Struktur und Wandel vormoderner Schreibsprachen [Reprint 2011 ed.] 9783110903225, 9783110178531

Die Prinzipien des schreibsprachlichen Wandels stehen im Mittelpunkt dieser empirischen Untersuchung, in der nach einem

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German Pages 396 Year 2003

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Table of contents :
Technische Anmerkungen
A. Einleitung
1. Probleme der historischen Schreibsprachforschung
1.1. Sprachliche Homogenität vs. schreibsprachliche Variation: Zur Abwertung der historischen Schreibsprachen bei den Junggrammatikern und in der historischen Dialektologie und Phonologie
1.2. Sprache und Schrift bei Hermann Paul
1.3. Entwicklung und Ergebnisse der traditionellen historischen Schreibsprachforschung
2. Methodologische Perspektiven der neueren Forschung
2.1. Strukturalismus
2.2. Variationslinguistik
2.3. Funktionalismus
2.4. Sprachkontaktforschung
3. Zielsetzung, Methodik, Korpus und Aufbau der Untersuchung
3.1. Das Duisburger Projekt “Niederrheinische Sprachgeschichte”
3.2. Arbeitshypothesen und Ziele
3.3. Methodik
3.4. Begründung und Vorstellung des Untersuchungskorpus
3.5. Aufbau der Arbeit
B. Zur Entschlüsselung der Struktur und Funktionsweise vormoderner Schreibsysteme
1. Einleitung
1.1. Zur Struktur alphabetischer Schreibsysteme und den Problemen ihrer Erschließung
1.2. Hypothesen zur Graphie-Laut-Zuordnung in vormodernen Schreibsprachen
1.3. Verfahrensschritte und Korpusauswahl
2. Analyse des Graphieninventars
2.1. Methodologische und terminologische Vorklärungen
2.2. Das Graphieninventar des Schreibers Everhardus
3. Analyse der graphematischen Klassenstruktur
3.1. Das lautetymologische Referenzsystem
3.2. Leitgraphieorientierte Klassenanalyse
3.3. Das Graphemsystem des Schreibers Everhardus
3.4. Graphematische Distanzanalyse
3.5. Silbendifferenzierung
3.6. Reihendifferenzierung
3.7. Umlautkennzeichnung
3.8. Relevanzsetzungen im Schreibsystem von Everhardus
4. Graphematische Variationsanalyse
4.1. Methodologische und terminologische Vorklärungen
4.2. Hypothesen zur Interpretation graphematischer Variation
4.3. Folgekonsonanzbedingte Variation
4.4. Wortstrukturell bedingte Variation
4.5. Freie Variation
4.6. Varietätenkontaktbedingte Variation
4.7. Zusammenfassung
C. Diachronische Graphematik und Schreibsprachgeschichte
1. Einleitung
1.1. Finalistische Modelle des (Schreib-)Sprachwandels
1.2. Schreibsprachwandel als soziopragmatische Stilgeschichte
1.3. Interpretationskategorien für die diachronische Analyse
1.4. Zur Vorgehensweise bei der diachronischen Analyse
2. Veränderungen auf der Ebene der Graphieninventare
2.1. Der Aussagewert von Graphieninventaren für die Schreibsprachgeschichte
2.2. Zur Entwicklung des Graphienbestands in der Frühphase der lokalen Schreibsprachgeschichte (1360–1420)
2.3. Veränderungen in Umfang und Zusammensetzung der Graphieninventare
2.4. Veränderungen im Bereich der diachronisch nicht konstanten Graphien
2.5. Veränderungen im Bereich der diachronisch konstanten Graphien
2.6. Zusammenfassung
3. Veränderungen in der graphematischen Klassenstruktur
3.1. Aspekte des diachronischen Vergleichs graphematischer Klassengliederungen
3.2. Veränderungen in Zahl und Umfang der graphematischen Klassen und Graphienspektren
3.3. Silbendifferenzierung
3.4. Reihendifferenzierung
3.5. Umlautkennzeichnung
3.6. Zusammenfassung
4. Veränderungen in der graphematischen Variabilität
4.1. Einleitung
4.2. Veränderungen in der lautpositionsbezogenen Variation
4.3. Veränderungen in der morphemtypbezogenen Variation
4.4. Veränderungen im Verhältnis regional begrenzter, überregional verbreiteter und allochthoner Varianten
4.5. Zusammenfassung
D. Variabilität und Wandel vormoderner Schreibsprachen
1. Schreibsprachwandel als soziopragmatische Stilgeschichte
2. Zur phonischen Rückbindung der graphematischen Variation
3. Konstanten und Inkonstanten in der Duisburger Schreibsprache
3.1. Diachronisch invariable Ausdrucksformen und Strukturen
3.2. Diachronisch variable Ausdrucksformen und Strukturen
3.3. Diachronische Entwicklungstendenzen
3.4. Schreiberspezifische Relevanzsetzungen
4. Orientierung an den lateinischen Lautzuordnungsregeln
5. Ausblick
Literaturverzeichnis
Quellenverzeichnis
Anhang
1. Schreiberspezifische Graphemsysteme
1.1. Das Graphemsystem des Schreibers Physikus 1360
1.2. Das Graphemsystem des Schreibers Everhardus 1400
1.3. Das Graphemsystem des Schreibers Egbertus 1420
1.4. Das Graphemsystem des Schreibers Ludger der Ältere 1440
1.5. Das Graphemsystem des Schreibers Ludger der Jüngere 1480
1.6. Das Graphemsystem des Schreibers Algert 1500
1.7. Das Graphemsystem des Schreibers Leising 1520
1.8. Das Graphemsystem des Schreibers Godert 1540
1.9. Das Graphemsystem des Schreibers Weimann 1560
1.10. Das Graphemsystem des Schreibers Mercator 1660
2. Übersicht über die Graphie-Laut-Zuordnungen in den zehn Schreibersystemen
2.1. Langvokalpositionen
2.2. Kurzvokalpositionen
3. Schreiberspezifische Graphieninventare
3.1. Das Graphieninventar des Schreibers Physikus 1360
3.2. Das Graphieninventar des Schreibers Everhardus 1400
3.3. Das Graphieninventar des Schreibers Egbertus 1420
3.4. Das Graphieninventar des Schreibers Ludger der Ältere 1440
3.5. Das Graphieninventar des Schreibers Ludger der Jüngere 1480
3.6. Das Graphieninventar des Schreibers Algert 1500
3.7. Das Graphieninventar des Schreibers Leising 1520
3.8. Das Graphieninventar des Schreibers Godert 1540
3.9. Das Graphieninventar des Schreibers Weimann 1560
3.10. Das Graphieninventar des Schreibers Mercator 1660
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Struktur und Wandel vormoderner Schreibsprachen [Reprint 2011 ed.]
 9783110903225, 9783110178531

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Michael Elmentaler Struktur und Wandel vormoderner Schreibsprachen

W DE

G

Studia Linguistica Germanica

Herausgegeben von Stefan Sonderegger und Oskar Reichmann

71

Walter de Gruyter · Berlin · New York

2003

Michael Eimentaler

Struktur und Wandel vormoderner Schreibsprachen

Walter de Gruyter · Berlin · New York 2003

© Gedruckt auf säurefreiem Papier das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 3-11-017853-2 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

© Copyright 2003 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechdich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen

Für Astrid

Vorwort Die votliegende Untersuchung wurde im Sommersemester 2003 von der Fakultät für Geisteswissenschaften der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg als Habilitationsschrift angenommen. Für die Druckfassung wurden den Anregungen der Gutachter entsprechend einige Veränderungen vorgenommen. Den Herausgebern der Studia Linguistica Germanica, Prof. Dr. Stefan Sonderegger und Prof. Dr. Oskar Reichmann, sei für ihre Bereitschaft, meine Arbeit in die Reihe aufzunehmen, herzlich gedankt. Ein besonderer Dank gilt meinem akademischen Lehrer, Prof. Dr. Arend Mihm, der mein Interesse an der regionalen Sprachgeschichte des Rheinmaaslandes und an Fragen der historischen Schreibsprachforschung geweckt und meine Untersuchung zu jeder Zeit wohlwollend-kritisch begleitet und gefördert hat. Seine Anregungen als Leiter des DFG-Forschungsprojekts „Niederrheinische Sprachgeschichte", in dem ich von 1994 bis 1999 mitarbeiten konnte, haben wesentlich dazu beigetragen, dass die Arbeit in dieser Form entstehen konnte. Gedankt sei in diesem Zusammenhang auch den Projektmitarbeitem Heike Hawicks, Andre Hollstein und Tim Stichlmair sowie Dr. Hildegard Weber für die gute und freundschaftliche Zusammenarbeit und die vielen interessanten Diskussionen über Detailfragen der Graphemanalyse. Schließlich habe ich den studentischen Mitarbeitern Marcus Feldhaus, Christoph Grevels, Claudia Strack und Angela Wermke zu danken, die mit der Transkription der Handschriften und der Vorbereitung der computergestützten Auswertungen wichtige Grundlagen für die hier durchgeführten Untersuchungen geschaffen haben. Für hilfreiche Hinweise zur Verbesserung der Arbeit habe ich Prof. Dr. Jürgen Biehl (Duisburg) und Prof. Dr. Amand Berteloot (Münster) zu danken. Dem Stadtarchiv Duisburg bin für die freundliche Bereitstellung der hier zugrunde liegenden Quellen zu Dank verpflichtet. Meiner lieben Familie, vor allem meiner Frau danke ich für das Verständnis und die Unterstützung, die sie mir während der heißen Phasen der Untersuchung entgegengebracht haben. Duisburg, Juli 2003

Michael Eimentaler

Inhaltsverzeichnis Verzeichnis der Abbildungen XIV Technische Anmerkungen XIX A. Einleitung 1 1. Probleme der historischen Schreibsprachforschung 1 1.1. Sprachliche Homogenität vs. schreibsprachliche Variation: Zur Abwertung der historischen Schreibsprachen bei den Junggrammatikern und in der historischen Dialektologie und Phonologie 2 1.2. Sprache und Schrift bei Hermann Paul 6 1.3. Entwicklung und Ergebnisse der traditionellen historischen Schreibsprachforschung 11 1.3.1. Zur diachronischen Entwicklung von Schreib sprachen 11 1.3.2. Zum Verhältnis von Schreibsprache und Lautsprache 19 1.3.3. Zur Funktionalität der graphematischen Variation 23 2. Methodologische Perspektiven der neueren Forschung 29 2.1. Strukturalismus 29 2.2. Variationslinguistik 36 2.3. Funktionalismus 42 2.4. Sprachkontaktforschung 45 3. Zielsetzung, Methodik, Korpus und Aufbau der Untersuchung 49 3.1. Das Duisburger Projekt "Niederrheinische Sprachgeschichte" 49 3.2. Arbeitshypothesen und Ziele 51 3.3. Methodik 53 3.3.1. Verfahrensansätze der historischen Schreibsprachanalyse 53 3.3.2. Methodologische Grundlagen der vorliegenden Untersuchung ... 60 3.4. Begründung und Vorstellung des Untersuchungskorpus 63 3.4.1. Zur sprachlichen Charakteristik des Ortspunktes Duisburg 63 3.4.2. Korpushomogenität als Untersuchungsvoraussetzung 68 3.4.3. Überlieferungslage und Stichprobenauswahl 70 3.5. Aufbau der Arbeit 80 B. Zur Entschlüsselung der Struktur und Funktionsweise vormoderner Schreibsysteme 82 1. Einleitung 82 1.1. Zur Struktur alphabetischer Schreibsysteme und den Problemen ihrer Erschließung 82

χ

Inhaltsverzeichnis

1.2. Hypothesen zur Graphie-Laut-Zuordnung in vormodernen Schreibsprachen 1.3. Verfahrensschritte und Korpusauswahl 2. Analyse des Graphieninventars 2.1. Methodologische und terminologische Vorklärungen 2.2. Das Graphieninventar des Schreibers Everhardus 3. Analyse der graphematischen Klassenstruktur 3.1. Das lautetymologische Referenzsystem 3.2. Leitgraphieorientierte Klassenanalyse 3.3. Das Graphemsystem des Schreibers Everhardus 3.4. Graphematische Distanzanalyse 3.5. Silbendifferenzierung 3.5.1. Silbendifferenzierung bei den alten Langvokalen und Diphthongen 3.5.2. Differenzierung der alten Kurzvokale in offener und sekundär geschlossener Silbe 3.5.3. Differenzierung der alten Kurzvokale in offener und geschlossener Silbe 3.5.4. Zusammenfassung 3.6. Reihendifferenzierung 3.6.1. Differenzierung der alten Langvokale und Diphthonge 3.6.2. Differenzierung der alten Kurzvokale 3.6.3. Zusammenfassung 3.7. Umlautkennzeichnung 3.7.1. Umlautkennzeichnung im Bereich der alten Langvokale und Diphthonge 3.7.2. Umlautkennzeichnung im Bereich der alten Kurzvokale 3.7.3. Zusammenfassung 3.8. Relevanzsetzungen im Schreibsystem von Everhardus 4. Graphematische Variationsanalyse 4.1. Methodologische und terminologische Vorklärungen 4.2. Hypothesen zur Interpretation graphematischer Variation 4.3. Folgekonsonanzbedingte Variation 4.3.1. Variationsanalyse der Lautposition {o*} 4.3.2. Folgekonsonanzspezifischer Digraphiengebrauch bei den übrigen Kurzvokalpositionen in geschlossener Silbe 4.3.3. Folgekonsonanzspezifischer Monographienwechsel bei den Kurzvokalpositionen in geschlossener Silbe 4.3.4. Variationsanalyse der Kurzvokalpositionen in offener und sekundär geschlossener Silbe Exkurs: Argumente und Evidenzen für eine Berücksichtigung allophonischer Strukturen in vormodernen Schreibsprachen

85 86 89 89 92 96 97 102 107 114 115 116 117 118 119 120 120 123 126 127 127 129 130 130 132 133 136 137 138 142 146 150 152

Inhaltsverzeichnis

4.4. Wortstrukturell bedingte Variation 4.5. Freie Variation 4.5.1. Freie Variation und Morphemkonstanz 4.5.2. Interpretationsansätze für freie Variation 4.6. Varietätenkontaktbedingte Variation 4.7. Zusammenfassung C. Diachronische Graphematik und Schreibsprachgeschichte 1. Einleitung 1.1. Finalistische Modelle des (Schreib-)Sprachwandels 1.2. Schreibsprachwandel als soziopragmatische Stilgeschichte 1.3. Interpretationskategorien für die diachronische Analyse 1.3.1. Schreibsprachwandel als Nachvollzug von Lautwandel 1.3.2. Schreibsprachwandel als Optimierungsprozess 1.3.3. Schreibsprachwandel als Stilgeschichte 1.4. Zur Vorgehensweise bei der diachronischen Analyse 2. Veränderungen auf der Ebene der Graphieninventare 2.1. Der Aussagewert von Graphieninventaren für die Schreibsprachgeschichte 2.2. Zur Entwicklung des Graphienbestands in der Frühphase der lokalen Schreibsprachgeschichte (1360-1420) 2.3. Veränderungen in Umfang und Zusammensetzung der Graphieninventare 2.4. Veränderungen im Bereich der diachronisch nicht konstanten Graphien 2.5. Veränderungen im Bereich der diachronisch konstanten Graphien 2.6. Zusammenfassung 3. Veränderungen in der graphematischen Klassenstruktur 3.1. Aspekte des diachronischen Vergleichs graphematischer Klassengliederungen 3.2. Veränderungen in Zahl und Umfang der graphematischen Klassen und Graphienspektren 3.3. Silbendifferenzierung 3.3.1. Silbendifferenzierung bei den alten Langvokalen und Diphthongen 3.3.2. Differenzierung der alten Kurzvokale in offener und sekundär geschlossener Silbe 3.3.3. Differenzierung der alten Kurzvokale in offener und geschlossener Silbe 3.3.4. Zusammenfassung 3.4. Reihendifferenzierung 3.4.1. Differenzierung der alten Langvokale und Diphthonge 3.4.1.1. Differenzierung der ersten und zweiten Langvokalreihe

XJ

158 160 161 166 168 171 174 174 174 180 185 186 186 188 189 190 190 194 198 201 .. 208 211 212 212 214 216 218 225 232 236 238 239 239

XII

Inhaltsverzeichnis

3.4.1.2. Differenzierung der zweiten und dritten Langvokalreihe ... 242 3.4.1.3. Differenzierung der dritten und vierten Langvokalreihe 244 3.4.1.4. Differenzierung der vierten und fünften Langvokalreihe ... 246 3.4.1.5. Zusammenfassung 247 3.4.2. Differenzierung der alten Kurzvokale 251 3.4.2.1. Differenzierung der ersten und zweiten Kurzvokalreihe .... 251 3.4.2.2. Differenzierung der zweiten und dritten bzw. vierten Kurzvokalreihe 253 3.4.2.3. Zusammenfassung 255 3.4.3. Zusammenfassung 257 3.5. Umlautkennzeichnung 258 3.5.1. Umlautkennzeichnung im Bereich der alten Langvokale und Diphthonge 261 3.5.2. Umlautkennzeichnung im Bereich der alten Kurzvokale 263 3.5.3. Zusammenfassung 271 3.6. Zusammenfassung 271 4. Veränderungen in der graphematischen Variabilität 280 4.1. Einleitung 280 4.2. Veränderungen in der lautpositionsbezogenen Variation 281 4.3. Veränderungen in der morphemtypbezogenen Variation 285 4.3.1. Morphemtypbezogene Variation und Morphemkonstanz im Schreibsystem von Mercator (1660) 286 4.3.2. Morphemtypbezogene Variation im diachronischen Vergleich . 288 4.4. Veränderungen im Verhältnis regional begrenzter, überregional verbreiteter und allochthoner Varianten 291 4.4.1. Veränderungen in der folgekonsonanzabhängigen Variation 292 4.4.1.1. Verwendung von Digraphien für alte Kürzen vor Liquid-Dental-Verbindungen 292 4.4.1.2. Digraphiengebrauch für {a*} vor Nasalen und Liquiden 296 4.4.2. Veränderungen in der freien Variation 298 4.4.3. Variationszunahme durch Übernahme fmhd. Lehngrapheme und Lehnlexeme 303 4.5. Zusammenfassung 307 D. Variabilität und Wandel vormoderner Schreibsprachen 309 1. Schreibsprachwandel als soziopragmatische Stilgeschichte 309 2. Zur phonischen Rückbindung der graphematischen Variation 311 3. Konstanten und Inkonstanten in der Duisburger Schreibsprache 311 3.1. Diachronisch invariable Ausdrucksformen und Strukturen 312 3.2. Diachronisch variable Ausdrucksformen und Strukturen 314 3.3. Diachronische Entwicklungstendenzen 315 3.4. Schreiberspezifische Relevanzsetzungen 316

Inhaltsverzeichnis

XIII

4. Orientierung an den lateinischen Lautzuordnungsregeln 5. Ausblick Literaturverzeichnis Quellenverzeichnis

318 319 321 350

Anhang 1. Schreiberspezifische Graphemsysteme 1.1. Das Graphemsystem des Schreibers Physikus 1360 1.2. Das Graphemsystem des Schreibers Everhardus 1400 1.3. Das Graphemsystem des Schreibers Egbertus 1420 1.4. Das Graphemsystem des Schreibers Ludger der Ältere 1440 1.5. Das Graphemsystem des Schreibers Ludger der Jüngere 1480 1.6. Das Graphemsystem des Schreibers Algert 1500 1.7. Das Graphemsystem des Schreibers Leising 1520 1.8. Das Graphemsystem des Schreibers Godert 1540 1.9. Das Graphemsystem des Schreibers Weimann 1560 1.10. Das Graphemsystem des Schreibers Mercator 1660 2. Übersicht über die Graphie-Laut-Zuordnungen in den zehn Schreibersystemen 2.1. Langvokalpositionen 2.2. Kurzvokalpositionen 3. Schreiberspezifische Graphieninventare 3.1. Das Graphieninventar des Schreibers Physikus 1360 3.2. Das Graphieninventar des Schreibers Everhardus 1400 3.3. Das Graphieninventar des Schreibers Egbertus 1420 3.4. Das Graphieninventar des Schreibers Ludger der Ältere 1440 3.5. Das Graphieninventar des Schreibers Ludger der Jüngere 1480 3.6. Das Graphieninventar des Schreibers Algert 1500 3.7. Das Graphieninventar des Schreibers Leising 1520 3.8. Das Graphieninventar des Schreibers Godert 1540 3.9. Das Graphieninventar des Schreibers Weimann 1560 3.10. Das Graphieninventar des Schreibers Mercator 1660

353 354 354 356 358 360 362 364 366 368 370 372 374 374 375 376 376 376 377 377 378 378 379 379 380 380

Technische Anmerkungen 1. Abkürzungen Zur Bezeichnung von Sprachen/Dialekten bzw. Sprach- oder Dialektstufen werden bei adjektivischer Verwendung die folgenden Abkürzungen gebraucht: ahd. altengl. altfrz. asächs. brab. dt. engl. fläm. frnhd. frz. germ. griech. hd. holl. lat. md.

althochdeutsch altenglisch altfranzösisch altsächsisch brabantisch deutsch englisch flämisch frühneuhochdeutsch französisch germanisch griechisch hochdeutsch holländisch lateinisch mitteldeutsch

mhd. mnd. mnl. nd. nhd. nl. nnd. nnl. obd. omd. rhfrk. rhml. rip. wfäl. wgerm. wmd.

mittelhochdeutsch mittelniederdeutsch mittelniederländisch niederdeutsch neuhochdeutsch niederländisch neuniederdeutsch neuniederländisch oberdeutsch ostmitteldeutsch rheinfränkisch rheinmaasländisch ripuarisch westfälisch westgermanisch westmitteldeutsch

2. Verweise auf die Textkorpora Auf die zehn schreiberspezifischen Teilkorpora (bzw. Graphemsysteme) des hier zugrunde gelegten Untersuchungskorpus wird in Abbildungen und Text jeweils durch Angabe des (meist abgekürzten) Schreibemamens und einer Jahressigle, die teilweise auf längere Überlieferungszeiträume verweist, Bezug genommen (eine Aufstellung über Texte und Korpusumfang findet sich in Teil A, Kap. 3.4.3, Abb. 1):

XVI

Namenskürzel Jahressigle Phy 1360 Ever 1400 Egb 1420 LdÄ 1440 LdJ 1480 Alg 1500 Lei 1520 God 1540 Wei 1560 Mer 1660

und Schreibername Physikus Everhardus Egbertus Ludger der Altere Ludger der Jüngere Johann Algert Bernhardus Leising Godert von Entbrouk Georg Weimann Hermann Mercator

Überlieferungszeitraum 1360-1368 1377-1407 1408-1414 1415-1461 1468-1485 1499 1518 1535-1542 1561 1657

3. Querverweise innerhalb des Buches Auf Abschnitte des vorliegenden Buches wird jeweils durch Angabe des Buchstabens für den Hauptteil (A, B, C oder D) und der Kapitelnummer verwiesen, z.B. A.1.3 oder B.3.5.2.

Α. Einleitung 1. Probleme der historischen Schreibsprachforschung Die Entschlüsselung und Deutung historischer Schriftzeugnisse stellt in mehrfacher Hinsicht eine zentrale Aufgabe der Sprachgeschichtsforschung dar: für die zuverlässige Deutung der Textinhalte, für die Rekonstruktion früherer Sprachstufen, insbesondere in Hinblick auf Laut- und Formenlehre, für die Erforschung der Schreibsprachgeschichte1. Aufgrund der relativen strukturellen Nähe der spätmittelalterlichen Sprachsysteme zum System des Neuhochdeutschen bzw. denen der nnd. Dialekte stellte die Erschließbarkeit der Textinhalte bereits im 18. Jahrhundert kein wesentliches Problem mehr dar und kann durch die philologischen Leistungen des 19. Jahrhunderts als weitgehend gesichert gelten. Dagegen stieß man bei dem Versuch, die historischen Schreibsprachen als Quellen für die Rekonstruktion phonetisch-phonologischer oder morphologischer Entwicklungen zu nutzen, immer wieder auf grundsätzliche Schwierigkeiten, was in Teilen der Forschung zu einer bis heute andauernden Abwertung der Schreibsprachen als sprachhistorischem Erkenntnismittel und einer Hinwendung zu dialektrekonstruierenden Verfahrensweisen oder abstrakten Modellierungen phonologischer Entwicklungsprozesse führte (A.l.l). Gleichzeitig bildeten sich jedoch schon früh Ansätze heraus, die die Schreibsprachentwicklung zu einem eigenständigen und gleichwertigen Forschungsgegenstand erklärten und ein genaueres Verständnis von der Charakteristik historischer Schreibsysteme zu erlangen versuchten (A.1.21.3). Im ersten Kapitel soll es darum gehen, einen Abriss der Interessenschwerpunkte und Ergebnisse dieser traditionellen schreibsprachhistorischen Forschung zu geben, aber auch ihre methodologischen Beschränkungen aufzuzeigen, die 'Schreibsprachgeschichte', d.h. die Entwicklung historischer Schreibsprachen, wird hier terminologisch von 'Schriftgeschichte' im paläographischen Sinne abgegrenzt. Die gängige Differenzierung von 'Schreibsprachgeschichte' (etwa bis 1650) und Orthographiegeschichte' bzw. 'Geschichte der nhd. Schriftsprache' (ab 1650/1700, vgl. Sonderegger 1979: 30, Besch 1983a: 977f., Penzl 1984: 23, Augst/Müiler 1996: 1500, Paul/Schröbler/Wiehl/Grosse 1998: 12) ist dagegen nicht unproblematisch, da sich die schreibsprachlichen Vereinheitlichungsprozesse durch Entregionalisierung und Variantenabbau über mehrere Jahrhunderte erstrecken, ohne dass eine klare Zäsur zu erkennen wäre, die für alle graphematischen Phänomenbereiche Gültigkeit besäße (Kap. 1.3.1). Erst mit der Kodifikation der dt. Rechtschreibung in den regionalen Schulorthographien ab 1879 und der dt. Einheitsorthographie 1901 beginnt insofern ein neuer Entwicklungsabschnitt, als von nun an eine verbindliche, staatlich sanktionierte Regelung besteht, die die natürliche, 'evolutive' Entwicklung der Schreibung erheblich einschränkt.

2

Einleitung

dann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer Hinwendung zu strukturalistisch und variationslinguistisch orientierten Ansätzen gefuhrt haben.

1.1. Sprachliche Homogenität vs. schreibsprachliche Variation: Zur Abwertung der historischen Schreibsprachen bei den Junggrammatikern und in der historischen Dialektologie und Phonologie Mit den theoretischen Vorgaben der junggrammatischen Forschungsrichtung2, insbesondere der These von der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze und der Annahme einer weitgehenden Homogenität von Sprachen und Dialekten waren die Schwierigkeiten im Umgang mit der schreibsprachlichen Uberlieferung vorgezeichnet3. Denn die ausgeprägte Variabilität der historischen Schreibsysteme ließ es nicht zu, den Graphien in geregelter Weise Lautwerte zuzuordnen, andererseits aber erwies es sich auch als unmöglich, den wechselnden Wortschreibungen grammatische Funktionen zuzuschreiben. Die Schwankungen und Diskontinuitäten in der Entwicklung der historischen Schreibsprachen erlaubten zudem keine Rekonstruktion regelmäßiger und nach festen Gesetzmäßigkeiten verlaufender Sprachwandelprozesse. Aus dem Widerspruch zwischen der junggrammatischen 2

3

Zu den methodologischen Grundlagen der Junggrammatiker vgl. Einhauser (1989), Putschke (1998). Nach Putschke (1998: 476) wird in der Konzeption der Junggrammatiker in Ubereinstimmung mit der vorangehenden komparatistischen Tradition die Sprache „als ein weitgehend homogenes und in sich geschlossenes Objekt gesehen". Zur nachhaltigen Orientierung der germanistischen Sprachgeschichtsschreibung am Begriff der „Einheitlichkeit" vgl. noch 1987 die kritischen Bemerkungen von Ulrich Knoop: „Ich kenne keine Abhandlung der Sprachgeschichte, der nicht dieser Begriff von Einheitlichkeit der Sprache zugrunde liegt [...]. Es ist dies eine zentrale und deshalb nicht weiter reflektierte Prämisse der Sprachgeschichtsschreibung", mit der Folge, dass ältere, durch Heterogenität geprägte Sprachstufen negativ bewertet („Zersplitterung") und Sprachentwicklungsprozesse lediglich unter dem Gesichtspunkt ihrer teleologischen Entwicklung hin zur nhd. Einheitssprache betrachtet würden (1987: 11 f.). Vgl. auch Milroys (1992: 193) Kritik an der älteren Forschung zum Mittelenglischen, die die Variabilität der historischen Texte eher als Hindernis denn als Erkenntnisquelle („as an obstacle rather than a resource") angesehen hätte. Variation sei lediglich als regellose und zufällige Abweichung von einem Idealbild der homogenen, normierten Sprache betrachtet worden, die es jedoch noch gar nicht gab (ebd.: 194). Dies habe auch zur Folge gehabt, dass die Entstehung des Standardenglischen in den Mittelpunkt der sprachhistorischen Forschung gerückt sei, während die davon unabhängige Entwicklung der älteren Regionalsprachen nicht als genuiner Forschungsgegenstand angesehen wurde; die älteren Sprachgeschichten seien daher sehr selektiv (1992: 202). „The general effect is to understate the multidimensionality of language and its history" (ebd.: 202). Für die romanistische Schreibsprachforschung hat neuerdings Selig (2001: 58) darauf hingewiesen, „daß ein Rückgang auf vorgängige, homogenisierende Sprachkonzepte nicht mehr möglich ist", und eine stärkere Adaption variationslinguistischer Modelle gefordert. Dazu vor allem A.2.2. Zur Abwertung der Schrift durch die Junggrammatiker vgl. Nerius/Scharnhorst (1980: 17), Nerius (1989: 43f.). Als Ausnahmen gelten Hermann Paul, Jan Baudouin des Courtenay und Otto Behaghel, die bereits auf die relative Eigenständigkeit der Schrift und die Notwendigkeit ihrer gesonderten Analyse hinwiesen; vgl. Glück (1987: 74-81, 69), Nerius (1989: 43-46).

Probleme der historischen Schreibsprachforschung

3

These von der Homogenität von Sprachen und der Gesetzmäßigkeit ihres Wandels einerseits und der Variabilität der historischen Schreibsprachen und den Brüchen in ihrer diachronischen Entwicklung andererseits wurde jedoch nicht die Notwendigkeit einer kritischen Überprüfung und ggf. Modifikation der theoretischen Vorannahmen abgeleitet, sondern vielmehr darauf geschlossen, dass die schreibsprachliche Überlieferung für die Erschließung historischer Sprachentwicklungen nur in abstrakter Weise und unter möglichst weitgehender Ausklammerung der graphematischen Varianz zu berücksichtigen sei: In der junggrammatischen Tradition wurden und werden die (ortho)graphischen Verhältnisse der analysierten Texte gewissermaßen geröngt für die 'darunterliegenden' phonologischen Strukturen. (Maas 1991: 13)

Dies spiegelt sich deutlich in den zu dieser Zeit begründeten historischen Grammatiken des Deutschen wider, besonders prägnant in Hermann Pauls Mittelhochdeutscher Grammatik (1881, 24. Aufl. 1998) die sich auf die graphematisch homogenisierten Quellentexte der Lachmannschen Editionsphilologie stützte, um daraus ein idealisiertes mhd. Lautsystem zu rekonstruieren4. Auch für die parallel zur junggrammatischen Richtung entstandene Dialektgeographie bildet das Homogenitätspostulat eine Grundvoraussetzung, so dass auch hier eine kritische Haltung zur heterogenen und variantenreichen Schreibsprachüberlieferung, die als unzuverlässig gilt, eingenommen wird. Der bekannten Kritik des jungen Frings an der „vielfältig getrübten, von allerhand unkontrollierbaren individuellen und literarischen Einflüssen durchkreuzten schriftlichen Überlieferung" (Frings/van Ginneken 1919: 105) lassen sich zahlreiche ähnlich lautende Äußerungen aus der sprachhistorischen und dialektologischen Literatur dieser Zeit zur Seite stellen5. Angesichts der scheinbar regellosen Variation der historischen Schreibsprachen wurde der Königsweg zur Erschließung historischer Lautverhältnisse nun in den dialektrekonstruierenden Verfahrensweisen der histori-

4

Erst in jüngster Zeit gibt es Bestrebungen, dieses Konstrukt des Idealmittelhochdeutschen durch eine der Sprachwirklichkeit angemessenere, differenzierte Beschreibung der damals verwendeten Schreibsprachen zu ersetzen (Wegera 1991, 2000), wozu auch die Erfassung der innersystemaren Variation gehört. Nach Paul/Schröbler/Wiehl/Grosse (1998: 18) befindet sich die linguistische Mediävistik in dieser Hinsicht in einem „Zwischenstadium, in dem das Normalmhd. als sprachlicher Fokus zunehmend in Frage gestellt wird, die Handschriftenforschung dagegen noch zu wenig Material bereitstellt". Am deutlichsten findet der Paradigmenwechsel von einer am Homogenitätsideal orientierten zu einer stärker an sprachlicher Varianz und Varietäten interessierten Sprachgeschichtsschreibung (Knoop 1987: 23, Koch/Oesterreicher 1994: 594-596, von Polenz 2000: 13, 67, Reichmann 2000: 1623f.) in der Friihneuhochdtutschcn Grammatik von Reichmann/Wegera (1993) ihren Niederschlag (vgl. dazu aber die relativierenden Ausführungen in A. 1.3.3).

5

Vgl. z.B. die bei Mihm (1999d: 173) und (2001a: 568) zitierten Bemerkungen von Franck (1902) und Dornfeld (1912).

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Einleitung

sehen Dialektologie gesehen, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts beeindruckende Forschungsergebnisse erzielen konnte6: Die Zeiten sind vorbei, die da glaubten, die Sprachgeschichte einer Landschaft vorwiegend aus seiner landessprachlichen geschriebenen oder gedruckten Überlieferung schöpfen zu können. Die lebenden Mundarten sind der heutigen Forschung sicherster Erkenntnisquell. (Frings 1924: 7)7 Diese „programmatische Zurücksetzung der schreibsprachlichen Uberlieferung [···] gegenüber dem historischen Aussagewert der Dialekte"8 lässt sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch in Teilen der historischen Phonologie9 beobachten, die hierin der von Saussure10 und den amerikanischen Strukturalisten vertretenen Auffassung folgen, die gesprochene Sprache sei der eigentliche Untersuchungsgegenstand der Sprachwissenschaft und die Schrift nur ihr verzerrtes Abbild 11 . Die begrenzte Aussagekraft der hierdurch gewonnenen Daten 12 hat 6

7

8 9

10

»

12

Wagner (1963), Grober-Glück (1982: 93-95), Debus (1983: 934f.), Sonderegger (1983: 1532f.). Eine frühe Beschreibung des dialektrückschließenden Verfahrens bietet Collitz (1886: 29f.). Vorläufer dieser Auffassung (am Beispiel der mnd. Philologie) sind z.B. Jostes (1885: 95): „.,. dass für die Erforschung der Sprachgeschichte die jetzigen Dialecte viel wichtiger sind als die mittelwestfälischen Denkmäler"; Damköhler (1890: 131): „Von der jetzigen lebenden Mundart haben wir also als der besten und sichersten Grundlage auszugehen [...], um zu einer einigermaßen sicheren Kenntniß der mittelniederdeutschen Mundarten zu gelangen"; Collitz (1902: 23*): „Im ganzen lernen wir aus den älteren schriftlichen Quellen für die Geschichte des heutigen Dialektes wenig. Die Vergleichung der heutigen Mundart mit dem Altsächsischen und überhaupt mit den älteren deutschen Dialekten gibt ein zuverlässigeres Bild von dem Aussehen der waldeckischen Mundart im Mittelalter, als irgend eine schriftliche Urkunde"; W. Seelmann (1902: 61): „... dass wir eine wirkliche Kenntnis der alten [...] Sprache erst mit Hilfe der lebenden Mundarten erschliessen werden". Schmitt (1957: 265). Moulton (1961), Russ (1969), Reis (1974), Wiesinger (1977,1983), King (1988), Seidelmann (1999). Zur Ubertragbarkeit natürlichkeitstheoretischer Konzepte auf den Bereich der Orthographie vgl. die Überlegungen von Munske (1994). de Saussure (1916: 28): „Nicht die Verknüpfung von geschriebenem und gesprochenem Wort ist Gegenstand der Sprachwissenschaft, sondern nur das letztere, das gesprochene Wort allein ist ihr Objekt". Im Anschluss an seine Analyse des „Mißverhältnisses" von Sprache und Schrift stellt er fest, „daß die Schrift die Entwicklung der Sprache verschleiert; sie ist nicht deren Einkleidung, sondern ihre Verkleidung" (ebd.: 35). Schreibsprachliche Variation wird auch von Saussure ausschließlich als Erkenntnishindernis betrachtet (ebd.: 34f.). Vgl. zur Forschungsgeschichte Nerius (1989: 44, 51-54), Glück (1987: 63-68). Zur Vernachlässigung der Schreibsprachentwicklung gegenüber der Lautentwicklung in „sprachgeschichtlichen Handbüchern des Deutschen" vgl. Möller (1989). Rekonstruktive Verfahrensweisen bieten keine Möglichkeit, historische Lautentwicklungen zu rekonstruieren, die später wieder rückgängig gemacht wurden, und erlauben keine absolute Datierung von Lautwandelprozessen. Auch die wichtige Frage nach der lexem- oder vokalbezogenen Staffelung bei der Durchsetzung eines strukturellen Lautwandels (z.B. einer Kollision zweier Vokalreihen) lässt sich durch Dialektrekonstruktion bzw. auf der Basis universalphonologischer Gesetzmäßigkeiten nicht beantworten. Ein großer „Spielraum für Hypothesenbildung" (GroberGlück 1982: 104) besteht insofern, als für einen Lautwandelprozess häufig mehrere alternative

Probleme der historischen Schreibsprachforschung

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einige neuere Vertreter der historischen Phonologie zwar wieder zu einer stärkeren Einbeziehung der schreibsprachlichen Überlieferung veranlasst13, wie sie auch im Rahmen des dialektgeographischen Paradigmas bereits gelegentlich praktiziert worden war 14 . Das Problem, wie sich schreibsprachliche Variation erklären lasse, wird jedoch auch in diesen Arbeiten kaum thematisiert, da diese in ihrem Bemühen um eine Rekonstruktion historischer Phonemsysteme vorwiegend graphematische Analyseverfahren anwenden, die nicht auf ein Verständnis der Variation, sondern auf eine Rekonstruktion der hinter der variablen 'Oberfläche' verborgenen Phonemoppositionen abzielen. Die von Penzl, Nerius u.a. vertretene These, die Schreiber hätten eine phonemdifferenzierende Schreibung intendiert, lässt jedoch die Frage unbeantwortet, wieso auch gebildete Stadtsekretäre die Identifikation der phonematischen Oppositionen durch den Gebrauch Möglichkeiten der Entwicklung denkbar sind. Schließlich wird auch der sprachlichen Schichtung nicht genügend Rechnung getragen. Ausgehend von den rezenten Mundarten bzw. von Annahmen über universelle Lautgesetzlichkeiten wird die Sprachentwicklung eines Dialekts (oder sogar eines idealisierten Over-all-Systems als abstraktem Strukturmuster der Dialekte eines Sprachgebietes) rekonstruiert, wobei die basisdialektalen Varietäten nicht von 'höheren' Sprachlagen unterschieden werden, die möglicherweise einer anderen Entwicklungsdynamik unterlagen. 13 So bildet für Penzls Konzeption der historischen Phonologie die schreibsprachliche Überlieferung den Ausgangspunkt und die sicherste Erkenntnisquelle (z.B. 1971: 19, 1982a: 169, 1984: 33, 34, 1987: 226f.), ebenso wie für die Arbeiten von Simmler (1976, 1979, 1981). Vgl. auch Kohrts einleitende Bemerkung über die Grundlegung historisch-phonologischer Rekonstruktionen in seinem Handbuchartikel über „Historische Graphematik und Phonologie" (1998: 561): „Als primäre Basis einer solchen Rekonstruktion hat das (objektsprachlich) schriftlich Überlieferte zu gelten ...". Mihm (2002: 238) weist aus der Perspektive der historischen Graphematik darauf hin, „dass eine engere Bezugnahme der dialektrückschließenden Lautgeschichtsforschung auf die historische Schreibsprachforschung dringend erforderlich ist". '•· Vgl. z.B. für die mnd. Philologie Sarauw (1921, 1924), Scharnhorst (1961), Niebaum (1974), Flechsig (1980). Auch Frings schließt schreibsprachliche Analysen nicht grundsätzlich aus, meint jedoch, dass „erst die neue Methode historisch-dialektgeographischer Betrachtung das rechte Licht auf die schriftlichen Quellen werfen" werde (Frings/van Ginneken 1919: 105). Vgl. Frings (1921: 10): „Gerade die Mundarten müssen uns helfen aus der beschreibenden Buchstabenlehre, der noch allzuviel gedient wird, herauszukommen, ja den Buchstaben erst ihre gehörigen Werte unterzulegen". Frings weist ausdrücklich darauf hin, dass er „die Leistungen der Erforscher dieses Gebietes [...] nicht schmälern" wolle, da sie „mit rührendem Fleiss [...] dem Sprachforscher wichtige Einzelbeobachtungen bereit gestellt" hätten (1921: 3), fordert jedoch eine Neuorientierung der historischen Schreibsprachforschung an den Prinzipien der historischen Sprachgeographie: „Orts-, Territorial-, Landschafts- und die Kulturgeschichte weitester Spannung binden und zerfleddern die Sprachlandschaften und -grenzen in ununterbrochenem Ineinanderspiel. Unter diesen Gesichtspunkten ist die Geschichte der rheinischen Sprache von der Pfalz bis in die Niederlande neu zu schreiben: insbesondere die Geschichte des rheinischen O r t h o g r a p h i e s y s t e m s mit seinen zahllosen Kreuzungen zwischen, kurz gesagt, heimischer, niederländischer, hochdeutscher und auch ostfranzösischer Tradition". Die urkundensprachlichen Untersuchungen, wie sie in den 1920er Jahren von seinen Schülern Tille, Scheuermann und Scheben durchgeführt wurden, haben dementsprechend vor allem die Funktion, die mithilfe des dialektrekonstruierenden Verfahrens aufgestellten Hypothesen zu stützen. Die historische Schreibsprachforschung hat in diesem Sinne lediglich die Funktion einer „Hilfswissenschaft" (Mihm 2001a: 567).

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Einleitung

mehrerer Schreibweisen für denselben Laut erschwerten, obwohl sie doch das variantenarme Schreibsystem des Lateinischen mühelos beherrschten. Auch der stereotype Hinweis auf das Fehlen einer übergeordneten Schreibnorm bietet keine Erklärung fur das Auftreten von Variation, sondern definiert lediglich eine Voraussetzung hierfür. Da es keine Rechtschreibnorm gab, war es den Schreibern erlaubt, graphematisch zu variieren; dies erklärt jedoch nicht, warum sie davon in so starkem Maße Gebrauch machten, obwohl doch eine variantenarme Schreibung aus kommunikationstheoretischer Sicht (Ökonomie, Verständlichkeit) scheinbar viel näher gelegen hätte15.

1.2. Sprache und Schrift bei Hermann Paul Parallel zur Entstehung des junggrammatischen Ansatzes werden in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts die ersten Arbeiten publiziert, die sich aus einer linguistischen Perspektive mit dem Problem der Schrift und ihrem Verhältnis zum Gesprochenen beschäftigen. Neben Baudouin de Courtenay, auf den der linguistische Terminus „Graphem" zurückgeht16, und Georg von der Gabelentz, der aufgrund seiner Auffassung der geschriebenen und gesprochenen Sprache als zwei gleichberechtigten Sprachausprägungen als früher Vorläufer der Prager Schule angesehen worden ist17, gilt vor allem Hermann Paul mit seinem grundlegenden Kapitel über „Sprache und Schrift" in den erstmals 1880 erschienenen „Prinzipien der Sprachgeschichte" als Wegbereiter einer theoretisch ambitionierten Graphematik18. Pauls Ausführungen sind ambivalent, da sie sich einerseits in ihrer Kritik an der Inkonsequenz und Inadäquatheit der Schrift in den junggrammatischen Kontext einfügen, andererseits aber bereits Möglichkeiten andeuten, die „spelling barrier" (Russ 1986) zu durchbrechen und Rückschlüsse auf historische Lautverhältnisse zu ziehen. Pauls Grundthese, dass Schrift immer erst einer „rückumsetzung" ins Gesprochene bedürfe, die jedoch „nur in unvollkommener weise möglich" sei (1880: 245), wird vor allem durch fünf Annahmen gestützt: 1) Die Inadäquanz der lat. Alphabetschrift. Nach Paul (1880: 246) ist die lat. Alphabetschrift der Sprache „in keiner weise adäquat". Zum einen seien Alphabete aufgrund ihrer diskontinuierlichen Struktur prinzipiell nicht in der Lage, der Vielfalt der syntagmatisch wie paradigmatisch nicht klar abzugrenzenden Lautrealisierungen gerecht zu werden19. Zweitens verweist Paul (1880: 251) auf die beNerius (2000: 38) mit Bezug auf die nhd. Orthographie. > bezeichnet werden. „The text is not just orthographically variable, it represents a language-state that varies on morphological and phonological parameters as well" (ebd.: 68). „Once again, if we project back from present-day evidence of synchronic variation [...], we can take even printed texts like Caxton's (and

a fortiori

manuscripts) as 'utterances', treat the variation

there like any other familiar kind, and read it as evidence for a non-uniform language state" (ebd.: 68).

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Einleitung

Die These, dass es phonische Variationsspielräume in den historischen Sprechvarietäten gegeben hat und dass die graphematische Variation in erster Linie auf diese sprechsprachlichen Varianzen Bezug nimmt, impliziert nicht, dass es den Schreibern unmöglich gewesen wäre, von einem solchen Lautbezug zu abstrahieren. Bei variantenreichen Systemen muss es jedoch als die naheliegendste Möglichkeit gelten, dass die schreibsprachliche Varianz auf lautliche Variationsspielräume verweist.

2.3. Funktionalismus Geht man von der Arbeitshypothese aus, dass sich die Variabilität der historischen Schreibsprachen des 14. bis 16. Jahrhunderts in erster Linie aus deren Verhältnis zu den phonischen Gegebenheiten der gesprochenen Bezugsvarietät erklärt, dann schließt sich die Frage an, wie differenziert die anzunehmende Lautvariation überhaupt graphematisch wiederzugeben war und welche „constraints of spelling" (Milroy 1992: 194) hier zu berücksichtigen sind, die einer unmittelbaren Wiedergabe des Gesprochenen entgegenstanden. Hierbei sei zunächst an die mehrfach beschriebene Ausgangslage erinnert, die sich aus der Applikation des lat. Alphabets auf die regionalen Sprachvarietäten des Deutschen ergab. Das begrenzte Graphieninventar des lat. Alphabets reichte nicht annähernd aus, um die Vielfalt der Lautvarianten einer gesprochenen Regionalsprache wiederzugeben106. Aber auch mit der Kreation neuer Graphien durch Kombination lat. Basisgraphen miteinander (Digraphien) oder mit diakritischen Zeichen war dieses Problem noch nicht gelöst. Denn in jeder Region stand wiederum nur ein begrenztes Set an Graphien zur Verfügung, während die Verwendung anderer Graphien offenbar ausgeschlossen war, da sie eine zu spezifische regionale Markiertheit aufwiesen (Macha 1998). Für historische regionale Schreibsprachen kann demnach ebensowenig wie für moderne Orthographiesysteme von einer Isomorphic von Schreib- und Lautsystem ausgegangen werden. Da damals jedoch die Graphienwahl nicht normativ festgelegt war, stand jeder Schreiber anders als heute vor dem Problem, wie er die begrenzte Zahl der am Schreibort üblichen bzw. tolerierten Graphien auf das sehr viel größere Set an Lautvarianten der Bezugsvarietät projizieren sollte. Schreiben in der Volkssprache setzte unter diesen Bedingungen eine Vielzahl individueller Entscheidungen voraus, und eine zentrale Aufgabe der historischen Graphematik besteht darin, zu ermitteln, welche Freiheiten die Schreiber innerhalb des kanzleispezifischen Traditionsrahmens bei ihrer Entscheidungsfindung besaßen, ob es interindividuelle Übereinstimmungen in der Graphienwahl und Graphienzuordnung gab, die auf die Existenz einer

106

Grubmüller (1998: 301-303), Goossens (1997).

Methodologische Perspektiven der neueren Forschung

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lokalen Schreibtradition hindeuten könnten, und in welchen Systembereichen derartige graphematische Konstanten nachzuweisen sind. Für die Diskussion dieser Fragen könnte eine Anknüpfung an funktionalistische Beschreibungskategorien sinnvoll sein, wie sie im Kontext der Prager Schule und der Funktionalen Grammatik W. Admonis und W. Schmidts entwickelt wurden. Ähnlich wie sich morphologische oder syntaktische Strukturen mit Rückgriff auf ihre kommunikative Funktion innerhalb einer Sprechergemeinschaft deuten lassen, ließen sich auch die graphematischen Strukturmuster historischer Schreibsprachen in Hinblick auf ihren Beitrag zu einer reibungslosen, situationsadäquaten Kommunikation beschreiben. Eine ansatzweise funktionalistische Perspektive kommt in der bereits zitierten Überlegung von Fleischer (1969) zum Ausdruck, dass man „auch in bezug auf die variantenreichere Handhabung der Grapheme in frühneuhochdeutscher Zeit [...] nicht schlechthin von Willkür der Schreibung sprechen [könne], weil dies mit dem Phänomen Sprache als Verständigungsmittel gar nicht vereinbar wäre"107: D i e Variationen folgen bestimmten Gesetzen [...] und haben ihre klaren Grenzen dort, w o Oppositionen gefährdet werden könnten, die für den Kommunikationseffekt notwendig sind. (Fleischer 1965: 462)

Im Anschluss an diese These und an die Überlegungen zu den individuellen Spielräumen der Schreiber wäre zu prüfen, welche phonologischen Oppositionen von den Schreibern einer Kanzlei für so essenziell erachtet wurden, dass man sie durchgängig graphematisch gekennzeichnete, und welche graphematisch nivelliert werden konnten, ohne den „Kommunikationseffekt" zu gefährden. In diachronischer Perspektive wäre hierbei zu untersuchen, ob, wie von Fleischer vermutet, ein Optimierungsprozess im Sinne einer zunehmenden Verbesserung der Graphem-Phonem-Korrespondenzen durch Beseitigung dysfunktionaler Redundanzen stattgefunden hat. Bei der Einschätzung der kommunikativen Funktion graphematischer Strukturen und Variationsmuster ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Funktion der phonologischen Referenz durch verschiedene supraphonematische Schreibprinzipien überlagert werden kann (Morphemkonstantschreibung, Homonymendifferenzierung), und dass zum anderen aus historischen Schreibsprachen auch die Wiedergabe von Lautunterschieden ohne distinktive Funktion bekannt ist. Hiernach würde ein Beschreibungsmodell, das die graphematische Variation lediglich vor dem Hintergrund einer idealen Wiedergabe von Phonemoppositionen bewertet, zu kurz greifen. Zudem ist zu bedenken, dass auch eine ausgeprägte graphematische Variation, selbst wenn sie kommunikativ wichtige Phonemdifferenzen

107

Agricola/Fleischer/Protze (1969: Bd. 1, 229). Vgl. auch Skala (1997: 16): „Synchronische Untersuchungen [...] zeigen immer wieder, daß das System der Graphie mit allen Varianten den kommunikativen Effekt sicherstellte".

Einleitung

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verdeckt, das Textverständnis nicht unbedingt gefährdet, da eine semantische Desambiguierung graphematisch variabler Wortformen im Kontext erfolgt (Kohrt 1998: 555). Der Verdacht, schreibsprachliche Variation erzeuge Kommunikationsprobleme, dürfte somit zu einem guten Teil auf das moderne orthographische Normbewusstsein zurückgehen, das die Invariabilität der Schreibung als selbstverständliche Bedingung für eine funktionierende Schriftkommunikation ansieht. In einer Zeit, in der sich eine überregionale Rechtschreibnorm noch nicht herausgebildet hatte, wird die orthographische Toleranz jedoch deutlich höher gewesen und die Variabilität der Schreibsprachen als deren natürlicher Zustand akzeptiert worden sein. Hierauf hat z.B. Knoop (1987) hingewiesen: Von einem allgemeinen Standpunkt der Sprachenbetrachtung aus ist nämlich die variantenreiche Sprache, die nicht festgelegte Sprache, in dem ihr gemäßen Zustand: mit allen Möglichkeiten des Wandels und der Veränderung, auch der persönlichen Einflußnahme einzelner. Das oberste Prinzip dieses Verhältnisses zur Sprache war eine durchgängige Toleranz gegenüber anderen Sprechweisen und die Absicht, die alleinige und ungetrübte Absicht, den anderen verstehen zu wollen. Das ist nicht nur menschenfreundlich — das wäre zu wenig —, das war damals einfach notwendig. (Knoop 1987:

23)108 Der ab dem 17. Jahrhundert vermehrt zu konstatierende Abbau laut- und morphembezogener Variation wäre vor diesem Hintergrund nicht als Optimierungsprozess im Sinne einer zunehmenden Verbesserung der Graphem-PhonemKorrespondenzen zu beschreiben, sondern könnte vielmehr als Indiz für einen Wechsel in der Bewertung variabler Schreibsysteme gelten. Mit der Normierung der Orthographie ab der Mitte des 18. Jahrhunderts habe sich die Spracheinstellung schließlich in der Weise geändert, dass das Prinzip der „Verständlichkeit" durch das der „Sprachrichtigkeit" (im Sinne einer Normentsprechung) ersetzt worden sei: Ab etwa 1750, endgültig dann mit der Etablierung des Duden um 1900, kam es nicht nur darauf an, v e r s t ä n d l i c h zu sprechen und zu schreiben, nein, das Gesprochene/ Geschriebene mußte auch r i c h t i g sein. (Knoop 1987: 25)

Erst in dieser Zeit hat sich nach Knoop (1987: 12) der Grundsatz des „variatio non delectat" durchgesetzt, während in älteren Sprachstufen die Variabilität offensichtlich konstitutiv gewesen und nicht als Verständnishindernis empfunden worden sei. Ob und warum sich die graphematische Variation auf bestimmte Systembereiche konzentriert, in welchen Fällen sie mit phonischen Variationsmustern korrespondiert und welche Funktionen ihr über die Lautwiedergabe hinaus noch zukommen könnten, wäre im Rahmen einer funktionalistisch ausgerichteten historischen Graphematik zu diskutieren. Fragen dieser Art werden mit im Fokus der vorliegenden Untersuchung stehen. 108

Vgl. auch Reichmann (1990: 146, 153).

Methodologische Perspektiven der neueren Forschung

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2.4. Sprachkontaktforschung Für ein adäquates Verständnis der Wirkungsweise historischer Schreibsysteme ist neben der Berücksichtigung ihres Lautbezugs und ihrer kommunikativen Funktionen auch der Faktor 'Sprachkontakt' in Betracht zu ziehen, der auf mehrfache Weise wirksam werden kann. Wie zahlreiche Studien belegen, stehen die regionalen Varietäten der verschiedenen Schreiblandschaften von Beginn an miteinander in Kontakt. Aufgrund der Mobilität des Kanzleipersonals kommt es vor allem in größeren Kanzleien vielfach zu einer Konfrontation unterschiedlicher regionaler Schreibtraditionen, was zur Anreicherung der örtlichen Schreibsprache mit exogenen Graphien oder Graphie-Laut-Zuordnungsmustern oder auch zum Varietätenwechsel führen kann. Darüber hinaus kann es auch beim einheimischen Schreibpersonal zu einer Übernahme allochthoner Schreibungen kommen, wenn diese als Kennformen einer als sozial höherwertig eingestuften Varietät gelten. Dies gilt insbesondere dann, wenn diplomatische Gepflogenheiten es dem Schreiber nahe legen, seine Schreibweise an die des Adressaten anzupassen (Möller 1998). Im Rheinmaasraum, aus dem das Quellenmaterial der vorliegenden Studie stammt, ist im 14. bis 16. Jahrhundert vor allem von Sprachkontakten mit den benachbarten Schreiblandschaften Ripuarien, Brabant und Westfalen auszugehen; ab dem 16. Jahrhundert ist dann auch mit Einflüssen der nach Norden vordringenden frühneuhochdeutschen Ausgleichssprache zu rechnen. Da die Erforschung derartiger Sprachkontaktphänomene jedoch nicht im Zentrum der Untersuchving steht, wurde versucht, die potenziellen Interferenzen mit den genannten Varietäten möglichst gering zu halten. Daher wurden ausschließlich innerstädtische Quellen aus der Phase vor der Durchsetzung des Frühneuhochdeutschen am Niederrhein berücksichtigt. Dennoch sind aufgrund der unterschiedlichen Herkunft der Schreiber und der auch hier eintretenden Prestigewirkungen sprachkontaktbedingte Interferenzen im Graphemsystem nicht auszuschließen. Aus der Perspektive dieser Arbeit weitaus bedeutsamer als die Interferenzen zwischen den volkssprachlichen Regionalvarietäten und der späte Kontakt mit der frnhd. Ausgleichs spräche erscheint hingegen eine andere Form des Sprachkontakts, mit dem sich die historische Graphematik bisher nur wenig auseinandergesetzt hat, nämlich das Verhältnis der Regionalsprachen zum Lateinischen als der allen damaligen Berufsschreibern geläufigen lingua franca. Kontaktlinguistisch handelt es sich hierbei um ein Substrat-Superstrat-Verhältnis109, das sich teils in der Verwendung volkssprachlicher Wörter in lat. Kontexten, teils in der relikhaften Bewahrung lat. Wendungen in volkssprachlichen Texten oder auch im lat.-dt. code-switching manifestiert. Von größerem Interesse ist allerdings im vorliegen-

1(w

Munske (1982). Zur Anwendung des Superstrat-Begriffs auf das Lateinische vgl. insbesondere Munske (1982: 242f.).

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den Zusammenhang die Frage, welche Auswirkungen die lat. Sprachkompetenz der Schreiber auf deren Verständnis des volkssprachlichen Graphieninventars, d.h. auf die Graphie-Laut-Zuordnung im Bereich der Volkssprache gehabt haben könnte. Es wurde bereits darauf hingewiesen (A.l.3.2), dass die Beantwortung dieser Frage vor allem davon abhängt, bis zu welchem Zeitpunkt man in volkssprachlichen Verwendungskontexten von der Wirksamkeit der lat. Lautzuordnungsregeln, also der 'ursprünglichen', gewissermaßen 'unmarkierten'110 und 'nicht-metaphorischen' Lesart der lat. Buchstaben auszugehen hat. Ist also im 13. bis 16. Jahrhundert unabhängig vom (lat. oder volkssprachlichen) Verwendungskontext ein gleichbleibender Lautwert der lat. Graphien anzunehmen oder hat sich bereits eine „Umwertung" (Penzl 1982b) der Vokalzeichen, d.h. eine Veränderung der Lautzuordnungsregeln vollzogen, wie sie heute, stärker noch als im Neuhochdeutschen, fur die neuenglische Orthographie zu konstatieren ist, wo häufig nicht mehr [a], sondern [ae] oder [ei] repräsentiert {man, late), nicht mehr [ i ] oder [i:], sondern [ai] (find, f l y ) und nicht [u] oder [u:], sondern [Λ] (cut)} Für die Erörterung dieses Problems erscheint es sinnvoll, die Voraussetzungen, unter denen bis zur Frühen Neuzeit schriftlich kommuniziert wurde, kurz in Erinnerung zu rufen. Die Schriftlichkeit war bis Ende des 17. Jahrhunderts noch nicht das wichtigste Medium der öffentlichen Verständigung111. Schriftliche Kommunikation wurde noch fast ausschließlich von einer schmalen Schicht professioneller Schreiber betrieben. Diese hatten ihre schreib sprachliche Sozialisation im Bereich des Lateinischen erfahren und bedienten sich in der Kanzleipraxis auch weiterhin kontinuierlich der lat. neben der volkssprachlichen Schreibsprache. Die Volkssprachen standen somit während des gesamten betreffenden Zeitraums unter dem Einfluss des lat. Superstrats. Solange das Lateinische die zuerst erworbene und hauptsächlich verwendete Schreibsprache blieb, muss daher zumindest mit Einflüssen gerechnet werden, wie sie von einem Superstrat auf ein Substrat ausgehen. Das Modell einer einmalig (etwa in ahd. Zeit) vollzogenen Translation und einer selbständigen Fortentwicklung der Zeichenbedeutungen in den volkssprachlichen Schreibsystemen besitzt von daher wenig Wahrscheinlichkeit, denn zumindest wird eine kontinuierliche Korrespondenz zwischen lat. und volkssprachlichen Zuordnungsregeln bestanden haben. Es besteht aber auch durchaus die Möglichkeit, dass der gesamte Komplex der lat. Lautzuordnungsregeln dauerhaft in die volkssprachlichen Schreibsysteme endehnt wurde.

1,0

Lass (1997: 59): „'unmarked' (= Latinate) value".

111

Nach K n o o p (1994: 867) ist bis 1700 von einem „Primat der Verlautlichung" auszugehen, der eine „durchgängige Beherrschung von Schreiben und Lesen" beim Großteil der Bevölkerung erübrigt habe. „Dieses Verhältnis zu Lesen und Schreiben veränderte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts grundlegend" (ebd.). „Die geschriebene Sprache erhält einen anderen Stellenwert und wird zur beherrschenden Sprachform", und es kommt zur „Entbindung aus der multimedialen Geselligkeit, vor allem aus der Verlautbarung der Schriftlichkeit" (ebd.: 868).

Methodologische Perspektiven der neueren Forschung

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Grundsätzlich ist diese Hypothese bereits bei Paul (1880) umrissen, wenn er den Einfluss des mittellat. Lautzuordnungssystems auf einen ahd. Schreiber am Beispiel eines modernen Schreibers veranschaulicht, der vor der Aufgabe steht, seinen Heimatdialekt zu verschriftlichen: E r w i r d eine w i r k l i c h e lösung d e r aufgabe immer dadurch umgehen, dass er sich in ungehöriger weise v o n der ihm geläufigen Orthographie d e r Schriftsprache beeinflussen lässt. (Paul 1880: 2 5 5 )

Wie sich ein heutiger Mundartschreiber bei der Verschriftlichung der gehörten Laute spontan an den Regeln der ihm geläufigen nhd. Orthographie orientiert, so konnte sich ein mittelalterlicher Schreiber an den klar festgelegten Lautzuordnungsregeln der lat. Schreibsprache orientieren. Allerdings geht Paul offenbar bereits für die mhd. Zeit davon aus, dass sich die Schreiber von diesem lat. Superstrat emanzipiert hatten. Jedenfalls nimmt er an, dass in dieser Epoche die Buchstaben in den verschiedenen Dialekten jeweils fest mit einer spezifischen volkssprachlichen Lautbedeutung verbunden gewesen seien, die selbständig neben der lat. stand (A.1.2). Obwohl Paul keine Begründung für diese vollständige Loslösung der (volkssprachlichen) Zweitschreibfähigkeit von der (lat.) Erstschreibfähigkeit gibt, ist ihm die spätere Forschung darin weitgehend gefolgt. Da es jedoch auf der Basis dieser Annahme der Existenz zweier voneinander unabhängiger Regelsysteme der Graphie-Laut-Zuordnung bis heute nicht gelungen ist, die mit dem Variantenreichtum und der scheinbaren Irregularität der spätmittelalterlichen Schreibsprachen verbundenen Probleme befriedigend zu lösen, soll im Folgenden die konträre These in Erwägung gezogen werden, nach der solange, wie das Lateinschreiben für professionelle Schreiber den Ausgangspunkt und die Grundlage ihrer schreibsprachlichen Kompetenzen bildete, zumindest Korrespondenzen zwischen den beiden Lautzuordnungssystemen bestanden. Dabei wird zur leichteren Überprüfbarkeit des Gültigkeitsbereichs dieser Hypothese zunächst von ihrer stärksten Fassung ausgegangen, nach der alle im Mittellateinischen üblichen Graphien beim volkssprachlichen Schreiben im Wesentlichen ihren primären lautlichen Geltungsbereich beibehielten und keine feste Verbindung mit einem davon abweichenden volkssprachlichen Lautwert bestand112. Der vorliegenden Untersuchung wird also die Arbeitshypothese zugrunde gelegt, dass bis zum Ende des 17. Jahrhunderts noch keine grundlegende Umwertung der lat. (Vokal-)Graphien bzw. der aus diesen kombinierten Graphienfolgen stattgefunden habe. Demzufolge ist z.B. eine vokalische Digraphie wie zunächst grundsätzlich als Wiedergabe einer entsprechenden Lautfolge (und nicht eines Langmonophthongs) zu werten,

112

Vgl. auch Penzl (1984: 40): „Während der mhd. und frühnhd. Periode konnten fast alle, die auf deutsch schrieben, gleichzeitig auch lateinisch schreiben, also bleiben wie im Ahd. die Lautwerte der lateinischen Buchstaben der Ausgangspunkt für die Wiedergabe der deutschen".

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wobei zunächst offen bleiben muss, ob es sich hierbei um einen Diphthong, einen Vokal mit 'nachschlagendem' Schwa oder einen zweigipfligen, akzentuierten Vokal gehandelt hat. Nur in den Fällen, in denen eine derartige Interpretation im Zusammenhang des gesamten Graphemsystems Widersprüche hervorruft, ist zu überlegen, inwieweit sich bereits eine metaphorische Graphiendeutung durchgesetzt haben könnte. Den sicherlich anzunehmenden landschaftlichen Differenzen in der Aussprache der lat. Buchstaben wird im Rahmen dieses Erklärungsmodells lediglich der Status sprachlicher Färbungen zugestanden, die keine stärkeren Abweichungen vom ursprünglichen Lautwert beinhalten, ähnlich wie die heutige Aussprache des Standardhochdeutschen je nach Sprecherherkunft einen regionalen 'Akzent' aufweist (König 1989), ohne dass hierdurch die Grundbedeutung der nhd. Schriftzeichen entscheidend modifiziert würde. Die Konsequenzen dieser These lassen sich am besten durch einen Vergleich mit den Voraussetzungen für das Verständnis moderner, nicht-variabler Orthographiesysteme verdeutlichen. Texte in moderner Orthographie können nur korrekt lautiert werden, wenn der Leser die spezifischen Lautzuordnungsregeln der Einzelsprache erlernt hat und dementsprechend weiß, dass beispielsweise der lat. Buchstabe im deutschen Lehnwort Kultur als [u] bzw. [u:], im französischen culture dagegen als [ y ] bzw. [y:] und im englischen culture als [Λ] bzw. [a] realisiert werden muss. Dagegen konnten die verschiedenen im deutschsprachigen Raum verwendeten regionalen Schreibvarietäten nach der obigen Annahme spontan lautiert werden, da dies lediglich die Kenntnis der allen professionellen Schreibern/Lesern bekannten lat. Lautzuordnungsregeln voraussetzte. Die starke Variation stellt in diesem Falle kein Kommunikationshindernis dar, denn da es weder eine normierte Aussprache noch eine verbindliche Rechtschreibung gab, besaß der damalige Leser noch nicht die Erwartungshaltung, dass jeder Laut nur durch eine bestimmte Graphie oder Graphienkombination bezeichnet sei, und wird dementsprechend das Schwanken in der Schreibung eines Wortes nicht als Mangel an Konsequenz empfunden haben, sondern vielmehr als Reflex der phonischen Variationsspielräume, die er selbst in seinem Sprechen ausnutzte. Dementsprechend konnten volks sprachliche Lautwerte, für deren Bezeichnung im mittellat. Bezugssystem mehrere Graphien in Frage kamen (etwa oder zur Kennzeichnung eines offenen /-Lautes), variierend gekennzeichnet werden, ohne dass es zu Missverständnissen kam. Für das kontrovers diskutierte Problem der Interpretation der volkssprachlichen Digraphien hat die These einer dauerhaften Orientierung an den lat. Lautzuordnungsregeln zur Konsequenz, dass für den Zeitraum bis zur Aufgabe der primär phonographischen Schreibweise von einer linearen Lesart nach lat. Muster auszugehen ist. Dies hat den Vorteil, dass nicht erklärt werden muss, wie sich vor der Durchsetzung der Morphemkonstanz vom unmittelbaren Lautwert der Segmente losgelöste, metaphorische Graphienbedeutungen hätten festigen können. Denn wenn etwa die Graphie im nhd. Orthographiesystem die von der

Zielsetzung, Methodik, Korpus und Aufbau der Untersuchung

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ursprünglichen Lesart der lat. Buchstabensegmente weit entfernte Gesamtbedeutung [OY] erlangt hat, dann war dies nur unter der Voraussetzung möglich, dass sich in bestimmten Wörtern als invariable Schreibung durchgesetzt hatte. Nur dann hätte sich eine Lautzuordnungsregel festigen können, gemäß der die Graphie genau den in dieser Gruppe von Wörtern vorkommenden Diphthong repräsentierte, was zugleich eine sporadische Verwendung von als Schreibvariante für andere Laute ausschloss. Dagegen lässt sich ein Nebeneinander der acht Graphien , , , , , , und , die alle von demselben Schreiber zur Wiedergabe des Stammvokals in dem Wort vören 'führen' gebraucht werden, nicht unter Bezugnahme auf konventionelle Lautzuordnungsregeln interpretieren, sondern nur phonographisch, indem die verschiedenen Schreibvarianten als Annäherungen an den hier auszudrückenden Lautwert oder als Reflex der in der Aussprache dieses Vokals gegebenen Variationsmöglichkeiten gedeutet werden. Dies aber bedeutet, dass eine metaphorische Lesart der neuen Digraphien solange auszuschließen ist, wie die morphembezogene Graphienvariation in dem angedeuteten Umfang bestehen bleibt. Die Hypothese einer dauerhaften Orientierung an den lat. Lautzuordnungsregeln könnte somit einen Schlüssel für das Verständnis der bis heute nicht befriedigend gedeuteten Variabilität der historischen Schreibsprachen ebenso wie für die umstrittene Interpretation der volkssprachlichen Digraphien bieten. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit soll am Beispiel handschriftlicher Texte des 14. bis 17. Jahrhunderts aus der Ratskanzlei der rhml. Stadt Duisburg versucht werden, die Tragweite dieser Hypothese an einem konkreten Beispiel auszuloten.

3. Zielsetzung, Methodik, Korpus und Aufbau der Untersuchung 3.1. Das Duisburger Projekt „Niederrheinische Sprachgeschichte" Die vorliegende Untersuchung ist aus einem DFG-Forschungsprojekt unter der Leitung von Arend Mihm hervorgegangen, das von 1994 bis 1999 an der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg durchgeführt wurde. Die Hauptziele des Projekts mit dem Titel „Niederrheinische Sprachgeschichte. Diachronische Untersuchungen zur historischen Schreibsprache am Niederrhein (1375-1650)" bestanden darin, am Beispiel von Duisburger Quellenmaterial den strukturellen Wandel einer niederrheinischen Schreibsprache vom 14. bis 17. Jahrhundert nachzuvollziehen, Interpretationsansätze fur die beobachteten Sprachveränderungen zu entwickeln und eine generalisierbare Methode zur graphematischen Beschreibung von Sprachwandlungsprozessen zu erarbeiten. Zum Projektprogramm gehörte darüber hinaus auch die Erarbeitung einer wissenschaftlichen Textedition der aufgearbei-

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Einleitung

teten handschriftlichen Rechtsüberlieferung sowie eines vollständigen Glossars der in diesen Quellen enthaltenen Lexeme mit Angabe sämtlicher Wortformen113. Diese zunächst noch allgemein gehaltene Zielsetzung des Projekts hat vor dem Hintergrund der sukzessive gewonnenen Erkenntnisse verschiedentliche Spezifizierungen und Abänderungen erfahren. So wurde die ursprüngliche Annahme, dass sich aus der schreibsprachlichen Entwicklung Rückschlüsse auf die lokale Dialektentwicklung ziehen lassen (wie noch in Elmentaler 1993 vertreten), insofern modifiziert, als nicht mehr der Basisdialekt, sondern eine oberschichtige, vom Basisdialekt distanzierte Sprechsprache als Bezugsvarietät der historischen Verwaltungsschreibsprache angenommen wird (A.3.4.1). Die anfängliche Erwartung eines linearen Verlaufs der lokalen Schreibsprachentwicklung ließ sich nicht bestätigen, vielmehr bestimmen Diskontinuitäten das Bild, so dass eine grundsätzliche Revision des Verhältnisses von graphematischer Variation und Schreibsprachwandel notwendig wurde. Für die präzise Erfassung der graphematischen Strukturen und ihrer Veränderungen erwiesen sich schließlich eine Reihe von methodologischen Differenzierungen als notwendig. Bei den im Rahmen des Projekts bereits publizierten Aufsätzen handelt es sich einerseits um eigene Vorstudien, die auf einer selektiven Auswertung des zugrunde liegenden Quellenmaterials beruhen. Zwei Arbeiten, deren Ergebnisse für die vorliegende Untersuchung von unmittelbarer Relevanz sind, beschäftigen sich mit dem Problem der phonischen Interpretierbarkeit historischer Schreibsprachen auf der Grundlage von Texten der Duisburger Stadtschreiber Everhardus (Elmentaler 1999) und Weimann (Elmentaler 1998a), eine weitere Studie mit der Koexistenz von Graphemsystemen am Beispiel der ebenfalls im Projekt berücksichtigten Schreiber Ludger der Ältere und Ludger der Jüngere (Elmentaler 2000a). Erste Skizzen der diachronischen Entwicklung auf der Basis des Gesamtkorpus114 und vorläufige Interpretationskategorien wurden in Elmentaler (1998b, 2000b, 2001a) und Mihm (2000a) entwickelt. Im Rahmen dieser Studien wurde das im Projekt erarbeitete Verfahren der graphematischen Analyse in seinen Grundzügen charakterisiert (Elmentaler 1998b: 20-23, Mihm 2001a: 567-570). Neben diesen im engeren Sinne projektbezogenen Arbeiten sind im Umfeld des Duisburger Forschungsvorhabens eine Reihe von weiteren Publikationen entstanden, die entweder die Projektquellen unter anderen Gesichtspunkten behandeln oder die graphematischen Methoden des Projektes auf andere Zeitstufen und Sprachregionen anwenden. Zur ersten Gruppe gehören einige historische und textpragmatische Untersuchungen zur Entstehung und Funktion der städti113

Eine Publikation der Textedition und des Glossars ist vorgesehen. Mit der 1990 erschienenen Edition des ältesten Duisburger Stadtrechts (Mihm/Elmentaler 1990) und den 1994 von Margret Mihm herausgegebenen Duisburger Notgerichtsprotokollen des 16. Jahrhunderts liegen zwei der im Projekt verwendeten Textzeugnisse bereits im Druck vor.

114

Das ursprüngliche Projektkorpus wurde allerdings für die vorliegende Untersuchung erheblich erweitert, dazu A.3.4.3.

Zielsetzung, Methodik, Korpus und Aufbau der Untersuchung

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sehen Rechtsüberlieferungen (Mihm 1999a, 1999b) und der Textsorte Gerichtsprotokoll (Mihm 1995a, 1995b). Zur zweiten Gruppe sind Arbeiten zu rechnen, die sich mit der Entwicklung der Kölner Schreibsprache im 12. Jahrhundert (Mihm 1999d), der Entstehung der Schreibsprachen des 10. bis 13. Jahrhunderts im Nordwesten (Mihm 2001a), mit den Differenzen städtischer Urkundensprachen des Rheinmaaslandes und des westlichen Westfalen im 13. Jahrhundert (Weber 2003) oder der Wiedergabe prosodischer Differenzierungen in einem Kölner Text des 15. Jahrhunderts (Mihm 2002) beschäftigen. Schließlich ist auf ein im Herbst 1999 begonnenes Anschlussprojekt zu verweisen, das sich mit den frnhd. und nnl. Überschichtungsprozessen im 16. und 17. Jahrhundert befasst, die später zur Herausbildung der deutsch-niederländischen Standardsprachgrenze gefuhrt haben. Hier sind neben einem Bericht über erste Teilergebnisse (Mihm et al. 2000) bislang fünf Aufsätze erschienen, von denen der erste eine allgemeine Skizze der rhml. Sprachentwicklung zwischen 1500 und 1650 beinhaltet (Mihm 2000b), während sich die übrigen mit der Rolle der oberschichtlichen Mehrsprachigkeit in diesem Prozess (Mihm 2001c) und der Funktion der damals in den rhml. Kanzleien für einige Jahrzehnte verwendeten Ausgleichssprachen beschäftigen (Mihm 1999c, 2001b, 2003).

3.2. Arbeitshypothesen und Ziele Ausgehend von den forschungskritischen Ausführungen in A.l und A.2 werden der im Folgenden durchgeführten graphematischen Untersuchung sechs Arbeitshypothesen zugrunde gelegt, deren Tragfähigkeit und Geltungsbereich durch schreiberspezifische Analysen überprüft werden soll: 1) Funktionalität historischer Schreibsysteme. Bei den historischen Schreibsystemen hat es sich zu ihrer Zeit um voll funktionsfähige Kommunikationssysteme gehandelt, so dass die Annahme, dass sie fehlerhaft, regellos, redundant und der Schreiberwillkür unterworfen seien, nicht berechtigt ist. 2) Phonographische Ausrichtung der Schreibsysteme. Das auffälligste Charakteristikum der meisten vormodernen Schreibsysteme, ihre starke graphematische Variabilität, erklärt sich dadurch, dass tendenziell phonographisch geschrieben wurde. Trotz der in einzelnen Kanzleien beobachteten Herausbildung lokaler Schreibtraditionen wird die graphematische Heterogenität und Variabilität der Systeme in dem betreffenden Zeitraum nicht grundsätzlich aufgehoben und geht auch im 16. Jahrhundert noch nicht entscheidend zurück. Es tritt keine Konventionalisierung in dem Maße ein, wie es das Bild von der „dichten Decke" der Schreibsprache suggeriert; vielmehr bleiben die Schreibsysteme dauerhaft transparent für die Strukturen des korrespondierenden Lautsystems. Der entscheidende Schritt für den Übergang von der phonographischen zu einer tendenziell mor-

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Einleitung

phologischen Schreibweise erfolgte erst mit der Durchsetzung der graphematischen Invariabilität der Morpheme. 3) Lautreferenzielle Funktion der graphematischen Variation. Die graphematische Variation ist nicht beliebig, sondern gehorcht größtenteils Regeln, die sich durch quantitativ präzise Distributionsanalysen erschließen lassen. Einerseits ist von der Existenz kombinatorischer Variation auszugehen, anhand derer sich das Vorhandensein kontextspezifischer Allophonie beweisen lässt. Andererseits kann eine Häufung freier (kontextunabhängiger) Graphienvarianten über das Vorhandensein variationsintensiver Bereiche des lautlichen Referenzsystems Aufschluss geben oder auf Lautqualitäten hinweisen, die durch keines der lat. Zeichen adäquat abgedeckt werden. 4) Dauerhafte Wirksamkeit der lat. Lautzuordnungsregeln. Da das Lateinische bis ins 17. Jahrhundert hinein als schreibsprachliches Superstrat fungierte, wird angenommen, dass sich die Schreiber auch beim Verfassen volkssprachlicher Texte an den lat. Lautzuordnungsmustern orientierten. Dementsprechend wird bis zum Beweis des Gegenteils zunächst davon ausgegangen, dass die volkssprachlichen Digraphien in den Schreibsprachen des 14. bis 16. Jahrhunderts nach dem Vorbild der lat. Digraphien lautiert wurden, also sequenziell, als Wiedergaben diphthongähnlicher Lautwerte zu lesen sind und noch keine metaphorische Bedeutung als Längenzeichen gewonnen hatten. 5) Variable Distanz zwischen Schreibsystem und Lautsystem115. Da historische Schreibsprachen teilweise nur in abstrakter Weise auf phonische oder phonologische Distinktionen Bezug nehmen, teils aber auch kontextabhängige Ausspracheunterschiede wiedergeben, kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Schreiber eine Wiedergabe von „Phonemen" intendierten. Da Schreibsysteme in der Regel von native speakers genutzt werden, die die Lautunterschiede der Sprache bereits kennen, hatten fehlende Kennzeichnungen von Phonemoppositionen oder allophonische 'Überdifferenzierungen' in der Regel auch keine Verständnisschwierigkeiten zur Folge, und schreibsprachliche Ambiguitäten lösten sich im Kontext zumeist auf116. Dementsprechend wird kein Phonemsystem, sondern ein lauthistorisch definiertes Referenzsystem als Bezugsgröße der graphematischen Analyse eingesetzt (A.3.3.2). 6) Diskontinuität des Schreibsprachwandels. Der Schreibsprachwandel vor dem Einsetzen des „Morphologisierungsprozesses", der dann zur Herausbildung

1,5 116

Fleischer (1966: 98), Mihm (2001a: 569). Lass (1997: 52). Als extremes Beispiel führt Lass die zypriotische Silbenschrift an, die keine Kennzeichnung der Vokallänge, keine Unterscheidung von stimmlosen, stimmhaften und aspirierten Plosiven, keine Nasahviedergabe und keine Möglichkeit zur Bezeichnung von Konsonantenclustern vorsieht (ebd.: 51 f.). „For something like four or five centuries, then, certain varieties of Greek used a script which had no way of indicating two-thirds of their stops or half their vowels. Surely if this were seriously 'dysfunctional', it would not have survived so long" (ebd.: 52). Verstanden wurde dieses Schreibsystem trotz der 'defektiven' Lautwiedergabe.

Zielsetzung, Methodik, Korpus und Aufbau der Untersuchung

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des modernen Orthographiesystems führt, verläuft nicht gleichmäßig und linear, sondern diskontinuierlich und mit wechselnden sprachlichen Orientierungen. Die Schreibsprachen unterliegen keinem fortwährenden Optimierungsprozess, sondern werden unter Bezugnahme auf das lokale lautliche Referenzsystem und mit Rücksicht auf den vorangehenden Schreibusus von jedem neuen Schreiber individuell gestaltet, so dass vielfach eher von diachronischer Variation als von diachronischer Entwicklung gesprochen werden kann.

3.3. Methodik 3.3.1. Verfahrensansätze der historischen Schreibsprachanalyse Zu methodologischen Fragen der historischen Graphematik gibt es mitderweile eine Reihe von Forschungsbeiträgen, die sich - zumeist als Grundlegung empirischer Untersuchungen — mit den Möglichkeiten der Beschreibung und Interpretation historischer Schreibsprachen beschäftigen117. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit kann es nicht darum gehen, die Vielzahl der dort vertretenen, häufig sich widersprechenden Definitionen, Kategorisierungen und Auswertungsverfahren im Einzelnen zu besprechen; vielmehr gilt es die für die Zielsetzung dieser Untersuchung relevanten Verfahrensansätze auszuwählen und den spezifischen Fragestellungen der Arbeit anzupassen. Hierfür bietet es sich an, eine der in der Forschungsliteratur der letzten Jahre mehrfach vorgelegten Zusammenstellungen der gängigen Methoden zur Analyse historischer Schreibsprachen als Ausgangspunkt zu nehmen, wie etwa den neuerdings von Simmler (2000b: 1321 f.) in seinem Handbuchartikel über die „Phonetik und Phonologie, Graphetik und Graphemik des Mittelhochdeutschen" erneut abgedruckten Methodenkatalog, der aufgrund seines Umfangs und Bekanntheitsgrades118 hierfür besonders geeignet erscheint. Simmler führt 14 verschiedene „Analysemethoden" auf, die er auf zwei Gruppen aufteilt. Zur ersten Gruppe der „primären" Methoden rechnet er a) die „philologische Textanalyse", b) die „Minimalpaarbildung", c) die „Distributionsanalyse unter Einschluß von Frequenzangaben", d) den „kontrastive [n] Sprachvergleich zu zeitgleichen, vorausgehenden und folgenden Überlieferungen". Die zweite Gruppe der „sekundären Methoden" bietet eine heterogene Aufzählung von Verfahrensansätzen, die u.a. mit theoretischen Konzepten der strukturellen

» 7 Fleischer (1966: 5-18), Philipp (1969), Marwedel (1973: 52-78), Singer (1984a, 1984b), Glaser (1985: 23-48, 1988), Koller (1985), Ernst (1996), Meisenburg (1996: 1-32), Wiesinger (1996: 1-6, 18-23, 52-58), Kohrt (1998), Simmler (2000a, 2000b), Wolf (2000). ns D e m Methodenkatalog kann ein relativer hoher Bekanntheitsgrad zugeschrieben werden, da er nicht nur in zwei Artikeln Simmlers im Sprachgeschichte-Handbuch enthalten ist (2000a: 1156, 2000b: 1321 f.), sondern auch bereits mehrfach in älteren Arbeiten des Autors in ähnlicher Form publiziert wurde (1976: 10-16,1979: 424-433, 1981: 90f., 97-100).

54

Einleitung

Phonologie, „Kommunikationstheorie"119, Soziolinguistik und kontrastiven Linguistik in Zusammenhang stehen120: e) Untersuchung „universelle [r] Tendenzen der Symmetrie und Ökonomie von Systemen", f) „Vergleiche zu Standardsprache, Einzeldialekten und Sprachinseldialekten", g) „Wirtschaftlichkeit der Metasprache" (?), h) Untersuchung „soziologische[r] und pragmatische[r] Aspekte im Hinblick auf Schreiber und Textverwendungsformen", i) Untersuchung der „Reimverhältnisse", j) Untersuchungen zu Entlehnungsprozessen („Lehnlexeme"), k) Untersuchung von „Orthographietraditionen mit Möglichkeiten wechselseitiger Beeinflussung", 1) Untersuchung hyperkorrekter Schreibungen und m) „graphischer Direktanzeigen", n) Auswertung metasprachlicher Zeugnisse von Grammatikern seit dem 16. Jahrhundert. Zu Simmlers Methodenkatalog sei zunächst bemerkt, dass er in verschiedenerlei Hinsicht Inkonsistenzen aufweist und den Status der vorgeschlagenen Methoden letztlich nicht präzise expliziert. Zum einen stehen hier Untersuchungsverfahren im engeren Sinne wie „Minimalpaaranalyse" oder „Distributionsanalyse" neben eher interpretativen Kategorien, etwa wenn von der Ermittlung von „Orthographietraditionen" oder „Tendenzen der Symmetrie von Systemen" gesprochen wird. Zur Vermeidung von Missverständnissen erscheint es zweckmäßiger, diese beiden Schritte der Datenanalyse und der Dateninterpretation streng auseinanderzuhalten und zu berücksichtigen, dass z.B. das (in dieser Hinsicht neutrale) Verfahren der Distributionsanalyse je nach Zielsetzung, Theorierahmen und Materiallage sowohl zum Nachweis orthographischer Traditionen als auch zur Rekonstruktion phonologischer Reihenschritte oder auch zu ganz anderen Zwecken eingesetzt werden könnte. Problematisch erscheint andererseits auch, dass Simmler keine Beziehung zwischen den vorgeschlagenen Untersuchungsmethoden und -kategorien und den möglichen Zielsetzungen historisch-graphematischer Untersuchungen herstellt, so dass eine „Methodenhierarchisierung", wie er sie mit seiner Einteilung in „primär" und „sekundär" im Auge hat, gar nicht möglich ist. Wer z.B. lexikalische Einflüsse des Französischen auf eine regionale Schreibsprache beschreiben will, wird sich u.U. völlig auf das „sekundäre" Verfahren der Untersuchung von „Lehnlexemen" (j) beschränken können, ohne auf die als „primär" bezeichneten Methoden zurückgreifen zu müssen. Andererseits aber wäre auch zu diskutieren, ob Untersuchungen, die auf die Rekonstruktion „phonisch-phonemischer" Strukturen abzielen (wie die von Simmler 1979, 1981), wirklich auf eine Berücksichtigung von „Orthographietraditionen" (k) verzichten können, und ob nicht Vergleiche zu rezenten Dialekten (f) oder Überlegungen zu "» Simmler (2000a: 1156). 120

Irritierend ist allerdings, dass Simmler als „sekundäre Methoden" in der Regel nicht die Verfahren selber benennt (wie bei den primären Methoden „ T e x t a n a l y s e " , „Sprachvergleich"),

„Distributionsanalyse",

sondern deren Objektbereiche (z.B. „orthographische Zeugnisse von

Grammatikern" statt etwa „ A n a l y s e des metasprachlichen Diskurses ...", „universelleTendenzen der Symmetrie ..." statt „schreibsprachliche R e k o n s t r u k t i o n von Tendenzen ..." usw.).

Zielsetzung, Methodik, Korpus und Aufbau der Untersuchung

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möglichen Harmonisierungstendenzen im System (e) hierbei wichtiger wären als etwa die Anwendung des „primären" Verfahrens der Minimalpaaranalyse (b). Auch Simmlers Auffassung, dass die primären Methoden immer in Kombination angewendet werden sollten (2000a: 1156, 2000b: 1322), die hier nicht weiter begründet wird, lässt sich nicht ohne weiteres nachvollziehen. So wird nicht expliziert, inwiefern der „kontrastive Sprachvergleich" (d) für graphematische Analysen generell konstitutiv sein soll (viele Arbeiten sind bewusst auf eine einzige Sprachstufe bezogen, ohne derartige Vergleiche zu ziehen). Prinzipieller Klärungsbedarf besteht schließlich auch in der Frage, welche der jeweils einer Gruppe zugeordneten Methoden prinzipiell zu gleichen Ergebnissen fuhren und damit als Verfahrensalternativen zu verstehen wären und welche jeweils andere Teilerkenntnisse ermöglichen, so dass u.U. eine Kombination mehrerer Verfahrenstechniken sinnvoll oder notwendig wäre. Trotz dieser kritischen Einschränkungen bietet Simmlers Katalog eine geeignete Ausgangsbasis, um sich in einem ersten Schritt Klarheit über die methodologischen Anforderungsprofile und Interpretationshorizonte historisch-graphematischer Studien zu verschaffen und eine grobe methodologische Einordnung und Charakterisierung der vorliegenden Untersuchung zu leisten. Von vorn herein auszuschließen ist bereits aufgrund des Untersuchungsmaterials (Verwaltungsschriftlichkeit) das Verfahren der Reimanalyse (i), auf deren Vor- und Nachteile daher auch nicht weiter eingegangen werden muss. Von marginaler Bedeutung ist im vorliegenden Kontext zudem die Analyse metasprachlicher Zeugnisse (n), da eine kontinuierliche Tradition der Rechtschreiblehren (sieht man von den wenigen orthographischen Regeln in den bereits 1478 erschienenen Translationen des Niklas von Wyle und im Braunschweiger Tytel boek von 1508 ab) in Deutschland erst in den zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts einsetzt (Müller 1882, Götz 1992), so dass allenfalls für die Endphase des hier angesetzten Untersuchungszeitraumes (1377-1657) von einer möglichen Relevanz dieser Schriften auf den örtlichen Sprachgebrauch ausgegangen werden könnte121. Allerdings ließ sich ein nennenswerter Einfluss dieser inhaltlich stark voneinander abweichenden und auch in sich häufig widersprüchlichen Orthographieanweisungen auf die Schreibpraxis des 16. und 17. Jahrhunderts bisher noch nicht nachweisen122. Eher als 121

Chronologisch wären hiervon nur die letzten drei Textkorpora der Schreiber Godert (um 1540), Weimann (1561) und Mercator (1657) betroffen.

122

Der Einfluss der Grammatiker auf die Schreibsprachentwicklung wird in der gegenwärtigen Forschung im Allgemeinen als eher gering eingeschätzt. So stellt Kaempfert (1980: 73f.) mit Bezug auf die Groß- und Kleinschreibung fest: „Was die frühen deutschen Grammatiken angeht, so kommen sie nur als ergänzende Informationsquellen in Betracht: sie halten mit der Entwicklung nicht Schritt, ignorieren sie zum Teil oder stellen konservative Regeln auf' (vgl. auch Schmidt-Wilpert 1985: 1560). Zum gleichen Ergebnis kommt auch die Studie von Bergmann/Nerius (1998). Vgl. auch v. Polenz (1994: 136f.): „Im allgemeinen haben die Grammatiker [...] den in sozial einflußreichen, gebildeten Kreisen und Institutionen üblichen Sprachgebrauch nur nachträglich kodifiziert ..." (ebenso 168).

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Voraussetzung für schreib sprachliche Analysen denn als graphema tische „Analysemethode" ist die „philologische Textanalyse" (a) anzusehen, sofern darunter Fragen der Korpusbildung und Textaufbereitung verstanden werden. Allerdings hängt die Entscheidung etwa über den Abstraktionsgrad der Transkriptionen, was z.B. die Wiedergabe diakritischer Zeichen oder die Berücksichtigung der Majuskel-Minuskel-Differenz betrifft, unmittelbar mit dem gewählten Untersuchungsziel und damit auch mit den verwendeten Untersuchungsmethoden zusammen. Die unter (d) genannte Methode des „kontrastiven Sprachvergleichs", worunter Simmler den Vergleich einer gegebenen Schreibsprache mit früheren, zeitgleichen oder späteren Schreibsprachen versteht, ist charakteristisch für mehrere Forschungsrichtungen mit ganz unterschiedlichen Zielsetzungen. Kontrastive Vergleiche mit „zeitgleichen" Schreibsprachen zielen auf die Ermittlung diastolischer, diatopischer oder durch andere 'externe' Faktoren bedingter Variationsmuster innerhalb einer Sprachstufe ab und können somit als Beiträge zu einer historischen Varietätenlinguistik betrachtet werden. In diesen Kontext wäre auch die Erforschung „soziologische[r] und pragmatische[r] Aspekte im Hinblick auf Schreiber und Textverwendungsformen" (h) zu stellen. Bei der Kontrastierung mit „vorausgehenden" und „folgenden" Schreibsprachen steht dagegen weniger die Frage nach der Auffächerung eines schreibsprachlichen „Diasystems" in unterschiedliche Varietäten im Vordergrund als die Untersuchung der Entwicklungsdynamik einer isolierten Varietät, wobei in den entsprechenden diachronischen Untersuchungen aus Gründen der größeren Überlieferungsdichte meist Quellen der obersten Sprachschicht Berücksichtigung finden123, teils aber auch Texte, von denen angenommen wird, dass sie eine 'tiefere' Schicht repräsentieren124. In Hinblick auf die Zielsetzung dieser Arbeiten lässt sich hierbei eine deutliche Differenz erkennen zwischen primär teleologisch ausgerichteten Untersuchungskonzepten, denen es darum geht, die allmähliche Herausbildung der nhd. Schreibsprachregeln empirisch nachzuvollziehen, und nicht-teleologischen Ansätzen mit regionalem oder lokalem Bezug, die die Rekonstruktion autochthoner Sprachwandelprozesse vor dem Einsetzen der überregionalen Standardisierungsprozesse bzw. unabhängig davon untersuchen. Grundsätzlich sind hierbei Arbeiten, die bereits in sich diachronisch angelegt sind und einen längeren Untersuchungszeitraum abdecken, aufgrund ihrer methodologischen und korpusbezogenen Homogenität solchen Arbeiten vorzuziehen, die lediglich eine Sprachstufe beschreiben und diese mit den (häufig schlecht vergleichbaren) Ergebnissen anderer Studien über Schreibsprachen älterer oder nachfolgender Sprachstufen kontrastieren. Die vorliegende Untersuchung ist durch die Konstanthaltung der Faktoren Schreibschicht (oberschichtige Verwaltungsschriftlichkeit), Schreiberstatus »» Moser (1977), Glaser (1985), Bürgisser (1988), Ludwig (1989), Ernst (1994). 124 Yg] schreibsprachlichen Untersuchungen auf der Basis von Urbaren, etwa den Historischen Südivesldeutsihen Sprachatlas von Kleiber/Kunze/Löffler (1979), Besch (1965b), Steffens (1988), Ramseyer (1990).

Zielsetzung, Methodik, Korpus und Aufbau der Untersuchung

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(Stadtsekretäre) und Schreibort (Duisburg) und die Variation des Faktors Zeit (14.-17. Jahrhundert) gekennzeichnet (A.3.4.2) und damit einem kontrastivdiachronischen Analyseansatz verpflichtet, wobei die Möglichkeit der diachronischen Kontrastierung bereits mit der knapp vier Jahrhunderte umspannenden Quellenauswahl gegeben ist und somit nicht erst sekundär durch Vergleiche mit anderen Untersuchungen hergestellt werden muss. Da es sich bei der rhml. Varietät um eine Ende des 16. Jahrhunderts aufgegebene Schreibsprache handelt, deren Wandel nicht als Entwicklung hin zur nhd. Schriftsprache beschrieben werden kann, kann die Ausrichtung der Arbeit zugleich als 'nicht-teleologisch' charakterisiert werden; vielmehr gilt es eigene Kategorien zur Erfassung der binnenregionalen Sprachveränderungen zu entwickeln. Auch hinsichtlich der unter (f) genannten, ebenfalls auf einen Varietätenvergleich abzielenden Analysemethoden ist zunächst eine klärende Differenzierung notwendig. Die hier genannte Kontrastierung einer historischen Schreibsprache mit der „Standardsprache" kann - wenn nicht nur die Ansetzung des nhd. Phonemsystems als abstrakte Bezugsvarietät für die graphematische Analyse gemeint ist125 - nur im Sinne der eben erörterten teleologischen Verfahren zur Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte des Neuhochdeutschen verstanden werden. Anders verhält es sich dagegen mit dem Verfahren der Kontrastierung mit rezenten Dialekten, dem weniger orthographiegeschichtliche als historischdialektologische Erkenntnisinteressen zugrunde liegen. Ein solcher Vergleich kann nach der oben erläuterten These von der Mehrschichtigkeit historischer wie rezenter Sprachen hier nur indirekt bzw. hypothetisch durchgeführt werden, da wegen der angenommenen Referenz der historischen Verwaltungstexte auf die gehobene Sprechvarietät des städtischen Patriziats keine direkte Entwicklungskontinuität zu den rezenten Dialekten angesetzt werden kann126. Auf die Punkte (e) und (k), die unter diachronischer Perspektive auf grundsätzliche Interpretationskategorien für Schreibsprachwandel verweisen, nämlich die Deutung schreibsprachlicher Veränderungen als Konsequenz der Interferenz oder des wechselnden Einflusses unterschiedlicher Orthographietraditionen (k) und die Rekonstruktion von Schreibsprachwandel in Abhängigkeit von oder in Analogie zu phonologischen Wandlungsprozessen (e), wird im Rahmen der in C.l angestellten Überlegungen zur Interpretation diachronischer Schreibsprachbefunde eingegangen. Einzugehen ist an dieser Stelle noch auf die historisch-graphematischen Verfahrensweisen im engeren Sinne, wozu einerseits die eher traditionellen, nicht systembezogenen Verfahren der Analyse von Hyperkorrektionen 0) und von „Direktanzeigen" (m) zählen, andererseits die strukturalistischen Verfahren der Minimalpaarbildung (b) und der quantitativ gestützten Distributionsanalyse (c). 125

Dies wird aber in der historisch-graphematischen Forschung kaum praktiziert, vielmehr werden der Analyse in der Regel historische Lautsysteme des Westgermanischen, Alt- oder Mittelhochdeutschen als Referenzsysteme zugrunde gelegt. Mihm (2001b: 344/Anm. 59), Selig (2001: 62/Anm. 14).

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Einleitung

(1) Zur Analyse von Direktanzeigen und Hyperkorreküonen. Das Verfahren der Analyse von sogenannten 'Direktanzeigen' basiert auf der Vorstellung, die historischen Schreibsysteme überlagerten aufgrund ihrer Konventionalität, ihrer Orientierung an externen Vorbildern oder ihres Konservativismus die Mündlichkeit wie eine „dichte Decke", so dass die wesentlichen Merkmale der damals gesprochenen Sprache notwendig verborgen blieben (A. 1.3.1). Um wenigstens ansatzweise „Reflexe gesprochener Sprache" zu eruieren, sei es erforderlich, nach vereinzelten Schreibmerkmalen zu suchen, die gegen den Willen der Schreiber in die Schreibsprache Eingang fanden („Entgleisungen nach der gesprochenen Sprache hin", Lasch 1925: 67) und als direkte „Spiegelungen" oder „Abbildungen" (Fischer 2000) dialektaler Aussprachen (Direktanzeigen) oder als indirekte Hinweise auf derartige Lautwerte (Hyperkorreküonen) angesehen werden. Die entscheidende methodologische Beschränkung dieses Verfahrens besteht darin, dass es keine Einblicke in die graphematische Struktur der untersuchten Schreibsysteme gewährt und damit auch keine Rückschlüsse auf mögliche Lautdistinktionen der historischen Mündlichkeit erlaubt. Hierdurch lassen die Zusammenstellungen isolierter Belege für Direktanzeigen oder Hyperkorreküonen, wie sie in den Arbeiten von Bischoff (1981), Besch (1965a) und anderen zu finden sind, letztlich keine zuverlässige Ausdeutung der auftretenden Graphien zu. Wenn z.B. ein Schreiber die Schreibung geilt 'Geld' anstatt gelt verwendet, dann lässt sich über die lautreferenzielle Funktion von (Diphthong? Längenzeichen? offene oder geschlossene Lautqualität? usw.) nur dann eine begründete Hypothese aufstellen, wenn der sonstige Gebrauch dieser Graphie und deren Abgrenzung zu 'verwandten' Schreibungen wie , oder innerhalb des betreffenden Schreibsystems bekannt ist. Zum Verständnis der Funktionsweise historischer Schreibsprachen kann die Direktanzeigen- und Hyperkorrektionenanalyse als ein belegisolierendes Verfahren kaum etwas beitragen, da die historischen Graphemsysteme nicht als funktionierende Kommunikationssysteme wahrgenommen, sondern vielmehr als autonome, von der gesprochenen Sprache längst abgekoppelte Elaborate des Kanzleibetriebs aufgefasst werden. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit erübrigt sich die Annahme von „Direktanzeigen" bereits aus methodologischen Gründen, denn da für jedes Schreibsystem die Auftretenshäufigkeit aller Graphien exakt ermittelt wird, entfällt die grobe Zweiteilung in Direktanzeigen und Regelschreibungen. (2) Zum Verfahren der Minimalpaaranalyse. Mit dem Wert der Minimalpaaranalyse und der Distributionsanalyse als Verfahrensweisen der Schreibsprachforschung hat sich zuletzt Kohrt (1998) in seinem Beitrag zur Theorie der historischen Graphematik in der zweiten Auflage des Handbuchs „Sprachgeschichte" kritisch auseinandergesetzt. Kohrt (1998: 554) weist zunächst auf den Widerspruch hin, der darin liege, dass das strukturalistische Konzept der semantischen Distinktivität minimaler Ausdruckseinheiten „in der historischen Graphematik bis heute fraglos akzeptiert" worden sei, dass jedoch „die methodologische Folge-

Zielsetzung, Methodik, Korpus und Aufbau der Untersuchung

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rung aus einer solchen Konzeption", nämlich, „daß die Technik der Minimalpaaranalyse bei der Untersuchung historischer Schriftzeugnisse gezielt zur Aufdeckung distinktiver und somit graphematisch relevanter Oppositionen eingesetzt würde", kaum umgesetzt worden sei127: Für g e w ö h n l i c h wird die Distinktivität graphematischer E i n h e i t e n eher s u p p o n i e r t d e n n wirklich n a c h g e w i e s e n , und v o n e i n e m systematischen Einsatz der Minimalpaaranalyse als E n t d e c k u n g s p r o z e d u r bei der U n t e r s u c h u n g historischer Schriftzeugnisse

kann

k a u m d i e R e d e sein. ( K o h r t 1998: 554)

Nach Kohrt hängt dies nicht nur damit zusammen, dass für eine vollständige Ermittlung der für eine strukturelle Graphemanalyse erforderlichen Minimalpaare ein sehr großes Untersuchungskorpus zugrunde gelegt werden muss128, sondern vor allem mit der ausgeprägten Variabilität der historischen Schreibsprachen, der „stark und unregelmäßig eingeschränkte[n] Distinktivität der graphischen Symbole, die wiederum aus einer hohen Zahl freier Varianten resultiert" (Börner 1976: 22, zit. nach Kohrt 1998: 554). Das unlösbare Problem liegt darin, dass ein Minimalpaartest nur dann durchgeführt werden kann, wenn die Möglichkeit besteht, dass der Austausch einer Graphie eine Bedeutungsänderung hervorrufen könnte. Auf Schreibsprachen, in denen die überwiegende Zahl der Lexeme keine Schreibungskonstanz aufweisen, lässt sich dieses Verfahren somit nicht sinnvoll anwenden. Kohrt (1998: 554f.) sieht hierin allerdings keinen entscheidenden Nachteil, da „die Bedeutung des Distinktivätskonzepts" ohnehin „notorisch überschätzt" werde: In Einzelfallen m ö g e n minimale p h o n i s c h e o d e r graphische D i f f e r e n z e n w e s e n t l i c h e k o m m u n i k a t i v e U n t e r s c h i e d e a u s m a c h e n u n d Mißverständnisse auslösen k ö n n e n ; i m N o r m a l f a l l aber wird s c h o n der K o n t e x t für das richtige Verständnis sorgen. ( K o h r t 1998: 555)

Demnach würden etwa auch variierende Schreibungen eines Lexems wie täten lassen' innerhalb eines Textes {laten/laeten/laiten) aufgrund der normalerweise

127 128

Vgl. aber z.B. Sjölin (1970), Larsen (2001). Die Problematik des Einsatzes der Minimalpaaranalyse in der historischen Graphematik wird am Beispiel der Untersuchung von Larsen (2001) zum Schreibsystem einer Genter Urkunde von 1236 erneut deutlich. Larsen gelangt bei dem Versuch, für seinen Text eine vollständige graphematische Minimalpaaranalyse durchzuführen, zu dem Ergebnis, dass dies trotz eines nicht geringen Textumfangs von 4215 Wörtern nicht möglich sei. Von den 45 Minimalpaaren, die für den Nachweis der 15 hypothetisch angesetzten Vokalgrapheme erforderlich wären, lassen sich im Text nur 28 auffinden (Larsen 2001: 119), von den 105 erforderlichen Minimalpaaren im Konsonantismus nur 53 (ebd.: 133), so dass es in zahlreichen Fällen unmöglich ist, den Graphemstatus bestimmter Graphien „waarschijnlijk te maken" (ebd.: 152). Larsens Entscheidung, im Falle des Fehlens von Minimalpaaren auf „quasi-minimale" (ebd.: 85) bzw. „semi-minimale" Paare (ebd.: 117, 152) wie (etwa beim Nachweis des Graphems < b > ) brode/grole, biers/iär, bin/fejnd oder binnen/pintn zurückzugreifen, muss als methodologisch bedenklich gelten.

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Einleitung

vorhandenen Einbettung dieses Wortes in einen syntaktischen Kontext keine Verständnisprobleme aufwerfen 129 . Wir schließen uns im Folgenden Kohrts Schlussfolgerung an, dass nicht die Minimalpaaranalyse, sondern die Distributionsanalyse das wichtigste Verfahren der historischen Graphematik darstelle (Kohrt 1998: 555) und verzichten daher im Rahmen dieser Arbeit gänzlich auf die Aufstellung von Minimalpaaren. (3) Distributionsanalyse. Die Distributionsanalyse, also „die Untersuchung des Auftretens gewisser sprachlicher Einheiten in bestimmten Kontexten mit oder ohne funktionellen Wert" (Kohrt 1998: 555), findet in den meisten neueren graphematischen Arbeiten mit mehr oder weniger großer Konsequenz Anwendung. Kohrt (ebd.) weist hierbei darauf hin, dass die Kontexte, für die das Vorhandensein spezifischer Graphienverwendungen überprüft werden soll, sinnvollerweise bereits vor Beginn der Analyse zu definieren seien, um zu interpretierbaren Ergebnissen zu gelangen: Distributionsanalysen können überhaupt nur dann einen Sinn haben, wenn die potentiell funktional relevanten graphischen Einheiten bereits im Vorhinein identifiziert sind und wenn zudem der Bereich der möglicherweise relevanten Kontexte (graphematisch, lexikalisch, morphologisch usw.) wenigstens einigermaßen klar eingegrenzt ist. (Kohrt

1998: 555) Die potenzielle Relevanz derartiger Kontexte lässt sich aufgrund der bereits vorliegenden, in Einzelstudien zusammengetragenen und in historischen Grammatiken dokumentierten Erkenntnisse über die historischen Sprachverhältnisse der Region, aber auch durch den Vergleich mit dem Lautsystem der rezenten Dialekte, in der Regel ungefähr einschätzen. Für die vorliegende Arbeit sind hiernach v.a. die Silbenstellung, die Stellung der Velarvokale vor Umlautfaktor und bestimmte Folgekonsonanzen als potenziell untersuchungsrelevante Kontexte anzusehen. Darüber hinaus muss auch die Bindung von Graphien an einzelne Lexeme oder Morpheme Berücksichtigung finden.

3.3.2. Methodologische Grundlagen der vorliegenden Untersuchung Bei der Diskussion graphematischer Verfahrensweisen am Beispiel des Simmlerschen Methodenkataloges wurde deutlich, dass nur der kleinere Teil der dort genannten Verfahren für die Fragestellung der vorliegenden Untersuchung relevant sein kann. Am Anfang steht die philologische Textanalyse, mit der bereits kleinere Vorentscheidungen hinsichtlich der linguistischen Auswertbarkeit der Texte getroffen werden130. Den Kern des Untersuchungsverfahrens bildet die 129

Ebenso Lass (1997: 51 f.).

130

Da eine graphetische Analyse, d.h. ein Vergleich der verschiedenen graphischen Realisierungen der verwendeten Buchstaben, nicht intendiert war, wurden bereits bei der Transkription entsprechen-

Zielsetzung, Methodik, Korpus und Aufbau der Untersuchung

61

Distributionsanalyse, bei der ermittelt wird, in welchen Morphemen und Umgebungen eine Graphie innerhalb eines Schreibsystems verwendet werden kann und wie häufig sie dort auftritt. Da die durch das Untersuchungskorpus abgedeckte Zeitspanne von drei Jahrhunderten in der Regel eine ausreichende Basis für die diachronische Schreibsprachanalyse bietet, werden Vergleiche mit der älteren Schreibtradition der Region nur sporadisch gezogen, um ggf. die Vorgeschichte einzelner Erscheinungen zu beobachten. Auch ein Bezug auf die rezenten Dialektverhältnisse wird nur in Hinblick auf die mögliche lautliche Interpretation auffälliger graphematischer Verteilungsmuster hergestellt, wobei neben der diachronischen auch die diastratische Distanz zwischen den rezenten Dialekten und den spätmittelalterlichen Sprechsprache der Oberschicht zu berücksichtigen ist. Ausgehend von dieser allgemeinen methodologischen Einordnung soll das sowohl strukturalistisch als auch variationslinguistisch orientierte Methodenprofil dieser Arbeit im Folgenden anhand von fünf charakteristischen Aspekten umrissen werden: 1) Systembezug, 2) Schreiberseparierung, 3) Quantifizierung, 4) Verwendung eines lauthistorischen Referenzsystems, 5) drei Ebenen der graphematischen Analyse. Die einzelnen Verfahrensschritte der graphematischen Teilanalysen werden in Teil Β der Arbeit im Rahmen der synchronen Untersuchung eines Duisburger Schreibsystems aus der Zeit um 1400 sukzessive erläutert. 1) Systembezug. Eine lückenlose Beschreibung des graphematischen Systems (bzw. des vokalischen oder konsonantischen Teilsystems) in seiner Gesamtheit muss als Voraussetzung für eine funktionale Interpretation historischer Schreibsprachen gelten (A.2.1). Mithilfe einer auf einzelne Morpheme oder Lautpositionen beschränkten Auswertung, wie es das Verfahren der Variablenanalyse vorsieht, kann zwar die regionale und diachronische Verteilung bestimmter Graphien erfasst werden, nicht aber deren spezifische Funktion innerhalb der jeweiligen Schreibsysteme. Dementsprechend beschränkt sich die hier durchgeführte Untersuchung nicht auf die Überprüfung einzelner Variablen; vielmehr wird für den Bereich des haupttonigen Vokalismus eine exhaustive Systemanalyse durchgeführt. 2) Schreiberseparierung. Unter einem „Schreibsystem" soll ausschließlich das von einem einzelnen Schreiber gebrauchte System von Graphien und Zuordnungsregeln verstanden werden131. Als Bezeichnung für die Gesamtheit aller in der lokalen Kanzlei verwendeten Schreibsysteme wird dagegen der Ausdruck „Schreibsprache" verwendet. Grapheme (= Zuordnungen von Graphien zu Lautpositionen) und graphematische Oppositionen werden immer nur in Bezug auf idioskriptale Systeme, nicht für die Schreibsprache insgesamt bestimmt. Das idiode Vereinheitlichungen vorgenommen. Da auch eine Untersuchung der Interpunktionsregeln nicht geplant war, wurde in den Transkripten eine moderne, sinngliedernde Zeichensetzung eingeführt. 131

Die Ausdrücke „Schreibsystem", „Graphemsystem", „idioskriptales System" usw. werden im Folgenden (wenn nicht anders vermerkt) stets in Bezug auf den hier untersuchten Teilbereich des Haupttonvokalismus verwendet.

Einleitung

62

skriptale System wird als Stichprobe für den oberschichtlichen lokalen Schreibusus verstanden. Auch die Ergebnisdarstellung folgt dem Prinzip der Schreiberseparierung, d.h. die schreiberspezifischen Systeme werden jeweils für sich vollständig erfasst. 3) Quantifizierung. Eine präzise Quantifizierung der Graphiendistribution wird als eine weitere Vorbedingung für eine funktionale Deutung historischer Schreibsprachen betrachtet. Denn zum einen sind Graphienvarianten in historischen Schreibsystemen meist nicht vollständig komplementär verteilt, sondern treten vielmehr meist in komplizierten Mischungsverhältnissen auf, die es präzise zu bestimmen gilt, um strukturelle Verteilungsmuster sichtbar machen zu können, und andererseits bemisst sich auch die Wichtigkeit der einzelnen Graphien innerhalb eines Schreibsystems nicht zuletzt durch deren Auftretenshäufigkeit. Um quantitative Verzerrungen im Zusammenhang mit der unterschiedlichen Textfrequenz einzelner Lexeme zu vermeiden, ist es sinnvoll und mittlerweile in vielen Untersuchungen üblich, zwischen der Häufigkeit der Belege für eine Graphie (tokens, z.B. 20mal in tyi) und der Häufigkeit, mit der eine Graphie für unterschiedliche Morpheme einer Lautposition verwendet wird (types, z.B. fünfmal in tyt, syn, myn, w y f , prys) zu unterscheiden. Da beide Berechnungsweisen jeweils nur ein einseitiges Bild von den tatsächlichen Gegebenheiten vermitteln, erscheint es darüber hinaus sinnvoll, Belege und Morpheme in einer type-tokenRelation aufeinander zu beziehen. Im Rahmen des Duisburger Projekts wird hier von ,Morphemtypanteilen' der Graphienvarianten gesprochen. Der Terminus 'Morphem' wird hier dem des 'Lexems' vorgezogen, da bei der graphematischen Untersuchung Lexeme mit gleichem Stamm wie warnen/warninge oder kirke/kirspel jeweils zusammengefasst wurden. Als Morphemtypen werden Subklassen eines Morphems definiert, die sich in ihrem historischen Lautbezug unterscheiden132. Bei der Berechnung von Morphemtypanteilen wird die Variantenfrequenz auf die Gesamtbelegzahl eines Morphemtyps bezogen133. 4) Verwendung eines lauthistorischen Referenzsystems. Für eine Rekonstruktion der Regularitäten der untersuchten Systeme ist die Bezugnahme auf ein lautliches Referenzsystem erforderlich. Da das der damaligen Schreibsprache korrespondierende Lautsystem unbekannt ist, wird hier ein lauthistorisch definiertes Referenzsystem auf der Basis des wgerm. Vokalismus (mit einigen Modifikationen) angesetzt, das als Hilfskonstruktion für die graphematische Analyse dient. 132

So werden die dem Morphem WERD- zuzuordnenden Formen werden 'werden' (wgerm. e), ιvirt 'wird' (wgerm. /), wart 'wurde' (wgerm. ä), worden 'geworden' (wgerm. o) und worden 'wurden' (wgerm. ü) als fünf unterschiedliche Moiphemtypen behandelt, vgl. Elmentaler (1999: 93f./Anm.

133

Wenn etwa ein Schreiber den Morphemtyp 'wird' in den drei Schreibungen wirl (lOmal), uyrt (6mal) und wiert (4mal) verwendet, dann entsprechen in diesem Falle 20 Belege (B) einem Morphemtyp (MT), so dass sich für die einzelnen Vokalgraphien folgende Morphemtypanteile ergeben: : 10 Β = 0,5 MT, : 6 Β = 0,3 MT, : 4 Β = 0,2 MT. Vgl. Mihm (2002: 241f./Anm. 17).

26).

Zielsetzung, Methodik, Korpus und Aufbau der Untersuchung

63

Dies impliziert weder die Behauptung, dass alle angesetzten Einheiten des Referenzsystems Phonemstatus besäßen, noch soll damit ausgeschlossen werden, dass es Lautdistinktionen in der spätmittelalterlichen Sprechsprache gegeben haben könnte, für die es keine Entsprechung im Referenzsystem gibt. 5) Drei Ebenen der graphematischen Analyse. Um die Funktionsweise der historischen Schreibsprachen nachvollziehen zu können, ist es notwendig, bei der graphematischen Untersuchung mindestens drei Ebenen analytisch voneinander zu trennen und die Strukturen und Veränderungen auf diesen Ebenen gesondert zu beschreiben: a) Die Ebene der Graphien, d.h. der Einheiten auf der graphematischen Ausdrucksseite. Hier wird untersucht, welche Graphien ein Schreiber verwendet (Graphieninventare), wie häufig er sie gebraucht, ob er bestimmte Graphentypen favorisiert usw. b) Die Ebene der Graphemklassen. Mithilfe eines neuartigen Verfahrens zur Messung graphematischer Distanzen werden alle durch graphematische Oppositionen voneinander abgegrenzten Systemeinheiten (Graphemklassen) ermittelt. Hierdurch lässt sich bestimmen, wie genau ein Schreiber die anzunehmenden phonischen Distinktionen in den verschiedenen Bereichen des Lautsystems wiedergibt und wie stark er hierbei von der Lautwirklichkeit abstrahiert, c) Die Ebene der Graphemvarianten. Durch quantitative Analysen wird ermittelt, in welchen Bereichen sich eine systematische Verteilung von graphematischen Varianten auf bestimmte Umgebungen feststellen lässt (kontextabhängige Variation). Andererseits werden diejenigen Systembereiche bestimmt, auf die sich die freie Variation konzentriert. Für die kontextabhängigen Variationsmuster und die freien Graphienalternanzen wird geprüft, inwieweit ihnen eine phonische Realität zukommen könnte. Die diachronische Kontrastierung der schreiberspezifischen Graphemsysteme erfolgt auf allen drei genannten Untersuchungsebenen (Graphien, Graphemklassen, Graphemvarianten), wobei aussagekräftige Ergebnisse in Verlaufsgrafiken veranschaulicht werden. Auf eine Überprüfung der Wiedergabe von Kontraktions- und Assimilationserscheinungen wird verzichtet, da diese Belege für die Aufhebung der Wortsegmentierung von Anfang an nicht sehr zahlreich sind und Veränderungen in diesem Bereich deshalb von geringer Aussagekraft für die Entwicklung der lokalen Schreibsprache wären.

3.4. Begründung und Vorstellung des Untersuchungskorpus 3.4.1. Zur sprachlichen Charakteristik des Ortspunktes Duisburg Die graphematischen Analysen der vorliegenden Arbeit werden am Beispiel der schreib sprachlichen Entwicklung in der niederrheinischen Stadt Duisburg durchgeführt, wobei jedoch weder eine umfassende Rekonstruktion des städtischen Varietätenraums noch eine Verortung der Stadt innerhalb der rheinmaasländi-

64

Einleitung

sehen (rhml.) Sprachlandschaft intendiert ist, sondern in exemplarischer Weise nach der Funktionalität historischer Schreib systeme und den Modalitäten schreibsprachlicher Veränderungen gefragt werden soll. Die Erkenntnisse der neueren Historischen Stadtsprachenforschung über die Komplexität der Sprech- und schreibsprachlichen Verhältnisse im Spätmittelalter und deren Verflechtung mit den sozialen und pragmatischen Bedingungen der Epoche 134 bilden somit zwar die Grundlage für die diastratische und diasituative Einordnung der hier ausgewählten Schreibvarietät und der ihr zuzuordnenden oberschichtigen Sprechsprache, doch wird im Rahmen der Arbeit bewusst keine Rekonstruktion des stadtsprachlichen Varietätengefiiges angestrebt, da dies eine kontrollierte Überprüfung der schreibsprachlichen Varianzen und Entwicklungsprozesse ausgeschlossen hätte. Auch die Einordnung der Duisburger Schreibsprache in die rhml. Sprachlandschaft stellt kein primäres Untersuchungsziel dar, vielmehr wird ihre Zuordenbarkeit zu einer südwestlichen Variante des Rheinmaasländischen bereits vorausgesetzt. Aufgrund der methodologisch bedingten Konzentration auf einen kleinen Ausschnitt der schreibsprachlichen Überlieferung, die in A.3.4.2 genauer begründet wird, erscheint es daher sinnvoll, den dialektologischen und stadtsprachhistorischen Kontext, in den die hier untersuchte Schreibvarietät zu stellen ist, vorab auf der Basis vorliegender Forschungen summarisch zu skizzieren. Der untere Niederrhein, an dessen Südrand die Stadt Duisburg sich befindet, wird im Rahmen dieser Arbeit in Anlehnung an Mihm (1992) nach dialektologischen Kriterien als Teil einer umfassenderen, die heutige dt.-nl. bzw. dt.-belg. Staatsgrenze überschreitenden Sprachlandschaft angesehen, die als „Rheinmaasland" bezeichnet wird135. Für die Dialekte und Schreibsprachen dieser Region wird dementsprechend der von Mihm (1992: 104) eingeführte Terminus „Rheinmaasländisch" verwendet. Die schreibsprachliche Überlieferung in diesem Raum geht mit dem Wachtendonckscben Psalter, den Vrudentiusglossen und einigen kleineren Sprachzeugnissen bereits auf das 9./10. Jahrhundert zurück und findet ihre Fortsetzung in den literarischen Quellen des 12. bis 14. Jahrhunderts (Trierer F/oyris, Aiol, Tristan, Minnebestiarium)136. Ab Ende des 13. Jahrhunderts ist vor allem im südwestlichen Teil des Rheinmaasgebietes (in der heutigen belg. Provinz Limburg) eine allmähliche Ausbreitung volkssprachlicher Verwaltungstexte zu beobachten137. Von einer Durchsetzung des Rheinmaasländischen als Schreibsprache

134

135

136 137

Vgl. den programmatischen Artikel von Maas/Mattheier (1987), die Bibliographie (Blume 1997) und die beiden Tagungsbände des 'Arbeitskreises für Historische Stadtsprachenforschung' (BisterBroosen 1999, Elmentaler 2000c) sowie den Forschungsüberblick in Fischer (1998: 7-24). Eickmans (1998: 39) schlägt für denselben Sprachraum die territoriale Bezeichnung „Limburg/ Niederrhein" vor. de Smet (1979), Coun (1988), Tervooren (1989), Goossens (1998: 41-44). Elmentaler (2000b: 82f.).

Zielsetzung, Methodik, Korpus und Aufbau der Untersuchung

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der höfischen und städtischen Verwaltungen kann jedoch nicht vor der Mitte des 14. Jahrhunderts gesprochen werden138. Während die ältere Dialektologie und Schreibsprachforschung das „Limburgische" einerseits und das „Kleverländische" und „Südniederfränkische"139 andererseits als jeweils eigenständige Sprachregionen behandelte, wies Mihm (1992) darauf hin, dass es sich um ein dialektologisch kohärentes Gebiet handle, das aufgrund seiner hinreichenden Abgrenzbarkeit gegenüber dem Westfälischen, Ripuarischen und Brabantischen und der weitgehenden strukturellen Übereinstimmungen der in diesem Raum verwandten Dialekte und historischen Schreibsprachen als „Sprachregion" zu betrachten sei140. Duisburg liegt im nordöstlichen Sektor des Rheinmaaslandes, d.h. in der später frnhd. überschichteten Osthälfte und nördlich der Uerdinger Linie. Die hier verwendete Verwaltungsschreibsprache lässt sich klar abgrenzen etwa von der Urkundensprache der wfäl. Stadt Essen141 und weist große Übereinstimmungen mit den übrigen rhml. Schreibsprachen auf, die bisher graphematisch untersucht worden sind, wenngleich sich auch hier einzelne differenzierende Merkmale ermitteln lassen, die auf eine Binnendifferenzierung der rhml. Sprachregion hindeuten142. Am deutlichsten ausgeprägt sind die Unterschiede zu den Schreibsprachen der südlich der Uerdinger Linie gelegenen Städte, da diese bereits im späten 14. Jahrhundert eine rip. Schreibweise übernahmen 143 , so dass sich die alte (nur an wenigen Merkmalen festzumachende) Binnengrenze zwischen nord- und südrhml. Schreibvarietäten zu einer Außengrenze zwischen rhml. und rip. Schreibsprachen wandelte144, doch zeigen sich auch kleinere schreibsprachliche Unterschiede etwa zum westrhml. Venlo145 oder zu den Schreibsprachen des südlimburgischen Raumes. Solche binnenregionalen Schreibsprachdifferenzen finden im Rahmen der vorliegenden Arbeit allerdings nur dort Berücksichtigung, wo sie für das Auftreten sprachlicher Varianten relevant sein könnten. Im 16. und 17. Jahrhundert setzen im Rheinmaasland sprachliche Überschichtungsvorgänge ein, die eine Spaltung der Sprachregion in eine Westhälfte (unter

Elmentaler (2000b: 83-85). Zur Problematik dieser und anderer Termini der älteren Forschung vgl. Elmentaler (2000b: 79f./Anm. 2). 140 Vgl. zur dialektologischen Abgrenzung Mihm (1992: 90-92), zur schreibsprachhistorischen Abgrenzung Elmentaler (2000b: 78-80). '•» Weber (2003). 142 Eine genauere Erforschung der Binnengliederung der rhml. Schreibsprachlandschaft steht noch aus. Einen ersten Ansatz hierzu bietet Elmentaler (2000b: 85-88). 139

143

Vgl· z u r Entwicklung in Ratingen den Beitrag von Salewski in Mihm et al. (2000: 125-134), zu Düsseldorf: Elmentaler (2001b: 130-135), zu Heinsberg: Gillessen (1994), zu Sittard: Otten (1977). Eine Skizze des räumlich-2eitlichen Überschichtungsverlaufs bietet Mihm (2000b: 148-151). 144 Eickmans (1998: 39), Elmentaler (2000b: 87f.). '·« van der Meer (1949), Weber (2003).

66

Einleitung

nnl. Spracheinfluss) und eine Osthälfte (unter frnhd. Einfluss) zur Folge haben 146 . Die Untersuchung dieser Überschichtungsprozesse ist nicht zentraler Gegenstand dieser Arbeit, die sich auf die Modalitäten der autochthonen Schreibsprachentwicklung konzentriert. Daher wurde bei der Korpuszusammenstellung darauf geachtet, dass mit zwei Ausnahmen147 nur Quellen des Zeitraums vor der rhml.frnhd. Übergangsperiode ausgewählt wurden, die in Duisburg in die Amtszeit der Schreiber Cornelius (1543-1551) und Weimann (1551-1598) fällt. Über die Struktur des füir das frühneuzeitliche Duisburg anzunehmenden Sprech- und schreibsprachlichen Varietätenspektrums liegen mit den jüngsten Studien von Mihm (1995b, 1999c, 2001b, 2003) erstmals systematische Erkenntnisse vor 148 . Hiernach hat man für Duisburg wie für andere Städte dieser Zeit 149 von einer mehrfachen Sprachschichtung auszugehen. Im Bereich des Gesprochenen ist als älteste Schicht der rhml. Basisdialekt lokaler Prägung anzusetzen, der für die einfache Bevölkerung der Stadt und des Umlandes bis über das 17. Jahrhundert hinaus das einzige Kommunikationsmittel dargestellt haben dürfte150. Dagegen ist für die mittleren und gehobenen Bevölkerungsschichten von einer volkssprachlichen Diglossie in der Weise auszugehen, dass ihnen neben dem Basisdialekt eine supradialektale Sprechvarietät für formelle Kommunikationssituationen (möglicherweise auch darüber hinaus) zur Verfugung stand, durch die sie sich in ihrer Redeweise gegenüber dem einfachen Volk abgrenzen konnten. In der schreibsprachhistorischen Forschung sind derartige Oberschichtvarietäten häufig als „nicht-mundartliche Sprechsprache" 151 , „Herrensprache" 152 , „oberschichtige Sprachform" 153 , „Umgangssprache der schreibkundigen Städter" 154 , „gehobene gesprochene Ausgleichssprache" 155 , „gesprochene Verkehrs-, Um™ Goossens (1984), Eickmans (1998), Mihm et al. (2000), Mihm (2000b). Die ursprüngliche Spracheinheit dieses Gebietes lässt sich nur noch auf der Ebene der alten Dialekte erkennen, die sich ihrerseits unter dem Druck der überdachenden Standardsprachen zunehmend auseinanderentwickeln. 147

E s handelt sich um die Teilkorpora 9 und 10. Zur Begründung der Heranziehung dieser Texte vgl. die Ausführungen im Anschluss an Abb. 1.

148

Vgl. jedoch Mihm (1994) zu den methodologischen Schwierigkeiten, die sich einer umfassenden Rekonstruktion des Varietätenspektrums entgegenstellen.

149

Heinrichs (1961, 1967), Fleischer (1962: 404f.), Schmitt (1966: 237f., 408-414 u.ö.), Kettmann (1968), Marwedel (1970: 71-73, 1973: Bd. 1, 80, 306, 319-325), Besch (1972), Bentzinger (1973: 195f.), Rudolf (1973), Sonderegger (1979: 20-23), Mattheier (1980: 148-150), Wolf (1981: 173-178), Hoffmann (1983), Eggers (1985: 1303), Hoffmann/Mattheier (1985), Peters (2000b: 1486).

150

Mihm (2001b: 357). Unterschiede zwischen dem 'Basisdialekt' der Städter und der Landbevölkerung sind hierbei nicht auszuschließen, lassen sich jedoch aus nahe liegenden Gründen nicht nachweisen.

151

Marwedel (1973: 80, 306).

152

Jellinek (1935: 27), Kianzmayer (1956: 2), Wiesinger (1980).

153

Ernst (1996), auch Henzen (1954: 83-85).

154

Sarauw (1924: 146), auch Bischoff (1956: 77, 1966: 25f.), Moser (1969: 2 3 η , Bentzinger (1973:

155

Suchsland (1968: 247), auch Kettmann (1968: 355), Moser (1969: 237), Wolf (1981: 174).

195), Wolf (1981: 174), Bentzinger/Döring ( 1 9 9 2 : 1 7 3 ) .

Zielsetzung, Methodik, Korpus und Aufbau der Untersuchung

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gangs- oder Gesellschaftssprache" 156 oder „Akrolekt" 157 bezeichnet worden. Für die Zeit des Spätmittelalters kann davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei um eine oberschichtige Sprechvarietät auf regionaler Grundlage, d.h. noch ohne (bzw. nur mit geringfügiger) Anreicherung mit allochthonen Sprachmerkmalen gehandelt hat 158 , die sich vom Basisdialekt vor allem dadurch unterschied, dass als besonders tiefdialektal ('bäurisch') geltende Merkmale unterdrückt wurden. Durch die von Mihm (1999c, 2001b) anhand schreibsprachlicher Befunde nachgewiesene Übernahme frnhd., insbesondere rhfrk. Sprachformen im 16. Jahrhundert wurde diese diglossische Sprachsituation insofern erweitert, als sich eine zweite supradialektale Sprechvarietät auf wmd. Basis etablieren konnte. Diese war von ihrem Sozialprestige her noch oberhalb der alten Hochsprache angesiedelt und brachte mit ihrer frnhd. Merkmalsstruktur eine überregionale Orientierung und Aufgeschlossenheit gegenüber den hochgeschätzten Sprechweisen des Südens zum Ausdruck. Das Weiterbestehen dieser wmd. basierten Sprechsprache des städtischen Patriziats lässt sich bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein nachweisen159. Die allochthon orientierte Oberschichtsprache des 16. Jahrhunderts wird auf schreibsprachlicher Ebene in den von dem Duisburger Stadtsekretär Weimann geschriebenen Hochgerichtsprotokollen der Jahre 1563-1592 sichtbar, die zahlreiche wmd. Sprachmerkmale in hoher Frequenz enthält, aber aufgrund des Fehlens anderer Merkmale insbesondere omd. Provenienz noch nicht mit der frnhd. Ausgleichssprache identifiziert werden kann, die sich im 17. Jahrhundert überregional etablieren konnte 160 . Dagegen kommt die ältere, autochthone Sprechvarietät der städtischen Ober- und Mittelschichten, so die hier vertretende These, in der bis zum 16. Jahrhundert gebräuchlichen rhml. Schreibsprache zum Ausdruck 161 , die von allochthonen Einflüssen weitgehend frei ist, aber auch keine 'tiefdialektalen' Sprachmerkmale enthält162. Mit dieser Hypothese, dass die historische Verwal-

ingen, an der > angei) im Duisburger Korpus nur in Verbindung mit Eigennamen, niemals im appellativen Wortschatz. Ebenso wird intervokalischer Dentalschwund in der Verwaltungsschreibsprache nur in Ausnahmefällen wiedergegeben (Ljrytr 'Ludger', vnweer 'Unwetter', itervec 'Federvieh"). M. Mihm (1994: 37) äußert aufgrund einzelner vom ortsüblichen Schreibgebrauch abweichender Schreibungen bei dem aus Südlimburg stammenden Schreiber Godert die Vermutung, dass er als nicht-einheimischer Schreiber in seinem

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Einleitung

tungsschreibsprache bis etwa 1550 auf eine bodenständige oberschichtige Sprechvarietät des gehobenen Stadtbürgertums Bezug nimmt, ist nicht die Annahme verbunden, dass sie deren Strukturen und Aussprache ungebrochen 'widerspiegle'; wohl aber soll damit der verbreiteten Auffassung entgegengetreten werden, dass sie aufgrund ihrer starken Konventionalität keinerlei Rückschlüsse auf Gesprochenes zulasse (A.l.3.1). Wenn für die Schreibsprache einer Kanzlei Schreibungen oder Graphienverteilungen nachgewiesen werden, die im rezenten Dialekt keine lautliche Entsprechung finden, ist dies zunächst nicht als Zeichen für deren generelle Distanz zur Mündlichkeit zu werten, vielmehr ist damit zu rechnen, dass hierin Merkmale der gesprochenen Sprache der städtischen Oberschichten zum Ausdruck kommen, mit denen diese sich schon damals vom Sprachgebrauch der unteren Schichten abgrenzten163. Auch die Vermeidung 'tiefdialektaler' Merkmale wäre hiernach nicht als Beweis für den großen Abstand der Schreibsprachen von der gesprochenen Sprache zu werten, sondern eher als Beleg für den Abstand der gesprochenen Oberschichtsprache vom Basisdialekt der einfachen Bauern. Die Analyse offizieller Verwaltungstexte (z.B. Urkunden, Stadtrechnungen, Rechtsverordnungen) aus der Feder professioneller Schreiber mag somit zwar wenig geeignet sein, die Entwicklung der Basisdialekte rekonstruierbar zu machen164, sie kann jedoch wichtige Erkenntnisse über die Entwicklung der Sprechvarietäten des gehobenen Bürgertums liefern, deren Erforschung sich schon deswegen lohnt, weil es sich um die mutmaßlichen Vorläufer der modernen Umgangssprachen handelt165.

3.4.2. Korpushomogenität als Untersuchungsvoraussetzung Die Untersuchung städtischen Schreibsprachwandels setzt die Ansetzung einer festen Bezugsgröße voraus, an der man Veränderungen in der Zeit beobachtet. Bei dieser Bezugsgröße, der Stadtsprache oder lokalen Schreibsprache, handelt es sich um ein linguistisches Konstrukt, das in Abhängigkeit von der jeweiligen

163

165

Bemühen um eine Anpassung an den lokalen Usus auch Sprechvarianten verschriftlicht habe, „die nach dem Zeugnis der heutigen Dialekte offenbar damals in Duisburg gesprochen wurden, die man aber in der Schreibsprache vermied". Hierzu gehören neben den Kennzeichnungen von Dentalschwund (bei Godert z.B. in den Belegen buiel 'Beutel', klere/cleyre 'Kleider', weien 'weiden") auch Schreibungen wie mergen/morgen 'morgen', boerger 'Bürger', olderen 'Eltern' (statt ortsüblichem morgen, burger, a/deren), die als Wiedergaben von Merkmalen des lokalen Basisdialekts gedeutet werden können. Mihm (2003: 88) weist darauf hin, dass es „nicht zulässig" sei, „diejenigen Sprachneuerungen, die durch die Schriftlichkeit bezeugt werden, aber keine Entsprechungen in den heutigen Mundarten haben, als rein schreibsprachlich zu klassifizieren, vielmehr wäre damit zu rechnen, dass sie ein Äquivalent auf der akrolektalen Sprachebene gehabt haben". Besch (1965a: 114). Suchsland (1968: 247), Mihm (2000c: 2111-2113, 2001b: 356-359).

Zielsetzung, Methodik, Korpus und Aufbau der Untersuchung

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Fragestellung und Zielsetzung auf unterschiedlichen Abstraktionsniveaus definiert werden kann. Eine allgemeine Definition von ,Stadtsprache' als „Ensemble aller zu einer Zeit aktiv verwendeten und miteinander verwandten Varietäten", wie sie Hoffmann/Mattheier (1985: 1848) vorschlagen, wird vor allem fur soziolinguistische Fragestellungen grundlegend sein, bei der die Beschreibung vertikaler Schichtungen und des gruppenspezifischen, textsorten- oder adressatenabhängigen Sprachgebrauchs im Mittelpunkt steht. Eine derartig weite Definition, die die literarische Sprachverwendung und die Geschäftssprache, die private und die amtliche Schriftlichkeit, die interne und die ausgehende Kommunikation, die autochthonen und die am Ort verwendeten allochthonen Sprachvarietäten gleichermaßen umfasst, ist jedoch für einen primär an sprachlichem Wandel interessierten ausgerichteten Untersuchungsansatz kaum brauchbar, da eine diachronische Längsschnittuntersuchung eine weitgehende Isolierung des Faktors ,Zeit' und damit gerade eine Konstanthaltung möglichst vieler der genannten Bedingungen voraussetzt. Um Tendenzen des Schreibsprachwandels zu erfassen, muss daher zunächst ein möglichst homogenes Untersuchungskorpus aus Texten zusammengestellt werden, die derselben Varietät zugeordnet werden können, da nur so gewährleistet werden kann, dass die in der Analyse ermittelten Veränderungen nicht auf einen Wechsel der Schreiblage, der Textsorte, des Adressaten etc. zurückgehen. Dementsprechend bezieht sich der Begriff ,Schreibsprache' in der vorliegenden Arbeit auf eine einzige, durch bestimmte äußere Faktoren determinierte Schreibvarietät, deren Struktur und Wandel über den gesamten lokalen Uberlieferungszeitraum beobachtet wird und von der angenommen wird, dass sie auf einen bestimmten Ausschnitt aus dem geschichteten Spektrum mündlicher Sprachvarietäten in der Stadt referiert. Bei der Festlegung dieser Schreibvarietät waren in Abhängigkeit von der gewählten Untersuchungsperspektive verschiedene Anforderungen zu berücksichtigen: (1) Literarische Texte (im weiteren Sinne) schieden aufgrund ihres nichtseriellen Charakters, ihrer Vorlagen- oder Traditionsgebundenheit, ihrer starken stilistischen Uberformung und ihrer oftmals nur lockeren Bindung an die sprachlichen Gegebenheiten des jeweiligen Schreibortes von vornherein aus. Unter den Quellen aus dem Bereich der nicht-literarischen Überlieferung waren wiederum vor allem diejenigen zu berücksichtigen, die den offiziellen städtischen Schreibusus am besten repräsentieren, was am ehesten für die Manuskripte der leitenden Kanzleisekretäre angenommen werden kann, die im Auftrag des Rats und des städtischen Patriziats geschrieben wurden. Da Schreiber in gehobener Stellung in der Regel nicht aus dem betreffenden Ort gebürtig waren, sondern aus Kanzleien der umliegenden Schreibregionen rekrutiert wurden, musste die Schreiberherkunft (soweit bekannt) als ein möglicher Einflussfaktor im Auge behalten werden. (2) Um die Entwicklung der autochthonen Schreibsprache möglichst isoliert zu erfassen und Verzerrungen, die durch eine adressatenbedingte Verwendung von Sprachmerkmalen aus anderen Schreiblandschaften entstehen könnten, zu ver-

70

Einleitung

meiden, wurden ausschließlich Quellen aus dem Bereich der internen Schriftkommunikation herangezogen. Da Rat und Bürgerschaft in diesem Falle nicht nur als Auftraggeber, sondern auch als Adressaten der Texte gelten können, ist hier davon auszugehen, dass die Schreiber bestrebt waren, sich einem von den städtischen Führungsschichten favorisierten gehobenen Sprachduktus anzupassen. Damit war für die schreibsprachliche Gestaltung der Texte ein stadtspezifischer Akzeptanzrahmen gegeben, dessen Spielräume und Begrenzungen es in der graphematischen Analyse auszuloten gilt. (3) Um die Veränderungen der oberschichtigen Schreibvarietät in ihrem zeitlichen Verlauf möglichst kontinuierlich erfassen zu können, war bei der Korpuserstellung einerseits darauf zu achten, dass der Untersuchungszeitraum lang genug war, um die Beobachtung schreibsprachlicher Veränderungen zu erlauben, andererseits musste jedoch auch eine ausreichende Stichprobendichte gewährleistet werden. Hieraus ergab sich eine Festlegung auf serielle Textsorten (städtische Rechtsverordnungen, Stadtrechnungen, Urkunden), die für einen Untersuchungszeitraum von gut zweieinhalb Jahrhunderten in hinreichender Zahl und Abfolgedichte zur Verfügung standen. Wenn somit im Rahmen dieser Arbeit vereinfachend von der Duisburger Schreibsprache gesprochen wird, dann wird damit auf die gehobene Schreibvarietät der städtischen Ratskanzlei für den internen Gebrauch Bezug genommen, wie sie in der seriellen Textüberlieferung aus der Hand der leitenden Stadtsekretäre zum Ausdruck kommt. Es handelt sich somit um einen bestimmten Ausschnitt aus der städtischen Sprachwirklichkeit, dem allerdings aufgrund seiner Rückbindving an die zentrale Instanz der Stadtkanzlei eine exponierte Stellung zukommt. Als mündliche Bezugsvarietät dieser gehobenen Schreibvarietät wird nicht der lokale Basisdialekt angesetzt, wie er von den unteren Bevölkerungsschichten der Stadt und des Umlandes gesprochen worden ist, sondern die gehobene Sprechvarietät des Patriziats (A.3.4.1).

3.4.3. Überlieferungslage und Stichprobenauswahl Das für die diachronische, schreibervergleichende Untersuchving zugrunde gelegte Quellenmaterial stammt aus der Zeit zwischen 1360 und 1657. Das Jahr 1360 markiert den Zeitpunkt, ab dem zum ersten Mal eine kontinuierliche Überlieferung mehrerer Texte aus derselben Schreiberhand einsetzt. Aus dem Jahre 1657 stammt der letzte noch in rhml. Sprache abgefasste Verwaltungstext, eine späte Abschrift des alten Duisburger Stadtrechts. Aus den drei Jahrhunderten zwischen diesen beiden Eckdaten ist ein reiches und vielfältig differenziertes Verwaltungsschrifttum überliefert, das eine ausreichende Grundlage für eine diachronische Analyse der lokalen Schreibsprachentwicklung bietet.

Zielsetzung, Methodik, Korpus und Aufbau der Untersuchung

71

Die älteste volkssprachliche Überlieferung aus Duisburg setzt bereits 1317 mit einer in rip. Sprache geschriebenen Urkunde ein, worauf zunächst wieder eine fast drei Jahrzehnte währende Phase ausschließlich lat. Schriftlichkeit folgt. Erst 1345 ist ein zögerlicher Neueinsatz volkssprachlicher Beurkundung festzustellen, wobei sich die Überlieferung vor 1360 nach gegenwärtigem Kenntnisstand auf zwei Urkunden aus den 40er Jahren (1345, 1348) und drei aus den 50er Jahren (1350, zwei Urkunden von 1353) beschränkt166. Ab 1360 ist eine deutliche Zunahme nicht-lat. Urkundentexte zu verzeichnen, mit elf Urkunden aus den 60er, acht aus den 70er, 24 aus den 80er und 23 aus den 90er Jahren. Nach paläographischen Kriterien lassen sich für die Urkunden des 14. Jahrhunderts verschiedene unbekannte Schreiberhände ausmachen, von denen jeweils nur wenige Texte überliefert sind, so dass eine zuverlässige Bestimmung ihres Schreibgebrauchs nicht möglich ist. Nur von zwei Schreibern des 14. Jahrhunderts ist ausreichend Textmaterial überliefert. So stammen von den elf Urkunden texten der 60er Jahre acht aus der Hand eines namentlich nicht bekannten Schreibers, der in der Stadt zugleich die Funktion eines Arztes (physicus) einnahm, und von den 55 Urkunden der Jahre 1370-1399 gehen 49 auf den seit 1375 tätigen ersten Duisburger Stadtsekretär Everhardus zurück. Während die Urkunden der früheren Zeit noch eine wechselnde sprachliche Orientierung erkennen lassen und rip. oder wfäl. Merkmale aufweisen167, bedienen sich die beiden genannten Schreiber bereits einer typisch rhml. Schreibsprache, in der sich kaum Spuren allochthoner Spracheinflüsse nachweisen lassen. Diese 'autozentierte' Regionalsprache dient bis weit ins 16. Jahrhundert als offizielle Schreibvarietät der städtischen Verwaltung. Der Wechsel zu einer hochdeutschen Schreibvarietät erfolgt erst mit dem Amtsantritt des Stadtsekretärs Johannes Bungart im Jahre 1598168. Zwischen 1375 und 1598 waren in der Duisburger Stadtkanzlei insgesamt 13 Stadtsekretäre tätig, von denen acht für die vorliegende Untersuchung berücksichtigt wurden. Um auch den Sprachstand des 14. Jahrhunderts erfassen zu können, wurde darüber hinaus die Urkundenüberlieferung des in den 1360er Jahren tätigen Schreibers, der hier aufgrund seiner Profession als 'Physikus' bezeichnet wird, in das Korpus mit aufgenommen. Das zehnte schreiberspezifische Teilkorpus schließlich besteht in der oben genannten Abschrift des Duisburger Stadtrechts aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, die trotz ihres späten Entstehungsdatums noch fest in der rhml. Schreibtradition verankert ist169. Ein Überblick über

166

Für diese und die folgenden Angaben zur Duisburger Urkundenüberlieferung des 14. Jahrhunderts konnten neben dem Urkundenbuch der Stadt Duisburg (Bergmann/Budde/Spitzbart 1989/98) die neuerdings von Weber (2003) vorgelegten Aufstellungen verwendet werden.

" 7 Eimentaler (2000b: 88). >" Mihm (1999c: 77). 169

Dass die aus der Mitte des 17. Jahrhunderts stammende Stadtrechtshandschrift noch in rhml. Sprache verfasst ist, lässt sich dadurch erklären, dass es sich um die Abschrift des Stadtrechts von 1561 handelt, die sich inhaltlich und formal stark an die Vorlage anlehnt.

Einleitung

72

die ausgewählten Schreiberstichproben wird in Abb. 1 gegeben. Wie die Übersicht zeigt, wurden aus dem Zeitraum 1375-1520 Stichproben von allen sechs hauptamtlichen Stadtsekretären gezogen (Nr. 2-7), so dass die schreibsprachliche Entwicklung in diesem Zeitraum lückenlos erfasst werden kann. Die weitere Entwicklung im 16. Jahrhundert wird auf der Basis umfangreicher Quellentexte der Schreiber Godert und Weimann untersucht170. Stadtsekretär (Amtszeit)

Textsorten

Datierung

1.

'Physikus' (1353-1369 in den Stadtrechnungen als Schreiber erwähnt)

Urkunden

1360-1368

Korpusumfang (Wörter) 1.693

2.

Everhardus (1375-1407)

1377-1407

73.351

1408-1414

7.038

1415-1461

27.008

1468-1485

15.148

1499 1518 1535-1542

9.748 16.544 29.313

1561 1657

15.243 14.796 209.882

Städtische Verordnungen, Urkunden, Stadtrechnungen 3. Egbertus (1407-1414) Städtische Verordnungen, Stadtrechnungen 4. Ludger der Ältere (1414-ca. Städtische Verordnungen, 1465) Stadtrechnungen 5. Ludger der Jüngere (ca. 1465Städtische Verordnungen, 1495) Stadtrechnungen 6. Johann Algert (1495-1510) Stadtrechnung 7. Bernhardus Leising (1510-1520) Duisburger Stadtrecht 8. Godert von Entbrouk (1535Städtische Verordnungen, 1543) Gerichtsprotokolle 9. Georg Weimann (1551-1598) Duisburger Stadtrecht 10. Hermann Mercator (1656-1706) Duisburger Stadtrecht

Abb. 1. Das Untersuchungskorpus für die diachronische Analyse171

170

Nicht berücksichtigt wurde die Überlieferung von vier weiteren, zwischen 1520 und 1535 tätigen Stadtsekretären, die jeweils nur wenige Jahre im Amt waren und von denen bisher nur wenig Material erschlossen wurde. Auch auf eine Auswertung der von dem Stadtschreiber Cornelius van Lidtborch (1543-1551) geschriebenen Notgerichtsprotokolle wurde verzichtet, da diese bereits deutliche Spuren einer hd. Überschichtung aufweisen (Mihm 1999c: 70/Fußn. 15), deren Erforschung eine gesonderte Studie erforderte. Von seinem Amtsnachfolger Weimann (1551-1598), der in seinen Gerichtsprotokollen ebenfalls zunehmend rhfrk., später auch obd. Merkmale in seine Schreibsprache einfließen lässt (Mihm 1999c, 2001b, 2003), wurde dementsprechend nur die Stadtrechtshandschrift von 1561 in das Korpus aufgenommen, die sprachlich noch vollständig in den rhml. Tradirionszusammenhängen steht.

171

Das in Eimentaler (1998b: 19, 2001a: 302) vorgestellte Untersuchungskorpus des Duisburger Forschungsprojektes wurde für die vorliegende Arbeit in folgenden Teilen erheblich erweitert: a) Hinzunahme der Teilkorpora Physikus und Algert, b) Erweiterung der Teilkorpora Everhardus, Egbertus, Ludger der Altere und Ludger der Jüngere um ausgewählte Stadtrechnungstexte, c) Erweiterung des Teilkorpus Everhardus um 35 Urkunden des 14. Jahrhunderts, d) Erweiterung des Teilkorpus Godert um die Gerichtsprotokolle.

Zielsetzung, Methodik, Korpus und Aufbau der Untersuchung

73

Das Untersuchungskorpus hat einen Gesamtumfang von mehr als 200.000 Wörtern, in denen etwa 160.000 Vokalgraphiebelege auftreten172. Der unterschiedliche Umfang der schreiberspezifischen Teilkorpora (zwischen 1693 und 73351 Wörtern) ergibt sich teils aus der Überlieferungslage, teils aus dem unterschiedlichen Bearbeitungsstand der Quellen; die Korpusgröße reicht jedoch in den meisten Fällen aus, um zuverlässige Aussagen zur Struktur der graphematischen Systeme treffen zu können173. Einen Überblick über den Belegumfang der Duisburger Teilkorpora, also die Zahl der darin enthaltenen Belege (tokens) für haupttonige Vokalgraphien sowie über die Zahl der Morphemtypen, auf die sich diese Belege verteilen (types), wird in Abb. 2 gegeben. Während die token-Zahlen aufgrund des unterschiedlichen Umfangs der Textkorpora stark schwanken (die Zahlen für das Korpus von Everhardus sind z.B. etwa zehnmal so groß wie die für die Korpora von Egbertus und Algert), werden diese Schwankungen bei morphemtypbezogener Zählung tendenziell nivelliert, so dass sich (sieht man von dem schmalen Textkorpus des ältesten Schreibers Physikus ab) das kleinste (Algert mit 600 Morphemtypen) und das umfangreichste Korpus (Everhardus mit 1326 Morphemtypen) nur um den Faktor 2,2 voneinander unterscheiden. Bei allen selegierten Quellen handelt es sich (entsprechend den in A.3.4.2 formulierten Auswahlkriterien) um Texte aus dem Bereich der innerstädtischen Verwaltungsschriftlichkeit. Den Grundstock des Korpus bilden die städtischen Rechtsverordnungen ('Kören'), die in unterschiedlichen Überlieferungsformen erhalten geblieben sind174.

172

173

Die Diskrepanz zwischen diesen beiden Zahlen erklärt sich daraus, dass bei der automatischen Zählung als „Wörter" alle Einheiten gerechnet wurden, die zwischen zwei Spatien stehen, also auch lateinische Wörter, Währungskürzel wie den. 'Denar', m(a)r(ck) 'Mark* oder ^'Schilling', römische Zahlen usw., die keine Vokalgraphiebelege enthalten. Zu Fragen der für graphematische Analysen erforderlichen Mindestkorpusgröße vgl. vor allem Glaser (1985: 24-26), die nach ausführlicher Diskussion der einschlägigen Literatur davon ausgeht, dass ein Textkorpus im Umfang von zehn „Normalseiten" (ca. 4000 Wörtern) „umfangreich genug ist, um in der Mehrzahl der Fälle Häufigkeiten und Distributionen klar erkennen zu lassen" (26). Dies entspricht in etwa den im Duisburger Projekt gemachten Erfahrungen. Während das kleinste hier zusammengestellte Teilkorpus des frühesten Schreibers Physikus (von dem außer den acht berücksichtigten Schöffenurkunden keine weiteren volkssprachlichen Texte überliefert sind) aufgrund des beschränkten Umfangs von lediglich 1693 Wörtern in einigen Bereichen keine sichere Rekonstruktion graphematischer Klassen ermöglichte, konnte die Klassen- und Variationsanalyse bereits bei dem nächstgrößeren Teilkorpus des Schreibers Egbertus (7038 Wörter) ohne größere Schwierigkeiten durchgeführt werden. Für die ausführliche synchronische Graphemanalyse im ersten Untersuchungsteil wurde mit dem Teilkorpus Everhardus eine Textmenge zugrunde gelegt, die mit einem Gesamtumfang von 73351 Wörtern weit oberhalb der für graphematische Analysen anzusetzenden Mindestwortzahl liegt. Mihm (1999a, 1999b).

74

Einleitung

1360

1400

1420

1440

1480

1500

1520

1540

1560

1660

Abb. 2. Umfang der schreiberspezifischen Teilkorpora (Häufigkeit der Haupttonvokalgraphien nach Belegen und Morphemtypen)

Die von den Schreibern Nr. 2-5 und Nr. 8 notierten Einzelverordnungen sind teils in eine als 'Lagerbuch' bezeichnete Sammelhandschrift eingetragen, teils sind sie in verschiedenen Gerichts- oder Ratsprotokollbüchern enthalten (Holz- und Stapeldingbuch, 'Verdrachsboek', Ratsprotokollbuch)175. Eine Kodifikation der städtischen Rechtssetzungen erfolgte im Jahre 1518 mit der Niederschrift des ersten Duisburger Stadtrechts durch den Stadtsekretär Leising (Nr. 7), das 1561 eine starke Überarbeitving durch den Schreiber Weimann erfahren hat (Nr. 9)176. Bei der letzten Stadtrechtshandschrift von 1657 (Nr. 10) handelt es sich um eine inhaltlich und strukturell nur leicht modifizierte Abschrift des Textes von 1561177. Aufgrund des großen Umfangs der drei Stadtrechtshandschriften konnte sich die Korpuszusammenstellung bei den Schreibern Nr. 7, 9 und 10 auf diese eine Quellengattung beschränken. Dagegen war bei den Schreibern, von denen aus dem Bereich der Rechts schriftlichkeit keine Texte oder nur kürzere Einzelverordnun175

Für die Unterscheidung von Dingkörenlisten und Ratskörenlisten sowie von Beschluss- und Gebrauchslisten in der Uberlieferung des 14. und 15. Jahrhunderts vgl. Mihm (1999b: 53-55).

176

Mit der Kodifikation der Duisburger Rechtsverordnungen befasst sich eingehend Mihm (1999b: 56-67).

177

Zur Legitimation der Verwendung einer Abschrift als Textkorpus 1 0 vgl. die Ausführungen in diesem Kapitel unter Punkt 10 (Johannes Hermann Mercator).

Zielsetzung, Methodik, Korpus und Aufbau der Untersuchung

75

gen überliefert sind, eine Korpuserweiterung erforderlich. Hierzu wurde auf drei andere innerstädtische Textsorten, nämlich Urkunden (Schreiber Nr. 1 und 2), Stadtrechnungen (Nr. 2-6) und Gerichtsprotokolle (Nr. 8), zurückgegriffen. Da sich in entsprechenden graphematischen Voruntersuchungen in Hinblick auf die selegierten Texte in keinem Fall ein textsorten- oder situationsspezifischer Schreibgebrauch nachweisen ließ178, wurden jeweils alle von einem Schreiber stammenden Quellen zu einem einzigen Korpus zusammengefasst179. Im Folgenden wird ein kurzer Überblick über die für die graphematische Untersuchung berücksichtigten Stadtsekretäre und die verwendeten Quellen gegeben 180 . Ein detaillierter Nachweis der Handschriften und der daraus ausgewählten Textabschnitte findet sich im Anhang zu dieser Arbeit. Alle Quellentexte wurden im Rahmen des Duisburger Forschungsprojekts nach den Originalhandschriften transkribiert und mehrfach kollationiert181. Um eine rechnergestützte Auswertung zu ermöglichen, wurden alle transkribierten Texte in den Computer eingegeben. 1) Aus den lat. Stadtrechnungen von 1353, 1354, 1365, 1369 geht hervor, dass der damalige Rechnungsschreiber zugleich als Arzt tätig war (16 cl. micbi de phisica de hoc anno [...] 3 mar. de notana michi, 1365). Die Hand dieses hier als 'Physikus' bezeichneten Schreibers lässt sich anhand paläographischer Kriterien auch bei acht volkssprachlichen Schöffenurkunden aus dem Zeitraum 1360-1369 nachweisen, die in das Untersuchungskorpus aufgenommen wurden. Rechtstexte, Rechnungen oder Protokolle in rhml. Sprache sind aus diesem Zeitraum nicht überliefert. Uber die Lebensdaten und die Biographie des Schreibers ist nichts bekannt. 178

Ein Vergleich verschiedener Textsorten bzw. verschiedener Bearbeitungsstufen desselben Textes (Konzept - Reinschrift) wurde in zwei im Rahmen des Forschungsprojekts entstandenen Magisterarbeiten durchgeführt (Stichlmair 1997 über das Vokalgraphemsystem in den Kören und Gerichtsprotokollen des Schreibers Godert, Hawicks 1993 über das Vokalgraphemsystem einer Rechnung von Ludger dem Älteren in Konzeptfassung und Reinschrift). Darüber hinaus wurden auch die Korpora von Everhardus, Egbertus und Ludger dem Jüngeren zunächst textsortenseparierend ausgewertet, wobei sich keine nennenswerten Unterschiede in der graphematischen Systemstruktur und Variabilität erkennen ließen. Auch Kettmann (1967a: 306 f.) und Moser (1977: 223f.) konnten in ihren kanzleisprachlichen Untersuchungen keine signfikanten Unterschiede im Schreibgebrauch zwischen Konzepten und Reinschriften feststellen.

179

Auch Kunze (1982: 555) weist in seinen Überlegungen zur „Erhebung von Sprachdaten aus schriftlichen Quellen" darauf hin, dass „die einer heutigen Gewährsperson entsprechende historische Instanz nicht die Quelle ist, sondern die Schreiberhand". Die Schreiber- und Quellenübersicht basiert im Wesentlichen auf den Daten, die der Historiker und Stadtarchivar Heinrich Averdunk in seiner 1894 erschienenen „Geschichte der Stadt Duisburg" zusammengetragen hat. Darüber hinaus vgl. die Angaben in den Vorworten der von M. Mihm (1994), Mihm (1981) und Mihm/Elmentaler (1990) besorgten Quelleneditionen sowie in Mihm (1995b, 1999a, 1999b).

180

1,1

An der Transkription, Eingabe und Korrektur der Projektquellen wirkten (in alphabetischer Reihenfolge) folgende studentische und wissenschaftliche Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter mit, denen hiermit herzlich für ihre Unterstützung gedankt sei: Marcus Feldhaus, Christoph Grevels, Heike Hawicks, Andre Hollstein, Claudia Strack, Tim Stichlmair, Angela Wermke. Die Urkundenüberlieferung des 14. Jahrhunderts wurde von Frau Dr. Hildegard Weber erschlossen.

Einleitung

76

2) Everhardus, der von 1375 bis 1407 das Amt des Stadtsekretärs innehatte, wird in der Stadtrechnung von 1375 als Stadtschreiber und zugleich als rector scolarum genannt 182 . 1399 wird ihm das Schultheißenamt verkauft 183 . Everhardus stammt wohl aus Essen, worauf auch der von ihm (anders als bei den übrigen Stadtschreibern) häufig verwendete verbale Einheitsplural auf -et hindeutet 184 . E r verwendet die rhml. Schreibsprache nicht nur in den Urkunden, sondern leitet auch in den Stadtrechnungen (seit 1377) und in den städtischen Verordnungen (seit 1378) den Wechsel zur Volkssprache ein, womit er wesentlich zur Etablierung des Rheinmaasländischen als Sprache der lokalen Verwaltung beigetragen hat. Für das hier zugrunde gelegte Schreiberkorpus wurden Texte aller drei genannten Gattungen herangezogen. Zur Erstellung des Korpus innerstädtischer Verordnungen wurden aus den beiden älteren Duisburger Sammelhandschriften, dem 'Lagerbuch' und dem Protokollbuch des Holzdings, aufgrund paläographischer Vergleiche die von dem Schreiber Everhardus stammenden Einträge extrahiert und zusammengefasst. In das von seinem Amtsnachfolger Egbertus angelegte 'Lagerbuch' sind zwei kürzere Sammlungen von Rechtssetzungen zur Bürgermeister- und Ratswahl (1378) und zu den städtischen Finanzen und zur Sicherung der öffentlichen Ordnung und des Stadtfriedens (1386) aufgenommen worden 185 . Die Einträge im 'Holtdingbuch' aus dem Zeitraum von ca. 1391-1398 enthalten teils Regelungen von Verwaltungs- und Gerichtsangelegenheiten und Verordnungen über Verkauf und Steuern, teils Dingkören über die Flur- und Waldnutzung 180 . Die Urkundenüberlieferung dieses wie auch des vorangehenden Schreibers, die zu Projektbeginn ebenfalls noch nicht editorisch erschlossen war (jetzt größtenteils im zweiten Band des Duisburger Urkundenbuchs von Bergmann/Budde/Spitzbart 1998 abgedruckt), wurde von Frau Dr. Hildegard Weber nach den im Stadtarchiv Duisburg und im Hauptstaatsarchiv Düsseldorf aufbewahrten Originalausfertigungen transkribiert und für die vorliegende Arbeit dankenswerterweise zur Verfügung gestellt. Insgesamt sind von Everhardus 49 volkssprachliche Urkunden aus dem Zeitraum 1377-1400 überliefert, von denen 35 in das Untersuchungskorpus aufgenommen wurden 187 . Im Falle der von Everhardus geschriebenen Stadtrechnungen der Jahre 1377-1407 konnte auf ein von dem damaligen Duisburger Stadtarchivar Heinrich Averdunk erstelltes, bereits für den Druck vorbereitetes Transkript zurückgegriffen werden, das mit den im Duisbur-

182

Everardo mlori scolarum de notaria 3 mar. lews (Stadtrechnung

1375), vgl. Averdunk (1894: 411, 654ff.,

657). 183

Averdunk (1894: 296, 360).

18

-> Vgl. B.4.6.

185

Es handelt sich hierbei um die in der Aufstellung von Mihm (1999b: 53) unter Nr. 3 und 4 verzeichneten „Ratskörenlisten".

186

Ratskörenlisten Nr. 5 und 6 und Dingkörenliste Nr. 1 in Mihm (1999b: 53).

187

Die übrigen 14 Urkunden aus der Hand von Everhardus konnten, da sie erst zu einem späteren Zeitpunkt bearbeitet werden konnten, nicht mehr berücksichtigt werden.

Zielsetzung, Methodik, Korpus und Aufbau der Untersuchung

77

ger Archiv lagernden Originalrechnungsrollen abgeglichen wurde. Insgesamt sind aus diesem Zeitraum 15 Rechnungen überliefert. 3) In der noch von Everhardus geschriebenen Rechnung von 1407 wird die Amtsübergabe an den nachfolgenden Schreiber Egbertus verbucht188, der nur bis 1414 im Amt blieb189. Über seine Herkunft ist nichts bekannt. Von Egbertus sind Rechtsverordnungen der Jahre 1408-1414 aus dem Hobdingbuch überliefert, die den Handel mit Wein, Fisch, Fleisch, Bier, Tuch und anderen Waren regeln190, sowie eine Reihe von forst- und landwirtschaftlichen Verordnungen desselben Zeitraums, die im Wechsel mit Holz- und Stapeldingprotokollen in das Buch eingetragen wurden191. Aufgrund des geringen Umfangs dieser Texte wurde zur Ergänzung des Schreiberkorpus die Reinschrift der von Egbertus geschriebenen Stadtrechnung von 1412/13 (als Rotulus) mit herangezogen. 4) Der Schreiber (Jacob) Ludger, der zur besseren Unterscheidung von seinem gleichnamigen Sohn und Amtsnachfolger hier mit dem Zusatz 'der Ältere' identifiziert wird, war von 1414 bis etwa 1465 als Stadtsekretär tätig. Dementsprechend breit ist der von Averdunk (1894) umrissene Tätigkeitsbereich dieses Stadtbeamten192. Seine Herkunft ist unbekannt. Das Korpus setzt sich zusammen aus Verordnungen, die Ludger der Altere von 1415-32 und von 1463-68 in das städtische Holzdingbuch und in das 'Lagerbuch' eingetragen hat193, einer Ordnung zur Wahl der Duisburger Bürgermeister und Ratsherren (um 1450) sowie der Stadtrechnung von 1417, die sowohl als Konzeptfassung (eingetragen in eine Kladde) als auch in der Reinschrift (als Rotulus) erhalten ist und in beiden Fassungen berücksichtigt wurde. 5) Der gleichnamige Sohn des unter Nr. 4 aufgeführten Schreibers, der hier als ,Ludger der Jüngere' bezeichnet wird, war von ca. 1465 bis 1495 als Stadtsekretär tätig. Einzelheiten seiner Biographie sind nicht überliefert, doch ist aufgrund der langjährigen Tätigkeit seines Vaters in der Duisburger Kanzlei anzunehmen, dass er in Duisburg geboren und aufgewachsen ist. Aus der Hand von Ludger dem Jüngeren sind Einträge aus dem Holzdingbuch aus dem Zeitraum 1468-85 erhalten, eine ebenfalls ins Holtdingbuch eingetragene Meierordnung von 1470, die Zunftsatzung der Wollenweber von 1472 sowie verschiedene undatierte Anfragen an das Aachener Obergericht mit den von dort erhaltenen Rechtsauskünften. Zur Do men oitrdroich nryt mester Egbert, verterl 19β 4 d. '»' Averdunk (1894: 412). 190 Ratskörenliste Nr. 7 in Mihm (1999b: 53). 191 Vgl. zu diesen in die Holz- und Stapeldingprotokolle eingestreuten Rechtssetzungen Mihm (1999b: 47-49). 192 Bezeugt ist seine Botschaftertätigkeit (auswärtige Reisen) z.B. aus der Stadtrechnung 1434/35 (Averdunk 1894: 423/Anm. 1), seine Teilnahme als Femeschöffe am Kapitel zur Reform der Feme in Arnsberg 1437 (ebd.: 412), seine Tätigkeit als rector scholaris (ebd.: 657). Von 1461 ist eine Bestätigung seiner Sekretariatsbesoldung überliefert (ebd.: 407), aus dem Jahre 1465 sein Testament (ebd.: 22,162, 412). 1,8

1,3

Darunter die in Mihm (1999b: 53) angegebenen Ratskörenlisten Nr. 8 und 9.

78

Einleitung

Korpuserweiterung wurde darüber hinaus die Reinschrift der Stadtrechnung von 1470 (Rotulus) mit aufgenommen. 6) Johann Algert, der auch die Funktion eines „Kirchmeisters" innehatte194, war von 1495 bis 1510 als Stadtsekretär tätig. Über seine Herkunft und Biographie ist nichts bekannt. Da von Algert keine städtischen Rechtssetzungen überliefert sind, wurde als Materialgrundlage die von ihm geschriebene Stadtrechnung von 1499 in der Reinschrift (Rotulus) verwendet. 7) Bernhardus Leising (auch in den Schreibungen Leisingk und Leysynck) wurde im August 1510 als Stadtsekretär eingestellt195 und muss im Frühjahr 1520 gestorben sein. Seine Herkunft ist unbekannt. 1514 bekommt er die Einkünfte und Dienste am Petrusaltar der Marienkirche übertragen196. Auf Leising geht die Konzeption des Duisburger Stadtrechts von 1518 zurück197, das hier (unter Auslassung der Zusätze späterer Schreiber) als Materialbasis herangezogen wurde198. 8) Der Schreiber Godert (Godefrid) von Entbrouk, der bereits 1526 das Bürgerrecht in Duisburg erworben hatte, war von 1536 bis 1543 als Stadtsekretär in Duisburg tätig, wo er nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst auch in den Rat gewählt wurde und als Schöffe, zeitweilig wohl auch als Marktmeister tätig war199. Er stammt aus Sint Truiden in der heutigen belgischen Provinz Limburg200, was sich in einigen Merkmalen seiner Schreibsprache niederschlägt201. Im Juli 1535 beginnt er mit Eintragungen von Ratsprotokollen im 1532 angelegten Verdrachsboick, im Jahre 1538 legt er ein neues Ratsprotokollbuch an sowie ein Notgerichtsprotokollbuch202. Für das Projektkorpus wurde neben den von Godert stammenden Partien der Notgerichtsprotokolle (in der Edition insgesamt 80 Seiten) diejenigen Einträge im Verdrachsboick und im Ratsprotokollbuch berücksichtigt, die städtische Verordnungen beinhalten, sowie zusätzlich entsprechende Rechtssetzungen aus dem Lagerbuch und die von seiner Hand stammenden Nachträge aus dem Stadtrecht von 1518. 9) Der aus Osnabrück stammende Georg Weimann wurde im Juni 1551, nach vorangegangener Anstellung in der herzoglichen Kanzlei in Kleve203, als Stadtsekm 1.5

1.6 1.7 1.8

Averdunk (1894: 176). Leising hat, wie alle nachfolgenden Schreiber, seinen Anstellungsvertrag eigenhändig in das 'Lagerbuch' eingetragen. Ein Abdruck mit Ubersetzung findet sich in Mihm/Elmentaler (1990: 11, 225/Anm. 5). Darauf wird in der Chronik des Jobann Wassenbenh hingewiesen (Mihm/Elmentaler 1990: 12, 14). Mihm/Elmentaler (1990: 10-14), Mihm (1999b: 45f., 56). Von diesem Stadtrechtstext sind zwei wörtlich übereinstimmende, graphematisch jedoch abweichende Abschriften von ca. 1530 und 1544 erhalten (angeführt bei Mihm 1999b: 46), die jedoch hier unberücksichtigt bleiben, da die Schreiber unbekannt sind und die Hände keinem der damals tätigen Stadtsekretäre zugeordnet werden können.

Vgl. zu den biographischen Daten Goderts M. Mihm (1994: 32). Averdunk (1894: 412). a» Vgl. B.4.6. 202 Edition von M. Mihm (1994). Zur Charakteristik dieser Textgattung vgl. auch Mihm (1995b). a» Nach Mihm (2001b: 323). 199

200

Zielsetzung, Methodik, Korpus und Aufbau der Untersuchung

79

retär in Duisburg eingestellt, wo er bereits seit 1546 als Hilfsschreiber gearbeitet hatte204. In dieser Funktion war er bis 1598 tätig und blieb auch nach Beendigung seiner Kanzleitätigkeit bis zu seinem Tode 1606 Mitglied des Stadtrats205. Aus seinem Schriftverkehr mit auswärtigen Adressaten, den Berichten über seine diplomatischen Missionen206 und der Existenz einer von ihm verfassten lat. Stadtchronik207 lässt sich schließen, dass er „über die für norddeutsche Kanzleileiter notwendige Dreisprachigkeit in Bezug auf Niederdeutsch, Lateinisch und Hochdeutsch" (Mihm 2001b: 324) verfügte. In dem mehr als tausendseitigen, bislang unedierten Protokollbuch des Duisburger Hoch- und Vogtgerichtes, das Arend Mihm (1999c, 2001b) neuerdings einer ausführlichen graphematischen Analyse unterzogen hat, verwendet er überdies zwei typologisch zwischen der rhml. Basissprache und dem Hochdeutschen anzusetzende volkssprachliche Schreibvarietäten, die Mihm (2001b, 2003) als „Ausgleichssprachen" bezeichnet208. Da die Gerichtsprotokolle aufgrund dieser frnhd. Einflüsse für die vorliegende Untersuchung, in der es nicht um Überschichtungsphänomene, sondern primär um die Veränderungen innerhalb der autochthonen Schreibvarietät gehen soll, keine geeignete Quelle darstellen, wird statt dessen das 1561 von Weimann niedergeschriebene Manuskript des Duisburger Stadtrechts zugrunde gelegt, bei dem er noch vollständig an der alten rhml. Schreibsprache festhält. Es handelt sich hierbei um eine teils gekürzte, teils um neue Paragraphen erweiterte Bearbeitung des ältesten, von Leising geschriebenen Stadtrechts aus dem Jahre 1518. 10) Johannes Hermann Mercator, der Sohn des vorangehenden Stadtschreibers Rumold Mercator, war von 1656 bis 1706 als Stadtsekretär tätig209. Bei seiner 1657 entstandenen, um neun neue Paragraphen erweiterten Abschrift des Weimannschen Stadtrechts handelt es sich um das letzte Zeugnis der bodenständigen Duisburger Schreibsprache. Dass dieses Gesetzbuch in Inhalt und Sprache damals bereits einen Anachronismus darstellte, wird nicht nur daran sichtbar, dass bereits fünf Jahre später (1662) ein neues Stadtrecht verabschiedet wurde, in das nur noch „etwa 10 % der im alten Körbuch überlieferten Gesetze aufgenommen

»» Nach Mihm (1999c: 70). Averdunk (1894: 412f.). 204 Averdunk (1894: 367). 205

207 208

Antiquilates urbis Duisburg (1580), vgl. Averdunk (1894: 31, 79, 157, 206). Mihm (2001b: 330). Es handelt sich einerseits um eine wmd. geprägte, dem Hochdeutschen relativ angenäherte Schreibvarietät, die nach Mihm die damals vor Gericht verwendete Sprechvarietät der städtischen Oberschichten wiedergibt, andererseits um eine basisnähere, schwach wmd. beeinflusste Entlehnungsschreibsprache, die den formellen Sprachgebrauch der Mittelschicht reflektiert und ihrerseits deutlich gegenüber dem autochthonen rhml. Stadtdialekt abgegrenzt war, der zu dieser Zeit „nur noch fur die Unterschicht das einzige Kommunikationsmittel darstellte" (Mihm 2001b: 357).

209

Averdunk (1894: 413).

80

Einleitung

wurden" (Mihm 1999b: 66f.)210, sondern auch daran, dass der endgültige Wechsel zur frnhd. Schreibsprache in der Duisburger Kanzlei zu dieser Zeit bereits knapp sechs Jahrzehnte (1598) und die letzte offizielle Verwendung einer von frnhd. Einflüssen weitgehend freien rhml. Schreibsprache sogar mehr als ein Jahrhundert zurücklag. Der Status der letzten Textstichprobe von 1657 als Abschrift eines knapp hundert Jahre älteren Textes wird bei der Interpretation der graphematischen Analyseergebnisse zu berücksichtigen sein. So wären Übereinstimmungen in der Schreibweise hier weniger aussagekräftig als im Falle unabhängig voneinander entstandener Textquellen, da sie auf eine unreflektierte Übernahme der vorgefundenen Graphien im Abschreibeprozess zurückgehen könnten. Andererseits wären jedoch systematische Abweichungen in der Schreibweise gerade vor dem Hintergrund, dass es sich um eine in weiten Teilen wörtliche Abschrift handelt, von besonderem Wert für die graphematische Interpretation, da sie darauf hinwiesen, dass der Schreiber Mercator auch 60 Jahre nach dem Schreibsprachwechsel noch über ein eigenständiges rhml. Graphemsystem verfugte, das er auf den zu kopierenden Text applizierte. Der Vergleich der Vorlage von 1561 mit der Fassung von 1657 ermöglicht in diesem Sinne eine punktuelle Überprüfung der Dynamik der rhml. Schreibsprache in einem bereits durch den usuellen Gebrauch des Frühneuhochdeutschen geprägten Kontext. Ein hohes Maß an Übereinstimmung der Graphemsysteme würde auf eine Tradierung einer um 1600 erstarrten Schreibkonvention hindeuten, systematische Differenzen in der Schreibweise dagegen könnten als Indiz dafür gewertet werden, dass der Schreiber Mercator nicht schematisch die Schreibweise der Vorlage übernehmen musste, da er weiterhin in der Lage war, das lokale Graphieninventar auf individuelle Weise zur Wiedergabe einer am Ort gesprochenen Ausprägung des Rheinmaasländischen einzusetzen.

3.5. Aufbau der Arbeit Wie aus den konzeptionellen Ausführungen in A.3.2 hervorgeht, verfolgt die vorliegende Untersuchung im Wesentlichen zwei Ziele. Zum einen soll es darum gehen, die Funktionsweise vormoderner Schreibsprachen aufzuzeigen. Hierzu gilt es die These zu überprüfen, dass der Schreibgebrauch rekonstruierbaren Regeln folgt und dass diese Regeln mit der lautreferenziellen Funktion der Schreibsysteme in Zusammenhang stehen. Zweitens soll der diachronische Wandel einer historischen Schreibsprache vor dem Einsetzen der „Morphologisierung" beschrieben und gedeutet werden, wobei von der Arbeitshypothese ausgegangen wird, dass es sich nicht um eine kontinuierliche Entwicklung im Sinne einer An-

210

Diese Quelle ist, ebenso wie die drei bis 1709 davon angefertigten Abschriften (Mihm 1999b: 46), bislang unveröffentlicht geblieben.

Zielsetzung, Methodik, Korpus und Aufbau der Untersuchung

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näherung an ein unerreichtes telos (im Sinne eines zukünftigen rhml. Schreibstandards) handelt, und auch nicht um eine „Systemoptimierung" im Sinne der historischen Phonologie und der daran orientierten Graphematik, sondern um einen diskontinuierlich verlaufenden Prozess, bei dem jeder Schreiber versucht, mit den ihm zur Verfugung stehenden oder von ihm präferierten Mitteln eine adäquate Wiedergabe der oberschichtigen Sprechsprache zu gewährleisten. Entsprechend der zweifachen Zielsetzung besteht der Kern dieser Arbeit aus zwei Hauptteilen: 1) der synchronischen Analyse eines spätmittelalterlichen Schreibsystems, hier am Beispiel der Überlieferung des ersten Duisburger Stadtsekretärs Everhardus, 2) einer diachronischen Kontrastierung der zehn ausgewählten Duisburger Schreibsysteme zwischen 1360 und 1657. Der synchronische Teil hat hierbei zusätzlich die Funktion, am Beispiel der Analyse des Schreibsystems von Everhardus das verwendete Graphemanalyseverfahren schrittweise zu erläutern und zu veranschaulichen. Die beiden Hauptteile gliedern sich (nach einem jeweils einleitenden Kapitel) jeweils wieder in drei Unterkapitel, die sich mit den schreibsprachlichen Strukturen (bzw. deren Entwicklung) auf der Ebene der Graphien, der Graphemklassen und der Graphemvarianten beschäftigen. Im letzten Teil der Arbeit werden die Ergebnisse der graphematischen Analyse vor dem Hintergrund der in der Einleitung diskutierten Forschungshypothesen interpretiert und zum Anlass genommen, einige Akzentverlagerungen der historischen Graphematik anzuregen.

Β. Zur Entschlüsselung der Struktur und Funktionsweise vormoderner Schreibsysteme 1. Einleitung 1.1. Zur Struktur alphabetischer Schreibsysteme und den Problemen ihrer Erschließung Jedes Schreibsystem beruht darauf, dass die Angehörigen einer Sprechergemeinschaft Begriffsstrukturen mental gespeichert haben und zusätzlich über ein visuelles Symbolsystem verfugen, das diese Begriffsstrukturen aktivieren kann, so dass die Bedeutung aktualisiert und die dazugehörige Wortform aussprechbar wird1. In alphabetischen Schreibsystemen geschieht dies primär durch Zeichen, die auf phonische Segmente der Wortform Bezug nehmen. Sie ermöglichen zunächst eine akustische Identifizierung, sind aber zugleich die Voraussetzung dafür, dass sich visuelle Assoziationen zwischen Silben, Morphemen oder ganzen Wortbildern entwickeln, die dann das Auffinden des gesuchten Lexems teilweise auch ohne Vermitdung durch die phonisch-akustische Komponente ermöglichen. Bei der Entschlüsselung eines unbekannten alphabetischen Systems ist daher zunächst die Art und Weise zu entdecken, wie sich die graphischen Zeichen auf sublexikalische Lautelemente beziehen. Die Regeln, nach denen bestimmte visuelle Zeichen (Buchstaben oder Buchstabenkombinationen) bestimmten phonischen Wortsegmenten zugeordnet sind, stellen also das Kernstück jedes alphabetischen Schreibsystems dar. Sie sollen im Folgenden vereinfacht als Graphie-LautZuordnungsregeln (GLZ-Regeln) bezeichnet werden. Ihre Rekonstruktion muss im Mittelpunkt der historischen Graphematik stehen. Bei der Analyse der GLZ-Regeln sind analytisch zwei Regelkomplexe zu unterscheiden, deren Strukturen zunächst getrennt voneinander beschrieben werden können: 1) die Regeln des Graphieninventars, 2) die Regeln der phonischen Referenz. Im ersten Bereich geht es um die Frage, welche Möglichkeiten und Beschränkungen für die GLZ sich bereits aus dem Umfang und der Zusammensetzung eines Graphieninventars ergeben: Welche graphischen Kombinationsmöglichkeiten werden zur Bildung neuer Graphien genutzt, wie stark wird hierdurch vom lat.

1

Kay (1996), Katz/Feldman (1996).

Einleitung

83

Ausgangssystem abgewichen, wieviele Graphien werden von einem Schreibet verwendet, wie stark ist die Auslastung der einzelnen Graphien, wie ist der Umfang eines Inventars mit Blick auf die zu unterstellende Phonemstruktur der historischen Bezugsvarietät zu beurteilen? Die Regeln der phonischen Referenz beziehen sich auf das Verhältnis der graphischen Einheiten auf der Ausdrucksseite zu den phonischen Einheiten auf der Inhaltsseite, also die GLZ im engeren Sinne. Hier lassen sich zwei Teilprobleme unterscheiden. Zum einen ist zu fragen, auf welche Lauteinheiten sich die einzelnen Graphien bezogen haben (Graphienreferenz). Da der Erwerb der lat. Lautzuordnungsregeln für die professionellen Schreiber West- und Mitteleuropas zur Grundausbildung gehörte, gilt die Übernahme der lat. Lautwerte zusammen mit den graphischen Zeichen in ahd. Zeit allgemein als wahrscheinlich. Unklar ist jedoch, wie lang sich diese lat. GLZ-Regeln bei ihrem Gebrauch innerhalb der regionalen Schreibsprachen erhalten haben, ob und inwieweit also zu Beginn des Wiedereinsetzens der volkssprachigen Schriftlichkeit in mhd./mnd. Zeit noch mit lat. Lautwerten zu rechnen ist oder bereits eine vollständige oder partielle Ablösung vom lat. GLZ-System stattgefunden hat (A.1.3.2.a). Darüber hinaus stellt sich die Frage, welche phonischen Strukturen der Bezugsvarietät bei der Verschriftlichung Berücksichtigung finden und welche nicht oder nur schwach, was als Problem der phonischen Rasterung bezeichnet werden kann. In diesem Zusammenhang ist zu prüfen, ob sich eine bevorzugte Wiedergabe von Phonemen, also semantisch distinktiver Lauteinheiten, nachweisen lässt oder ob auch allophonische Lautdifferenzen Berücksichtigung finden (A.1.3.2.b). Wenn die volkssprachlichen GLZ-Regeln auf diese Weise erschlossen und mit den lat. GLZ-Regeln abgeglichen werden sollen, ist es zunächst notwendig, die Einheiten genauer zu bestimmen, die hier in ein Verhältnis zueinander gesetzt werden, also die „Graphien" und „Laute". Das Problem der Graphiendefinition und -klassifikation ist im Rahmen einer streng autonomistischen, d.h. den Bezug zur Lautebene vollständig ausklammernden Verfahrensweise nicht befriedigend zu lösen. Graphische Distributionsanalysen sind nicht nur unverhältnismäßig aufwändig, sondern ermöglichen letztlich auch keine klaren Abgrenzungen und Klassenbildungen. So gelangt Larsen (2001: 74) aufgrund einer detaillierten Analyse der Graphen seines Untersuchungstextes und einer kritischen Diskussion früherer Versuche einer „autonomistischen" Graphienklassifikation zu dem Ergebnis, dass bereits die grobe Unterscheidung von Vokal- und Konsonantengraphen nicht sicher durchzufuhren sei und man nicht umhin könne, den Lautwert der lat. Buchstaben in die Betrachtung mit einzubeziehen. Auch der Nachweis von Digraphien ist mit rein distributionsanalytischen Methoden nicht vollständig möglich (Larsen 2001: 115f.), so dass auf eine Bezugnahme auf lautliche Einheiten im weitesten Sinne letztlich nicht verzichtet werden kann.

84

Zur Entschlüsselung der Struktur und Funktionsweise vormoderner Schreibsysteme

Bei der Definition der Lauteinheiten, auf die die Graphien projiziert werden sollen, stößt man zunächst auf die Schwierigkeit, dass das Lautsystem der damals gesprochenen Bezugsvarietät nicht bekannt und der phonische Gehalt der historischen Wortformen somit nicht direkt bestimmbar ist. Dennoch müssen, um einen Zirkelschluss zu vermeiden, lautliche Referenzeinheiten unabhängig von den Strukturen des jeweils vorliegenden Schreibsystems bestimmt werden. In der Forschung wurden hierfür zwei Lösungswege vorgeschlagen: die Ansetzung eines historischen Phonemsystems oder die Ansetzung eines abstrakten, lautetymologischen Referenzsystems (B.3.1). Die Ansetzung historischer Phonemsysteme ist in der schreibsprachhistorischen Forschung weit verbreitet, weist aber erhebliche Unsicherheitsfaktoren auf. So ist im Einzelfall nicht zu entscheiden, ob ein mithilfe der dialektrückschließenden Methode für ein historisches Sprachareal rekonstruiertes Phonemsystem für die gesprochene Sprache des jeweiligen Untersuchungsortes tatsächlich Gültigkeit besaß und in welchen Bereichen der historische Ortsdialekt strukturelle Abweichungen von dem für die Region erstellten Over-all-System aufwies. Zum anderen haben auch ortsbezogene Rekonstruktionen der phonologischen Entwicklung nur eine begrenzte Aussgekraft, da weder die Reihenfolge noch das jeweilige Alter der angenommenen phonologischen Entwicklungsprozesse eindeutig zu ermitteln ist, so dass nicht entschieden werden kann, welche Entwicklungsstufe des Phonemsystems der graphematischen Analyse zugrunde zu legen ist. Problematisch erscheint die Ansetzung historischer Phonemsysteme schließlich auch deshalb, weil es begründete Zweifel daran gibt, dass das Phonem für die Schreiber tatsächlich die zentrale Orientierungskategorie darstellte. Aus diesen Gründen wird in der vorliegenden Untersuchung auf die Ansetzung eines historischen Phonemsystems verzichtet und auf ein lautetymologisches Bezugssystem zurückgegriffen. Dieses Verfahren geht von der Überlegung aus, dass für die festlandsgermanischen Volkssprachen des Mittelalters zwar die phonischen Realisierungsweisen der Wortformen unbekannt sind, dass aber jeder Wortform durch diachronische Vergleiche mit älteren und jüngeren Sprachstufen (Altsächsisch/Altniederfränkisch — rezente Dialekte) und diatopische Vergleiche mit anderen germanischen Sprachen und Dialekten eine abstrakte, lautetymologische Entsprechung zugeordnet werden kann. Diese Zuordnungen sind in den einschlägigen etymologischen Wörterbüchern dokumentiert und bieten gerade aufgrund ihrer Abstraktheit eine gute Grundlage für graphematische Analysen, da sie keine Vorannahmen über den Phonemstatus oder die phonetische Realisierung eines Lautes in einer bestimmten raum-zeitlichen Konstellation implizieren. Auf der Basis dieser lautetymologischen Bestimmungen wird in dieser Arbeit ein Referenzsystem konstruiert, dessen Einheiten als 'Lautpositionen' bezeichnet werden (B.3.1). Mithilfe dieses Referenzsystems ist zugleich eine eindeutige Differenzierung von Vokalgraphien und Konsonantengraphien sowie eine begründete Ansetzung von Digraphien möglich.

Einleitung

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Nach der Definition der Einheiten auf der Ebene des Schreibsystems (Graphien) und des lautetymologischen Referenzsystems (Lautpositionen) lassen sich die GLZ-Regeln eines Schreibsystems bestimmen. Eine Schlüsselstellung nimmt hierbei der Begriff des Graphems ein. Als Graphem wird hier die Verbindung einer Graphie mit einer Lautposition verstanden. Das GLZ-System ist demnach gleichzusetzen mit dem Graphemsystem, die Erstellung eines Graphemsystems bedeutet in diesem Sinne die Aufdeckung der in einer Schreibsprache geltenden GLZ-Regeln, also der Regeln zur Bezugnahme der graphischen Einheiten auf die Einheiten des lautetymologischen Referenzsystems.

1.2. Hypothesen zur Graphie-Laut-Zuordnung in vormodernen Schreibsprachen Für das Verständnis der Funktionsweise vormoderner Schreibsprachen ist es von entscheidender Bedeutung, die Voraussetzungen des damaligen Schreibens in die Überlegungen einzubeziehen. In Hinblick auf die Rekonstruktion der GLZRegeln ist der dt.-lat. Bilingualismus der professionellen Schreiber von besonderer Relevanz. Die Stadtsekretäre des Spätmittelalters hatten das Lateinische als primäre Schreibsprache erlernt, verfugten also über das lat. GLZ-System, so dass eine Übertragung der dort angewendeten Regeln auf den Bereich der volkssprachigen Schriftlichkeit prinzipiell nicht unwahrscheinlich ist. Dennoch sind in Bezug auf das Verhältnis des lat. GLZ-Systems zu dem eines volkssprachigen Schreibsystems zunächst drei Möglichkeiten zu berücksichtigen: (1) Das volkssprachliche GLZ-System steht in keinem Zusammenhang mit dem lat. GLZ-System; die lat. Graphien werden zwar übernommen, aber mit veränderter Lautzuordnung. Diese Hypothese wird allgemein als wenig wahrscheinlich erachtet, da es unökonomisch wäre, dort, wo der einer lat. Graphie zugeordnete Lautwert auch in der Volkssprache vorkommt, eine Umwertung vorzunehmen. (2) Die lat. Buchstaben und Buchstabenkombination werden mit ihren Lautwerten übernommen, dagegen gelten für die „neuen Digraphien" der volkssprachlichen Graphemsysteme eigene, vom Lateinischen unabhängige GLZRegeln. Eine solche Interpretation liegt z.B. vor, wenn Digraphien wie , , usw. nicht in linearer Lesart als Realisationen zweier aufeinander folgender Vokalkomponenten, also als diphthongähnliche Laute gedeutet werden, sondern holistisch als Wiedergaben eines Langvokals. Auch wenn es sich hierbei um die seit Beginn des 20. Jahrhunderts vorherrschende Auffassung handelt, lassen neuere Befunde eine Überprüfung dieser Hypothese als notwendig erscheinen. (3) Die lat. GLZ-Regeln gelten anfänglich nicht nur für die direkt aus der lat. Schrift übernommenen Buchstaben, sondern auch für die neu gebildeten Zeichenkombinationen; diese sind somit nicht als Repräsentanten von Langvokalen,

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Zur Entschlüsselung der Struktur und Funktionsweise vormodemer Schreibsysteme

sondern von diphthongähnlichen Lauten zu deuten. Die grundsätzlichen Argumente für diese Auffassung wurden in A.2.4 bereits ausfuhrlich erörtert. Aus Sicht der Schreiber muss es wesentlich ökonomischer gewesen sein, das aus dem Lateinischen bekannte GLZ-System auf die Verhältnisse der Volkssprache zu übertragen, anstatt davon unabhängige Lautzuordnungen vorzunehmen. Andererseits war auch für den zeitgenössischen Leser, dem in der Regel ebenfalls eine Vertrautheit mit den lat. GLZ-Regeln unterstellt werden kann, eine Digraphieninterpretation nach lat. Muster spontan möglich, während eine davon abweichende Lautzuordnung die Kenntnis weiterer, möglicherweise je nach Region bzw. Schreiberschule differierender GLZ-Regeln erfordert hätte. Aufgrund dieser Erwägungen wird das Festhalten an den lat. GLZ-Regeln in dieser Arbeit als grundsätzlich wahrscheinlichere Hypothese erachtet. Für die diachronische Analyse ergibt sich hieraus die zentrale Frage, wann und unter welchen Voraussetzungen der Übergang zu einer metaphorischen Graphienbedeutung, wie sie in der nhd. Orthographie bei Digraphien wie (für [OY]), (für [ai]) oder (für [i:]) vorliegt, stattfinden konnte. Die Prüfung der Thesen Nr. 2 und 3 läuft also in jedem Falle auf eine Feststellung des Zeitpunkts des Ubergangs vom lat. GLZ-System zu einem eigenständigen, volkssprachlichen System hinaus; entweder bereits zu Beginn der Entwicklung volkssprachlicher Schreibsysteme (These 2) oder erst ab einem späteren Zeitpunkt (These 3). Um die Eigenständigkeit volkssprachiger GLZ-Regeln zu belegen, müsste eine tendenzielle Invariabilität der Grapheme und Wortschreibungen nachgewiesen werden. Denn solange derselbe Laut in demselben Wort alternierend durch mehrere mono- und digraphische Varianten wiedergegeben wurde, konnte sich keine feste Graphienbedeutung herausbilden. Ein hohes Maß an graphematischer Variation spräche also gegen These (2) und für These (3). Sollte sich These (2) für das System von Everhardus nicht erhärten lassen, wird im Sinne von These (3) im diachronischen Vergleich der Schreibsysteme zu prüfen sein, ab wann es Indizien für die Herausbildung eines eigenständigen GLZ-Systems gibt.

1.3. Verfahrensschritte und Korpusauswahl Um die GLZ-Regeln, die in dem hier analysierten Graphemsystem wirksam sind, in ihrer Komplexität und Funktionalität erfassen zu können, wird die Untersuchung in drei getrennten Verfahrensschritten durchgeführt, wobei jeweils unterschiedliche Fragestellungen im Mittelpunkt stehen: (1) Die Frage nach den Voraussetzungen des Graphieninventars: Welche Graphien verwendet der Schreiber? Wie stark unterscheidet sich sein volkssprachiges Graphieninventar von dem, das er in der lat. Schriftlichkeit verwendet? (B.2) (2) Die Frage nach der Stabilität des GLZ-Systems: Welches sind die stärksten Graphie-Laut-Zuordnungen (Grapheme)? Welche Einheiten des Referenzsystems

Einleitung

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werden graphematisch am deutlichsten voneinander differenziert? (Analyse der graphematischen Klassengliederung, B.3). (3) Die Frage nach der Variabilität des GLZ-Systems: Welche Funktion haben die Varianten, die innerhalb der stabilen Graphemklassen neben der Leitgraphie auftreten? In welchen Systembereichen werden lautetymologische Bezugspunkte durch eine breite Graphienstreuung wiedergegeben, so dass die Graphie-LautZuordnungen weniger eindeutig sind? (Analyse der graphematischen Variation, B.4) Die Methoden zur Beschreibung und Interpretation der Graphieninventare, graphematischen Klassenbildungen und Variationsmuster wurden seit Mitte der 1990er Jahre im Rahmen des Duisburger Forschungsprojekts „Niederrheinische Sprachgeschichte" erarbeitet, wobei in mancherlei Hinsicht an Vorarbeiten der internationalen graphematischen Forschung angeknüpft werden konnte, in einigen entscheidenden Bereichen jedoch die Entwicklung neuer Kategorien und Analyseverfahren erforderlich war. In den folgenden Kapitel soll das Verfahren der graphematischen Systemanalyse, das bereits in einer Reihe von Detailstudien an Duisburger Quellen des 14. bis 16. Jahrhunderts erprobt und weiterentwickelt wurde (A.3.1), am Beispiel eines Schreibsystems aus der Zeit um 1400 ausführlich dargestellt werden, wodurch in mehrfacher Weise die Grundlagen für die im zweiten Hauptteil der Arbeit durchgeführten diachronischen Untersuchungen geschaffen werden sollen. Zum einen werden im synchronischen Untersuchungsteil grundlegende Begriffe, Kategorien und Auswertungsalgorithmen der graphematischen Analyse eingeführt, die auch für die diachronische Untersuchung benötigt werden. Aufgrund der Erkenntnisse über die Struktur und Funktionsweise dieses idioskriptalen Systems wird es anschließend möglich sein, die Schwerpunkte für die diachronische Untersuchung genauer festzulegen und mögliche Interpretationsraster zu definieren. Und schließlich kann das Schreibsystem aus der Anfangsphase der lokalen verwaltungssprachlichen Entwicklung auch als Folie für den Vergleich mit den späteren Systemen dienen. Da die Untersuchung intersystemarer Unterschiede und diachronischer Entwicklungen im Zentrum dieser Arbeit steht, wird sich die Darstellung im zweiten Hauptteil darauf konzentrieren, die wichtigsten Unterschiede der späteren Systeme in Bezug auf das im ersten Teil untersuchte Schreibsystem zu registrieren und zu deuten. Als Materialgrundlage wurde ein Korpus aus der Überlieferung des ersten hauptamtlichen Stadtsekretärs Everhardus (tätig von 1375 bis 1407) zusammengestellt. Everhardus, der die Stadtrechnungen zu Beginn seiner Kanzleitätigkeit noch in lat. Sprache abfasst, geht im Rechnungsjahr 1377/78 erstmals zur Verwendung einer autochthonen Schreibsprache über, und von seiner Hand stammen auch die ältesten überlieferten lokalen Rechtssetzungen (Kören) in rhml. Sprache von 1378 und 1386. Die von Everhardus verwendete Schreibsprache repräsentiert somit die erste Entwicklungsstufe der offiziellen städtischen Verwaltungssprache, denn aus den vorangehenden Jahrzehnten sind an nicht-lat. Texten

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Zur Entschlüsselung der Struktur und Funktionsweise vormoderner Schreibsysteme

lediglich einzelne Urkunden unterschiedlicher Schreiber erhalten2, die aufgrund diverser sprachlicher und außersprachlicher Indikatoren größtenteils noch der Konsolidierungsphase der lokalen Schreibsprache zuzurechnen sind3 und denen daher noch keine vergleichbare Aussagekraft in Hinblick auf die Repräsentation der gehobenen städtischen Verwaltungssprache zukommt. Da Everhardus mehr als drei Jahrzehnte in der Stadtkanzlei tätig war, ist von ihm ein umfangreiches handschriftliches Quellenmaterial überliefert. Der Fragestellung des Projekts entsprechend wurden allerdings ausschließlich stadtinterne Quellen berücksichtigt, so dass über das Sprachverhalten dieses Schreibers im ausgehenden Kanzleiverkehr keine Aussagen getroffen werden können. Im Einzelnen setzt sich das Korpus aus Quellen dreier Textsorten zusammen: a) 15 Stadtrechnungen des Zeitraums 1377-1407 (insgesamt 62335 Textwörter), b) innerstädtische Rechts Setzungen aus der Zeit von 1378, 1386 und ca. 139198 (insgesamt 5175 Textwörter), c) 35 Urkunden des Zeitraums 1377 bis 1399 (insgesamt 5841 Textwörter). Mit einem Gesamtumfang von 73351 Wörtern, die insgesamt 52349 Belege im Bereich des haupttonigen Vokalismus enthalten, bietet das Korpus des Schreibers Everhardus auch für tendenziell schwächer ausgelastete Bereiche des Schreibsystems noch eine ausreichende Belegdichte. Um einen möglichen Einfluss des Faktors ,Textsorte' auf den Schreibgebrauch zu prüfen, wurden die drei Quellenkorpora im Rahmen einer graphematischen Voruntersuchung zunächst getrennt voneinander ausgewertet. Da sich hierbei jedoch nur geringfügige Unterschiede in der Graphienverwendung feststellen ließen, deren Berücksichtigung die Ergebnisse der graphematische Analyse insgesamt nicht verändert hätte, wurden alle Texte zusammengefasst und für die Hauptuntersuchung als homogenes Korpus zugrunde gelegt. Auch die Veränderungen in der Schreibweise von Everhardus während des Überlieferungszeitraums 1377-1407 sind so marginal, dass der für eine nach Zeitstufen differenzierende Gesamtauswertung erforderliche Untersuchungsaufwand nicht zu rechtfertigen gewesen wäre4.

Vgl. zu den überlieferten Urkundentexten die Aufstellung im Anhang. Unter sprachlichen Gesichtspunkten ist auf den parallelen Gebrauch mehrerer regionaler Schreibsprachen zu verweisen, der in dieser frühen Phase die Herausbildung einer lokalen Schreibtradition behinderte (Elmentaler 2000b: 88). Diese schreibsprachliche Heterogenität ist wohl durch den Umstand bedingt, dass Duisburg bis etwa 1375 noch keinen offiziellen Stadtsekretär besaß und demzufolge auch noch nicht über eine ausgebaute Stadtkanzlei verfügte, so dass gelegenheitsweise auswärtige Berufsschreiber herangezogen werden mussten. Die hier stellvertretend für die Frühzeit der lokalen Uberlieferung berücksichtigte Schreibsprache des als 'Physikus' bezeichneten Schreibers lässt allerdings eine deutlich rhml. Prägung erkennen und kann damit als unmittelbarer Vorläufer der durch Everhardus eingeleiteten Schreibsprachtradition angesehen werden. Bei den geringfügigen Unterschieden ist zudem auch keine lineare Entwicklung erkennbar; vgl. dazu die Überprüfung der kleinen Stichprobe in Mihm (1994: 22).

Analyse des Graphieninventars

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2. Analyse des Graphieninventars Im Mittelpunkt der Untersuchungen zum Graphieninventar des Schreibers Everhardus stehen drei Fragenkomplexe: (1) Wie verhält sich sein volkssprachiges Graphieninventar zu dem, das er im Bereich der lat. Schriftlichkeit verwendet? Hierzu wird eine vergleichende Analyse durchgeführt, die sich vor allem auf drei Parameter stützt: den Umfang der Inventare (Quantität), die Art der verwendeten Graphien (Qualität) und deren Auslastung (Frequenz). (2) Welche Möglichkeiten und Beschränkungen ergeben sich aus der Inventarstruktur in Hinblick auf die GLZ? Wie ist z.B. der Umfang des Inventars mit Blick auf die zu unterstellende Phonemstruktur der historischen Bezugsvarietät zu beurteilen? (3) Sind neben der lautreferenziellen Funktion des Schreibsystems andere Faktoren in Betracht zu ziehen, die einen Einfluss auf die Zusammensetzung des volkssprachlichen Graphieninventars gehabt haben könnten? Bevor mit der Durchführung der Analyse begonnen werden kann, sind zunächst einige Bemerkungen zur Methodik und Terminologie notwendig.

2.1. Methodologische und terminologische Vorklärungen Um eine sichere Grundlage für die folgenden Analysen zu schaffen, ist es zunächst notwendig, den Begriff „Graphie" zu definieren und von dem Begriff des „Graphems" einerseits und dem des „Graphs" andererseits abzugrenzen. Unter einem „Graphem" wird im Rahmen des hier verwendeten Untersuchungsmodells ein sprachliches Zeichen im Sinne einer Relation zwischen einer Ausdrucks(signifiant) und einer Inhaltskomponente (signifie) verstanden. Die Inhaltsseite ist durch eine Lautposition besetzt, der in der historischen Bezugsvarietät ein Phon bzw. Phonem entspricht. Das Ausdruckselement des Graphems wird - abweichend von einer sonst üblichen Verwendungsweise dieses Terminus in der linguistischen Forschung5 — als „Graphie" bezeichnet. Graphien bestehen aus einzelnen Buchstaben, Buchstabenfolgen oder Kombinationen aus Buchstaben und nichtalphabetischen Zeichen (z.B. Superskripten). Die alphabetischen oder nichtalphabetischen Segmente von Graphien werden hier als „Graphe" bezeichnet.

Im Lexikon der Sprachwissenschaft (Bußmann 2002: 264) wird „Graphie" als zusammenfassender Ausdruck für die „Schriftcharakteristika eines Textes" bestimmt. Das Methler Lexikon Sprache (Glück 1993: 232) definiert „Graphie" als Bezeichnung „für die geschriebene Sprachform bzw. das Schriftsystem einer Sprfache], z.B. die G. des Dt., Arab.". In dieser Bedeutung wird „Graphie" auch in der Friihneuhochdeutschen Grammatik verwendet (Reichmann/Wegera 1993: 18f.). Vgl. aber Glaser (1985: 39).

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Zur Entschlüsselung der Struktur und Funktionsweise vormoderner Schreibsysteme

Da die Probleme der Isolierung von Graphen aus dem handschriftlichen Textkontinuum nicht im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung stehen, können die diesbezüglichen Ausführungen knapp gehalten werden6. Die Gewinnung von Graphen kann schematisch als ein dreischrittiger Segmentierungs- und Klassifikationsprozess aufgefasst werden7. Im ersten Schritt werden aus dem Textkontinuum einer Handschrift auf der Basis graphischer Differenzierungssignale wie Spatium oder Zeilenende sowie durch syntagmatische Analysen zur Feststellung gestaltgleicher Einheiten zunächst graphische Exemplare segmentiert, die als individuelle Realisationen eines Buchstabens in einem konkreten Text beschrieben werden können 8 . Die graphischen Exemplare werden anschließend nach dem Kriterium der optischen Rekurrenz (Ähnlichkeit) zu Klassen zusammengefasst, die jeweils durch einen Buchstabentypen repräsentiert werden. Aus der noch relativ großen Zahl von Buchstabentypen werden dann in einer weiteren Abstraktionsprozedur jeweils alle diejenigen, die demselben Buchstaben des lat. Alphabets entsprechen, einem Graphen zugeordnet. Die Graphe werden in den hier zugrunde liegenden Transkripten durch Minuskel-Drucktypen wiedergegeben. Die Variation und Verteilving mehrerer dem gleichen Graphen zugeordneter Buchstabentypen wird im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht untersucht. Der Vorgang der Graphengewinnung und die Unterscheidung von graphischen Exemplaren, Buchstabentypen und Graphen 9 wird in Abb. 3 am Beispiel des alphabetischen Graphs α veranschaulicht. Die auf diese Weise ermittelten 26 Graphe sind die Bausteine, aus denen sich die Graphien eines Schreibsystems zusammensetzen. Graphien und Graphe verhalten sich also zueinander nicht wie ein allgemeiner Typ zu seinen konkreteren Realisationen (wie z.B. Graphe zu Buchstabentypen oder Buchstabentypen zu graphischen Exemplaren), sondern wie ein Ganzes zu seinen Teilen.

6

1

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Dazu ausführlicher Althaus (1980), Timm (1987: 22-41), Ludwig (1989: 13-50), Simmler (2000a: 1156), Larsen (2001: 47-53). Zur Vereinfachung wird im Folgenden ausschließlich auf alphabetische Zeichen Bezug genommen. Für nicht-alphabetische Zeichen sind im Prinzip die gleichen Klassifikationsprozesse anzusetzen. Auf die beim Segmentierungsprozess auftretenden Schwierigkeiten wie z.B. den Umgang mit Ligaturen oder Kürzeln muss hier nicht im Einzelnen eingegangen werden. Ligaturen werden als Folge von zwei oder drei graphischen Exemplaren aufgefasst und in den der Arbeit zugrunde liegenden Transkripten nicht von unkontrahierten Einheiten unterschieden. Die Unterscheidung von graphischen Exemplaren, Buchstabentypen und Graphen entspricht in etwa der Differenzierung von „graph", „graph-type" und „graph-type class" bei Allen (1965: 163165), von „Graph", „Allograph" und „Buchstabe" bei Börner (1976: 31) oder von „instance of an allograph", „graph/allograph" und „allographic set/grapheme" bei McLaughlin (1963: 29). Vgl. auch die Übersicht bei Larsen (2001: 49, Anm. 22).

Analyse des Graphieninventars

91

1. Graphische Exemplare (Ebene der Handschrift)

2. Buchstabentypen (Ebene einer handschriftennahen Transkription)

3. Graphe (Ebene des Untersuchungstranskripts)

Abb. 3. Ermittlung alphabetischer Graphe am Beispiel von a

Da eine Graphie als ausdrucksseitige Entsprechung einer Lautposition definiert ist10, müssen die Graphien nicht durch Minimalpaaranalysen ermittelt werden, sondern lassen sich unmittelbar durch Bezugnahme auf die jeweils korrespondierende Lauteinheit des wgerm. Referenzsystems bestimmen, wie in Abb. 4 am Beispiel zweier möglicher Schreibungen des Lexems 'Schuld' demonstriert wird. Graphenfolge s ch u ldt

Zugeordnete Lautpositionen:

Graphenfolge s co i lt. Ermittelte Monographien: Ermittelte Digraphien:

s

t

h

u

/

{1}

{s}

{k}

Μ

|

|

/\

J

c

o







i

d

t

{d}

1

I

/

t



Abb. 4. Ermittlung von Graphien am Beispiel des Lexems 'Schuld'

10

Diese Definition entspricht in etwa der des „Korrespondenz-Elements" bei Börner (1976: 31) oder der ,,(Korrespondenz-)Graphie" bei Glaser (1985: 39).

92

Zur Entschlüsselung der Struktur und Funktionsweise vormoderner Schreibsysteme

In Hinblick auf die Komplexität der Graphien wird terminologisch wie folgt verfahren. Graphien, die nur aus einem einzigen Graphen bestehen, werden als 'Monographien' bezeichnet (z.B. , , ), Graphien, die sich aus zwei Graphen (z.B. , , ) oder aus einem Graphen und einem Diakritikum zusammensetzen (z.B. , , ), als 'Digraphien'. Graphien mit drei derartigen Komponenten (z.B. , ), also 'Trigraphien', treten im Untersuchungskorpus nur selten auf und werden bei entsprechenden Auszählungen, wenn nicht anders angegeben, der Gruppe der Digraphien zugeschlagen. Aufgrund der Bezugnahme auf die lautetymologischen Entsprechungen der Wortformen ist eine Unterscheidung von Monographienfolgen (z.B. + in ver 'fern') und Digraphien (z.B. in ver 'Uhr') in der Regel ohne Schwierigkeiten möglich. Die Unterscheidung von Monographien und Digraphien spielt bei der Beschreibung der graphematischen Variantenverteilungen eine wichtige Rolle, da davon ausgegangen wird, dass der Gebrauch von Monographien allen Schreibern aus der konventionalisierten lat. Schreibtradition wohlvertraut und geläufig war, während die Verwendung von Digraphien ein Abweichen von dieser Tradition bedeutet. Das gehäufte Auftreten volkssprachlicher Digraphien könnte dementsprechend auf die Existenz von Lautwerten hindeuten, die durch die lat. Vokalmonographien nicht adäquat wiedergegeben werden konnten. In Bezug auf die Digraphien erscheint eine terminologische Differenzierung der beiden graphischen Komponenten zweckmäßig. Die erste Komponente einer Digraphie wird im Folgenden als 'Protograph', die zweite als 'Deuterograph' bezeichnet.

2.2. Das Graphieninventar des Schreibers Everhardus Volks sprachliche Schreibsysteme sind im Vergleich zu denen, die für die Wiedergabe lat. Sprache verwendet werden, zumeist durch einen wesentlich größeren Graphienreichtum charakterisiert und werden daher häufig schon deshalb als chaotisch, unsystematisch und redundant aufgefasst. Wie stark der Unterschied zwischen den sprachspezifischen Graphieninventaren auch bei ein und demselben Schreiber sein kann, zeigt ein Vergleich der Vokalgraphien, die Everhardus in seinen lat. geschriebenen Stadtrechnungen verwendet, mit denen, die er in seinen volkssprachlichen Texten gebraucht (Abb. 5)11. Wie in neueren Arbeiten hervorgehoben wurde, ist daneben auch mit der Möglichkeit zu rechnen, dass ein professioneller Schreiber über mehrere volkssprachliche Graphieninventare, etwa für private Aufzeichnungen, für offizielle Dokumente von lokaler Relevanz und für die überregionale Korrespondenz, verfugen konnte; vgl. etwa Möller (1998) zum adressatenspezifischen Schreibgebrauch in Köln und Mihm (2001b: 330-332, 2003: 91-93) zur schreibsprachlichen Kompetenz von Schreibern des 16. und 17. Jahrhunderts. Für den Duisburger Stadtsekretär Weimann konnte

93

Analyse des Graphieninventars


1664

1754

3

895

1619

Gesamtbelegzahl: 7217

Abb. 5. Das vokalische Graphieninventar des Schreibers Everhardus in den lat. Stadtrechnungen (1375-76)12

Das Vokalgraphieninventar der lat. Rechnungen besteht hauptsächlich aus den fünf monographischen Basisgraphien , , 13 , und , die zusammen 99,9 % der Vokalgraphiebelege ausmachen. Die Graphie tritt nur in zwei Belegen als Repräsentant von lat. a auf (Mariae\, silvae\, Gen. Sg.), das in allen anderen Fällen durch (z.B. Marieio, Gen. Sg.) realisiert wird. Die Graphie ist in den Wörtern causam und claudendo\ belegt, die Graphie nur in Lehnwörtern griechischen Ursprungs (presbytero\, synodumi). Gegenüber diesem im Wesentlichen auf die fünf vokalischen Grundzeichen beschränkten Graphieninventar aus der lat. Stichprobe erscheint die Vielfalt der

12

13

Mihm (2001b: 324, 330) eine parellele Verwendung von vier volkssprachlichen Schreibvarietäten mit jeweils eigener Merkmalsausprägung nachweisen: der traditionellen rhml. Schreibsprache (z.B. in der hier berücksichtigten Stadtrechtshandschrift), einer basisnahen, leicht hd. überschichteten Schreibsprache (z.B. in den Protokollen des Vogtgerichts), einem stark wmd. gefärbten Hochdeutsch (z.B. in den Hochgerichtsprotokollen) und einer frnhd. Schreibsprache mit wenigen rhml. Relikten (z.B. im auswärtigen Briefverkehr). Da die Beschreibung derartiger code-switching- und code-shifting-Prozesse jedoch nicht zur Zielsetzung der vorliegenden Studie gehört, sondern vielmehr die Variationsmuster und diachronischen Veränderungen innerhalb einer einzigen Varietät erfasst werden sollen, wurden von den ausgewählten Schreibern hier ausschließlich diejenigen Texte berücksichtigt, deren Sprachform noch eindeutig als Rheinmaasländisch charakterisiert werden kann. Angegeben ist hier wie auch in der folgenden Abbildung jeweils die absolute Beleghäufigkeit der Graphien. Berücksichtigt wurde ausschließlich das lat. Wortmaterial; volkssprachliche Wörter im lat. Text, spontane Latinisierungen (iaytictori 'Leyendecker', meyerus/mtyeratus 'Meier/den Meier betreffend") sowie Namen blieben ausgeklammert. Aufgeführt werden nur Graphien, keine graphischen Varianten. Daher werden die beiden Schreibvarianten der Graphie < u > , u und ν (als Repräsentanten von Vokalen), hier und im Folgenden nicht differenziert, ähnlich wie auch im konsonantischen Bereich die Schreibvarianten der Graphie < s > . In gleicher Weise wird bei den Graphien auf eine Unterscheidung der Majuskel- und Minuskelvarianten verzichtet.

94

Zur Entschlüsselung der Struktur und Funktionsweise vormodemer Schreibsysteme

Graphien, derer sich Everhardus in seinen volkssprachlichen Texten bedient, als auffällig \ind erklärungsbedürftig (Abb. 6).

i 2426

1236 Ν

1974

840

4756

438

77



{e*/eo*}

33

10

{e-/eo-}

26

7

{i-*}

3

{i-}





43

37

18

2

< i > < y > < i j > < e i > < e >

18





49

6

9

6

1

15

12

6

13

7

3

24

13



16

14

j

2

{£-} l o o {ä-} 1 0 0 {e-} 97

Μ

94

{ e * } 91 { ä * } 86 { ä - * } 83 {ai;} 8 0 {e-*} 79 {aif} 72

{ä*} 60

4

{äi-} 64 {ai*} 56 {ai-} 53 {äi*} 52

Abb. 10a. Das Graphemsystem des Schreibers Everhardus (Palatalbereich)

111

Analyse der graphematischen Klassenstruktur

{ü*} {ii*/iu*}

23 48

43 28

32 16

1 1