechte besaß. So reich das Konglomerat Oxford war, so arm war die Universität selbst. Sie um die Mitte des 19. Jahrhunderts zu reformieren, hieß auch, erst einmal Mittel für ihren zentral zu planenden Ausbau zu finden. Nur gelegentlich hatte sie sich an den großartigen Bauprogrammen beteiligen können, so etwa, als sie 1713 das Clarendon Building mitfinanziert hatte. Im ganzen gesehen beruhte die Buntheit der wissenschaftlichen Einrichtungen also auf privaten Initiativen. Ein kollektives Stifterprofil ist kaum möglich, hervorheben muß man allenfalls die Bedeutung der Bischöfe und des weltlichen Adels, sofern seine Angehörigen selbst »Oxonians« waren. Auch juristische Personen traten als Stifter hervor: das Vereinigte Königreich als Körperschaft schuf 1912 zu Ehren des viermaligen Premierministers Gladstone ( f 1898) eine Professur für Politische Theorie, die Zunft der Textilkaufleute eine naturwissenschaftliche Bibliothek, die Zunft der Goldschmiede eine Professur für Englisch. Jesus College, selbst eine Stiftung, schuf 1876 einen Lehrstuhl für Keltologie. Bis in unser Jahrhundert hinein blieben es daneben die auffallenden Einzelpersönlichkeiten, die neue Institute schufen. Einer der größten Oxforder Stifter aller Zeiten war ein Industrieller aus unserem Jahrhundert, nämlich Viscount William Richard Morris, der Baron Nuffield von Nuffield, Gründer der Morris-Motorenwerke und Urheber eines Medizinerkollegs. Man ist versucht, seine Biographie mit der seiner vormodernen Vorgänger zu vergleichen, und stellt einige frappante Überschneidungen mit dem Leben großer Stifterpersönlichkeiten der Vergangenheit fest: Wie viele Dotatoren vor ihm stammte Morris aus einfachsten Verhältnissen (sein Vater war ein einfacher Landarbeiter), er selbst schaffte den unerhörten Aufstieg, seine Ehe blieb kinderlos.
IV. Kollegiatenleben als eine Form der Vergemeinschaftung Aus sich selbst heraus waren die Kollegien freilich nie modernitätsfeindlich, doch verführten sie zu einem Gelehrtendasein in Selbstreferentialität, schufen sie Gruppen, die in der schon angedeuteten Weise als »mona-
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stisch« und »mittelalterlich« empfunden wurden. Was stand nun hinter dieser Kritik? Hinter ihr stand zunächst einmal die Tatsache, daß die Gesamtuniversität als ein Ensemble von Kollegien ein antizentralistisches Gebilde blieb. Bis heute liegt zum Beispiel das Recht der Immatrikulation nicht bei einer, sondern bei etwa 30 voneinander unabhängigen und gleichrangigen Körperschaften. Beflügelt wurde dieser Antizentralismus vom 17. bis zum 19. Jahrhundert noch dadurch, daß nicht mehr Congregation und Convocation die maßgeblichen Gremien der Gesamtuniversität waren, sondern die sogenannte Wochenversammlung (»Hebdomadal Board«), die sich aus den Vorstehern der Kollegien zusammensetzte. Die englischen Könige und Königinnen, von denen man vielleicht hätte erwarten können, daß sie dem schwer zu regierenden Föderalismus der Kollegien einen Riegel vorschoben, wandten sich nicht gegen diese Entwicklung. Seit der englischen Reformation definierte nämlich die Frage der religiösen Orthodoxie das Verhältnis der Oxbridge-Universitäten zum Staat - und machte es den Hochschulen damit leicht, unangefochten die eigenen Angelegeheiten zu regieren. Gerade Oxford zeigte sich in der Neuzeit, nach der Erfahrung des Lollardismus im späten Mittelalter, als besonders rechtgläubig und sogar noch angepaßter als die Konkurrenzuniversität. Bald kursierte in England das boshafte Wort: Cambridge bringe Märtyrer hervor, die in Oxford verbrannt würden. Königin Elisabeths Kanzler Robert Dudley, der Graf von Leicester ( f 1588), hatte die Universität noch dadurch streng in die Pflicht genommen, daß er die Vorsteher der Kollegien persönlich für disziplinarische Belange haftbar machte. Spätestens jedoch seitdem auf Veranlassung von Erzbischof William Laud 1636 ein ausführliches Statutenwerk in Kraft trat, bestand für Pressionen solcher Art wenig Anlaß. Wo vom 17. zum 19. Jahrhundert in Oxford das Verhältnis der Universität zur Gesamtgesellschaft reflektiert wurde, berief man sich auf seine Orthodoxie und auf die personell unentwirrbare Verflechtung mit der Church of England. Ein Garant für geistige Flexibilität war dies freilich nicht. Mit curricularen Neuerungen tat man sich wegen der Dominanz des »Laudian Code« schwer. 1683 verbrannte man die angefeindeten Werke Miltons, Hobbes, Knox' und Buchanans, im Jahr darauf entfernte man John Locke aus Christ Church. Orthodoxie als gewählte Lebensform bewirkte noch im 19. Jahrhundert bei vielen Verantwortlichen eine krude, christlich verbrämte Modernitätsfeindlichkeit. Man stellte sich den Plänen der Londoner Universitätsgründung entgegen, denn solches zu tun hieße, eine Institution zu gründen »disavowing all connexion with the Established Church and educating its members in no system of religion whatever«. Dreizehn Jahre später sprach man sich gegen die Zulassung von Juden als Parlamentsmitglieder aus. Das Leben in Privatquartieren hielt man für minde-
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stens genauso gefährlich wie die Irreligiosität deutscher Professoren. Und auch gegen die Pläne, Oxford mit einer Eisenbahnstation zu versehen, wandte man sich - das Sündenbabel London würde dadurch zu leicht erreichbar werden. Jahrzehntelang behinderte die Universität den Stadtausbau, hintertrieb etwa in den 1860er Jahren Pläne der Great Western Railway Company, ein Werk für den Waggonbau in der Stadt zu errichten. Kritik an diesen Verhältnissen, oft wie im Fall Gibbons aus religiösem Dissens gespeist, führte zur Rede von der mittelalterlichen Rückständigkeit der Universität. Traf man im 17. Jahrhundert noch Ausländer an (so zum Beispiel einen Griechen namens Nathaniel Conopios, den ersten Menschen, den man in Oxford Kaffee trinken sah), so wurde auf dem Kontinent ein Studium in England als wenig erstrebenswert angesehen. Rückläufige Studentenzahlen bei gleichbleibenden Zahlen der fellows führten dazu, daß der einzelne Graduierte nicht dringend unterrichten mußte. Sarkastisch bemerkte wiederum William Pantin: »Only a tiny fraction of the Fellows were so eccentric as to want to teach ...«. Wie stand es um die Mittelalterlichkeit des Lebens in den Kollegien selbst? Die Reformation hatte die Mönchskongregationen in der Nachbarschaft hinweggefegt, und so fehlte der Vergleichsmaßstab für die Bewertung der sogenannten »secular colleges«. Man nahm sicher wahr, welch hoher Wert bis in unser Jahrhundert hinein auf die Qualität der Bewohnerschaft als einer Gebetsgemeinschaft gelegt wurde, darauf, daß jeder Morgen zu früher Stunde mit einem für alle obligatorischen Gang in die Kapelle begonnen wurde. Lebensformen außerhalb von Kolleg und den wenigen verbliebenen Bursen wurden seit William Lauds Statuten von 1636 bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr geduldet. Innerhalb der Häuser regierten zwei Hierarchien nebeneinander: nämlich die der akademischen Dignität von den »Heads of Houses« bis hinunter zu den Neuankömmlingen, den »freshmen«, aber auch die des Standes: Adlige wurden als Bewohner aufgenommen, >unter< ihnen die »gentlemen commoners«, dann die normalen »commoners« und an letzter Stelle die »servitors« - mittellose Scholaren, die sich ihr Studium durch Aufwärterdienste finanzierten. Diese ständische Gliederung fand vielfältigen Ausdruck, am besten sichtbar in der Art des Talars, aber auch in der Qualität der Unterkünfte bis hinunter zur Güte der Tischdecken im Refektorium, die es für lange Zeit noch gab. Wie schätzten die Studenten und »fellows« ihr Dasein aber selbst ein? Es dürfte wohl kaum eine Universität geben, die in so zahlreichen Memoirenwerken schon seit dem 17. ausführlich beschrieben und beurteilt wird. Dank ihnen erkennt man schnell, daß drei Aspekte Oxforder Existenz besonders geschätzt wurden: Erstens der starke Gruppenbezug des alltäglichen Lebens, der im gemeinsamen Gebet und dem gemeinsamen Mahl zum Ausdruck kommt, in den Worten von Vicesimus Knox repräsentiert durch »the tinkling of the chapel and the dinner bell«; zum zweiten die Tat-
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sache, daß die gestifteten Museen und Büchereien dazu beitrugen, ein O x f o r d s t u d i u m auch zu einem sinnlichen Erlebnis zu machen: Handschriften, M ü n z e n , Skulpturen, naturkundliche Gegenstände, Gemälde - alles stand in O x f o r d gleichsam z u m Anfassen bereit. U n d ein drittes Charakteristikum tritt besonders deutlich hervor: Die Unterbringung im Kolleg gab selbst den Studenten, die der Gentry entstammten, ein Gefühl, besonders komfortabel versorgt zu sein und erstmals über die Privatsphäre eines Erwachsenen zu verfügen. Selbst der Kritiker G i b b o n m u ß t e einräumen, wie sehr in den Kollegien schon die Neulinge in Ehren gehalten w u r d e n sogar einen Schlüssel zur Bibliothek händigte man ihnen aus. Das Privatgemach, der »room of one's own«, ist ein Leitmotiv dieser Memoirenwerke u n d wird dort stets mit einem Gefühl der Dankbarkeit vermerkt. Intime u n d komfortable Gemächer tarierten die zahlreichen »social occasions« aus und ermöglichten f ü r viele Stunden des Tages Studium, Kontemplation oder auch einfach Schlaf. Thomas Frognall Dibdin ( t 1847) etwa erinnerte sich in warmen Worten an die erste Zeit in den eigenen vier Wänden: »Aber wer kann die innere Freudenglut beschreiben, mit der derselbe Scholar z u m ersten Mal die Möbel in seinen Z i m m e r n sieht, seine eigenen Möbel! U n d in seinen Räumen sieht er eine Art Burg, wenn er will, unzugänglich f ü r den F u ß des Eindringlings! Alles u m ihn herum schafft eine Aura von Unabhängigkeit. Man liest, man schreibt, man ruht, man zecht - ganz so wie diese Aura w i r k t . . . « . Ein Student dichtete 1792 in einem Brief an einen Freund: But to proceed: your friend returns To rooms to see if fire burns Or whether water boils. ... Rolls smoking hot at half past eight And George and butter on a plate The scarecrow Thomas brings Laying a napkin passing white Tea equipage he puts in sight While loud the Kettle sings. (Und u m fortzufahren: dein Freund [der Diener, F. R.] k o m m t wieder in die Gemächer u n d sieht nach, ob das Feuer brennt u n d ob das Wasser kocht. Thomas, die Vogelscheuche, bringt u m halb neun d a m p f e n d heiße Brötchen, George [Gebäck aus dunklem Teig, F. R.] u n d Butter auf einem Teller. Eine blütenweiße Serviette legt er zurecht, das Teegeschirr schafft er heran, u n d unterdessen singt der Teekessel laut.)
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Daß dieser Typus des teetrinkenden Reklusen der Oxforder Scholar schlechthin sein sollte, schien den Verantwortlichen der Gesamtuniversität um die Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr wünschenswert. Als man den Angehörigen der Arbeiterklasse schließlich den Universitätsbesuch erleichtern wollte, als man ihnen zugleich mehr bieten wollte als den Statuts des studierenden »servitors«, war man sich darüber im klaren, daß man Alternativen zum Collegeleben ermöglichen mußte. Längst wußte man um ein verhängnisvolles Paradoxon: daß es nämlich stets erschwinglicher gewesen wäre, in undotierten Privatquartieren zu wohnen als in den reich bestifteten Kollegien. Zu anspruchsvoll war das soziale Leben in der Gruppe. Die »conspicuous consumption«, die das Kollegiatenleben unweigerlich mit sich brachte, zehrte am Budget und nötigte die weniger gut Betuchten in die Rolle von Dienern. Man gab also in der Reformära der 1860er Jahre den Kollegien- und Bursenzwang auf. Doch nicht die Abwendung vom Kolleg, sondern die Rückkehr dazu in unserem Jahrhundert bezeichnet die (vorläufig) letzte Station in der Entwicklung des Oxforder Scholarendaseins. Dahinter steht sicher nicht einfach angelsächsischer Konservatismus - vielmehr zeigen die Plädoyers für die Kollegienuniversität ebenso wie die häufig geäußerte Kritik an der sogenannten »Oxbridge Mafia« und ihrer Rolle bei der Rekrutierung der englischen Eliten, daß in den Jahrhunderten des Kollegiatenlebens der stark vergemeinschaftende Aspekt des Studiums ein wesentliches Element der englischen Gesellschaft wurde, von dem man nicht so ohne weiteres lassen konnte. Und wem verdankte man diese Lebensform im Grunde? Abschließend sei zu dem Schwarmgeist Percy Shelley und seinem Biographen Hogg zurückgekehrt. Auch Shelley genoß seine Wohnsituation im Kolleg und machte sich so seine Gedanken über die Annehmlichkeiten, die ihm dort widerfuhren. Als er in einem Gespräch mit Hogg die Vorzüge des Kollegiatendaseins erörterte, nannte der Dichter an erster Stelle die Doppeltür aus Eichenholz am Eingang zu seinen Gemächern, kurz »the oak« genannt: »Die Doppeltür ist so ein Segen«, rief er mit seltsamer Inbrunst, klatschte in die Hände und wiederholte mehrmals langsam und feierlich »Die Doppeltür ist so ein Segen. Allein schon diese Tür macht aus diesem Ort fast ein Paradies. Wo anders auf der Welt... kann man zuversichtlich sagen, daß es absolut unmöglich ist, physisch unmöglich ist, gestört zu werden?« Damit meint Shelley, daß es wegen der Massivität der Doppeltür nicht möglich ist, von außen so laut zu klopfen, daß man dies drinnen auch hört. Und er fährt fort: »[Begegnest du einem Langeweiler und sagt er dir:], >Gestern um drei stand ich vor deinen Räumen, aber die Tür war geschlossen', dann mußt du nur antworten: >Ach so? Tatsächlich?Gedächtnisort< der englischen Gegenwartskultur geblieben.
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Studium und Studienwesen der Bettelorden D i e »andere« U n i v e r s i t ä t ?
I. Die Beschäftigung mit dem Studium und dem Studienwesen der Bettelorden könnte als ein überflüssiges Unternehmen erscheinen. Nicht weil es diesem Thema an Bedeutung mangelte, sondern weil man sich schon seit Jahrhunderten mit ihm beschäftigt hat. Trotz des schon früh zu beobachtenden Interesses und zahlreicher wertvoller Vorarbeiten gibt es bis heute kein mit den Universitätsgeschichten von Denifle, Kaufmann oder Rashdall vergleichbares Werk, das Studium und Studienwesen der Bettelorden als ein Gesamtphänomen behandelte, sich also nicht nur auf das häufiger behandelte Studienwesen einzelner Orden beschränkte. Angesichts dieser Feststellung ist es nicht verwunderlich, daß bisher nur hier und da der Versuch gemacht wurde, die Eigenart und Funktion des mendikantischen Studiensystems zu beschreiben und seinen Ort im Gefüge des mittelalterlichen Bildungswesens zu bestimmen. Wenn hier der Versuch unternommen wird, dieses Studiensystem als Ganzes ins Auge zu fassen und neben der Eigenart auch das Verhältnis der »anderen« zur »eigentlichen« Universität des Mittelalters zu bestimmen, kann das nicht mehr als ein erster Versuch sein, von dem zu hoffen ist, daß ihm in Zukunft eine ins Einzelne gehende Darstellung folgen kann.
II. Das mendikantische Studienwesen hat eine lange Vorgeschichte, nämlich die Geschichte der in den Kathedral-, Kloster- und Stiftsschulen des frühen und hohen Mittelalters betriebenen Studien. Am Anfang seiner eigenen Geschichte steht die schon auf dem III. und IV. Laterankonzil zum Ausdruck gebrachte, von Alexander III., Innozenz III. und Honorius III. geteilte und von Diego von Osma und Dominikus von Caleruega aufgrund eigener Erfahrung gewonnene Einsicht, daß die von innen und außen, von Heiden,
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Ketzern und Ungläubigen bedrohte Christenheit zur Erkenntnis der Wahrheit und Erlangung des Heils einer nicht nur durch vorbildliches Leben, sondern auch durch wissenschaftliche Kompetenz legitimierten Predigt bedürfe. Nachdem der Plan gescheitert war, im Zentrum der katharischen Häresie, nämlich in Toulouse, eine Ausbildungsstätte für Prediger dieser Art zu schaffen, wurde seine Realisierung dort in Angriff genommen, wo damals das Studium der Theologie seinen eigentlichen Ort hatte: nämlich in Paris. 1219 erlaubte die dortige Universität auf Drängen Honorius III. den zwei Jahre zuvor von Dominikus nach Paris entsandten Ordensleuten, die der Pariser Magister regens]zm de Barastre in das von ihm gestiftete Hospital bei Saint-Jacques aufgenommen hatte, das Studium der Theologie aufzunehmen - mit dem Ergebnis, daß schon wenige Jahre später bei Saint-Jacques ein dominikanischer Studienkonvent zustande kam, dem mit Roland von Cremona ein Mitbruder vorstand, der nach dem Studium der Artes in Bologna an der Pariser Universität zum magister sacraepaginae promoviert worden war und an ihr das Amt eines magister regens ausübte. Der Pariser Studienkonvent reichte bis in die Mitte des 13. Jahrhunderts aus, um die zum Studium geeigneten Ordensleute pro forma et gradu ein Theologiestudium absolvieren zu lassen, das sie im günstigsten Falle nicht nur befähigte, ihre eigenen Mitbrüder zu unterrichten, sondern auch an der Universität als magistri regentes zu wirken. Erst als Saint-Jacques nicht mehr in der Lage war, den steigenden Bedarf an ausgebildeten Theologen zu decken, und die Spannungen zwischen Universität und Orden immer größer wurden, beschloß das Generalkapitel des Dominikanerordens 1246 die Gründung vier neuer studia generalia in den Provinzen Lombardia, Anglia, Provincia und Theutonia, an die jeweils zwei Studenten jeder Provinz zum Studium entsandt werden sollten, ein Beschluß, der neben Bologna, Montpellier und Oxford auch Köln zu einem Zentrum dominikanischer Gelehrsamkeit machte. Die Franziskaner taten sich schwerer als die Dominikaner. Die Entschiedenheit, mit der es Franz von Assisi 1221 nach der Rückkehr aus dem Orient ablehnte, das von einem zum Minoriten gewordenen Magister in Bologna errichtete Studienhaus auch nur zu betreten, läßt erkennen, wo die Gründe dafür zu suchen sind, daß man in seinem Orden nur widerstrebend bereit war, dem Vorbild der Dominikaner zu folgen. Dennoch verfügten die Franziskaner bereits in den dreißiger Jahren des 13. Jahrhunderts über Studienhäuser in Paris, Oxford und Cambridge, in denen Robert Grosseteste, Adam von Marsh, Alexander von Haies, die Angehörigen der ersten franziskanischen Gelehrtengeneration, ihre Lehrtätigkeit aufnahmen. 1260 beschlossen die Franziskaner wie die Dominikaner, jede Provinz müsse ein Generalstudium haben, was dazu führte, daß sie am Ende des H.Jahrhunderts über zahlreiche dieser Einrichtungen verfügten, von denen sechs im Reich nämlich in Köln, Erfurt, Magdeburg, Straßburg, Wien und Prag lagen.
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Die Augustiner-Eremiten, deren Orden erst 1256 durch die Vereinigung mehrerer italienischer Eremitengemeinschaften zustande gekommen war, verfügten schon im Jahr dieser Union in Paris über einen Konvent, in dem Aegidius Romanus, das spätere Haupt der Ordenschule, 1269 als Schüler des Thomas von Aquin mit seinem Studium begann. Zur offiziellen Errichtung von Generalstudien kam es jedoch erst 1287. Auf einen Schlag wurden studia generalia nicht nur in Paris, Oxford und Cambridge, sondern auch in Bologna, Padua und Neapel sowie an der päpstlichen Kurie errichtet. In ganz kurzen Abständen folgten zehn weitere in Frankreich und Italien sowie in Deutschland, wo der Orden in Erfurt, Magdeburg, Wien und Prag über eigene Generalstudien verfügte. Als die Zahl in der Mitte des 14. Jahrhunderts bei 28 angelangt war, brach die Entwicklung ab. Wenn später weitere Generalstudien eingerichtet wurden, dann nur, um lokalen Bedürfnissen zu entsprechen, von einer neuen Gründungswelle kann daher nicht mehr die Rede sein. Bei den Karmeliten verlief die Entwicklung ähnlich. Nicht nur bei der Wahl der Orte, sondern auch in der zeitlichen Abfolge ist die Übereinstimmung mit den Augustiner-Eremiten, die selbst wiederum dem Vorbild der Dominikaner und Franziskaner gefolgt waren, unübersehbar. Die zu Beginn des 13. Jahrhunderts aus Palästina ins Abendland gekommenen Eremiten vom Berge Karmel strebten - nachdem ihnen von der Kurie die Seelsorge zur Aufgabe gemacht worden war - wie die übrigen Bettelorden nach Paris, Oxford und Cambridge, wo sie zwischen 1247 und 1256 Konvente einrichten konnten - einige Jahrzehnte später verfügten auch sie in London, Köln, Brügge und in Trier über weitere Studia generalia. Was für die vier großen Bettelorden gilt und 1978 in einem in Todi vorgelegten »Panorama geografico, cronologico e statistico sulla distribuzione degli studia degli Ordini mendicanti« dargelegt wurde, trifft auch für jüngere Orden wie den der Serviten, ja selbst für jene fast ganz der Vergessenheit anheimgefallenen Ordines mendicantes zu, die wie die Sackbrüder dem Aufhebungsdekret des II. Konzils von Lyon zum Opfer gefallen sind. Sie drängten wie die bereits genannten Orden nicht nur in die großen Städte, sondern auch dorthin, wo Universitäten bestanden oder im Entstehen begriffen waren, um hier Konvente und in einem zweiten Schritt Studia generalia zu errichten. Damit nicht genug. Die dominikanischen Bestimmungen für das Studienwesen wurden schon im 13. Jahrhundert nicht nur von den übrigen Bettelorden, sondern auch von den Mönchen und Kanonikern übernommen. Als in den vierziger und fünfziger Jahren die Äbte von Citeaux und Premontre, bald darauf auch diejenigen von Fleury, Saint Denis und Marmoutier in den Universitätsstädten Studienhäuser errichteten, war das nicht einfach eine Fortsetzung der seit alters in den monastischen und kanonikalen Orden üblichen Wissenschaftspflege. Wenn der englische Chronist Matthew Paris feststellt: »Die Mönche kaufen, um der
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Verachtung der Dominikaner und Franziskaner sowie der gelehrten Weltgeistlichkeit zu entgehen, Häuser in Paris und an anderen Orten, wo sich Schulen befinden, weil sie sich von den neuen Orden nicht übertreffen lassen wollen«, wird deutlich, warum die älteren Orden wie die jüngeren nach Paris und Oxford, Köln, Wien und Prag drängten, um hier nach dem Vorbild der Mendikanten mit der Errichtung von Studienhäusern die Voraussetzungen für die akademische Ausbildung ihres Nachwuchses zu schaffen.
III. Was in den zwanziger Jahren des 13. Jahrhunderts einsetzte, sich nach der Gründung der jüngeren Bettelorden verstärkte und in den Mönchs- und Kanonikerorden Nachahmung fand, erreichte am Ende des 13. Jahrhunderts und zu Beginn des 14. Jahrhunderts seinen Höhepunkt. Europa wurde damals mit einem dichten Netz von Generalstudien überzogen, in denen zum Studium der Theologie bestimmte Ordensleute die Ausbildung erhielten, die sie als Lektoren oder Lizentiaten befähigte, nicht nur kompetent das Amt des Predigers auszuüben, sondern auch die jüngeren Mitbrüder in den Konventen und Provinzen zu unterrichten und für den Besuch eines Studium generale, wenn nicht gar für den Erwerb des Magisteriums an einer Theologischen Fakultät vorzubereiten. So imponierend die Zahl der Generalstudien ist, sie waren nur die Spitze einer breitgelagerten Pyramide von Bildungseinrichtungen. Wenn Roger Bacon in seinem Compendium studiiphilosophiae feststellt, die Dominikaner und Franziskaner hätten in omni civitate et in omni Castro, et in omni burgo Doktoren heimisch gemacht, dann meint er damit nicht nur die mit den Universitäten vergleichbaren, teilweise mit ihnen am gleichen Ort befindlichen und wie sie von Studenten aller Nationen und Provinzen besuchten Generalstudien, sondern auch die Provinzial- bzw. Partikularstudien, in denen die in den Konventen vorgebildeten jungen Ordensleute der jeweiligen Provinzen diejenigen Studien absolvierten, die den Besuch der Generalstudien und damit ein abgeschlossenes Theologiestudium ermöglichten. Wir wissen, daß die vier großen Bettelorden im 13. Jahrhundert über zahlreiche Provinzial- bzw. Partikularstudien verfügten, die Straßburger Franziskanerprovinz über zweiundzwanzig, die niederdeutsche Karmelitenprovinz über vier und die kölnische Augustinerprovinz über acht. Wenn man von insgesamt 700 bis 800 Provinzialstudien redet, ist das nur eine Schätzung, denn was die Verbreitung, Entstehung und Funktion der Partikularstudien angeht, befindet sich die Forschung in einem noch größeren Rückstand als im Falle der Studia generalia. Wir können nur vermuten, daß ihre Gründungen zeitlich früher anzusetzen sind als die der Generalstudien und zu
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einer höheren regionalen Dichte führten als diejenige der höheren Bildungsanstalten. Über die Konventualschulen, die die Basis des Systems bilden, lassen sich nur schwer allgemeingültige Feststellungen treffen. Die Handschriftenbestände der Konvente mehr aber noch die Tatsache, daß sich unter ihren Konventualen nach Ausweis der überlieferten Urkunden normalerweise ein, wenn nicht gar mehrere Lektoren befanden, lassen jedoch den Schluß zu, daß auch an ihnen dem Studium und der Theologie der gebührende Platz eingeräumt wurde.
IV. Die Forschung, die sich mit der Geschichte der Universität beschäftigt, hat, was das Verhältnis von Ordensstudien und Universität angeht, keine eindeutige Meinung. Einigkeit besteht darüber, daß sich Schulorganisation, Unterrichtstechnik, Fachterminologie und die Curricula der beiden ähnelten bzw. ergänzten, ja in mancher Hinsicht miteinander übereinstimmen. Weniger einhellig ist die Meinung darüber, ob und in welchem Ausmaß die beiden Systeme nach Ursprung und Funktion zusammengehören. Die einen gehen wie selbstverständlich von einer weitgehenden Übereinstimmung aus und setzen eine enge Verbindung voraus. Die anderen betonen ihre Selbständigkeit und Verschiedenartigkeit. Eine dritte Richtung geht sicherlich mit Recht - davon aus, daß institutionelle Verbindungen zwischen beiden Systemen bestanden, die jedoch im Laufe der Zeit erheblichen Wandlungen unterlagen. In ihrer Frühzeit waren die älteren Bettelorden, was das Studium und seine Organisation anging, weitgehend auf die Universitäten angewiesen, an denen sie Studenten und Magister für ihre Orden zu gewinnen suchten, wo sie zugleich aber auch die Voraussetzungen für die Ausbildung ihres eigenen Nachwuchses schaffen wollten. In Paris und Oxford, ubi maxime viget Studium, unterstellten sie sich den dem Weltklerus oder den älteren Orden angehörenden Magistern als servi, filii et discipuli, wie es der Generalminister der Franziskaner Johann von Parma formulierte. Erst die Promotion eigener Mitbrüder und deren Aufnahme in den Lehrkörper der Theologischen Fakultäten von Paris und Oxford schufen eine institutionelle Bindung, an deren Aufrechterhaltung die Orden aus wohlverstandenen Gründen interessiert waren. Dabei ging es nicht um das Prestige, das einzelne Ordensleute und damit die Orden gewannen. Die akademische Stellung der in die Theologischen Fakultäten aufgenommenen magistri regent es war die Voraussetzung dafür, daß Ordensleute, die an einem Konvent· oder Partikularstudium mit ihrer Ausbildung begonnen und an einem Generalstudium als Lektor oder Lizentiat die Lehrbefähigung für die Ordensschulen erworben hatten, das Studium der Theologie pro forma
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et gradu fortsetzen, zum magister sacrae paginae promoviert werden und die licentia ubique docendi erlangen konnten. Als im 14. Jahrhundert aus Gründen, die nicht zuletzt mit der »Avignonesischen Gefangenschaft der Päpste« und dem »Großen Schisma« zu tun haben, auch andere Universitäten mit Theologischen Fakultäten entstanden, trat im Verhältnis der beiden Institutionen eine gewisse Veränderung ein: die Ordensbrüder waren nicht mehr allein die Nehmenden, sie wurden auch zu Gebenden. Die Universitäten suchten die Unterstützung der Bettelorden, um mit Hilfe ihrer Generalstudien Theologische Fakultäten errichten und ausstatten zu können. In Bologna, Padua und Salamanca, um nur einige besonders wichtige Beispiele zu nennen, gingen diese Fakultäten aus den dort schon bestehenden Generalstudien hervor, was bedeutete, daß sie lange in den Händen der Bettelorden waren und blieben. In Köln und Erfurt, Wien und Prag wurden die Studia der Dominikaner, Franziskaner, Augustiner-Eremiten bzw. Karmeliten den Theologischen Fakultäten inkorporiert, nahmen Magister aus den Bettelorden wie Nikolaus Laun und Johannes Retz die ersten theologischen Lehrstühle ein. In Leipzig, Mainz, Freiburg und Tübingen hingegen kam es zu Theologischen Fakultäten, ohne daß man auf komplette Generalstudien der Bettelorden hätte zurückgreifen können - was freilich nicht bedeutete, daß man auf die Hilfe und Kompetenz der Dominikaner, Franziskaner und Augustiner-Eremiten verzichtete.
V. Wenn man das Studienwesen der Bettelorden nicht als Anhängsel der Universität, sondern als Phänomen sui generis verstehen will, hat es wenig Sinn, sich mit seiner Spätzeit zu beschäftigen. Man muß sich dann auf die Blütezeit im 13. und beginnenden 14. Jahrhundert konzentrieren. In dieser Zeit unterschied sich das mendikantische Studiensystem von den gleichzeitig im Aufbau befindlichen Universitäten durch einen höheren Grad an Differenzierung und Dezentralisierung. Bei seiner geographischen Verbreitung spielten örtliche Faktoren wie die Verkehrslage, die Bedeutung der Wirtsstädte, die Größe und Ausstattung der lokalen Konvente und nicht zuletzt das Vorhandensein von Universitäten eine wichtige Rolle. Ausschlaggebend waren diese Faktoren jedoch nicht, bedurfte es doch für die Errichtung eines Generalstudiums nur eines Bruchteils jener Vorkehrungen, die für die Gründung einer Universität oder auch nur einer Theologischen Fakultät erforderlich waren. Für die Auswahl des Ortes waren vielmehr in erster Linie ordensinterne Bedürfnisse bestimmend. Man ließ sich von dem Wunsch leiten, jede Ordensprovinz mit mindestens einem Generalstudium auszustatten, um gleiche Ausbildung und gleichen Bildungsstand in allen Provinzen zu erreichen. Diese Art der Regionalisie-
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rung, die dazu führte, daß es schon früh in Städten wie Magdeburg und Straßburg, die im Mittelalter keine Universitätsstädte waren, zu einer Massierung von Studio, der Bettelorden kam, wurde durch das ergänzt, was M. Powicke »a kind of distributed university« genannt hat, d. h. durch eine systematische Arbeitsteilung im Bereich der zum mittelalterlichen Wissenschaftskanon gehörenden Disziplinen. Während sich die Generalstudien nach Pariser Vorbild auf das Studium der Theologie konzentrierten, übernahmen die Partikularstudien nicht nur die wissenschaftliche Propädeutik, sondern auch die Pflege bestimmter Disziplinen. Das führte in einigen Fällen dazu, daß sie auf ihrem Gebiet, etwa dem Studium und der Lehre der orientalischen Sprachen, ein ähnlich hohes Niveau erreichten, wie die für die Theologie zuständigen Generalstudien. Bei dieser Spezialisierung ist nicht immer genau zu sagen, nach welchen Gesichtspunkten sie erfolgte. Sicher ist nur, daß die Bildungsverhältnisse und die speziellen Erfordernisse in den einzelnen Provinzen dabei eine ausschlaggebende Rolle spielten. In der Zeit, in der es zum vollen Ausbau des mendikantischen Studienwesens kam, setzte auch eine Vermehrung der Universitäten ein, die in wenigen Jahrzehnten zu zahlreichen Neugründungen führte, so daß man von der bis dahin größten Gründungswelle der europäischen Universitätsgeschichte hat reden können. A. Borst sieht ähnlich tvie H. Koller darin den Versuch, die sich seit dem Ende des 13. Jahrhunderts anbahnende Krise der alten Universitäten durch Dezentralisierung zu lösen. Mit dieser Tendenz ist die Gemeinsamkeit beider Systeme aber auch schon erschöpft. Die Mendikanten verzichteten auf die Autarkie der einzelnen Studia, verbanden vielmehr in ihrer »distributed university« die Vorteile des hierarchischen Aufbaus mit denjenigen der Zentralisation, sie wirkten der Provinzialisierung durch eine systematisch betriebene Internationalisierung sowohl des Lehrkörpers als auch der Studentenschaft entgegen, mobilisieren all ihre Ressourcen, entwickeln ein rationelles »Book provision system«, wie es K.W. Humphreys genannt hat, und insistieren auf ihren General- und Provinzkapiteln mit Nachdruck auf kompetente Lehre und effizientes Studium, während nach Borst, Koller und anderen Kennern der Universitätsgeschichte Provinzialität, Niveauverlust und Schrumpfung das Ergebnis der mit großem Elan begonnenen Ausweitung der europäischen Universitätslandschaft waren. Für den unterschiedlichen Ausgang der beiden ungefähr gleichzeitig einsetzenden Entwicklungen gibt es zahlreiche politische, soziale und ökonomische Gründe. Einer davon verdient besondere Erwähnung, nämlich die »Zentrale Steuerung«, die Arno Borst bei der Entwicklung der europäischen Universität vermißt und Albert Hauck als das charakteristische Merkmal des mendikantischen Studienwesens ansieht. Durch sie sei, so meint der Geschichtsschreiber der Kirche in Deutschland, die »Herrschaft des Zufalls, die im universitären Bereich vorherrscht«, gesteuert worden.
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VI. Der höhere Grad an Zweckrationalität, der in der Tat für den Studienaufbau der Mendikanten charakteristisch ist, war keineswegs das Ergebnis bloß historischer Entwicklungen oder gar des Zufalls. Er wurde vom Gründer des Dominikanerordens gewollt und konsequent angestrebt. A m Anfang stand eine klare Zielbestimmung, nämlich die Schaffung eines Predigerordens. Daraus ergab sich ein nicht minder klares Konzept, das der Nachfolger des Dominikus, H u m b e r t von Romans, in einem einzigen Satz zusammenfaßte: Studium enim est ordinatum adpraedicationem, praedicatio adanimarum salutem, quae est ultimus finis. Dieses Konzept, das schon zu Lebzeiten Dominikus, in den Constitutiones antiquae von 1216 festgelegt wurde, erhielt 1220 die Billigung des Generalkapitels und wurde 1259 von einer Studienreformkommission, der so bedeutende Ordensleute wie Albertus Magnus, Thomas von Aquin und Petrus von Tarentaise angehörten, so erweitert, daß in der Folgezeit lediglich Ergänzungen, nicht aber substantielle Änderungen erforderlich waren. Diese Ratio studiorum, die mit nur geringen Abwandlungen von den anderen Bettelorden übernommen wurde, macht aus dem O r d e n eine universitas docentium et studentium. Sie schreibt vor, daß jeder Konvent von mehr als 12 Brüdern über einen Lektor und Studentenbetreuer, den Magister studentium, verfügen müsse, also zu einer Schule werden solle, in der dem Prior nur noch ein Bruchteil jener Gewalt zustand, mit der die Benediktinerregel den Abt ausstattet. Für die studierenden und lehrenden Ordensleute, von denen die Konstitutionen verlangen, ut de die, de node, in domo, in itinere legant aliquid vel meditentur, schafft sie Bedingungen, die der Erreichung einer weniger durch asketische Strenge als vielmehr durch intellektuelle Leistung definierten Perfectio dienen. Der Weg zu ihr führt vom Noviziat über das Konventual- und Provinzialstudium zum Generalstudium, das seine Studenten normalerweise nach vier- oder fünfjährigem Studium als Lektoren, als ordensinterne Magister also, entläßt und den begabtesten unter ihnen nach der Promotion an einer Theologischen Fakultät den Weg zum Gipfelpunkt der akademischen Karriere, dem Amt des Magister regens, öffnet. Dieses Curriculum war die Voraussetzung für die Ausbildung einer mit zahlreichen Privilegien ausgestattete Prestigehierarchie, die sich parallel zur Amtshierarchie entwickelte und mit ihr weitgehend identisch war. Dies bewirkte eine deutliche Abwertung des Laienelements, also der Fratres communes und der Fratres laid. Das wurde keineswegs als eine zu bedauernde Entwicklung angesehen oder gar als Anmaßung verurteilt, galt vielmehr als legitim, ja sogar als erstrebenswert. Die Förderung des Studiums wurde nämlich als Weg zur Leistungssteigerung und damit zu höherem Ansehen für den ganzen Orden angesehen. 1294 fordert das Generalkapitel in diesem Sinne die Ordensangehörigen auf: ut magistros, bacchalarios
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et lectores honorent et curaliter secundum gradum, statum et meritum eorum exhibere faciant reverentiam. Die Durchsetzung der auf die Dominikaner zurückgehenden Konzeption ging nicht ganz so reibungslos vonstatten, wie es die spätere Erfolgsbilanz vermuten läßt. Widerstände gab es nicht allein von seiten der Pariser Universität und des Weltklerus. Nicht weniger stark war der Widerstand in den eigenen Reihen. Nach dem Tode des Franz von Assisi verstärkten sich in seinem Orden die Gegensätze zwischen Amts- und Prestigehierarchie, laikalem und klerikalem Element, zwischen der Forderung nach der Armut und der Notwendigkeit des Besitzes, zwischen Sapientia und Scientia. Diese Spannung ist, wie bekannt, für die Geschichte der franziskanischen Ordensfamilie bestimmend geblieben. Das hat den Widerstand vergessen lassen, der im 13. Jahrhundert auch in den anderen Bettelorden gegen die Verbindung von Scholastik und Mendikantentum geleistet wurde. Die Augustiner-Eremiten sahen die Erfüllung des ihnen 1256 von der Kurie erteilten Seelsorgeauftrages gefährdet, als sich einzelne Ordensleute und später ganze Kongregationen zur Kontemplation in die Einsamkeit zurückzogen, sich also statt für die vita activa für das Eremitenleben und die vita contemplativa entschieden. Bei den Sackbrüdern mußte erst der Generalprior Raimund Attanulfi zum Rücktritt gezwungen werden, bevor man sich dem Studium widmen und Studienhäuser in Paris, Oxford, Montpellier und Köln errichten konnten. Ähnliches läßt sich auch in anderen Bettelorden beobachten. Nirgendwo wurde die Entwicklung jedoch so stark behindert und die Legitimität des Studiums so nachdrücklich bezweifelt wie bei den Karmeliten. Die nach Europa gekommenen Eremitae
simplices, поп litterati, pauperes, membraneas forte поп babentes, пес scrip-
tores, orarepotius consueti quam scribere, wie sie Johannes von Hildesheim charakterisiert, hatten schon früh Konvente in Paris, Oxford und Cambridge, also in Universitätsstädten, gegründet. Sie merkten aber auch bald, welche Konsequenzen dies hatte. Die Auseinandersetzungen zwischen den auf Anpassung an die Dominikaner und Franziskaner drängenden englischen Brüdern unter dem Generalprior Simon Stock und den französischen Ordensleuten, die unter dessen Nachfolger Nicolaus Gallus auf den Karmel, den Berg der Beschauung, zurückkehren wollten, endete mit dem Sieg der fortschrittlichen Partei. Die Ignea Sagitta, die Schrift, in der Nicolaus Gallus Stadt und Studium als Versuchung des Teufels bezeichnet, war so massiv in ihrer Argumentation, daß man das einzige Manuskript noch bis vor wenigen Jahrzehnten im römischen Generalarchiv des Ordens sekretierte. Wenn weder der innere noch der äußere Widerstand die Entwicklung der Bettelorden zu Gelehrtenorden aufhalten konnte, hatte das seine Gründe. Die Ordensleute hatten erkannt, daß geeigneter Nachwuchs am ehesten in den Städten und an den Universitäten zu finden war - die Briefe des Generalmagisters Jordan von Sachsen sind dafür der beste Be-
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weis. Sie gingen davon aus, daß der scholastischen Theologie die Zukunft gehörte, und waren davon überzeugt, quod nostrae religionis famosa reputatio in Ecclesia Dei ex personis excellenter litteratis specialiter dependet, wie 1312 das Generalkapitel der Karmeliten feststellte. Aber das alles genügte nicht, um den Weg in die Universitäten zu ebnen und den Aufbau eines eigenen Studiensystems zu ermöglichen. Von den ersten Kontakten, die Dominikus mit der römischen Kurie aufnahm, bis zu der von Benedikt XII. initiierten Studienreform waren es die mittelalterlichen Päpste, die nicht nur die Mendikanten, sondern auch Eremiten, Bußbrüder und Verfechter der apostolischen Armut in den Dienst der Seelsorge und Kirchenpolitik stellen wollten, sie gegenüber dem Weltklerus stärkten, ihnen trotz des Widerstandes der Magister aus dem Weltklerus den Zugang zu den Universitäten ermöglichten, interne Widersprüche beseitigten und 1274 so weit gingen, von den nach 1215 entstandenen Bettelorden nur denen ein Uberleben zu gestatten, die ihre Utilitas für die Kirche und die Gläubige durch das Engagement in Studium und Seelsorge bewiesen hatten.
VII. Stellt man so pointiert die Zweckrationalität der mendikantischen Studienorganisation dem Mangel an Steuerung im allgemeinen Universitätswesen gegenüber, ja geht man so weit, in bestimmten Zeiträumen einen Vorsprung des mendikantischen Studiensystems vor der Universität zu postulieren, dann drängt sich die Frage auf, wie sich das Verhältnis der beiden Institutionen in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, also nach einer Reihe erfolgreicher Universitätsgründungen, darstellte. Eine Antwort auf diese Frage gibt der Augustiner-Eremit Johannes Schiphower aus Meppen im Emsland, der nach längerem Studium in Bologna den Doktorgrad erworben hatte und danach als Terminarius in Oldenburg lebte, wo er - weil ihm offenbar nichts anderes übrigblieb - zum Historiker der Grafen von Oldenburg wurde. In seinem Chronicon Archicomitum Oldenburgensium reitet er heftige Attacken gegen die miserrimi sacerdotes, die kein Wort Latein verstehen, aber dennoch den mit Eifer und Sachkenntnis das Officium praedicationis ausübenden Mendikanten das Leben schwer machen. Was in seinen Invektiven zum Ausdruck kommt, ist die Spannung zwischen Mendikanten und Weltklerus, die keineswegs im 13. und 14. Jahrhundert beigelegt worden war, sondern auch noch im ausgehenden Mittelalter das Verhältnis zwischen Säkular- und Ordensklerus belastete. Wenn man auf Zwischentöne achtet, lassen die Äußerungen Schiphowers jedoch noch mehr erkennen. Der in Italien ausgebildete und für seine Tätigkeit als Terminarius überqualifizierte Magister litt offenbar darunter, die Mißachtung des Weltklerus ertragen zu müsssen, ja von ihm und anderen Kritikern mit
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Wegelagerern und Tagedieben in einen Topf geworfen zu werden. Aber damit nicht genug. Er empörte sich auch über die Laien, die sich über die Studierten und Gelehrten erhöben, ja die antiken Autoren höher einschätzen als die Kirchenväter, sowie über diejenigen Observanten und Devoten, die Theologie und Scholastik als überflüssig ansahen. Sein Ärger hat, wir deuteten es an, persönliche Gründe. Er fühlt sich aber keineswegs nur persönlich von den studierten Laien, den Humanisten, Observanten und Fraterherren in den Hintergrund gedrängt und u m das auf scholastischer Gelehrsamkeit gegründete Prestige gebracht. Das im 13. und 14. Jahrhundert blühende Studiensystem der Mendikanten hatte, was er spürte, als ganzes an Bedeutung verloren und verfügte längst nicht mehr über das ursprüngliche Ansehen. Man braucht nur an die Streitigkeiten zu erinnern, die Artisten und Mendikanten in Heidelberg, Leipzig und Erfurt austrugen, und auf die Kritik hinzuweisen, die Gerson, Wimpfeling und andere Vertreter des Reformklerus an den Mendikanten übten, von den Vorreformatoren und den Reformatoren ganz zu schweigen. Qualitäts- und Bedeutungsverlust waren aber nicht erst im 15. Jahrhundert eingetreten. Schon Albertino Mussato, Collucio Salutati und Poggio Bracciolini hatten die Mendikanten in Bausch und Bogen als rüdes et inculti aselli bipedales abgetan, Gert Grote mit ihnen und ihren Spitzfindigkeiten abgerechnet und Katharina von Siena an den eigentlichen Sinn des Studiums erinnern müssen. Solche Kritik, böswillig oder wohlmeinend, fand Entsprechung in den O r d e n selbst: bei den Franziskanerspiritualen und Observanten, bei den Dominikanern, Augustiner-Eremiten und Karmeliten. Heinrich von Friemar, Jordan von Sachsen und Gottfried Hardeby erinnerten die AugustinerEremiten an die Ursprünge ihres Ordens, an die Weisheit der Fischer und an die Weitabgewandtheit der Wüstenväter. Bei den Karmeliten wurde die prophetische Weisheit des Elias der durch das Studium erlangten Gelehrsamkeit gegenübergestellt und, wie es Battista Mantuano augenfällig macht, im Rückgriff auf Bibelstudium und Kirchenväterliteratur Quellen erschlossen, die für den die Scholastik in den Hintergrund drängenden christlichen Humanismus wichtig wurden. Solche Kritik an Studium und Studiensystem der Mendikanten war - das wissen wir - im Spätmittelalter weit verbreitet. Sie verstärkte sich im Zeitalter der Renaissance und Aufklärung und hat zu der lange vorherrschenden Ansicht geführt, Studium und Studiensystem der Bettelorden hätten spätestens im 15. Jahrhundert völlig daniedergelegen und ihre ursprüngliche Bedeutung verloren. Diese lange vorherrschende Auffassung ist in den letzten Jahren erheblich revidiert worden. Man weiß inzwischen, daß von einem schroffen Antagonismus zwischen Humanismus und Scholastik, Bettelmönchen und Humanisten nicht die Rede sein kann, und konnte deutlich machen, daß die Verbindungen zwischen den Mendikanten und den Devoten enger waren als man lange meinte. Spätmittelalter und Refor-
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mationsforschung haben herausgestellt, welche Bedeutung die theologischen Schulen und wissenschaftlichen Einrichtungen der Bettelorden für die Theologie und Philosophie des Spätmittelalters, die Vorgeschichte und Durchsetzung der Reformation, aber auch für die Auseinandersetzungen zwischen den Alt- und Neugläubigen hatten. Die Klage des von Bologna nach Oldenburg verschlagenen Magisters und die daraus gezogenen Schlüsse waren dennoch nicht unberechtigt oder gar falsch. Wenn Schiphower darauf hinweist, daß man in Italien die gelehrten Bettelordensleute höher achte als diesseits der Alpen, hat das seinen Grund darin, daß dort die Theologischen Fakultäten so gut wie ausschließlich aus dem Zusammenschluß von Studio, generalia der Bettelorden hervorgegangen waren. In Bologna, der Alma Mater Schiphowers, waren denn auch von den 447 zwischen 1369 und 1500 nachweisbaren Theologieprofessoren nur 24 Weltpriester, 419 hingegen Mendikanten und lediglich 4 Mönche - was bedeutete, daß in Bologna wie an den anderen italienischen, südfranzösischen und spanischen Universitäten die Mendikanten ungestört unterrichten und ihre Ordenstheologie bis in die Neuzeit vertreten konnten. Auch wenn in Deutschland die Professoren und Studenten, die Gebäude und Bibliotheken und nicht zuletzt die Schultheologien der Mendikanten für die Universität von Bedeutung blieben, verloren ihr Studiensystem und ihre Studia generalia zunehmend an Profil und Einfluß. Sie waren im Reich nicht wie in Italien in Besitz eines Monopols. Ihre Magister bildeten hier zusammen mit Kollegen aus dem Säkularklerus und anderen Orden die Theologischen Fakultäten. Ihr Magisterium blieb ein Magisterium der Theologie, in der immer mehr an Bedeutung gewinnenden Artistenfakultät waren sie fast so wenig wie in den Fakultäten der Juristen und Mediziner präsent. Die Zahl ihrer jüngeren Mitbrüder, die sich nicht mehr in Konvent- und Partikularschulen, sondern in der Artistenfakultät für das Theologiestudium und die Erlangung theologischer Grade vorbereiteten oder vorbereitet hatten, nahm immer mehr zu - was sicherlich nicht für die Homogenität der Ordenstheologie und die Geschlossenheit des Schulsystems von Nutzen war und den Schluß nahe legte, daß die Ordensdisziplin nicht mehr hinreichte, eine in Philosophie und Theologie festgefügte »Ordensschule« zu bilden, wenn dies - so muß man hinzufügen - angesichts einer sich zunehmend auf Erbauung und Lebenspraxis ausrichtende Theologie überhaupt noch möglich gewesen wäre.
VII. Als es im 16. Jahrhundert darum ging, gegenüber den Reformatoren die altgläubigen Positionen zu vertreten, als man den Bildungsstand der Kleriker heben und die Laien im alten Glauben bewahren oder für ihn zurück-
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gewinnen wollte, war das primär zur Ausbildung des eigenen Nachwuchses entwickelte mittelalterliche Studiensystem der Orden - nach allem was wir wissen, und das ist nicht viel - in seinem Spätstadium allein dazu nicht mehr in der Lage. Es wurden daher neue Orden geschaffen und andere Studienkonzepte entwickelt, die erfolgreicher waren als die des Mittelalters. Das war in erster Linie die auf Ignatius von Loyola zurückgehende und von seinen Nachfolgern weiterentwickelte Ratio studiorum, die, wie es schon bei der im 13. Jahrhundert aufgestellte Studienordnung der Dominikaner der Fall gewesen war, bald auch von anderen Orden übernommen wurde. Sie schreibt einen Weg vor, den die Bettelorden nicht gehen wollten und konnten, den die Fraterherren und Regularkleriker tastend gesucht hatten: den "Weg nämlich zu einem einheitlich konzipierten und systematisch aufgebauten Schul- und Bildungswesen, das nicht wie das der Mendikanten in erster Linie zur Ausbildung der eigenen Ordensleute diente, sondern sich die Erziehung, Ausbildung und geistliche Formung von Laien und Klerikern zur Aufgabe machte, mit ihm aber die Tendenz gemeinsam hatte, nicht nur den sekundären, sondern auch den tertiären Bildungsbereich in ihr System einzubeziehen und im eigenen Sinne zu prägen, wofür die für die weitere Entwicklung des höheren Bildungswesens im deutschsprachigen Räume so wichtigen Jesuitenkollegien in Wien, Prag, Ingolstadt, Köln, Mainz, Freiburg und Dillingen den besten Beweis liefern.
VIII. Das Studiensystem der Mendikanten - eine »andere«, vielleicht sogar eine bessere Universität? Das Studienwesen der Bettelorden und später die Ratio studiorum der Jesuiten beeindrucken durch Konsequenz und Systematik. Das sichere Gefühl für die Wahl des richtigen Standortes, die Flexibilität bei der Schwerpunktbildung, die Mobilität beim Einsatz des Lehrpersonals, die Zweckmäßigkeit des Bibliotheksystems, die Sorgfalt bei der Rekrutierung der Studenten und die Strenge bei ihrer Ausbildung, der hohe Anspruch an das wissenschaftliche Personal, alles das entspricht den heute an die Universität gestellten Anforderungen. Aber dennoch, auf die Dauer vermochten sich weder das mendikantische noch das jesuitische System durchzusetzen. Vor, neben und nach den Universitäten entstanden, blieben sie dann nur vorübergehende Erscheinungen, wenn es ihnen nicht gelang, den Status von Universitäten zu erlangen. Soweit sie heute noch existieren, führen sie eine Randexistenz, haben sie sich, soweit dies möglich ist, den akademischen Organisationsformen, Traditionen und Prinzipien angepaßt. Die Universität hingegen existiert trotz aller Metamorphosen, die sie durchlaufen hat, auch heute noch. Ihre mehr oder minder nachdrücklich behauptete Autonomie, die größere intellektuelle Freiheit, die soziale O f -
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fenheit, das weite S p e k t r u m in Lehre u n d F o r s c h u n g u n d schließlich der Wille u n d die Fähigkeit, auf die sich w a n d e l n d e n H e r a u s f o r d e r u n g e n der Welt u n d Gesellschaft zu reagieren, w a r e n o f f e n b a r bei aller Schwerfälligkeit, Planlosigkeit u n d Anfälligkeit f ü r N i v e a u s c h w a n k u n g e n bessere G a ranten f ü r Erfolg u n d D a u e r als zentrale Steuerung, rationelle Erschließung v o n Resourcen, strenge Selektion des N a c h w u c h s e s , harte Disziplin u n d scharfe Kontrollen s o w o h l der L e h r e n d e n als auch der Lernenden.
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P E T E R Μ О RAW
Prag Die älteste Universität in Mitteleuropa
I. Erst an siebenter Stelle des Gesamtthemas »Stätten des Geistes. Innovation und Tradition in der Geschichte der europäischen Universität« ist von der Mitte Europas die Rede. Dieser Tatbestand allein macht klar, daß Deutschland oder Mitteleuropa irgendwo auf dem langen Weg, bestimmt nicht am Anfang der Geschichte jener Stätten aufzufinden ist. Warum das so war und was das bedeutet hat, wird das Thema dieses Beitrags sein. Das wissenschaftliche Erinnern an eine bestimmte »Stätte des Geistes« vollzieht sich nicht an und für sich. Es ist Teilstück des den Historiker ebenso faszinierenden wie für ihn problematischen Dialogs jeweils seiner Gegenwart mit der entfernten Vergangenheit - eines das geschichtliche Wissen stets verändernden Dialogs, der nie aufhört, solange es Historiker gibt. In unserem Wissen gerade vom älteren deutschen und mitteleuropäischen Bildungswesen haben sich in jüngster Zeit beträchtliche Wandlungen vollzogen. Die 1998 eingehend gefeierte 650. Wiederkehr des Gründungsdatums der ersten Universität im nordalpinen Reich, in Prag im Jahr 1348, sagt uns anderes, auf bessere Information Gegründetes, aber auch mit anderen Kriterien Betrachtetes, als frühere Generationen registriert haben. Es könnte an dieser oder jener Stelle sogar zum Phänomen des Denkmalssturzes oder der Denkmalsbeschädigung kommen, was früher undenkbar gewesen wäre. Zwei Änderungen sind wohl am wichtigsten: die Neubewertung des späten Mittelalters insgesamt (nun ein Kernbereich europäischer Geschichte statt einer Phase der Verlegenheit) und das - immer noch andauernde - Bemühen, die spezielle, lokale Geschichte der lokalen Spezialisten zu domestizieren und die Vergangenheit grundsätzlich großräumig-übergreifend zu verstehen. Das gilt auch und gerade für die Universitäten. Es wird kaum je möglich sein, alle Aspekte darzulegen, die vom Titelthema dieses Beitrags evoziert werden. Dafür sorgen neben der Begrenzung des Umfangs die Ungleichheit des Forschungsstandes und das gewichten-
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de Interesse des Beitragenden. Vom »Geist« in jenem Sinn, an den die Überschrift des ganzen Bandes denken lassen mag, wohl vom vorwärtsdrängenden Forschergeist der Moderne, kann obendrein nicht gut als von einem gleichsam zeitlosen Phänomen gesprochen werden. Mit alledem sei gesagt, daß für das 14. und 15. Jahrhundert, die uns heute angehen, institutionsgeschichtliche und sozialgeschichtliche Tatbestände stärker akzentuiert werden als die Produkte des zeitgenössischen gelehrten Wissens. Denn abgesehen von der Tätigkeit des einen oder anderen modernen Spezialisten, die indessen wenig darüber publiziert haben, ist das handschriftliche disziplinengeschichtliche Material von Prager Professoren und Studenten des Mittelalters ein noch ungehobener Schatz für kommende Wissenschaftlergenerationen. Aber auch ganz unabhängig davon scheint es Phasen der Universitäts- und Bildungsgeschichte zu geben, in denen wenigstens für bestimmte Räume wissenschafts-organisatorische und wissenschafts-soziale Mitteilungen wichtiger sein mögen als wissenschaftsgeschichtliche im strengsten Sinn. Demgemäß wird an dieser Stelle von drei Fragen die Rede sein: 1.: Warum entstand überhaupt eine Universität in Prag und warum gerade im Jahr 1348? 2.: Was bedeutete und bewirkte diese Universität an ihrem O r t in der - kurzen - Zeit ihrer relevanten Existenz? und 3.: Welche Folgen dieser Existenz für die damalige Gegenwart und Zukunft sind zu konstatieren?
II. Warum entstand überhaupt eine Universität in Prag und warum gerade im Jahr 1348? Wir sollten uns, um für die Gesamtsituation einen Anfang zu finden, an die Beiträge von Peter Landau und Joachim Ehlers erinnern und damit an Bologna und Paris, hierdurch auch an das 12. Jahrhundert und an die Zeit um 1200, sodann erinnern ebenfalls an ganz Oberitalien und ganz N o r d frankreich sowie schließlich - besser noch an erster Stelle statt wie hier an letzter - daran erinnern, was das mittelalterliche lateinische Europa, unser Europa, der mittelmeerischen Antike verdankt. Stichworte hierfür bieten die Fundamentaltatsachen des Christentums und der Schriftlichkeit, die Lebensform der Stadt, besonders der wirklich Urbanen Stadt, die Lebensform der organisierten Kirche, die Lebensform der entwickelten oder sich wiederentwickelnden Wirtschaft mit dem Medium des Geldes, insgesamt und überhaupt das inspirierende Zusammenleben und Zusammenwirken vieler auf engem Raum. Wir wollen hier nicht untersuchen, was unmittelbares und was mittelbares Erbe, was angeregte Neuschöpfung und wirkliche Neuschöpfung war. Gewiß aber und sehr auffällig ist der Tatbestand,
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daß von allen diesen genannten Phänomenen im Mittelalter früher, intensiver und quantitativ ansehnlicher dort zu sprechen ist, wo jenes Wirken der Antike oder die Erinnerung daran räumlich nahe stand, und daß deutlich schwächer, später und quantitativ bescheidener dort von jenen Phänomenen die Rede sein wird, wo die Antike räumlich fern war. Demgemäß unterscheiden wir gern - mit wandernder Grenze zwischen beiden - ein »Älteres Europa« und ein »Jüngeres Europa« voneinander, im Hinblick also auf die gerade erwähnten Tatsachen der mittelalterlich-frühneuzeitlichen Zivilisationsgeschichte des Kontinents. Die Geschichte der europäischen Universität scheint hierfür ein klassischer Fall zu sein. Diese Sicht der Dinge erlaubt es auch, andere Faktoren als jene entwicklungsgeschichtlichen leichter zu identifizieren und zu bewerten. In den beiden erwähnten Beiträgen ist davon zu lesen, daß mancherlei Erstaunliches, zuletzt nur individuell Erklärbares in Bologna und Paris und anderswo nicht weit davon entfernt vor sich gegangen ist. Man erfährt auch von in höherem Maß »Objektivierbarem«, das heißt von den Trägergruppen und von den sozialen Voraussetzungen der Lehrenden und Lernenden und von ihren Lebenszielen. Man sollte sich daran vor allem unter dem Aspekt erinnern, daß sich zwei einigermaßen sinnvoll abgrenzbare und verständliche Lebenswelten in Oberitalien und Südfrankreich und in Teilen Spaniens einerseits und in Nordfrankreich, Südengland und auch am Niederrhein andererseits herausgebildet hatten, als Rahmenbedingungen jener Anfänge unseres ganzen großen Themas im mittelalterlichen Europa. Es kommt uns auf zwei Tatbestände aus diesen komplexen Zusammenhängen besonders an. 1.: Die beiden Lebenswelten waren in ihrer konkreten Ausgestaltung zumeist voneinander grundverschieden. 2.: Gemeinsam war ihnen jedoch jene Intensität oder »Modernität«, die beide Welten zusammen deutlich abhebt von den weniger intensiven oder weniger »modernen« Lebenswelten des »Jüngeren Europa« - ungeachtet mancher Zwischenzonen und Übergänge. Zum Beispiel: Wenn man irgendwo von einem Phänomen, das dem modernen akademischen Arbeitsmarkt ähnelt, sprechen kann, dann in den großen oberitalienischen Städten im Hinblick auf deren juridifiziertes kommunales Leben im späteren Mittelalter. Es scheint daher ziemlich klar (soweit dergleichen überhaupt klar sein kann), warum die einheimischen Rechtsstudenten dieses Fach studierten. Weniger klar ist solches in und für Paris mit seinem philosophisch-theologischem Schwerpunkt, da doch die Kirche schwerlich alle Besucher dieses Studiums aufnehmen konnte. Das bietet Gelegenheit, wenigstens in einem Satz darauf hinzuweisen, daß ungeachtet des säkularen Klimas italienischer Rechtsschulen das Entstehen und vor allem das Bestehenbleiben der Universitäten Europas insgesamt ohne den Rückhalt der Papstkirche nicht denkbar erscheint. Das aufregende Phänomen zum Beispiel, daß die akade-
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mischen Grade, die zunächst der Selbstrekrutierung innerhalb des Studiums dienten, über die Universitäten hinaus immer mehr Geltung gewannen, ist kaum vorstellbar ohne den Rückhalt der Kirche, ganz einfach dadurch, daß die »Akademiker« in ihr immer mehr an Gewicht gewannen. In Italien und in Frankreich waren wohl von Anfang an mitteleuropäische, insbesondere deutsche Studenten anwesend, aus denen dann auch deutsche Lehrer hervorgegangen sind. Zuvor ist noch zu sagen: Mit der Verschiedenheit der Lebenswelten von Bologna und Paris sind auch die sozialen Unterschiede der Beteiligten gemeint. Ein Jurastudent in Italien war im Durchschnitt, besonders auch was die Zugereisten betraf, deutlich ranghöher als ein Student der Pariser »Artes«, nach familiärem oder pfründentechnischem Hintergrund oder in beiden Aspekten. Oft war er auch voraus, was das Lebensalter betraf. Die Juristen scheinen beinahe - durchschnittlich - ein soziales Stockwerk höher beheimatet gewesen zu sein als die »Artisten«. Die Geographie Europas kommt nun dergestalt ins Spiel, daß die Mitte des Kontinents von beiden benannten Aktionszentren auf den ersten Blick ungefähr gleich weit entfernt war. Die Geographie Deutschlands, eines damals noch sehr ausgedehnten Landes, wurde und blieb insofern dabei wichtig, als der gut entwickelte rheinische Westen näher bei Frankreich lag und der beinahe ebenso entfaltete oberdeutsche Süden und Südwesten näher bei Italien. Ja, man sollte in dieser Hinsicht immer weniger mit Hilfe von Außengrenzen denken, sondern lieber in übergreifenden Räumen derart, daß wir Oberitalien und Oberdeutschland ungeachtet, aber unter Berücksichtigung des Süd-Nord-Gefälles zusammenfassen und uns ferner einen nordwesteuropäischen Verkehrsraum einschließlich des Rheinlands vor Augen halten, der eine zweite Großregion auch für das Bildungswesen darstellte. Der Grenzsaum zwischen dem »Älteren« und dem »Jüngeren Europa« hatte damals den Rhein schon verlassen und befand sich auf seinem langsamen Weg nach Osten; im Süden war das Voralpen- und Alpengebiet, besonders auch das zugleich dem Westen nahe heute schweizerische, zu einem Übergangsraum geworden. Das damalige ausgedehnte, mehrsprachige Deutschland darf jedenfalls auf keinen Fall einheitlich betrachtet werden, gerade auch nicht im Hinblick auf unser Thema. Immer war es ein Stück des deutschen Schicksals in älterer Zeit, daß jener europäische Grenzsaum, von dem wir sprachen, mitten durch unser Land verlief. Schon zwischen Weser und Elbe war deutlich weniger an zivilisatorischer Substanz vorhanden als beiderseits des Rheins, das heißt geringere Bevölkerungsdichte, weniger große Städte, weniger Kirchenpfründen, weniger Juden usw., und erst recht dann östlich der Elbe. Wir sehen also, wieviel man zu erklären, hier eher anzudeuten versuchen muß, ehe man sinnvoll vom Prager Datum von 1348 sprechen kann, oder wie wenig einleuchtend isolierte Universitätsgeschichte erscheint.
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Wir kommen nun endlich zu diesem Datum. Hierzu stellen wir eingangs fest: Wenn allein jene Faktoren, von denen bisher die Rede war, uneingeschränkt und konkurrenzlos gewirkt hätten und damit das Geschäft des Historikers wesentlich einfacher gestalten würden, als es tatsächlich ist, dann wäre wohl die erste deutsche Universität in Köln entstanden. Köln, die größte deutsche Stadt des Mittelalters, verkehrsgeographisch ein Spiegelbild von London als Teil der nordwesteuropäischen Führungslandschaft, gehörte von Anfang an zum »Älteren Europa«, auch wenn es niemals im Mittelalter so groß wurde, wie das römische Trier der Spätantike schon gewesen war. Albertus Magnus hatte im 13. Jahrhundert am Generalstudium der Dominikaner in Köln gelehrt, und Thomas von Aquin hatte zu seinen Füßen gesessen. Einen glanzvolleren Auftakt für eine Universität kann man sich kaum vorstellen. N u n aber kamen andere Faktoren ins Spiel. Das Kölner Domkapitel war hochadelig, hochfeudal, und die feudale deutsche Kirche war ganz im allgemeinen nicht recht bildungsfreundlich, im Vergleich jedenfalls zur französischen. Die politischen Kräfte am Niederrhein waren zersplittert und so gut wie stets der zentralen Gewalt des Königtums gegenüber gleichgültig oder ablehnend. So kam es zu jener Verspätung, die erst 1388 die Gründung einer Universität in Köln zugelassen hat. Andere mußten im eigenen Land vorangehen. Wir weisen allerdings schon hier darauf hin, daß der zeitliche Abstand zu 1348 in Wirklichkeit wesentlich geringer war, als die Daten arithmetisch betrachtet anzugeben scheinen. Man darf überhaupt mit Gründungsterminen nicht »naiv« umgehen. Wir werden gleich hören, wie lange Zeit die Prager Universität, wenn man sie »entmythologisiert« betrachtet, gebraucht hat, um voll funktionierend in die Welt zu treten: fast zwanzig Jahre oder gar mehr. Im Jahr 1388 fand am Rhein ein quantitativ und wohl auch qualitativ weit überlegener Akt statt. Die Kölner »Gründungsmannschaft« nämlich war größer als alle vorherigen »Gründungsmannschaften« zusammengenommen, außerdem höherrangig graduiert und brachte damit die demographische, ökonomische und organisatorische Überlegenheit des Niederrheins über das restliche nordalpine Reich klar zum Ausdruck. Wir wollen bei dieser Gelegenheit sagen, daß man - ohne den entsprechenden Anstalten die Chance »pünktlichen« Feierns nehmen zu wollen den faktischen Anfang der Universität in Wien besser nicht 1365, sondern 1384 datieren sollte, daß die Rupertina in Heidelberg (1386) geradezu eine Zwergin gewesen ist und daß man das angebliche Gründungsdatum von Krakau (1364) so rasch wie möglich zugunsten von 1400 streichen müßte. Es sollte wenigstens unter Wissenschaftlern um Maßstabsgleichheit, nicht um patriotische Etiketten gehen. Die maßgebliche Gestaltungskraft von 1348 in Prag, nach der man suchen muß, war die große Dynastie, die Dynastie des Königs und bald des Kaisers, sehr gestützt durch die erstaunliche und einmalige Individualität
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Kaiser Karls IV. aus dem linksrheinischen Haus Luxemburg, der bekanntlich ein Kenner Frankreichs und Italiens und ein Intellektueller gewesen ist, auch ein Autor von Rang, und der sich im Bündnis mit dem Papst befand. Aber auch die große Dynastie besaß nur beschränkte Gestaltungskraft, wie nun einmal die Rahmenbedingungen von damals beschaffen waren. Geformt wurden von der Dynastie kaum Tatbestände in Deutschland oder in Böhmen als ganzem, sondern fast allein völlig Punktuelles eben in Prag. Schwerlich ist die Carolina, wie sie später hieß, zunächst ganz anders zu begreifen als die lokal gemeinte Karlsbrücke über die Moldau, die erst sekundär auf ein weiter gedehntes Straßennetz verwies, oder als die Errichtung des Erzbistums Prag im damals entstehenden Veitsdom. Schon ein paar Dutzend Kilometer von Prag entfernt mochte die Praxis anders beschaffen gewesen sein. In dieser Hinsicht war der Platz Prag gewiß ein ereignisgeschichtlicher »Zufall«. Denn könnte man sich nur Ludwig den Bayern, den Vorgänger Karls, als Universitätsgründer vorstellen, so wäre dessen Handeln gewiß dem Ruhm Münchens, seiner Hauptresidenz, zugute gekommen, und Marsilius von Padua, Wilhelm von Ockham und andere »Münchener« hätten dafür einen den heutigen Historiker überzeugenden Rahmen geboten. Aber Kaiser Ludwig sagte man nach, er habe nicht lesen und schreiben können, sein Erfahrungsraum war eng, und er war mit dem Papst tödlich verfeindet. Wie dem auch gewesen war oder hätte sein können, die deutsche Universität blieb verspätet gegenüber dem Süden und dem Westen Europas und zwar insgesamt um mindestens 150 Jahre. Daraus dürfen wir den Schluß ziehen, daß die allgemeine zivilisatorische Entfaltung des Kontinents wirklich ein entscheidender Faktor gewesen ist, der von anderen Faktoren, wie vom Faktor der Beschaffenheit des dynastischen Handelns, nicht allzuviel hat abgewandelt werden können. Immerhin teilt das dynastische Element einen sehr wesentlichen Tatbestand mit: Während die ältesten italienischen und französischen Universitäten ohne festes Gründungsdatum gleichsam aus dem umgebenden Wurzelgrund emporgesprossen sind und nur haben bestätigt und gefördert, geordnet, kontrolliert und domestiziert werden müssen, wurden die H o h e n Schulen des »Jüngeren Europa« regelhaft eingepflanzt. Mit solchen obrigkeitlichen Strukturen korrespondierte das Bedürfnis nach Legitimierung durch höchstrangige Privilegien, durch das Handeln von Papst und Kaiser. Dieser Wesenszug ist bis zum Ende des Alten Reiches charakteristisch geblieben. Auch die frühneuzeitlichen Universitäten wurden privilegienhaft errichtet, selbst lutherische Anstalten durch den katholischen Kaiser, während kalvinistische Institutionen keine derartige U r k u n d e erhielten und daher auf den Charakter einer Universität haben verzichten müssen. Ohne ein solches Privileg konnte bei uns nicht rechtmäßig graduiert werden. Über die Frage, wieviele Universitäten im Jahr 1347 bereits bestanden
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haben, könnten die Meinungen ein wenig auseinandergehen. Es kommt auf den Gesichtspunkt an. Zählt man, was für uns wesentlich ist, nur die blühenden und funktionierenden Anstalten, so waren es siebzehn, fünf in Italien, je vier in Südfrankreich und Iberien, je zwei in Nordfrankreich und England. Worauf es entscheidend ankommt, ist dieses Faktum: In jenem weiten Gebiet, das wir das »Jüngere Europa« nennen, gab es noch keine einzige Universität, keine also in Mitteleuropa und keine in Ost- oder Nordeuropa. Die Prager Carolina ist demnach nicht nur die älteste mitteleuropäische oder deutsche Universität, sondern auch die älteste Universität in jener benachteiligten Hälfte des lateinischen Kontinents. Lassen Sie ups noch nachtragen, daß im Todesjahr der alten Carolina, im Jahr 1417/1419 nach ihrem Siechtum seit 1409, in ganz Europa 34 Universitäten bestanden haben, die nach unserem Urteil wirklich funktionierten, davon inzwischen sechs im nordalpinen Reich (schon ohne Prag berechnet). Es handelt sich nun um die für den Historiker spannende Frage, inwiefern und wie sich in ungewohnten Milieus, weitab von den beiden Führungsräumen des lateinischen Europa, solch zarte und empfindliche Gebilde ausgefaltet haben und wie sich ihre Geschichte - hier im konkreten Fall von Prag - dargestellt hat. Das Maß des Selbstverständlichen und gleichsam Naturgegebenen also, das ist wohl eine Quintessenz des bisher Angeführten, werde reduziert zugunsten eines eher sorgenvollen Blicks auf etwas in fremde Erde Umgetopftes. Das präzise Datum dieser Umtopfung ist einzuordnen in jene Reihe von Gunstbeweisen, die der Papst, Todfeind des Kaisers im Endkampf gegen Ludwig den Bayern, demjenigen dienstwilligen dynastischen Rivalen hat eilig zukommen lassen, der bereit war, gegen den Wittelsbacher in diesem Endkampf anzutreten. Daher stammt die Erhebung des Prager Bistums zur Metropole 1344 und seine Herauslösung aus der Mainzer Kirchenprovinz, daher kamen unterschiedliche Gnaden für Karls Höflinge, daher rührte auch das Universitätsprivileg (1347). Dieses war sehr großzügig, vor allem angesichts der päpstlicherseits sonst fast regelmäßig verweigerten Theologischen Fakultät (im Hinblick auf die Sorgen, die gerade die Pariser Theologen der Kurie fast pausenlos bereiteten). Der Papst war so in Geberlaune, daß man unter Berücksichtigung der Tatsache, daß mehr als die Hälfte der Gründungen des 14. Jahrhunderts gescheitert sind, sagen darf: Es ist durchaus denkbar, ja wahrscheinlich, daß man in Avignon mit einem Mißlingen rechnete, so daß es bei einem Teilstück wenig folgenreicher Bündnispolitik hätte verbleiben können. Aber es kam anders. Man sollte, ehe wir mit dieser Feststellung zur zweiten Hauptfrage übergehen, noch mit wenigen Worten darüber Auskunft geben, wie es neben den Urbanen um die bildungstechnischen Voraussetzungen um 1350 in Deutschland stand. Es gab hier eine Anzahl von - nach europäischem Maßstab mittelgroßen - Städten, in denen für uns positive Merkmale auf-
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gewiesen werden können, wenn auch ganz gewiß nirgends derart, daß man an die Möglichkeit der spontanen Entstehung einer Universität denken dürfte. Städtische Gründungsinitiativen, die bei uns ebenfalls obrigkeitliche, nur eben nichtdynastische Akte gewesen sind, haben dynastische Vorbilder in der Nähe abgewartet. Relativ am weitesten verbreitet, vor allem in Erfurt, Köln, Magdeburg, Prag und Wien, waren Generalstudien der Bettelorden, besonders der Dominikaner, Franziskaner und Augustinereremiten. Sie bildeten für den internen Ordensbedarf ohne Graduierungsrecht und mit geringer Gesamtzahl Studenten in Philosophie und Theologie heran, wie es am Beispiel von Albert und Thomas für Köln schon erwähnt worden ist. Bettelordensklöster und Bettelordensstudien waren angesichts der geringen ökonomischen Masse, die dafür jeweils akkumuliert und stabilisiert werden mußte, gleichsam Leichtgewichte und konnten daher gemäß den Ordensstrukturen relativ großzügig über Europa verteilt werden. Bemerkenswert darüber hinaus sind gewiß die Studien in Erfurt, die sich - wenngleich nur für das Artistenwesen - in ganz ungewöhnlicher Breite darstellen. Erfurt war eine auswärtige Kurmainzer Bastion mit wenn man so sagen darf - rheinischen Eigenschaften. Dort schien man noch in den 1360er Jahren dem Prager Artistenstudium überlegen zu sein, und andere Studien von Rang gab es damals in Prag noch kaum. Doch führte auch von Erfurt kein autochthon und spontan beschrittener Weg hin zu einer Universität. Es mußte vielmehr, endgültig 1392, der Prager Privilegienpfad beschritten werden und Prager Lehrer mußten angelockt werden, damit in Erfurt eine »richtige« Hohe Schule entstand.
III. Die zweite Hauptfrage lautet: Was bedeutete und bewirkte das Prager Studium an seinem Ort in der - kurzen - Zeit seiner für die allgemeine Geschichte registrierenswerten Existenz? Wir wollen zunächst zur schlecht bezeugten Frühgeschichte einige Tatbestände formulieren, die immer noch verhältnismäßig ungewohnt klingen und in ihrer Rezeption erst auf dem Weg sind, aus dem einfachen Grund, daß sie wohl mit Denkmalsbeschädigung zu tun haben. Es geht realiter um die konsequente Anwendung von Regeln der Quellenkritik, die bisher hin und wieder gegenüber der Carolina suspendiert worden sind. Wir heben sechs Tatbestände hervor. 1. Die schlechte Überlieferung am Ort der ersten Anfänge, die je nach Fakultät bis 1365 und 1371/72 reichen, kann nicht anders denn als Ausdruck einer vorerst geringen oder sehr geringen Bedeutung der Anstalt begriffen werden. Fast alles, was wir zeitgenössisch anderswoher über Prag wissen, bestätigt diese Auffassung.
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2. Ohne Zweifel hat der Kaiser selbst etwas von Universitäten verstanden. Man darf schon eine Äußerung in seiner Autobiographie so deuten. Doch angesichts des gewaltigen sozialen Abstands seiner geheiligten Person zu den Lehrenden und Lernenden hat er sich um Details, jedenfalls zunächst, nicht gekümmert. Diese überließ er seinen Vertrauensleuten an der Prager Domkirche, zuerst dem Erzbischof, so daß die Carolina vorerst beinahe wie dessen Eigentum erscheint. Es ist bezeichnend, daß man von als persönlich aufzufassenden Initiativen Karls in Richtung auf das Studium konkret erst hört, als der Eifer seines habsburgischen Schwiegersohns ans Licht trat. Herzog Rudolf von Österreich war von glühendem dynastischem Konkurrenzneid erfüllt und brachte - wieder als eines unter mehreren Mitteln des Wettbewerbs - eine Universität in Wien auf den Weg, im schon erwähnten Jahr 1365. Nun begann auch Karl selbst in Prag zu investieren. 3. Erst seit einigen Jahren ist uns bewußt, was angesichts der neuen Gründung von 1348 die spannendste Frage sein dürfte, spannender als das noch einige Zeit recht anachronistische Problem des deutschen oder tschechischen Charakters der Carolina; diese Frage wuchs zeitgenössisch erst nach und nach und aus sekundären Motiven heran. Die wahre Kardinalfrage lautet: Sollte man Bologna oder sollte man Paris kopieren, die beide im Prager Gründungsprivileg genannt werden, aber eben abstrakt, ohne Bezug zur prosaischen Realität weit unterhalb von Papst und Kaiser. Wir wissen schon, daß beide Modelle unvereinbar gewesen sind, so als ob man ein Haus mit zwei Stockwerken, die bestenfalls durch eine enge Treppe verbunden waren, von weither zu einem Bungalow hätte umdeklarieren wollen. Leider sind die frühen Nachrichten wie gesagt sehr bescheiden. Sie bedürfen aufschließender Hypothesen, ehe man sie anspruchsvoll zum Reden bringen kann. Die bisher geübte einfache Nacherzählung bringt kaum Erkenntnisfortschritte. Es ist so wichtig, was man auf jene Weise herausinterpretieren kann, daß man das Ergebnis in zwei weiteren Ziffern darlegen wird. 4. Widerspruchsfrei, wenn auch zugegebenermaßen lückenhaft lassen sich alle vorliegenden zeitgenössischen Quellen so ordnen, daß von Anfang an in Prag zwei Universitäten angenommen werden können, ja angesichts der europäischen Situation um 1350 angenommen werden müssen ungeachtet des privilegialen Tatbestandes, daß nur von einem Studium die Rede ist - : eine Universität der Juristen und eine Universität der Nichtjuristen. Warum halten wir an einem Faktum fest, das zu rezipieren die tschechischen Kollegen fast bis heute so große Mühe haben? Schon wegen des höheren Interpretationsanspruchs der neuen Auffassung. Das heißt, die neue Lehre schließt mehr auf als die alte, die wie angedeutet auf einem Minimum an Reflexion beruht und seit dem 19. oder schon 18. Jahrhundert unverdrossen wiederholt wird. Dazu muß man freilich wissen, daß das Be-
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stehen von mehr als einer Universität an demselben O r t im Mittelmeerraum nichts Besonderes darstellt und daß dieser Zustand vereinbar ist mit der Privilegierung eines einzigen Studiums, wie es in Prag geschah. Denn »universitas« meint bekanntlich zunächst einfach eine Gemeinde oder Genossenschaft annähernd Gleichrangiger, mit welchem Inhalt auch immer, jedenfalls ein Gebilde relativ engen Zusammenhalts aus wohlverstandenem Interesse der Mitglieder, unter einem selbstgewählten Haupt mit Lenkungsgewalt, andere nicht annähernd Gleichrangige - hier vor allem die Städter - ausschließend. In Prag hat man sich die Dinge so vorzustellen, daß bis 1371 ein gemeinsames Rektorat zweier »Universitates« dergestalt bestand, daß in einem Jahr vom Wahlkörper und nach dem Wahlverfahren der Juristen ein Juristen-Rektor gewählt wurde und im folgenden Jahr aus dem Wahlkörper und nach dem ganz anders beschaffenen Wahlverfahren einer Dreifakultäten-Universität [des Gebildes der »Artisten« und Theologen mit dem damals geringfügigen Anhang der Mediziner] ein Angehöriger dieses Gebildes. Der Vizerektor war ein Produkt des im laufenden Jahr gerade ausgeschlossenen Verfahrens und der Gruppe, die nicht den Rektor stellte. Dies alles konnte schwerlich funktionieren. So sind auch die einzigen Universitäts-Statuten (eines Erzbischofs) aus dieser Periode eine einzige Pazifizierungsanstrengung mit dem Signum der Vergeblichkeit (1360). Seit 1372 hat es dann zwei Rektoren in zwei Universitäten nebeneinander, nun mit ununterbrochenem Rektorat je nach einem der beiden Verfahren, gegeben. Daß eine Juristenuniversität einerseits und eine Universität der Artisten und Theologen andererseits nicht beisammenbleiben konnten, jedenfalls im Probierfeld Prag nicht, läßt sich wohl am leichtesten sozialgeschichtlich verständlich machen. Ein Lehrer (Magister) der Artisten war annähernd gleichen Ranges mit einem Scholar der Juristen, ja es war in Prag durchaus üblich, daß ein solcher Magister zugleich Student in einer der drei anderen, »höheren« Fakultäten gewesen ist. Die Juristen fühlten sich den Artisten so überlegen, daß sie die Vorschule der Philosophie häufig übersprungen haben, vielmehr sich in ihren feinen Vaterfamilien durch Hauslehrer hatten einschlägig ausbilden lassen. Die Artisten waren häufig, wie schon in Paris, Emporkömmlinge aus einfachen Verhältnissen und hofften auf eine bessere Zukunft, oft durch ein späteres Weiterstudieren bei den Theologen, während die Juristen gern schon bepfründet und schon mit Kirchenämtern versehen an die Universität kamen. Das entsprach ihrem Geburtsstatus, den sie an der Universität weiterhin pflegten und der respektiert wurde, sowie ihrem durchschnittlich höheren, wohl deutlich höheren Lebensalter. Sie waren nach zeitgenössischer Prager Terminologie »domini« (Herren). Niemals wäre man bei den Artisten auf einen solchen Sprachgebrauch gekommen. Der Juristenrektor entstammte wie in Italien den (zahlenden) Scholaren, ausgewählt nach sozialem Status, und nicht den (bezahlten) Lehrern, wie bei den Prager Artisten oder wie in Paris. Erst
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später (dahin kehren wir bei unserer dritten Frage zurück) haben die engen Verhältnisse der kleinen deutschen Territorialuniversitäten - die deutschen Fürsten waren normalerweise arm an Bargeld und an Verfügungsrechten über Pfründen - beide Gruppen zusammengezwungen, die Juristen und die Nichtjuristen, unter Wehklagen der Juristen. Dies entschied sich endgültig außerhalb von Prag, als die dortige Juristenuniversität schon untergegangen war und dadurch ein tiefes Loch in die Elitenausbildung für das ganze »Jüngere Europa« gerissen hatte. In Basel hat man nach der Mitte des 15. Jahrhunderts das Prager Modell der zwei Universitäten noch einmal - vergeblich - zu erneuern versucht. 5. U m das »Denkmal« geht es auch in der 5. Ziffer und zwar um das Harmoniebedürfnis unserer Zeitgenossen und ihrer Vorgänger, eben indem sie Einheit und Kontinuität der Prager Universität andächtig betrachteten. Schon daß es zwei Universitäten gegeben habe, war schwer erträglich. Auf der vorhin erwähnten Prager Jubiläumsfeier von 1998 trat das Faktum hinzu, daß auch das unzählige Male reproduzierte und bis heute repräsentativ verwendete älteste Prager Universitätssiegel (nach Meinung der Kunsthistoriker schon um 1350 geschnitten) keine Botschaft des Friedens und der Eintracht, sondern eher ein Signal des Konflikts vermittelt. Es war, wie der übergreifende Vergleich ergibt, ein Siegel der Juristen, das die Scholaren dieser Fakultät als die tragende Gruppe (wie in Italien üblich) hervorhebt und die gegenüberstehenden Magister der Artisten vielleicht demonstrativ übergeht (von deren Studenten, die meist im Schüleralter gewesen sein dürften, ganz zu schweigen). Man könnte annehmen, daß ein Artistenrektor von einst dieses Siegel nur mit Ablehnung, wenn überhaupt, verwendet hat, weil es eine Niederlage seiner Gruppe bezeichnete. Oder gab es ein zweites, später vernichtetes oder verloren gegangenes Siegel der Artistenuniversität? Jedenfalls siegte - siegeltechnisch bis heute die sozial überlegene Gruppe und mit ihr weniger der Kaiser (dieser war nachweislich kein großer Freund der Juristen und bevorzugte Theologen oder diejenigen, die wir heute Ö k o n o m e n nennen) als die durch und durch juridifizierte Prager Domkirche. Gleichsam in Parenthese noch etwas zur inneren Universitätshierarchie: Alles was wir mit Johannes H u s in Verbindung bringen und was hierzu am liebsten theologisch interpretiert wird, sieht der Universitätshistoriker mit etwas Zurückhaltung. Er weist darauf hin, daß die Husfrage, soweit sie zunächst universitätsintern gehalten werden konnte - von hier kam sie in der Tat her - auch als interner Protest von Unterprivilegierten gedeutet werden kann, also als Aufstand von Artisten und von gering graduierten Theologen gegen die etablierten Doktoren der Theologie, die es mit der Amtskirche und mit den Juristen hielten. Auch die Sprachen- oder Nationalitätenfrage kann man - sekundär hierzu - als Erhebung des unterprivilegierten Tschechischen gegen die Hof-, Patriziats- und Juristensprache des Deutschen
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verstehen. Als nämlich der erste »richtige« (»richtig« heißt hier überregional und international - das meint durch Papstnähe, Geburt und Geld - legitimiert), vom Kaiser geholte Doktor der Jurisprudenz nach Prag kam, da zerplatzte das Kunstgebilde der Frühzeit von 1348 bis 1371 zugunsten der völligen Trennung beider Universitäten. Dieser Jurist stammte aus einer feinen Hamburger Bürgermeisterfamilie und dürfte sich demgemäß betragen haben, bis er bald wieder an den lukrativen Papsthof zurückkehrte. Es ist nicht denkbar, daß er sich einem Artistenrektor untergeordnet hätte. 6. Die Quellennot des Anfangs von 1348 und der Folgenjahre nötigt, wenn man alle Entschuldigungen beiseiteschiebt, noch zu einer weiteren Denkmalsbeschädigung. Jene Anfänge, die so lange währten, lassen ernstlich daran zweifeln, ob in den ersten zwölf bis zwanzig Jahren die Substanz für ein wirkliches Funktionieren des Prager Studiums vorhanden gewesen ist. Der so gut verständliche Mechanismus, daß sich der Forscher am Ort bei jedem seiner Schritte, ohne es vielleicht zu wissen und zu wollen, für die positive Variante seiner Quellenanalyse entscheidet, führt geradewegs in die Interpretations-Katastrophe. Die harten Tatsachen zeigen jedenfalls, daß bei den Artisten bis zu einem Zeitpunkt knapp vor 1360 beinahe nichts vorgefallen ist, bei den Juristen noch deutlich länger. Auch diese Feststellungen, die mancherorts schockartig wirken mögen, verwundern aus europäischer Perspektive gesehen nicht. Wie sollte man Bologna oder Paris in ihren Anfängen anders begreifen wollen? Wir erwähnen hierzu aus der Sozialgeschichte des Studierens gleichsam beispielhaft nur einen konkreten Punkt: Am Rhein, vor allem am Niederrhein, und danach im Südwesten und Süden wohnte die deutsche Bevölkerung von damals am dichtesten und war am wohlhabendsten. Warum sollten wenigstens die feinen Leute, seit Generationen an die Lockungen von Paris und Bologna gewöhnt, nun ausgerechnet nach Prag gehen? Vielleicht weil es billiger war. Das war gewiß ein Argument. Einer Anzahl von Studenten oder besser gesagt deren Vätern ging es aber eher um den Umtausch ihrer Gulden in soziale Geltung durch einen akademischen Grad zum Pfründenerwerb oder - ganz langsam - auch zum Erwerb »staatlich«-städtischer Ämter - für jüngere Söhne. Ein solcher Wandel sozialer Geltung vollzog sich am überzeugendsten an längst bekannten Plätzen. Abwarten über Jahrzehnte hinweg war daher eine durchaus vernünftige Haltung. Mitnichten ging man aus dem Reich quantitativ analog zur Bevölkerungsdichte zum Studium nach Prag - auch nicht, als man sich nach Jahrzehnten womöglich an die neue Kaiserstadt gewöhnt hatte. Man sollte hier daran erinnern, daß die Carolina in der Prager Altstadt zu Hause war, also in der größten und vornehmsten der drei oder vier Prager Kommunen, mit etwa 16000 bis 18000 Einwohnern (Köln hatte 40000), die weit überwiegend von Deutschen besiedelt war. Gemäß den mittelalterlichen und großenteils noch heute gültigen Regeln ging man an einen Universitätsort zunächst aus
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der Nähe; in Böhmen hatte Prag von alters her eine natürliche Mittelpunktsfunktion. So bildeten die Einheimischen - so sehr sie insgesamt in der Minderheit blieben - die relativ größte Gruppe. Man kann zum zweiten anhand der Matrikel der Juristen und des Dekansbuchs der Artisten, auch mit Hilfe der Biographien der Lehrer feststellen, woher relativ die meisten Universitätsbesucher von weit her gekommen sind - »relativ« meint die Anzahl der Anwesenden annähernd im Vergleich zur Bevölkerungsdichte der Heimat. Es waren nicht Rheinländer, Südwestdeutsche oder Österreicher und Bayern, sondern Leute aus dem heutigen Niedersachsen, das zumindest damals bei weitem nicht die höchstentwickelte deutsche Landschaft war. Dort schätzte man offenbar den geringeren Aufwand, den ein Prager Studium mit sich brachte, am meisten. Gleichsam dazwischen lag Thüringen mit seinem Mittelpunkt Erfurt, das wir schon als ein ansehnliches nichtuniversitäres Artistenstudium vor der Prager Zeit und während der Prager Frühzeit bezeichnet haben. Auch daß jener große Jurist aus Hamburg kam, ist schwerlich ein Zufall. Es war stets dieselbe Himmelsrichtung. Fränkische Juristen ersten Ranges wird man in Italien und rheinische in Orleans oder in Köln und Löwen finden. Wir kommen nun zur Blütezeit oder eher zum Höhepunkt der alten Prager Universitätsgeschichte, weil es sich äußerstenfalls um eine Generation, besser nur um annähernd zwanzig Jahre gehandelt hat. Diese Jahre erlauben indessen den Schluß, daß in Deutschland - wäre nicht so bald der Zusammenbruch des karolinischen Systems und die schwere Krise des Königshauses und des sie tragenden Kernlandes eingetreten - ein wesentlich in Prag beheimateter Aufholprozeß gegenüber Süd- und Westeuropa hätte einsetzen können, der so dringend nötig gewesen wäre. So aber kam es nach jener kurzen Blüte zu andersartigen, dezentralen, bescheideneren, wenn auch quantitativ immer breiter werdenden Einzelprozessen, die am Ende des Mittelalters Deutschland zum hochschulreichsten Land Europas machen werden. Aber es war eben räumlich sehr zersplittert und ist beim Leistungsniveau wohl oft zurückhaltend zu beurteilen. Bei vermutlich wachsendem Wohlstand trat dieser Aufholprozeß immerhin im 15. Jahrhundert deutlich zu Tage und zog gleichsam Nord- und Osteuropa hinter sich her. Für diese Peripherie des Kontinents spielten Prag und später deutsche dezentralisierte Plätze annähernd diejenige Rolle, die Paris und Bologna für Deutschland innegehabt hatten. Zurück zum Erfolgsbericht. Es gibt in Prag aus den siebziger und achtziger Jahren - vor der Folie des bis dahin Erreichten - einige bemerkenswerte oder gar erstaunliche Dinge zu registrieren. Es setzten Matrikel und Graduiertenliste ein: Die Prager Juristenmatrikel seit 1372 (d.h. seitdem es ein funktionierendes Juristenstudium gab, das prompt auch seine ersten bescheidenen Anfänge zu vertuschen trachtete) ist die erste voll erhaltene Universitätsmatrikel, die wir überhaupt in Europa kennen, ein Dokument
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von enormer Wichtigkeit, mit 3563 Namen aus dem »Jüngeren Europa« (praktisch ohne Namen aus dem »Älteren Europa«; denn warum hätte man sich sozial verschlechtern sollen?). Diese Matrikel ist bei weitem noch nicht angemessen ausgewertet. Sie bezeugt zusammen mit dem die Examinierten anführenden Dekansbuch der Artisten und mit einigen weiteren Nachrichten insgesamt wohl auch so etwas wie ein Aufgestautgewesensein des Bedürfnisses nach dem Studieren im eigenen Land, zu günstigeren ökonomischen Bedingungen als auswärts und im eher vertrauten Umfeld. Es waren mehr als 1000, zeitweilig wohl gegen 2000 Studenten, die nach den besten Schätzungen in den siebziger und achtziger Jahren gleichzeitig in Prag weilten. Auch die sehr elitäre Juristenuniversität erreichte in den achtziger Jahren mit etwa 150 Immatrikulationen jährlich den Höhepunkt. Wir haben gleichwohl weiterhin mancherlei Quellenprobleme. Beispielhaft sei erwähnt, daß man zwar die Examinierten der Artisten und die Immatrikulierten der Juristen kennt (dies sind sozial ziemlich gleichrangige Datensätze), nicht aber die Verweildauer der Universitätsbesucher. Der längste Weg, den man zurücklegen konnte, führte in etwa zwölf Jahren zum Doktorat der Theologie, zur Krone des gelehrten, nicht des sozialen Ansehens. Dieses blieb den Doktoren der Jurisprudenz vorbehalten. Wir erwähnen kurz einige Prinzipien, die an sich aus der älteren Universitätsgeschichte bekannt sind, nun aber in Prag zum ersten Mal auf dem Boden des nordalpinen Reiches hervortraten. Das landsmannschaftliche Prinzip war in vieler Hinsicht durchaus durchschlagend. Das heißt, die vier Prager sogenannten Universitätsnationen stellten die wichtigste Lebensform in den beiden Universitäten dar. Es waren der Größe nach geordnet die Bayerische Nation (das heißt die rheinisch-fränkisch-südwestdeutsch-bayerische Nation), dann die Sächsische, das heißt immer noch die niedersächsische Nation, die ihr an sich viel geringeres Herkunftspotential aus schon benannten Gründen stärker ausschöpfte als die Bayerische, dann die Polnische Nation, das heißt faktisch die schlesische Nation, und als kleinste Einheit die Böhmische Nation (aus Tschechen und Deutschen gemäß der Einwohnerschaft Böhmens und Mährens zusammengesetzt). Traf man zum Beispiel aus Niedersachsen in Prag ein, um sich als vielleicht 16jähriger um die Artes zu bemühen (das heißt um Schulstoff in mehreren Fächern wie im späteren Gymnasium), dann schloß man sich selbstverständlich einem Magister aus der Heimat an, wohnte wennmöglich in dessen Wohnheim (Burse), machte bei ihm, wenn es glückte, das Examen als Bakkalar (nur eine Minderheit) und vielleicht sogar als Magister (eine sehr geringe Zahl) und kehrte wieder nach Hause zurück, bereichert um einige Kenntnisse und um soziale Beziehungen, die an Weser und Elbe gleichermaßen nützlich sein mochten. Die Artistenuniversität produzierte bald zu viele Absolventen, die sich gern weiterhin an die Carolina klammerten und angesichts einer auch da-
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mals unzureichenden Universitätsausstattung Positionskämpfe ausfochten. Das bezeichnete schon die achtziger Jahre und wurde immer härter. Hier ist bei nüchterner, quellennaher Betrachtung die Wurzel oder eine Hauptwurzel dessen zu suchen, was man früher Nationalitätenkämpfe genannt hat. Warum sollten die Ankömmlinge von weither, angesichts des vergleichsweise kleinen Landes Böhmen die erdrückende Mehrheit bildend, Kollegienplätze und Magisterpfründen anstreben dürfen, die heimisch dotiert waren? Die Plätze waren knapp. Es war eine erstmalige Erfahrung in unserer Geschichte, daß junge stellungslose Absolventen mit geringer Lebenserfahrung, die wenig zu verlieren hatten, in einer nach damaligen Begriffen großen Stadt ein Unruhepotential zu bilden drohten, das für aktuelle Indoktrination bereit stand. Die Universitätslehrer beider Anstalten bildeten eine vielgestaltige, hierarchisch gestufte Gruppe, die mit dem Begriff des Professors noch nicht zureichend erfaßt werden kann. Jedoch gehören dessen Anfänge zum Thema. Erst jüngst ist eine erste Arbeit über die Entstehung des deutschen Professors erschienen, mit dem bezeichnenden Titel: »Improvisation und Ausgleich«. Was Kaiser Karl selbst für die Universitäten tat, bezog sich neben der gut bekannten Technik der Umwidmung von Ressourcen (hier kirchliche Pfründen in Universitätspfründen) auf die Rekrutierung hochrangiger oder vorsichtiger gesagt hochgraduierter Lehrer irgendwo im weiten Umkreis, die offenbar von selbst so gern nach Böhmen und Prag nicht kommen wollten. Für ihre Titel besorgte er manchmal ein päpstliches Privileg, das die Graduierung ersetzen mußte. Aller Anfang war eben schwer, auch in Prag. Strenggenommen war für die Graduierung in einer »höheren« Fakultät, wenn man nicht wollte, daß die Kandidaten zum Examen nach Italien auswichen, ein Kollegium von drei Doktoren vonnöten. So fand nicht vor 1372 die erste und schon 1407 die letzte juristische Doktorpromotion des Mittelalters in Prag statt. Man sieht, wie kurz die Periode des normalen Funktionierens gewesen ist; das muß man angesichts jahrhundertelang geübter Selbstverständlichkeiten in Italien und Frankreich der Gerechtigkeit halber erwähnen. Man kann den Wendepunkt, die Umkehr vom langsamen und dann schnelleren Aufstieg zum Niedergang und zur Katastrophe, recht gut mit dem Jahr 1384/85 angeben. Das Große Schisma von 1378 (die Spaltung der Christenheit in zwei Papstobödienzen), die erste Herrschaftskrise König Wenzels sowie die wachsende Universitätskonkurrenz mit mancherlei Neidaspekten ringsum machten das Leben schwieriger. Scholaren aus den schon bezeichneten westlichen und südlichen Räumen in größerer Entfernung wanderten ab. Anders formuliert: das universale Zeitalter der europäischen Universitätsgeschichte, in das die Carolina gerade noch hineingepflanzt worden war, ging zu Ende; das regionale-nationale Zeitalter begann - vor allem auch, weil das Papsttum in seiner Verdoppelung durch
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das Große Schisma erpreßbar geworden war und nun fast jedem Fürstenoder Städtewunsch nach einem neuen Universitätsprivileg nachkam, weil man sonst zum Konkurrenten gegangen wäre. Man kann es vielleicht tragisch nennen, daß nicht genug Zeit verblieben ist, um dem so wünschenswerten großen Anfang in der Mitte eines großen Reiches Dauer zu verleihen und daß andere, manchmal problematische Plätze das Erbe antraten, daß in Prag eher ein Signal des Neuen gesetzt wurde als daß dieses Neue wirklich realisiert worden wäre. Aber auch schon das Signal hat seinen Rang. Die Frage nach den Ursachen der Krise wollen wir nur knapp beantworten, schon weil das Wühlen in Wunden nicht die feinste Aufgabe des Historikers zu sein scheint. Eine so ungewohnte Pflanze, fremdartig in einer kaum darauf eingestellten Umwelt, war zweifellos enorm anfällig, ja es trug sogar der (quantitative) Erfolg den Keim der Krise schon in sich. Bei kaum mehr vergrößerten Ressourcen kehrten sich nämlich die am Ort verbleibenden Interessenten, deren Zahl ständig anwuchs, gegeneinander. Dazu trat wohl die langsam von Westen nach Osten wandernde europäische Wirtschaftskrise, die in den siebziger oder achtziger Jahren auch Böhmen und früher oder später die Städte erreichte, hinzu kam die Unruhe der großen Stadt (alle Prager Städte zusammen waren fast so groß wie Köln), die polizeilich nicht kontrollierbar war; schließlich stellten sich, wenngleich schwerlich zunächst an erster Stelle, abweichende kirchliche Meinungen bis an den Rand der Ketzerei ein, besonders durch den Import der radikalen Thesen des Oxforder Professors John Wyclif. Die Strukturen des scholastischen »Wissenschaftsbetriebs« (in Gestalt der Lehr- und Übungsform der Disputation) begünstigten die Entstehung solcher Thesen oder züchteten sie gar heran. Es war vorerst ein Spiel unter jungen Leuten, die keine Verantwortung trugen. Die nüchterneren, machtnäheren, eher saturierten Juristen haben sich daran kaum beteiligt. Beim Urteil über den Kern der Krise kommt es entscheidend auf die Perspektive des Historikers an. Das muß ganz klar sein, damit unsere Zurückhaltung verständlich wird. Die Frage besteht darin, ob man die kommende hussitische Ordnung als wünschenswert und zukunftsreich ansieht und damit der Prager Universitätsgeschichte eine neue Richtung, mitten hinein in die böhmische Landesgeschichte, zuweist oder ob man den Ton darauf legt, daß die Carolina nun aus dem Kreis europäischer Gemeinsamkeiten herauszutreten drohte und tatsächlich heraustrat, als dessen logische Konsequenz sie ihre Anerkennung als europäische Universität verlor. Nach den Regeln der klassischen Universitätsgeschichte handelte es sich schon seit etwa 1390 um den Beginn eines immer rascher voranschreitenden Verfalls, der durch die Abwanderung starker Gruppen von Lehrern und Studenten, durch negative auswärtige Stimmen und durch die weitere Verstärkung der inneren Konflikte gekennzeichnet ist. Die etablierten Lehrer
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lehnten das Neue praktisch geschlossen ab. Auch noch im ersten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts waren die jungen »Revolutionäre« oder »Umstürzler« bei weitem in der Minderheit. Die Wende kam von außen, als König Wenzel in der Schismafrage die Partei, das heißt den Papst, wechseln wollte und ihm die böhmische Amtskirche dabei die Gefolgschaft verweigerte. Die Universität als quasikirchliche Instanz, in der Praxis jene Neuerer, sprang in die Bresche und ließ sich dies gründlich vergüten. Im Jahr 1409 kehrte das sogenannte Kuttenberger Dekret des Königs die Stimmenverhältnisse der Nationen um, so daß aus der bisherigen hoffnungslosen Minderheitsposition der Böhmischen Nation eine Mehrheit wurde: Sie erhielt drei Stimmen, die nun ausdrücklich als deutsche bezeichneten drei anderen Nationen zusammen eine Stimme. Es kam zur Abwanderung von zwei Dritteln oder drei Vierteln der damals noch anwesenden Lehrer und Studenten aus Prag. Eine neue Universität in Leipzig entstand (ebenfalls 1409). Es folgte, was unvermeidlich war: die Radikalisierung der Zurückgebliebenen und Ausbrüche unversöhnlichen Hasses auf beiden Seiten. Das Konzil von Konstanz (1414-1418) hat dann wie erwähnt die Universitätsprivilegien aufgehoben, so daß Prager Graduierungen nicht mehr akzeptiert wurden. Die drei höheren Fakultäten verschwanden; sie wurden erst von den Habsburgern im 17. Jahrhundert, unter katholischem Vorzeichen, restituiert. Es verblieb eine hussitische Artistenfakultät, die für das neugläubig gewordene Innerböhmen vor allem Lehrer ausbildete.
IV. Wir kommen abschließend und knapp zur dritten Frage, zur Frage nach der Nachwirkung der Carolina und damit wahrhaft zu ihrer Rolle in der deutschen und europäischen Universitätsgeschichte. Dieses Prager Erbe, wie man auch formulieren könnte, war trotz des kurzen Lebens des Studiums und ungeachtet einer Reihe von anderswo unwiederholten und unwiederholbaren Phänomenen bedeutender als jedes andere - jüngere Erbe in Mitteleuropa vor dem 18. und 19. Jahrhundert, ehe Göttingen und Berlin neue Vorbilder für ein neues Zeitalter wurden. Nur Paris und B o logna, die ältesten, waren noch wichtiger. Die neuen Hohen Schulen der Schisma-Generation, beginnend wie erwähnt mit der renovierten Wiener Rudolfina von 1384, fortgesetzt in Heidelberg, Köln, Erfurt und Leipzig, könnte man Töchter der Pariser Universität und der Carolina zugleich nennen: was biologisch nicht möglich ist, funktioniert in der Universitätsgeschichte durchaus. Dieser ersten Gruppe folgte bis Wittenberg und Frankfurt an der Oder eine Anzahl weiterer Gründungen, insgesamt sechzehn Universitäten in Deutschland vor der Reformation (ohne Prag). 45
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Anstalten bestanden dann im späten 18. Jahrhundert. Auch wegen der unzähligen personellen Verflechtungen kann man von einem einzigen, wenn auch in große Regionen gegliederten und vor allem gegenüber Italien weiterhin geöffneten Hochschulsystem sprechen. Das alles bedeutete nicht, daß ein ganz klar umreißbares Erbe der Carolina hätte von den Jüngeren übernommen werden können. Schon die Vervielfachung der Universitäten änderte die Lage gründlich; die jeweiligen lokalen Individualitäten sprachen immer kraftvoller mit. Entscheidend war in erster Linie, daß Prag stellvertretend für Töchter, Enkelinnen und Urenkelinnen das so divergente Erbe von Paris und von Bologna »verarbeitet« hatte. Paris ist dabei, wenn man schon eigentlich Unvergleichbares vergleichen möchte, wichtiger gewesen als Bologna, weil es mehr Nichtjuristen als Juristen gab und wohl auch, weil der rheinische Westen die führende deutsche Landschaft blieb. Jene »Verarbeitung«, ein Vorgang natürlich ohne jegliche Ahnung von der Zukunft, war gleichwohl ein Geschehen von größter Bedeutung für die kommenden Universitäten der jüngeren Hälfte Europas und zuletzt auch darüber hinaus für ganz Europa und die von Europa bestimmte Welt. Denn - und das ist ein Kernsatz - nicht direkt aus Paris und Bologna, sondern über die Mitte Europas verlief - erstaunlicherweise - der Weg in die neuzeitliche Zukunft der Hochschulen. Im besonderen wurde Prag, obwohl es selbst dies anders praktiziert hat, zur wirkungsmächtigen »Stiefmutter« der klassischen Vierfakultäten-Universität, die es zuvor nicht gegeben hatte. Es hatte sie auch, wie wir hörten, in Prag realiter nicht gegeben, doch zogen die zeitgenössischen Fachleute mit ihren unmittelbaren und mittelbaren Prager Erfahrungen aus der Spätzeit, inzwischen über ganz Mitteleuropa verstreut, und die entsprechenden Landesfürsten und Städte diese Konsequenz. Das geschah schon in Wien, dann in Heidelberg, und als ob es nie etwas anderes gegeben hätte, pflanzten sich die Dinge in dieser Form auf die Dauer fort. So, mit vier Fakultäten zwar nicht gleichen Ranges, aber vom gleichen Typus und mit einer einheitlichen Spitze, sah das legitime Modell der künftigen deutschen und zunächst auch mittel-, ost- und nordeuropäischen Universität aus. Seitdem der Neuansatz von 1810 in Berlin nach einigem Schwanken ebenso konstruiert worden war, wirkte das Modell weiter auch in andere Teile Europas und darüber hinaus, gewiß mit regionalen Abwandlungen, aber wohl das Bewußtsein prägend, wie es eigentlich und prinzipiell sein sollte - eben wie zuerst in Wien und Heidelberg seit 1384/86, die beide entscheidend mit ehemaligen Prager Professoren besetzt worden waren. Die bescheidenen Lebensbedingungen der deutschen Territorien und Städte haben dieses »Sparmodell« erzwungen, aber es war zugleich ein recht zweckmäßiges und durchsetzungsfähiges Modell. Die kleine Regionaluniversität, die nun den deutschen Durchschnitt bildete und zwar bis in unser Jahrhundert hinein, war billig, praktisch, übersichtlich, anpassungs-
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fähig, unverwüstlich, i m m e r nur eine »Universitas« in einem Studium, erfolgreich wie einst der V W - K ä f e r . D i e T e n d e n z zur gegenseitigen A n g l e i chung der Lebensverhältnisse in den Fakultäten setzte sich fort. L e h r e r und Belehrte w u r d e n v o m Fürstenstaat gezähmt und wurden dessen treue Diener, jedenfalls in den allermeisten Fällen. E s bestand kein großer Spielraum für N e u e r u n g e n , aber es handelte sich u m zähe und i m m e r wieder krisenbeständige Gebilde. D a s alles trat ein, während die alte C a r o l i n a , diejenige nämlich von 1348 oder 1370 bis 1409 o d e r 1417, in die Vergessenheit z u r ü c k s a n k und faktisch erst v o n den H i s t o r i k e r n des 19. und 2 0 . J a h r h u n d e r t s wiederentdeckt wurde. Was damals in Prag geschehen war, war längst im nun lang und breit gewordenen S t r o m der deutschen und europäischen
Bildungsge-
schichte gleichsam aufgehoben.
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JÜRGEN
MIETHKE
Heidelberg Eine Gründung im Großen Abendländischen Schisma
»Von allen deutschen Hochschulen erfreut sich wohl Heidelberg der größten Sympathie im gesamten deutschen Volke. Der junge Student singt das reizvolle, in Heidelberg entstandene Lied mit dem Refrain: >Ich war in Heidelberg Studentx Aber auch der Nichtakademiker sieht in Stadt und Universität von Heidelberg einen durch die Natur selbst gehobenen und geschmückten Höhepunkt der deutschen Kultur.« Mit diesen gemütvollen Sätzen beginnt 1929 Richard Graf du Moulin-Eckart die Darstellung Heidelbergs in seiner »Geschichte der deutschen Universitäten«, die zwar in der wissenschaftlichen Literatur seither keine allzu tiefen Spuren hinterlassen hat, die aber immerhin 1976 mit einem Neudruck geehrt worden ist. Heute geht es mir nun keineswegs darum, diesen so deutlich von der Atmosphäre der 20er Jahre unseres Jahrhunderts bestimmten Worten im einzelnen nachzugehen. Ich nehme sie nur als Beleg für den Grad der Bekanntheit, den die älteste Universität im Bereich der heutigen Bundesrepublik einmal gehabt hat und, zumindest gilt das für das Ausland, auch noch in der Gegenwart genießt, teilweise durchaus unabhängig davon, was heute in Heidelberg geforscht und gelehrt wird. Ich möchte nach den Startbedingungen und den ersten Schritten meiner hoch in ihren Jahren stehenden Alma mater fragen, nach der Gründung der Universität Heidelberg und ihren besonderen Bedingungen. Die Hoffnung, damit dem Rahmenthema der Reihe gerecht zu werden, das nach Tradition und Innovation in der Geschichte der europäischen Stätten des Geistes fragt, erscheint mir nicht aussichtslos. Vom Winter 1985 bis zum Winter 1986 hat die Universität Heidelberg in einer großen festlichen Anstrengung ein ganzes Jahr lang ihren 600. Geburtstag feierlich begangen und das getan, was man bei einem Universitätsjubiläum üblicherweise tut, um die Jubilarin ins rechte Licht zu rücken - und was gewiß auch die Freie Universität zu ihrem 50. Geburtstag nicht versäumt hat: Festakte, an denen Rektoren und Präsidenten anderer Universitäten oder deren Vertreter, in Feiertagsgewandung oder in ihre traditionellen Talare gekleidet, sowie andere prominente Gäste aus dem öffentlichen Leben des In- und Auslandes teilnehmen, die Präsentation von
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Ausstellungen zu Geschichte und Gegenwart der zu feiernden Institution, die Einwerbung von Dritt- und Stiftungsmitteln für universitäre Zwecke, die Eröffnung neuer Gebäude für die Bedürfnisse der Wissenschaft, die Veranstaltung von wissenschaftlichen Symposien und Kongressen, von Vorlesungsreihen und Podiumsdiskussionen am Jubelort, Empfänge, Bankette, Feste und all das begleitet von zahllosen Grußworten, Ansprachen, Reden, mehr oder minder streng wissenschaftlichen Darlegungen oder mehr oder minder lockerem »small talk«. Immerhin, je jünger eine Universität ist, desto genauer kann man ihr Gründungsdatum feststellen, um so exakter kann man ihren Geburtstag feiern. Die Freie Universität ist in einem Festakt am 4. Dezember 1948 in Steglitz aus der Taufe gehoben worden. Paris und Bologna, Oxford und Montpellier, jene Stätten des höheren Unterrichts, die in Europa den spezifischen Typus einer »Universität« stilbildend und vorbildhaft bis heute entwickelt haben, ist es dagegen versagt, solche Jubelfeiern sinnvoll zu begehen, da diese Universitäten ex consuetudine, wie die spätmittelalterlichen Juristen sie benannt haben, kein Gründungsdatum kennen, weil sie (wie Siedlungen »aus wilder Wurzel«) allererst allmählich in einer zeitraubenden Entwicklung entstanden sind, um dann einigermaßen plötzlich, erstaunlicher Weise an verschiedenen Orten etwa gleichzeitig allesamt an der Wende zum 13. Jahrhundert in den Quellen deutlicher faßbar zu werden. Daß die Universität Bologna dem zum Trotz im Jahre 1989 aufwendig ihr angeblich 900jähriges Jubiläum festlich begangen hat, ist kein Argument gegen diese meine Feststellung. Über das hohe Alter dieser ehrwürdigen Hochschule, die zu den ältesten Universitäten überhaupt zu zählen ist, möchte ich hier auch gar nicht diskutieren. Nur kannte die Stadt wahrscheinlich schon vor 1089 höheren Unterricht, eine Universität als rechtlich greifbare Institution jedoch hat es dort gewiß nicht vor der Wende zum 13. Jahrhundert gegeben. Bologna hat 1989 seinen neunhundertsten Geburtstag gefeiert, weil man schon 1889 einen 800jährigen Geburtstag bejubelt hatte, und nun ein Jahrhundert später Konsequenz zeigen und die Vorfahren nicht desavouieren wollte. Wenn eine Universität ein genaueres Datum ihrer Gründung ermitteln kann, so sagte ich, dann gehört sie nicht zu diesem älteren Typus der gewachsenen Universitäten, sie gehört vielmehr zu jenen eigens in einem definiten Willensakt »begründeten« Universitäten exprivilegio, wie die spätmittelalterlichen Juristen sie eingeordnet haben. Hier ergibt sich allein aus dem Gründungsakt, daß nicht eine allmähliche Entwicklung zu einer Universität geführt hat, sondern ein im einzelnen freilich oft nicht allzu klar bestimmter Wille, eine Einrichtung hervorzubringen, die zur Erfüllung gewisser Aufgaben geeignet sein würde. In aller Regel ist das Ziel nur in Gestalt eines mehr oder minder vagen Vorbildes ins Auge gefaßt worden, an dem man die zu gründende Einrichtung maß. Man gründete eine neue
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Universität, die so sein sollte, wie die schon bekannten Universitäten zuvor. Allein daraus ergibt sich, daß Universitätsgründungen notwendig jünger sein müssen als die Hochschulen ex consuetudine, da sie sich in einer späteren Phase der Entwicklungsgeschichte auf diese Vorbilder beziehen. Die gegründeten Universitäten sind freilich ihren älteren Schwestern fast stehenden Fußes gefolgt. Wenn wir, wie gesagt, Universitäten als korporativ verfaßte Einrichtungen höheren Unterrichts in Paris und Bologna, in Montpellier und Oxford jeweils etwa an der Wende zum 13. Jahrhundert in den Quellen endgültig greifen können, so datieren die ersten Universitätsgründungen in einem kaum merklichen Abstand. 1209 wird Cambridge gegründet, 1219 zum ersten Male Salamanca, 1222 Padua, 1224 hat Kaiser Friedrich II. für sein Königreich Sizilien eine Hochschule in Neapel installiert. Ich verzichte darauf, die einzelnen Gründungsdaten der etwa 30 europäischen Universitäten bis zum Ende des 14.Jahrhunderts aufzuzählen. Erst recht entschlage ich mich der Verlockung, die jeweils besonderen Entstehungsbedingungen auch nur en passant ins Auge zu fassen. Es genügt, uns Universitätsgründungen als Typus zu vergegenwärtigen. Bedeutend ist der Anteil von Gründungen auf der Basis von studentischen Sezessionen, Abspaltungen, Ableger von älteren Universitäten sozusagen: im Protest gegen Bedrückung, Rechtsunsicherheit oder unzureichenden Schutz in Bedrängnissen suchten die Studenten, gemeinsam durch Abwanderung an einen anderen Ort eine Abstimmung mit den Füßen zu veranstalten. Am neuen Ort praktizierten sie natürlich, soweit das irgend möglich war, ihr bisher eingeübtes Verhalten mit nur wenigen wünschenswerten oder von veränderten Rahmenbedingungen am fremden Platz erzwungenen Änderungen. Wenn dann aus einer temporären Sezession (was nur in Ausnahmefällen geschah) eine dauerhafte neue Universität entstanden ist, war diese der deutliche Abkömmling der entsendenden Institution, so wie Cambridge sich von Oxford abspaltete, Padua von Bologna, Angers von Paris oder später noch Leipzig von Prag. Der Stempel solcher Abkunft war ihnen allen aufgeprägt. Ein weiterer Typus daneben ist die willentliche Nachahmung der alten Universitäten durch Gründung einer eigenen neuen Einrichtung, die gegebenenfalls durch einige bewußte Veränderungen den eigenen Absichten angepaßt werden sollte. Die Gründung der Universität Neapel ist dafür das bekannteste frühe Beispiel: Der Staufer Friedrich II. hat hier in seinem Kampf mit den oberitalienischen Kommunen eine eigene Lehranstalt für die Landeskinder seines Königreichs Sizilien ins Leben gerufen, der er freilich die korporative Selbständigkeit des Bologneser Vorbilds vorenthielt. Es läßt sich schlecht sagen, was aus diesem besonderen Organisationsmodell hätte werden können, da die Universität Neapel mit ihren existenzbedrohenden Problemen zu Friedrichs II. Lebzeiten niemals recht fertig wurde. Versuche des Herrschers selbst und seiner Nachfolger, die vor sich
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hin kümmernde Universität zu »reformieren« oder später, sie aus Neapel nach Salerno zu verlegen, d. h. die Juristenschule mit der alten Medizinischen Fachschule zu vereinigen, blieben erfolglos. Erst 1266 wurde die Institution von Karl von Anjou stabilisiert, wenngleich ein frei gewählter Rektor auch danach wahrscheinlich niemals im mittelalterlichen Neapel amtiert hat. Immerhin lassen sich seit dem späten 13.Jahrhundert Doktorenkollegien nachweisen, die über die Examina zu entscheiden hatten. Eine königliche Anerkennung freilich fanden diese (den Bologneser Kollegien und den Pariser Fakultäten entsprechenden) Gremien erst im Jahre 1353. Damit war dann der Sonderweg der Hochschule Neapel in die gemeineuropäische Entwicklung eingemündet. Halten wir fest, daß bei der Gründung einer Universität Aussagen über das Ziel der ins Werk gesetzten neuen Einrichtung gemacht werden mußten, so rudimentär auch immer die Beschreibung ausfallen mochte. Zusätzlich fordert ein weiterer Punkt unsere Beachtung: Wenn eine neue Universität neben die bestehenden Einrichtungen gesetzt werden sollte, so war das Verhältnis, das zwischen ihr und den älteren Universitäten bestehen sollte, in groben Umrissen zu umreißen. Es wurde auch im Laufe der Zeit immer wichtiger festzuhalten, welche Hochschulen zum Kreis der vollberechtigten Mitglieder in der Klasse der anerkannten und sich wechselseitig Anerkennung gewährenden Hochschulen gehörten. Gegenseitige Anerkennung war zunächst keine Frage von Freundlichkeit oder Unfreundlichkeit. Die gegenseitige Anerkennung von Studienleistungen und erreichten Qualifikationen stand dann in Frage, wenn zu klären war, ob eine an einer anderen Universität erreichte Graduierung auf der Ochsentour der jeweils örtlichen Graduierungsvorschriften mit ihren fest vorgeschriebenen Zeiten und eng mensurierten Anforderungen zu wiederholen war, bzw. ob sie, anderwärts erreicht, auch an der anderen Universität gelten durften. Die älteren Generalstudien ex consuetudine genossen ein hohes Prestige, und daher waren auch ihre Graduierungen wie selbstverständlich weithin anerkannt: ein doctor decretomm oder doctor legum, später dann ein doctor utriusque iuris, der in Bologna erworben worden war, ein magister in sacra pagina bis hinab zum baccalarius artium aus Paris öffnete den damit Ausgezeichneten nicht nur mehr oder minder solide Karriereaussichten, sondern auch die Chance, an andern Universitäten Aufnahme zu finden. Ganz selten aber verzichteten die aufnehmenden Universitäten auf einen eigenen Überprüfungsakt, die feierlich ausgestaltete sogenannte receptio des Kandidaten in seine Fakultät, die in der Form einer verkürzten und ritualisierten Prüfung in nuce den »fremden« Grad gleichsam nostrifizierte und für den eigenen Bereich wirksam machte. Grundsätzlich galten bei solchen »Rezeptionen« die fremden Graduierungen aber mit den eigenen als gleichwertig, wenn und insofern das fremde Studium als ein Studium generale allgemein anerkannt war.
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Aber gerade dies machte es dann nötig, zwischen studia im Range eines Studium generale und anderen studia, in der mittelalterlichen Nomenklatur studia particularia genannt, zu unterscheiden. Man konnte nicht jede Bildungseinrichtung in diesem allgemeinen Sinne als graduierungsberechtigt anerkennen. Seit der Mitte des 13.Jahrhunderts ist es denn auch keinem einzigen Studium particulare mehr gelungen, zu einer universitas ex consuetudine aufzusteigen. Kandidaten dafür hätte es durchaus gegeben, wie wir aus der um 1350 verfaßten »Yconomica« des Pariser Universitätslehrers, Wiener Schulmeisters und schließlich Regensburger Domkanonikers Konrad von Megenberg wissen. Konrad macht dort nämlich folgende eigenwillige Distinktionen, er unterscheidet zwei verschiedene Formen von scolae (»Schulen«): die einen nennt er »authentisch« (autbenticae), die anderen »leichtnamig« (levinomae) [III. 1.3. S. 23]: »Eine authentische Schule ist diejenige, deren Unterricht durch päpstliche Privilegien und kaiserliche Freiheitsbriefe feierlich begründet ist, wie die Schulen von Paris, Bologna, Padua und Oxford (!). Leichtnamig dagegen ist eine Schule, die nur einen leichtgewichtigen Namen hat, die auch der Privilegierung durch die weltlichen Fürsten entbehrt, wie es in Deutschland die Schulen in Erfurt, Wien und dergleichen sind.« Konrad fügt dem noch die Anmerkung an, daß im Vollsinne »Magister« nur die Graduierten der »authentischen« Schulen tituliert werden dürften. Ich will hier die definitorischen Bemühungen des Megenbergers nicht weiter verfolgen, die uns das Problem für die Mitte des 14. Jahrhunderts deutlich anzeigen: die alten Universitäten und die neueren Gründungen konnten durch privilegia apostolica (d. h. päpstliche Privilegierung) und imperiales libertates (d. h. kaiserliche Freiheitsbriefe) ihre formelle Anerkennung beweisen. Eine Privilegierung durch Papst oder Kaiser ist für den deutschen Magister gleichbedeutend mit einer allgemeinen Anerkennung der Graduierungen einer Schule, formalisiert gleichsam mit deren Geltung auch die der Universität und umgekehrt. Es ist hier nicht möglich, auf die Geschichte der universitären Rechtsverbriefungen einzugehen, die von frühester Zeit an auf die europäischen Universitäten, insbesondere auf Paris, aber auch auf Bologna, Oxford und Cambridge herniederregneten. Die wichtigsten Rechte der korporativ verfaßten Magister sind immer wieder vom Papst anerkannt, bestätigt, verbrieft, auch geformt und weiterentwickelt worden. Das heißt aber nicht, daß sie auch vom Papst geschaffen worden wären. Für die werdenden Universitäten war es früh schon eine entscheidende Frage, wer über den Zugang zu ihrer Körperschaft bestimmen durfte. Die Regelungen im einzelnen entwickelten sich unterschiedlich, überall aber setzten die Magister ihre Mitbestimmung in diesem Punkte durch. Auch in Paris, wo sie anfangs den geringsten Einfluß auf die Vergabe der licentia docendi durch den bischöflichen Kanzler hatten, konnten sie schon am Beginn des 13. Jahr-
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hunderts sicherstellen, daß jedenfalls derjenige, den sie selbst nach entsprechenden Examina einer licentia für würdig erachteten, diese auch erhielt. Was der Kanzler des Bischofs in Paris daneben noch vermochte, nämlich Leute nach eigenem Gutdünken mit seiner licentia zu beglücken, das war in Oxford und Cambridge dem Kanzler schon nicht mehr möglich, und auch der Archidiakon in Bologna mußte sich bei seiner Lizenzerteilung an das Votum der Doktorenkollegien halten. So war die Graduierung abgesehen von den doctores bullati, jenen durch päpstliches Mandat zum Doktorgrad promovierten Titelträgern weitgehend in der Hand der Graduierten selber, die auch eifersüchtig über dieses ihr wichtigstes gemeinsames Vorrecht wachten. Die privilegierte Stellung, die die alten Universitäten sich alsbald fleißig bestätigen ließen, konnte, einmal ausgebildet, nun mehr oder minder exakt in einem Gründungsakt auf eine neu zu errichtende Einrichtung übertragen werden, sofern es gelang, formell die Anerkennung des neuen Studium zu erreichen. Dies ist der Ursprung der päpstlichen (und später auch der kaiserlichen) Universitätsgründungsprivilegien: Papst (und Kaiser) anerkannten vorweg die Rechtsstellung und insbesondere die formale Gleichwertigkeit der Graduierungen der geplanten (oder schon errichteten) Gründung mit den Graduierungen der alten Hochschulen. Wir wollen festhalten: weder der Papst noch der Kaiser »gründeten« selber diese Universitäten. Sie setzten nur fest, daß die neue Hochschule mit den alten Universitäten gleichrangig sein sollte. Eine weitere Verantwortung haben sie nicht übernommen. Unter solchen Universitätsgründungsprivilegien kennen wir durchaus Irrläufer, d. h. Privilegien, die im Ergebnis nicht zu einer wirklichen Hochschulgründung führten, Zeugen für mißratene Projekte und unausgegorene Planungen, die nicht realisiert werden konnten. War aber eine Universität einmal derart anerkannt, so unterschieden die spätmittelalterlichen Juristen niemals mehr in der Rechtsstellung beider Typen. Eine universitas ex consuetudine und eine ex privilegio waren und blieben ihnen gleichberechtigt. Die Unterscheidung war nur eine genetische, nicht eine normative, sie war damit in Fragen des praktischen Lebens unerheblich. In den verschiedenen Gegenden Europas dauerte es recht verschieden lang, bis man den Wunsch verspürte, sich mit »Universitäten« im eigenen Lande auszustatten. Im deutschen Herrschaftsbereich des mittelalterlichen Imperium Romanum, im regnum Teutonicum, hat es bis weit in das Spätmittelalter hinein keine Universitäten gegeben. Wir wollen hier keine Vermutungen zu den Gründen dieser vieldiskutierten, auffälligen Verspätung anstellen, wir wollen nur anmerken, daß die allgemeine Entwicklung des Schulwesens an den deutschen Domschulen und Bettelordenshäusern für diesen Gründungsstau jedenfalls nicht verantwortlich gemacht werden kann. Vor dem 13.Jahrhundert hatte es in Deutschland keine spontane
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Entstehung von höheren Unterrichtsanstalten gegeben und Gründungsversuche, wie sie auf der iberischen Halbinsel durch die Könige von Aragon und Kastilien schon bald nach dem Beginn des 13. Jhs. in Angriff genommen wurden, sind für die deutschen Herrscher, die römischen Kaiser und Könige, nicht zu verzeichnen. Erst an der Wende zum M.Jahrhundert wird von einer vergeblichen Bemühung des premislydischen Königs Wenzel II. von Böhmen berichtet, in Prag eine Universitätsgründung zu versuchen. Erst 1347/48 folgte dann einer seiner Nachfolger seinem Beispiel: der Luxemburger Karl IV. gründete mitten im Bürgerkrieg mit Ludwig dem Bayern die Prager Universität, von der vor acht Tagen Herr Moraw hier im einzelnen berichtet hat. Die Anfänge der Universität Heidelberg, die erst 1386, etwa 40 Jahre (mehr als eine volle Generation) später datieren, unterschieden sich erheblich von Prag, der ersten Gründung auf deutschem Reichsboden nördlich der Alpen. Schon die Ausgangslage war verschieden. Hatte in Prag Karl IV. sein Gründungsprivileg als Karolus Dei gratia Romanorum rex semper augustus et Bohemie rex ausgestellt, berief er sich damit also auf seine Würde als König der Römer, die ihm Anspruch auf eine Kaisererhebung gab, so war im Unterschied dazu das gesamte Unternehmen in Heidelberg im engeren Kreis des Hofes eines deutschen Reichsfürsten, des Pfalzgrafen bei Rhein, ins Werk gesetzt worden. Der Pfalzgraf war zwar ein durchaus wichtiger Fürst, der spätestens seit der »Goldenen Bulle« Karls IV. (1356) seine herausragende Stellung im Reich als Kurfürst auch offiziell anerkannt fand. Aber von königlicher Würde war der Wittelsbacher Ruprecht I. doch weit entfernt. Gewiß, der Pfalzgraf war zeitlich nicht der erste Reichsfürst, der an seinem Hauptort sich eine Universität zu gründen anschickte. Der Schwiegersohn des Kaisers, der junge Habsburger Rudolf IV., Rudolf »der Stifter«, wie ihn die Landesgeschichte gerne nennt, hatte schon 1365 in Wien einen ersten Anlauf genommen, der deutlich das Prager Vorbild spiegelt und 1364 (wie wir erfahren) in Prag auch vorbereitet wurde. Nach dem plötzlichen frühen Tod des Habsburgers noch im gleichen Jahr 1365 war aber die Wiener Universität nicht recht in Schwung gekommen, sie hatte nur ein bescheidenes, nach außen von der alten Domschule an St. Stephan nicht leicht unterscheidbares Leben gewonnen. Nach der Klärung der militärisch ausgefochtenen Wirren um die Nachfolge in der Landesherrschaft bedurfte es in Wien eines Neuansatzes durch den jüngeren Bruder Rudolfs, Albrecht III., der im September oder Oktober 1384 durch eine eigene neue Urkunde mit realistischeren Anordnungen die Universität in Wien völlig neu organisierte und damit eigentlich allererst entstehen ließ. Wir wissen nicht, ob diese Entscheidung des Habsburgers dem Pfalzgrafen und seinem Hof den Entschluß zu einer Universitätsgründung eingegeben oder erleichtert hat. Das ganze 14.Jahrhundert hindurch haben die großfürstlichen Dynastien der Luxemburger, Habsburger und Wittels-
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bacher in Deutschland um die höchste Herrscherstellung im Reich miteinander gerungen. Zwei römische Könige und Kaiser hatten die Habsburger und die Luxemburger, einen hatten die Wittelsbacher gestellt. Bis 1439 sollte das Wechselspiel auch noch fortdauern. So ist die Vermutung naheliegend, daß man sich im Kreise dieser Familien gegenseitig scharfäugig beobachtete und keiner dem anderen in wichtigen Entscheidungen den Vortritt lassen wollte. Die zeitliche Nähe des zweiten Wiener Anlaufs zur Heidelberger Gründung - 1384 auf 1385/86 stützt diese Vermutung. Aber so plausibel das immer sein mag, in unseren Quellen finden wir kein Sterbenswort über diese oder über andere Motive für den Gründungsbeschluß. Auf solche Prestigegesichtspunkte einiges Gewicht zu legen, liegt freilich nahe, weil Prestigegesichtspunkte in einer hochadligen Gesellschaft niemals völlig fehlen. Und Prestigegesichtspunkte liegen als Motiv jedenfalls weit näher als rein utilitaristische Erwägungen des Fürsten oder seines Hofes, etwa der Wunsch, für die Landesverwaltung qualifiziertes Personal zu gewinnen. Eine neuere Untersuchung über die Karrieren gelehrter, an der Unviersität Heidelberg promovierter Juristen in pfälzischen Diensten zeigt erst ein Halbjahrhundert nach der Universitätsgründung wahrnehmbare und statistisch relevante Anteile von solchen Universitätsabgängern in landesherrlichen Diensten. Eine solch lange Vorlaufzeit bei der Planung der Universität anzunehmen, überanstrengt nicht nur heute eine sinnvolle Vorstellung politischer Planung, sie wäre erst recht im Mittelalter völlig abwegig. Freilich, ein Bedürfnis mochte für den Wittelsbacher dringlicher sein als ein anachronistischer Wunsch nach juristischem Sachverstand in der Landesadministration: seit der Doppelwahl zweier Päpste im Jahre 1378 mußten die Zeitgenossen mit den Problemen der abendländischen Kirchenspaltung fertig werden, ein Problem, das die Kanzleien und H ö f e Europas noch mehrere Jahrzehnte intensiv beschäftigte. Hier war guter Rat teuer und willkommen. O h n e gelehrte Kenntnisse in Theologie und Kirchenrecht, ohne entsprechende Argumentation auf der H ö h e der zeitgenössischen Wissenschaften konnte kein Hof in Europa nach außen seine Stellungnahmen mit Plausibilität vertreten. Die Hochkonjunktur der endlosen gelehrten Memoranden, Schriftsätze und Patentrezepte zur Lösung der »Kirchenfrage« sollte noch jahrzehntelang anhalten und ist von Heidelberg aus auch durchaus qualitativ und quanitativ ansehnlich beliefert worden. Was immer die Motive des Heidelberger Pfalzgrafen und seines Hofes gewesen sein mögen, die Voraussetzungen für eine Universitätsgründung waren in Heidelberg sehr ungünstig, auch wenn wir nur mit Prag und Wien, noch nicht einmal mit Paris oder Köln vergleichen. Zählte Prag um die Mitte des 14. Jahrhunderts in seinen verschiedenen Teilen etwa 20000 Einwohner und Wien wenigstens 15000, wenn nicht mehr, so bewohnten
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das kleine Areal der Stadt am Fuße des Burgbergs von damals nur ca. 20 ha wohl nur 4000 Menschen. Erst recht fehlte der Stadt eine differenzierte kirchliche Infrastruktur: sie hatte gerade eine Pfarrkirche vor ihren Mauern, beherbergte nur zwei Bettelordenskonvente und besaß kein einziges Kanonikerstift. Kein Wort ist in den Quellen von irgendwelchen Ansätzen zu schulischem Unterricht zu finden, der der Universität einen Anknüpfungspunkt hätte geben können. Auch der Hof des Kurfürsten war gerade erst in dieser Zeit endgültig im Schloß über Heidelberg angesiedelt worden: auch noch die Grablege des Universitätsgründers, Ruprecht des Alteren, war in der heute in Rheinland-Pfalz liegenden Stadt Neustadt an der Weinstraße, der alten Konkurrenzstadt Heidelbergs, errichtet worden. Der Entschluß, eine Universität in Heidelberg zu piazieren, hatte jedenfalls dann eine stabilisierende Wirkung für die zentralörtliche Funktion der Stadt, aber das war eine Folge, nicht eine Voraussetzung des Gründungsbeschlusses. Insofern ist es keineswegs abwegig, nach konjunkturellen Faktoren zu suchen, die für den Gründungsakt förderlich gewesen sein könnten, und die geeignet sind, uns die Gründung all solchen Widerständen zum Trotz verständlich zu machen. Ein solcher Faktor ist nun fraglos das Große Abendländische Schisma gewesen, die Spaltung der westlichen Christenheit, wie sie sich im Gefolge der doppelten Papstwahl des Jahres 1378 einstellte. Die beiden Päpste, die sich gegenüber standen und sich nicht nur gegenseitig mit dem Bannstrahl aus der Heilsgemeinschaft der Gläubigen ausschlossen, sondern auch die jeweiligen Anhänger des Gegners als hartnäckige Schismatiker verketzerten, die beiden Schismapäpste sorgten dafür, daß sich alsbald an diesen ihren Konflikt ganz anders geartete Konflikte anlagerten und sich schwer auflösbar mit ihm verbanden. Europa gewann eine schachbrettartige Gemengelage von Obödienzgebieten, deren Zugehörigkeit zu ihrem jeweiligen Papst, dem in Rom oder dem in Avignon, sich weniger aus den Umständen der Doppelwahl des jahres 1378 als aus sehr verschiedenen anderen Gesichtspunkten und Traditionen erklären läßt. Die Parteinahme des französischen H o f s konnte nicht die gleiche sein wie die Englands, der Papst, den der englische König anerkannte, konnte in Schottland keinen Gehorsam finden, Kastilien und Portugal konnten auf Dauer nicht derselben Obödienz angehören, usf. Wir müssen uns nicht in die verwirrenden Einzelheiten vertiefen, wenn wir die beunruhigenden Folgen der Kirchenspaltung für die Kirchen vor O r t und ihre Menschen, insbesondere für den Klerus, verstehen wollen. Die Entscheidung für oder gegen einen der beiden Päpste war, je länger desto weniger, keine reine Gewissensentscheidung des einzelnen, sie wurde mehr oder minder gebietseinheitlich und jedenfalls über den einzelnen hinweg getroffen. Dabei konnte eine solche Entscheidung durchaus Folgen haben, die weit entfernt von Gewissensgründen lagen. Hatte man als Kle-
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riker eine Pfründe in einem Bezirk, der zur gegnerischen Obödienz gehörte, so konnte man nicht leicht diese Einkünfte an einem O r t verzehren, der dem verkehrten »Gegenpapst« zugewandt war. Darunter hatten nicht allein die transregional strukturierten Großordensverbände der Kirche zu leiden, die sehr rasch entlang den Bruchlinien der Obödienzen aufgespalten wurden, darunter litten alle überlokal organisierten kirchlichen Gefüge, und zwar um so empfindlicher, je weiträumiger ihre Einzugsgebiete gestreut lagen. Die Universitäten jedenfalls waren unmittelbar betroffen, da sich an ihnen Magister und Studenten bunter nationaler Herkunft zusammenfanden, die noch dazu häufig ihren Lebensunterhalt mit kirchlichen Pfründen, meist aus ihren Herkunftsregionen, bestritten. Das gilt für alle damaligen Universitäten gleichermaßen. Für die Magister und Studenten deutscher H e r k u n f t freilich mußten diese Auswirkungen besonders an Universitäten empfindlich werden, die im Bereich der avignonesischen Obödienz gelegen waren, weil Deutschland weit überwiegend zum römischen Papste hielt. Problematisch wurde also in erster Linie Paris, ein traditionelles Ziel deutscher Studenten. Es ist verständlich, daß schon sehr bald allein die Frage, ob an dieser Universität die Streitfragen des Schismas Gegenstand akademischer Dispute sein durften, zwischen der Universität und dem königlichen Hof heftig umstritten waren. Schon im Mai 1379 erklärte der französische König KarlV., die Universität solle sich entweder zu einer Anerkennung des avignonesischen Papstes Clemens' VII. bequemen, oder sie werde die königliche Ungnade spüren. Auch unter dem Nachfolger Karl VI. hörten Pressionsversuche nicht auf, an denen sich der Bischof von Paris eifrig beteiligte. Wir brauchen die sich verengenden erbitterten Streitigkeiten hier nicht im einzelnen zu verfolgen, die in Paris in einer Schlacht der Memoranden, Verfügungen und Beschlüsse geführt wurden, klar ist jedenfalls, daß es immer schwieriger wurde, als »Urbanist« in Paris zu bleiben, dort Unterricht zu nehmen oder zu halten und zugleich den Lebensunterhalt nicht zu verlieren, der aus den heimatlichen Pfründen flöß. Eine große Zahl deutscher Urbanisten traf eine Wahl mit den Füßen, sie verließen Paris, oder, wenn sie ohnedies auf Reisen gewesen waren, als das Schisma ausbrach, kehrten nicht wieder nach Paris zurück. Es war eben dieser Tatbestand, der auf einen Schlag eine große Zahl von universitätserfahrenen Experten völlig frei verfügbar machte, ja anstellungshungrig frei stellte, Leute, die neue Aufgaben suchten und jetzt bereitwillig für eine Universitätsgründung einsetzbar waren, an der sie sich sonst vielleicht niemals beteiligt hätten. Heinrich von Langenstein etwa, der zuvor an der Pariser Universität als Magister der Artes und Magister der Theologie nachweisbar ist, dort auch als Prokurator der englischen Nation und Vizekanzler der Universität gewirkt hatte, verließ nach ver-
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geblichem Streit um eine »neutrale« Haltung der Universität 1382 Paris und zog ins Mittelrheingebiet in die Nähe seines nordhessischen Geburtsortes. Den päpstlichen Auftrag, als Bischof nach Livland zu gehen, lehnte er ab, folgte aber der Einladung Albrechts III. nach Wien, wo er bei der zweiten Gründung der Universität mit anderen Pariser Abwanderern zusammen bis zu seinem Tode 1397 weithin sichtbar mitwirkte. Ein ähnliches Geschick hatte auch Marsilius von Inghen, dem bei der Gründung der Heidelberger Universität eine tragende Rolle zukam. Marsilius, aus Nijmegen stammend, ein Altersgenosse Heinrichs von Langenstein, hatte er seine Graduierung zum magister artium in Paris ein Jahr vor diesem erreicht, hatte sich dann aber mit seinem Theologiestudium sehr viel mehr Zeit gelassen - seine theologische Promotion wird Marsilius als erster Theologe in Heidelberg erst kurz vor seinem Tode 1396 erreichen. Dafür aber hatte Marsilius in Paris als Lehrer der Artes und als Prokurator seiner (englischen) Nation, als Rektor der Artistenuniversität, als Rotulusgesandter der Pariser Universität an die Kurie in Avignon und Rom eine reiche Erfahrung in universitären und in politischen Geschäften. Als Augenzeuge des Schismas in Rom kehrte er gar nicht mehr nach Paris zurück, sondern verschwand für uns unauffindbar von der Bildfläche, bis er dann erst kurz vor der Heidelberger Gründung wieder in Erscheinung tritt. Er, und mit ihm zusammen einige Gleichgesinnte, unter denen der Dompropst von Worms Konrad von Gelnhausen gewiß an erster Stelle genannt werden muß, auch er ein in der Welt der Universitäten weithin erfahrener Mann, Marsilius und seine Freunde standen anscheinend zur Verfügung, induzierten vielleicht auch, aber berieten jedenfalls sachkundig am pfalzgräflichen Hof den Plan der Gründung einer neuen Universität in Heidelberg. Wir haben einen recht genauen Bericht über den chronologischen Ablauf der Gründungsvorgänge und Entscheidungen, einen Text, der von Marsilius persönlich verfaßt und in das Amtsbuch des Rektors eingetragen worden war, »damit die Art, wie das neue Studium in Heidelberg angefangen wurde, der Nachwelt bekannt werde und damit auch die Statuten zur Kenntnis kommen, die zu dessen guter Verfassung eingeleitet und aufgesetzt wurden, zu deren Einhaltung die gegenwärtigen und zukünftigen Magistri, in welcher Fakultät auch immer sie graduiert seien, und darüberhinaus auch die Studenten verpflichtet sind. Daher habe ich es für richtig gehalten, das alles kurzgefaßt in das vorliegende Buch zu schreiben, damit nicht durch bloße Unwissenheit jemand diesen Festlegungen oder einer von ihnen frech zuwiderhandelt«. Der Bericht ist offensichtlich normativ gemeint, er will die Festlegungen (instituta) des Anbeginns fixieren und für alle Zukunft sichern. Wir wollen hier auf die einzelnen Schritte bei der Universitätsgründung in Heidelberg nicht erneut achten, wir beschränken uns darauf, die wesentlichen Etappen zu nennen, in denen das Ziel erreicht wurde. Zuerst besorgte sich der
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Pfalzgraf bei Papst Urban VI. eine päpstliche Anerkennung der geplanten Gründung. 100 Pfund der Groschen von Tours mußte man dafür in Genua zahlen, wo der Papst gerade bei seiner unruhigen Wanderschaft durch Italien Station machte, ungerechnet die (uns in ihrer Höhe unbekannten) Handsalben, die für einzelne Kuriale bei diesem Geschäft nötig wurden. Auf den 23. Oktober 1385 ist das Datum der Urkunde angesetzt, auf eine Zeit, in der Urban VI. in dem ihm eigenen paranoiden Verfolgungswahn seine Kardinäle inhaftieren, foltern und töten ließ, da er fürchtete, daß sie sich von ihm abwenden wollten, ein schauerlicher Hintergrund zu seiner Anerkennung der Heidelberger Universitätspläne. Der Papst bestätigte mit Formulierungen, wie sie sich auch in den päpstlichen Gründungsprivilegien von Prag, Krakau und Wien und später dann auch von Köln (1398), Erfurt (1378/88), Würzburg (1402), Leipzig (1400), Nantes (1423) oder Löwen (1425) finden, daß das neue Studium alle Fakultäten, einschließlich der theologischen Fakultät, umfassen sollte, und vor allem, daß es ganz dem Vorbild von Paris verpflichtet bleiben sollte. Er setzte den Propst des nahen Domstifts von Worms als ersten Kanzler der Universität ein: dieses Amt wurde damals von Konrad von Gelnhausen versehen, einem universitätserfahrenen Prälaten, der sein Artes-Sudium 1344 in Paris mit einem Licentiaten, sein Rechtsstudium in Bologna 1375 mit dem Doctor decretorum abgeschlossen hatte und der dann vielleicht noch in Prag einen doctor der Theologie abgeholt hatte. Freilich wissen wir nicht, wann wirklich der letzte Strich auf dem Pergament des Privilegs an der Kurie vollzogen wurde. Jedenfalls gelangte die großformatige Pergamenturkunde erst am 24. Juni 1386 durch eine eigene Gesandtschaft an den Heidelberger Hof, wo dann, bezeichnend genug, erst jetzt, erst zwei Tage danach, am 26. Juni 1386, im großen Rat die Entscheidung fiel, von der durch das päpstliche Privileg eröffneten Möglichkeit auch wirklich Gebrauch zu machen. Weitere drei Tage später, am 29. Juni 1386, wurde dann Marsilius von Inghen als Gründungsbeauftragter des Kurfürsten, als »anheber vnd regirer« des neuen Studiums gegen ein vergleichsweise fürstliches Salär von 200 Gulden in den Rat und den Hofstaat des Pfalzgrafen eingeschworen: offenbar hatte er die überzeugendsten Argumente auf seiner Seite gehabt oder hatte das eindrucksvollste Memorandum über den Nutzen einer Universität in Heidelberg verfaßt, nur leider wissen wir nicht, was er im einzelnen vorgetragen hat. Am 1. Oktober ließ dann der Pfalzgraf durch seine Kanzlei nicht weniger als sechs eigene Pergamentdiplome ausstellen, fünf lateinische Privilegien und eine zusammenfassende deutsche Urkunde, die dann jedes Jahr am Allerheiligenfest feierlich in der Hauptkirche der Stadt vor allen Bürgern zur Einschärfung der Freiheiten der Universität verlesen werden sollte. Marsilius ließ auf eigene Kosten eine feste Archivtruhe herstellen, worin er diese wertvollen Schriftstücke der Universität verwahrte, damit sie ihre
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Bestimmung auch in Zukunft erfüllen könnten. In der Tat sind von den sechs Urkunden vier auch erst 1945 anläßlich der Besetzung Heidelbergs verschollen oder verloren gegangen, bis dahin hatte die Heidelberger Universität sie durch alle Fährnisse hindurch retten können. Die Urkunden atmen ganz den Geist und den Stil des Marsilius von Inghen, der gewiß ihren Text formuliert hat. Unermüdlich schärfen sie ein, daß die neue Universität in allen Dingen als hoffentlich würdige Nachahmerin den Schritten des Studiums von Paris auf dem Fuße folgen solle (»ut Parisiensis studii ut pedissequa utinam digna [modis convenientibus] gressus imitetur«). Aber wie kümmerlich war dann knapp drei Wochen später am 18. und 19. Oktober 1386 der offizielle Beginn des Unterrichts: Nicht mehr als drei Magister der neuen Universität stellten sich zur Eröffnungsmesse ein und hielten die ersten feierlichen Vorlesungen, zwei Dozenten der v4rtesfakultät und ein Theologe. Keine andere deutsche Universität dieser Zeit mußte mit dieser Mindestzahl für ein rechtlich wirksames Kollegium auskommen. Wieviele Studenten anwesend waren, verzeichnet der schamhafte Bericht gar nicht erst. Marsilius hatte den Kurfürsten dazu veranlaßt, ebenfalls die besondere Einrichtung des Rektorats aus Paris tel-quel zu übernehmen, wo der Rektor der Universität allein durch die Artistenmagister aus ihrem eigenen Kreis zu wählen war. Für Heidelberg hatte das zur Folge, daß man auf den ersten Rektor auch nach der feierlichen Eröffnung des Studiums noch etwas warten mußte. Da ein dritter Magister der Artes erst weitere drei Wochen später aus Prag in Heidelberg eintraf, konnte die rechtliche Konstituierung der neuen Universitas durch die Rektorwahl erst am 17. N o vember 1386 vorgenommen werden: Die Entscheidung der drei anwesenden y4ries-Magister fiel, wen kann das wundern, auf den bisherigen fürstlichen Gründungsbeauftragten Marsilius von Inghen, der erst damit von einem pfalzgräflichen Kommissar zu einem frei gewählten Amtsträger der universitären Korporation geworden ist. Die so gewissermaßen stotternd und in Sprüngen, wenngleich mit großer Energie und sichtlichem Enthusiasmus begründete Universität Heidelberg hatte aber auch damit noch nicht alle Anfangsschwierigkeiten überwunden. Das Verfassungsmodell der Pariser Universität mußte erst in mühsamen Konflikten und gegen die starre Opposition des Marsilius von Inghen an die anderen, die kleineren Verhältnisse in Heidelberg angepaßt werden. Einige der vorgesehenen Einrichtungen, wie die »Nationen« oder eine Mietpreiskommission, zusammengesetzt aus Studenten und Bürgern der Stadt, sind in Heidelberg niemals ins Leben getreten. Die Rektorwahl wurde noch im ersten Jahrzehnt des Bestehens der Universität allmählich den geänderten Bedingungen (und dem Prager Vorbild) angepaßt, indem man das Rektorat auf sechs Monate verlängerte, vor allem, indem man festlegte, daß alle Fakultäten den Rektor bestellten und auch aus sich wählen
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lassen konnten. Im dritten Jahr 1388 zogen, wie Marsilius höchstpersönlich erzürnt und enttäuscht in die Matrikel notierte, »fast alle Studenten« unter Führung des Heidelberger Rektors Berthold Suderdick aus Osnabrück aus Heidelberg aus, da 1387 in Köln eine neue Universität in der Großstadt abwärts des Rheins gegründet worden war, die größere Aussichten, insbesondere größere Aussichten auf eine Versorgung zu bieten schien. Aber die zarte Pflanzung an der Neckarmündung überlebte auch weitere Bedrohungen. Sie hatte das doppelte Glück, daß der Fürst, der sie gegründet hatte, sich energisch für seine junge Einrichtung einsetzte und auch dafür sorgte, daß seine Nachfolger sich zu einer dauernden Förderung der Hochschule verpflichteten. Auch sein Neffe, Ruprecht II., der die Gründungsurkunden seines Onkels von vorneherein mitbesiegelt hatte, hat dann hier für Kontinuität gesorgt. Er hat in seiner (relativ kurzen) Regierungszeit (1390-1398) nicht nur das finanzielle Engagement des Hofes fortgesetzt, er hat auch zusätzliche Mittel für die Ausstattung der jungen Universität zur Verfügung gestellt, so als er eine einmal gelobte Wallfahrt ins Heilige Land mit Einwilligung des Papstes in eine großzügige Spende »adpios usus« umwandelte und deshalb der Universität einen ansehnlichen Betrag (von nominell insgesamt 3.000 Gulden) zur Verfügung stellte. Auch besorgte Ruprecht II. bei dem »römischen« Papst BonifazIX. (1398) die Erlaubnis, eine Reihe von Pfründen in den Stiftern der Umgebung, von Wimpfen bis Neustadt und Worms, zur Versorgung von Heidelberger Universitätslehrern heranziehen zu dürfen und damit wenigstens einen gewissen Ersatz für ein in Heidelberg nicht vorhandenes Kanonikerstift zu schaffen. Das spätere Universitätsstift, das Heiliggeiststift, das erst 1413 endültig eingerichtet werden konnte, hat dann diese sogenannten »Bonifazpfründen« dankbar in seinen Pfründenbestand aufnehmen können. Freilich hat Ruprecht II. die Universität auch (1391/92) mit den von den aus der Pfalz brutal vertriebenen Juden hinterlassenen Vermögenswerten beschenkt. In die Häuser der Juden in Heidelberg zogen die Dozenten der Universität noch lange ein, die frühere Synagoge wurde zur Universitätskapelle umgewidmet, die hinterlassenen Bücher wurden zum größten Teil in Frankfurt nach und nach verkauft, nur ein geringer Teil ging in den dauernden Besitz der Universität über. Der Sohn und Nachfolger Ruprechts II., Ruprecht III. (1398-1410), der 1400 gegen den Sohn Karls IV. Wenzel zum Römischen König gewählt worden ist und für ein Jahrzehnt sich im Kampf um das Königtum in Deutschland verzehrte, hat dann die Universität weiter, so gut er es vermochte, im Auge behalten, hat bei Streitigkeiten der Scholaren mit den Bürgern der Stadt oder mit dem Gesinde des Hofes, insbesondere immer wieder mit den Roßknechten des Schlosses, vermittelt und geschlichtet. Ruprecht III. hat weitere Maßnahmen getroffen, die Universität in Heidel-
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berg zu stützen und zu festigen. Anläßlich eines der zahlreichen Konflikte mit den Baürgern der Stadt sorgte er (am 1. August 1401) großzügig dafür, daß seine Gemahlin und seine Söhne Ludwig und Johannes für die Zukunft ein Gelöbnis ablegten, das eine langfristige Wirkung haben sollte: da die drei Ruprechte »eyne gemeyne schule und Studium in ir stad Heidelberg« mit dem Zweck gegründet hätten, »eweclich zue sin und daz etwie viel tare her da gehalten und gehanthabt und auch den meistern und dem Studium etlich guede, gnade und freiheit eweclich gebend, vermacht und geordent han (...)«, legten sie nun auch ihrerseits »für uns und unser erben samet und besunder« einen ausdrücklichen Eid ab, »daz wir und unsere erben die obgenannt schuele und Studium eweclichen behalten und hanthaben sollen und wollen bii allen friiheiten zu bliben und yn alle gut zu laszen, die yn die obgenannt unsere lieben vetter, anherre und vatter geben, getan, vermacht und verbrief ft hant, (...) und sie bii denselben allen friheiden, gnaden und gueten alwegen getrulich schirmen, schueren, verentwurten und hanthaben sollen und wollen (...). und han daz alles in allermaszen, als vorgeschriben stet, in rechter ganczer warheit und bii unsern rechten, fürstlichen eren und truwen globt und versprochen.« So faßt es die drüber aufgesetzte Urkunde zusammen. Für die Kurpfalz wurde es üblich, daß die Kurfürsten bei Antritt ihrer Regierung einen programmatischen Eid darauf ablegten, die Universität Heidelberg weiter fördern zu wollen. Gewiß hat die Universität nicht ausschließlich wegen dieses Eides einen jahrhundertelangen Weg gehen können. Auch haben die Wittelsbacher in Heidelberg gewiß nicht nur wegen dieses einmal abgelegten Eides für den Bestand der Universität Sorge getragen. Aber die Fürsten haben damit in den zu ihrer Zeit üblichen Formen die Verpflichtung anerkannt, die sie mit der Gründung einer Universität auf sich genommen hatten. Sie haben diese Verpflichtung auch in Zukunft nicht aus den Augen verloren. Die Universität in Heidelberg konnte, gestützt auf diese willig übernommene Verantwortung der Kurfürsten, noch manch schwere Krise meistern. So haben die Gründerväter der Universität, die Pfalzgrafen und ihre gelehrten Helfer, mit Weitblick und mit einem nachhaltigen Engagement die Hohe Schule auf einen guten Weg gebracht, zumal sie flexibel genug blieben, von allzu irrealen Vorstellungen allmählich Abstand zu nehmen. Heidelberg ist kein zweites Paris geworden, aber eine wichtige Universität der deutschen Bildungslandschaft, die sich von Anfang an in die deutschen Entwicklungen einpaßte, diese aufnahm und auch ihrerseits, bisweilen sogar prägend, beeinflußte. Das durch die sechs Jahrhunderte ihrer fast ununterbrochenen Geschichte zu verfolgen, müßte freilich mehr als nur einen einzigen weiteren Vortrag füllen, es könnte Gegenstand einer ganzen weiteren Vorlesungsreihe sein.
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WILHELM ERNST
WINTERHAGER
Wittenberg Reformation u n d Wissenschaft
I. Gründung als kursächsische Landesuniversität Als Martin Luther 1508 zum ersten Mal nach Wittenberg kam, war er erstaunt darüber, daß an diesem Ort eine Universität errichtet worden war; er glaubte sich »in termino civilitatis« zu befinden, am Rande der zivilisierten Welt, der abendländischen Kultur. Luther kam damals aus Erfurt, der trotz aller Krisen noch immer blühenden Metropole Thüringens - und im Vergleich zu Erfurt mußte in der Tat Wittenberg mit seinen gut 2.000 Einwohnern, mit seinem unansehnlichen Erscheinungsbild, seinen vielfach noch dörflichen Gerüchen und Gewohnheiten als periphere, minderkultivierte Kleinstadt erscheinen. Daß dieser bescheidene Ort mit seiner Hochschule binnen weniger Jahre zu weltgeschichtlicher Bedeutung emporsteigen sollte, war wahrlich nicht vorauszusehen. Warum war gerade hierher sechs Jahre zuvor, 1502, eine Universität gepflanzt worden? Die Antwort auf diese Frage ist allein im politischen Bereich zu suchen, in den Besonderheiten der damaligen sächsischen Territorialpolitik. In dem folgenschweren, seiner Wirkungen wegen berühmt gewordenen Vertrag zu Leipzig 1485 hatten die sächsischen Wettinerherzöge - die beiden Brüder Ernst und Albrecht - ihr großes, weithin geschlossenes Territorium in der Mitte Deutschlands in zwei getrennte Herrschaftsbereiche aufgeteilt: Der reichere, etwas kleinere Landesteil mit der Residenz Dresden und dem Raum um Leipzig fiel an Albrecht und seine Erben, die Albertiner, der ältere Bruder Ernst dagegen und die von ihm begründete Linie der Ernestiner erhielten die übrigen Teile einschließlich des alten askanischen Herzogsgebietes um Wittenberg, an das seit dem 14. Jahrhundert die Kurwürde geknüpft war. Bewußt hatte man die Teilung so vorgenommen, daß beide Bereiche dicht ineinander verzahnt blieben, um auch für die Zukunft eine enge Zusammenarbeit im Gesamthaus Wettin zu gewährleisten. Entsprechend sollte ganz selbstverständlich die altehrwürdige, seit 1409 (seit dem Exodus der deutschen Professoren und Studenten aus Prag) bestehende Universität Leipzig - die nun im Gebiet der Albertiner lag - weiter für
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das gesamtwettinische Territorium als gemeinsame Landesuniversität dienen. Jedoch, schon unter den Söhnen Emsts und Albrechts kam es zu wachsender persönlicher Entfremdung und politischen Spannungen, gegen 1500 trat der Konflikt immer offener zutage: Die beiden Ernestiner Kurfürst Friedrich, genannt »der Weise«, und sein Bruder Herzog Johann, genannt »der Beständige«, fühlten sich von ihrem eigenwilligen Vetter Herzog Georg in Dresden immer schärfer herausgefordert. Es war diese Konstellation, aus der bei Kurfürst Friedrich der Wunsch erwuchs, sich eine eigene Landesuniversität zu schaffen, um gerade in dem territorialpolitisch so bedeutsamen Hochschulwesen von dem ungeliebten albertinischen Vetter unabhängig zu werden. So ist denn die Gründung der Universität Wittenberg von Anfang an in gewisser Weise als Gegewgründung gegen Leipzig zu verstehen. Wie nicht selten auch in späteren Zeiten - bis hin zur Errichtung der Freien Universität im Westteil Berlins 1949 - war es schon damals ein aus politischer Gegnerschaft und Spaltung entspringender Impuls, der zur Hochschulneugründung führte: das Bedürfnis gegenüber einer feindlich werdenden Umwelt, welche die angestammte Hochschule unter ihrer Kontrolle hatte, mit einer neuen, eigenen Studienanstalt die politische und intellektuelle Selbstbehauptung zu wahren. Als kurfürstlichem Territorium mußte dem ernestinischen Sachsen um so mehr, nicht nur aus Prestigegründen, an der Verfügung über eine selbständige Landesuniversität liegen. Auch das letzte der deutschen Kurfürstentümer, Kurbrandenburg, sollte bekanntlich zu jener Zeit in gleicher Richtung agieren: Mit der 1506 abgeschlossenen Errichtung der Universität Frankfurt/Oder wurde auch hier die Lücke der noch fehlenden, zur Konsolidierung der Landesherrschaft so wichtigen Hochschule geschlossen. Fortan also waren es vier Universitäten - die beiden älteren Anstalten Erfurt (gegründet 1392) und Leipzig sowie die Neugründungen Wittenberg und Frankfurt/О der - , die im mitteldeutschen Raum konkurrierten, wobei Wittenberg sich vor allem in Rivalität sah zu Frankfurt (schon aufgrund der politischen Rivalität zwischen Kursachsen und Kurbrandenburg) und zu Leipzig. Die Frontstellung gegenüber Leipzig kam bereits dadurch zum Ausdruck, daß zum ersten Rektor Wittenbergs der Mediziner und kurfürstliche Leibarzt Martin Pollich von Meilerstadt gewählt wurde, der sich in heftiger wissenschaftlicher und persönlicher Kontroverse mit zwei seiner ehemaligen Leipziger Kollegen befehdete. Auch die Statuten der neuen Universität Wittenberg hoben sich deutlich von denen der alten Wettinerhochschule Leipzig ab und folgten statt dessen weitgehend dem Vorbild des fernen Tübingen. Tübingen war 1471 als letztvorhergehende Universität auf deutschem Boden, als württembergische Landeshochschule gegründet worden und galt als Lehranstalt mit vergleichsweise modernen Zügen, die sich in kurzer Zeit Ruf und Ansehen erworben hatte. Die Orientierung am Tübinger Modell hing nicht zuletzt
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damit zusammen, daß einige der wichtigsten nach Wittenberg berufenen Hochschullehrer ihre wissenschaftliche Prägung ebendort, in Tübingen, erhalten hatten, - darunter auch Luthers späterer Lehrer Johann von Staupitz, der dem Kurfürsten Friedrich persönlich verbundene nachmalige Generalvikar der observanten Augustiner-Eremiten. Ähnlich wie in unseren Tagen, mit der universitären Einfluß- und Übernahme von West nach Ost, gingen schon damals Wissenschafts- und Personaltransfer ganz natürlich Hand in Hand. Wir werden auf die Tübinger Impulse und die dadurch bewirkten innovativen Tendenzen in der Wittenberger Gründung noch zurückkommen. Es wäre indes überzogen, der Wittenberger Hochschule von vornherein etwa den erklärten Anspruch einer Reformuniversität unterzuschieben. Gründung und Frühgeschichte der »Leucorea« - so der spätere Beiname nach griechisch λευκός, weiß und δρος. Berg, eine Gräzisierung also für Wittenberg als Weißenberg - vollzogen sich in durchaus traditionellen Bahnen. Zwar war es ungewöhnlich, daß das Stiftungsprivileg für die neue Universität nicht zuerst beim Heiligen Stuhl, sondern zunächst im Juli 1502 nur beim römisch-deutschen König Maximilian eingeholt wurde, doch die Bestätigung durch den päpstlichen Legaten (Raimund Peraudi) folgte auf dem Fuße, und später hat man zur Sicherheit noch einmal sich die päpstliche Privilegierung an der römischen Kurie selbst bekräftigen lassen. Auf die eindeutige Anerkennung der neuen Hochschule, ihrer Ausbildung und Abschlüsse durch den Heiligen Stuhl konnte und wollte der sächsische Kurfürst keineswegs verzichten. Entsprechend folgten die Fakultätsgliederung, das System der akademischen Grade und die scholastisch geprägten Studienpläne ganz den überkommenen Formen und Inhalten. Dabei dominierte in den ersten Wittenberger Jahren, anders als in Tübingen, sogar allein die via antiqua des Thomismus und Scotismus, ehe dann, festgeschrieben in den erneuerten Statuten von 1508, die via moderna nach der Lehre des Wilhelm von Occam sich auch in Wittenberg ihr Lebensrecht sichern konnte. Diese Etablierung der via moderna war auf den wachsenden Einfluß zurückzuführen, den damals die Universität Erfurt auf die junge Wittenberger Hochschule auszuüben begann: Erfurt, wo ja auch Luther im Occamschen Geiste ausgebildet worden war. Die traditionell-kirchliche Bindung der Leucorea kommt schließlich auch in der ökonomischen Fundierung zum Ausdruck, bei der man - nach bewährten Muster - das örtliche Stift, das seit dem 14. Jahrhundert bestehende Wittenberger Allerheiligenstift, mit seinen Einkünften und Pfründen der Universität zuordnete: Zum Großteil wurden die Professoren, namentlich der Theologie und des geistlichen Rechts, als Kanoniker des Stiftes bepfründet und auf diese Weise entlohnt. Drei weitere theologische Professuren wurden durch Angehörige der Bettelorden versehen: eine durch die Franziskaner, zwei durch die Augustiner-Eremiten um Johann
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von Staupitz, die jetzt überhaupt erst ein Kloster in Wittenberg errichteten und, in Verbindung damit, ein Generalstudium ihres Ordens, durch das der Leucorea kräftig Studenten zugeführt wurden. Neben den kirchlich versorgten Stellen blieben indes noch genügend Professuren und Lektorate bei Artisten, Legisten und Medizinern, die auf Dauer aus der kurfürstlichen Kammer besoldet werden mußten. Hier zeigt sich die strukturelle Schwäche der Wittenberger Fundierung, die sich im Grunde allein auf das kleine, bald freilich kräftig erweiterte Allerheiligenstift stützen konnte. Andere, größere Städte in Kursachsen wie etwa Zwickau oder Altenburg hätten hier gewiß bessere Möglichkeiten zur materiellen Einbindung und generell eine geeignetere urbane Infrastruktur bieten können. Doch dem Kurfürsten lag, wie auch die völlige Neuerrichtung des Wittenberger Schlosses um 1500 und andere Baumaßnahmen in der Folgezeit zeigen, gerade am Ausbau der bislang eher unterentwickelten ifwrresidenz Wittenberg, w o f ü r er finanzielle Opfer zu bringen bereit war. Nicht nur als Stätte der Bildung, auch als Zentrum der Frömmigkeit wurde Wittenberg systematisch aufgewertet: Die sagenhafte Reliquiensammlung des Kurfürsten wurde bis 1520 auf über 19.000 Partikel ausgedehnt, und entsprechend reich war der Ablaß, der bei der Ausstellung dieses Heiltums in der Wittenberger Schloßkirche zu erwerben war. Mit der hier manifestierten frommen Grundausrichtung vertrug es sich nach den für Kurfürst Friedrich leitenden Maßstäben christlicher Landesherrschaft sehr wohl, daß er zugleich den Einfluß der kirchlichen Hierarchie auf Wittenberg und seine neue Universität tunlichst zu begrenzen suchte. So wurden die an anderen Universitäten so gewichtigen geistlichen Ämter des Kanzlers und der Konservatoren in ihren Befugnissen auf ein Minimum beschränkt und statt dessen die Aufsicht über die Hochschule nach Bologneser Vorbild einem vierköpfigen Gremium von Reformatoren übertragen, die die Statuten auszulegen hatten und sie nötigenfalls auch ändern, »reformieren« konnten. Z u m Kreis dieser Reformatoren gehörten neben dem Rektor drei weitere Hochschulmitglieder, die vom Kurfürsten ernannt wurden und als seine Vertreter agierten. So war die landesherrliche Kontrolle auch innerhalb der Universität verankert, überall machte sich der Einfluß und Wille des kurfürstlichen Hofes prägend bemerkbar. Im übrigen ging es auch offenbar auf eine Entscheidung des Kurfürsten zurück, daß 1508 - der Tradition entgegen - die Aufteilung der Universitätsmitglieder in nationes (Nationen) und ähnliche Gruppenbildungen verboten wurden. Man hatte, wie es scheint, in den ersten Jahren schlechte Erfahrungen mit der Befehdung der landsmannschaftlichen Verbände untereinander gemacht und wollte dies abstellen - ohne viel Erfolg allerdings, bis hin zu dem traurigen Höhepunkt, daß Ende 1512 nach einer Schlägerei zwischen fränkischen und sächsischen Studenten, die zu Relegationen geführt hatte, von einem der relegierten fränkischen Scholaren der Rektor
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der Universität auf offener Straße mit einer Hacke erschlagen wurde. Gegen die rauben Sitten, die an der Elbe namentlich im Verkehr zwischen Studenten und Stadtbürgern herrschten, haben später auch Luther und Melanchthon wenig auszurichten vermocht. Daß die Universität nicht nur zu löblicher Bildung, sondern auch zur Aneignung »verfeinerter Sitten« beitragen möge - so die Statutenvorrede 1508 - stand weithin als Appell, als frommer Wunsch nur auf dem Papier.
II. Ausbau zur Reformhochschule im humanistischen Geist Von Anfang an fand in Wittenberg auch die junge, aufsteigende Geistesströmung des Humanismus eine Heimstatt. Schon im kurfürstlichen Einladungsschreiben 1502 wurde angekündigt, daß die neue Hochschule neben den üblichen Gegenständen auch die »Poeterei und andere Künste«, die Humaniora also, lehren würde. Die feierliche Eröffnungsrede für die Leucorea hielt der bekannte Poet Hermann von dem Busche, der als Rhetorikprofessor gewonnen worden war. Auch andere humanistische Literaten konnten für Wittenberg geworben werden und erhielten zum Teil feste Lektorate in der Artistischen Fakultät. Freilich blieb das Curriculum, das zur Erlangung akademischer Grade führte, auch in Wittenberg zunächst auf die tradierten scholastischen Lehrinhalte beschränkt; die humanistischen Studien waren nicht mehr als ein Nebenangebot für besonders Interessierte. Erst die Berufung des Nürnberger Juristen Christoph Scheurl 1507, der soeben in Bologna zum Doktor beider Rechte promoviert worden war und in Wittenberg sogleich zum Rektor gewählt wurde, brachte der humanistischen Ideenwelt an der Leucorea einen breiteren Durchbruch. In den revidierten Statuten von 1508 wurden die Vertreter der humanistischen Lehrrichtung den Magistern der Artisten gleichgestellt, ihren Lektionen wurde im Stundenplan vermehrt Raum geboten. Um 1512 begann Luthers Freund und augustinischer Ordensbruder Johann Lang in Wittenberg Griechisch zu unterrichten, 1516 folgte die Unterweisung im Hebräischen, schon vorher waren die Geographie und auch die Mathematik als eigenes, von der Metaphysik getrenntes Fach im Lehrplan der Artisten verankert worden. Die fortschrittlichen Elemente hatten fest im Universitätsleben Fuß gefaßt, es entstand in der Wittenberger Gelehrtenrepublik eine vergleichsweise freie, duldsame Atmosphäre, ein Methodenpluralismus, der nur an wenigen anderen Universitäten in dieser Ausprägung entwickelt war. Vom kursächsischen H o f wurde diese Entwicklung wohlwollend begleitet, ja aktiv unterstützt. Seit 1516 war es dabei der Privatsekretär und Kaplan des Kurfürsten Friedrich, der humanistisch gebildete Georg Spalatin, der als eine Art fürstlicher Hochschulreferent die Richtung steuerte. Spalatin
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brachte damals seinen kurfürstlichen Herrn auch in briefliche Verbindung zu dem großen Erasmus von Rotterdam und vermochte den Kurfürsten zu begeistern für das Ideal einer modernen Universität, die sich dem Geist der Zeit öffnete und in ganz Deutschland als Hochburg wissenschaftlicher Neuerungen Beachtung finden sollte. Dem frommen Kurfürsten dürfte die Zustimmung zu diesem Kurs um so leichter gefallen sein, als der Wittenberger Humanismus sich über die Orientierung an den klassisch-antiken Vorbildern hinaus unter dem Einfluß Luthers inzwischen in den Bahnen eines ausgesprochenen Bibelhumanismus bewegte. Seitdem Luther in der Nachfolge von Staupitz 1512 die Bibelprofessur übernommen hatte, konzentrierte er seine Vorlesungstätigkeit ausschließlich auf die Auslegung, die Exegese, der biblischen Bücher, die er unter Hintansetzung scholastischer Kommentare und Umdeutungen ganz dem Wortsinn und Kontext nach, mit dem durch die Humanisten bereitgestellten Instrumentarium der Philologie und Textkritik untersuchte. Die Konsequenz daraus war, daß zum einen - methodisch gesehen - das Studium der Heiligen Schrift auf die ursprachliche Überlieferung zurückgeführt wurde: adfontes, zurück zu den Quellen! Zum anderen ergab sich aus dem erneuerten Schriftstudium je länger, je mehr die fundamentale Korrektur des bestehenden systematisch-theologischen Lehrgebäudes der Kirche, soweit es auf der scholastischen Tradition aufbaute. Beides, humanistischer Geistesaufbruch und erneuerte Theologie, schienen hier eine glückliche Symbiose einzugehen - vereint vor allem in der Stoßrichtung gegen die scholastisch-aristotelische Philosophie mit ihren geschlossenen Systemen und festen Autoritäten, die nun der konsequente, im moderneren Sinne wissenschaftliche Erkenntnisdrang der Neuerer von Grund auf in Frage stellte. Zunehmend kam ein aggressiver Ton in die Debatte; die Polarisierung, die damals der große Streit um den humanistischen Gelehrten Johann Reuchlin in der akademischen Welt herbeiführte, strahlte auch nach Wittenberg aus, wo Luther und seine Gesinnungsfreunde ihre Sympathie für Reuchlin nicht verhehlten. Während die scholastischen Doktores unter Hörerschwund zu leiden hatten, fanden die kritischen Neuerer in Wittenberg immer stärkeren Zulauf. Generell befand sich die Leucorea zu jener Zeit, in der präreformatorischen Situation um 1515, in einem neuen Aufschwung. Nach dem üblichen ersten Boom der Gründungsjahre war zwischenzeitlich der Besuch der Hochschule stark zurückgegangen, und erst jetzt stieg die Zahl der Inskribenten wieder allmählich auf das Niveau der Anfangsjahre an (218 Neueinschreibungen waren es im Jahre 1515). Wittenberg hatte damit, der Studentenzahl nach, hinter den Großstadtuniversitäten Wien, Leipzig, Köln und Erfurt sowie dicht hinter Ingolstadt den sechsten Platz unter den Hochschulen im deutschspachigen Raum inne (Löwen dabei nicht mitgerechnet). Es wäre gewiß reizvoll zu versuchen, eine Art Hochschul-Ran-
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king für die damalige Zeit aufzustellen, wobei man freilich das je eigene Profil der einzelnen Fakultäten und die unterschiedliche Klientel in Rechnung stellen müßte. Unter den 15 Universitäten Deutschlands galten Köln und Leipzig sowie das kleinere Mainz und auch Frankfurt/Oder als Hochburgen der Scholastik, die im Zuge des Reuchlinschen Streits, namentlich in den satirischen »Dunkelmännerbriefen«, von humanistischer Seite zum Teil rüde attackiert wurden. In einer Art Mittelstellung kann man Wien, Erfurt und Rostock und um 1515 wohl auch Tübingen sehen, wo überall Humanisten relativ stark vertreten waren, doch in der letztlich tonangebenden Theologenfakultät die konservativen Kräfte dominierten. Zwei weitere Hochschulen sind hier zu vernachlässigen: Trier und Greifswald, sie lagen schon vor der Reformation weithin darnieder. Von den übrigen fünf Universitäten darf man wohl sagen, daß sie um 1515/16 am stärksten den neuen Tendenzen geöffnet waren: So hatte Heidelberg schon im Reuchlinschen Streit sich deutlich von der scholastischen Linie der Verketzerung Reuchlins abgesetzt, auch die Univeritäten Basel und Freiburg galten als aufgeschlossen für neue Ideen - so sehr, daß Luther sie wenig später, nach der Leipziger Disputation 1519, als ihm genehme Schiedsinstanzen benannte. Vor allem aber waren es zwei Hochschulen, die unmittelbar vor der Reformation als aufstrebende Hoffnungsträger des neuen humanistischen Geistes erscheinen konnten: eben Wittenberg und daneben die bayerische Landesuniversität Ingolstadt. Hier, in Ingolstadt, hatte 1506 Jakob Locher den ersten kämpferischen Angriff des akademischen Humanismus auf die scholastische Methode und ihr Lehrgebäude als »Mauleseltheologie« publiziert, hier wirkte als herausragender, in vielem anfangs fortschrittlich orientierter Gelehrter Johann Eck (später zeitweise auch Reuchlin), und hier war bereits 1515 eine humanistisch inspirierte Reform der Artistenfakultät durchgeführt worden. Mehr noch als Wittenberg konnte Ingolstadt prädisponiert erscheinen, die Meinungsführerschaft im Lager der Neuerer zu übernehmen. Doch es sollte anders kommen. Während Johann Eck sich bald nicht nur gegen Luther, sondern - was noch mehr verwunderte - Anfang 1518 auch gegen Erasmus stellte und damit Ingolstadt ins Gegenlager zog, schritt in Wittenberg der Siegeszug der neuen Richtung weiter voran. Nachdem Luther die Mehrzahl des Lehrkörpers (darunter vor allem den Theologenkollegen Andreas Karlstadt) für sein Anliegen gewonnen hatte, trat er Anfang September 1517 mit seiner bis dahin schärfsten grundsätzlichen Stellungnahme hervor. Die Antischolastik-Thesen, über die er damals disputieren ließ, stellten eine einzige, radikale Abrechnung mit dem aristotelischen »Irrweg« des mittelalterlichen Bildungssystems dar. Obschon das Echo auf diese Thesen außerhalb Wittenbergs enttäuschend blieb, trugen sie an der Leucorea selbst zur weiteren Klärung bei. Nachdem das theologische Studium inhaltlich weitgehend neugestaltet war, wurde zunehmend
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die Notwendigkeit empfunden, nun auch das in der Breitenwirkung viel wichtigere Grundstudium an der Artistenfakultät durchgreifend zu reformieren: erst damit wurde ja ein wirklicher Umbau des Wissenschaftsbetriebes in Angriff genommen. Im Frühjahr 1518 lagen die Pläne hierfür vor: Das Ziel war die systematische Einbindung humanistischer Lehrinhalte in den Studienplan unter Verdrängung der alten Sentenzenvorlesungen und der allgegenwärtigen aristotelischen Logik oder - wie Luther kampfeslustig an Spalatin schrieb - unter Austreibung der »Barbarei«. Zu realisieren aber war eine solche Reform nur mit neuem, hochqualifiziertem Personal; sie setzte Neuberufungen auf vielen Ebenen voraus. Wegen der hohen Kosten, die solches verursacht hätte, mußte man vorerst sich mit Teilmaßnahmen begnügen, doch immerhin fand Kurfürst Friedrich sich bereit, in Umsetzung des Projektes unter anderem Professuren für die griechische und hebräische Sprache einzurichten. Der bei weitem bedeutendste Ertrag des Reformschubes von 1518 war denn auch die Besetzung der neuen Griechisch-Professur in Wittenberg: Nachdem der sächsische Kurfürst hierfür bezeichnenderweise den Rat - gewissermaßen das auswärtige Gutachten - Johann Reuchlins erbeten hatte, empfahl dieser seinen eigenen Großneffen Philipp Melanchthon als begabten Nachwuchswissenschaftler aus Tübingen. Es war die wohl folgenreichste Berufung in der Geschichte der Leucorea (wenn man bedenkt, daß Luther auf seine Ordensprofessur ja nicht eigentlich berufen worden war), ein entscheidender Schritt zur Erhöhung des Ruhmes der Hochschule, der Melanchthon über vierzig Jahre, bis zu seinem Tode 1560, die Treue halten sollte. Mit einer aufsehenerregenden Antrittsvorlesung über die Verbesserung des akademischen Studiums, »De corrigendis adolescentiae studiis«, trat der erst 21jährige Melanchthon im August 1518 vor sein neues Wittenberger Forum. Hier wurde ein Reformprogramm ganz im erasmisch-humanistischen Geiste vorgetragen: Dem jahrhundertelangen Niedergang der Bildung, den wie so oft polemisch abqualifizierten »barbarischen« Spitzfindigkeiten der Scholastik wurde die Verheißung der neuerweckten, unverfälschten Wissenschaft entgegengestellt, die als Einheit literarisch-philologischer, mathematisch-naturwissenschaftlicher und (bei Melanchthon in neuer Betonung) historischer Studien gesehen wurde und im Grundziel orientiert sein sollte auf die Erziehung des Menschen zu wahrer »humanitas« und eine aus dieser ethischen Bildung emporblühende Erneuerung des Christentums. »Sapere audete«: wagt zu verstehen, euren Verstand zu gebrauchen, rief Melanchthon mit Horaz seinen Hörern wie ein Losungswort zu. Nur wenige Wochen nach Melanchthons Wittenberger Rede schrieb Ulrich von Hutten 1518 in Augsburg seine bekannten Triumphsätze: » O saeculum. О literae. Iuvat vivere.... Vigent studia, florent ingenia.« - » O Jahrhundert, о Wissenschaften. Es ist eine Lust zu leben. ... Es blühen die Studien, die Geister regen sich.« Erasmus sah in jenen Jahren ein neues
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Goldenes Zeitalter heraufziehen. Man stand, wie man wähnte, am A n bruch, am N e u b e g i n n aller wahren, echten Wissenschaft - u n d Wittenberg eilte mit an der Spitze dieser Bewegung voran.
III. Glaubensreformation und Wissenschaft im Widerstreit Tatsächlich aber waren die Weichen gerade hier, in Wittenberg, schon in andere Richtung gestellt - u n d dieser Einbruch ganz anderer Dimensionen, der bekanntlich weit über die Wittenberger Entwicklung hinauswirkte, war letztlich allein dem persönlichen Erkenntnisweg Luthers geschuldet. D e r Wendepunkt, u m den es hier geht, fiel zeitlich - wie man heute wohl mit Sicherheit sagen kann - in die bewegte Phase des eskalierenden Ablaßstreites im F r ü h j a h r bis Sommer 1518. In seinen theologisch-exegetischen Studien, angetrieben durch innere Gewissens- und Heilsnot u m die eigene göttliche Erwählung oder Verwerfung, war Luther zu neuen, f ü r ihn und - wie sich bald zeigen sollte - f ü r die Kirche insgesamt umstürzenden Einsichten gelangt: Einsichten, die ihn über seine in den Vorjahren entfaltete strenge D e m u t s - und Kreuzestheologie hinausführten zu einem ganz neuen Verständnis des christlichen Erlösungswerkes. Luther hat diesen Erkenntnisdurchbruch in der Vorbereitung f ü r eine seiner Vorlesungen gew o n n e n (allein dies eine beglückende Erfahrung f ü r einen Hochschullehrer!), in der akademisch-hermeneutischen Arbeit an den biblischen Texten. Dabei ging es speziell u m die Schlüsselstellen im 1. u n d 3. Kapitel des Römerbriefes des Paulus über die Gerechtigkeit Gottes, die Iustitia Dei, die Luther im Sinne des richtenden Gottes deutete, der gemäß seiner Gerechtigkeit den Sünder, den Ungerechten straft: f ü r Luther n u r ein weiterer Beleg seines Bildes vom zürnenden, fernen Richtergott und damit f ü r ihn persönlich n u r Bestätigung seiner quälenden Gerichts- u n d Verdammungsangst. Die Wende des Ganzen hat Luther in seinem großen Selbstzeugnis 1545 rückblickend geschildert (hier zitiert in deutscher Übersetzung): »So wütete ich wild u n d mit verwirrtem Gewissen, jedoch klopfte ich rücksichtslos bei Paulus an dieser Stelle an; ich dürstete glühend zu wissen, was Paulus wolle. D a erbarmte sich G o t t meiner. Tag u n d N a c h t war ich in tiefe Gedanken versunken, bis ich endlich den Zusammenhang der Worte beachtete (Römer 1,17): >Die Gerechtigkeit Gottes wird in ihm - im Evangelium - offenbart, wie geschrieben steht: D e r Gerechte lebt aus dem Glaub e n s D a fing ich an, die Gerechtigkeit Gottes als eine solche zu verstehen, durch welche der Gerechte als durch Gottes Gabe lebt, nämlich aus dem Glauben. Ich fing an zu begreifen, daß dies der Sinn sei: durch das Evangelium wird die Gerechtigkeit Gottes offenbart, nämlich die passive, durch welche uns der barmherzige G o t t durch den Glauben rechtfertigt, wie geschrieben steht: >Der Gerechte lebt aus dem GlaubenNarrenschiffVolkshochschulkurse< gab. Die sich radikalisierende Bürgerschaft erzwang durch eine Volkserhebung 1529 den Sieg der Reformation, was der letzte altgläubige Rektor der Universität (1528/29), Sebastian Müller, in der Matrikel folgendermaßen kommentierte: »Unter Sebastian Molitor stieg diese Seelenpestilenz auf das Höchste, so daß die Gebräuche der gesamten Christenheit zusammen auf einmal umgestoßen wurden ... und jenes Opfer des H. Leibs des Herrn in einemweg der ganzen Herrschaft von Basel entrissen worden ist, zum größten Gespötte der Geistlichkeit. Und so ist begreiflicherweise nur Einer immatrikuliert worden.« Als der Rat der Stadt von seinen altgläubigen Mitgliedern >gesäubert< wurde, zog die Universität die Konsequenz: mit dem Domkapitel wanderten auch die meisten Studenten und Dozenten nach dem benachbarten Freiburg i.Br. aus. Auch Erasmus folgte ihnen schließlich. Allerdings hatte man die Insignien der Universität (Szepter, Siegel etc.) im Kollegiengebäude zurückgelassen. Der Rat beeilte sich, sie am 14. Juni 1529 in Verwahrung zu nehmen; es kam zu einem Interregnum. Der akademische Unterricht wurde aber fortgesetzt, da einige Dozenten zurückgeblieben waren. Sie fügten sich, z.T. nach heftigen Auseinandersetzungen, dem neuen Abendmahlszwang des Rates, als dem Test für die Rechtgläubigkeit. So konnte vor allem Oekolampad den Neuaufbau der Universität in die Wege leiten und etwa Simon Grynaeus als Professor für die griechische Sprache gewinnen. Der kompromißwillige Mediziner Oswald Bär nahm übrigens gerade in dieser Zeit, am 9. Januar 1531, die erste öffentliche Anatomie vor. Endlich legte der Rat im Jahre 1532 einen Mindestbestand von sechs Professuren fest: zwei für Theologie - eine für das weltliche Recht - eine für die Medizin - zwei für die griechische bzw. hebräische Sprache. In einem Universitätsstatut regelte nun der Staat sein Verhältnis zur Universität. Wenn sich damit nicht mehr wie ehedem zwei Partner gegenüberstanden, so blieb doch die akademische Selbstverwaltung weitgehend erhalten. Der Universität wuchsen sogar Aufgaben in dem sich straffenden christ-
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lich-reformierten Staatswesen zu. Im Jahre 1558 wurden dem Rektor und den vier Dekanen die schon 1524 eingeführte Zensur übertragen, der sämtliche Manuskripte vor dem Druck vorzulegen waren. Bereits 1539 übernahm die Regenz die Aufsicht über das Schulwesen und bemühte sich, teilweise in Konkurrenz zum alten Gymnasium auf Burg am Münsterplatz, insbesondere um die Reform der Oberstufe. Die Zahl der Studenten war in der Zeit der Wirren sehr eingebrochen. Mit der Etablierung des neuen Glaubens und der Neueröffnung der Universität begann aber eine Epoche, in der Basel in weiten Teilen Europas eine gesteigerte Anziehungskraft entfaltete. Es war ja eine Zeit der Glaubensflüchtlinge aus Italien und Frankreich ebenso wie aus den Niederlanden und später etwa aus Polen und Litauen. In Basel empfing man sie keineswegs alle mit offenen Armen - man bevorzugte die Wohlhabenden und die Spezialisten in Handwerk oder Gelehrsamkeit - , wer aufgenommen wurde, fand aber ein Klima der Mäßigung und verhältnismäßig große Freiheit vor. Bezeichnend war, daß der Bischof von Basel weiterhin der Kanzler der Universität blieb; es war ja auch zu schön, einen Reichsfürsten in dieser Funktion zu haben. Auch die Zensur wurde mit Zurückhaltung ausgeübt. Bereits 1535 kam Johannnes Calvin nach Basel und veröffentlichte eine erste Fassung seiner Imtitutio Cbristianae religionis. Als am 27. Oktober 1553 in dem von ihm reformierten Genf der spanische Antitrinitarier Michael Servet den Flammentod starb, da protestierten von Basel aus die italienischen Glaubensflüchtlinge Celio Secondo Curione und Sebastian Castellio, die beide an der Artistenfakultät lehrten. Castellio war schon zuvor mit seiner Schrift De haereticis, an sint persequendi (1554) ein herausragender Verfechter der religiösen Toleranz geworden, dessen Gedanken wegweisend geworden sind, auch wegen der Schüler aus vielen Ländern. Zwischen 1532 und 1600 studierten in Basel rund 500 Franzosen, 250 Friesen und Niederländer, 150 Polen und Litauer, 100 Engländer, 70 Italiener und 60 Skandinavier. Bei insgesamt ca. 5600 Immatrikulationen bedeutete das einen Anteil fremdsprachiger Studenten von ca. 20 Prozent. Dazu kamen noch die Studenten aus dem Reich! In dieser Zeit begegnen wir erstmals einem Phänomen, das das Leben der Universität auf Jahrhunderte prägen sollte: den Gelehrtendynastien. Ihre Begründer kamen häufig von auswärts, verwurzelten aber rasch und gaben die Professuren vom Vater über den Sohn auf die Enkel weiter. Generell ist bemerkenswert, in welchem Maße die führenden Familien Basels Beharrungsvermögen und Integrationsfähigkeit miteinander verbanden und verbinden. Dies bot übrigens zu Beginn unseres Jahrhunderts dem jungen Matthias Geizer den Erlebnishintergrund, um die gleichartige Führungsschicht des republikanischen Rom, die Nobilität, in ihrem Wesen zu erfassen und anschaulich zu schildern. Sein Großvater Johann Heinrich Geizer stammte aus Schaffhausen, hatte in jüngeren Jahren eine Professur für Ge-
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schichte an der Universität Berlin bekleidet, um sich dann 1850 in Basel niederzulassen. Über die Ehefrauen Sarasin und Vischer verbanden sich Vater und Sohn mit den Ratsherren - und Professorenfamilien Heusler und Vischer, die uns wiederum in die Umgebung Jacob Burckhardts führen. Dessen Neffe, Felix Staehelin, habilitierte sich 1906 etwa zeitgleich mit Geizers Promotion in Alter Geschichte und wurde dann zum ersten ordentlichen Professor in diesem Fach (1931). Aber zurück in das 16. Jahrhundert. Von Johannes Amerbach als einem berühmten Drucker war bereits die Rede. Sein Sohn Bonifacius wurde 1525 Professor für römisches Recht, war wesentlich an der Reorganisation der Universität beteiligt und wurde insgesamt fünf Male ihr Rektor. Ihm folgte wiederum der Sohn Basilius als Professor an der Juristischen Fakultät, der auch mehrmals als Rektor amtierte. Die wohlerhaltene Korrespondenz der drei Generationen Amerbach gibt weit über Basel hinaus ein faszinierendes Bild von dem Geistesleben des 16. Jahrhunderts. Der überaus reichen Bibliothek des Bonifacius fügte Basilius Sammlungen von Medaillen, Münzen, Zeichnungen, Holzschnitten, Stichen und Gemälden hinzu, deren Ruhm vor allem die Werke Holbeins ausmachten. Sie ist 1661 durch Kauf in den Besitz der Universität gelangt, eine der ersten öffentlichen Kunstsammlungen Europas - aus bürgerlicher Initiative, und nunmehr ein Grundstock des Kunstmuseums Basel. Die erhaltenen Einladungslisten und Abrechnungen der Amerbachschen Rektoratsessen am dies academicus zeigen uns das wohlausgewogene Verhältnis von Stadtregiment und Universität, die bei diesem festlichen Anlaß einander trafen. Eine Tradition, die heute noch alljährlich in den entsprechenden Reden von Rektor und Regierungsvertreter(in) beim Essen nach dem feierlichen Akt in der Martinskirche weiterlebt, mal ernst und mal heiter, je nach dem Charakter der Redenden - und den Zeiten. Nach den Amerbachs übernahm die Familie Faesch mit gleich fünf Vertretern zwischen 1599 und 1713 juristische Professuren. Für den Professor des römischen Rechts, Remigius Faesch, wurde 1620/21 eine Italienreise zum entscheidenden Bildungserlebnis. Sein >Kabinett< mit Gemälden, Kupferstichen, Zeichnungen, Münzen, Antiken, Naturalien und einer großen Bibliothek wetteiferte mit dem Amerbachschen. Von den Nachfahren liebevoll gepflegt, war es ein Hauptanziehungspunkt für alle Fremden in Basel, bis es 1823 in den Besitz der Universität gelangte. Auch das Palais der Familie Faesch am Petersplatz, gerade gegenüber dem neuen Kollegiengebäude, blieb erhalten und dient jetzt als Zahnärztliches Institut dem Wohle der geplagten Menschheit. Eine dritte noch heute existierende Bibliothek verbindet sich mit dem Namen der Familie Grynaeus. Simon Grynaeus stammte aus dem schwäbischen Veringendorf und war 1524 Professor für griechische Sprache in Heidelberg geworden. Im Jahre 1527 entdeckte er im Kloster Lorsch fünf
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neue Bücher des Livius (Buch 41-45) und edierte sie mit einer Vorrede des Erasmus. O b w o h l er sich nun eigentlich der Medizin widmen wollte, ließ er sich 1529 von Oekolampad bewegen, nach Basel zu kommen, wo er griechische Sprache und zeitweilig auch das Neue Testament lehrte. Mit Oekolampad und dem Bürgermeister Jakob Meyer ist er als einer der führenden Persönlichkeiten der Basler Reformation in einem Dreiergrab im Kreuzgang des Basler Münsters bestatten worden. 1534/35 hat er zwischendurch auch die Universität in Tübingen reorganisiert, bis ihn der Basler Rat energisch zurückholte. Nachkommen des Simon Grynaeus amtierten als Juristen und Theologen, bis hin zu Johannes Grynaeus, der zusammen mit seinem befreundeten Kollegen Johann Ludwig Frey sich entschloß, das Studium der orientalischen Sprachen (im Rahmen der Theologie) in Basel nachhaltig zu fördern. Im Jahre 1747 wurde die Stiftung errichtet, und noch heute beherbergt das Frey-Grynaeische Institut in der kurz darauf erworbenen großzügigen Liegenschaft am Heuberg die ungemein reiche Sammlung von Autographen und Büchern. Ein Lektor, regelmäßig ein Professor der Theologie, hat in ihr seinen Wohnsitz und betreut das Erbe, überwacht von drei Inspektoren aus Stadt und Universität, die sich alljährlich vom Wohlergehen der Stiftung überzeugen und darüber in einem Jahresbericht gebührend Bericht erstatten. Im Verlauf des 16. Jahrhunderts nahmen auch die medizinisch-naturwissenschaftlichen Studien an der Universität einen großen Aufschwung. Das Wirken des Theophrastus von Hohenheim zwar war eine Episode geblieben. Auch der Niederländer Andreas Vesal verhalf Basel nur dadurch zu Ruhm, daß er seine anatomischen Studien als Professor der Chirurgie in Padua in den Jahren 1542/43 hier zum Druck brachte: >FabricaLektionskatalog< zum Wintersemester 1666/67 - ein Einblattdruck! - präsentiert uns dementsprechend die Namen Zwinger, zweimal Bauhin und Faesch und viermal Burckhardt und natürlich auch Buxtorf, eine Familie, die von 1588 bis 1732 in vier Generationen den Lehrstuhl für Hebräisch intern weitervererbte. Dabei war die Verflechtung durch Verwandtschaft und Verschwägerungen noch erheblich dichter, so daß mit Recht davon gesprochen werden konnte, die Regenz - die Versammlung der Professoren habe einigermaßen den >Charakter eines Familientages< angenommen. Daß gerade die Burckhardts so zahlreich vertreten sind, verwundert nicht. Werner Kaegi stellt in seiner Biographie Jacob Burckhardts fest, »daß es zwischen 1666 und 1731 in Basel kein Jahr gegeben hat, in dem
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nicht einer der beiden Bürgermeister ein Burckhardt gewesen wäre ... Mehr als ein Fünftel aller entscheidenden Regierungsstellen sind im Zeitalter des alten Regiments, zwischen 1655 und 1798, in den Händen dieser Familie gewesen.« Hinsichtlich der Verflechtungen des Clans mit den anderen führenden Geschlechtern Basels sind seine weiteren Betrachtungen zur Ahnentafel Jacob Burckhardts äußerst lesenswert. Bei diesen Verhältnissen kam natürlich dem Wahlverfahren eine große Bedeutung zu. Zunächst versuchte man es 1688 mit einer Ballotierordnung, in der durch ein kompliziertes Verfahren befangene Mitglieder des Wahlgremiums ausgeschieden werden sollten. Als das wenig half, wurde 1718 das schlichte Losverfahren eingeführt: Die Wähler wurden durch das Los in drei Gruppen eingeteilt und wählten dann in geheimer Wahl je einen Kandidaten für die endgültige Dreiergruppe, das Ternarium, in der wieder das Los den neuen Professor bestimmte. In gewisser Weise bedeutete dies Verfahren durchaus eine Objektivierung, wurden doch die Möglichkeiten der Familienpolitik dadurch eingeschränkt. Andererseits entschied das Los auch nicht unter Beliebigen. Jeder Kandidat hatte eine fachliche Vorprüfung zu bestehen, um überhaupt zu dem Verfahren zugelassen zu werden. Bedenklich war aber doch, daß Interessenten für eine Professur sich nahezu für jede freiwerdende bewarben, und dann im Erfolgsfall nicht notwendig besonders qualifiziert waren. In einzelnen Fällen half dann ein Tauschverfahren, so im Jahre 1795, als der Jurist Johann Rudolf Schnell die Professur für Hebräisch erhielt, ohne diese Sprache zu beherrschen, und eiligst dafür die Professur für Geschichte eintauschte. Sehr viel später erst wurde er dann Professor für Jurisprudenz. Typisch war auch das Geschick des nachmals durch seine Tätigkeit im Gemeinwesen hervortretenden Isaak Iselin, der in jungen Jahren sich gerade zum Doktor juris promovieren lassen wollte, als 1754 die Professur für Geschichte durch den plötzlichen Tod ihres Inhabers frei wurde. Sofort stürzte sich Iselin in das Vorauswahlverfahren und qualifizierte sich innerhalb von zwei Monaten durch eine Disputation. O b w o h l er dann noch in das Ternarium gelangte, war ihm das Losglück nicht hold. Bald darauf wurde er Ratsschreiber der Republik Basel und beschloß endgültig, Politiker zu werden. Das durchschnittliche Niveau der Dozenten war bei alledem wohl nicht niedriger als in vergleichbaren Universitäten. Aus den Tagebüchern der ungarischen Grafen Joseph und Samuel Teleki erfahren wir anschaulich, wie individuell betreut damals in Basel studiert werden konnte. Ja auch Spitzenleistungen waren durchaus möglich, w o f ü r die erstaunliche Familie der Bernoullis an erster Stelle genannt werden muß. Den Anfang machte Jacob Bernoulli, dessen Großvater aus Antwerpen kommend 1622 in Basel eingebürgert worden war. Sein Vater hatte ihn für das Theologiestudium bestimmt; Jacob entzog sich dem aber und entwickelte nach Anregungen
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in Holland und durch eine Abhandlung von Leibniz die Infinitesimalrechnung weiter - die von ihm entdeckte Infinitesimalspirale ziert das Epitaph im Kreuzgang des Münsters. Seit 1687 Professor der Mathematik in Basel stellte er das Gesetz der großen Zahl auf, also die Wahrscheinlichkeitsrechnung, die zur Grundlage der modernen Versicherungsmathematik geworden ist. Auf dem Lehrstuhl für Mathematik folgte 1705 sein jüngerer Bruder Johannes I. - sogar ohne das übliche Wahlverfahren! - und diesem wieder der Enkel Johannes II. bis zum Jahre 1790. Andere Bernoullis mußten da zeitweise oder auch gänzlich an die Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg ausweichen, w o auch Leonhard Euler, der berühmteste Schüler Johannes I., seine Wirkungsstätte fand, die er zwischendurch mit der Akademie in Berlin vertauschte. Oder sie nahmen mit anderen Professuren in Basel vorlieb. So waren gleichzeitig mit Johannes I. seine beiden Söhne Daniel und Johannes II. Professoren der Anatomie (später der Physik) bzw. der Eloquenz und ein Neffe, Nikolaus I., Professor der Rechte. Voltaire konnte 1739 an Johannes II. schreiben: »Ma raison est que la Suisse a porte des heros qui vous ont rendu la liberte, et des Bernoullis qui ont eclaire les hommes.« Dennoch muß konstatiert werden, daß die Universität Basel im 18. Jahrhundert stagnierte und zunehmend in eine Krise geriet - wie damals die meisten Universitäten. Die Konkurrenz durch Akademien in anderen schweizerischen Städten kam hinzu und bewirkte, daß die Zahl der Studierenden merklich zurückging. Hatten sich im 17. Jh. jährlich zwischen 50 und 100 immatrikuliert, so waren es jetzt allmählich nur noch 20 bis 30. Natürlich fehlte es nicht an Reformversuchen. So wagten es 1738 die Vertreter des Staates anzufragen, »ob der Lehrbetrieb in jeder Fakultät so eingerichtet sei, daß ein Student innert einer bestimmten Zeit einen ganzen Kurs hören und in einer bestimmten Anzahl von Jahren das Studium beenden könne.« Die Universität indes war von solchen curricularen Zumutungen avant la lettre überhaupt nicht angetan und antwortete wie die Juristische Fakultät: »Es komme auf den Fleiß der Studenten an«. Indem die Universität ihrerseits auf die kärgliche Besoldung der Professoren hinwies und damit auf finanzielle Konsequenzen einer Reform, erstickte sie den diesbezüglichen Eifer der Regierenden schon im Keime; ein Vorgang, der sich mehrfach wiederholen sollte. Im Grunde fühlte sich niemand mehr für die Dinge zuständig; entsprechend nahm auch die Nachfrage weiter ab und erreichte mit vier bzw. sechs Neuimmatrikulierten kurz vor der Französischen Revolution den absoluten Tiefpunkt. In den Stürmen der nächsten zwanzig Jahre war die Universität Basel nahe daran, wie so viele andere Universitäten gänzlich unterzugehen, oder aber - die andere Gefahr: sich unter dem Diktat praxisnaher Ausbildung in eine Art Fach(hoch)schule umzubilden. Erst ab 1811 kam eine Reform in
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Gang, die die Konsequenz aus der Misere zog und nunmehr den Staat für die Universität unmittelbar zuständig machte und doch zugleich einen Raum für akademische Selbstverwaltung ließ. Im Ergebnis entsprach sie weitgehend dem preußischen System, auch wenn unklar bleibt, inwiefern etwa die neugegründete Berliner Universität unmittelbar oder mittelbar als Vorbild gewirkt hat. Übrigens wurde die Besoldung der Professoren nun in der Tat - als Ausgleich für die verlorene Autonomie? - kräftig angehoben. So schuf die im Grundsatz 1813 beschlossene und mit dem Gesetz von 1818 abgeschlossene Reform eine Universität, die mit den deutschen Universitäten jedenfalls im Prinzip kompatibel war. Bis heute sind Basel und die folgenden deutschschweizerischen Universitäten Bern und Zürich ein integrierender Bestandteil des deutschsprachigen Universitätsbereiches geblieben. Das gilt für den Lehrbetrieb ebenso wie für den personellen Austausch durch wechselseitige Berufungen. Auch im Detail brachte die Reform Neuerungen. Indem dem Professor für praktische Theologie vorgeschrieben wurde, in deutscher Sprache zu lesen, erfolgte ein Einbruch in die bisher immer noch praktizierte lateinische Unterrichtssprache. Eine Besonderheit schuf die Schulreform von 1817 mit dem Pädagogium als Zwischenstufe zwischen Gymnasium und Universität, die letztere von der bislang übernommenen propädeutischen Ausbildung der Studierenden befreite. Dafür waren aber die Professoren der Philosophischen Fakultät verpflichtet, auch am Pädagogium zu unterrichten, was sie bis hin zu einem Jacob Burckhardt und Nietzsche auch getan haben. Dabei blieb die Größe der Universitäten insgesamt nach wie vor bescheiden: Vier Fakultäten mit insgesamt 18 Professuren, die in der Regenz ihr Plenum hatten. Staatlicherseits wachte über die Universität die Kuratel als Teil des insgesamt für das Ausbildungswesen zuständigen Erziehungsrates. Prinzipiell hatte diese O r d n u n g bis zum Gesetz von 1996 Bestand. Die enge Beziehung zwischen Universität und Bürgerschaft dauerte auch in der neukonstituierten Alma mater an. Nach wie vor zählte sie viele Basler zu ihren Professoren; zudem verbanden populäre Vorträge ^akademisches KränzchenDemagogen< verlangte. So waren gute Voraussetzungen für das Bestehen der nächsten Krise geschaffen. Nach Wirren, die bis zu blutigen Kämpfen eskalierten, verfügte die Eidgenössische Tagsatzung im August 1833 die Aufspaltung des Kantons Basel in die seither bestehenden Halbkantone Basel-Stadt und Basel-
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Land, wobei auch das Staatsvermögen im Verhältnis zu den jeweiligen Bevölkerungszahlen aufzuteilen war. Auch das Vermögen der Universität (Bibliothek; Sammlungen usw.) war davon betroffen, wurde aber zum Glück doch nicht materiell geteilt, sondern mußte von Basel-Stadt für die damals enorme Summe von Fr. 331.451 - abgelöst werden. Für den Fortbestand der Universität sorgte aber nicht nur der Staat, der 1835 den Jahresetat trotz der bedrängten, finanziell verschuldeten Lage von bisher Fr. 40.199.- auf nunmehr Fr. 34.679.- nur mäßig herabsetzte, sondern die Bürgerschaft. Umgehend konstituierte sich unter dem Vorsitz des Professors Andreas Heusler die Freiwillige Akademische Gesellschaft^ Der Gründungsaufruf begann: »Der Große Rat unseres Kantons hat in seiner letzten Sitzung, in Anerkennung des Wertes und der Wichtigkeit wissenschaftlicher Bildung, und im Gefühle, daß Basel gerade im gegenwärtigen Augenblicke durch Entwicklung geistiger Regsamkeit und Kraft sich bestreben müsse, das zu ersetzen, was ihm an Gebietsumfang und materiellen Mitteln entrissen worden, die Vorschläge des Kleinen Rats über Einrichtung unserer höhern Unterrichtsanstalten genehmigt.« Und er betonte: »Lasset uns nach Kräften auch dazu beitragen, daß Kunst und Wissenschaft stets freundlicher bei uns erblühen.« Die Freiwillige Akademische Gesellschaft entfaltete eine rege Tätigkeit; z.B. durch Zuschüsse zu den Gehältern. So wurden etwa im Jahre 1848 von den Fr. 36.000.- für 25 Dozenten Fr. 13.310.- von privater Seite übernommen. Überdies haben wohlhabende Basler wiederholt ganz auf ihr Professorengehalt verzichtet: der Rücktritt des bislang letzten unbesoldeten Professors erfolgte anfangs der 80er Jahre - unseres Jahrhunderts! Von den Pensionszahlungen sei der berühmteste Fall: Friedrich Nietzsche erwähnt. Namhafte Zuwendungen gingen an die Sammlungen und an die Bibliothek, galten aber auch der Errichtung neuer Gebäude oder der Ausstattung der bestehenden. Wichtig waren die öffentlichen Vorträge für ein weiteres Publikum, wobei wieder die Jacob Burckhardts, aber auch Nietzsches hervorzuheben sind. Die Freiwillige Akademische Gesellschaft mit ihrem durch zahlreiche Stiftungen und Legate immer weiter angewachsenen Vermögen ist bis heute ein unentbehrlicher Rückhalt für viele Forschungsvorhaben und Stipendien. Basel war zum Zeitpunkt der Kantonstrennung eine Stadt von etwa 25.000 Einwohnern, die bis 1860 auf 40.000 und bis 1900 auf 100.000 anwuchsen; immer noch eine Stadt von überschaubarer Größe. Wirtschaftlich nahm sie einen bedeutenden Aufschwung, wofür an das Bankwesen, die Chemische Industrie, aber auch an den Verkehrsknotenpunkt erinnert sei. Gleichzeitig prägte sie im geistigen Bereich eine merkwürdige Mischung aus konservativem Geist und Moderne, fast schon >PostmoderneMutterrecht< wieder zu Ehren gekommen ist, oder die »Griechische Kulturgeschichte< Jacob Burckhardts die Kritik der Fachgelehrten glorreich überdauert und die Aktualität ihrer Einsichten immer aufs neue bewiesen hat. Gleiches gilt von den »Unzeitgemäßen Betrachtungen aus der Basler Zeit Nietzsches oder für die Kritik Franz Overbecks an der liberalen Theologie seiner Zeit, die später den jungen Karl Barth stark beeinflußt hat. Karl Barth - selbst von den Nationalsozialisten 1935 nach Basel vertrieben - hat in seinem Werk >Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert< den geistigen Zuschnitt Basels am Beispiel des theologischen Denkens unübertrefflich beschrieben: »Der diesen Geist echt vertretende Basler Theologe ist von Haus aus und im Grunde konservativ, ein im Grunde scheuer Mann des quieta поп movere, und das wird auch immer wieder irgendwie bei ihm durchschlagen. Er hat aber daneben seine geheime, gleichsam sympathetische Lust an den Radikalismen und Extravaganzen Anderer, ζ. B. allerlei aufgeregter Ortsfremder, die er darum von David Joris bis zu F. Nietzsche und Fr. Overbeck nicht ungern schon um der Kontrastwirkung willen in seinen Mauern sieht. Er wird sich aber, indem er sie furchtbar interessant findet, wohl hüten, sie sich zu eigen zu machen. Vor dem Katholizismus, aber auch vor einer allzu strengen Orthodoxie ist er gefeit durch eine sozusagen angeborene, mild humanistische Skepsis. Vor allzu großen Verirrungen nach links beschützt ihn eine durch immer wieder geübtes Zuschauen erworbene Lebensweisheit. Irgendwo in der Mitte dieser Extreme wird er sich also niederlassen, vielleicht im Stillen einer kleinen Freigeisterei, vielleicht auch ebenso im Stillen einer kleinen frommen Schwärmerei ergeben, aber nach außen unter allen Umständen das Bild einer gesunden Vereinigung von Freiheit und Mäßigung bietend, nach außen unter allen Umständen nichts Unpraktisches bejahend und erstrebend, in aller allzu großen Grundsätzlichkeit ironisch eine Verstiegenheit vermutend, immer geneigt, den Kern aller Diskussionen in einem bloßen Streit um Worte zu suchen, siegreich in der Methode, immer Anderen das erste und das letzte Wort zu überlassen und sich seine Sache dabei zu denken, ohne sich selbst in dem Handel offenkundig kompromittiert zu haben.« Vielleicht beschreibt der Verfasser der großen »Kirchlichen Dogmatik< damit garnicht exklusiv Baslerisches, sondern den Geist eines selbst- und traditionsbewußten Bürgertums, das in Basel nur, wie in einer besonders ausgeprägten ökologischen Nische, länger als anderwärts überdauern konnte. Der Thomas Mann der Buddenbrookzeit z.B. hat manche Ähnlichkeit mit seiner Vaterstadt Lübeck gesehen. Mit Karl Barth haben wir den ersten des Dreigestirns genannt, das in unserem Jahrhundert der Universität besonderen Glanz verliehen hat. Karl Jaspers kam 1948 aus Heidelberg und veröffentlichte schon im folgenden
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Jahr sein Werk >Vom Ursprung und Ziel der Geschichte< mit der grandiosen Konzeption der >AchsenzeitFormwandlung des Lebendigen in der Erdgeschichte< untersuchte. Portmann hatte erlebt, wie die >Auslese< im >Kampf ums Dasein< nach Darwin und über diesen hinaus ideologisch mißbraucht worden war. Seine morphologischen Studien, z.B. zur Tiergestalt oder zur Vogelfeder, sollten zeigen, daß die Entwicklung keineswegs immer funktionale Bedürfnisse erfüllt hat und erfüllt, sondern wesentlich auch >Selbstdarstellung< des Lebenden, etwa in der Ausbildung der Farbigkeit, ist. Gleichzeitig versuchte Portmann im >EranosGrenzen des Wachstums< sichtbar werden ließ. Die Jahre, in denen dank zunehmender Bevölkerungszahl und Steuereinnahmen alles auf einmal machbar schien, waren vorbei. So suchte Basel jetzt nach einem Partner für die steigenden Universitätsausgaben - natürlicherweise war dies der Kanton Basel-Land. Kurz zuvor, im Jahre 1969, war die bereits durch einen Verfassungsentwurf vorbereitete Wiedervereinigung beider Halbkantone in einer Volksabstimmung am >Nein< der Baselbieter gescheitert. U m so mehr war man auf zunehmende Kooperation verwiesen, die 1975 zu einem ersten Universitätsvertrag führte. Seither hat sich die Partnerschaft gut entwickelt, nicht zuletzt, als Basel-Land 1990 durch eine eigene Stiftung >Mensch-Gesellschaft-Umwelt< die Umweltforschung und -lehre an der Universität umfassend förderte. Das neue Hochschulgesetz von 1996 hat die Universität aus der Unterstellung unter die Regierung von Basel-Stadt herausgelöst und ihr eine weitgehende Autonomie mit einem jährlichen Globalhaushalt gegeben. Die oberste Zuständigkeit liegt nun bei einem Universitätsrat mit neun Mitgliedern, in dem die Regierungen beider Basel und weitere Vertreter der Ö f fentlichkeit Einsitz haben. Das eröffnet Chancen eigener Planung, gleichzeitig erhöht es aber auch den Druck angesichts steigender Erwartungen von außen. Auch wenn es heute nicht so formuliert wird: Die Universität sieht sich wieder einmal nach ihrer gesellschaftlichen Relevanz< befragt. Vorsichtiger Optimismus ist erlaubt. In erster Linie, weil auch heute Regierungen und Bürgerschaft zu ihrer Universität stehen und sie sich nicht nur etwas kosten lassen, sondern an ihr tätigen Anteil nehmen. Und noch gibt es die Stärken dieser Alma mater: Die Überschaubarkeit der kurzen Wege zwischen den Studierenden wie zwischen den Dozenten und zwischen beiden Gruppen und auch zur Verwaltung; sodann aber die Möglichkeit der - häufig einzigen - Fachvertreter zu generalistischer Entfaltung im Sinne von Karl Jaspers. Und vielleicht tut die Erinnerung an das 19. Jahrhundert gut, in der die bleibenden Leistungen Basels in kritischer Reflexion des Zeitgeistes, ja gegen ihn entstanden sind. >Die Polis als UniversitätGriechische Kulturgeschichte< in den Sprachschatz der Moderne gelangt, zunächst zur Bezeichnung der Eigenart der antiken griechischen Stadt. Basel hat den Begriff aber gerne auf sich bezogen, um sich von beliebigen Siedlungsagglomerationen abzugrenzen. Zugrunde liegt das Engagement der Bürger für ihre Stadt im sozialen, geselligen - die Basler Fastnacht! - , kulturellen Bereich und ebenso und besonders in dem der Wissenschaft. Alle diese Bereiche sind nur Aspekte eines Ganzen, das sich in jedem von ihnen manifestiert: die Polis als universitas avium, also auch: als Universität.
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Für Hinweise danke ich Berthe Widmer und Karl Pestalozzi. E. Bonjour, Die Universität Basel von den Anfängen bis zur Gegenwart 1460-1960, 2. Auflage, Basel 1971 M. Borgolte, Die Rolle des Stifters bei der Gründung mittelalterlicher Universitäten, erörtert am Beispiel Freiburgs und Basels, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 85, 1985, 85-119 P. L. Ganz, Die Basler Professorengalerie in der Aula des Museums an der Augustinergasse, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 78, 1978,31-162 H. R. Guggisberg, Das reformierte Basel als geistiger Brennpunkt Europas im 16. Jahrhundert, in: H.R. Guggisberg/P. Rotach (Hg.), Ecclesia semper reformanda, Basel 1980, 50-75 H.R. Guggisberg, Die kulturelle Bedeutung der Stadt Basel im 16. Jahrhundert, in: M. Madurowicz-Urbanska/M. Mattmüller (Hg.), Studia Polono-Helvetica, Basel-Frankfurt/M. 1989, 49-66 W. Kaegi, Jacob Burckhardt eine Biographie. Bd. 1: Frühe Jugend und Baslerisches Erbe, Basel 1947 G. Kreis, Die Universität Basel 1960-1985, Basel 1986 E. Le Roy Ladurie, »Eine Welt im Umbruch«. Der Aufstieg der Familie Platter 1499-1628, Stuttgart 1998 B. Moeller, Die Basler Reformation in ihrem stadtgeschichtlichen Zusammenhang, in: H . R . Guggisberg/P. Rotach (Hg.), Ecclesia semper reformanda, Basel 1980,11-27 S. Schüpbach-Guggenbühl, Der Rektor bittet zu Tisch. Universität und Bürgerschaft an den Rektoratsessen der Amerbach (1540-1566), in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 96,1996, 57-91 M. Sieber, Die Universität Basel nach Einführung der Reformation, in: A. Patschovsky/H. Rebe (Hg.), Die Universität in Alteuropa, Konstanz 1994, 69-83. O. Spiess, Basel anno 1760. Nach den Tagebüchern der ungarischen Grafen Joseph und Samuel Teleki, Basel 1936 A. Staehelin, Geschichte der Universität Basel 1632-1818, 2 Bde., Basel 1957 A. Staehelin, Professoren der Universität Basel aus fünf Jahrhunderten, Basel 1960 J. v. Ungern-Sternberg/St. Appenzeller, Von Schweizerhalle zum Programm »Mensch - Gesellschaft - Umwelt< (MGU), in: Basler Stadtbuch 1991,259-264 B. Widmer, Enea Silvio Piccolomini. Papst Pius II. Ausgewählte Texte aus seinen Schriften, Basel-Stuttgart 1960 Lehre und Forschung an der Universität Basel zur Zeit der Feier ihres fünfhundertjährigen Bestehens, Basel 1960
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Krakau N e cedat Academia
I. Das lateinische Zitat im Untertitel dieses Beitrages ist der Krakauer Überlieferung selbst entnommen. So lautet nämlich die Inschrift über dem barocken Eingangsportal zum Grünen Saal des Collegium Maius. Drei Jahreszahlen umstellen den Spruch: 1655, 1794 und 1939. Sie stehen symbolisch für viele andere und erinnern an die äußeren Bedrohungen, denen Polen und mit ihm seine älteste Universität vor allem seit dem 17. Jahrhundert immer wieder ausgesetzt gewesen sind: - So 1655, als die Schweden Krakau besetzten und in den »Kriegen der blutigen Sintflut« fast die ganze Republik in Schutt und Asche sank, - so 1794, als mit dem Scheitern des Kosciuszko-Aufstandes, der von Krakau seinen Ausgang genommen hatte, die finis Poloniae, das Ende des Alten Polen gekommen war, - s o schließlich 1939, mit dem Tagesdatum des 6. November. Dieses erinnert an die dunkelste Phase der Geschichte der Jagiellonen-Universität: 183 Angehörige des Lehrkörpers wurden bei Beginn des Wintersemesters 1939 in der Aula verhaftet und in ein Konzentrationslager deportiert. Die ehrwürdige Alma Mater wurde geschlossen. Damit aber nicht genug: »Wissenschaftliche Arbeit für Polen verboten« stand - in deutscher Sprache - danach für viele Jahre an den Toren der Bibliotheken und Archive des besetzten Landes. Wenn den meisten der Krakauer Professoren das Schlimmste erspart blieb und sie wieder auf freien Fuß kamen, so war dies der internationalen Geltung der Krakauer Universität zu verdanken. Es gab weltweite Proteste und Solidaritätsbekundungen, vor denen selbst die Nazis in ihrem Allmachtswahn zurückweichen mußten. Über die »Sonderaktion« vom November 1939 hinaus mißlang auch der Plan, eine deutsche Universität Krakau an die Stelle der polnischen zu setzen. Die Jagiellonische Universität hielt - trotz offizieller Auflösung - stand und organisierte, wie die Hochschulen in Warschau und Posen auch, unter den schwierigsten materiellen und sozialen
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Bedingungen das Studium im Untergrund. In Krakau begann es im Sommer 1942. So konnte die Koninuität der Jagiellonischen Universität als Stätte der Wissenschaft über die Jahre der Okkupation hinweg gewahrt bleiben. Die stalinistische Diktatur, die danach kam und in den Jahren 1949 bis 1956 ihren Höhepunkt erreichte, war anders. Bei ihr verband sich entschiedene ideologische Unterordnung, ja Gleichschaltung, mit großzügigem institutionellem und personellem Ausbau. Zwar kam dieser in erster Linie der neuen Polnischen Akademie der Wissenschaften (PAN) zugute. Aber als sich mit dem Oktober 1956 eine liberale, weltoffene Spielart marxistischer Kultur- und Hochschulpolitik durchsetzte, verfügten die Universitäten über bessere Ressourcen als heute, da der Druck des gelenkten Wissenschaftsbetriebs zu Ende ist. Doch als wichtiger als die materielle Ausstattung wird empfunden, daß die Universitäten Polens mit ihren moralischen Ressourcen zu den Trägerkräften der politischen Epochenwende von 1989 gehörten. Die Jagiellonen-Universität hat sich also - das zeigt dieser rasche Überblick - als standfest erwiesen in den Turbulenzen der modernen Geschichte Polens seit dem großen Einbruch in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Das »ne cedat Academia« wirkt wie ein geistiges Korrelat des »Noch ist Polen nicht verloren«.
II. Die Anfänge der standhaften Alma Mater Cracoviensis waren schwierig ja, eigentlich begann es 1364 in Krakau mit einem »Fehlstart«. »Man sollte sich darüber nicht wundern«, schreibt Peter Moraw, dem wir die stichhaltigste Interpretation der Krakauer Gründungsgeschichte verdanken: Was in Prag nicht gelang, habe auch in Krakau nicht glücken können; überhaupt seien die meisten Versuche europäischer Universitätsgründungen im 14. Jahrhundert noch verfrüht gewesen. Dabei spielt Moraw bewußt die systematische Plausibilität allgemeiner Beobachtungen zur Universitätsgeschichte gegenüber den Einzelfällen aus; die sozialen und lebensweltlichen Umkreise seien oft wichtiger als »staatliche Geographie« und »politischer Wille«. Indes: in Krakau hat König Kasimir der Große 1364, am 12. Mai, das Gründungsprivileg ausgestellt, dem das päpstliche Privileg im September folgte. Danach sollten in Krakau nach norditalienischem Beispiel Schulen des kanonischen und des römischen Rechts eingerichtet werden mit je drei Lehrstühlen. Beim Zivilrecht waren für das folgende Jahr zwei weitere sedes vorgesehen, ferner zwei Mediziner und ein Artist. Der Rektor sollte aus dem Kreis der Scholaren gewählt werden. Eine Theologische Fakultät ist nicht erwähnt, der Papst hatte auch keine Genehmigung erteilt.
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In Moraws Vergleich mit Prags realen Anfängen, die nach dem Gründungsprivileg von 1348 auch erst 1369 zu verzeichnen sind, erscheint also das ganze Krakauer Beginnen ziemlich utopisch. Denn in Prag habe es damals lediglich zwei Kanonisten gegeben, und ein Doktor sei hier »produziert« worden. Nicht einmal in Westeuropa (in Köln oder in Löwen) hätte man sich ein solches Übergewicht der Legistik, wie es in Krakau geplant war, zu dieser Zeit vorstellen können. Was dann aber in Krakau quellenkundig wird, ist allein die Tätigkeit des einen Artistenlehrers, der bis ca. 1400 vier Bakkalare ausgebildet zu haben scheint. Zeugnisse für Magisterpromotionen finden sich nicht. Das Artistenstudium - eine Art »Grundausbildung« (Moraw) - stieß auf Interesse in der Stadt, mit ihren damals 12-14.000 Einwohnern und ihrer deutschsprachigen Führungsschicht. Das Grundstudium hat übrigens wohl an der Marienkirche stattgefunden. Mehr ist bei der Stiftung von 1364 nicht herausgekommen. Aber es fragt sich doch, ob dieser negative Befund allein im Licht der »universalen Periode der mittelalterlichen Universitätsgeschichte«, die mit dem großen Schisma endet (1378), zu erklären ist. Blickt man auf die raschen Thronwechsel in Polen -1370,1382,1386 - , die zugleich immer Dynastiewechsel waren, so lassen sich andere Prioritätensetzungen der H o f - und Hochkleruskreise vermuten. Die polnische Forschung ist in diesen Fragen keineswegs ohne Diskussionsbedarf geblieben. Aber es ist nicht zu bestreiten: Die Krakauer Universitätsgeschichte nimmt mit dem Ausgang des 14. Jahrhunderts einen neuen Anlauf. O h n e Zweifel kann man jetzt staatlich-politische Impulse ausmachen, wenn Bemühungen zur Förderung des theologischen Studiums deutlich werden. Es geht offenbar vorrangig um die Priesterausbildung für das gerade getaufte Litauen, das der neue König-Großfürst der Krone Polen zu »applizieren« hat. Moraw spricht nun auch von der »national- und territorialstaatlichen, nicht mehr universalen Periode« der mittelalterlichen Universitätsgeschichte. Damit trete Krakau in die Reihe von Wien, das ebenfalls schon seine zweite Phase erreicht hatte, Heidelberg, Köln und Erfurt. Leipzig kommt nach Krakau. Es scheint zwei Konzeptionen in den neunziger Jahren im Blick auf eine renovatio, eine Neuerrichtung des Krakauer Studium generale, gegeben zu haben: Die eine vertraten König Wladystaw Jagietto und die Königin H e d wig, und hier stand die Theologie im Vordergrund. Die Kirche sollte nämlich die Aufsicht bekommen, und dafür taugte das Bologneser Modell nicht mehr. Vielmehr war jetzt Paris das Vorbild, für das das Krakau benachbarte Prag die Inspiration gab. Die Königin Hedwig stiftete am 10. November 1397 in Prag ein litauisches Kolleg. Das kann am Vorabend der Gewährung des päpstlichen Privilegs für eine Theologische Fakultät in Krakau schwerlich als Alternative für eine solche gemeint gewesen sein;
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zumal der Krakauer Bischof und erste Kanzler der am 26. Juli erneuerten Universität, Petrus Wysz, der Königin in Prag geholfen hat. Gewiß war die Sache mit dem Papst abgestimmt. Auch die Berufung des Heidelberger Rektors, Matthäus von Krakau, für den Aufbau der Theologischen Fakultät in Krakau in den Jahren 1397-1399 spricht dagegen. Ein zweites Konzept vertraten die Universitätsgelehrten. Sie wollten ein Studium generale mit allen vier Fakultäten, unabhängig von Kirche und Staat, und zeigten sich von dem Prager Wiclifismus anfangs nicht unbeeindruckt. Nach 1409 aber wurde aus dem Lernen an Prag die translatio studii nach Krakau (Thomas Wünsch). Die Nationes freilich kamen in Krakau nicht mehr zum Zuge, und eben die Vier-Fakuläten-Universität nach umgestalteten Pariser Muster setzte sich durch.
III. Dieses im Jahr 1400 erneuerte Collegium almae Universitatis Studii Cracoviensis erlebte in dem ersten Jahrhundert seines Bestehens eine Glanzepoche, die durch die Namen Paulus Vladimiri (Wtodkowicz) und Nikolaus Kopernikus eingerahmt ist. Gelehrte Theologie und Konzilien kamen in diesem Jahrhundert zusammen zu großer Geltung, und die Universitäten wurden zu dem, was sich Alexander von Roes ein Jahrhundert zuvor von ihnen erwünscht hatte: sie sollten gleichsam die dritte Gewalt in der Trias von Regnum, Sacerdotium und Studium bilden. Die Universität Krakau war auf dem Konstanzer und auf dem Baseler Konzil von beiden Seiten umworben und gewann enorm an Ansehen. Thomas Wünsch hat das gerade in seiner Konstanzer Habilitationsschrift umfassender als alle seine zahlreichen Vorgänger aufgearbeitet. Er spricht sogar von der »führenden Rolle der Universität Krakau bei der theoretischen Formulierung und personellen Vertretung der Konzilslösung«. 1440 erschien in Krakau eine Konzilsdelegation, der der Magister Jakob von Paradies die Stellung der Universität erläuterte. Sie war an der Seite des Konzilspapstes, Felix V., und demonstrierte damit im Unterschied zu dem politischen Opportunismus anderer Universitäten ihre Standfestigkeit und Unabhängigkeit. Was nun die Studentenzahlen in diesem Jahrhundert des Aufstiegs betrifft, so steht nach Moraws Berechnung Krakau etwa auf der Höhe von Heidelberg, nach den großen und vor den mittelgroßen Universitäten. In Zahlen bedeutet das: bis 1435 lag der Jahresdurchschnitt der Immatrikulationen bei 130. Zu diesem Zeitpunkt hatte die wiederbegründete Universität 579 Bakkalare und 150 Magister promoviert. Im letzten Drittel des 15. und zu Anfang des 16. Jahrhunderts (1470-1520) haben sich die Zahlen mehr als verdoppelt und 300 Immatrikulationen pro Jahr erreicht. Auf-
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schlußreich ist natürlich die Herkunft der Studentenschaft in dieser Glanzzeit: Von den 14.326 Studenten Krakaus zwischen 1470 und 1520 waren etwas mehr als die Hälfte Polen. Schlesier gab es 2.083, und ebenso viele kamen aus anderen Ländern des Reiches, 2.300 aus Ungarn. Die Studentenschaft weist also eine starke Durchmischung auf. Bei den Magistern war der Anteil der Deutschen anfangs größer als die Hälfte, sowohl in der Artistenfakultät aus auch bei den Theologen. Sie waren fast alle in Prag ausgebildet worden. Absolut führend waren die Artisten in Krakau bei der Wahrnehmung der Selbstverwaltungsämter, und auch die Ausbildungsquote der Fakultät war, wie gesagt, hoch. Aber wichtiger als diese äußeren Entwicklungsdaten, als die bloßen Studentenzahlen sind die Fragen der Wissenschaft selbst, d. h. des Beitrags, den Krakau zur Geschichte der Wissenschaften geleistet hat. Das »Studium Jagiellonicum« (1489) wuchs regelrecht hinein in das Zeitalter der großen Wandlungen - von 1450 bis 1550. In der Dynamik der Ö f f n u n g des europäischen Weltholizonts und der humanistischen »Unterwanderung« (Walter Rüegg), als neue Kommunikationsformen auch ein »neues kulturelles Selbstbewußtsein« (Erich Hassinger) erzeugten, vollends aber in der Reformation konnten die Universitäten - als dynastisch und konfessionell bestimmte Anstalten - auch schnell in die Gefahr der Erstarrung geraten. Wie hat sich Krakau mit dem Neuen auseinandergesetzt? In einer Universität des 15. Jahrhunderts wird man dies am ehesten an der Aufnahme der Humanismus-Impulse ablesen wollen. Es war in Krakau, wie es in peripherer Lage zu sein pflegt: Die Anfänge kommen später - in diesem Fall als in Deutschland und in Italien - , aber die nachholende Rezeption ist energischer und oft effizienter. Diese äußerliche Verspätung ist also keine in der Substanz, denn »über Rang und Würde« kultureller Leistungen »entscheidet nicht die Chronologie«, wie Herbert Ludat es gültig gesagt hat. Wie überall - so auch beim Adel und bei der Geistlichkeit Polens und Litauens - hatte die Begegnung mit Italien, vor allem mit Bologna und Padua, seit dem 14. Jahrhundert dem Interesse an humanistischen Studien Auftrieb gegeben, sowohl am Königshof als auch in der magnatischen Gesellschaft und beim hohen Klerus. An der Universität mit ihrer starken Artistenfakultät dürfte das registriert worden sein, machte sich die Nachfrage bemerkbar. Jedenfalls läßt sich früh ein Netz von Kontakten Krakaus nach Padua und Ferrara (über Wien vermittelt) feststellen, bei dem astronomische Probleme im Mittelpunkt standen. Für 1405 bereits ist von einem Stiftungslehrstuhl des Krakauer Bürgers Johannes Stobener die Rede. Dieser Lehrstuhl war für das Quadrivium gedacht, mit - heute würde man sagen besonderer Berücksichtigung der Astronomie. Die Statuten der Artistenfakultät von 1406 markieren denn auch Mathematik und Astronomie als Schwerpunkte. Es zeigt sich also früh eine Neigung zur Spezialisierung,
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wie sie sich auch in Wien ausbreitete. 1416 nahm ein Schlesier, Laurentius von Ratibor, seine Lehrtätigkeit in Krakau auf. Er rangiert ab 1420/21 als Professor für Mathematik und Astronomie, und er sollte mit seinem Schülerkreis bis in die Mitte des Jahrhunderts in dieser Neuerung tonangebend sein. Dem Ruhm Krakaus scheint das genutzt zu haben. Schon 1440 fragte der Artes-Magister Johann von Ludziska, ob es in Deutschland eine Stadt gebe, die berühmter sei als Krakau. Er meinte die Universität, denn, so fährt er fort, Krakau könne wie Athen als die Mutter der Wissenschaften gelten. Kurz zuvor (1434) hatten die Konzilsväter in Basel von der Universität in Krakau ein Fachgutachten zur Reform des Julianischen Kalenders angefordert. Das ging gewiß auf das fachmännische Ansehen des Krakauer Lehrstuhlinhabers, eben jenes Laurentius von Ratibor, zurück. In seiner Theorie war er zwar noch eng an Johannes Buridan, dem großen Nominalisten in Paris, orientiert. Daneben aber hat er die observatorische Arbeit mit Instrumenten gefördert, die in Krakau schon eine gewisse Tradition hatte. Dieser praktische Stil soll auch seine Lehrveranstaltungen geprägt haben. Im ganzen läßt sich in Krakau gut der Übergang »vom traditionellen Studium des Quadriviums zur humanistischen Naturwissenschaft« studieren. Katherine Walsh hat ihn gründlich untersucht. Freilich, die Gelehrten der Zeit, die zugleich auch als Hofastronomen angestellt waren, hatten auch die Astrologie weiter im Blick. Zwar wurde sie von vielen - vor allem Pariser Naturwissenschaftlern - als Scharlatanerie abgelehnt. In Krakau aber gelang es, die Astrologie [als Lehre von den siderischen Einflüssen auf die irdische Welt] mit der Medizin bzw. der Kenntnis der menschlichen Psyche zu verbinden. Hier kamen also Naturwissenschaft und Medizin enger in Berührung, und so bahnte sich der Typus des Astrologus in der Funktion des fürstlichen Leibarztes an, jener Typus, der im 16. Jahrhundert Verbreitung fand. Auch Nikolaus Kopernikus hat ihn repräsentiert. Zugleich aber wurde von Krakau aus damit eine »Abkoppelung« der empirischen Naturwissenschaften, allen voran der Astronomie, von der Exegese der biblischen Schöpfungsgeschichte eingeleitet. Das erleichterte den Übergang zur humanistischen Naturwissenschaft. Aber, wie angedeutet, entwickelte sich das nicht in der Krakauer Abgeschiedenheit, sondern der »Wissenstransfer« zwischen Krakau, Padua, Ferrara und Wien spielte eine große Rolle, und Krakau war nicht nur auf der nehmenden Seite. Das beweist nun mit seinem Studiengang niemand deutlicher als Nikolaus Kopernikus, von dem - trotz aller Bekanntheit auch in diesem Beitrag, in dem es neben Tradition auch um Innovation an den Stätten des Geistes geht, ausführlicher die Rede sein muß. Man kann aber diese bedeutendste Figur der Krakauer Universitätsgeschichte und der Wissenschaftsgeschichte des alten Polen nicht erörtern, ohne zwei programmatische Frühhumanisten zu erwähnen, in deren Sog Kopernikus -
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außer der großen mathematisch-astronomischen Tradition Krakaus steht: Filippo Buonaccorsi (Callimachus) und Conrad Celtis. Der Italiener aus San Gimigniano (1437-1496) war von Enea Silvio Piccolomini ausgebildet worden. Auf der Flucht vor der Anklage, an einer Verschwörung gegen den Papst beteiligt gewesen zu sein, kam er via Griechenland und Lemberg nach Krakau. König Kasimir IV. nahm ihn als Prinzenerzieher und secretarius regis an seinen Hof. Seit 1472 war Callimachus auch an der Universität tätig. Er entfaltete eine breite human-humanistische Lehrtätigkeit, die folgenreich war auch für Polens Renaissance-Kultur im nächsten Jahrhundert. Seine Vorbildhaftigkeit hat in der Reliefplatte seines Grabmals in der Krakauer Dominikanerkirche Ausdruck gefunden. Dieses erste Porträt eines Humanisten bei der Arbeit hat König Johann Albrecht für seinen Lehrer von Veit Stoß in Krakau konzipieren und in der Nürnberger Werkstatt Peter Vischers d. A. anfertigen lassen. Conrad Celtis hatte Buonaccorsis Gedanken und Anregungen im Sinn, als er 1489 nach Krakau kam mit dem Plan, hier neben der Universität eine Akademie zu gründen, nach römischem Vorbild. Das ist wohl der erste Widerschein des Akademiegedankens im modernen Sinn nördlich der Alpen. Im Studium in Krakau aber war es Celtis um die humanstischen Naturwissenschaften zu tun. Der Krakauer Astronomie hat er ein berühmtes Lobgedicht gewidmet. Schon vor 1470 war er in Krakau dozierend tätig gewesen - ein »Wanderhumanist«, der über viele Kontakte verfügte. Nikolaus Kopernikus geriet sichtlich sogleich in das Fahrwasser der beiden großen Humanisten, als er 1491 achtzehnjährig das Studium Jagiellonicum bezog. Schon mit zehn Jahren war er von seinem Onkel, dem Bischof von Ermland, Lukas Watzenrode, auf die Kathedralschule von Wlodawek in Kujawien geschickt worden. Die fünf Krakauer Jahre (1491-1495), aber widmete der junge Kopernikus ganz der Krakauer D o mäne, dem Quadrivium als humanistische Naturwissenschaften. 1495 wollte ihn Bischof Watzenrode nach Frauenburg auf ein ermländisches Kanonikat holen, stieß dabei aber auf Schwierigkeiten im Domkapitel. Doch die niederen Weihen hat Nikolaus empfangen, denn das ebnete den Weg zu einer geistlichen Pfründe, die er für eine akademische Karriere brauchte. U m nun die Qualifikation zum Verwalter kirchlicher Güter zu erlangen, zog Kopernikus 1496 nach Bologna zum Rechtsstudium. Auch hier sind es wieder Studien in der »Theoretischen Astrologie« (Astronomie), die ihn zu dem berühmten Domenico Novara führten. N e u hinzu kam jetzt das Griechisch-Studium bei einem weltbekannten Humanisten, Antonius Urceus. Ehe er im Jahr 1500 nach Ermland aufbrach, um nun doch sein Kanonikat anzutreten, absolvierte er in Rom ein Praktikum in Kirchenrecht. Danach war er wirklich für kurze Zeit in Frauenburg. Aber sogleich zog es ihn zur Fortsetzung der Rechtsstudien nach Padua, wo er sich auch der Medizin
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Klaus Zernack
widmete. In seinem Bistum, im Ermland, fehlte es an Ärzten. Später war er dann zuhause in der Tat ein hochgeschätzter praktischer Arzt. Bei Leonicenus (Alban) betrieb er auch in Padua noch Griechisch-Studien, im Zentrum aber dürfte doch die Astronomie gestanden haben. Es ist nun in der polnischen Forschung vermutet worden, daß hier in Padua jener zentrale Gedanke gereift ist, der später in dem Hauptwerk »De revolutionibus orbium coelestium« Gestalt annahm. Vorläufig hatte ihn Kopernikus als Randnotiz in einem astronomischen Lehrbuch skizziert: »Bei Cicero, im zweiten Buch der Academica«, habe er gelesen, »daß der Himmel, die Sonne, Mond und die Sterne und schließlich alles, was dort in den H ö h e n ist, unbeweglich dasteht, und daß sich im Weltall kein Ding außer der Erde bewegt. Diese, indem sie sich bewegt und um ihre eigene Achse mit größter Geschwindigkeit dreht, bewirkt all dies, was stattfinden würde, wenn die Erde stillstehen und der Himmel sich bewegen würde. Verschiedene sind auch der Ansicht, daß gleichfalls Plato im Timäus darüber spricht, aber etwas weniger verständlich.« Das klingt wie ein erster Hauch von Relativitätstheorie (Henryk Bietokowski, Wlodzimierz Zonn). U n d der Humanist Kopernikus fügt, wie zur Erklärung und Bekräftigung, einen Satz Vergib hinzu: »Wir laufen aus dem Hafen aus, und das Land weicht zurück und die Städte.« Am 31. Mai 1503 hat dieser in allen artes bewanderte Gelehrte in der Juristenschule von Ferrara sein Doktorexamen und seine Disputation absolviert. Das Diplom darüber ist erhalten geblieben. Auf der Rückreise ins Ermland war er noch einmal ein paar Tage in Krakau. Bei diesem Besuch erregte er erstmals öffentliche Aufmerksamkeit als Astronom. Denn er beteiligte sich an einer Disputation über die Himmelskonstellationen des Jahres 1503. Man erwartete vier mögliche Konjunktionen von Jupiter und Saturn im unheilverkündenden Zeichen des Stiers. Ins Ermland zurückgekehrt begann er mit seiner Tätigkeit als Sekretär des Bischofs, dessen Canonicus a latere er wurde. Er wohnte im Schloß des Bischofs, hatte viel Administration zu besorgen und kam nur noch nebenbei zur Wissenschaft, seinem eigentlichen Beruf. Seine astronomischen Studien gingen weiter, seine humanistische Leidenschaft nahm immer noch zu. So übersetzte er die »Ethischen Briefe« des byzantinischen Autors Theophylaktos Symokattes ins Lateinische. Nach dem Tod von Bischof Watzenrode 1512 war Kopernikus mehrere Jahre in Allenstein Güterverwalter des Domkapitels. Erst in den zwanziger Jahren konnte er sich in Frauenburg in den berühmten Turm zurückziehen, den man dort noch heute besichtigen kann, und sich ganz der Forschungsarbeit widmen. Seine Lehre wurde bekannt, ehe sie als Buch 1543 in Nürnberg veröffentlicht wurde. Georg Joachim Rethicus, Kopernikus' wichtigster Gesprächspartner der letzten Jahre, sorgte für die Publikation, die der Autor erst auf dem Totenbett 1543 in die Hand nehmen konnte. Das Buch stand bis 1718 auf
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dem Index Librorum Prohibitorum. Aber nicht allein die katholische Kirche lehnte es ab, auch Luther und Melanchthon sahen »Narretei« bzw. »absurde Vorstellungen« am Werk. Dabei war Kopernikus in wahrhaft humanistischem Geist nur zum antiken Diskurs über das Weltbild zurückgekehrt. Er wollte an die vorptolemäische Diskussion anknüpfen und die arabischen und westlichen Auffassungen des Mittelalters in diese einbeziehen. Die Theorie sollte sich den Argumenten stellen, die aus Experiment und Beobachtung gewonnen waren. Die Gelehrten-Vita des Nikolaus Kopernikus zeigt besser als jedes andere Beispiel, wie die Innovationen humanistischer Wissenschaft in Krakau zum Tragen und zur Blüte gekommen sind. Ein Eichstädter Historiker unserer Tage, Rainer A. Müller, hat in einer Studie über Humanismus und Universitäten im östlichen Mitteleuropa eingehend untersucht, wie der Humanismus aus dem höfisch-kirchlichen Umkreis in den Fakultätsbetrieb hineinwuchs und so seine Institutionalisierung fand. Leider gelang es nicht, Erasmus oder Melanchthon nach Krakau zu berufen. Dennoch erreichte die Jagiellonen-Universität in der philologischen Forschung einen guten Gleichstand mit anderen Hochschulen, ohne hier in der vordersten Reihe zu stehen. Herausragend aber waren ihre Erfolge in der humanistischen Naturwissenschaft. »Hier gehörte die jagiellonische Hochschule zu jenen Eliteinstitutionen, die nur noch Padua als unerreichbares Vorbild über sich dulden mußten« (Katharine Walsh). Danach aber sei es - so meint Rainer Müller - »schlagartig« zu Ende gegangen - in den »Wirren der Reformation«, die auch auf Polen ausgestrahlt hätten. Alles war plötzlich rückläufig - die Stiftungsgelder, die Weltoffenheit der Professoren, der städtische Wohlstand. Die Stadt sei zunehmend »polonisiert« worden, »das vormals internationale Studium in Krakau verkümmerte zu einer exklusiv »polnischen Schule