Streiten über das Streiten: Normative Grundlagen polemischer Metakommunikation 9783110946710, 9783484220652

A striking feature of polemic disputes is the high degree of meta-communication they display. This is primarily enacted

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German Pages 326 [328] Year 2005

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Table of contents :
1 Einleitung
Teil I: Polemisches Streiten
2 Polemik. Wort und Begriff im neuzeitlichen Deutsch
2.0 Einleitung
2.1 Polemos ‚Krieg‘
2.2 Polemik ‚Kunst bzw. Praxis der Widerlegung‘
2.3 Polemik. Das Wort im gegenwärtigen Sprachgebrauch
3 Polemisches Streiten
3.0 Einleitung
3.1 Polemisches Streiten und polemischer Text
3.2 Erste Anwendungen
3.3 Das Persönlichwerden
Teil II: Streiten über das Streiten und seine normativen Grundlagen
4 Streiten über das Streiten
4.0 Einleitung
4.1 Die Rolle der Metakommunikation in polemischen Texten
4.2 Die normativen Grundlagen des Streitens und ihre Untersuchung
4.3 Äußerungstypen in der polemischen Metakommunikation
4.4 Exemplarische Analyse: Hoff contra Gutzkow 1839
5 Maßstäbe zur Bewertung kommunikativen Verhaltens
5.0 Einleitung: Textkorpus, Äußerungskorpus, Normformulierungen, Gliederung
5.1 Normen betreffend die Wahl des polemischen Objekts
5.2 Normen betreffend die Wahl des polemischen Themas
5.3 Normen betreffend Bewusstseinszustände des polemischen Subjekts
5.4 Normen betreffend die Herstellung des polemischen Textes
5.5 Normen betreffend die sprachliche Realisierung des Textes
5.6 Rechtfertigungs- und Entschuldungsgründe für Normverletzungen
6 Geltungsbereich, Existenzweise und Verfügbarkeit der Normen
6.0 Einleitung
6.1 Reichweite der Normen
6.2 Alltagsweltliche Normen und Kodifizierungen
7 Epilog: Erfolgsbedingungen des Polemikers
7.0 Einleitung
7.1 Die Lust an der Polemik und ihre Grenzen
8 Literatur
Personenregister
Sachregister
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Streiten über das Streiten: Normative Grundlagen polemischer Metakommunikation
 9783110946710, 9783484220652

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Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft

Herausgegeben von Peter Eisenberg und Helmuth Kiesel

Walther Dieckmann

Streiten über das Streiten Normative Grundlagen polemischer Metakommunikation

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2005

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme ISBN 3-484-22065-1

ISSN 0344-6735

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2005 http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Laupp & Göbel GmbH, Nehren Einband: Industriebuchbinderei Nädele, Nehren

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

1

Teil I: Polemisches Streiten 2 Polemik. Wort und Begriff im neuzeitlichen Deutsch 2.0 Einleitung 2.1 Polemos ,Krieg' 2.2 Polemik ,Kunst bzw. Praxis der Widerlegung' 2.2.1 Polemica theologica ,Lehre von der theologischen Widerlegung' 2.2.2 Polemik ,Kunst bzw. Praxis der wissenschaftlichen und publizistischen Widerlegung' 2.2.2.1 Positiv wertender oder wertneutraler Gebrauch 2.2.2.2 Die Kunst der Widerlegung im Widerstreit der Meinungen 2.2.3 Polemik ,Unsachlich-persönlicher Angriff auf den Gegner'.. 2.3 Polemik. Das Wort im gegenwärtigen Sprachgebrauch 2.3.1 Polemik in der öffentlichen Sprache 2.3.2 Polemik in der Wissenschaftssprache 2.3.2.1 Polemik in Literatur- und Sprachwissenschaft 2.3.2.2 Die Unterscheidung von Polemik und Satire 3 Polemisches Streiten 3.0 Einleitung 3.1 Polemisches Streiten und polemischer Text 3.1.1 Stenzeis heuristisches Schema für die Analyse polemischer Texte 3.1.1.1 Die polemische Situation 3.1.1.2 Kommunikationsbereiche: Öffentlichkeit vs. Privatsphäre 3.1.1.3 Sprachliches Medium: Schriftlichkeit vs. Mündlichkeit 3.1.1.4 Polemische Intention vs. polemische Mittel 3.1.1.5 Polemischer Text vs. polemischer (Stil)Zug 3.1.2 Die textimmanente Inszenierung der polemischen Situation

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VI 3.1.2.1 3.1.2.2 3.1.2.3 3.1.2.4

Realsituation und polemische Konstellation Adressaten und Ziele des Polemikers Die Rolle der Emotionalität Polemische Strategien: Argumentativität und polemische Portraitierung 3.2 Erste Anwendungen 3.2.1 Gabriele Muschter 3.2.2 Gabriele Riedle 3.2.3 Diogenes Graugans 3.2.4 Hartmut Günther/Eckart Scheerer 3.3 Das Persönlichwerden 3.3.1 Die Unterscheidung von argumentum ad rem und argumentum ad personam in Dialektik und Argumentationstheorie 3.3.2 Probleme im Umgang mit der Unterscheidung ad rem und ad personam

37 40 43 45 52 52 54 56 60 63

63 68

Teil II: Streiten über das Streiten und seine normativen Grundlagen 4 Streiten über das Streiten 4.0 Einleitung 4.1 Die Rolle der Metakommunikation in polemischen Texten 4.2 Die normativen Grundlagen des Streitens und ihre Untersuchung... 4.2.1 Charakter und Existenzweise der gesuchten Normen 4.2.2 Methodische Zugriffe 4.2.2.1 Die Rekonstruktion kommunikativer Normen in der wissenschaftlichen Literatur 4.2.2.2 Die Unterscheidung von meta- und extrakommunikativen Äußerungen 4.3 Äußerungstypen in der polemischen Metakommunikation 4.3.1 Äußerungen mit Normbezug 4.3.2 Bezogen auf das kommunikative Verhalten des Gegners: Vorwürfe 4.3.3 Bezogen auf das eigene kommunikative Verhalten I: Behauptungen über das zukünftige oder vergangene Verhalten 4.3.3.1 Erklärungen, sich an die Normen halten zu wollen bzw. gehalten zu haben 4.3.3.2 Erklärungen, auf Normverletzungen verzichten zu wollen bzw. verzichtet zu haben 4.3.4 Bezogen auf das eigene kommunikative Verhalten II: Reaktionen auf Vorwürfe 4.3.4.1 Mögliche Reaktionen auf Vorwürfe 4.3.4.2 Schweigen

78 78 78 84 84 86 86 91 95 95 98

100 100 101 103 103 104

VII 4.3.4.3 Einen Vorwurf zurückweisen 4.3.4.4 Sich rechtfertigen 4.3.4.5 Um Verständnis bzw. Zubilligung mildernder Umstände bitten 4.3.4.6 Vorwurf akzeptieren: Schuld bekennen/ um Verzeihung bitten 4.4 Exemplarische Analyse: Hoff contra Gutzkow 1839 5 Maßstäbe zur Bewertung kommunikativen Verhaltens 5.0 Einleitung: Textkorpus, Äußerungskorpus, Normformulierungen, Gliederung 5.1 Normen betreffend die Wahl des polemischen Objekts 5.1.0 Einleitung 5.1.1 Streite nicht gegen einen unbedeutenden Gegner 5.1.2 Streite nicht gegen einen unwürdigen Gegner 5.1.3 Streite nicht gegen einen wehrlosen oder schon geschlagenen Gegner 5.2 Normen betreffend die Wahl des polemischen Themas 5.2.0 Einleitung 5.2.1 Streite nicht um Nichtigkeiten 5.2.2 Streite nicht um Dinge, von denen du nichts verstehst 5.3 Normen betreffend Bewusstseinszustände des polemischen Subjekts 5.3.0 Einleitung 5.3.1 Verfolge keine eigennützigen Zwecke 5.3.2 Versuche nicht die Person des Gegners zu diskreditieren.... 5.3.3 (?) Rede nicht dem Publikum zu Gefallen 5.3.4 (?) Streite nicht im Zustand emotionaler Erregung 5.4 Normen betreffend die Herstellung des polemischen Textes 5.4.0 Einleitung 5.4.1 (?) Streite nicht anonym 5.4.1.1 Verschweige nicht deinen Namen 5.4.1.2 Verschweige nicht den Namen deines Gegners 5.4.2 Verfälsche nicht den Standpunkt des Gegners 5.4.3 Mache keine Äußerungen, die wissentlich Unwahres enthalten 5.4.4 Mache keine Äußerungen, die geeignet sind, die Person des Gegners zu diskreditieren 5.4.5 Mache keine Äußerungen, die vertraulich erworbene Informationen enthalten 5.4.6 Verletze nicht die Regeln korrekten Argumentierens 5.5 Normen betreffend die sprachliche Realisierung des Textes 5.5.0 Einleitung 5.5.1 Verzichte auf Elemente des Schimpfstils

106 107 108 109 110 118 118 121 121 121 128 131 139 139 139 144 149 149 150 155 158 161 168 168 168 168 175 180 185 192 198 206 209 209 209

VIII 5.5.2 Verzichte auf literarisch-rhetorische Wirkungsmittel 5.5.3 Verzichte auf die Sprache der Überheblichkeit 5.6 Rechtfertigungs- und Entschuldungsgründe für Normverletzungen 5.6.0 Einleitung 5.6.1 Ein persönlich Angegriffener darf sich verteidigen 5.6.2 Gleiches darf mit Gleichem vergolten werden 5.6.3 Gefahr für das Gemeinwesen darf abgewehrt werden 5.6.4 (?) Ein Ehrloser darf als Ehrloser behandelt werden 5.6.5 Mildernde Umstände machen Regelverletzungen entschuldbar

214 219 223 223 224 229 235 239 241

6 Geltungsbereich, Existenzweise und Verfügbarkeit der Normen 6.0 Einleitung 6.1 Reichweite der Normen 6.1.1 Normen für polemische Texte? 6.1.2 Funktionale Normen für argumentative Texte 6.1.3 Ethische Normen christlich-europäischer Tradition 6.1.4 Universelle Normen 6.1.5 Historizität der Normen 6.2 Alltagsweltliche Normen und Kodifizierungen 6.2.1 Existenzweise der Normen 6.2.2 Inhaltliche Beziehungen zu Straftatbeständen 6.2.3 Metakommunikative Thematisierung der Rechtsförmigkeit

246 246 247 247 252 255 258 261 266 266 267

7 Epilog: Erfolgsbedingungen des Polemikers 7.0 Einleitung 7.1 Die Lust an der Polemik und ihre Grenzen 7.1.1 Welche Lust? 7.1.2 Lust bei wem? 7.1.3 Das Zusammenspiel von Lusterzeugung und metakommunikativer Normbestätigung

275 275 276 276 279

8 Literatur

285

Personenregister

309

Sachregister

315

273

280

Zum Umgang mit den Quellentexten in Zitaten

Alle Zusätze des Verfassers in zitierten Passagen werden wie auch die Auslassungen durch eckige Klammern angezeigt. Runde Klammern und alle Arten typographischer Variation sind Teil des zitierten Textes. Hervorhebungen durch Sperrdruck in den Quellentexten habe ich allerdings zu Gunsten von Kursivierungen beseitigt.

1

Einleitung

Die Frage, ob der Streit und das Streiten etwas Positives oder etwas Negatives sind, kann nicht ein für allemal beantwortet werden. Die Antwort hängt zum einen davon ab, welche Bedeutung der Fragende mit dem Wort Streit verbindet, das - historisch wie synchron betrachtet - sowohl in der Allgemeinsprache wie auch in Fachsprachen, z.B. der Linguistik, unterschiedliche Gebrauchsweisen hat. Sie hängt ferner von dem Wofür und dem Wie des jeweils zu beurteilenden Streites ab. Ein Streit für die Freiheit und gegen die Unterdrückung, für eine gerechte Gesellschaft und gegen soziale Missstände, für die Wahrheit und gegen Vorurteile und Lüge verdient im Zweifelsfall Bewunderung und Unterstützung, während der Streit um Kleinigkeiten wie der Streit um Worte oder um des Kaisers Bart Anlass geben, sich missbilligend abzuwenden. Auch ist ein Streit, bei dem die angewendeten Mittel es erlauben, ihn einen emsthaften, gelehrten, wissenschaftlichen o.ä. zu nennen, eher akzeptabel als ein erbitterter, fanatischer, gar sinnloser, der womöglich in Zänkerei oder Handgreiflichkeiten endet. Die Einschätzung des Wertes des Streitens variiert schließlich oberhalb der angedeuteten Umstände auch bei unterschiedlichen Personengruppen. Für manche ist nicht nur der Kanonen-, sondern auch der Wortkrieg „der Vater aller Dinge" mit mancherlei segensreichen Eigenschaften als „reinigendes Gewitter", als „Stuhlgang der Seele" oder als notwendige Bedingung wenn nicht des Findens, so doch der Durchsetzung der Wahrheit u.a.m. Andere nehmen vorwiegend die negativen Aspekte und Begleiterscheinungen wahr: die Ergebnislosigkeit oder doch zumindest die Unzuverlässigkeit der im Streit zu Stande gebrachten Ergebnisse, die Verletzungen, die sich die Streitenden zufügen und die über den aktuellen Streit hinaus die sozialen Beziehungen eher stören, als dass sie gemeinsames Handeln fördern könnten. Die Streitfürsprecher geraten bei den Streitgegnern leicht in den Verdacht, als Streithammel oder Streithansel streitsüchtig zu sein, während die Streitgegner ertragen müssen, der Konfliktscheue und der Harmoniesüchtigkeit bezichtigt zu werden. Redet man nicht über den Streit allgemein, sondern vom polemischen Streit, so scheint die Sache klar. Die Charakterisierung eines Streites als eines polemischen versieht ihn von vornherein mit einer negativen Bewertung - jedenfalls in einer in der Gegenwartssprache verbreiteten Gebrauchsweise, die im Artikel Polemik des Duden Universalwörterbuch (42001) an erster Stelle mit der Bedeutungserläuterung ,scharfer, oft persönlicher Angriff ohne sachliche Argumente [...] im Bereich der Literatur, Kunst, Religion, Philosophie, Politik o.A.' angegeben ist. Ein „scharfer" Streit mag, falls Wichtiges auf dem Spiele steht, ohne

2 negative Bewertung durchgehen, ein „persönlicher Angriff' jedoch ist, wie (fast) jeder weiß, zu unterlassen, und welchen Sinne sollte es haben, „im Bereich der Literatur, Kunst, Religion, Philosophie, Politik o.A." eine Auseinandersetzung ohne sachliche Argumente zu führen? Zwar fand ich in meiner Tageszeitung vor nicht langer Zeit den Artikel eines Soziologen (Sofsky 2002), der im Rahmen einer Artikelserie Positionen: Wege aus der deutschen Krise ein Loblied auf die Polemik sang und den Lesern nahe zu bringen versuchte, dass und Warum polemische Kontroversen, Verleumdung und Verrat demokratisch sind, inklusive persönliche Feindseligkeiten, Eigennutz, Vorteilnahme und der Appell an die niederen Instinkte des Publikums. Doch ist diese Stimme, wenn auch kein Unikat, so doch untypisch. Dominant ist die negative Bewertung solcher Dispositionen und Verhaltensweisen (was Sofsky bedauert und wogegen er opponiert) und damit die negative Bewertung des Polemischen als einer Kommunikationsform, die im Kern charakterisiert ist gerade von dem, was sie verdächtig macht. Wissenschaftliches Interesse hat die Polemik bisher vor allem in der Literaturwissenschaft auf sich gezogen, und zwar vordringlich in ihren Einzelfallen als Streit zwischen Lessing und Goeze, Menzel und Gutzkow, Kraus und Harden usw., ohne dass es in solchen Untersuchungen nötig wäre, sich intensiver mit den allgemeinen Merkmalen des Polemischen zu beschäftigen. So blieb auch einigermaßen unbestimmt, ob wir es bei der Polemik überhaupt mit einer eigenen Textart zu tun haben oder mit einem Rand- oder Übergangsphänomen zwischen anderen Gattungen. In der Linguistik, die gegenüber dem individualisierenden Blick der Literaturwissenschaft das Interesse stärker auf das Allgemeine richtet, war die Polemik bisher noch weniger Thema, jedenfalls unter diesem Namen. Die Sache taucht, mehr oder weniger prominent, in der Argumentationsanalyse auf, auch in den neueren linguistischen Untersuchungen zum (mündlichen) Streit, ist dort aber - nicht zuletzt als Störfaktor - auch eher Randphänomen, als dass sie um ihrer selbst willen Beachtung fände. Meine eigenen Untersuchungen haben ihren Ausgangspunkt in der negativen Bewertung der polemischen Verhaltensweisen, die unter zwei Blickwinkeln betrachtet werden, die, bildlich gesprochen, die beiden Brennpunkte einer Ellipse bilden. Das eine Ziel ist die Rekonstruktion der kommunikativen Normen, an denen gemessen das Verhalten des Polemikers einer negativen Bewertung verfällt, gewissermaßen also die Explikation der negativen Bewertung, die mit dem Wort Polemik verbunden ist. Um dieser Normen habhaft zu werden, nutze ich die Tatsache, dass polemische Texte generell eine ausgeprägte metakommunikative Komponente aufweisen, in der die gesuchten Normen von den an der polemischen Auseinandersetzung Beteiligten selbst thematisiert werden. Der zweite Untersuchungsstrang sucht eine Antwort auf die Frage, wie eigentlich jemand glauben kann, seine kommunikativen Ziele polemisch, d.h. mit Mitteln erreichen zu können, die allgemein negativ bewertet werden. Es ist die Frage nach den Erfolgsbedingungen des Polemikers, die einfach zu beantworten wäre oder sich gar nicht erst stellte, wenn man Polemik als nicht steuerbaren Ausbruch emotionaler Erregungszustände begreifen könnte, von denen der Polemiker überfallen wird,

3 so dass von Intentionalität in der Verfolgung bestimmter kommunikativer Zwecke ohnehin nicht die Rede sein kann. Doch sind polemische Texte weit davon entfernt, Resultat unbeherrschbarer Gefühle zu sein. Ganz im Gegenteil sind sie oft hochgradig kalkulierte Gebilde, auf bestimmte Leserschaften berechnet, deren Zustimmung der Polemiker zu erringen sucht. Die Frage, wie er die Zustimmung seines Publikums mit Mitteln erreichen kann, die ihn vor diesem Publikum eigentlich diskreditieren müssten, bleibt also bestehen. Für die Beantwortung ist wiederum die polemische Metakommunikation bedeutsam, von der hypothetisch angenommen wird, dass sie als normbezogener Streit über das Streiten für den Polemiker wesentlich die Funktion hat, sich trotz der verwendeten polemischen Mittel vor dem Publikum als normbewusster Streiter zu profilieren und seinen Gegner in dieser Hinsicht in ein schlechtes Licht zu setzen. Wie das im Einzelnen funktionieren soll, bedarf einer genaueren Untersuchung. In der Abfolge der Kapitel beginnt Kapitel 2 nach der Einleitung mit dem Wort Polemik und seiner Geschichte, aus der sich erste Rückschlüsse auf die Entwicklung der Sache bzw. der Einschätzung der Sache ziehen lassen, auch wenn die vorherige Lektüre dieses Kapitels zum Verständnis der folgenden nicht unabdingbar notwendig ist. Kapitel 3 (Polemisches Streiten) versucht, die polemische Schreibart und die zentrale Komponente des Persönlichwerdens in ihren Zielen und wesentlichen Eigenschaften in Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur zu beschreiben, um den Rahmen zu kennzeichnen, in dem die in den Folgekapiteln untersuchte Metakommunikation ihre Funktion erhält. Kapitel 4 (Streiten über das Streiten) beschreibt die Rolle der polemischen Metakommunikation in der Doppeldeutigkeit dieses Ausdrucks als Metakommunikation, die in polemischen Texten vorkommt und mit der der Schreiber zugleich selbst polemische Ziele verfolgt. In Kapitel 5, dem zentralen Teil der Untersuchung, werden in der Analyse eines Korpus metakommunikativer Äußerungen entsprechend der ersten Fragestellung die Normen für das kommunikative Verhalten rekonstruiert, deren Ansprüchen offenbar auch der Polemiker ausgesetzt ist. Zugleich wird im Rahmen der zweiten Fragestellung die Rolle der Metakommunikation in den polemischen Texten als strategisches Mittel genauer beschrieben. In Kapitel 6 werden die zuvor einzeln und nacheinander abgehandelten Normen unter einigen übergreifenden Gesichtspunkten, ihrer Reichweite und ihrer Existenzweise bei den Kommunikationsteilnehmern, systematisch betrachtet. Das Kapitel schließt die Rekonstruktion der Normen ab, während Kapitel 7 die Ergebnisse bezüglich der Frage nach den Erfolgsbedingungen des Polemikers resümiert. Die vorgelegten Studien haben eine recht lange Vorgeschichte, an der in dieser oder jener Form viele Menschen beteiligt waren, die ich nicht vollständig auflisten kann. Besonders hervorgehoben seien Natascha Vollmer (verh. Naujok), LeaRose Engler und Esther Frotscher, die sich als studentische Hilfskräfte vieler Such-, Beschaffungs- und Schreibprobleme angenommen haben, Jörge Koch und Christine Wunnicke, die höchst anregende Studienabschlussarbeiten zum Thema angefertigt haben, und Peter Klein und Ingwer Paul, mit denen ich mehrfach

4 Frühformen der Beschäftigung mit der Polemik auf unseren „DKP"-Sitzungen besprechen konnte. Frau Wunnickes Arbeit verdanke ich die Möglichkeit, die Grenze des Untersuchungszeitraums über das selbst gesammelte Textmaterial hinaus einige Jahrzehnte in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts zu verschieben. Ingwer Paul hat die noch sehr unübersichtliche erste Fassung des Manuskriptes von Anfang bis Ende gelesen und der Überarbeitung den nötigen Schwung gegeben.

Teil I: Polemisches Streiten

2

Polemik. Wort und Begriff im neuzeitlichen Deutsch

2.0

Einleitung

Das Interesse dieser Studien gilt nicht dem Wort Polemik, sondern einer Sache, die in aller Vorläufigkeit mit Strauß u.a. (1989) in folgender Weise beschrieben werden kann: Allgemein charakterisiert man als Polemik eine zwischen Personen gegensätzlicher Auffassung stattfindende Kommunikationsform, bei der ein (Meinungs)Streit oder eine intellektuelle Auseinandersetzung um politische, wissenschaftliche, literarische u.ä. Fragen meist mit publizistischen Mitteln sowie mit scharfen (persönlichen) Angriffen und oft unsachlichen Argumenten auf aggressive Weise ausgetragen wird (295).

Die Entscheidung, den Kapiteln über diese Sache trotzdem eines über das Wort und seine Geschichte voranzustellen, ergibt sich aus den folgenden Überlegungen: (1) Die wissenschaftliche Begriffsbildung und also auch die Bestimmung dessen, was für die Zwecke dieser Untersuchung als Polemik gelten soll, sollte sich nicht ohne Not vom gewöhnlichen Sprachgebrauch entfernen. Verzichtet man aber auf eine reine Festsetzungsdefinition, so setzt das eine Analyse des Gebrauchs voraus, auch wenn es sich im zweiten Schritt als notwendig erweisen sollte, die in der nicht-wissenschaftlichen Sprache bestehenden Vagheiten und das Nebeneinander unterschiedlicher Gebrauchsweisen zugunsten eines ausreichend präzisierten Begriffs zu beseitigen. (2) Polemische Auseinandersetzungen weisen in der Regel eine stark ausgeprägte metakommunikative Komponente auf, in der auch das Wort Polemik und seine Ableitungen in der Kritik am kommunikativen Verhalten des Gegners und der Rechtfertigung des eigenen eine wichtige Rolle spielen. Die historische Wortanalyse vermag sicherzustellen, dass die Ausdrücke so verstanden werden, wie sie vom jeweiligen Schreiber gemeint sind. Sie mindert insbesondere bei der Analyse historischer Texte die Gefahr, dass die heutige Bedeutung des Wortes Polemik und die mit ihm verbundene Bewertung zu Unrecht auch in der Vergangenheit vorausgesetzt werden. (3) Das Studium der Geschichte der Wörter erlaubt oft erste Rückschlüsse auf mögliche Veränderungen in der Sache bzw. in der Einschätzung der Sache. Die (historische) Wortanalyse hat deshalb vor allem in der Hypothesenbildung erkenntnisfördernde Funktion auch fur die (historische) Analyse der Sache.

8 (4) Da die Geschichte des Lexems polem- im Deutschen bisher keinen Bearbeiter gefunden hat und sich auch die neueren Sprachlexika als relativ unergiebig erweisen, kann diesem Kapitel schließlich auch ein gewisser Eigenwert als wortund begriffsgeschichtliche Studie zugeschrieben werden; begriffsgeschichtlich deshalb, weil die Analyse zwar primär an der Ausdrucksseite des Lexems polemansetzt, hin und wieder aber auch in umgekehrter Blickrichtung von bestimmten Inhalten ausgeht und nach den Bezeichnungsalternativen fragt. In der Darstellung beschränke ich mich im wesentlichen auf den Sprachgebrauch in Deutschland vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart und gliedere nach unterschiedlichen Gebrauchsvarianten, die in der Reihenfolge ihres historischen Auftretens zunächst getrennt dokumentiert werden, soweit dies angesichts der engen Beziehungen, in denen sie miteinander stehen, möglich ist. Der gegenwärtige Sprachgebrauch wird abschließend synchron im Querschnitt dargestellt.

2.1

Polemos

,Krieg'

Die erste Bedeutungsvariante ist bekanntermaßen rückführbar auf griech. polemos (.Krieg', ,Schlacht', , K a m p f ) bzw. auf das von diesem Wort abgeleitete polemikos (,kriegerisch', .feindlich gesinnt', ,den Krieg betreffend') und liegt in einer Reihe deutscher Fremdwörter, mehrheitlich Komposita, vor, in denen die ursprüngliche Bedeutung .Krieg' bewahrt ist. Einige dieser Bildungen dürften vermittelt über die lateinische Wissenschaftssprache ins Deutsche gekommen sein, andere scheinen Neubildungen erst des 18. und 19. Jahrhunderts zu sein. Was fur das Lexem insgesamt gilt, trifft auf diese Variante besonders zu: Man begegnet ihr am ehesten in fach- oder bildungssprachlichen Kontexten. Die allgemeinsprachlichen Wörterbücher des 18. und frühen 19. Jahrhunderts enthalten mehrheitlich keine Belege fur die Bedeutung ,Krieg'. Fündig wird man eher in den Reallexika. Von diesen verzeichnet Zedlers Universal-Lexikon (1732-1754, Bd. 28, 1077) Polemarchus als Bezeichnung für den ,OberAufseher in Kriegs-Sachen' in Athen. Zu den bekannteren Wortbildungen im 18. Jahrhundert dürfte Polemoskop als Bezeichnung fur das im zeitgenössischen Kriegswesen bedeutsame ,Kriegsperspektiv', ein Spiegel-Fernrohr, gehört haben. Man findet das Gerät unter dem lateinischen Stichwort Polemoskopium z.B. im Natur-Kunst-Berg-Gewerckund Handlungs-Lexicon von Hübner ( 7 1736) beschrieben. Eine Gelegenheitsbildung scheint Polemokratie in den Sudelbüchern Lichtenbergs zu sein, in die er um 1790 schreibt: Wenn ein Krieg 20 Jahre gedauert hat, so kann er wohl 100 dauern. Denn der Krieg wird nun ein Status. Polemokratie. Die Menschen die den Frieden geschmeckt haben sterben weg (Lichtenberg 5 1994,1, 819).

Ergiebiger sind die Fremdwörterbücher des 19. Jahrhunderts und die allgemeinsprachlichen Wörterbücher der zweiten Hälfte eben dieses Jahrhunderts, die eine

9 wechselnde Mehrzahl von Ausdrücken auffuhren, die polem- in der Bedeutung .Krieg' enthalten. Am vollständigsten ist Sanders (1871) mit neun Lemmata: Polemarch (,Kriegsführer'), Polemarchos (,Kriegsminister'), Polemarchie (,Amt des Polemarchen'), Polemograph (,Kriegsbeschreiber'), Polemographie (,Kriegsbeschreibung'), Polemographik (,Kunst derselben'),polemographisch (,daraufbezüglich'), Polemos (,Krieg'), Polemoskop (,Kriegsperspektiv'). Heyse (1894) gibt zusätzlich sogar für Polemik an erster Stelle die Bedeutung .Kriegskunst' an, doch mag das einem fragwürdigen Hang zum Etymologisieren geschuldet sein. Von dieser Wortgruppe findet man in der Gegenwart, abgesehen von speziellen historiographischen Kontexten, kaum mehr eine Spur. Dennoch ist ihre Existenz für die Geschichte der übertragenen Bedeutungen nicht ganz unerheblich; nicht nur weil die Metaphorisierung in der Bedeutung , Krieg' historisch ihren Ausgangspunkt hatte, sondern weil die Wortgruppe dazu beigetragen haben dürfte, dass der Ursprung bis heute - „metaphors we live by" (Lakoff/Johnson 1980) - wachgehalten worden ist. Dass der Waffenkrieg und bestimmte Ausprägungen des Meinungsstreites als verwandte Phänomene begriffen werden, ja dass das zweite als spezielle Form des ersten empfunden werden kann, drückt nicht nur eine Wortbildung wie Federkrieg aus, sondern vor allem das reichhaltige militärische Vokabular in allem Reden und Schreiben über die Polemik. Stellvertretend sei das Szenar skizziert, das Goethe und Schiller 1795/1796 in ihren Briefen über das Horen-Projekt und insbesondere über den Xenien-Streit entwerfen: Der Kontrahent ist Gegner oder Feind; der Krieg wird eröffnet nach der Kriegs-Erklärung; es gibt Völker, die man kommandiert und ausrücken läßt; sie treffen sich auf dem Kampfplatz oder dem Fechtplatz; man schlägt los, fuhrt einen Angriff, es kommt zum Gefecht-, man verfolgt den Gegner bis in seine letzte Festung hinein; mancher kommt mit einem kleinen Streifschuß davon, wenige aber gibt es, die gänzlich unverwundet aus dem Treffen kommen (GoetheSchiller 1961).

2.2

Polemik ,Kunst bzw. Praxis der Widerlegung'

Die Übertragung des Wortes von der körperlichen Auseinandersetzung in der organisierten Form des Krieges auf den Federkrieg vollzog sich historisch in mehreren Schritten. Sie hatte ihren Anfang in der sogenannten polemischen Theologie, wurde jedoch bald auf wissenschaftliche, später auch auf nicht-wissenschaftliche Streitfalle erweitert. Das Wort bezeichnet zunächst, verbunden mit einer deutlich positiven Bewertung, eine .Disziplin, Lehre oder Kunst des richtigen (theologischen oder wissenschaftlichen) Widerlegens und Streitens'. Erst allmählich bekam es auch die Funktion, die praktische Tätigkeit zu bezeichnen, die dann, je nachdem ob sie der Lehre entsprach oder nicht, positiv oder negativ bewertet werden konnte. In dieser Verwendung blieb der Begriff selbst wertneutral.

10 2.2.1

Polemica theologica ,Lehre von der theologischen Widerlegung'

Vor der Vorstellung der Wortbelege zunächst eine Beschreibung der Geschichte der Sache, wie sie rückblickend in der 14. Auflage des Brockhaus (1895, Bd. 13, 227) unter dem Stichwort Polemik zu finden ist: In der Theologie bezeichnet P., auch elenchthische Theologie (Streittheologie) genannt, die Bekämpfung der dogmatischen Anschauungen anderer christl. Konfessionen, im Unterschiede von der Apologetik (s. Apologie), die es mit der Verteidigung der christl. Wahrheit gegen Nicht-Christen, Juden, Heiden, Materialisten u.s.w. zu thun hat. In ihrer Blütezeit, dem 16. und 17. Jahrh., bildete die Polemik einen Hauptteil der theol. Wissenschaften. Nachdem der P. von Anfang an die Irenik (Friedenslehre) zur Seite getreten war, machte sie seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrh. einer mehr wissenschaftlich ruhigen Darstellung des Gemeinsamen und Unterscheidenden der einzelnen christl. Konfessionen, der Symbolik (s.d.) Platz. Doch ist in neuester Zeit infolge des wieder verschärften Gegensatzes von Protestantismus und Katholicismus auch die theologische P. wieder in den Vordergrund getreten. 1

Die Blütezeit der Polemik als „Hauptteil der theologischen Wissenschaften", das Zeitalter von Reformation und Gegenreformation, ist zugleich auch die Zeit, in der das Substantiv Polemik und das Adjektiv polemisch erstmals eine übertragene Bedeutung erhielten und dann vorzugsweise in theologischen Zusammenhängen verwendet wurden. Der Ursprung der neuen Bedeutung liegt im Französichen in den Jahrzehnten um 1600. Saner (1989, 1031) nennt als Erstbeleg für das Adjektiv 1578. Das Substantiv Polemicque findet man z.B. 1616 bei Aggrippa d'Aubigne, einem französischen Hugenotten, der selbst ein streitbarer Polemiker war, das Adjektiv („livres polemicques") beim gleichen Autor 1630.2 Die von SchulzBasler (1942) genannten Erstbelege im Deutschen liegen etwa hundert Jahre später. Für lat. polemicus geben sie ein Zitat von 1709 (,wenn pro und contra gestritten und disputiret wird, z.E. ein Collegium polemicum halten'). Als Erstbeleg für dt. polemisch nennen sie ebenfalls 1709, fur Polemik 1710 („Ein bloßer Theologus ist noch besser, wann er sich nicht in der Polemic vertieftet"). Die Zeugnisse aus dem 18. Jahrhundert legen nahe, dass das Nebeneinander von Polemik im Sinne einer theologischen Lehre und als Bezeichnung für die wissenschaftliche Widerlegungskunst allgemein im Deutschen von Anfang an bestand. Das wird von Zedlers Universal-Lexicon bestätigt, das neben dem erwähnten Artikel zur „Polemischen Theologie" eine Reihe weiterer Artikel enthält, deren Stichwörter das Adjektiv polemisch aufweisen und in denen Lehrsätze der Widerlegungskunst und aus ihnen ableitbare Verhaltensweisen ohne erkenn-

2

Einen umfänglichen Artikel zur „polemischen Theologie" enthält Zedlers UniversalLexicon (Bd. 28, 1079-1100); ungefähr zeitgleich erschien das mehrbändige Werk von Walch (1733-1739) über die Religionsstreitigkeiten. Neuere Darstellungen zur Sache findet man in den bekannten theologischen Lexika und Handbüchern unter Polemik oder Kontroverstheologie. Genaueres zur frühen Wortgeschichte im Französischen bei Zweifel 1965 oder Wartburg 1959, Bd. 9, 125.

11 bare Einschränkung auf die Theologie beschrieben werden. Dennoch ist es gerechtfertigt, Polemik im theologischen Sinne den Status einer besonderen Gebrauchsvariante zuzubilligen, weil der Ausdruck bis ins 19. Jahrhundert, in der Theologie sogar bis ins 20. Jahrhundert, von vielen vorzugsweise, von manchen sogar ausschließlich als ,theologische Polemik' verstanden wurde, und weil die theologiesprachliche Geltung des Wortes relativ unbeeinflusst von der sonstigen Wortgeschichte, inbesondere von der Pejorisierung, bis in die Gegenwart präsent bleibt. Die letzte Behauptung mag auf Widerspruch stoßen, wenn man bemerkt, dass auch der Status der theologischen Lehre und ihr Wert mindestens seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hochgradig umstritten war. Das ergibt sich aus dem Eingangszitat aus dem Brockhaus (s.o.), aber auch schon aus zeitgenössischen Quellen. So wird die Polemik in Klopstocks Die deutsche Gelehrtenrepublik (Klopstock [1774] 1975) im Kapitel „Geschichte des lezten Landtages" als theologische Wissenschaft grundsätzlich in Zweifel gezogen: Es ist sonderlich genung, sagte er [der Vertreter der Zunft der Gottesgelehrten], daß wir es gewesen sind, welche die Polemik zu einer Wissenschaft erhoben haben; da wir es allein nicht hätten thun sollen, wenn es auch alle übrigen Zünfte gethan hätten. Ich will mich jezo dabey nicht aufhalten, daß es außerdem auch lächerlich war, die Behauptung seiner Meinung gegen Andre in eine Wissenschaft zu verwandeln. [...] Ich wende mich hierdurch auf Befehl meiner Zunft an die Republik mit dem Ansuchen, die Polemik aus der Zahl der Wissenschaften auszuschließen (166f.).

Diese Pejorisierung ist nicht die, von der in Kapitel 2.2.3 die Rede sein wird. Die spätere negative Konnotation des Ausdrucks Polemik und seiner Ableitungen beruht darauf, dass sich die begriffliche Bedeutung zunehmend zu unsachlichpersönlicher Angriff auf den Gegner' verschiebt, dass das Wort also nicht mehr die Lehre, sondern eine von der Lehre gerade abweichende schlechte Praxis bezeichnet. Das ist bei Klopstock nicht der Fall. Es ist die Lehre selbst, die im Zeitalter der Aufklärung, das in relativistischer Haltung die Glaubenswahrheiten nur noch als Meinungen gelten ließ, in Mißkredit geriet. Wird im Streit über den zitierten Antrag auf Ausschluß der theologischen Polemik aus der Zahl der Wissenschaften bei Klopstock wenigstens noch eine andere Polemik, nämlich die literarische erwähnt („die beyden Schwestern", 167), so gibt es noch am Anfang des 19. Jahrhunderts einige Lexikographen, die ihre Bedeutungsangaben ganz auf die Theologie beschränken.3 Campe (1813) gibt zwar unter Polemic allgemein ,Streitlehre' an; bei Polemiker aber heißt es wieder spezifiziert: ,ein Streitlehrer, der Glaubensstreiter oder Verfechter'. Ähnlich verfahrt Heinsius (1830), und noch am Ende des 19. Jahrhunderts findet man bei Heyse (1894), der Polemik und polemisch ganz ohne Bezug auf die Religion

„Glaubensstreitlehre, derj. Theil der Religionswissenschaft, welcher die Lehren der entgegengesezten Religionsparteien abhandelt u. widerlegt" (Oertel 1804, Art. Polemik)·, „Streittheologie, Lehre von den Streitigkeiten in Glaubenssachen" (Heuberger 1818, Art. Polemik).

12 erklärt, bei Polemiker den Zusatz ,bes. Glaubensstreiter'. Vorherrschende Tendenz der Lexika im 19. Jahrhundert ist freilich, die Lehre oder Kunst des Streits zwar nicht ganz unspezifiziert zu lassen, die Einschränkung auf den theologischen Bereich aber durch die auf den „gelehrten" oder „wissenschaftlichen" zu ersetzen. Innerhalb der Theologie bekam die Diskussion im 19. Jahrhundert neue Impulse durch Schleiermachers Kurze Darstellung des theologischen Studiums (Schleiermacher 1993), die nach der Erstveröffentlichung 1811 in zweiter Auflage 1830 erschien. Dort ist die Polemik unter diesem Wort wiederum als eine theologische Teildisziplin konzipiert, die zusammen mit der Apologetik die philosophische Theologie konstituiert, welche ihrerseits mit der historischen und der praktischen Theologie das Insgesamt der theologischen Wissenschaft bildet. Apologetik und Polemik haben die beiden Grundprobleme der philosophischen Theologie zur Aufgabe, nämlich „Bestimmung des Wesens des Christentums (Apologetik) und Kritik seiner empirischen Trübungen (Polemik)" (XLIII).4 Von der allgemeinen Polemik heißt es in der ersten Auflage: Die Prinzipien der Polemik gehören zur philosophischen Theologie als ihre negative Seite, als die Auffindung und Anerkennung dessen, was in der Erscheinung des Christentums seiner Idee nicht entspricht (23, Anm. 2). 5

Eine Abweichung von der Tradition besteht darin, dass Schleiermachers Polemik ihre Richtung „durchaus nach innen" nimmt (18); d.h. dass sie die „krankhaften Abweichungen" in der eigenen Gemeinschaft zum Gegenstand hat und nicht nach außen den religiösen Gegner bekämpft. Dass Schleiermacher sich dieser Abweichung bewusst ist, zeigt die sprachreflexive Erläuterung in § 41: Die weit gewöhnlicher so genannte, nach außen gekehrte besondere Polemik der Protestanten, z.B. gegen die Katholiken, und ebenso die allgemeine der Christen gegen die Juden oder die Deisten oder Atheisten, ist ebenfalls eine im weiteren Sinne des Wortes klerikalische Ausübung, welche einerseits mit unserer Disziplin nichts gemein hat, andererseits auch schwerlich von einer wohl bearbeiteten praktischen Theologie als heilsam dürfte anerkannt werden (18).

Die Bedeutung ,theologische Widerlegung' findet man im 19. und 20. Jahrhundert gelegentlich auch noch außerhalb der theologischen Fachdiskussion.6 Es 4

5

6

Für beide Disziplinen wird im „Ersten Teil" (§ 32-68) eine allgemeine und eine besondere Ausprägung unterschieden: Untersucht die allgemeine Apologetik das „eigentümliche Wesen des Christentums", so die besondere das „Wesen des Protestantismus", entsprechend die allgemeine Polemik die „empirischen Trübungen" bzw. „krankhaften Abweichungen" von der Idee des Christentums, die besondere Polemik die von der Idee des Protestantismus (16f.). Ihr Auftrag lautet in § 60 der 2. Auflage: „Was als krankhaft aufgestellt wird, davon muß nachgewiesen werden, teils seinem Inhalte nach, daß es dem Wesen des Christentums, wie sich dieses in Lehre und Verfassung ausgedrückt hat, widerspricht oder es auflöst, teils seiner Entstehung nach, daß es nicht mit der von den Grundtatsachen des Christentums ausgehenden Entwicklungsweise zusammenhängt" (26). Zum Beleg zwei jungdeutsche Zeugnisse: „Die Glaubensstreitigkeiten, die theologische Polemik, die Gegenüberstellung der verschiedenen Lehrsätze schärften die Fähigkeit,

13 wird aber immer schwieriger, mit dem Wort eine positive Bewertung zu vermitteln. So gibt sich der Artikelschreiber in der Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche ( 3 1904) alle Mühe, den theologischen Begriff gegen den inzwischen gewandelten bildungssprachlichen Gebrauch des Ausdrucks Polemik zu retten: Inhalt der theologischen Polemik ist also nur der mit Gründen geführte, d.i. wissenschaftliche, Streit gegen irrtümliche Beurteilung und Behandlung des Christentums auf seinen verschiedenen Lebensgebieten zum Zwecke der Verteidigung der Position deijenigen Gemeinschaft, welcher der Polemiker selbst angehört (Bd. 15, Art. Polemik).

So ungefähr stand es schon in Zedlers Lexikon von 1741; nur waren damals Missverständnisse nicht zu befürchten, weil es einen Gebrauch des Wortes Polemik mit abwertender Konnotation noch nicht gab. Heute hat sich dieser so weit in den Vordergrund geschoben, dass der Artikelschreiber in der Realencyklopädie Sorge tragen muß, nicht missverstanden zu werden, und dass' es ratsam ist, den Ausdruck Polemik als Bezeichnung fur die polemische Theologie zu vermeiden und, wie sich zunehmend eingebürgert hat, stattdessen von Kontroverstheologie zu sprechen.

2.2.2

Polemik

,Kunst bzw. Praxis der wissenschaftlichen und

publizistischen Widerlegung' 2.2.2.1

Positiv wertender oder wertneutraler Gebrauch

Der schon mehrfach erwähnte erweiterte Gebrauch des Wortes für die ,Lehre oder Kunst der wissenschaftlichen Widerlegung allgemein' lässt sich ebenfalls von der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart verfolgen, allerdings mit zwei Verschiebungen: (1) Die Bindung an die Wissenschaft lockert sich mit der Zeit zugunsten der Anwendung auf Auseinandersetzungen in allen möglichen Kommunikationsbereichen und insbesondere in der Publizistik. (2) Hatte das Wort als Bezeichnung der Lehre des richtigen Widerlegens zunächst wie in der Theologie eine positive Konnotation, so wurde es durch die zunehmende Anwendung auf die Praxis zu einem wertneutralen Begriff, der durch entsprechende Kontextelemente eine gute und eine schlechte Ausprägung polemischen Streitens zu unterscheiden erlaubte. Für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts beziehe ich mich auch für diese Bedeutungsvariante auf das Zedlersche Lexikon, das in Band 28 sieben einschlägige Stichwörter enthält: Polemicum Consectarium, Polemische Demonstration, Poleden Gedanken zu entwickeln und in der Sprache hinundherzuwenden" (Mündt [1837] 1969, 265). - „Unterhaltungen über dies Allgemeinsame - Natur, Geschichte, Menschenleben, Kunst, Geselligkeit, Erziehung, allgemeine Bedingungen unsers Daseins sind der Zweck dieser Blätter, die Politik, kirchliche Polemik und streng-wissenschaftliche Kritik von ihrer Aufgabe ausschließen" (Gutzkow, zit. Homberg 1975, 159).

14 mische

Ingenia,

Polemische

in B d . 2 0 ) , Polemische

Methode

Schreibart,

( m i t V e r w e i s a u f Methode Polemische

Schriften.

[Widerlegungs-]

Der Charakter der be-

zeichneten Argumentations- und Beweistheorie zur Widerlegung

gegnerischer

Auffassungen wird - ohne erkennbare Einschränkung oder auch nur Betonung der Theologie - a m deutlichsten im Artikel über die M e t h o d e der Widerlegung: Methodus polemica oder elenctica, ist der Vortrag einer Wahrheit, da dieselbe wider ihre Feinde gerettet wird. Solchemnach erfordert dieselbe, daß 1) die Feinde namhaffit gemachet werden, 2) ihre Argumente aus richtigen Quellen aufrichtig angeführet, derselben anscheinende Krafft entdecket und auf das höchste getrieben werden; endlich aber 3) dieselben mit tüchtigen Gründen widerleget werden. Dabey aber hat man mit allem Fleisse dahin zu sehen, daß man nicht den Zanck-Geist herrschen, und ihm die Direction der Feder überlasse: gleichwie man auch dahin zu sehen hat, daß man nicht mit denen Personen, sondern mit denen Sachen selbst zu thun habe (Bd. 20, 1337). Die W a r n u n g e n vor dem „Zanck-Geist" u n d d e m Persönlichwerden7 zeigen, dass die Praxis schon damals der schönen Lehre nicht entsprochen hat - kein Wunder, w e n n d i e W a h r h e i t g e g e n G e g n e r gerettet w e r d e n m u s s , d i e als Feinde w e r d e n . N o c h a b e r b e z e i c h n e t Polemik

die Lehre des richtigen

begriffen

Widerlegens,

n i c h t F o r m e n d e r A b w e i c h u n g v o n ihr. D a s b e s t ä t i g t d e r A r t i k e l ü b e r d e n d e r M e t h o d e e n t s p r e c h e n d e n Stil: Polemische Schreibart, Stylus Polemicus, ist diejenige Schreibart, darinnen man einen andern zu widerlegen bemühet ist. Weil er mit einer etwas unangenehmen Sache zu thun hat, so beobachtet er sonderlich die galante Schreibart, und einigermassen den Stylum Dogmaticum, bekümmert sich im übrigen mehr um den deutlichen und adäquaten Ausdruck, um die rechte Fürstellung seiner Meynung, und der Gründe, darauf selbige beruhet, ingleichen um den rechten Begriff von des Gegners Meynung und seinen Gründen, als um die übrigen Zierrathen des Styli, vermeidet also das satyrische Wesen, und den Pracht der Troporum und Figuren. Fabricii Philosoph. Oratorie p. 352 (Bd. 28, 1079). R e l a t i v s i c h e r e s I n d i z f ü r d a s V o r l i e g e n d i e s e r G e b r a u c h s v a r i a n t e ist das A u f t r e t e n d e r A u s d r ü c k e ( w i s s e n s c h a f t l i c h e ) Lehre

o d e r Kunst

in d e r B e s c h r e i b u n g d e s

G e m e i n t e n in d e n W ö r t e r b ü c h e r n d e s 18. u n d 19. J a h r h u n d e r t s , die, w e n n sie sich n i c h t o h n e h i n a u f die T h e o l o g i e b e s c h r ä n k e n (vgl. K a p i t e l 2 . 2 . 1 ) , m e i s t d e n n i c h t - p e j o r a t i v e n G e b r a u c h als v o r h e r r s c h e n d e n o d e r e i n z i g e n a n g e b e n . 8 P o s i t i v w e r t e n d e r o d e r w e r t n e u t r a l e r G e b r a u c h liegt f e r n e r i m m e r d a n n v o r , w e n n mik o d e r polemisch

8

Pole-

als T e x t t y p b e z e i c h n u n g e n f ü r d i e e i g e n e T ä t i g k e i t b z w d a s

Siehe dazu auch den Artikel Personalien tractiren in Bd. 17, 675. Entsprechende Einträge findet man z.B. bei Sanders (1871 u. 1876), Petri (ca. 1880) und im Grimmschen Wörterbuch, wo es im siebten Band von 1889 heißt: „wissenschaftliches Wortgefecht und die kunst desselben". Noch das Wörterbuch der deutschen Gegenwartsprache (1974) gibt - mit dem Zusatz: „der meist publizistisch ausgetragen wird" und der Ergänzung: „literarische Fehde" - als Hauptbedeutung wissenschaftlicher Streit' an, und im enzyklopädischen dtv-Lexikon von 1968 steht unter Polemik: wissenschaftlicher Meinungsstreit, gelehrte Fehde; Streitkunst; in der Theologie: die Bekämpfung dogmat. Anschauungen anderer christlicher Konfessionen', als hätte sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts nicht viel geändert.

15 Produkt dieser Tätigkeit in Titeln oder Untertiteln von Veröffentlichungen erscheinen, z.B. bei Goethe (31960, Bd. 13, 524), der in seiner Schrift Zur Farbenlehre 1810 einen historischen, einen didaktischen und einen polemischen Teil unterscheidet, bei Karl Riedel (Polemische Erörterungen auf dem Gebiete der Kunst und Literatur. Nürnberg 1836) oder Arnold Rüge (Polemische Briefe. Mannheim 1846). Auch im 20. Jahrhundert ist dieser Gebrauch vor allem im Feuilleton9 weit verbreitet.10

2.2.2.2

Die Kunst der Widerlegung im Widerstreit der Meinungen

Es gibt, anders als in den zuletzt aufgeführten Beispielen, bei denen der Schreiber das mit dem Wort Polemik Bezeichnete positiv bewertet, seit dem 18. Jahrhundert nicht selten Texte, die eindeutig eine abwertende Aussage über das enthalten, was Polemik genannt wird, ohne dass man die Bedeutung unsachlichpersönlicher Angriff auf den Gegner', die in Kapitel 2.2.3 behandelt wird, unterstellen dürfte. Mit Polemik werden nämlich in diesen Fällen nicht bestimmte negative Ausprägungen des Streitens, nicht Abweichungen von der Kunst des Widerlegens bezeichnet, sondern diese Kunst selbst wird, bezogen auf einen Einzelfall oder generalisierend, in ihrem Wert in Zweifel gezogen. Hintergrund der folgenden Textbeispiele aus den Jahrzehnten um 1800 ist eine lebhafte zeitgenössische kontroverse Diskussion über Sinn und Wert des Streitens, in dem die Einschätzung der Sache, nicht der Gebrauch der Ausdrücke umstritten ist. 9

10

Im Titel von Sammlungen (z.B. Paul Rilla: Literatur. Kritik und Polemik. Berlin 1950; Rudolf Walter Leonhardt: Zeitnotizen. Kritik, Polemik, Feuilleton. München 1963) oder in den Überschriften einzelner Zeitungs- und Zeitschriftenaufsätze (z.B. Bolwin 1988, Henscheid 1990, Muschter 1991, Naumann 1998, Schwind 1998a. Ich schließe unkommentiert einige Textbelege vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart an, in denen Polemik Formen der wissenschaftlichen oder publizistischen Auseinandersetzung bezeichnet, die wir uns augenscheinlich ohne irgendeine negative Bewertung vorstellen sollen: „Fühltest Du Dich der Recension philosophisch-polemischer Schriften gewachsen, so würde das Institut [d.i. die Jenaer Allgemeine Literaturzeitung] sich sehr darüber Glück wünschen" (Friedrich Schiller 1789 an Christian Gottfried Körner, in: Schiller 1969, I, 824). - „[...] mithin liegt die größte Stärke des Skeptizismus in der Anwendung auf andere Systeme, in der Polemik. Kurz, es ist der Natur des Skeptizismus durchaus angemessener, sich auf die positiven Meinungen und Systeme anderer zu richten, dieselben zu bestreiten und zu bekämpfen, als die Konstruktion eines eigenen zu versuchen" (Friedrich Schlegel 1804/1964, Bd. 12, 129). - „Der Mühe aber, der sich P[ott] in ernster, gründlicher Polemik unterzogen, sind wir hinfort überhoben" (Georg von der Gabelentz 1888, in: Christmann 1977, 297). - „Es wäre die Pflicht eines sachlichen polemischen Schrifttums, Kritik und Angriffe wieder in Sphären zu heben, in denen man nicht mehr mit einstweiligen Verfugungen und Verboten, mit Prozessen und Schmähbriefen arbeitet, sondern in denen man mit Lust und Liebe, mit Leidenschaft und Hingabe zur Sache einen Streitfall debattiert und klärt" (Nürnberg 1930). - „Vor uns liegt eine neue große Welt des geistigen Kampfes [...], beschwingt von dem Ethos wahrer Polemik, die nicht mehr sophistisch übertölpeln, sondern gemeinschaftlich das Wahre finden will" (Karl Jaspers 1962, zit. in: Strauß u.a. 1989, 297).

16 In Klopstocks Die deutsche Gelehrtenrepublik, die mit ähnlicher Zielrichtung schon in Kapitel 2.2.1 zitiert wurde, wird im Abschnitt „Von Streitschriften" verfügt: Wird ein Streitender ertapt, daß er unter seinem Schreibzeuge Knüttel oder Keule verstekt liegen habe, so wird er auf ein Jahr Landes verwiesen.

Aber - und das ist der entscheidende Punkt - auch Streitschriften ohne Knüttel oder Keule verfallen einer, wenn auch milderen Bestrafung, die einzig und allein im Falle der Notwehr erlassen wird: Wenn der Fall der Nothwehr, welcher durch hundert gute Männer und Einen bestätigt werden muß, nicht vorhanden gewesen ist, so wird's an dem Angreifer und dem Vertheidiger durch dreymal wiederholtes Hohngelächter gerügt, weil unter den Altfranken, vornehmen und geringen, viel Lachens über den Streit gewesen ist (Klopstock 1975, 26f.).

Gegen eine solche Geringschätzung des Streitens rebelliert Lessing schon einige Jahre zuvor in eigener Sache, aber auch aus Überzeugung, in seiner Vorrede zu Wie die Alten den Tod gebildet: Nicht zwar, als ob ich unser itziges Publicum gegen alles, was Streitschrift heißt und ihr ähnlich siehet, nicht für ein wenig allzu eckel hielte. Es scheinet vergessen zu wollen, daß es die Aufklärung so mancher wichtigen Punkte dem bloßen Widerspruche zu danken hat, und daß die Menschen noch über nichts in der Welt einig seyn würden, wenn sie noch über nichts in der Welt gezankt hätten. „Gezankt", denn so nennet die Artigkeit alles Streiten: und Zanken ist etwas so unmanierliches geworden, daß man sich weit weniger schämen darf, zu hassen und zu verleumden, als zu zanken. Bestünde indeß der größere Theil des Publici, das von keinen Streitschriften wissen will, etwa aus Schriftstellern selbst: so dürfte es wohl nicht die bloße Politesse seyn, die den polemischen Ton nicht dulden will. Er ist der Eigenliebe und dem Selbstdünkel so unbehaglich! (1769/ 3 1895, Bd. 11,3).

Was charakterisiert in den Augen Lessings den „polemischen Ton"? Es handelt sich nicht um problematische Spielarten des Streitens im Sinne von Kapitel 2.2.3, nicht um den Gebrauch von „Knüttel oder Keule", sondern um den Ton des Widersprechens überhaupt. Dieser hat nichts mit Hass oder Verleumdung zu tun und wäre als Angriff auf die Person mißverstanden; denn vom Polemiker heißt es ganz im Sinne der alten Bedeutung eine Seite weiter: „Er lasse sich auf die Sache ein, und schweige von den Personen" (ebd., 4). Es ist auch nicht der Ton des Zankens, denn diesen Ausdruck verwendet Lessing ja nur zitierend von Leuten, die zu Unrecht jeden Streit als Zank ansehen. Eine andere Auffassung in der Einschätzung des Streitens, aber den gleichen Wortgebrauch findet man bei Wieland in einer Bemerkung aus dem Jahre 1790: Aber da öffentliche Erörterungen dieser Art so leicht persönlich werden und von diesem Augenblick an aufhören, das Wahre allein zum Gegenstande zu haben, so bitte ich hier bloß um Erlaubnis, meine Meinung mit meinen Gründen ohne polemische Rücksicht auf andere so gelassen und unbefangen vorzutragen, als ich glaube, daß man sein muß, wenn es darum zu tun ist, in einer so vielseitigen, so verwickelten und, [...] noch mit so viel Dunkelheit umfangenen Sache die bloße Wahrheit zu suchen (Wieland [1790] 1969, 198).

17 Wenn Wieland schreibt, er wolle seine Meinung „ohne polemische Rücksicht auf andere" vortragen, dann sagt er nicht, er wolle auf persönliche Angriffe oder andere problematische Aspekte der Widerlegung verzichten, sondern dass er davon Abstand nehmen will, sich überhaupt widerlegend auf andere zu beziehen, weil „öffentliche Erörterungen dieser Art so leicht persönlich werden". Als letztes Beispiel beziehe ich mich noch einmal auf Goethes Wortgebrauch im Zusammenhang der Farbenlehre. In der Selbstanzeige des Werkes im Morgenblatt für gebildete Stände im Juni 1810 unterscheidet Goethe drei Teile seines Buches und nennt sie „didaktischer", „polemischer" und „historischer" Teil. Inhalt und Ziel des polemischen Teils beschreibt er dann, ohne das Wort polemisch an dieser Stelle zu wiederholen, im „Vorwort" der Erstausgabe von 1810: Im zweiten Teil beschäftigen wir uns mit der Enthüllung der Newtonschen Theorie, welche einer freien Ansicht der Farbenerscheinungen bisher mit Gewalt und Ansehen entgegengestanden; wir bestreiten eine Hypothese, die, ob sie gleich nicht mehr brauchbar gefunden wird, doch noch immer eine herkömmliche Achtung unter den Menschen behält. [...] Da aber der zweite Teil unseres Werkes seinem Inhalte nach trocken, der Ausführung nach vielleicht zu heftig und leidenschaftlich scheinen möchte, so erlaube man uns hier ein heiteres Gleichnis, um jenen ernsteren Stoff vorzubereiten und jene lebhafte Behandlung einigermaßen zu entschuldigen (Goethe 1960, Bd. 13, 317).

Welche Eigenschaften des zweiten Teils sind es, die Goethe veranlassen, ihn polemisch zu nennen? Unterstellt man die ältere Bedeutung des Wortes, so nennt er diesen Teil polemisch, weil er sich in ihm mit anderen Auffassungen kritisch auseinandersetzt, weil er widerlegend ist. Dass diese Widerlegung „vielleicht zu heftig und leidenschaftlich" geraten ist, ist zwar auch wahr, ist aber um 1800 nicht etwas, was schon mit dem Wort polemisch ausgedrückt wäre. 21 Jahre später spielt der „polemische Teil" in den Überlegungen für eine eventuelle zweite Auflage der Schrift noch einmal eine Rolle. Eckermann notiert unter dem Datum des 15. Mai 1831 die Anregung und Erlaubnis Goethes, bei einer eventuell notwendigen Kürzung den polemischen Teil ganz wegzulassen und fahrt, Goethe zitierend, fort: Ich desavouire meine etwas scharfe Zergliederung der Newtonschen Sätze zwar keineswegs, sie war zu ihrer Zeit notwendig und wird auch in der Folge ihren Wert behalten; allein im Grunde ist alles polemische Wirken gegen meine eigentliche Natur, und ich habe daran wenig Freude (Goethe 1960, Bd. 13, 627).

Mit der „scharfen Zergliederung" nimmt Goethe die Adverbien heftig und leidenschaftlich wieder auf. Was aber seiner Natur widerspricht, ist etwas Grundsätzlicheres, nämlich seine Gedanken ex negativo über die Kritik abweichender Auffassungen, also widerlegend, zu entwickeln. Die - in der Selbsteinschätzung eher irenische Natur distanziert sich mit dem Wort Polemik wiederum nicht nur von einer bestimmten (negativen) Ausprägung der Widerlegungsmethode, sondern von dieser selbst.

18 2.2.3

Polemik

,Unsachlich-persönlicher Angriff auf den Gegner'

Die in Kapitel 2.2.2 behandelte Gebrauchsweise des Wortes Polemik war zu Beginn ihres Auftretens im Deutschen generell mit einer positiven Bewertung verbunden und stand zunächst nur zur Bezeichnung der Lehre fur den widerlegenden Streit, zunehmend dann auch fur die der Lehre entsprechende Tätigkeit zur Verfugung. Jemand, der sich streitend nicht den Regeln fugte, betrieb folglich nicht Polemik, sondern etwas anderes, wofür ein anderer Ausdruck zu wählen war, der im Gegensatz zu Polemik Kritik implizierte. Das Reservoir solcher Ausdrücke war groß. Vier Stichproben aus unterschiedlichen Epochen ergeben das folgende Bild: (1) In den von Traitler (1989) untersuchten 93 Flugschriften katholischer und protestantischer Kontroverspublizisten aus Süddeutschland und Österreich zwischen 1564 und 1612, die die Verfasserin unter dem Begriff „interkonfessionelle Flugschriftenpolemik" zusammenfasst, werden in den Titeln eine Vielzahl von Ausdrücken fur die eigene bzw. die gegnerische Schrift verwendet. Die negative Charakterisierung der gegnerischen Schrift geschieht oft durch Verwendung eines neutralen Substantivs in Kombination mit einem wertenden Attribut, z.T. aber auch mit substantivischen Ausdrücken, die selbst negativ konnotiert sind. Zu ihnen gehören: Claggeschray, Geyferung, Lästercharten, Laster Klag, Lästerung, Luge, Mährle, Schmachschrift, Schmähung, Schwätzerey. (2) In einer Sammlung von Artikeln aus deutschen Zeitungen zwischen 1788 und 1793 über die Ereignisse während der französischen Revolution (Buchner 1913) findet man in vergleichbarer Funktion u.a. die folgenden text- bzw. diskurstypbezeichnenden Ausdrücke: Gezänk, Pamphlet, Schandschrift, Schmähschrift, Zänkerei. Daneben enthalten die Texte eine Fülle sprechaktbezeichnender Verben bzw. Substantivableitungen solcher Verben mit usuell negativer Bewertung: Aufhetzung, Beleidigung, Beschimpfung, Denunzierung, Injurie, Insultation, Schmähung, Verhöhnung, Verleumdung. (3) Im Frankfurter Journal sind zwischen dem 1. Juli und dem 31. September 1848 ca. 50 eingesandte Texte veröffentlicht, deren Absender sich gegen öffentliche Angriffe wehren. Diese Angriffe werden charakterisiert als Beleidigung, Denunciation, Lüge, Schmähung, Schmähartikel, Verunglimpfung, Verdächtigung, Verleumdung, Invective, Pasquill, Pamphlet, Machwerk, Entstellung, Wortverdrehung, Unwahrheit, Perfidie. (4) In Heft 20/1966 der Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter zum Thema Kunst und Elend der Schmährede. Zum Streit um die Gruppe 47 schließlich kommen in gleicher Funktion vor: Anschwärzung, Beschimpfung, Brandmarkung, Denunziation, Diffamierung, Diskreditieren, Geschwätz, Gezänk, Pamphlet, Schimpfrede, Schmährede, Schmähschrift, Verdächtigung, Verhöhnung, Verlästerung, Verleumdung, Verunglimpfung.

19 Ein allmählicher Prozess der Pejorisierung führt nun dazu, dass mit dem Wort Polemik selbst eine negative Bewertung ausgedrückt werden kann. Der ursprünglich positive Begriff wird, wie ein Universal-Lexicon der Gegenwart und Vergangenheit (1828) schon am Anfang des 19. Jahrhunderts bemerkt, allmählich von der schlechten Praxis eingeholt: Die Polemik hat viel von ihrem Ansehn dadurch verloren, daß sich die Streiter oft unerlaubter Fechterkünste bedienten, die eignen Schwächen des Systems heimtückisch zu verbergen, und die Gründe der Gegner nicht in ihrer ganzen Stärke darzustellen (Bd. 9,9).

In dieser Gebrauchsvariante bezieht man sich auf kommunikative Verhaltensweisen, die recht genau dem entsprechen, was im Zedlerschen Lexikon ursprünglich gerade als Abweichung von der Polemik zu gelten hatte und für die in der Vergangenheit die Ausdrücke aus den vier Stichproben zur Verfügung gestanden hatten. Polemik nimmt selbst die Bedeutung .Schmähschrift' an, und es ergibt sich seitdem umgekehrt die Notwendigkeit, zur Charakterisierung von Formen des Streitens, die der jeweilige Sprecher nicht negativ betrachtet haben will, auf andere Ausdrücke auszuweichen. Für die theologische Polemik sind dies vor allem Kontroversschrift oder Streittheologie. Sonst stehen Kritik, Argumentation, Widerlegung, Diskussion, Streit u.a. zur Verfügung. Eindeutige Belege für diese Gebrauchsvariante findet man erst im 20. Jahrhundert, und auch heute sind Äußerungen, in denen dem Ausdruck Polemik selbst eine negative Konnotation zugesprochen werden kann, in denen die Bewertung also nicht erst über den Kontext vermittelt wird, nicht die Regel.11 Das steht in einem gewissen Widerspruch zu der Feststellung im Lexikon Brisante Wörter (Strauß u.a. 1989), Polemik werde „vorwiegend mit negativer Wertung, gelegentlich auch mit positiver Wertung [...] verbunden und vereinzelt wertneutral [...] gebraucht" (295). Richtig ist wohl, dass das Wort, zumindest außerhalb des Feuilletons, vorwiegend in Äußerungen und Texten auftaucht, in denen der Schreiber eine kritisch-ablehnende Haltung gegenüber dem zum Ausdruck bringt, worüber er spricht. Das heißt aber nicht notwendig, dass die Bewertung von dem Wort ausgehen muss. Der typische Fall ist auch heute noch, dass der Schreiber Polemik mit negativ wertenden Attributen kombiniert. Wenn jedoch jemand in dieser Weise von schlechter, unsachlicher, persönlicher, sachfremder, beleidigender, diffamierender, verleumderischer, unakzeptabler, die Grenzen des Erlaubten überschreitender Polemik spricht, so ist man geneigt anzunehmen, dass 11

Einige Beispiele aus unterschiedlichen Kommunikationsbereichen sind: „Kritische Analyse, w o sie von marxistischer Seite überhaupt betrieben wird, ist meist mit Polemik belastet" (Wieser/Berger 1972, 126). - „Dieser Sammelband mit Schlüsseltexten der Postmoderne-Diskussion erscheint zu einem Zeitpunkt, da Grabenkämpfe und Polemik zurücktreten und die Stunde der sachlichen Auseinandersetzung gekommen ist" (Verlagsprospekt). - „Geiss zieht eine Bilanz des ,Historikerstreits' jenseits der ideologischen Fronten und bietet unpolemische Antworten an" (Verlagsprospekt). - „Polemisch und sachfremd wird eine vermeintliche Gefährdung der Wissenschaftslandschaft herbeigeredet, die jeglicher sachlichen Grundlage entbehrt" (Äußerung der ehemaligen Berliner Senatorin Riedmüller, in: taz v. 27. Sept. 1989).

20 er auch eine gute, sachliche, nicht persönliche, nicht sachfremde, akzeptable usw. Polemik kennt, und also, dass Polemik selbst ein wertneutraler Ausdruck ist. Das lässt sich oft nicht nur vermuten, sondern aus dem Textzusammenhang erweisen. Wenn Raddatz (in: Kunst und Elend 1966, 270) schreibt, „dieser polemische Stil, also der der Denunziation, der persönlichen Diffamierung, der Unterstellung" sei „der alte verhängnisvolle Gezänkstil des Präfaschismus", so mag man noch im Zweifel sein, ob die Apposition den polemischen Stil oder diesen (vor dem Hintergrund eines möglichen anderen polemischen Stils) erläutert. Dass das Pronomen zu betonen ist, zeigt aber die spätere Äußerung: Der Stil der persönlichen Diffamierung ist [...] Verrat an der Tradition des Anti-Goeze, des Anti-Dühring, der Lessing-Legende-Polemiken und Streitschriften der kühlen, undenunziatorischen ratio (276).

Raddatz kennt also eine gute („Lessing-Legende-Polemiken") und eine schlechte Polemik, was bedeutet, dass für ihn das Wort selbst wertneutral ist. Es mag trotzdem zutreffen, dass der Begriff, wie Strauß u.a. (1989) behaupten, vorwiegend mit negativer Wertung verbunden wird, dass sich viele Schreiber angesichts des konkurrierenden positiven oder wertneutralen Gebrauchs aber nicht auf das Wertungspotential des Lexems verlassen wollen und deshalb negativ wertende Attribute anfügen, die nicht spezifizierende Funktion haben, sondern unmissverständlich explizieren sollen, was heute eigentlich schon im Begriff des Polemischen enthalten ist. Das ist im konkreten Fall nicht immer zweifelsfrei erkennbar.

2.3

Polemik. Das Wort im gegenwärtigen Sprachgebrauch

2.3.1

Polemik in der öffentlichen Sprache

Die Sprachwörterbücher des Deutschen, von denen man einen Überblick über den gegenwärtigen Sprachgebrauch am ehesten erwarten kann, sind sich, sicherlich nicht unbeeinflusst voneinander, relativ einig. Bedeutungserklärungen zum Substantiv Polemik lauten: wissenschaftlicher Meinungsstreit, der meist publizistisch ausgetragen wird, literarische Fehde (Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, Bd. 4 (1972), 2824); wissenschaftlicher, meist publizistisch ausgetragener Streit (Wahrig 1981, 598); meist publizistisch ausgetragener, mit scharfen (persönlichen) Angriffen geführter Streit um wissenschaftliche, religiöse, politische o.ä. Fragen (Brockhaus/Wahrig 1983, Bd. 5, 164); (publizistisch ausgetragener) wissenschaftlicher Meinungsstreit mit Betonung gegensätzlicher Auffassungen, literarische Fehde (Kempcke 1984, 881); Allgemein charakterisiert man als Polemik eine zwischen Personen gegensätzlicher Auffassung stattfindende Kommunikationsform, bei der ein (Meinungs)Streit oder eine

21 intellektuelle Auseinandersetzung um politische, wissenschaftliche, literarische o.ä. Fragen meist mit publizistischen Mitteln sowie mit scharfen (persönlichen ) Angriffen und oft unsachlichen Argumenten auf aggressive Weise ausgetragen wird (Strauß u.a. 1989, 295); 1. literarische od. wissenschaftliche Auseinandersetzung; wissenschaftlicher Meinungsstreit, literarische Fehde'. 2. ,unsachlicher Angriff, scharfe Kritik (Duden. Fremdwörterbuch 5 1990,615); über das Medium des Drucks geführter Meinungsstreit, u.U. mit persönlichen Angriffen (Paul 2 1992, 658); scharfer, oft persönlicher Angriff ohne sachliche Argumente (im Rahmen einer Auseinandersetzung) im Bereich der Literatur, Religion, Philosophie, Politik o.Ä. (Duden. Das große Wörterbuch 3 1999, Bd. 7, 2958).

Unter den Artikelschreibern besteht Konsens, dass man mit Polemik einen Meinungsstreit oder eine Auseinandersetzung über etwas zwischen Personen unterschiedlicher oder gar gegensätzlicher Auffassung bezeichnet, jedoch enthalten alle Einträge Einschränkungen, denen zufolge nicht jeder Meinungsstreit, sondern jeweils nur Teilmengen mit dem Wort bezeichnet werden. Hinsichtlich der Gegenstände, über die gestritten wird, fällt neben der meist ausdrücklich genannten „literarischen Fehde" die historisch gerechtfertigte, für die Gegenwart aber eher problematische Betonung der Wissenschaft auf. Dem tatsächlichen Sprachgebrauch werden offene Aufzählungen wie die im Lexikon Brisante Wörter („um politische, wissenschaftliche, literarische o.ä. Fragen") am ehesten gerecht. Zugleich wird mit einer solchen Formulierung die irreführende Deutung vermieden, als kennzeichne das Adjektiv wissenschaftlich in wissenschaftlicher Meinungsstreit immer noch eine besondere, nämlich wissenschaftliche Qualität des Streitens, während der polemische Streit weithin ja gerade als unwissenschaftlich gilt. In fast allen Bestimmungen findet man die nähere Charakterisierung der Polemik als eines „publizistisch ausgetragenen Streits", womit indirekt Schriftlichkeit als bevorzugtes Medium behauptet wird, vor allem aber etwas über das Forum ausgesagt wird, auf dem der Streit stattfindet: Es ist die größere Öffentlichkeit in Abgrenzung sowohl zum alltäglich-persönlichen Bereich als auch zu den eingeschränkten Fachöffentlichkeiten. Zweifellos kann man auch von einer Auseinandersetzung im Fernsehen (mündlich) wie auch von einem persönlichen Streit (nicht öffentlich) sagen, sie seien polemisch gewesen. Prototypisch aber findet das, was Polemik genannt wird (insbesondere wenn es sich um das zählbare Substantiv handelt), in den Zeitungen und Zeitschriften statt. Hinsichtlich des kommunikativen Verhaltens bzw. der mentalen Dispositionen der Streitgegner sind die Hinweise auf Aggressivität, Unsachlichkeit und persönliche Angriffe deutlich. Doch sind die Lexikographen nicht ganz einig, was die Verbindlichkeit dieser Merkmale betrifft. Drei der zitierten Bedeutungserklärungen lassen die verwendeten Mittel offen. Eine zweite Gruppe gibt an, dass die Auseinandersetzungen, die polemisch genannt werden, „meistens", „oft" oder „unter Umständen" persönliche bzw. unsachliche Angriffe enthalten. Das schließt wie bei der ersten Gruppe nicht aus, dass das Wort auch auf Texte angewendet

22 werden kann, die diese Eigenschaften nicht aufweisen. Die beste Lösung scheint mir, auch im Licht der Ergebnisse des Kapitels 2.2.3, das Duden Fremdwörterbuch ( 5 1990) zu bieten, das auch für die Gegenwart zwei Bedeutungen unterscheidet: eine Gebrauchsweise, bei der die Bewertung des kommunikativen Verhaltens der Streitgegner offen bleibt, und eine Gebrauchsweise, bei der die Merkmale ,Unsachlichkeit' und ,Persönlichwerden', verbunden mit einer konventionell verfestigten negativen Bewertung, Teil der Wortbedeutung sind. Dieses Nebeneinander findet man in Sammelbänden über öffentliche Streitfälle sowohl in den 60er Jahren (Kunst und Elend 1966, Zürcher Literaturstreit 1967) als auch neuerdings in der Christa-Wolf-Debatte und im deutsch-deutschen Literaturstreit um 1990 (u.a. Deiritz/Krauss 1991). Es gibt immer Autoren, die Polemik als ein literarisch-publizistisches Genre der Kritik begreifen, das sich erst in der konkreten Realisierung in eine positiv oder negativ zu bewertende Spielart ausdifferenziert. Im anderen Falle impliziert schon die Wahl des Wortes Polemik die negativ zu bewertenden kommunikativen Verhaltensweisen bzw. Intentionen. Es sei daran erinnert, dass daneben auch die lexikalisierte positive Bewertung in Tradition der historisch frühesten Gebrauchsweise (vgl. Kapitel 2.2.1 u. 2.2.2.1) gelegentlich heute noch vorkommt, in den allgemeinen Wörterbüchern aber, weil untypisch, nicht eigens notiert wird. Man findet diesen Gebrauch vor allem in wissenschaftlichen Veröffentlichungen theologie- oder philosophiegeschichtlichen Inhalts. Außerhalb solcher Zusammenhänge ist er ganz ungewöhnlich. So etwa in einem Artikel von Daniel (1998), in der sich diese gegen eine Rezension wehrt, die der Autor Schwind (1998) bzw. die veröffentlichende Zeitschrift eine Polemik genannt hatte. In ihrer Metakritik spricht sie der Rezension die Eigenschaft, eine Polemik zu sein, mit Argumenten ab, die sich mit den Bestimmungen des Zedlerschen Lexikons aus der Mitte des 18. Jahrhunderts vereinbaren lassen, heute aber kaum den Wortgebrauch bestimmen. Mit der Feststellung, dass mit dem Wort bestimmte Ausprägungen des Streits um politische, wissenschaftliche, literarische und weniger um alltagsweltliche Probleme bezeichnet werden, ist nicht notwendig zugleich die Sprachvarietät festgelegt, in der das Wort Polemik vorzugsweise vorkommt. Faktisch aber ist das Wort wie die bezeichnete Sache in erster Linie Teil der medial vermittelten Öffentlichkeitssprache, sei es, dass es von professionellen Journalisten vor allem im Feuilleton verwendet wird, sei es, dass es von Schreibern aus anderen Kommunikationsbereichen wie der Wissenschaft gebraucht wird, wenn sie ihre polemischen Auseinandersetzungen außerhalb des fachinternen Forums in den allgemeinen Zeitungen und Zeitschriften ausfechten. Als Fachwort der Wissenschaftssprache hat Polemik hingegen, wie Kapitel 2.3.2 zeigen wird, einen unsicheren Status.

23 2.3.2

Polemik

in der Wissenschaftsprache

2.3.2.1

Polemik

in Literatur- und Sprachwissenschaft

In der Literaturwissenschaft kann Polemik kaum als definiertes Fachwort angesehen werden. Es hat, wenn es nicht in den beschriebenen allgemein bildungssprachlichen Bedeutungen gebraucht wird, bestenfalls den Status eines Halbterminus und ist deshalb auch kein Registerwort. 12 Wo es auftaucht, wird Polemik zum Teil als eine literarische oder publizistische Gattung begriffen. Ueding/ Steinbrink (1986, 2) zählen die Polemik neben Zeitungsartikel, Pamphlet, Flugblatt, Tendenzpoesie, Reportage und Reisebericht zu den „rhetorischen Zweckformen", die „zentrale künstlerische Äußerungen des 19. Jahrhunderts" waren; an anderer Stelle sind für sie Polemik und Satire Bezeichnungen fur verwandte „Gattungen" (209). Stenzel (1986, 3) spricht von Polemik als einer „pragmatischen Gattung", Oesterle (1986, 107) von der „Gattung Polemik" ohne spezifizierendes Attribut. Der Charakter dieser Gattung und ihr systematischer Ort im Gefüge benachbarter Formen bleiben jedoch unsicher. Invektive, Kritik, Libell, Literaturfehde, Pamphlet, Pasquill, Satire, Schmähschrift, Streitschrift u.a. werden der Polemik z.T. über-, z.T. unter- oder auch nebengeordnet; oft werden die Ausdrücke auch quasi-synonym verwendet. - Die Auffassung der Polemik als Gattung oder eigene Form wird andererseits zweifelhaft, wenn sie von anderen als Stil, Ton, Methode, Darstellungsart oder Haltung angesehen wird. Für Berghahn (1992, 26) ist Polemik eine Methode, die eine Spielart der Gattung Kritik konstituiert, für Rohner (1966, 330) auch keine selbständige Form, sondern etwas, was sich bestimmter Formen bedient und anderen widerstrebt. Das Nebeneinander von Polemik als Gattung/Genre und als Stil ist natürlich nicht unbedingt alternativ. Man könnte sehr wohl beides miteinander verbinden, wie man ja auch von einem humoristischen oder einem satirischen Stil spricht, der in verschiedenen Gattungen vorkommen kann, und zugleich von der Humoreske oder der Satire als Bezeichnungen für eigenständige Gattungen. Eine weitere Möglichkeit bietet der alte Begriff der Schreibweise, worunter Hempfer (1973, 27) „ahistorische Konstanten wie das Narrative, das Dramatische, das Satirische" versteht, im Unterschied zur Gattung als „historisch konkreter Realisation" einer solchen Schreibweise. Meyer (2001, 89) begreift auch die Polemik als eine solche „stiltypische Schreibweise" im Sinne Hempfers. - Einige neuere einflussreiche Versuche, Polemik für die Literaturwissenschaft definitorisch zu fassen, sollen etwas genauer betrachtet werden. (1) Für Lazarowicz (1963) ist Polemik eine Spielart der Kritik und als solche eine pragmatische Gattung in deutlichem Unterschied zur Satire als Dichtung. Genau12

Man sucht es in den Registern der literaturwissenschaftlichen Handbücher, Lexika und Bibliographien meist vergeblich. Es gibt keinen Artikel im Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte und auch die umfassende Bibliographie zur Rhetorik von Jamison/Dyck (1983) hat kein Schlagwort Polemik.

24 erhin unterscheidet er im pragmatischen Textbereich, in dem nicht-künstlerische Intentionen verwirklicht werden, drei Gattungen: eine eindeutig positiv bewertete, genannt Kritik (im engeren Sinne), eine eindeutig negativ bewertete, genannt Schmähschrift oder Pasquill, und dazwischen die Polemik oder Streitschrift. Letztere hat mit der Schmähschrift die negativ bewertbaren Streitmittel gemein, mit der Kritik die positiv bewertbare uneigennützige Intention, weshalb sie in der Meinung Lazarowiczs trotz der problematischen Mittel vor dem Richterstuhl der Moral bestehen kann. Zum Wesen der Polemik gehöre zwar, „daß sie wirkliches oder vermeintliches Unrecht mit Unrecht vergilt und sich nicht scheut, die Zweideutigkeit, ja sogar die Unwahrheit zu Hilfe zu rufen", zugleich aber auch, dass der Polemiker dies ungleich dem Pasquillanten deshalb tue, „um der Wahrheit oder der Freiheit zum Sieg zu verhelfen" (181). Die Polemik ist durch eine „stets auf die Person des Gegners bezogene parteiliche und subjektive Darstellung" (181) charakterisiert, ist „unsachlich, persönlich, rücksichtslos in der Ausnützung der gegnerischen Schwächen und in der Anwendung der Kampfmittel" (177). Diese Mittel wurzeln aber in einem „tugendhaften Haß", der in Wahrheits- oder Freiheitsliebe gründet. Die moralische Rechtfertigung der so beschriebenen Polemik setzt bei Lazarowicz offenbar die Auffassung voraus, dass der (gute) Zweck die (bösen) Mittel heilige. Die konkrete Anwendung der Unterscheidung der drei Spielarten kritischer Texte (im weiten Sinne) erweist sich allerdings, wie Lazarowicz selbst schreibt, als schwierig, weil der einzelne Text, z.B. Lessings AntiGoeze, Elemente aller drei Gattungen besitzen könne. Schwierig dürfte es für den analysierenden Wissenschaftler generell sein, bei Texten mit gleichen Textmerkmalen zu entscheiden, welcher Autor die Streitmittel als Polemiker aus Wahrheitsliebe und welcher sie als Pasquillant verwendet, um seinen Gegner unmöglich zu machen. (2) Nach Pehlke (1968) ist „die intellektuelle oder moralische Vernichtung der angegriffenen Theorie oder Person" gemeinsames Ziel aller Polemik, und das Medium der Polemik, die Sprache, funktioniere „als Instrument zur Aktivierung von Aversionen; konstatierende und argumentierende Passagen des Textes flankieren den A n g r i f f (134). Unter dem gemeinsamen funktionalen Dach unterscheidet Pehlke, Lazarowicz vergleichbar, drei „dominierende Stadien polemischer Intensität": (1) die „analysierend-argumentierende" (in der Kritik), (2) die „argumentierend-agitierende" (in der Streitschrift) sowie (3) die „agitierenddiffamierende" (in der Schmähschrift) (134). Ohne eigene Formbestimmtheit bediene sich die Polemik wechselnder literarischer Formen, z.B. des Essays fur (1), der Rezension für (2) und der Satire für (3). Gemäßigte Polemik hält sich nach Pehlke „an die tradierten Spielregeln geistiger Auseinandersetzung", während Schmähschrift und Pamphlet alle Regeln durchbrechen. Die Extension des Begriffs Polemik ist größer als bei Lazarowicz und dürfte ungefähr der des Wortes Kritik bei jenem entsprechen. Allerdings betrachtet Pehlke sogar die Satire als eine Form für die Polemik, während Lazarowicz seine drei Spielarten der Kritik deutlich von der Satire absetzt.

25 (3) Belke (1973) zählt die Polemik zu den „Prosa-Gebrauchsformen", „die sich im Laufe der literarhistorischen Entwicklung zu einer Art etablierter Gattung entwickelt haben" (78). Zielbestimmung sowie die Unterscheidung dreier „Stadien" übernimmt er von Pehlke. Wie dieser meint Belke, dass die „Art Gattung" in vielen Formen vorkommen kann (Kampf-, Streit-, Schmähschrift, Schimpfrede, Flugblatt, Pamphlet, Invektive, Pasquill), deren Gemeinsamkeiten eher funktionaler Art sind. Wie die illustrierenden Hinweise Belkes auf Textbeispiele seit dem 18. Jahrhundert zeigen, ist der Begriff der Polemik auch bei ihm nicht als solcher negativ konnotiert. Trotz des generellen „moralischen Rigorismus" (124) können Polemiken sachlich begründet sein und sogar die von Belke zitierten Forderungen des Zedlerschen Lexikons erfüllen, die den Schreiber unter den Anspruch stellen, „der Wahrheitsfindung zu dienen und Aufklärung zu bewirken" (125). Nicht einfach ist es freilich, solche Ausprägungen von Polemik, die mit Pehlkes Intensitätsgrad „analysierend-argumentierend" übereinstimmen dürften, mit der gleichfalls von Pehlke übernommenen allgemeinen Zielbestimmung „intellektuelle oder moralische Vernichtung der angegriffenen Theorie oder Person" zu verbinden. (4) Das Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte enthält keinen Artikel zur Polemik, wohl aber einen zur „Schmähschrift (Streitschrift)", der einschlägig ist, weil Schmähschrift, seltener auch Streitschrift, als Quasi-Synonyme für Polemik gebraucht werden können. Auch Bebermeyer (1975, 2 1984), der Autor des Artikels, verwendet hin und wieder das Lexem polem- Undefiniert zur genaueren Charakterisierung dessen, was er Schmähschrift oder Streitschrift nennt {polemisch-agitatorische Wirkung, satirisch-polemische Zwecke, polemische Agitation, polemische Argumentation, auf die Persönlichkeit gezielte Polemik, [mit Zitaten] polemisieren). Unter Schmähschrift und Streitschrift versteht Bebermeyer „Sammelbegriffe, die Kampfschriften unterschiedlicher Art, in Prosa und gebundener Form, seit alters umfassen [...]" (665). Zu den Bezeichnungen, die entweder synonym verwendbar sind oder fur bestimmte Arten solcher Kampfschriften gebräuchlich sind, nennt Bebermeyer: Gegen-, Kontroversschrift, Rüge-, Scheltlied, Schmähgedicht, Satire, Invektive, Pamphlet, Pasquill und andere. Das heißt, dass Schmähschrift und Streitschrift formal unbestimmt sind und in ihren Inhalten fiktional oder nicht fiktional sein können. Gemeinsam sind den Kampfschriften nur „Zweck und Thematik": Sie dienen alle dem Ziel, politische, gesellschaftliche, kulturelle, literarische Mißstände der Zeit zu geißeln. Sie wollen durch die polemisch-agitatorische Wirkung der Anklage Wandel schaffen (666).

Zwischen den beiden Spielarten der Kampfschrift, den Schmäh- und den Streitschriften, besteht nach Bebermeyer ein relativer Unterschied: Die Schm. zielt vorrangig auf die Schädigung einer Person, eines Gegners, in dem man den Vorkämpfer mißlicher Zustände sieht. [...] Str.n hingegen sind distanzierter, suchen Versachlichung, rücken ab von den Personen, wägen ab nach Argumenten (666).

26 Bebermeyer weist aber darauf hin, dass die Wahl der beiden Ausdrücke nicht selten subjektiven Einschätzungen und Wertschätzungen des jeweiligen Betrachters folgt. (5) Specht (1986) versucht zum Abschluss seiner Abhandlung über Lessings Anti-Goeze unter dem Titel „Zur Phänomenologie der Polemik" (196-200) deren „Standort im Textsortengefuge" zu bestimmen. Polemik scheint zunächst etwas zu sein, was, wie auch von Bebermeyer beschrieben, „irgendwo zwischen der persönlichen Schmähschrift, der literarischen Anprangerung von Missständen und der sachlichen Diskussion; zwischen Pamphlet, Satire und Disputatio" (Specht, 196) steht. Ungleich anderen Versuchen, diese Textsorten als Formen anzusehen, die der Polemiker alternativ für seine jeweiligen Zwecke nutzen kann, betrachtet Specht aber gerade die Zwischenstellung, die sich in einer eigentümlichen Doppelbödigkeit polemischer Texte ausdrückt, als deren konstitutives und unterscheidendes Merkmal: die „kompromißlose, destruktive, rufmörderische Aggressivität" wird „möglichst verborgen hinter scheinbarer Objektivität" (196); der Polemik ist ein „Wechselspiel zwischen Sache und Person" (ebd.) eigen. (6) Stenzeis (1986) Ausgangspunkt ist die Bestimmung der Polemik als „aggressive Rede" (4) in einem weiten Sinne von Aggression. Anschließend grenzt er diesen Begriff mit Hilfe unterscheidender Merkmale schrittweise zum Polemischen hin ein. Im ersten Schritt zieht er das Merkmal ,Unsachlichkeit' heran und erhält die Unterscheidung von sachlicher Aggression, genannt Kritik, und unsachlicher Aggression, zu der unter anderem die Polemik gehört. Der ungewöhnlich weite Begriff von Aggression erlaubt die Kollokation von sachlich und Aggression, zwei Begriffen, die sonst eher als Gegensätze aufgefasst werden. Das könnte man vermeiden, wenn man als Oberbegriff Kritik wählte und dann im ersten Schritt eine sachliche von einer unsachlichen Kritik unterschiede. Mit dieser Alternative kommt man aber vom Regen in die Traufe, weil dann weitere Ausprägungen aggressiver Rede im Sinne Stenzeis wie Beleidigen und Beschimpfen auch unter den Oberbegriff Kritik subsumiert wären. Verbale Aggression

sachlich (= Kritik)

unsachlich

unsachliche Verfahrensweise (z.B. Zitatfälschung

unsachlicher Stil

nicht argumentativ (= Beschimpfung privat

argumentativ

öffentlich (= Polemik)

27 Im nächsten Schritt unterscheidet Stenzel Unsachlichkeit des Stils und Unsachlichkeit der Verfahrensweise. Das ermöglicht eine Abgrenzung der Polemik, die eine Erscheinungsform des unsachlichen Stils ist, von unsachlichen Verfahrensweisen wie „Zitatfalschung und dergleichen" (4). In der Tat wäre es sehr ungewöhnlich, jemanden, den man bei einer Zitatfalschung erwischt, ihretwegen Polemik vorzuwerfen. Gleiches gilt fur andere Strategien des Streitens, die verdeckt bleiben, das heißt an der Oberfläche des Textes nicht wahrnehmbar sind: unwahre Behauptungen, Lügen, Verschweigen relevanter Sachverhalte. Sie alle kommen in polemischen Texten vor, machen den Text aber allein nicht zu einem polemischen. Den polemischen Text erkennt man nach Stenzel an der Art und Weise, wie er sprachlich realisiert ist, an seinem Stil. - Die bisherigen Kriterien erlauben noch keine Unterscheidung zwischen Polemik und benachbarten Aggressionshandlungen wie der Beschimpfung, und deshalb fuhrt Stenzel als letztes Merkmal argumentativ' ein. Unsachlicher Stil ist nur dann polemisch, wenn der Sprecher oder Schreiber argumentiert, wenn der Text zumindest einen „argumentierenden Grundgestus" (5) hat. Das schließt Beschimpfungen in polemischen Texten, z.B. in Gestalt von Schimpfwörtern, nicht grundsätzlich aus, zumal solche ja durchaus Reste von argumentativem Gehalt im Textzusammenhang haben können. Bloße Beschimpfungen jedoch sind keine Polemik. Argumentativität ist fur Stenzel zugleich ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zur Satire. Während Polemik in der Literaturwissenschaft zwar kaum ein definierter Begriff ist, aber doch als eine Art Halbterminus die Analyse eines vage bestimmten Texttyps zu organisieren imstande ist, spielt das Wort in der Sprachwissenschaft so gut wie keine Rolle. Nur selten erhält es Titelstatus, wobei ganz auffallig Untersuchungen religiöser Texte aus dem Mittelalter und der frühen Neuzeit überwiegen (Zweifel 1965, Weinrich 1966, Schwitalla 1979, Chrisman 1982, Grabes 1990, Knoch-Mund 1997). Hier wirkt deutlich die historisch früheste übertragene Bedeutung des Wortes als .religiöse Widerlegungskunst' nach. Jenseits der kirchlichen Polemik und auf moderne Texte bezogen findet man das Wort Polemik in deutschsprachigen sprachwissenschaftlichen Texten so gut wie gar nicht, etwas häufiger in englischen und französischen Veröffentlichungen (Griffiths 1991, Stati 1995, Dascal 1998). Das heißt freilich nicht, dass der Textund Diskurstyp Polemik im Sinne Stenzeis, Spechts oder anderer Literaturwissenschaftler der sprachwissenschaftlichen Aufmerksamkeit gänzlich entgangen wäre. Er steckt nur hinter anderen Ausdrücken. Das ist zum einen Argumentation, z.B. im Projekt von Groeben u.a. (1990-1992), die mit ihrem Begriff unfairen bzw. unintegren Argumentierens dem nahekommen, was andere Polemik nennen. Gleiches gilt für die von Kindt (1992) untersuchten Texte, die charakterisiert sind durch eine „Überlagerung von Argumentation durch Konflikthandlungen" bzw. durch „Konfliktaustragung innerhalb der Argumentation" (202). Noch ausgeprägter ist die Nachbarschaft des Begriffs der Polemik zu dem sprachwissenschaftlichen Begriff Streit, sei es dass Streit insgesamt in die Nähe von Polemik rückt (Fill 1990, Spiegel 1995, Gloy 1996, Gruber 1996), sei es dass

28 verschiedene Streitarten unterschieden werden, von denen dann eine auch als Polemik bezeichnet werden könnte (Apeltauer 1977, Kienpointner 1983, Schänk/ Schwitalla 1987). Was die neueren linguistischen Untersuchungen zum Streit, zur Streitkommunikation und zur Argumentation dann aber doch wieder von dem literaturwissenschaftlichen Interesse an polemischen Texten und auch von den Untersuchungen in den späteren Kapiteln dieser Arbeit entfernt, ist das dominante Interesse an den Formen des mündlichen Streits im persönlich-privaten Bereich.

2.3.2.2 Zur Unterscheidung von Polemik und Satire Sehr unsicher gestaltet sich in der Fachliteratur die Abgrenzung von Polemik und Satire. Gibt es einige Autoren, die - mit unterschiedlichen Argumenten - einen deutlichen Unterschied machen, halten andere schon den Versuch der Trennung für verfehlt. Lazarowics (1963) betont in Kapitel VI („Polemik und Satire. Versuch einer Abgrenzung am Beispiel von Lessings Anti-Goeze") vor allem die Unterschiedlichkeit der Darstellungsmittel bei gleicher Grundfunktion: die „unter Umständen bestechend formulierte" gegenüber der „gestalteten Verneinung" (183). Mit der „Gestaltung" folgt der Satiriker künstlerischen Intentionen. Die Satire ist deshalb eine künstlerisch-literarische Gattung, die vor dem Richterstuhl der Ästhetik beurteilt wird. Polemiken können sich zwar auch durch sprachliche Virtuosität, durch stilistische und kompositorische Raffinesse auszeichnen; doch sind solche Mittel im Rahmen der pragmatischen Gattung, die sich vor dem Richterstuhl der Moral zu rechtfertigen hat, rhetorisch-taktisch und nicht künstlerisch motiviert. 13 - Ebenfalls an der Unterschiedlichkeit der Darstellungsmittel orientiert ist der Versuch Stenzeis (1986,5), der der Satire, die „durch komische Darstellung kritisiert", eine „obligatorische mimetische Indirektheit" zuspricht und eine Unverträglichkeit zwischen Polemik und Satire feststellt, insofern als argumentierende polemische Züge die erwähnte Indirektheit zerstören würden, während die Polemik ihrerseits satirische Züge nutzbringend integrieren könne. Andere versuchen Polemik und Satire über den Gegenstand der Verneinung zu trennen. So fordert Brummack (1975) im Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, in der Satire müsse der Angegriffene „in irgendeiner Weise als Repräsentant, Teil oder Symptom eines Übels hingestellt werden, das der Allgemeinheit droht (wichtigstes Mittel dazu ist die Fiktionalisierung). Wo das nicht geschieht, ist die Grenze zur Polemik oder zur Invektive überschritten" (604). Das Gleiche meint wohl Krolop (1987), wenn er sagt, „Stoff der Polemik" sei

13

Der Begriff des Ästhetischen dient auch anderen als Unterscheidungskriterium: Satire als „ästhetisch sozialisierte Aggression" (Brummack), „sprachästhetische Darstellung von Entrüstung" (Arntzen), das aggressive Ziel wird in „ästhetisch instrumentalisierter Form" verfolgt (alles zit. in Grimm 1993, 260).

29 „ein gegebenes Objekt, ein konkreter Sachverhalt, der verändert werden soll" „auch mit außerliterarischen Mitteln" (61). „Stoff der Satire" hingegen sei „nicht die Wirklichkeit, sondern die Möglichkeit" - „ohne daß Namen genannt sind" (61). Bei dieser Unterscheidung über den Stoff hat man das Problem, dass Polemiker zwar in der Regel den Namen des Gegners nennen, uns aber gleichwohl mit Nachdruck versichern, dass sie die jeweilige Person nur deshalb öffentlich angriffen, weil sie für ein allgemeineres Übel repräsentativ, zeittypisch o.ä. sei. Wieder andere Autoren kommen zum Ergebnis, man könne Satire und Polemik nicht trennen, oder sie reden so, als ob beides mehr oder weniger dasselbe sei. Belke (1972, 128), der sich explizit gegen Lazarowicz wendet, zweifelt daran, ob man „eine gattungsmäßige Abgrenzung von Polemik und Satire vornehmen kann" (128). Vor allem spricht er sich gegen derartige Versuche aus, wenn im Ergebnis der Kunstcharakter der Polemik verloren geht. Mit seinen Zweifeln steht Belke nicht allein, und auch die Redeweise von den „satirisch-polemischen Zügen", den „polemisch-satirischen Motivationen", der „satirischen Polemik" oder der „polemischen Satire", mit der man Nicht-Trennbarkeit suggeriert oder die Unterscheidung zumindest vermeidet, sind in der Literatur verbreitet. 14 Die Unsicherheiten in der Fachliteratur dürfen aber die Tatsache nicht verdunkeln, dass die Unterscheidung in aller Regel problemlos funktioniert. So dürften auch diejengen, die die Trennbarkeit bezweifeln, beim Blick auf die Textsammlung im Literaturverzeichnis dieser Arbeit übereinstimmend zum Ergebnis kommen, dass es sich in fast allen Fällen nicht um Satiren handelt, während andererseits kaum jemand auf die Idee kommt, die satirischen Komödien von Tieck, Platen oder Grabbe Polemiken zu nennen. Allenfalls kann man der bildungssprachliche Gebrauch des Lexems polem- ist vielfältig! - sagen, dass dieser oder jener Autor in seiner Satire gegen etwas polemisiere, d.h. etwas angreife. Abgrenzungsprobleme gibt es bei Autoren, die als Sprachkünstler und als Publizisten zugleich tätig waren oder sind, Dichterpolemiker, die auch mit ihrer publizistischen Tätigkeit mehr oder weniger ästhetische Ansprüche verbinden oder deren nicht-künstlerische Schriften von Literaturwissenschaftlern mit mehr oder weniger großem Recht unter ästhetischen Gesichtspunkten betrachtet werden. Beispiele sind Lessing, Heine und Kraus. 15 Orientiert man sich an solchen Zweifelsfallen, an den Grenzgängern oder Formsprengern, so wird man in der Gattungstheorie freilich immer Schiffbruch erleiden. Eine Teilerklärung für die Schwierigkeiten bei der Trennung von Satire und Polemik ist die methodisch fragwürdige Tendenz, sich in der Textanalyse auf die 14

15

Lazarowicz (1963, 184), der selbst nicht dazu gehört, zitiert solche Stimmen: Lessings Satire sei „vorwiegend Literatur- und Theologiepolemik" (H. Arntzen), Satire mache sich „zum Mittel der Polemik" (I. Strohschneider-Kohrs), jede Satire sei „im Grunde Polemik" (O. Maußer). Kraus selbst bestimmt Polemik generell als Kunst bzw. spricht ihr nur dann Wert zu, wenn sie Kunst ist: „Ich halte Polemik, die nicht Kunst ist, für eine Angelegenheit des schlechten gesellschaftlichen Tons, die dem schlechten Objekt Sympathien wirbt" (Kraus 1912/1962,44).

30 Selbstbenennungen der jeweiligen Autoren zu verlassen, ohne zu beachten, dass deren Zuordnungen taktisch motiviert sein können. Es kann zum Beispiel vorteilhaft sein, das eigene Werk aus juristischen Gründen lieber als Satire denn als Pasquill, Invektive oder Schmähschrift betrachtet zu sehen. Seitdem der Ausdruck Polemik in einer seiner Gebrauchsweisen fast zu einem Synonym für Schmähschrift geworden ist, gehört auch Polemik zu den Ausdrücken, die gern durch ein ungefährlicheres bzw. prestigehaltigeres Wort ersetzt werden. 16 Ein besonderes Interesse, das Werk als Satire anerkannt zu sehen, besteht immer dann, wenn der Gegner namentlich genannt ist und deshalb eine persönliche Ehrverletzung und damit eventuelle Strafbarkeit im Sinne der Bestimmungen über Äußerungsdelikte naheliegt. Nicht ohne Grund besteht deshalb Liscov in seiner umfänglichen Schrift Unpartheiische Untersuchung der Frage: Ob die bekannte Satyre Briontes der Jüngere, oder Lobrede auf den Herrn D. Johann Ernst Philippi [...] eine Straßare Schrift sey? (Liscov [1733] 1806) darauf, dass das Werk eine Satire sei. Es ist bis heute eine beliebte Verteidigungsstrategie verklagter Autoren, ihr Werk, zu Recht oder zu Unrecht, eine Satire zu nennen, um sich auf diese Weise auf den verstärkten Schutz der Freiheit der Kunst nach Art. 5 GG berufen zu können. 17 Im übrigen dürfte etwas, was sich als Satire präsentiert, auch außerhalb gerichtlicher Auseinandersetzungen im Zweifelsfall eine höhere Akzeptanz beim Publikum haben als bloße Polemik. Übersieht man die strategische Motivation und übernimmt solche Selbstzuschreibungen unbesehen für die wissenschaftliche Kategorisierung, dann weichen in der Tat alle denkbaren Unterscheidungen zwischen Satire, Polemik und verwandten Texttypen auf. So kommt etwa Krolop (1987) mit seinen oben zitierten Unterscheidungsmerkmalen, „gegebenes Objekt" bzw. „Wirklichkeit" für die Polemik und „ohne Namensnennung" bzw. „Möglichkeit" für die Satire, bei seinem Autor Karl Kraus in Schwierigkeiten, weil Kraus beansprucht, Satiriker zu sein, auch wenn er seine Gegner namentlich angreift. Im Unterschied zur „normalen Satire", so Krolops Lösung, wären bei Kraus nicht fiktive, sondern reale Schauplätze, Städte und Personen Gegenstand der Satire. Vorstellungen von Kraus folgend, die dieser in dem Artikel Ein weitverbreitetes Mißverständnis (Kraus 1911) entwickelt hatte, meint er, dass sich die Texte von Kraus nicht „in der Artikulation des Anlasses" (62), erschöpften, sondern „durch eine symptoma16

17

Auf juristische Hintergründe in der Benennung der Texte macht Bamer (1993, 32) aufmerksam, wenn er mit Bezug auf Lessing und Goeze schreibt: „Beide spielen wiederholt mit der alten, juristisch relevanten Unterscheidung zwischen ,Satire' und .Pasquill', zwischen moralistisch-generalisierender Verspottung und persönlicher Ehrverletzung. Das ist schon Stereotyp vieler Federkriege des 16. Jahrhunderts und begegnet ansatzweise auch im Lange- und im Goeze-Streit" (32). Die rechtlichen Bestimmungen für die Mitte des 18. Jahrhunderts kann man der Historischen Einleitung über den Criminal-Process von Richter ( 2 1748, II, § 1; XV, § 37 und Additiones I zu II, § 1) entnehmen. Als Beispiel aus der Gegenwart sei auf die gerichtliche Auseinandersetzung zwischen dem Kaufhaus-Besitzer Horten und Christian Friedrich Delius hingewiesen (vgl. dazu Voigt 1992).

31 tische Betrachtungsweise scheinbar geringfügiger Anlässe [...] eine weite satirische Perspektive" (63) gewönnen. Das Begriffspaar Wirklichkeit-Möglichkeit wird, um auf Kraus zu passen, derart miteinander verbunden, dass die Kraussche Satire als Darstellung der Möglichkeit im Material des Wirklichen gelten kann, in der die Anlässe, die wirklichen Personen, nur als satirisches Material bedeutsam sind, als Individualitäten aber unwichtig. Und weil es um sie eigentlich nicht geht, handelt es sich, so gesehen, auch nicht um Polemiken gegen sie. Nun sperrt sich der Formen- und Gestaltungsreichtum der in der Fackel veröffentlichten Texte ohnehin gegen klare Gattungszuordnungen, und es wäre keine gute Idee, gerade am Beispiel dieses Autors die Unterschiede zwischen Polemik und Satire exemplifizieren zu wollen. Man sollte sich aber aus methodologischen Erwägungen grundsätzlich nicht auf die Selbstaussagen von Polemikern verlassen, und insbesondere ist der oben schon erwähnte Anspruch, den jeweiligen Gegner öffentlich nur deshalb anzugreifen, weil er repräsentativ für eine allgemeine Zeiterscheinung sei, nachgerade ein typisches Verfahren von Polemikern, den Verdacht des persönlich motivierten Angriffs von sich abzuwenden (vgl. dazu Kapitel 5.1.1 und 5.2.1). Außerdem sind die Polemiken von Kraus gegen Harden, Kerr etc. in vielen biographischen Details so wirklichkeitsgesättigt, dass man Mühe hat, hinter diesen das Allgemeinere zu entdecken, wofür sie repräsentativ sein könnten. Wenn man gegen solche Tendenzen an einer zumindest prototypischen Unterscheidbarkeit von Polemik und Satire festhält, so heißt das nicht, dass Polemiker nicht auch mit ästhetisch-künstlerischen und in diesem Rahmen satirischen Mitteln arbeiten könnten, wie man es z.B. bei Lessing, Lichtenberg, Moritz, Heine und eben auch Kraus beobachten kann. Satirisches kann, wie Stenzel (1986, 5) bemerkt, nutzbringend in die Polemik integriert werden werden, kann als „Disputationsmittel" (Grimm 1993) eingesetzt werden. 18 Die Funktionalisierung eines ästhetisch erzeugten Vergnügens für nicht ästhetische Endzwecke findet man auch in anderen Textbereichen, z.B. in der kommerziellen Werbung, ohne dass die Unterscheidung von künstlerisch-literarischen und von Gebrauchstexten dadurch grundsätzlich aufgehoben würde.

„Lessing hat keine Satiren geschrieben. Wohl aber hat er das satirische Verfahren in eine expositorische Gattung eingeführt und die Fiktion als literaturkritisches Instrument eingesetzt" (Grimm, 267).

3

Polemisches Streiten

3.0

Einleitung

Die Analyse des Wortgebrauchs in Kapitel 2 hat auch fur die jüngere Geschichte keine fixe, genau umrissene Bedeutung ergeben, sondern eher einen vage bestimmten Horizont, in dem engere und weitere, z.T. sich in Einzelmerkmalen widersprechende Gebrauchsweisen konkurrieren. Die ab- und ausgrenzenden Überlegungen in den folgenden Abschnitten haben angesichts dieser Sachlage nicht die Aufgabe zu klären, was Polemik wirklich und eigentlich sei, oder vorzuschreiben, wie der Ausdruck Polemik richtig zu gebrauchen sei. Es geht vielmehr darum, einen Begriff des Polemischen zu bestimmen, der es erlaubt, eine begründete und vom Leser kontrollierbare Entscheidung darüber zu treffen, für welche Art von Texten die verallgemeinernden Aussagen in den späteren Kapiteln dieser Untersuchung zutreffen soll. Neben der Festlegung auf einen bestimmten Begriff des polemischen Textes werden in Kapitel 3.1 wesentliche Eigenschaften dieser Textart diskutiert, um den Rahmen zu kennzeichnen, in dem die später genauer untersuchte polemische Metakommunikation ihre Funktion erhält. In Kapitel 3.2 (Erste Anwendungen) werden unter der Frage „Handelt es sich um einen polemischen Text im Sinne der Festlegungen?" vier Texte vorgestellt, die sich in dieser oder jener Hinsicht einer einfachen Zuordnung widersetzen. Auf diese Weise können die zuvor gegebenen Bestimmungen konkretisiert und auf ihre Anwendbarkeit überprüft werden. Kapitel 3.3 thematisiert mit dem Begriff des Persönlichwerdens ein zentrales, wenn nicht das zentrale Element der Polemik, das besonders hinsichtlich zweier Fragen einer kontroversen Einschätzung unterlag und unterliegt: Kann man Sache und Person überhaupt trennen? Und: Ist die mit dem Ausdruck Persönlichwerden in der Regel verbundene negative Bewertung des Bezeichneten gerechtfertigt? Das gesamte Kapitel ist gewissermaßen eine expandierte Version des „heuristischen Schemas" zur Analyse polemischer Texte von Stenzel unter Einbezug weiterer Überlegungen in der Sekundärlitereatur. Die Zitate aus polemischen Primärtexten, die in verschiedenen Zusammenhängen herangezogen werden, haben im Rahmen dieses Kapitels veranschaulichende Funktion und unterstützen die Hypothesenbildung. Die Darstellung ist nicht Ergebnis einer systematischen empirischen Analyse.

33 3.1

Polemisches Streiten und polemischer Text

3.1.1

Stenzeis heuristisches Schema für die Analyse polemischer Texte

3.1.1.1 Die polemische Situation Der Auswahl der Texte für die Untersuchung der polemischen Metakommunikation in Teil II liegt im wesentlichen ein Begriff des polemischen Textes zu Grande, wie er von Jürgen Stenzel in seinen Vorschlägen zu einer Theorie der Polemik (Stenzel 1986, Untertitel) entwickelt wurde. Unter den in Kapitel 2 dargestellten Gebrauchsvarianten steht er der Bedeutung .unsachlich-persönlicher Angriff auf den Gegner' nahe, allerdings bei Stenzel mit dem einschränkenden Zusatzmerkmal ,Argumentativität des Stils' versehen, was andere unsachlichpersönliche Angriffe wie Beschimpfungen oder die sogenannte Personalsatire ausschließt (siehe Kapitel 2.3.2.1 unter Punkt 6). Stenzel fuhrt in seinen Vorschlägen, die er als „heuristisches Schema [...] für die Analyse polemischer Texte" (3) präsentiert, als zentralen Begriff den der polemischen Situation ein und bestimmt ihn in folgender Weise: Unter diesem Begriff soll die Stellung der folgenden Elemente zueinander verstanden werden: Da ist zunächst das polemische Subjekt, der Polemiker. Der Angegriffene soll polemisches Objekt heißen. In einer Wechselpolemik tauschen beide die Rollen. Der indirekte oder direkte Adressat ist die polemische Instanz, worunter wir nach dem Muster der Rechtssprache das als entscheidungsmächtig vorgestellte Publikum begreifen. Der polemische Prozeß handelt von einem polemischen Thema (6).

Graphisch dargestellt ergibt sich das folgende Beziehungsgefuge: (Polem.) INSTANZ

(Polem.) THEMA

(Polem.) SUBJEKT

(Polem.) OBJEKT

Was Stenzel mit dem heuristischen Schema vor allem fördern will, ist die „historische Einzelfalluntersuchung", für die er drei Aufgabengebiete vorsieht. Sie hat sich „(1) mit der Entstehung der polemischen Situation zu befassen, gleichsam mit der Exposition der polemischen Handlung, (2) mit Verlauf und Folgen der Polemik und (3) mit der Symptomatik des untersuchten Konfliktgebietes" (Stenzel 1986, 10). Die Betonung des Einzelfalls, das Interesse also am Streit zwischen Lessing und Goeze, Heine und Platen, Kraus und Kerr usw., entspricht den Relevanzsetzungen der Literaturwissenschaft allgemein. Es macht aber keine

34 große Mühe, das Stenzelsche Schema, einschließlich der genannten Aufgaben, vom Einzelfall zu lösen und verallgemeinert sowohl die Bedingungen zu beschreiben, die - im Sinne der ersten Aufgabe - für die Entstehung einer polemischen Situation günstig sind, als auch die - wenn nicht universellen, so doch innnerhalb größerer historischer Zeiträume wiederkehrenden - Verlaufsmuster und die z.T. zeittypisch wechselnden Konfliktgebiete, die in den polemischen Auseinandersetzungen thematisiert werden.1

3.1.1.2 Kommunikationsbereiche: Öffentlichkeit vs. Privatsphäre Stenzel (1986, 5) verlangt für die Polemik „öffentlichen Vollzug" und meint, dass „private Thematik und Polemik unter vier Augen [...] hier allenfalls als Randphänomene gelten [mögen]." Unterstützend fur diese Auffassung kann man auf den Wortgebrauch hinweisen. Zwar werden gelegentlich auch private Streitfälle als polemisch bezeichnet, prototypisch aber ist das Wort für Auseinandersetzungen im öffentlichen Raum reserviert. Stenzel vermerkt in diesem Sinne, dass „dem Fremdwort Polemik die vornehme Aura des Professionellen, bisweilen Professoralen" anhafte, „während gesellschaftlich nicht akzeptierter und überwiegend privater Wortkampf sich mit dem Namen Beschimpfung zufrieden geben muß. Polemik trägt gleichsam Schlips" (4f.). Es bleibt aber, jenseits des Wortgebrauchs, in dem sich die Erinnerung an die geschichtliche Herkunft des Begriffs auswirkt, die auf die Sache bezogene Frage, ob privater und öffentlicher Streit im wesentlichem den gleichen Mustern folgen oder sich möglicherweise in wichtigen Aspekten unterscheiden.2 Es ist besonders der für die öffentliche

1

2

Beide Zielrichtungen, Einzelfallanalyse und verallgemeinernde Typusbeschreibung, enthält, kompatibel mit Stenzeis Schema, das Buch Die literarische Streitschrift. Themen, Motive, Formen von Ludwig Rohner (1987). Die Einzelfallanalysen, beginnend mit Walther von der Vogelweide und endend mit dem Zürcher Literaturstreit im Dezember 1966, werden eingerahmt von zwei Aufsätzen „Aus der Naturgeschichte der Polemik" und „Versuch einer Typologie". „Ihr heimliches Thema", so der Autor, sei „der Vorgang der Verfeindung" (10). Der erste Aufsatz ist schwerpunktmäßig ein Beitrag zur ersten Teilaufgabe Stenzeis, insofern nach dem Anteil, den der Charakter der Beteiligten bzw. die Art ihrer Beziehung an der Entstehung der polemischen Situation hat, gefragt wird. Der Schlussaufsatz hingegen ist, der Titel sagt es schon, konzentriert auf eine texttypologische Bestimmung der Streitschrift bzw. der Polemik in Abgrenzung zu anderen Literaturformen, enthält aber auch eine interne Unterscheidung verschiedener Ausprägungen von Streitschriften mit wechselnden Affinitäten zu anderen Gattungen. Hinweise zur allgemeinen Charakterisierung des polemischen Streits gibt neuerdings auch Barner (2000), der, ebenfalls beschränkt auf den Literaturstreit, einige Merkmale der Entstehung und des Verlaufs von Streitfällen benennt (376). Im übrigen bedauert er, dass es bisher „trotz des modischen Redens von der Streitkultur [...] außer historischen Beispielanalysen wenig prinzipiell Klärendes zu diesen Fragen gegeben" habe (375). Der theoretische und praktische Fachmann Schopenhauer betont in der Eristischen Dialektik, wenn auch nicht ausdrücklich für die Polemik, sondern für die Disputation, die Gleichartigkeit: „Zwischen der Disputation in colloquio privato s. familiari und der

35 Kommunikation konstitutive Dritte, das Publikum in den kleineren oder größeren Öffentlichkeiten, das als „polemische Instanz" die Situation in mehr als oberflächlicher Weise verändert. Auch dürfte die Bewertung des kommunikativen Verhaltens zumindest relative Unterschiede aufweisen. Manches, was im Eifer des Gefechts im privaten Meinungsstreit gesagt wird, mag, wenn es nicht nach außen dringen kann, gerade noch hingehen und unterliegt, öffentlich geäußert, stärkeren Sanktionen, wenn es - unabhängig vom Wahrheitsgehalt - als öffentlich nicht sagbar gilt. Da sich im Korpus dieser Untersuchungen ausschließlich veröffentlichte Texte befinden, ist die Frage, ob und inwieweit das in der Beschränkung auf öffentliche Streitfälle Festgestellte auf private Polemik übertragbar ist, nicht beantwortbar. Die Frage wird jedoch in Kapitel 6 beim Vergleich der Untersuchungsergebnisse mit denen anderer Projekte noch einmal aufgenommen.

3.1.1.3

Sprachliches Medium: Schriftlichkeit vs. Mündlichkeit

Polemik ist „organisierte, mehr oder minder gestaltete Rede, sei sie mündlich oder schriftlich" (Stenzel 1986, 5). Dass Polemik mündlich oder schriftlich realisiert werden kann, entspricht dem allgemeinen Sprachgebrauch. Begreift man Polemik als eine besondere Form des Streits, zu dem ja bekanntermaßen zwei gehören, so wird man, wenn von polemischem Streit kontextlos oder in einem schwach determinierenden Kontext die Rede ist, spontan möglicherweise sogar eher an mündlich-dialogische Kommunikationssituationen denken. Aber so wie ein Streit sich über längere Zeiträume hinziehen kann („ein jahrelanger Streit"), kann er zweifellos auch schriftlich ausgetragen werden („der deutsch-deutsche Literaturstreit"). Historisch ist Polemik sogar vornehmlich mit Schriftlichkeit verbunden, und auch der Gebrauch des pluralfähigen Substantivs zur Bezeichnung einzelner Exemplare eines häufig im Feuilleton realisierten Genres („eine Polemik") impliziert Schriftlichkeit. Trotzdem könnten zwischen mündlicher und schriftlicher Polemik in der Sache Unterschiede bestehen. Ein Beispiel für Differenz auf der Ebene der Bewertung ist die unterschiedliche Rolle, die der Affekt als Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund für normwidriges kommunikatives Verhalten spielt (vgl. Kapitel 5.3.4 und 5.6.5). Wieweit darüber hinaus Unterschiede bestehen, kann an dem ausschließlich schriftlichen Material nicht systematisch untersucht werden. Es ist folglich zu beachten, dass alle späteren verallgemeinernden Aussagen strenggenommen nur für schriftlich verfasste Polemik gelten.

disputatio sollemnis publica, pro gradu usw. ist kein wesentlicher Unterschied. Bloß etwa, daß bei letzterer gefordert wird, daß der Respondens allemal gegen den Opponens Recht behalten soll und deshalb nöthigenfalls der praeses ihm beispringt; oder auch daß man bei letzterer mehr förmlich argumentirt, seine Argumente gern in die strenge Schlußform kleidet" (Schopenhauer [um 1830] 1985, 695).

36 3.1.1.4

Polemische Intention vs. polemische Mittel

Im Lexikon Brisante Wörter (Strauß u.a. 1989) werden bei grundsätzlicher Vereinbarkeit mit dem Polemikbegriff Stenzeis am Beispiel des Adjektivs verschiedene Gebrauchsweisen unterschieden: Mit dem [ . . . ] häufig verwendeten Adjektiv polemisch charakterisiert man Denk- und Verhaltensweisen sowie daraus resultierende Handlungsweisen bzw. Produkte (z.B. Äußerungen, Schriften) von Personen meist negativ wertend als in der Art, in Form einer Polemik oder als Polemik gemeint, auf (eine) Polemik bedacht, eine Polemik bezweckend oder enthaltend und voller Polemik (296).

Die Eigenschaft, polemisch zu sein, kann also einer Denkweise, einer Verhaltensweise, einer Handlungsweise oder einem Handlungsprodukt zugeschrieben werden, und es erhebt sich die Frage, ob eine polemische Denk- und Verhaltensweise immer auch eine entsprechende Handlungsweise bzw. ein entsprechendes Handlungsprodukt nach sich zieht und umgekehrt, oder ob es Diskrepanzen zwischen den Ebenen geben kann, und welche Ebene im zweiten Fall für die Entscheidung ausschlaggebend sein soll, ob ein Text polemisch ist oder nicht. Insbesondere stellt sich die Frage, ob ein Text polemisch genannt werden soll, weil der Autor eine bestimmte Intention verfolgt (Denkweise) oder weil die sprachliche Realisierung des Textes bestimmte Merkmale aufweist (Handlungsprodukt). In der Geschichte wie in der gegenwärtigen Sekundärliteratur findet man wechselnd beide Möglichkeiten, während Stenzel mit dem Merkmal des .unsachlichen Stils' das entscheidende Zuordnungskriterium auf Textmerkmale legt. Das empirisch ohnehin schwer nachweisbare Vorliegen der von Stenzel beschriebenen Intention des Polemikers - Vernichtung des Gegners und seiner Position in den Augen des Publikums - reicht also nicht aus, um das Textprodukt als polemisches zu klassifizieren. Faktisch dürften zwar Texte, die Merkmale des polemischen Stils aufweisen, beim Produzenten in der Regel mit der Intention verbunden sein, den Gegner zu vernichten oder ihn - ohne Stenzeis „spekulative Übertreibung" (1986, 6) - in den Augen des Publikums zu diskreditieren. Doch gilt die Umkehrung sicherlich nicht. Die gleiche Intention lässt sich unter Umständen durch unsachliche Verfahrensweisen oder z.B. auch durch eine Satire erreichen. Man muss sich also entscheiden, ob die Intention oder die textuell realisierten Mittel bei der Typologisierung der Texte ausschlaggebend sein sollen. Ich folge auch in dieser Hinsicht Stenzel.

3.1.1.5

Polemischer Text vs. polemischer (Stil)Zug

In der Neuen Berliner Monatschrift erschien 1821 im ersten Heft eine umfängliche Rezension der von August Wilhelm Schlegel herausgegebenen Zeitschrift Indische Bibliothek, deren Verfasser (Anon. 1821b) zwar insgesamt recht kritisch eingestellt ist, über weite Strecken jedoch referiert, Sachverhalte beschreibt oder eigene Überlegungen zu den in der Zeitschrift behandelten indischen Gegenstän-

37 den anstellt. Nur hin und wieder findet man deutlich polemische Passagen in Gestalt verallgemeinerter Angriffe auf die Schriftstellerpersönlichkeit Friedrich Schlegels, die den Anlass, Schlegels Rolle in der rezensierten Zeitschriftennummer, weit übersteigen. Machen diese die Rezension zu einem polemischen Text, auch wenn sie nur zwei bis drei von insgesamt 43 Seiten betreffen? Stenzel identifiziert als „kleinste polemische Einheit" den „polemischen (Stil-)Zug" und meint: „Ein einziger polemischer Zug läßt bereits die weiter unten entwickelte ,polemische Situation' in Kraft treten" (4). Will man bezweifeln, dass wirklich ein einziger ausreicht, gerät man in die Verlegenheit, sagen zu sollen, wie zahlreich die polemischen Züge sein müssen, wenn man von einem polemischen Text reden will. Eine Festlegung dieser Art ist für die Untersuchung der polemischen Metakommunikation in Teil II, die es grundsätzlich mit einzelnen metakommunikativen Zügen, nie aber mit dem ganzen Text zu tun hat, nicht getroffen worden. Es sei ausdrücklich eingeräumt, dass es bei dieser Sachlage genauer wäre, statt von polemischen Texten generell von Texten mit polemischen Zügen zu sprechen. Es ist nur die Umständlichkeit der letzten Formulierung, die den schlankeren Ausdruck rechtfertigen kann.3

3.1.2

Die textimmanente Inszenierung der polemischen Situation

3.1.2.1

Realsituation und polemische Konstellation

In einer Anmerkung zum Begriff des polemischen Subjekts gibt Stenzel die Erläuterung: Gemeint ist damit zunächst der Autor. Ob und wieweit sich die Rolle des Polemikers, in die der Autor sich hineinschreibt, von seiner Realexistenz entfernt, müßte die Untersuchung des jeweiligen Einzelfalles ergeben (5).

In Analogie zu der bekannten literaturwissenschaftlichen Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler in fiktionaler Prosa bzw. Autor und lyrischem Ich weist Stenzel auch für die Analyse polemischer Texte auf mögliche Diskrepanzen zwischen dem Autor in seiner Realexistenz und der von ihm geschaffenen Figur des Textschreibers hin, ohne damit die Polemik in die Nähe literarischer Kunstformen mit ästhetischen Ansprüchen rücken zu wollen. Die Diskrepanzen beruhen darauf, dass die in einem polemischen Text oder auch in einer ausgedehnte-

Eine ähnlich geartete Unterscheidung machen Schank/Schwitalla (1987, 13) zwischen Streitgespräch und Streitpassagen/Streitsequenzen (in Gesprächen): „Bestimmen Konflikte Gespräche als ganzes, kann man von Streitgesprächen sprechen, oft treten aber auch konfliktäre Phasen in Typen anderer Gespräche a u f (13). Dascal (1998) unterscheidet „types of polemics" auf der strategischen Ebene („has to do with the global pattern of a polemic exchange", 19) und „types of polemical moves" auf der taktischen Ebene („has to do with the nature of the moves and countermoves employed at specific points in the exchange", 19).

38 ren polemischen Kontroverse sich darstellende Figur immer mehr oder weniger gemäß den Erfordernissen der polemischen Zielrealisation modelliert wird und deshalb keine sicheren Rückschlüsse auf die empirische Person des Schreibers zuläßt, wie umgekehrt nicht angenommen werden darf, dass dieser sich unverstellt und ungebrochen im polemischen Text ausdrückte. Eigenschaften, die ein Autor sich in Briefen oder anderen autobiographischen Zeugnissen zuschreibt, sind also nicht notwendig identisch mit denen, die er textimmanent als Schreiber eines polemischen Textes aufweist. Aus einer behaupteten oder sich im Stil ausdrückenden emotionalen Erregung der polemischen Figur lässt sich nicht ohne weiteres schließen, dass der Autor beim Schreiben emotional erregt war. Es kann sein, dass die Erregung taktisch gespielt war, weil Affekt beim Publikum manches entschuldbar macht, was, mit kühlem Kopf gesagt oder getan, zum Gegenstand eines Vorwurfs würde. Auch muss der von der Textfigur artikulierte Anspruch, mit seinem Text ausschließlich an der sachlichen Klärung des Problems interessiert zu sein, eine Versicherung, die in polemischen Texten fast obligatorisch ist, nicht unbedingt mit den wahren Intentionen des Autors übereinstimmen. Lessing (in seiner Realexistenz) erläutert am 23. Juli 1778 brieflich seinem Bruder, dass er in der mitgeschickten Schrift „eine Wendung nehme, die den Herrn Hauptpastor wohl capot machen soll" (Lessing 3 1907, Bd. 18, 227). Es ist höchst unwahrscheinlich, dass die Figur des polemischen Subjekts im Text sich eine solche Intention zuschreiben würde, gehört es doch zu den Spielregeln dieser Schreibart, sich gegenüber dem Lesepublikum als jemand zu profilieren, dem solche Regungen fremd sind. Ob und wieweit derartige Diskrepanzen vorliegen, kann in der Tat nur die Untersuchung des Einzelfalls klären. Doch ist es methodisch ratsam, die (mehr oder weniger große) Diskrepanz zwischen Autor und Textfigur als den Normalfall anzusehen und lieber umgekehrt zu fragen, ob und wieweit man beide im Einzelfall miteinander identifizieren kann. 4 Die von Stenzel in Hinblick auf das polemische Subjekt getroffene Unterscheidung zwischen „Autor in seiner Realexistenz" und „Rolle des Polemikers im Text" lässt sich analog auf alle anderen Elemente der polemischen Situation übertragen. In gleicher Weise bekommen nämlich auch das polemische Objekt, das polemische Thema, die polemische Instanz und die soziale Welt, in der die Auseinandersetzung stattfindet, eine doppelte Ausprägung. Auch sie geraten im polemischen Text unter die Bedingungen der spezifischen Zielrealisation, so dass es sinnvoll erscheint, den Stenzelschen Begriff der polemischen Situation auch terminologisch aufzuspalten in die (mit Einschränkungen) objektive, von außen betrachtbare Realsituation und die inszenierte polemische Konstellation, die der Polemiker in und mit seinem Text schafft und die sich einer rekonstruktiven Analyse erschließt. 5

4

5

Zu den methodischen Konsequenzen, die aus der „Verdoppelung" der Situation zu ziehen sind, siehe genauer die Unterscheidung von metakommunikativen und extrakommunikativen Äußerungen in Kapitel 4.2.2. Diese Unterscheidung ist anderer Art als die Aufsplittung der Situation durch Apeltauer

39 Auch am Pol des polemischen Objekts ist also der namentlich genannte Gegner mit seinen Eigenschaften in der Realexistenz zu unterscheiden von der Figur, die er als Element der polemischen Konstellation annimmt. Die Gefahr, beide zu verwechseln, ist allerdings von vornherein geringer als bei den Selbstzuschreibungen. Diskrepanzen zwischen der empirischen Person des polemischen Objekts und dem, was wir im Text über ihn lesen, kalkulieren wir als Rezipienten in einem gewissen Maße schon deshalb ein, weil wir wissen, dass sich der Autor über den Gegner täuschen kann und ohnehin immer nur begrenzte Kenntnisse von der fremden Person hat. Allerdings produziert die Funktionalisierung der Äußerungen im Text zusätzliche Diskrepanzen auch zwischen dem, was der Polemiker im Text über den Gegner sagt, und was er selbst als empirischer Autor in seiner Realexistenz über den Gegner weiß oder glaubt. Wenn etwa Schopenhauer in seiner Polemik gegen die Sprachverhunzer (Schopenhauer 1851/1989, V, 629f.) den polemischen Objekten die Gestalt zigarrenrauchender Zwerge verleiht, so wird niemand annehmen, er habe falschlich geglaubt, die z.T. namentlich genannten realen Personen seien alle kleinwüchsige Zigarrenraucher gewesen. Auch das Publikum wird sich nicht so leicht täuschen lassen und wird in diesen Porträts ein satirisches Wirkungsmittel vermuten. Gleichfalls kann das Bild, das in den polemischen Texten von den Beziehungen zwischen den Kontrahenten, den Kräfteverhältnissen und dem Potential der beiderseitigen Hilfstruppen gezeichnet wird, mehr oder weniger von den tatsächlichen Verhältnissen abweichen, weil es auf polemiktypische Muster hin stilisiert wurde, auch wenn die Wirklichkeit aus Gründen der Glaubwürdigkeit in der Regel nicht auf den Kopf gestellt wird. Ein solches Muster ist der Kampf Davids gegen Goliath, wenn das polemische Subjekt sich als klein und schwach, den Gegner als groß und übermächtig darstellt. Das polemische Subjekt kann umgekehrt auch die Autorität hervorkehren und den Gegner als unreifen Knaben oder intellektuelles Nichts ausmalen. Die beiden Figurationen können dadurch unterstützt werden, dass man sich entweder als Einzelkämpfer gegen eine Übermacht von Bundesgenossen des Gegners präsentiert oder dass man den Gegner als völlig isolierten Querkopf zeichnet, dem man selbst im Bündnis mit allen Vernünftigen und Kompetenten gegenübersteht. 6 Die Unterscheidung von Realsituation und Konstellation ist in der Analyse polemischer Auseinandersetzungen generell sorgsam zu beachten, so dass jeweils

6

(1977, 27) in setting („physikalische Bedingungen der Situation wie Zeit, Ort, Teilnehmer und Thema") und scene („kulturell definierte Situation" mit den Annahmen, Absichten, Strategien der Beteiligten); denn von der Verdoppelung im hier gemeinten Sinne ist nicht nur die scene, sondern auch das setting betroffen. Die letzte Variante schreibt z.B. Müller (2000) Bennett im philosophischen Streit mit Ayers zu: „Bennett möchte den Eindruck wecken, daß seine Interpretation von der Mehrheit der Fachkollegen, von Leibniz angefangen, geteilt wird und Ayers mit seiner Deutung weitgehend allein ist" (470). Die Umkehrung liebt Reich-Ranicki, der negative Kritiken gern mit dem Hinweis beginnt, dass das fragliche Werk von allen anderen (zu Unrecht) gelobt wurde.

40 klar ist, auf welcher Grundlage worüber Feststellungen getroffen werden: über die realen beteiligten Personen und Verhältnisse oder über die textimmanente Ausarbeitung der polemischen Konstellation. Die methodische Bedeutung der Unterscheidung erweist sich auch in den folgenden Abschnitten 3.1.2.2-3.1.2.4.

3.1.2.2 Adressaten und Ziele des Polemikers Geht man davon aus, dass der Adressat einer Äußerung im Normalfall der ist, der ausdrücklich angesprochen wird, so wäre die Frage nach dem Adressaten polemischer Texte über eine Analyse des Anredeverhaltens des Polemikers zu klären. Dabei reicht es nicht aus, nur direkte Anreden mit Namen und/oder Anredepronomen zu erfassen. Es wären, besonders im Medium der Schriftlichkeit, auch die Möglichkeiten zu beachten, vom gemeinten Adressaten in dritter Person zu reden, indem man sagt, wen man anspricht bzw. wen man als gewünschten Leser des Textes im Auge hat („Das Publikum wird mir verzeihen, wenn ich [...]" o.a.). Eine solche Analyse hätte voraussagbar das Ergebnis, dass in einem Teil der Texte das polemische Objekt angesprochen wird, 7 in einem anderen das Publikum, die Leserschaft in ihrer Rolle als urteilende Instanz, 8 dass in einer dritten Gruppe die Ansprache wechselt und in einer vierten ein Adressat sprachlich überhaupt nicht identifiziert wird. Specht (1986, 34) meint, dass die Ansprachen an den Gegner, zumindest bei Lessing und in literarischen Polemiken, insgesamt häufiger sind. Zum Teil ist das sekundäre Folge der bei Polemikern beliebten Entscheidung, für die Polemik die Form des, eventuell fingierten, offenen Briefes zu wählen. 9

8

9

Einige Beispiele für Ansprachen an den Gegner sind: „Aber was soll ich zum Beschluß Ihrer Scharteke sagen? Oder was würde Ihnen ein Mann antworten, der minder zurückhaltend wäre, als ich?" (Lichtenberg 1776/31994, III, 250). - „Lieber Herr Pastor, ich wünschte sehr diese Zumutung wäre nicht gedruckt an mich ergangen" (Lessing 1778c/31897, XIII, 108). - „Mein erster Gang, Herr Ritter, den ich mit Ihnen thue, muß notwendig dahin abzwecken, Sie und die Welt von der Gerechtigkeit meines Vorwurfs zu überzeugen" (Bahrdt 1790/1963, I, 85). - „Darin übrigens irren Sie sich, daß Ihre Flucht Ihr Familiengeheimniß gewesen, es müßte denn sein, daß ganz Zürich Ihre Familie wäre" (Rüge 1847/1976, 227). - „Nun sollten Sie, lieber Herr Grass, in handwerklichen Dingen ausreichend bewandert sein, um zu wissen, daß ein solches Pro und Contra gewisse Spielregeln nach sich zieht" (Greiner 1994, 59). Beispiele für Ansprachen an das Publikum: „Das Publicum richte" (Campe 1789/1993, 71). - „Das ganze urtheilsfahige Publikum, vor dessen Richterstuhle Anklage und Vertheidigung nun verlautbart ist, urtheile jetzt mit Unparteilichkeit, auf wessen Seite Recht oder Unrecht" (Krug 1822, IV). - „Ich enthalte mich jedes Urteils und lasse den Leser selbst urteilen" (Dennert 2 1905, 54). Wie Lessing (in seiner Realexistenz) erläutert, sind die „sogenannten Briefe" „eine Art schriftstellerischer Komposition", ein „einseitiger Dialog", in dem „man sich wirklich mit einem Abwesenden [...] unterhält, den man aber nicht zum Wort kommen läßt, sooft auch darin steht: Sagen Sie, mein Herr; werden Sie antworten, mein Herr?" Motivation für diese „allerkommodeste Art von Buchmacherei" ist für Lessing trotz des Man-

41 Soll man aus dem Nebeneinander von Anreden des polemischen Objekts und des Publikums den Schluss ziehen, dass der Adressat wechselt, dass verschiedene Polemiken verschiedene Adressaten haben, oder ist es so, dass hinter der wechselnden Oberfläche der textimmanent angesprochenen Adressaten der gemeinte immer der gleiche bleiben? - Stenzel geht davon aus, dass der primäre Adressat (in der Realsituation) das Publikum sei, das von den Streitenden als Richter angerufen werde, eine Ansicht, die von den meisten Betrachtern geteilt wird 10 und für die es gute Argumente gibt. Wäre der Kontrahent der Hauptadressat, wäre schon die Wahl des öffentlichen Mediums erklärungsbedürftig. Dem Kontrahenten könnte der Polemiker auch einen persönlichen Brief schreiben (so wie es fiktiv Lichtenberg [1776] in seiner Polemik gegen Göbhard tut). Auch der argumentative Grundzug erweist seine Funktionalität nur in der Adressierung des Publikums, ebenso wie die polemischen Mittel der Übertreibung und der persönlichen Diskriminierung, die kaum geeignet sind, den Angegriffenen von der Berechtigung des gegnerischen Standpunktes zu überzeugen. Nimmt man den Kontrahenten als gemeinten Adressaten an, so blieben ferner Polemiken gegen Personen unerklärt, die schon tot sind oder bei denen es nach Lage der Dinge unwahrscheinlich oder unmöglich ist, dass sie von der Polemik Kenntnis erhalten. Und schließlich könnte auch die Betrachtung der Texte unter dem Aspekt der Griceschen Konversationsmaximen deutlich machen, dass der Polemiker sich hinsichtlich des Vorwissens, das er voraussetzt, offensichtlich am Publikum und nicht am polemischen Objekt orientiert. Polemische Texte enthalten in aller Regel Informationen, die dem Gegner inhaltlich bekannt sind. Dem Kontrahenten gegenüber stellen die Texte also im hohen Maße eine Verletzung der Informativitätsmaxime dar. - Wir halten also daran fest, dass der primäre Adressat polemischer Texte das Publikum ist und dass dieser Sachverhalt ein konstitutives Element der Realsituation ist, auch wenn er in der polemischen Konstellation durch andersartige textinterne Adressierungen verwischt wird. Das bedeutet natürlich nicht, dass es nicht von Fall zu Fall, sogar über das polemische Objekt hinaus, weitere Adressaten geben könnte. So wird dem Gegner nicht selten vorgeworfen, mit einer polemischen Schrift die staatlichen Instanzen beeinflussen zu wollen. Musterbeispiel dafür ist Wolfgang Menzel, der als „Denunziant" in die Geschichte eingegangen ist.11

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gels an Ordnung die Leichtigkeit und Lebendigkeit dieser Form, die sie positiv von einer didaktischen Abhandlung unterscheidet (Lessing [1780] 1956, 496). So von Weinrich, der rät, „bei der Interpretation eines polemischen Textes in keinem Augenblick den Leser aus den Augen zu lassen. Denn wer anders als der Leser ist Richter in diesem Streit zwischen einem, der angreift, und einem, der angegriffen wird!" (Weinrich 1966, 322). Im gleichen Sinne äußert sich Specht (1986) am Beispiel Lessings: „Denn wahrer Adressat seiner Schriften ist nicht der Gegner, sondern das Publikum. Nicht den Gegner gilt es zu überzeugen (obwohl Lessing diesen Eindruck zu erwecken sucht), sondern das Publikum, denn dieses ist die eigentliche ,Waffe' des Polemikers. [...] Die Öffentlichkeit, die Leserschaft ist sowohl Richter als Vollstrecker des Urteils" (195). Ungewöhnlich ist, wenn jemand wie Fabritius (1822) seine Schrift selbst an die herr-

42 Hauptziel des Polemikers in der Realsituation ist nach Auffassung Stenzeis, den Gegner in den Augen der polemischen Instanz zu diskreditieren und sich selbst als vir bonus zu etablieren: Der Polemiker soll samt seiner Position in den Augen der polemischen Instanz als wertvoll erscheinen, der Angegriffene und seine Position als minderwertig. [ . . . ] Das bedeutet schließlich: Das polemische Objekt und seine Position sollen ihres Unwertes wegen zum Aggressionsobjekt der polemischen Instanz werden (1986, 7).

Eine solche Zielbestimmung findet man nicht selten auch in polemischen Texten formuliert, dort aber nur in Vorwürfen an den Gegner. Die Ziele, die sich die Polemiker im Rahmen der polemischen Konstellation textintern selbst zuschreiben, sind andere: Verbreitung der Wahrheit bzw. Beseitigung von Unwahrheit durch Widerlegung des Gegners, Aufklärung des Publikums, Zurückweisung angemaßter Autorität oder Förderung anderer zweifelsfrei positiver Werte. Fragt man nach, welche Vorteile die Diskreditierung oder gar Vernichtung des Gegners dem Polemiker bringt, welche weitergehenden Ziele er damit fördern kann, so sind mehrere Antworten möglich. Textintern werden dem Polemiker gern persönliche Antriebe unterstellt, z.B. gekränkte Eitelkeit, mit der er auf vorangegangene Kritik reagiert.12 Häufig sind Verweise auf ökonomische Interessen, ein Motiv, das auch in der literaturwissenschaftlichen Analyse „von außen" verschiedentlich Beachtung gefunden hat.13 Martens (1986), der dieses Motiv mit Bezug auf Voß, Bürger und Schiller als konkurrierende Herausgeber von Periodika anspricht, betont zugleich, dass es als Movens des eigenen Handelns höchstens in Briefen an Freunde geäußert wird, öffentlich hingegen nicht zugebbar ist. Als Vorwurf an den Gegner aber ist es in der polemischen Konstellation wirkungsvoll einsetzbar. Ökonomische Konkurrenz steht oft auch hinter den überindividuellen Schulgegnerschaften, sei es, dass der öffentliche Streit durch sie in Gang gesetzt wird, sei es, dass sie sich sekundär an einen Streit

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sehenden Gewalten adressiert. Dass seine Widmung und die in der Schrift gegebenen Ratschläge intentional auf Wirkung bei den staatlichen Instanzen gerichtet sind, zeigt, postwendend von Krug (1822) aufgespießt, die an seinen „gnädigsten Souverain" gerichtete Bitte um „Befreiung von den körperlichschweren Arbeiten in der Bibliothek", um sich ein halbes Jahr erholen zu können und Kraft für eine zweite Denkschrift zu sammeln. „Wer die physiologischen Briefe und das Buch des Herrn Vogt gelesen hat, der wird keinen Augenblick zweifelhaft sein, woher dieses Autors jetziger Grimm gegen den Verfasser stammt. Derselbe rührt von jener Stelle im 6. Briefe her, wo, ohne daß der Name des Autors genannt wurde, eine unwiderlegliche Kritik an einem Satz des Herrn Vogt geübt ward, [...]" (Wagner, zit. in: Vogt 1855/1971, 543). - „Man hat gesagt, daß ich mich von der ,Zunft' verfolgt oder α priori abgelehnt geglaubt habe und sie deshalb bekämpfe" (Bartels 1908, 132). Das Spektrum persönlicher Motive ist ausdifferenziert in Kapitel 5.3.2. Zur Konkurrenz der freiberuflich Schreibenden auf dem kapitalistischen Markt als Hintergrund für literarische Streitfalle im 18. und in der ersten Hälfte des ^.Jahrhunderts siehe Bamer 1993, 24f.; Berghahn 1993, 176-183; Homberg 1975, 16-18; Martens 1986; Oesterle 1975, 160.

43 heften. Barner (1993, 27ff.) deutet die „Kritik-Kartelle" zwischen Zeitschriften bzw. Kritikorganen im 18. Jahrhundert (Leipziger gegen Zürcher, Berliner gegen Hallenser) in diesem Sinne. Schul- oder Gruppenfeindschaften müssen allerdings nicht in finanziellen Motiven begründet sein. Bei den beamteten Wissenschaftlern, den Professoren, kann es sich auch um eine Konkurrenz um Prestige, Macht und Einfluss handeln, die nicht nur in Geld gemessen werden. Es versteht sich, dass im Falle von Mehrfachadressierungen auch die Ziele des Polemikers sich adressatenspezifisch ausdifferenzieren. Hinsichtlich des polemischen Objekts als eines der Sekundäradressaten sind in der Literatur vor allem zwei Motivationen präsent: (1) die Kränkung, Verletzung, Demütigung des Gegners, (2) die taktisch motivierte emotionale Reizung, die ihn verwirrt, kampfunfähig macht, zum Schweigen bringt. Auch solche Zielbestimmungen findet man gelegentlich textimmanent von den Polemikern selbst geäußert. 14 Weniger (intentionales) Ziel als mit der Polemik verbundener Effekt ist die in der Analyse der Realsituation zur Erklärung polemischen Streitens herangezogene emotionale Entlastung auf Seiten des polemischen Subjekts (oder auch des Publikums): Polemik als „Stuhlgang der Seele" (Betz 1966, 329).

3.1.2.3 Die Rolle der Emotionalität in der polemischen Situation Hinsichtlich der Persönlichkeitsmerkmale, die in besonderer Weise zur Polemik disponieren, betont Rohner (1987) im Kapitel „Naturgeschichte der Polemik" die bedeutende Rolle des Hasses im „Vorgang der Verfeindung" (10) und illustriert am Beispiel von Karl Kraus, dass Neigung und Fähigkeit zum Hass unter den Menschen ungleich verteilt sei. Dem Hasser als dem potentiellen Polemiker steht idealtypisch der Ireniker gegenüber. Über die Frage hinaus, ob Polemik speziell in Hassgefühlen des Polemikers wurzelt, ist jedoch zweifelhaft, ob Polemik überhaupt in charakteristischer Weise eine emotionale Grundlage in der Psyche ihres Urhebers hat. Es ist zwar nicht zu leugnen, dass Polemik in mancherlei Hinsicht mit Emotionen zu tun hat und dass man auch die Sprache der Polemik 14

So wenn Lichtenberg in seinen Sudelbüchern in seiner Realexistenz notiert: „Daß man seine Gegner mit gedruckten Gründen überzeugen kann, habe ich schon seit dem Jahre 1764 nicht mehr geglaubt. Ich habe auch deswegen die Feder gar nicht angesetzt, sondern bloß um sie zu ärgern, und denen von unserer Seite Mut und Stärke zu geben und den andern zu erkennen zu geben, daß sie uns nicht überzeugt haben" (Lichtenberg 1775—1776/ 5 1994, I, 384f.). In der polemischen Selbstdarstellung ist die edlere Lesart Campes (1789/1993, 34f.), der in seiner Polemik gegen Moritz die Hoffnung ausspricht, dass Moritz durch seine Schrift „zum Nachdenken über sich selbst [ . . . ] veranlaßt werden würde", die geschicktere Wahl. Ähnlich Müllenhoff (1855b, lOOf.), der in seiner Inszenierung der polemischen Konstellation von seinem Gegner Holtzmann hofft, „dass die Zurechtweisung, zu der er uns Gelegenheit gegeben, ihn seine Schranken kennen lehrt". Von Müllenhoff wiederum meint Bartsch (1864, 68), dass er aus der kritischen Rezension seinerseits lernen möge, „daß zu einem dictatorischen Auftreten, wie es sein Buch zeigt, er ebenso wenig wie irgendjemand anders berechtigt ist".

44 als emotional bezeichnen kann. Diese emotionalen Züge (vgl. Kapitel 3.1.2.1) müssen aber nicht Ausdruck eines emotionalen Erregungszustandes des polemischen Subjekts in der Realsituation sein. Sie können auch ein im Rahmen der polemischen Konstellation strategisch eingesetztes Mittel sein, dem Publikum einen bestimmten emotionalen Zustand des polemischen Subjekts zu suggerieren oder um beim Publikum oder beim polemischen Objekt Emotionen zu wecken. Auch dazu muss der empirische Autor sich nicht selbst in Affektzuständen befinden. Stenzel (1986) meint daher, dass in der Polemik, die ja im Unterschied zur Beschimpfung auf Argumentation angelegt ist, „Erregungszustände des Polemikers [...] jedenfalls rein fakultativ" (5) seien: Seine Erregung muß in organisierter Rede aufgefangen und auf Wirkung hin funktionalisiert sein. Unter Umständen ist es erst die polemische Wirkungsabsicht, die den Erregungszustand des Polemikers als eine nützliche Produktivkraft erzeugt (ebd.).

Emotionalität wäre, so gesehen, nicht der Auslöser, sondern ein sekundäres Ergebnis des sich Hineinsteigems in eine polemische Auseinandersetzung. Der inszenatorische Anteil wird auch von Eckhart Henscheid angesprochen, wenn er im Nachwort zu seiner Sammlung Erledigte Fälle sagt: Daß all die bösen Autorenaffektationen auch wesentlich Pose seien, nämlich ein in Stilattitüde verwandelter Ekel, Ärger, Überdruß, Zorn, Nausee - dies genau wird am wenigsten geahnt, selbst von geübteren Lesern selten (Henscheid 1991, 201).

Auch er leugnet nicht, dass Emotionen eine Rolle spielen, ist doch von Ärger, Überdruss usw. die Rede, doch macht Henscheid auf die Gebrochenheit und Posenhaftigkeit dessen aufmerksam, was an Emotion am Text wahrnehmbar ist. Ein anderer Polemiker, Karl Kraus, spricht der Polemik dagegen ein „rauschhaftes Element" als ihr bestes Teil zu, das verloren gehe, wenn man Polemik auf den Meinungsstreit reduziere (zit. Quack 1976, 48). Oesterle (1986), der diese Äußerung von Kraus ebenfalls zitiert, nimmt in seinem Kommentar die Bedeutung der Affekte dann wieder halb zurück. Sie sind nämlich nur die eine Seite der Medaille: Das mag überspitzt sein [die Betonung des Rauschhaften bei Kraus], ein Kernstück der Gattung Polemik ist gleichwohl damit getroffen. Die Polemik lebt aus der Spannung extremer Gegensätze: von Affekt und Besonnenheit, von Argument und Bluff, von Logik und Paralogismen, von Dokument und Metapher, von akribischer Kriminalistik und wilder Spekulation, von rigorosem ethischen Prinzip und brutalem Vernichtungswillen, von kalkulierter Wirkungsstrategie und dem Spiel mit dem Zufall (107).

Als Resümee bleibt m.E. die Auffassung Stenzeis korrekt, dass affektive Erregungszustände des Autors keine Bedingung für das Entstehen einer polemischen Auseinandersetzung sind, auch wenn sie eine Eigenschaft der textinternen Figur sind. 15 Zu bedenken ist auch, dass Affekte, die den empirischen Schreiber zum

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Andererseits ist ein Zustand emotionaler Erregung in vielen Einzelfällen auch in der Realsituation nicht ausgeschlossen. Max Frisch versichert zum Beispiel rückblickend auf seine Reaktion auf die Zürcher Rede Emil Staigers (Zürcher Literaturstreit 1967) glaubhaft: „Ich war einfach empört, als ich die Rede von Emil Staiger hörte und die Re-

45 Zeitpunkt des Schreibens tatsächlich bewegen und die Polemik motivieren, im Zeitverlauf von selbst ihre Qualität verändern, weil ein Affekt, der den Schreibund Veröffentlichungsprozess, die Fahnenkorrektur und womöglich auch noch eine Überprüfung des Textes auf mögliche Straftatbestände hin überstanden hat, zunehmend unglaubwürdiger wird und am Ende von selbst zu etwas Kalkuliertem mutiert. - Über den textimmanenten Umgang mit der Emotionalität und ihrer Bewertung wird in Kapitel 5.3.4 Genaueres ausgeführt.

3.1.2.4 Polemische Strategien: Argumentativität und polemische Porträtierung (1) Argumentativität Stenzel hat, um die Polemik als eine spezifische Form „aggressiver Rede" eingrenzend genauer zu bestimmen, ihre Argumentativität betont, obwohl sich Unsachlichkeit und Angriffe auf die Person des Gegners nicht ohne weiteres mit Argumentativität im üblichen Sinne vereinbaren lassen. Wenn er trotzdem auf dem argumentativen Grundgestus besteht, dann behauptet er nicht, dass der Polemiker die normativen Erwartungen, die mit der Forderung nach Argumentativität meist verbunden sind, wirklich erfüllt. Gemeint ist vielmehr, dass der Polemiker auch dann, wenn er jene verletzt, die für argumentative Texte typischen Sprachformen möglichst bewahrt, sie mindestens formal reproduziert und so für seine polemische Zielrealisation funktionalisiert. Vergleichbar betrachten Groeben u.a. (1990-1992) Formen der Auseinandersetzung, die dem Idealkonstrukt der Argumentationsintegrität nicht genügen, dennoch als Argumentation, nur eben als „unintegre" bzw. „unfaire". Die Betonung der Argumentativität, die natürlich gut zur historischen Herkunft der Polemik aus der theologischen und wissenschaftlichen Widerlegungslehre passt, ergibt sich, aus anderer Perspektive betrachtet, auch aus den Bedingungen des „objektorientierten" Streits (Apeltauer 1977, 26f.). Das Verb streiten hat ja im Deutschen eine einwertige und eine zweiwertige Variante, sich streiten und (sich) über etwas streiten, und ist in der Fügung polemisch streiten im zwei-

aktionen seines reaktionären Publikums beobachtete" (zit. Kieser 1986, 247). Umgekehrt gibt es Polemiker, die in ihrer Realexistenz von sich behaupten, kühlen Kopfes agiert zu haben. So schrieb Friedrich Engels im Vorwort zur ersten Buchausgabe des Anti-Dührung (Engels 1878, 5), seine Artikelserie im Vorwärts sei „keineswegs f . . . ] Frucht irgendwelches ,inneren Drangs' gewesen." Diese im Rahmen der polemischen Konstellation gemachte Bemerkung stimmt mit dem überein, was Engels in Briefen an Freunde und Mitstreiter (zit. Mogge 1977, 145 u. 148) über seine Motivationen und Einstellungen zu erkennen gibt: ein Unverständnis darüber, dass sich jemand w i e Helmholtz „über Äußerungen eines Dühring auch nur ärgert", und den eigenen inneren Widerstand, sich mit dem langweiligen Dühring und der Dühringseuche überhaupt zu beschäftigen. Er beugte sich nur dem Drängen von Marx, Liebknecht und anderen.

46 ten Sinne zu verstehen. Wenn immer man sich über etwas streitet, steht man aber unter der Erwartung, für seine Position Gründe anzugeben und sich mit den Gründen des anderen argumentativ auseinanderzusetzen. Ist ein Streitender nicht willens, diese Erwartung zu erfüllen, setzt er sich dem Verdacht aus, im Sinne des einwertigen Verbs sich bloß streiten zu wollen. Polemik präsentiert sich als objektorientiertes Streiten über etwas und ist daher wirklich oder vorgeblich argumentativ, während das nicht objektorientierte bloße Streiten als Beschimpfung oder Zank realisiert wird. Polemische Texte scheinen daher gewissermaßen zwischen der Beschimpfung einerseits und der sachlichen Diskussion andererseits zu stehen, weil w i e beim Schimpfen die Regeln der sachlichen Auseinandersetzung verletzt werden, der Autor aber andererseits zumindest den Anschein wahrt, mit Gründen zu streiten. U n d so wird der polemische Text auch von vielen nicht als eine eigenständige Text- oder Schreibart begriffen, sondern entweder als eine Übergangserscheinung z w i s c h e n Argumentation und Beschimpfung oder als ein Randphänomen der Argumentation. Anders Specht (1986), der m.E. sehr treffend die vermeintliche Zwischenstellung, umgedeutet als Doppelbödigkeit, zum konstitutiven Merkmal der Polemik als eigener Gattung macht. 1 6 So steht die Polemik nicht z w i s c h e n Disputatio und Pamphlet, sondern hat, widersprüchlich miteinander verbunden, Eigenschaften beider. 17 Dazu noch einmal Specht:

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Die schon in Kapitel 2.3.2.1 erwähnte Doppelbödigkeit spricht Specht auch im folgenden Zitat an: „Die Wechselwirkung von Sachargumentation und Selbstaufwertung/ Gegnerabwertung ist von daher gesehen eigentlich eine polemische Notwendigkeit. Denn die erfolgreiche (d.h. glaubwürdige) Argumentation gereicht dem Redner zur Ehre, und die versteckte Pflege des eigenen Rufes stärkt die Glaubwürdigkeit der eigenen Argumentation - et vice versa: die glaubwürdige refutatio untergräbt das Ansehen des widerlegten Gegners, der heimlich abgewertete Gegner verliert an Glaubwürdigkeit" (Specht 1986, 191). Der rhetorische Wirkungswille erklärt „die häufige argumentative Stützung der Appelle und die appellative Verstärkung der Argumente" (ebd., 198). Auch andere Forscher haben auf die Verknüpfung oder Verschränkung der beiden Ebenen hingewiesen. Stenzel (1986, 8) schreibt, die pejorativen Prädikationen, mit denen das polemische Subjekt den Gegner belegt, seien „in aggressiv verwendbare Argumente eingebettet, aus denen meistens erst die Analyse sie freischält". Die widersprüchlich scheinende Verbindung von Argumentativität und Nicht-Argumentativität hat ferner Kindt (1992) in einer Untersuchung der Argumentationsfiguren im öffentlichen Streit über den Golfkrieg beschrieben (allerdings ohne das Wort Polemik zu verwenden: Auch im erregten politischen Streit bliebe die Sachorientierung oft bestehen, werde jedoch durch typische Verfahren der Konfliktaustragung wie „mehr oder weniger versteckte Vorwürfe, Drohungen oder negative Bewertungen" (203) überlagert. An anderer Stelle spricht Kindt von „Konfliktaustragung innerhalb der Argumentation" (202), was die beiden Ebenen topographisch noch enger verbindet. Argumentativität gibt den Rahmen, in den aggressive und antagonistische Elemente eingelagert sind. Diese Sichtweise wird der Tatsache gerecht, dass die Techniken der Konfliktaustragung sich nicht neben der Argumentation abspielen, sondern häufig, wenn auch auf fragwürdige Weise, argumentative Funktion in Bezug auf die umstrittene Sache bekommen, und sei es als argumentum ad personam. Kurz: Polemik „gibt vor, sachlich zu sein, und meint es persönlich" (Gaier 1968, 114).

47 Dieser ihr eigene Standort im Textsortengefüge gibt der Polemik eine starke innere Spannung und auch Lebendigkeit: Die Normen der sachlichen Disputatio [die der Polemiker gern in Anspruch nimmt], stehen dauernd in Konflikt mit den Ansprüchen der übertreibenden Satire und den Anforderungen eines verunglimpfenden Pasquills [auf die der Polemiker nicht verzichten will] (Specht 1986, 196).

Obwohl die Anteile an Disputation einerseits, Pamphlet oder Pasquill andererseits, im Einzelfall unterschiedlich gewichtet sind, so dass man die Texte im Prinzip durchaus auf einer Skala zwischen dominant disputationsähnlichen und dominant pamphletähnlichen anordnen könnte, haben polemische Texte bei allen relativen Unterschieden in der Wechselwirkung der beiden Ebenen eine grundlegende Gemeinsamkeit, die sie qualitativ sowohl von der sachlichen Diskussion als auch von dem nur verunglimpfenden Pasquill bzw. von der Satire unterscheidet. Widersprüchlichkeit bzw. Doppelbödigkeit der Polemik erschweren die Bestimmung ihres Verhältnisses zur Rhetorik. Einerseits ist es gängige Praxis, polemisches Verhalten wegen seiner strategischen Orientierung am Adressaten in Begriffen der Rhetorik zu beschreiben. Stenzeis heuristisches Schema der polemischen Situation ist ja insgesamt am rhetorischen Modell der Gerichtsrede orientiert, mit dem alten Begriff der Tadelrede verweist er zusätzlich auf das rhetorische genus demonstrativum. Auch Specht spricht immer wieder von der Rhetorizität der polemischen Texte Lessings und analysiert seine sprachlichen Mittel mit Hilfe des überlieferten Kanons rhetorischer Figuren und Tropen. Andererseits ist die Polemik in ihren historischen Ursprüngen der Rhetorik eher entgegengesetzt, ja es herrscht in der polemischen Theorie, wie sie z.B. im Zedlerschen Lexikon ausgeführt ist, eine antirhetorische Haltung, die sich gerade gegen das Grundprinzip rhetorischen Sprechens richtet: die Orientierung des Sprechers am Adressaten, um bei ihm „den eigenen Standpunkt des Redners überzeugungskräftig zur Geltung zu bringen" (Ueding/Steinbrink 1986, 217). Dagegen stellt sie, dem Ziel der Sachklärung und Wahrheitsfindung verpflichtet, programmatisch das Prinzip, dass der Disputant immer daran denken müsse, „daß er ein Disputante und kein Redner sey" (Zedier, Bd. 7 [1734], 1062), und sich nicht wie ein Redner verhalten dürfe. Im Licht der oben skizzierten Doppelbödigkeit lassen sich diese bis heute wirksamen Wertmaßstäbe so erklären, dass das vom Polemiker rhetorisch-strategisch behauptete Interesse an der Sachklärung ernst genommen wird und die Maßstäbe für die Beurteilung seines Verhaltens bestimmt. Es trifft zwar zu, dass die durch Verwendung der „normal rhetoric techniques of argument" erzeugte „pretence of reasonableness", so Griffiths (1991, 3) „can be one of the most powerful of weapons"; 18 jedoch muss der Polemiker immer damit rechnen, dass das Publikum ihn beim - argumentativen Wort nimmt und ihn an der Prätention misst. Die Rhetorizität der Polemik ist somit ein wesentliches Element der Realsituation, das in der polemischen Konstellation möglichst verdeckt wird.

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Siehe dazu die Studien von Edelman (1976) über den strategischen Gebrauch der Formen prestigebesetzter Sprachstile in der Politik.

48 (2) Polemische Porträtierung Bei der Frage nach den polemischen Strategien hinter der scheinbar sachorientierten Argumentation kann man den Ausdruck Strategie auf verschiedenen Ebenen der Allgemeinheit verwenden: im Sinne einer Globalstrategie oder zur Bezeichnung der (rhetorischen) Mittel im Einzelnen oder auch auf einer Zwischenebene. Für die Beschreibung der polemischen Mittel auf der untersten Ebene liegen in der Rhetorik differenzierte Kataloge vor, z.B. die Liste der loci α persona, die zwar vornehmlich für die Lobrede entwickelt wurde, sich aber auch fur die Klassifizierung negativer Prädikationen verwenden lässt, soweit in ihnen auf Eigenschaften oder Umstände der Person Bezug genommen wird. Andere für die Polemik wichtige Einzelstrategien, wie die von Stenzel betonte Akzentuierung und die Unterstellung, finden sich ebenfalls in großer Differenziertheit in der rhetorischen Tradition überliefert. Darüber hinaus bieten die bekannten Sammlungen von Kunstgriffen des Streitens wie die Eristische Dialektik von Schopenhauer ein ausgezeichnetes Beschreibungsinstrumentarium auf den unteren Ebenen der polemischen Mittel. Auf diesen Traditionen beruhen meist auch die Typologisierungen der Mittel/Taktiken/Strategien des Streitens in der neueren Literatur (z.B. Apeltauer 1977, Opelt 1980, Kienpointner 1983, Specht 1986, Schwitalla 1986, Schank/Schwitalla 1987, Griffiths 1991, Kallmeyer/Schmitt 1996). Auf der obersten Ebene spricht Stenzel (1986, 7) von Grundoperationen. Zu ihnen gehört die positive Selbstdarstellung, die der Polemiker entwirft, um vor dem Publikum als vir bonus zu erscheinen. Sie ist sozusagen Gattungserfordernis, so dass Stenzel (1986, 7) im Blick auf Karl Kraus zu der Einschätzung kommt, dessen „unübersehbar zur Schau gestellter Größenwahn" habe „neben seiner individualpsychologischen Seite auch eine funktionale Bedeutung". Komplementär brandmarkt das polemische Subjekt den Gegner als vir malus, indem es ihm pejorative Prädikationen anheftet. Eventuell genügt auch eine der beiden Operationen, da sich das Ziel der einen aus dem Erfolg der anderen von selbst ergibt. Gelingt es dem Schreiber, den Gegner als vir malus zu etablieren, „so fällt ihm die Rolle des vir bonus aus der bloßen aggressiven Opposition zum vir malus von selbst zu" (Stenzel, ebd.). Wer das Böse und Schlechte als böse und schlecht identifiziert und bekämpft, wird dadurch unmittelbar zum Sachwalter des Guten. Dieser Mechanismus funktioniert auch umgekehrt: Der Gegner einer Person, die beim Adressaten als vir bonus gilt, wird leicht ohne weiteres Zutun zum vir malus}9

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So auch Specht (1986): „Gleichzeitig besteht immer auch eine direkte Wechselwirkung zwischen Selbstaufwertung und Gegnerabwertung, und zwar infolge des eingangs erwähnten Leser-Axioms, dass nur einer der beiden Redner ein guter Mensch (ein Vertreter der Wahrheit) sein könne. Selbstaufwertung bedeutet immer auch Gegnerabwertung" (191).

49 Gruber (1996) unterscheidet in einer neueren Untersuchung von Streitgesprächen auf der obersten Ebene zwei Arten von Strategien, je nachdem welche Ziele der Redner bezüglich welcher Adressaten verfolgt: Dominanzstrategien (298ff.) und Diffamierungs- und Profilierungsstrategien (307ff.). Dominanzstrategien „dienen der Durchsetzung des Standpunktes eines Kontrahenten" (298) und sind primär an den Kontrahenten gerichtet, können aber bei Anwesenheit eines Dritten bei diesem zugleich als Diffamierungsstrategien wirken. Diffamierungs- und Profilierungsstrategien dienen nicht der Durchsetzung eines Standpunktes, sondern zielen „lediglich auf die Beschädigung der gegnerischen (bzw. die Hebung der eigenen) Glaubwürdigkeit" (308) beim Publikum. Unschwer findet man in ihnen die Zweiteilung von positiver Selbstdarstellung und negativer Fremddarstellung wieder. Die eigene Profilierung geschieht nach Gruber durch das positive Herausstellen des eigenen Verhaltens, die Diffamierung des Gegners durch Enthüllung von Informationen, die den Kontrahenten in schlechtem Licht erscheinen lassen, und durch indirekte Vorwürfe. Dass die Diffamierungs- und Profilierungsstrategien, anders als Dominanzstrategien, nicht „der Durchsetzung des Standpunktes" des polemischen Subjekts dienen, ist korrekt, wenn man „beim Kontrahenten" ergänzt. Gleichwohl können sie natürlich die Position des polemischen Subjekts beim Publikum unterstützen, es sei denn, es handle sich um Streitgespräche, in denen die genannten Strategien gänzlich gelöst von einer strittigen Sache genutzt werden. Genau dies scheint Gruber bei dem von ihm untersuchten Gesprächstyp schon definitorisch vorauszusetzen, wenn er schreibt, Erkennungszeichen fur Diffamierungs- und Profilierungsstrategien sei, dass die in den Äußerungen gegebene Information „für die thematische Bearbeitung der aktuellen DS [Dissenzsequenzen] irrelevant" (308) sei. Für polemische Texte ist nach dem oben Ausgeführten in der Regel eine säuberliche Trennung in sachrelevante und bloß diffamierende kaum möglich, weil der Polemiker im Interesse seiner Profilierung ja alles tut, um die Äußerungen als für die thematische Bearbeitung relevant erscheinen zu lassen. Deshalb sind die Äußerungen meist nicht als solche und insgesamt irrelevant, sondern haben irrelevante Aspekte oder einen fragwürdigen argumentativen Status. Positive Selbstdarstellung und negative Fremdbeschreibung im Rahmen der polemischen Konstellation sind zusammengefasst als Akte der Porträtierung bezeichnet worden, was treffend den inszenatorischen Charakter der Darstellung kenntlich macht. Specht, der seine Analyse der rhetorischen Strategien in Lessings Streitschriften um den Begriff der Porträtierung organisiert, beruft sich für diese Charakterisierung der polemischen Tätigkeit, die komprimiert wesentliche Züge der Polemik einfangt und eine integrative Analyse der polemischen Mittel gestattet, auf einen Aphorismus Tucholskys.20 Bestandteile des Porträts sind

„Der Polemiker gibt immer zwei Portraits: eines, schwarz auf weiß, das des Gegners; und eines, weiß auf schwarz, das von sich selbst" (Tucholsky, Q-Tagebücher; zit Specht 1986, 105). Vorgebildet ist die Metapher in idiomatischen Ausdrücken wie SchwarzWeiß-Malerei, jemanden anschwärzen, etwas in den schwärzesten Farben malen, einen

50 persönliche Eigenschaften der Kontrahenten, die ein Mosaik oder, wie Specht (1986, 106) es ausdrückt, ein pointillistisches Gemälde ergeben, das sich der Rezipient (und der Analytiker) freilich aus den vielen Steinchen bzw. Punkten und aus indirekten Hinweisen zusammensetzen muss; denn die Porträts sind in der Regel nicht zusammenhängend auf der Textoberfläche ausgeführt. Gestaltet werden „verborgene Portraits" (Specht, Kapitelüberschrift, 102), deren einzelne Elemente in die pseudo-argumentativen Zusammenhänge des strittigen Themas eingebettet sind und als Porträtbestandteile erst erkennbar werden, wenn man sie aus den sequentiellen Zusammenhängen löst und mit anderen Steinchen verbindet. Der Vorteil dieses Verfahrens ist für die Selbstdarstellung die Vermeidung von Selbstlob und darüber hinaus, dass sich das Publikum gar nicht direkt mit der Person des Schreibers beschäftigen muss. 21 In ähnlicher Weise wird mit der verborgenen Porträtierung des Gegners der gleichfalls in der Regel negativ bewertete Angriff auf den Gegner, ja schon die Thematisierung seiner Person, schwerer erkennbar. Auch die Darstellung des Gegners geschieht also „möglichst verborgen, denn zur Idealvorstellung, welche das Publikum vom ,vir bonus' hat, gehört auch dessen unbedingte Sachlichkeit und Unparteilichkeit" (105). Die Relation zwischen den realen Personen des polemischen Subjekts bzw. des polemischen Objekts und den textinternen Porträtfiguren der polemischen Konstellation kann unterschiedlich eng sein, immer aber sind die Porträts Stilisierungen, durch Akzentuierung, Übertreibung und Reduktion erzeugte Karikaturen. 22 Sie entfernen sich von der Realexistenz, wenn der Polemiker sich für das

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schwarz machen wie den Teufel, denen allen die Tätigkeit des Malens gemeinsam ist. Diese Bildwelt wird gelegentlich auch in den polemischen Texten selbst zur Charakterisierung des gegnerischen Vorgehens genutzt: „Wie konnte er, auch bei dem seltensten Grade von Unverstand, sich einbilden, daß ein verständiges Publicum, dasjenige, was er in seinem Schmähmanifeste gegen mich vorbrachte, als eine gültige Rechtfertigung für ihn selbst ansehen würde? Wenn man auch mich, auf seine bloße Versicherung hin, hätte für schwarz halten wollen, würde er dadurch weiß geworden seyn" (Campe 1789/1993, 31). - „Man mußte sich an die Wand malen lassen und für den gelten, der dort mit Kohle gezeichnet war, wenn man auch daneben stand und spottend zu den Zuschauern selbst sagte: ,der ist schwarz; hunc tu, Philister, caveto!"' (Anon. 1837/1972, II, 691). Das ist ratsam, weil „dem Publikum Selbstanpreisung und Selbstrechtfertigung, sofern sie offenbar wird, ohnehin meist verdächtig [ist], und wo es sie vermutet, wird es mißtrauisch. Einzige Ausnahme macht der Tatbestand der Notwehr" (Specht 1986, 104). „In Lessings Darstellung wird Goeze zum kritikfeindlichen, mit inquisitorischen Mitteln operierenden Orthodoxen, zum bornierten Aufklärungsfeind und religiösen Fanatiker; zum Heuchler, den vor allem die Sorge um sein einträgliches Pastorat antreibt. Sich selbst dagegen weiss Lessing darzustellen als einen völlig zu Unrecht der Heterodoxie beschuldigten .Liebhaber der Theologie', der sich aber, einmal herausgefordert, durchaus zu verteidigen weiss; als einen Mann, der den Ungenannten nur darum ,in die Welt gestossen' hat, weil er mit ihm nicht länger .unter einem Dache wohnen' wollte - und was läge einem solchen Manne ferner als parteiliche Einseitigkeit? Beide Portraits entbehren nicht eines wahren Kerns. Doch lassen die analysierten sprachlichen Gesten keinen Zweifel daran, dass Lessing diese beiden wahren Kerne bis an die Grenzen der

51 Bild des Gegners an einer zeitgenössisch etablierten Negativfigur orientiert. Im Untersuchungszeitraum gehören dazu der Philister 23 , der Jakobiner 2 4 und der Schulmeister 2 5 . Ein Vorteil der Verwendung solcher vorgeprägter Konstrukte ist, dass der Polemiker b e i m Publikum auf ein gemeinsames W i s s e n zurückgreifen kann, das er mit w e n i g e n Pinselstrichen aktiviert. Außerdem erhöht sich mit der Entindividualisierung des Gegners seine Bedeutsamkeit. Überzeitliche personale Konstrukte sind der schon in der Antike bekannte Jugendverderber 2 6 und vor allem Figuren und Figurenkonstellationen aus religiösen (Teufel, D a v i d im Kampf gegen Goliath), mythologischen (Herkules im Augiasstall) oder literarischen (Don Quijote) Kontexten. 2 7

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Glaubwürdigkeit und Wahrscheinlichkeit zu zwei Typen hinaufstilisiert, zum positven und zum negativen Ideal" (Specht 1986, 190). Der Philister ist vom 18. Jahrhundert über die Romantik, Menzel und die Jungdeutschen (vgl. Homberg 1975, 82, 113, 188) bis hin zu Nietzsche beliebt, hat aber in den verschiedenen Texten unterschiedliche Physiognomien. Schopenhauer subsumiert die von ihm bekämpften „Sprachverhunzer" gemeinsam unter eine Variante der Philisterfigur, die folgendes Aussehen hat: „Und wer sind diese Korrektoren der Sprache unserer Klassiker? Ein elendes, zu eignen echten Werken unfähiges Geschlecht, dessen Väter schon bloß aus Gnaden der Kuhpocken lebten, ohne welche sie früh hinweggerafft sein würden von den natürlichen Blattern, als welche alle Schwächlinge früh beseitigten und dadurch das Geschlecht kräftig erhielten. Jetzt sehn wir schon die Folgen jenes Gnadenakts in den langbärtigen Zwergen, von denen es überall mehr und mehr wimmelt. Und geistig sind sie wie leiblich" (1851/1989, V, 629f.). - „Seht sie nur an: kahle Köpfe, lange Bärte, Brillen statt der Augen, als Surrogat der Gedanken ein Cigarro im tierischen Maul, ein Sack auf dem Rücken statt des Rocks, Herumtreiben statt des Fleißes, Arroganz statt der Kenntnisse, Frechheit und Kameraderie statt der Verdienste!" (ebd., 636). - „Dickhäutig" sind sie, „Pachydermata" (635 u.ö.), mit Tatzen statt der Hände und manchmal - so die Brüder Grimm - „Esel, die keine Ohren haben - horribile dictu!" (ebd., 626). Verbreitet in den Jahrzehnten um 1800. Er findet sich (z.T. als Sansculotte) bei Goethe (1795), Jacob Grimm (1819) oder Fabritius (1822). Ist ein solches Stereotyp gesellschaftlich etabliert, so ist es auch außerhalb der Sphäre verwendbar, aus der es stammt. Der (politische) Jakobiner wird bei Grimm in der Kritik am „Sprachpedanten" eingesetzt. Zeitlich weniger festgelegt ist die Negativfigur des Schul- oder Hofmeisters (z.B. bei Scherer 1875-1876, 461). Eine Ausnahme ist Lessing, in dessen Polemik gegen Lange der Schulmeister „ein Hauptelement der polemischen Konstruktion" (Barner 1993, 15) ist, und zwar nicht in der Porträtierung des Gegners, sondern in der Selbstkonstruktion des polemischen Subjekts, das als Kenner und Könner den unwissenden Schüler Lange zurechtweist. Im Textkorpus unter anderem von Fabritius (1822) und Hartmann (vgl. v. Rahden 1984) verlebendigt. Anschaulich beschreibt Schwitalla (1986) die schrittweise Verteufelung seines Gegners Karlstadt durch Luther. Zum Teufel in der frühchristlichen lateinischen Literatur siehe Opelt (1980). Bei Fabritius (1822) geht der Teufel eine Verbindung mit dem Jakobiner ein. Eine literarische Figur nutzt Rüge (1847), der am 1. Sept. 1846 öffentlich behauptet, sein Gegner Schulz habe „mit Ihrem Ritter Folien von Sonneck la Mancha zusammen entschlossen die Flucht" (215) ergriffen. Schulz seinerseits revanchiert sich am 8. April 1847, indem er seinen Gegner als „traurigen Ritter der negativen Philosophie und negativen Courage" (ebd., 224) bezeichnet.

52

3.2

Erste Anwendungen

3.2.1

Gabriele Muschter: Die Kunst der DDR ist nicht so, wie sie gezeigt wird

Am 4. April 1991 erschien im Berliner Tagesspiegel im Feuilleton ein Artikel von Gabriele Muschter, einer Kunstwissenschaftlerin, die im letzten Kulturministerium der DDR vor der Vereinigung Staatssekretärin war, unter dem Titel Die Kunst der DDR ist nicht so, wie sie gezeigt wird und dem Untertitel Kunst ohne Eigenschaften? Was Berlin jetzt braucht - Polemische Betrachtungen zu einer Ausstellung. Gegenstand der Kritik ist eine Ausstellung von Werken von vierzehn Malern aus der DDR, die im April 1991 unter dem Titel „Staatskünstler Harlekin - Kritiker?" in den Räumen der GrundkreditBank am Zoo im westlichen Berlin stattfand. Die Einstellung der Autorin zur Ausstellung ist entschieden ablehnend. Nicht nur einzelne Aspekte, die gesamte Konzeption ist aus der Sicht Muschters von Grund auf verfehlt. Ihr zentraler Einwand ist, dass die Ausstellung insgesamt und insbesondere in der Auswahl der Künstler mehr oder weniger eine Wiederholung einer drei Jahre zuvor, nämlich 1988, veranstalteten Ausstellung sei und dass „eine fragwürdige Ausstellung von 1988 nicht glaubwürdiger [wird], wenn man sie 1991 modifiziert wiederholt". Fragwürdig war die frühere, weil schon sie in der Einschätzung der Kritikerin kein angemessenes Bild der Kunst in der DDR vermittelt hatte. Doch hat sie fur die damaligen Veranstalter ein gewisses Verständnis, weil man vor der Wende die jüngeren und die ausgereisten Maler sowie die sonst dem SED-Regime missliebigen Künstler nicht ausstellen „konnte und wollte", „um es sich nicht mit den Funktionären in der DDR zu verscherzen". Völlig verfehlt und unverständlich erscheint es ihr aber, die ältere Auswahl nach der Wende, wo solche Rücksichten obsolet geworden sind, im Prinzip zu wiederholen. Es ist wahrscheinlich die Entschiedenheit der kritischen Einstellung, die die Autorin (oder die Redaktion) bewogen hat, den Text polemisch zu nennen. Sie folgt damit einer auch sonst zu beobachtenden Neigung, jede radikale Kritik polemisch zu nennen, wie auch eine Tendenz besteht, „in einer Diskussion sachliche mit gemäßigten, unsachliche mit extremen Standpunkten zu identifizieren" (Naess 1975, 161). Diese Korrelation gilt in Wirklichkeit nur mit Einschränkungen. Es ist ja durchaus möglich, bei Anerkennung des Ganzen die Kritik an Einzelheiten polemisch zu verpacken, wie umgekehrt eine radikale Kritik ohne Unsachlichkeit auskommen kann. Eine deutlich andere Auffassung als der Kritisierte zu haben und auszudrücken, genügt jedenfalls nicht, um den Begriff des Polemischen im Sinne Stenzeis anwenden zu können. Stenzel (1986, 4) lässt eine Redeweise wie „Hegel beziehe sich polemisch auf Kant", wenn lediglich ausgedrückt werden soll, „Hegel sei ausdrücklich anderer Meinung als Kant", von vornherein außer Betracht. Die Kritik muss ja auf bestimmte Weise, nämlich mit den Mitteln des unsachlichen Stils geäußert werden. Ein solcher ist in dem Artikel allenfalls schwach ausgeprägt. Ja es ist - auch jenseits des Stils - fraglich, ob

53 man den Text überhaupt unsachlich nennen kann. Die Autorin entwickelt ihre kritische Einschätzung trotz eigener Betroffenheit als ehemalige DDR-Bürgerin und obwohl zweifellos subjektiv geprägte Urteile und ein Gefühl des Ärgers eine Rolle spielen, über weite Strecken informierend, begründend, auch fragend und kommt nur gelegentlich an die Grenze der Polemik. Hinzu kommt, dass die Autorin keinen klar erkennbaren Gegner benennt; d.h. dass sie ihren Angriff nicht auf eine bestimmte Person oder Instanz fokussiert. Die Kritik richtet sich gegen das Konzept der Ausstellung und nur indirekt gegen die Personen, die das Konzept verantworten. Sie bleiben bis auf Ursula Bode als Verfasserin eines Katalogtextes bis zum Schluss ohne Namen. Das Einzige, was man dem Text entnehmen kann, ist, dass es mehrere Veranstalter gibt, weil sie an einer Stelle im Plural („Was ist das Konzept der Ausstellungsmacher?") erwähnt werden. Die polemische Energie verliert zusätzlich an Stoßkraft, weil sich die Kritik auf verschiedene Instanzen verteilt: neben den Ausstellungsmachern auf die Veranstalter der früheren Ausstellung, die westdeutschen Sammler von DDR-Malern und z.T. die ausgestellten Maler selbst. Die Zurückhaltung im Ausdruck zeigt sich in den für die Polemik ganz untypischen sprachlichen Mitteln der Einschränkung und Abmilderung in den insgesamt fünf Äußerungen, die in dem vierspaltigen Text mit insgesamt 249 Zeilen als polemische Züge in Frage kommen:28 nur vermittelt eine solche Ausstellung den Eindruck einer doch sehr einseitigen künstlerischen Potenz. - [„vermittelt den Eindruck", „doch"] westdeutsche Sammlungen der Kunst der D D R , die mit Hilfe der ach so tüchtigen und engagierten Mitarbeiter des Staatlichen Kunsthandels zusammengetragen wurden - und durchaus als eine wertvolle Stütze der DDR-Kunstpolitik gelten können. - [„durchaus", „gelten können"] Zu fragen wäre aber, ob sie [zwei der ausgestellten Maler, Metzke und Heisig] nicht für späte Erfolge anderer Maler gesorgt haben, deren künstlerische Ausdrucksweise nicht ihren Vorstellungen entsprach? - [Sprechakt des Fragens bzw. des Zu-BedenkenGebens, Rückführung des Verhaltens auf ästhetische Differenzen statt auf politische oder egoistische, z.B. finanzielle Motive] Klischeevorstellungen werden verstärkt, indem Arbeiten von Künstlern miteinander in Zusammenhang gebracht werden, die kaum etwas miteinander zu tun haben. - [„verstärkt", „kaum"] Für Wolfgang Paukers unsäglich dilettantisches Selbstportrait werden gar Rubens, Goya, El Greco und Velasques bemüht (ich fasse es nicht). - [Die Beurteilung des Selbstportraits ist extrem negativ, betrifft aber ausdrücklich nur ein Werk, und die Kritik verteilt sich auf Maler und Interpreten] Insgesamt ist mit einer solchen Ausstellung weder den Künstlern gedient - die Bilder verzerren sich weiter - , noch ist damit zum gegenwärtigen Zeitpunkt jemand hinter dem berühmten Ofen hervorzulocken. Berlin braucht jetzt den großen Atem, innovative Aus28

In den Klammerzusätzen deute ich die sprachlichen Einschränkungen und Abmilderungen an, für die die erwartbaren polemischen Zuspitzungen als Alternativen a u f der Hand liegen.

54 Stellungen und geistreiche Konzepte - mit einem weiten, offenen und sehr aufmerksamen Blick." [ein recht unpolemischer resümierender Schlussabschnitt].

Es ist nichts dagegen einzuwenden, diesen Artikel trotzdem polemisch zu nennen. Der Wortgebrauch liegt im Bereich des im gegenwärtigen Deutsch Üblichen. Er entspricht aber nur mit Einschränkungen dem Polemikbegriff, der in Kapitel 3.1 diskutiert wurde.

3.2.2

Gabriele Riedle: Trauriges auf hohem

Plateau

Am Ende des Artikels Gastspiel: Helge Schneider und die Hardcore-Band. Trauriges auf hohem Plateau von Gabriele Riedle in Die Zeit vom 30. August 1991 sind Orte und Zeiten der Helge-Schneider-Show im September 1991 angegeben. Der Artikel selbst ist, das wird nicht ganz klar, entweder eine Vorschau auf die neue Tournee oder die Veranstaltungskritik für das erste oder eines der ersten Konzerte dieser Serie, ohne dass Ort und Zeit genannt werden. Der Artikel ist besonders deshalb von Interesse, weil er Passagen enthält, die, isoliert betrachtet, als polemische, ja ausgesprochen rüde Angriffe auf die Person Schneiders erscheinen, obwohl der Aufsatz in Wirklichkeit zwar in mancherlei Hinsicht kritisch ist, aber kaum eine Polemik gegen Schneider. Der Text enthält Merkmale unsachlichen Stils ohne polemische Intention. Die Technik Riedles besteht darin, dass sie wiederkehrend zunächst eine Äußerung macht, die wie ein persönlicher Angriff klingt, diesen vermeintlichen Angriff aber in einem Nachsatz neutralisiert oder sogar in ein Lob verkehrt. Schneider wird erniedrigt, um erhöht zu werden, nur dass beides, ungleich dem biblischen Vorbild, von der gleichen Person, der Artikelschreiberin, bewerkstelligt wird. Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass dieser Mechanismus dem flüchtigen Zeitungsleser entgeht und der Text faktisch doch als Polemik gegen Schneider hängen bleibt. Um die Technik anschaulich zu machen, zitiere ich wieder einige relevante Passagen:29 Hartnäckig hält sich das Mißverständnis, der Unterhaltungskünstler Helge Schneider sei Schlagersänger oder Schlagersängerparodist - was kein Unterschied ist, denn billig und dämlich ist es, sich über Billiges und Dämliches lustig zu machen. Doch Helge Schneider überhebt sich nicht. Außer um die paar Zentimeter, die seine Plateausohlen hergeben. — Von Herzen gönnt man sie dem körperlich zu kurz Gekommenen. Die Polyester-Schlaghosen schlackern um die Steckenbeine. Dicke rote BalkenKrawatte, glanzloser Filzkopf mit Tendenz zur Krankenkassen-Perücke, die Zähne wirken schon aus der Ferne faulig. Die ganze Erscheinung ungesund und tragisch, wie all die Frührentner, die erst noch Hausmeister werden und dann, ums Leben betrogen, früh sterben. — Das ist nicht lustig.

29

Die Grenze zwischen Satz und Nachsatz, die nicht in allen Fällen grammatische Sätze sind, verdeutliche ich durch zwei eingeschobene Gedankenstriche.

55 [ . . . ] macht dumme Witze (gern auch a u f Kosten anderer), singt mit kehliger Stimme , schöne Lieder', schlägt die Gitarre und das Klavier, bläst die Trompete und die Klarinette mehr schlecht als recht, — denn daß er ein Virtuose ist, braucht j a nicht gleich j e der zu merken. Und das ist j a noch viel-, viel-, vieltausendmal schlimmer, verlogener, billiger, betrügerischer - ein Abgrund von Abklatsch. — Und darum lustig, versöhnlich und weise. Diese besinnlich dahergesagte Bosheit — ist die radikalste Absage an die Verlogenheit und die ehrliche Form von Güte und Wärme - und eben Trauer.

Die Kritik der Autorin zielt auf „all die falschen Metaphern der Wunscherfüllungsindustrie, die grausamen Lügen der Nächstenliebe, denen unsere Eltern auf den Leim gegangen sind", auch auf „die traurige Familiengeschichte der geflüchteten Kleinbürgerkinder, die wir nun Alternative oder Akademikerinnen oder beides geworden sind", auf eine Welt, die Schneider in seiner Show verarbeitet, die er reproduziert und auf die Spitze treibt. Eine Polemik gegen Schneider ist der Text aber nicht. Trauriges auf hohem Plateau Hartnäckig hält sich das Mißverständnis, der Unterhaltungskünstler Helge Schneider sei Schlagersänger oder Schlagersängerparodist - was kein Unterschied ist, denn billig und dämlich ist es, sich über Billiges und Dämliches lustig zu machen. Doch Helge Schneider überhebt sich nicht. Außer um die paar Zentimeter, die seine Plateausohlen hergeben. V o n Herzen gönnt man sie dem körperlich zu kurz Gekommenen. Die Polyester-Schlaghosen schlackern um die Steckenbeine. Dicke rote Balken-Krawatte, glanzloser Filzkopf mit Tendenz zur Krankenkassen-Perücke, die Zähne wirken schon aus der Ferne faulig. Die ganze Erscheinung ungesund und tragisch, wie all die Frührentner, die erst noch Hausmeister werden und dann, ums Leben betrogen, früh sterben. Das ist nicht lustig. D a sucht so mancher sein Menschenrecht auf Glück, Gesundheit, Schönheit im Schlager, im Fernseher oder auf großer Kaffeefahrt - es hier zu finden ward schließlich versprochen. Doch in einem Leben voller Mühsal, das man erst mit dem Tod „überstanden" hat, darf auch dies Glück kein reines Vergnügen sein, Auftritt Helge Schneider mit seiner „Hardcore"-Band: „Wolln mal sehn, wie wir den Abend rumkriegen." Und so stakst der Entertainer-Verschnitt Schneider in aller Hoffnungslosigkeit mit gebeugtem Rücken und steifem Nacken zwei Stunden über die Bühne, macht dumme Witze (gerne auch a u f Kosten anderer), singt mit kehliger Stimme „schöne Lieder", schlägt die Gitarre und das Klavier, bläst die Trompete und die Klarinette mehr schlecht als recht, denn daß er ein Virtuose ist, braucht j a nicht gleich jeder zu merken, Begleitet wird er von Buddy Casino, SombreroTräger „direkt aus Las Vegas", Akkordeon-Arbeiter, Klavier-Traktierer, aber vor allem „König der Farfisa-Orgel". Manchmal fordert er einen „Riesenapplaus" für „unseren Peter Thoms aus Königsberg", den Schlagzeuger, „der heute sechzig wird", angeblich in der Pause - „leider, leider" - von einem Kampfhund zerrissen worden war, dann aber doch wieder auftritt. Und ab geht die Stimmungskanone. Gibt es einen Unterschied zwischen Sentimentalität und Brutalität? Die Helge-Schneider-Show ist die traurige Familiengeschichte der geflüchteten Kleinbürgerkinder, die wir nun Alternative oder Akademikerinnen oder beides geworden sind und herbeiströmen, wenn sie gastiert in unseren Fluchtburgen, dem selbstgewählten Exil in den Universitätsmetropolen, im August beispielsweise in Berlin. Helge Schneider nimmt uns mit nach Hause in die Kleinstädte, nach dort, wo wir auf gar keinen Fall hin wollen weder an Weihnachten noch, wenn Papa siebzig wird - weil wir sonst wieder eine W o che weinen müßten über das ganze verpfuschte Leben der Unseren. Doch: „Ich bin euer

56 Freund", johlt der „36jährige Mülheimer". Das haben schon viele versprochen. Aber er korrigiert sich: „Ich bin Euer Freundes-Club." Und das ist j a noch viel-, viel-, vieltausendmal schlimmer, verlogener, billiger, betrügerischer - ein Abgrund an Abklatsch. Und darum lustig und versöhnlich und weise. Helge Schneider verbessert die Welt, aus der wir kommen und an die wir am liebsten gar nicht erinnert werden wollten, ausgerechnet aus der muffigen Sphäre des Schlagers heraus, vor der wir einst in die Politik geflüchtet sind. Er wiederholt all die falschen Metaphern der Wunscherfullungsindustrie, die grausamen Lügen der Nächstenliebe, denen unsere Eltern auf den Leim gegangen sind, und treibt sie auf die Spitze: „Hier meine Schuhe. So groß wie zwei Eimer Gehacktes. Vierjährige Kinder haben diese Schuhe genäht für zwei Pfennig in der Stunde. Danach sind sie gestorben. Und in diesen angeblich lustigen Schuhen sind nur meine ganz normalen F ü ß e . . . " Diese besinnlich dahergesagte Bosheit ist die radikalste Absage an die Verlogenheit und die ehrliche Form von Güte und Wärme und eben Trauer. So erobert Helge Schneider als eine Art Kohlenpott-Polt oder Revier-Valentin mit jedem Satz und j e d e m „schönen Lied" ein Stück Heimat aus den Kassen des Naabtal-Duos, der Rheuma-Decken-Verkäufer, von Peter Alexander, Carolin Reiber, Herbert Czaja und Hubert Hupka zurück. Welch ein Künstler? Welch ein Stratege! Gabriele Riedle: Trauriges auf hohem Plateau. Gastspiel: Helge Schneider und die Hardcore-Band. Erschienen in: Die Zeit vom 30.08.1991.

3.2.3

Diogenes Graugans: Eine ethnographische Grille*

Ein in anderer Hinsicht b e m e r k e n s w e r t e r Fall ist e i n Tagungsbericht, der 1 9 8 5 unter d e m Titel Über das Colloquium tion'

vom

Zeitschrift

26.1.-28.1.84 fiir

in Seewiesen,

Sprachwissenschaft

e i n e m V o r s p a n n als Satire

des DFG-Schwerpunktes MPI

fiir

, Verbale

Verhaltensphysiologie

Interakin der

v e r ö f f e n t l i c h t w u r d e und v o n der Redaktion in

a n g e k ü n d i g t wird. D e r a n o n y m e A u t o r vermittelt v o n

der Veranstaltung und d e m w i s s e n s c h a f t l i c h e n Wert der in den Vorträgen dargestellten Projekte und über den Zustand d e s S c h w e r p u n k t e s i n s g e s a m t ein ents c h i e d e n n e g a t i v e s Bild. A u c h die T a g u n g s t e i l n e h m e r geraten als vortragende P e r s o n e n w i e als W i s s e n s c h a f t l e r in ein s c h l e c h t e s Licht. Eitelkeit und Drang zur Selbstdarstellung, V o y e u r i s m u s und routinierte Freundlichkeit, Konkurrenzneid, j a „leirige S t i m m e " w e r d e n ihnen z u g e s c h r i e b e n .

*

Bitte melden! Es war mir leider nicht möglich, für den Text von Diogenes Graugans in Kapitel 3.2.3 eine Abdruckgenehmigung zu beschaffen, da sich sowohl die Spuren des Diogenes als auch das herbstliche Geschrei der Graugänse im Nebel verloren. Das Einwohnermeldeamt von Korinth teilte mit, die Tonnen am Stadtrand seien längst der Sanierung zum Opfer gefallen, die ehemaligen Bewohner in alle Winde zerstreut. Einer der Nachkommen, wie sein Vorfahr ein etwas schräger Vogel, soll sich allerdings, kaum zu glauben, irgendw o in Berlin in einer Bütt niedergelassen haben. - Auch über die weitläufige Brut der Lorenzia aus Seewiesen am Starnberger See, zu der der Autor gehören könnte, weiß man rein gar nichts. Sie selbst soll seinerzeit ihr menschendienliches Dasein im Suppentopf der Institutsküche geendigt und süßsauer in Aspik die Brotzeit einer sprachwissenschaftlichen Tagungsrunde bereichert haben. Doch das ist bestenfalls von anekdotischem Interesse und half der Abdruckgenehmigung, wie jeder einräumen wird, nicht weiter!

57 Handelt es sich wirklich um eine Satire? Man könnte zur Unterstützung der Kategorisierung der Redaktion argumentieren, dass der Text als Exemplar eines Tagungsberichtes, im Imperfekt chronologisch berichtend oder erzählend, von vornherein der Satire näher stehe als der Polemik als einer Spielart argumentativer Textentfaltung. Doch ist der Text trotz des erzählenden Grundmusters zumindest implizit auch argumentativ. Der Leser könnte, befragt, warum denn Qualität und Relevanz der vorgestellten wissenschaftlichen Projekte so negativ eingeschätzt werden, ohne große Mühe auf Textstellen verweisen, in denen das negative Urteil, wenn auch nicht in Weil-Sätzen, begründet wird. Aus der Bestimmung, Polemik sei argumentativ, kann m.E. keine grundsätzliche Unverträglichkeit zwischen Polemik und einem vergangene Ereignisse berichtenden oder erzählenden Text gefolgert werden. Ein anderer Zugang zu der Entscheidung: Satire oder Polemik? ist (vgl. Kapitel 2.3.2) die Frage nach der Fiktionalität bzw. dem Gegensatz von Möglichkeit (Satire) und Wirklichkeit (Polemik). In dieser Hinsicht fallt zunächst die fiktive Rolle auf, in die der Berichterstatter schlüpft. Der anonyme Verfasser wählt mit dem Namen Diogenes Graugans nicht nur ein Pseudonym, eine Möglichkeit, die in Polemiken nicht eben selten ist, sondern führt sich im ersten Absatz - in Anspielung auf die Tätigkeit von Konrad Lorenz am Ort des Geschehens - als Graugans ein, der es gelungen sei, „als Vertreter des Instituts für Allgemeine und Besondere Humanpathologie" am Colloquium teilzunehmen. Diese - satirische Fiktion wird bestätigt und bewusst gehalten, indem der Verfasser insgesamt viermal im weiteren Text von sich selbst in dritter Person als Diogenes Graugans spricht. Außerdem berichtet er (Diogenes) oder sie (die Gans), dass sich die Tagungsteilnehmer „im Gänsemarsch" zu einer deftigen Brotzeit bewegt hätten. Darüber hinaus ist an der Darstellung nichts fiktional. Ganz im Gegenteil hält sich der Verfasser penibel an die Wirklichkeit, an die reale Anzahl der Vorträge, ihre Reihenfolge und ihre Themen. Auch die Berichte über das Drum und Dran der Tagung - Brotzeit, Abendprogramm, Hotelunterkunft usw. - sind vielleicht etwas ausführlicher als sonst geraten, für Tagungsberichte auch in wissenschaftlichen Zeitschriften inzwischen aber nichts Ungewöhnliches. Vom Muster abweichend ist nur, dass die Namen der kritisierten Vortragenden nicht genannt werden, wiewohl sie als Mitglieder des DFG-Schwerpunktes weithin bekannt sind oder von den Lesern der Zeitschrift ohne große Mühe identifiziert werden können. Die Anonymisierung der Angegriffenen spricht nicht als solche für Satire und gegen Polemik, da sie gelegentlich auch in Polemiken vorkommt (vgl. Kapitel 5.4.1). Sie könnte aber als Mittel, den wissenschaftlichen Tagungsbetrieb über den konkreten Anlass hinaus zu beleuchten, sozusagen im Wirklichen die verallgemeinerbare Möglichkeit zu zeigen, eine satirische Funktion haben. Dieser Gedanke lässt sich aber am Text kaum bestätigen: Die Wirklichkeit des konkreten Falles wird in jeder Beziehung so detailliert dargestellt, dass man kaum zu einer verallgemeinernden Deutung des Beschriebenen angeregt wird. Mir scheint daher, dass das witzige Pseudonym und die Anonymisierung der angegriffenen Personen nicht eigentlich einer satirischen Darstellung dienen, son-

58 dem Mittel sind, eine polemische Intention zu verdecken, die ohne die notdürftige Fiktionalisierung sich nicht hätte realisieren lassen. Es gibt einige Passagen in dem Text, die das, was man in der gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskussion an Polemik, insbesondere an Bezügen auf die Person gewöhnt ist, so weit übersteigt, dass der Text nicht ohne weiteres in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift hätte veröffentlicht werden können.

FORUM Das FORUM, vor kurzem mit der Quo-vadis-Frage konfrontiert, begibt sich eingedenk dieser Konfrontation nunmehr auf die Bahn der Satire. Wissenschaft erscheint der Redaktion als ein zu komplexes Unterfangen, als daß sie sich einer satirischen Spiegelung von dessen allerkomplexesten Zügen verschließen konnte, die so aggressiv wie engagiert, so belustigend wie ernsthaft daherkam wie Diogenes Graugans mit seinem Text. Die Identität des schrägen Vogels war für die Redaktion nicht von Interesse; am Produkt wurde kein „ i-Tüpfelchen geändert". Diogenes Graugans Über das Colloquium des DFG-Schwerpunktes „Verbale Interaktion" vom 2 6 . 0 1 . - 2 8 . 0 1 . 8 4 in Seewiesen, MPI für Verhaltensphysiologie Eine ethnographische Grille Hin und wieder erhebe ich mich aus den Seewiesen und treibe Feldforschung. Diesmal gelang es mir, mich als Vertreter des Instituts für Allgemeine und Besondere Humanpathologie in einer besonders vielversprechenden Runde einzunisten. Ich brauchte nur den semiotisch diskreten Schildchen zu folgen - so bedurfte es keiner Wegauskunft, weder auf japanisch, noch in Kilivila, noch auf deutsch um unverdächtigt vom bajuwarischen Charme der Gastgeber willkommen geheißen zu werden. Man kannte sich. Ein kleiner Kreis, eine kleine Runde - am nächsten Tag kamen Nachzügler hinzu - ein kleiner Schwerpunkt. Wo liegt der Schwerpunkt des Schwerpunkts? Beim Verbalen? bei der Interaktion? Kopf- oder Schwanzlastig? Oder liegt er genau dazwischen? Ich versprach mir vom Blick aufs Programm eine Antwort und erschrak: 15 (fünfzehn!) Vorträge an zwei Tagen, Schwerarbeit für Hirn und Hintern. Ich greife vor: der Hintern war mehr gefordert. Weit gespannt in Zeit und Raum die Thematik, vom Ammersee bis Trobriand, von der Antike ins Hic et Nunc. Auffällig war auch die thematische Gewichtung: der erste Nachmittag war Therapeutischem im weiteren Sinne gewidmet, der erste Vormittag der Folklore und der zweite Nach- und Vormittag dem Misch-Masch. Sollte man schließen, daß der Wunsch, therapiert zu werden, und das Bedürfnis, wie ein fremder Volksstamm erforscht zu werden, auch ein geheimes Motiv der Themenauswahl und -Zusammenstellung war? „Wir sind alle Voyeure", gestand einer später, als zaghaft der Versuch gemacht wurde, mal Tacheles zu reden. Diogenes Graugans begann sich wohlzufühlen. Ist Voyeurismus die eine Seite der Medaille, so Exhibitionismus die andere, wie würden sie sich darstellen? Von sechs Gutachtern waren nur drei erschienen. Trotz lauthalsiger Bekundungen, man wolle kollegialen akademischen Meinungsaustausch, dies sei kein Begutachtungs- und Prüfungsverfahren - eine Lanze für die freie Diskussion! - , legte sich ihre Anwesenheit doch wie Mehltau auf diese Freiheit. Frigide aufpassend, saßen sie zwei Tage dabei, die Check-Liste im Hinterkopf, die wissenschaftliche Sittenpolizei des Schwerpunkts. Anwesend war auch ein Repräsentant der Forschungseinrichtung, die das alles bezahlt.

59 Die therapeutische Sektion begann mit einem Projekt, das sich mit der Rekonstruktion von Familiengeschichten befaßt (warum nicht?); ein weiteres untersucht Therapieangebote an Patienten nach Selbstmordversuchen. Interessant, daß die sprachliche Formulierung des Ereignisses Selbstmord selten gelingt - gelänge sie, wäre das vermutlich schon der Beginn einer Heilung; ex cathedra vorgetragen, folgte eine klinische Vignette, ein theoretisch vorhandenes Beobachterparadox, das empirisch keins war: in der Kommunikation zwischen Psychoanalytiker und Patient thematisiert, entschwand das Tonband in die Assoziationen des Patienten; letztlich wurde den Schlichtern in ihrem Schlichtungsprojekt ihr einziges Handwerkszeug - das Handlungs-Schema - gründlich deformiert. Der Ersatz - das Handlungsgitter - erwies sich als eine Art löcheriges soziales Netz für Schlichtungen. Würde Diogenes Graugans seine Familiengeschichte erzählen? Würde er nach versuchtem Selbstmord sich diesen hilflosen Therapeuten anvertrauen? Würde er ein Tonband in seiner Analyse dulden? Würde er seinen Streit so schlichten lassen? Im Gänsemarsch ging es zu einer deftigen Brotzeit, dem ersten Aufatmen und der ersten ausgiebigen Gelegenheit zu privatem Klatsch und Schmäh. Wäre es nicht besser, die Projekte lösten die Gutachtergruppe auf und wählten eine neue? Wo ist der Pep im Schwerpunkt, warum zerbröselt er so? Spät in der Nacht ins Hotel Florianshof - nomen est omen: oh heiliger St. Florian, behüt mein Haus (Projekt), zünd andre an! Am nächsten Tag erfolgte bis in den frühen Nachmittag hinein die Inszenierung der Folklore-Sektion. Schöne Ferien-Südsee-Welt, Strände, Korallen, sonnenbadendes Forschen als Lust, freundliche, auskunftwillige Eingeborene, Farbprospekte für Forscher, Liebeszaubersprüche. Darunter eindrucksvoll ein Filmstück über eine Mutter mit ihrem Kind kurz nach der Geburt, die Beziehung lebt nur vom Streicheln, Tasten, Aufheben, Stillen. Ausgerechnet nonverbale Interaktion. Ein Hinweis? Eine weitere löbliche Präsentation war die Vorstellung von Kilivila, der Sprache der Trobriander - so schön, so schlüssig, so überzeugend vorgetragen, daß es auch hätte erfunden sein können, man hätte alles geglaubt. Es folgte das nichtigste Referat des Tages: mit leiriger Stimme vorgetragen, von unansehnlichen Videoaufnahmen wohltuend unterbrochen, etwas über den Zusammenhang von Sprache, Handlung und Gestik in Spielerklärungen, die Kinder unterschiedlichen Alters anderen Kindern und Erwachsenen und umgekehrt mit oder ohne Spielbrett (Malefiz) angedeihen ließen. Man kann sich ja für alles interessieren, und vieles ist eine Erforschung wert, doch mit welcher Dreistigkeit hier Banalitäten wissenschaftssprachig verwurstet wurden, ließ Diogenes Graugans schaudern. Auch das nächste Referat über den Vergleich von deutschen und japanischen Wegbeschreibungen ließ nur den Schluß zu, daß es in beiden Ländern damit verschieden aussieht: jeder Jeck ist anders. Im letzten - diesmal schlichteren Misch-Masch-Vortrag wurde eine antike Fragetechnik in gegenwärtige hochschuldidaktische Situationen verpflanzt und brachte nach Auskunft der Vortragenden Ergebnisse. Die überfällige Abfahrt zum Bier-Kloster Andechs verhinderte eine eingehende Diskussion. Bier gab es zwar nicht, dafür aber von einem Benedictiner den besten und kurzweiligsten Vortrag des ganzen Colloquiums - über die Geschichte des Klosters (Kommentar eines bösen, heimatlosen Reiseprofessors: der wußte ja auch, wovon er spricht!). Der Abend Schloß mit einer Einladung beim Gastgeber, der sich zu diesem Zweck in seine gemäßigte Nationaltracht geworfen hatte, ganz unauffällig lag ein prächtiger Bildband von ihm herum. Wir Gäste wurden köstlich und reichlich bewirtet. Was am Vormittag als wissenschaftliche Folklore seriös begonnen hatte, endete am Abend leider im kolonialistischen Gewieher über Penisfutturale. Der letzte Tag. Vormittag. Ein unübersichtlicher, zu genauer Vortrag über Kommunikation in der Schule (man kanns nicht mehr hören) leitete ihn ein, ein Referat über Zeugenbelehrung setzte ihn - uns Zeugen dieser Präsentation belehrend - fort. Dann folgte kein Vortrag, kein Referat, keine gelehrte Abhandlung, sondern eine erfrischende locker gegliederte Skizze eines neuen Forschungsvorhabens über rekonstruktive Gattungen in der alltäglichen Kommunikation. Dabei sollen die Rekonstruktionen von Erinnerungen aus dem

60 privaten Bereich (Klatsch, Dia-Abende etc.), die narrative Kultur untersucht, „kommunikative Haushalte" (z.B. von Familien) bestimmt werden. Ein Füllhorn zu untersuchender kommunikativer Phänomene wurde mit werbender Leichtigkeit und sokratischer Unerschütterlichkeit vor uns ausgeschüttet. Doch sogleich erschienen die Warner mit erhobenen Zeigefingern auf der Szene: zu groß sei das Stück vom kommunikativen Kuchen, größer sei der Mund als der Magen, man könnte sich überfressen. Und vorsichtig begannen die Krähen dann doch zu hacken, rundum (Einwurf des bösen, heimatlosen Reiseprofessors: ich habe da zwei Fragen und wundere mich nur, daß noch niemand sie gestellt hat). Der Bedrohung, die ein neues Projekt dieser Art dem Schwerpunkt bringen könnte, wurde erfolgreich gewehrt, indem das Gespräch erleichtert und allgemein sich den Zukunftsperspektiven zuwandte. Nagenden Selbstzweifeln und Zweifeln widersprach man zögerlich, Kooperations- und Koordinationsinitiativen wurden oberflächlich und eifrig ermuntert, tätig zu werden. Kleinmütige Selbstkritik und Kritik wurden lächelnd beschwichtigt. Gutachter beteuerten - Termine bemühend, Kollegen zitierend - , obschon manchmal innerlich zerrissen, den Schwerpunkt weiterhin am Leben halten zu wollen. Sie glichen (nicht alle) ratlosen Ärzten vor der Entscheidung zu einem Eingriff, den natürlichen Lebenszuckungen des Patienten mißtrauend. Immerhin zuckt er noch. Eilfertig und mit routinierter Freundlichkeit schüttelten sich alle Forscher beim Aufbruch die Hände. Und so wirkte schließlich die Schwerpunkt-Tagung auf Diogenes Graugans wie die schwerfällige Politbürositzung einer deutschen Forschungs-Intelligentsia, bröselig und breiig zugleich, mit einigen soliden oder munteren Einschlüssen. Noch ein Querschnitt oder schon querschnittgelähmt? Eingereicht am 19.7.1984 FORUM und Diogenes Graugans: Über das Colloquium des DFG-Schwerpunktes „Verbale Interaktion" vom 26.01.-28.01.84 in Seewiesen, MPI für Verhaltensphysiologie. Eine ethnographische Grille. Erschienen in: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 4,1 (1985), 90-93.

3.2.4

Hartmut Günther und Eckart Scheerer: „Große Fehde um das Alphabetprinzip"

A u c h das letzte Beispiel ist in einem wissenschaftlichen Organ, den Forschungsberichten des Instituts fiir Phonetik und sprachliche Kommunikation der Universität München, veröffentlicht worden. 3 0 Es handelt sich um eine Auseinandersetzung in vier Schritten über Fragen der Alphabetschrift, in der die Verfasser, u m das Ergebnis vorwegzunehmen, zwar kontroverse Standpunkte vertreten, die Polemik aber eher spielen als wirklich praktizieren. D a s s v o m Gegner behauptet wird, er habe „kräftige Hiebe" ausgeteilt (Günther 1 9 8 1 , 1 0 3 ) , kommt dem nahe, was man in einer Polemik erwartet. Sonst aber heften sich die beiden Kontrahenten die negativen Prädikationen, die sich der

30

Die Kontroverse, von Scheerer auch Polemik genannt (Scheerer 1981, 117), besteht aus zwei Beiträgen von Günther und zwei von Scheerer, die insgesamt 77 Seiten füllen. Die Texte können deshalb nicht vollständig dokumentiert werden. Ich habe einige Passagen aus der Schlussphase ausgewählt, in denen man sieht, wie die Kontrahenten auf die vorangegangene Kritik reagieren und wie sich beide, für polemische Auseinandersetzungen völlig untypisch, Gedanken über einen zukünftigen fruchtbaren Gedankenaustausch machen.

61 Gegner als Vorwürfe einfallen lassen könnte, in Selbstbeschreibungen freiwillig gleich selber an: „geharnischte Vorrede", „Prügel austeilen", „Niederreißen", „allegorisch-derbe Ausdrucksweise", „sprachliche Schlampigkeit", „zugespitzte Formulierung" u.a. N u n könnte man denken, dass die beiden Schreiber das, w a s der Gegner in kritisch-entlarvender Funktion sagen könnte, dadurch strategisch unterlaufen, dass sie es vorwegnehmen. D o c h brauchen sie sich gar nicht voreinander zu furchten. Es fehlt den Streitenden jede polemische Energie, und die Selbstbeschuldigungen sind in h o h e m Grade übertrieben. V o n Hieben und Prügeln kann ernstlich gar nicht die Rede sein. Die Beteiligten folgen den Erläuterungen und Berichtigungen des anderen bereitwillig und schlagen sich schuldbewusst sogleich an die eigene Brust („Sie haben recht", 117; „ich habe Ihren Tadel verdient", 120; „muß ich leider gestehen", 124; „gewisse Mängel meiner Darstellung", 124) - alles im Bemühen, die weiter bestehenden sachlichen Unterschiede zu erkennen und in „konzentrierter interdisziplinärer Arbeit" am „ k o m p l e x e n und heterogenen Gegenstand g e s c h r i e b e n e Sprache'" ( 1 1 5 ) weiter zu arbeiten.

Schlussbemerkung Ich habe aus dieser Diskussion viel gelernt, u.a. hatte ich das nicht unwichtige AhaErlebnis, daß man von jemandem Hiebe bekommt, den man nun wirklich nicht angreifen wollte und, nach bestem eigenen Wissen, auch nicht angegriffen hat. Bei dem sehr komplexen und heterogenen Gegenstand „geschriebene Sprache" kann es also dazu kommen, daß das Anbringen einiger deutlicher Fragezeichen an ein Konzept, das viele Leute für zentral halten und dabei entschieden überbetonen, von anderen als verantwortungsloses Nachschmieren längst überwunden geglaubter Irrwege interpretiert wird. Vielleicht liegt das zu einem Großteil einfach an der Form der Fragezeichen. Prinzipiell aber bleibt das Problem bestehen, daß zwei Wissenschaftler, die ein und dasselbe Gebiet bearbeiten, zu ganz unterschiedlichen Auffassungen über den wichtigsten Gegner kommen, obgleich sie grundsätzlich und vielfach auch im Detail in vielen Punkten übereinstimmen dürften. Die so resultierenden gegenseitigen Mißverständnisse, deren Ausräumung z.T. größerer Anstrengung bedurfte und bedarf, sind ein Indiz fur die Notwendigkeit konzentrierter interdisziplinärer Arbeit zum Thema „geschriebene Sprache". Jeder der sich damit befaßt, hat - von seiner Arbeit her, von seinen Kenntnissen, Kompetenzen und vor allem auch von seinen Inkompetenzen her - bestimmte, und in aller Regel recht tiefsitzende Vorstellungen über den Gegenstand, von denen er annimmt, daß sie gar nicht weiter expliziert werden müßten, weil sie ihm evident scheinen. Die Konfrontation solcher Vor-Urteile aus verschiedenen Fachrichtungen sollte uns dazu bringen, zu zutreffenden Urteilen zu gelangen. (115f.) Günther, Hartmut: Den Esel gemeint, aber den Sack geschlagen. Zu E. Scheerers Kritik an den Thesen zur Alphabetschrift. Erschienen in: Forschungsberichte des Instituts für Phonetik und Sprachliche Kommunikation der Universität München 14, 103-116 (Auszug)

Lieber Herr Günther, Sie haben recht: die Prügel, die ich austeilte, galten nicht Ihnen unmittelbar, sondern einem Esel, auf dem ich Sie, als Sack, ruhen sah. Allerdings meinte ich das selbst schon gesagt zu haben, und sei es auch nur in dem Motto, das ich meiner Polemik voranstellte: was meinen Unwillen erregt hatte, waren nicht so sehr Ihre Thesen, als vielmehr Ihre - zum Teil von Ihnen angedeuteten, zum Teil von mir erschlossenen - didaktischen Nutzanwendungen. Nun stellen Sie klar, daß Sie keineswegs eine Neuauflage der Ganzwortdidaktik ä la Kern

62 beabsichtigen. Ich meinerseits hatte zu Protokoll gegeben, daß nach meiner Fassung des Alphabetprinzips die Vermittlung einzelner Buchstabe-Laut-Korrespondenzen nicht etwa an den Anfang eines Leselehrgangs gehört. Wir lehnen also beide diejenigen didaktischen Schlußfolgerungen ab, welche Anhänger bzw. Gegner des Alphabetprinzips in der Regel aus ihren Positionen gezogen haben. Mithin ist es denkbar, daß wir uns, was die Erstlesedidaktik betrifft, von entgegengesetzten Ausgangspunkten her in die gleiche Richtung bewegen. Solange wir jedoch unsere didaktischen Vorstellungen nicht positiv formulieren, läßt sich schwer beurteilen, ob dies tatsächlich der Fall ist. Wir sollten also diesen Aspekt der Polemik vielleicht besser zurückstellen, zumal wir uns beide wohl als Grundlagenforscher und nicht als Fachdidaktiker verstehen. (117) An erster Stelle möchte ich Ihnen zustimmen, wenn Sie vermuten, daß manche unserer Mißverständnisse wenig substantieller Natur sind, sondern auf die unterschiedliche Sichtund Ausdrucksweise zweier Disziplinen zurückgehen. Dies wurde noch dadurch unnötig verschärft, daß ich, nachdem ich schon einmal in polemischen Schwung geraten war, auch einige Seitenhiebe austeilte, die für den Gedankengang unerheblich waren. Sie trafen unter anderen ,die Linguisten'. Durch einen derselben eines Besseren belehrt, möchte ich sie nun zurücknehmen oder richtigstellen. Für verfehlt halte ich nunmehr meine Einschätzung, als huldigten nur Linguisten dem Fehler, Strukturen als Prozesse zu interpretieren. Es stimmt, gerade in der experimentellen Psycholinguistik wurde jahrelang dieser Fehler begangen. Ich erinnere an die sterile Forschungsrichtung, in der man die für die Bewertung verneinter, ins Passiv und in die Frageform gesetzter Sätze benötigte Zeit maß und auf die Anzahl der Transformationen zwischen Tiefen- und Oberflächenstruktur bezog; bis man endlich entdeckte; „what is so difficult about negation", nämlich die Semantik und nicht die Syntax. Kurz, ich habe Ihren Tadel verdient und kann mich nur damit trösten, daß Sie den in Rede stehenden Fehler nach wie vor auch bei Linguisten konstatieren. (119f.) Lassen Sie mich zu guter Letzt versuchen, einen gemeinsamen Grund zu finden, von dem aus wir zusammen weiterarbeiten können und sollten. Ich glaube, daß es einen solchen Grund gibt, und daß er zwei Markierungspunkte aufweist. Den ersten sehe ich in dem, was Sie in Ihrer Metakritik sagen, daß es nämlich überhaupt nicht darum geht, das Alphabetprinzip zu beweisen oder zu widerlegen, sondern darum, seine Relevanz und seinen Stellenwert zu klären. Eben darum war es mir gegangen. Wenn ich vor allem am Ende meiner Replik in einen etwas .absolutistischen' Ton verfallen bin, so lag hier zum Teil eine Reaktion auf einen Absolutheitsanspruch in umgekehrter Richtung vor; übrigens nicht ganz von ungefähr und jedenfalls nicht im Sinne einer Projektion meiner eigenen absolutistischen Neigungen: die Agnoszierung erfolgte auch aufgrund minutiöser, doch objektiver Indizien, etwa der häufigen Verwendung der Partikeln ,per se' oder ,a priori', oder von Superlativformen, alles sprachliche Figuren, die einen Absolutheitsanspruch entweder selbst behaupten oder beim Gegenüber unterstellen. Aber, wie dem auch sei, ein Widerruf ist des andern wert, und ich will mich gerne von der Äußerung (die ich in dieser Form gar nicht getan habe) distanzieren, daß „alles Lesen und Lesenlemen auf dem Alphabetprinzip beruht". Freilich nicht, ohne daß ich, gleich Galilei, noch den Widerruf meines eigenen Widerrufs vor mich hin brummle. Bis auf weiteres möchte ich nämlich auf dem beharren, was ich tatsächlich gesagt habe, daß nämlich die korrekte Verwendung unseres Schriftsystems ohne Kenntnis des Alphabetprinzips unmöglich ist. (128) Scheerer, Eckart: Offener Brief an Hartmut Günther: Statt eines Schlußwortes zur großen Fehde um das Alphabetprinzip. Erschienen in: Forschungsberichte des Instituts für Phonetik und Sprachliche Kommunikation der Universität München 14, 117-129 (Auszüge)

63

3.3

Das Persönlichwerden

3.3.1

D i e Unterscheidung von argumentum ad rem und argumentum ad personam in Dialektik und Argumentationstheorie

Da Akte des Persönlichwerdens in polemischen Auseinandersetzungen eine wichtige Rolle spielen oder sogar als definitorisches Merkmal polemischer Texte gelten, verdienen Wort und Sache eine eingehende Behandlung,31 die ich mit Schopenhauers Schrift Eristische Dialektik (Schopenhauer [um 1830] 1985) beginne, weil sich an diesem bis heute einflussreichen Buch die grundlegenden Probleme gut besprechen lassen. - Für Schopenhauer ist die Dialektik die Kunst, Recht zu behalten: Um die Dialektik rein aufzustellen, muß man, unbekümmert um die objektive Wahrheit (welche Sache der Logik ist), sie bloß betrachten als die Kunst Recht zu behalten, welches freilich um so leichter seyn wird, wenn man in der Sache selbst Recht hat [...]. Man muß die Auffindung der objektiven Wahrheit rein trennen von der Kunst seine Sätze als wahr geltend zu machen (675).

Dieser vom Begriff der Wahrheit gelöste Begriff der Dialektik stimmt nicht mit der ursprünglichen Bedeutung überein, dokumentiert aber den historischen Prozess der Pejorisierung des Wortes. Im Versuch, „die Dialektik rein aufzustellen", beschränkt sich Schopenhauer faktisch darauf, die „Kunstgriffe der Unredlichkeit im Disputiren aufzustellen" (676). Seine Schrift besteht im wesentlichen aus einer kommentierten Liste von 37 solcher Kunstgriffe als einem Negativkatalog argumentativer Strategien. Sie können danach unterschieden werden, welchen Modus der Widerlegung sie betreffen. Von diesen unterscheidet Schopenhauer zwei: Die Modi: a) ad rem, b) ad hominem, oder ex concessis: d.h. wir zeigen entweder, daß der Satz nicht übereinstimmt mit der Natur der Dinge, der absoluten objektiven Wahrheit: oder aber nicht mit andern Behauptungen oder Einräumungen des Gegners, d.h. mit der relativen subjektiven Wahrheit: letzteres ist nur eine relative Ueberführung und macht nichts aus über die objektive Wahrheit (677).

31

Historisch betrachtet stammt die Redeweise vom Persönlichwerden aus dem 19. Jahrhundert. Noch im 18. Jahrhundert hießen .beleidigende Anzüglichkeiten' und Benachbartes, wie z.B. das Wörterbuch von Paul ( 9 1992, 645) vermerkt, Persönlichkeiten. Die Tätigkeit, solche Persönlichkeiten zu äußern, der Akt des Persönlichwerdens also, hieß Persönlichkeiten oder Personalien traktieren, letzteres im Zedier (1732-1754, Bd. 27, 675) paraphrasiert als ,wenn man eine person ehrenrührig angreift'. Das Wort Persönlichwerden taucht im 18. Jahrhundert noch nicht auf, wohl aber andere Ausdrücke wie das argumentum ad personam, das lateinische Folie sowohl für Persönlichkeiten wie für Persönlichwerden ist. Das Grimmsche Wörterbuch (Bd. 13, 1565) gibt noch im Jahr 1889 für Personalien die Bedeutung .lebensumstände einer person, ein kurzer bericht darüber' an, für Persönlichkeiten .persönliche Verhältnisse, besonders eine ungehörige anspielung darauf, anzüglichkeiten' (ebd., 1568).

64 Jemand, der einen der von Schopenhauer anschließend aufgelisteten 37 Kunstgriffe verwendet, bleibt durchaus im Rahmen der beim Disputieren akzeptierten beiden Modi, nur dass er den einen oder den anderen unredlich realisiert. Das gilt auch für das argumentum ad hominem, das nicht als solches eine Abweichung ist. Es spielt z.B. eine wichtige Rolle in der Verständnissicherung, wenn ich meinen Gesprächspartner mit der Bemerkung unterbreche: „Augenblick mal, das verstehe ich nicht. Hast Du nicht vorhin etwas anderes gesagt?" Das ist ein Einwand ad hominem (dazu auch die Kunstgriffe 16, S. 684f. und 21, S. 685f.), der nicht als unredlich gelten kann und auf jeden Fall noch nichts mit einem Akt des Persönlichwerdens zu tun hat. Zu diesem kommt Schopenhauer erst ganz am Schluss seiner Abhandlung in einem Paragraphen, den er „Letzter Kunstgriff' nennt: Das Persönlichwerden besteht darin, daß man von dem Gegenstand des Streites [...] abgeht auf den Streitenden und seine Person irgend wie angreift: man könnte es nennen argumentum ad personam, zum Unterschied vom argumentum ad hominem: dieses geht vom rein objektiven Gegenstand ab, um sich an das zu halten, was der Gegner darüber gesagt oder zugegeben hat. Beim Persönlichwerden aber verläßt man den Gegenstand ganz, und richtet seinen Angriff auf die Person des Gegners: man wird also kränkend, hämisch, beleidigend, grob. Es ist eine Appellation von den Kräften des Geistes an die des Leibes, oder an die Thierheit (694).

Sowohl die inhaltliche Beschreibung dieses Kunstgriffs als auch seine pointierte Absetzung von den 37 anderen lassen den Schluss zu, dass Schopenhauer nicht beabsichtigte, die eingangs unterschiedenen beiden Modi des Disputierens nachträglich um einen dritten zu ergänzen. Zwar billigt er dem argumentum ad personam mit dieser Bezeichnung zu, Argument zu sein, jedoch ist in diesem Fall der Modus selbst abweichend, weshalb eine Unterscheidung zwischen redlichem und unredlichem Gebrauch beim Persönlichwerden entfallt. Ein Verfahren, mit dem der Kontrahent „von dem Gegenstand des Streites [...] abgeht", „den Gegenstand ganz [verläßt]", kann schlechterdings kein Modus „zur Widerlegung einer These" sein. Geht man von Schopenhauer zeitlich zurück, so stößt man im 18. Jahrhundert u.a. auf das Zedlersche Lexikon, das mit der Sache des Persönlichwerdens in mehreren Artikeln befasst ist. Im Artikel Argumentum (Bd. 2, 1377f.) werden grundlegend die Realia (,betreffen die Sache, von der gehandelt wird, selber, nicht aber den Redner oder den Zuhörer') von den Personalia (,gehen den Redner oder den Zuhörer insonderheit an') unterschieden. Genauere Ausführungen zum Persönlichwerden enthält dann der Artikel Personalien tractiren (Bd. 17, 675), der inhaltlich in den wesentlichen Punkten mit Schopenhauer übereinstimmt: Personalien tractiren wird gesagt, wenn man eine Person ehrenrührig angreifft, und zwar so, daß man die Materie der Beschimpffung von denen Leibes- oder GemüthsFehlern, Geburt, Freunden, Unglücks-Fällen und anderen ihren Lebens-Wandel angehenden Umständen hernimmt. Solche sind überhaupt, gleichwie alle Arten der Injurien verboten. In Sonderheit aber will einem Gelehrten nicht anstehen, daß er entweder im Disputiren oder Schrifften Personalien tractire. Man habe es mit der Sache selbst zu thun, lasse hingegen die Person fahren.

65 Der Gegensatz zwischen „Personalien tractiren" und „mit der Sache selbst zu thun [haben]" ist klar entwickelt; das Persönlichwerden empfangt eindeutig eine negative Bewertung; der Diskurs- bzw. Texttyp, für den das Persönlichwerden ein Problem darstellt, ist in beiden Fällen vordringlich die zur Argumentation verpflichtende wissenschaftliche Auseinandersetzung. Bewegt man sich von Schopenhauer in die andere Richtung zur Gegenwart hin, so kommt man in Deutschland nach einigen Jahrzehnten zu dem Buch Die Kunst, recht zu behalten von Karl Otto Erdmann ( 8 1973), in dem die Kunstgriffe des Streitens mit ausdrücklichem Hinweis auf Schopenhauer (39f.) in elf Abteilungen geordnet werden, von denen eine die Überschrift „Unsachliche Kampfesweise" trägt und ihrerseits die Unterkapitel „Persönlichwerden", „Die auf die Person zugeschnittene Beweisführung" und „Schikanen und Finten" enthält ( 4 5 50). Zum „Persönlichwerden" heißt es: Wohl das schäbigste aller Methoden, 32 den Gegner zu bekämpfen, ist das „Persönlichwerden", das den schärfsten Gegensatz zur sachlichen Kampfweise bildet. Man geht auf die Gründe des Gegners und seine Ansichten überhaupt nicht ein, sondern greift seine Person an. Man bezweifelt seine Sachkenntnis, seine Befähigung, die in Rede stehenden Fragen zu behandeln, seine Glaubwürdigkeit, seinen guten Willen; man schiebt seinen Behauptungen niedrigere Motive unter und sucht dadurch von vornherein alles, was er sagt, als verdächtig und unbeachtlich hinzustellen (45).

Von dieser, anschließend direkt genannten Form des Persönlichwerdens, die recht genau dem argumentum ad personam Schopenhauers entspricht, trennt Erdmann eine indirekte Form, die ihre Entsprechung in Schopenhauers argumentum ad hominem hat: Ein indirektes Persönlichwerden ist es, wenn man einen Gegner dadurch zu entwerten sucht, daß man ihm vorwirft, er habe auch schon anders geurteilt, seine jetzigen Behauptungen ständen mit gelegentlichen früheren Äußerungen oder sonstwie vertretenen Überzeugungen im Widerspruch (47).

Für die engere Zusammenrückung dessen, was Schopenhauer mit den Ausdrücken ad hominem und ad personam unterschieden hatte, unter den gemeinsamen Oberbegriff Persönlichwerden und - im zweiten Schritt - unter den Begriff Unsachliche Kampfesweise könnte Erdmann geltend machen, dass das Argument in beiden Fällen den Gegner statt der Sache ins Blickfeld rückt. Der Nachteil der Erdmannschen Lösung ist, dass das indirekte Persönlichwerden zusammen mit dem direkten generell eine negative Bewertung erhält („Persönlichwerden", „unsachlich"), obwohl diese Bewertung, wie oben gesagt, zu Recht nur die missbräuchliche Anwendung, nicht aber das Verfahren als solches trifft. Da das „indirekte Persönlichwerden" der Klärung des jeweiligen Sachverhalts dienlich sein kann, könnte man es mit gleicher Berechtigung auch eine „indirekt sachliche", weil sachdienliche Verfahrensweise nennen. Bei Erdmann geht also die Einsicht verloren, dass sich das, was er „indirektes Persönlichwerden" nennt, grundsätz32

Lies: Persönlichwerden ist das Schäbigste (unter allen Methoden, den Gegner zu bekämpfen).

66 lieh im Rahmen eines anerkannten Modus des Disputierens bewegt, während im Falle des „direkten Persönlichwerdens" der Modus selbst defekt ist. Die Ausdrücke argumentum ad hominem und argumentum ad personem verwendet Erdmann in diesem Zusammenhang nicht. Argumentum ad hominem taucht erst im zweiten Unterkapitel der „unsachlichen Kampfesweise" auf und hat dort eine ganz andere Bedeutung als bei Schopenhauer. Es bezeichnet die auf die Person zugeschnittene Beweisführung, indem man Gründe benutzt, an die man selbst nicht unbedingt glaubt, von denen man aber annimmt, daß sie den Gegner überzeugen (48).

Für diese Strategie und ihre Benennung beruft sich Erdmann auf Aristoteles. Man findet diesen Wortgebrauch gelegentlich auch im 19. Jahrhundert; 33 es ist jedoch unverkennbar, dass der gemeinte Sachverhalt auf einer anderen Ebene liegt. Bei Schopenhauer geht es, wie bei Erdmanns Trennung von direktem und indirektem Persönlichwerden, darum, Teilklassen von Äußerungen zu unterscheiden, deren gemeinsames Merkmal ist, dass sie Aussagen über den Streitgegner und nicht über die Streitsache enthalten. Ob eine argumentatio ad hominem im Sinne Erdmanns vorliegt, entscheidet sich aber völlig unabhängig von dieser Frage. Sie ist eines der Mittel, die der Redner verwendet, um beim Adressaten das zu erreichen, was Schopenhauer allgemein als Kunst der Dialektik bestimmt, nämlich „seine Sätze als wahr geltend zu machen". Zur Förderung dieses Zweckes spricht der Redner in geeigneter Weise Interessen, Neigungen, Glaubensdispositionen und Vorwissen des jeweiligen Adressaten an und sagt eventuell auch einmal etwas, was er selbst nicht glaubt, von dem er aber annimmt, dass es den Adressaten überzeugt. Solche Äußerungen, sind, betrachtet man sie in ihrem Inhalt, meist gerade nicht personen-, sondern sachbezogen. Erdmann charakterisiert die Strategie selbst als „unsachliche, wenn auch scheinbar sachliche Kampfesart" (48). In der gegenwärtigen Diskussion sind Wort und Sache des Persönlichwerdens in verschiedenen Forschungsfeldern (Rhetorik, Argumentationstheorie, Literaturwissenschaft, Psychologie) Thema, doch variieren die Begriffe weiterhin in Abhängigkeit vom jeweiligen Erkenntnisinteresse und von den unterschiedlichen Gegenständen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit illustriere ich diesen Sachverhalt an einigen neueren Veröffentlichungen: Apeltauer (1977) untersucht mündliche alltagsweltliche Streitgespräche und versteht unter Streit ,eine verbale Konfliktform, die sich durch hohe emotionale 33

So z.B. 1835 in einer Tagebuchnotiz Grillparzers: „Daß die alten Deutschen Lieder gehabt, bedarf freilich keines Beweises. Die Lobsprüche des Tacitus waren übrigens wohl sehr ad hominem, den verweichlichten Römern nämlich zur Angehöhr" (Grillparzer 1964, Bd. 3, 705); oder bei Gutzkow: „Die Art z.B. wie die Reichsministerien das Frankfurter Attentat ausbeuten wollen, wird jedem Vaterlandsfreunde höchst verdächtig erscheinen müssen. Man sieht, daß sie den Regierungen durch argumenta ad hominem beweisen wollen, wie nützlich und nothwendig eine starke Centralgewalt ist! Man hatte gehofft, sie würden diesen Beweis durch die Politik fuhren, und führen ihn nur durch die Polizei" (Gutzkow 1969, 123).

67 Beteiligung beider Partner auszeichnet und primär auf der Beziehungsebene abläuft' (36). 34 Das Interesse gilt also einer Kommunikationsform, in der die Teilnehmer nicht (mehr) argumentieren und auch kaum unter der Erwartung stehen, dies zu tun. Die fünf Grundtypen des Persönlichwerdens, die Apeltauer in seinem empirischen Material gefunden hat, stehen gemeinsam unter der Intention, den Gegner zu disqualifizieren oder ihn zu verletzen, und der Sprecher verwirklicht diese seine Intention, indem er von den Handlungen des Gegners auf dessen Person übergeht und entweder den „Persönlichkeitsraum" (Goffman) des Gegners oder - direkt oder indirekt - seine „Identität" (Mead) thematisiert. Das kann man zwar auch vom argumentum ad personam im Sinne Schopenhauers sagen. Der Begriff ist aber bei Schopenhauer enger gefasst, weil zusätzlich Erwartungen verletzt werden, die sich in argumentativen Auseinandersetzungen aus der Opposition von res und persona ergeben. Bloße Beschimpfungen z.B. fallen bei Schopenhauer ja nicht unter den Begriff. Kienpointner (1983) verwendet die Ausdrücke argumentum ad personam und argumentum ad hominem als Ausdrucksvarianten für die gleiche argumentative Strategie, die er in Form einer Maxime ausformuliert: „Versuche die A r g u m e n te] des Gegners zu schwächen, indem du zeigst, dass sie notwendig aus bestimmten Eigenschaften/Einstellungen/Gefühlslagen folgen, die für ihn typisch sind" (152). Diese Bestimmung stimmt recht gut mit Schopenhauers Beschreibung des argumentum ad personam überein. Die Beispiele Kienpointners deuten aber ebenfalls auf einen sehr weiten Begriff von Argumentieren, wenn z.B. eine Äußerung wie „Weißt du, was ich finde? Ich finde dich bis zum Schwachsinn naiv" als Beispiel für ein argumentum ad personam/hominem genannt wird. Kienpointner steht wie Apeltauer für die allgemeinere Tendenz, Persönlichwerden erweitert als Oberbegriff für alle sprachlich-kommunikativen Verhaltensweisen zu verwenden, mit denen jemand persönlich angegriffen wird (inklusive Beschimpfungen, Beleidigungen, Verleumdungen, Flüchen und manchem anderen), während Persönlichwerden in der engeren Bedeutung ein spezifisches Problem des Disputierens ist. Wenn mich jemand anrempelt und ich darauf mit der unfeinen Reaktion „Du Idiot!" reagiere, dann ist das im traditionellen Sinne kein Fall von Persönlichwerden; denn wo wäre die res, von der ich abweiche? In der aufwendigen empirischen Studie zu den Strategien unintegren argumentativen Verhaltens von Groeben und anderen (Groeben u.a. 1990-1992, III) wird eine dieser Strategien argumentum ad personam (auch Persönlichwerden) genannt, die mit zehn weiteren den Standard „Diskreditieren" bildet, der seinerseits dem Merkmal III „Inhaltlich ungerechte Argumente" zugeordnet ist. Die auf den Standard „Diskreditieren" insgesamt bezogene Handlungsaufforderung „Unterlasse es, deinen Argumentationspartner zu diskreditieren" - erhält die Erläuterung, dass der Standard dann verletzt sei, „wenn Sprecherinnen Argumente anführen, die sich nicht gegen die Sache, sondern in direkter oder indirekter Form gegen die Person des Gegners richten" (23). Das trifft aber für alle Strate34

Der Begriff Streit rückt bei ihm insgesamt in die Nähe von Zank bzw.

Beschimpfung.

68 gien in dieser Gruppe zu. Offenbar hat Persönlichwerden/argumentum ad personam in diesem Projekt eine engere Bedeutung. Worin es sich aber von den anderen Strategien des Standards - z.B von „Lächerlichmachen", „sachliche Probleme als persönliche Schwierigkeiten darstellen", „moralische Integrität des Gegenüber anzweifeln", „Psychologisieren" - unterscheidet, ist nicht genauer bestimmt.

з.3.2

Probleme im Umgang mit der Unterscheidung ad rem und ad personam

(1) Engerer und weiterer Begriff: Wie der fragmentarische Überblick im ersten Teilkapitel erkennen lässt, hat der Ausdruck Persönlichwerden hinsichtlich des mit ihm bezeichneten Verhaltens engere und weitere Bedeutungen. In der weiteren Bedeutung umfasst der Begriff im Extremfall das gesamte Inventar von Mitteln, von denen man alltagssprachlich sagen kann, man werde mit ihnen persönlich angegriffen, alles, was das Selbstwertgefühl der angegriffenen Person bzw. seine Geltung in den Augen Dritter zu verletzen imstande ist. Eine engere Bedeutung erhält der Ausdruck, wenn man ihn als Übersetzung des lateinischen argumentum ad personam auffasst und den Begriff des Arguments nicht über Gebühr strapaziert. Einschränkende Bedingungen sind dann, dass es sich um eine Äußerung handelt, die inhaltlich eine Aussage über eine Person, eine Mehrzahl von Personen bzw. bestimmte Merkmale solcher Personen enthält, und dass der Angriff im Gesprächs- oder Textzusammenhang direkt oder in einem beschreibbaren indirekten Sinne eine argumentative, zumindest pseudoargumentative Funktion hat. Persönlichwerden im engeren Sinne ist also eine Strategie im Rahmen bestimmter Diskurs- oder Texttypen, während das Persönlichwerden im weiteren Sinne in dieser Hinsicht nicht festgelegt ist. Der engere Begriff, demzufolge das Wort gemäß der ersten Bedingung nur auf Äußerungen anwendbar ist, in denen inhaltlich etwas über die Person des Gegners ausgesagt wird, scheidet и.a. alle Fälle aus, in denen eine Verletzung des Gegners bzw. seine Diskreditierung beim Publikum als Wirkung einer rein sachlichen Kritik eintritt.35 Es genügt weder die Intention des Sprechers, den Gegner zu verletzen bzw. ihn zu diskreditieren, noch die Wirkung beim polemischen Objekt, sich durch eine Äußerung persönlich diskreditiert zu fühlen. (2) Begründungen für die negative Bewertung: Für das Persönlichwerden im engeren wie im weiteren Sinne gilt, dass es in der Regel negativ bewertet wird. Die Begründungen differieren jedoch. Persönlichwerden im weiteren Sinne verletzt Erwartungen, denen kommunikatives Verhalten generell unterworfen ist: Respekt vor dem Selbstwertgefühl des Partners, Vermeidung der Beschädigung 35

Diese Möglichkeit besteht, weil „es in jeder inhaltlichen D S [dissenten Sequenz] eine Rolle spielt, daß die Ablehnung des gegnerischen Standpunktes auch eine Mißachtung von dessen Person bedeutet" (Gruber 1996, 108), zumindest so empfunden werden kann - weshalb es eben so schwer ist, Kritik ertragen zu können.

69 seines „Image" in der Öffentlichkeit, Höflichkeit etc. Beim Persönlichwerden im engeren Sinne kommen Erwartungen hinzu, die speziell für die argumentative Sachauseinandersetzung gelten und sich aus dem Gegensatzpaar res-persona ergeben. Sprecher und Schreiber, die sich auf eine Argumentation einlassen, bzw. von denen erwartet wird, dass sie es tun, stehen unter der Erwartung, dass sie an der Klärung der jeweiligen Sache ernsthaft interessiert sind und ein diesem Ziel förderliches Verhalten an den Tag legen. Genau diese Erwartung verletzt das Persönlichwerden im engeren Sinne, weil es zusätzlich zu den ethischen Einwänden, die alle Formen des Persönlichwerdens auf sich ziehen können, auch noch dysfiinktional ist. (3) Persönlich = nicht sachlich?: Der Begriff des Persönlichwerdens im engeren Sinne ist wesentlich vom Gegenbegriff des Sachbezugs determiniert. Man darf den Ausdruck deshalb nicht wörtlich nehmen; denn in seine Extension fallen bei weitem nicht alle Äußerungen, in denen etwas über Personen ausgesagt wird. Das erklärt u.a., warum Wort und Sache des Persönlichwerdens in der rhetorischen Theorie der Lob- und Tadelrede nicht auftauchen, weil es in diesen Gattungen keine von der Person abtrennbare res gibt, von der man abweichen könnte. Ganz im Gegenteil gelten ja die in der Topik gesammelten loci α persona ausdrücklich als „Fundstätten der Beweise". Beim Persönlichwerden - in dieser Hinsicht kann man das Wort in der Tat wörtlich nehmen - wird man persönlich, d.h. man macht Aussagen über eine Person in einer Situation, die eigentlich anderes erfordert. Was aber ist, wenn statt einer Sache eine Person oder das Verhalten einer Person das eigentlich strittige Thema ist, wenn also die res eine Person ist. Sind in solchen Fällen Äußerungen über die Person der Kritik entzogen? Der Blick auf eine polemische Auseinandersetzung zwischen Campe und Moritz (1789) kann verdeutlichen, dass das nicht ohne weiteres der Fall ist. Der Streit betrifft einen Vertrag, den der Buchhändler Campe und sein Autor Moritz miteinander vereinbart hatten, und die Beurteilung des Verhaltens der Partner nach Abschluss des Vertrags. Alle Aussagen im Streit, in denen die Streitgegner das Verhalten des jeweils anderen thematisieren, enthalten, soweit dieses Verhalten vertragsrelevant ist, zwar Informationen über die Personen, sind aber trotzdem keine Argumente ad personam, sondern ad rem, da ja genau die Beurteilung dieses Verhaltens das strittige Thema ist. Beide Personen sind freilich nicht nur gemeinsame Vertragspartner, sondern haben zahlreiche andere Rollen und viele Eigenschaften, die in keiner Beziehung zur strittigen res stehen. Werden sie thematisiert, sind sie sinnvollerweise als Argumente ad personam zu bezeichnen. Es genügt also nicht, mechanisch zu überprüfen, ob Aussagen über Eigenschaften von Personen gemacht werden. Die Unterscheidung erfordert, zunächst zu bestimmen, was die res ist. Nur was nicht zur res gehört, wird von dem negativ wertenden Begriff des Persönlichwerdens erfasst. (4) Einschränkung auf negativ wertende Äußerungen: Eine erklärungsbedürftige Unstimmigkeit in der Verwendung des Begriffs ist, dass mit den Ausdrücken Persönlichwerden bzw. argumentum ad personam als negativer Wertprädikate

70 üblicherweise nur Äußerungen bezeichnet werden, in denen der Gegner negativ bewertet wird. Das ist überraschend, weil Äußerungen, mit denen Sprecher oder Schreiber auf sich selbst als Person Bezug nehmen, wie auch solche, die den Gegner loben, genauso wenig zur Klärung der Sache beitragen und in einer Klassifikation, die nur die beiden Klassen ad rem und ad personam kennt, der zweiten Klasse zugeordnet werden müssten. Und so geschieht das auch in Zedlers Universal-Lexikon im Artikel „Argumentation" (Bd. 2, 1377f.), wo der Begriff der „Argumenta Personalia" die Menge aller Argumente umfasst, die nicht „Argumenta Realia" sind: Personalia gehen den Redner oder den Zuhörer insonderheit an, und gehören entweder unter die Conciliantia oder Commoventia. [...] Realia betreffen die Sache, von der gehandelt wird, selber, nicht aber den Redner oder den Zuhörer. 36

Im Artikel „Personalien tractiren" im gleichen Lexikon ist aber eindeutig nur von den Personalia die Rede, in denen der Gegner angegriffen wird. Genauso entscheiden sich stillschweigend Schopenhauer, Erdmann und die zeitgenössischen Nachfolger. Diese auffallige Ungleichbehandlung der verschiedenen Klassen personenbezogener Äußerungen, die unter dem Gesichtspunkt der Kommunikationsziele argumentativer Rede kaum begründet werden kann, beruht möglicherweise darauf, daß das Ärgernis des Persönlichwerdens und der Grund für die Etablierung des Begriffs als negativen Wertbegriff trotz der pointierten Gegenüberstellung mit dem res-Begriff nicht nur in der Dysfiinktionalität für die Ziele argumentativer Rede besteht, sondern zugleich darin, dass mit dem Persönlichwerden allgemeinere Kommunikationsregeln verletzt werden, die die öffentliche Diskreditierung einer Person verbieten oder - noch allgemeiner - das soziale Image des Kommunikationspartners (im Sinne Goffmans) beschädigen. Auch mag die Herkunft des Begriffs aus der Widerlegungslehre, heiße sie Polemik wie bei Zedier oder Dialektik wie bei Schopenhauer, eine Rolle spielen. In der Analyse eines kommunikativen Verfahrens, das das Ziel hat, Thesen eines Gegners zu widerlegen, erlangen verständlicherweise die personenbezogenen Äußerungen besonderes Interesse, mit denen die Person des Gegners angegriffen wird. Die gleiche Erklärung bietet sich übrigens auch für die ganz analog eingeschränkte Verwendung des Begriffs argumentum ad hominem an. (5) Funktionen des Persönlichwerdens: Dem Persönlichwerdens werden in der Literatur verschiedene Funktionen zugeordnet. Gesucht werden sie zum Teil in Wirkungen auf den Kontrahenten, z.T. in Wirkungen beim Publikum, z.T. in den emotionalen Zuständen des Schreibers. Apeltauer (1977) nennt als Ziel des Spre36

Die Conciliantia werden erläutert als ,diejenigen, durch welche der Redner denen Zuhörern eine gute Meynung von sich beyzubringen und dadurch ihre Gunst zu erhalten suchet.' Sie gelten in der Tradition der Rhetorik als Mittel zur Erhöhung der Glaubwürdigkeit des Redners und zur Überzeugung des Adressaten und sind akzeptiertes Mittel der rhetorischen Kunst und nicht etwa eine Abweichung von ihr. Auch bei Zedier fehlt jede negative Bewertung. Gleiches gilt fur die Commoventia, worunter Argumente zu verstehen sind, .wodurch [beim Zuhörer] eine Gemüths-Bewegung erreget wird'.

71 chers oder Schreibers nach der Topik des Aristoteles die emotionale Verwirrung des Gegners.37 Häufig ist auch die Erklärung des Persönlichwerdens als letzte Möglichkeit für den, der keine anderen Eisen mehr im Feuer hat. Dieses Motiv findet man, schon in Kapitel 3.3.1 zitiert, bei Schopenhauer genannt.38 Benachbart ist die Bestimmung Kienpointners (1983, 152), derzufolge man dann zu persönlichen Angriffen greift, wenn man sich vor inhaltlichen Auseinandersetzungen drücken will. Das Persönlichwerden kann die Schwäche in der sachlichen Position verdecken und so eine weitere Beteiligung ermöglichen. Eine andere Funktion primär für das polemische Subjekt ist die Entlastung von Aggressionen und Frustrationen durch Ausleben.. Auf das Publikum gezielt ist die von Kienpointner (1983, 152) genannte Funktion, den Argumenten des Gegners die Überzeugungskraft zu rauben, indem man sie auf persönliche Eigenheiten des Sprechers zurückführt. Diese Wirkung beruht darauf, dass das argumentum ad personam trotz aller Defekte ein argumentatives Potential haben kann. Daneben werden - analog der Aggressionsentlastung beim Schreiber - auch im Blick auf das Publikum Befriedigung von Schadenfreude oder Rachegefühlen, Skandalsucht u.ä. genannt. Entsprechend der Auffassung, dass der eigentliche Adressat des polemischen Subjekts das Publikum (und nicht der Kontrahent) ist, verdienen sicherlich die zuletzt erwähnten publikumsbezogenen Ziele besondere Beachtung. (6) Kritik an der Trennung von Person und Sache: Die Berechtigung der Forderung, sich an die Sache zu halten und die Person aus dem Spiel zu lassen, wird in der Sekundärliteratur nicht selten relativiert oder grundsätzlich in Zweifel gezogen, entweder mit dem methodischen Argument, dass sich beides schlecht trennen ließe, oder mit dem sachlichen Argument, dass die negative Bewertung der Bezüge auf die Person ungerechtfertigt sei. Eine grundsätzlich kritische Einstellung gegenüber der Unterscheidung von Sache und Person und ihrer Funktion äußern Ingrid und Günter Oesterle (1975) in der Analyse der polemischen Auseinandersetzung zwischen Menzel und den Jungdeutschen, indem sie die bei den Jungdeutschen beobachtete Aufhebung der Unterscheidung positiv bewerten.39 Gestützt auf Walter Benjamin (1931/21980,

38

39

„Femer muß man Zorn oder Ehrgeiz wecken, denn wer verwirrt wird, kann nicht so gut auf alles achten" (231). Die Verwirrung als Folge persönlicher Verletzung kann auch bewirken, daß der Gegner aufgibt und einlenkt (ebd., 233). Siehe auch den von Apeltauer zitierten Satz Hamiltons: „Taugt deine Sache nichts, berufe dich auf die Partei, taugt die Partei nichts, berufe dich auf die Sache, taugen beide nichts, verwunde den Gegner" (Apeltauer 1977, 233). „Sie [die Jungdeutschen] suchen seinen [Menzels] kritischen Attacken mit einer Kritik beizukommen, die die Unterscheidung von persönlicher und sachlicher Kritik aufhebt, der Polemik. Denn eben mit Hilfe der Trennung zwischen persönlicher und sachlicher Kritik ist es Menzel möglich, sich als professionellem Kritiker einen öffentlichen Charakter zuzulegen, dessen .Meinungen', von der Person abgehoben, sich ,dem Warenumlauf einverleiben' lassen. Die Diskrepanz zwischen Menzels öffentlichem und seinem privaten Verhalten benutzt Gutzkow, um Menzels Kritik der Unwahrhaftigkeit zu überführen [...], Heine, um sie lächerlich zu machen" (I. u. G. Oesterle 1975, 171f.).

72 382) beschreiben sie mit gesellschaftskritischer Zielrichtung die kritisierbare Funktion der Unterscheidung etwas später allgemein: Person und Sachen auseinanderreißen heißt, dem Produkt den Charakter seines Produziertseins nehmen und es den Charakter einer unabhängigen Wesenheit annehmen lassen. Dies zu verweigern macht den Vorzug der Polemik gegenüber der „sachlichen" Kritik aus, die der Person, genauso wie die Polemik, materielle Interessiertheit unterstellt, nur im Unterschied zu dieser darin einen Mangel der Person sieht; objektivistisch stellt sie ihr daher die Sache als angeblich fur sich selbst sprechende, ideelle entgegen. Was dem Polemiker gegenwärtig ist, tilgt der „sachliche" Kritiker, daß nämlich der Interessiertheit, mit der jener an die Sache geht, eine in diese eingegangene Interessiertheit entspricht, die er aufdeckt. Die Polemik realisiert, daß in die Sache, das Werk, den Gegenstand ein gesellschaftliches Verhältnis eingegangen ist, nur vereinfacht sie dieses, wenn sie seiner in einer einzelnen Person habhaft werden will. Ihr Problem ist daher nicht ihre angebliche Unmoral, die man ihr gemeinhin vorwirft, sondern das Moralisieren (174f.). Bei anderen bezieht sich der Zweifel weniger auf die Berechtigung der Forderung als auf die Möglichkeit ihrer Befolgung. 4 0 Wiederum anders begründet ist die Relativierung der Trennung von Person und Sache bei Maximilian Harden (1903), der die Forderung für bestimmte Personen außer Kraft setzt. Er verneint die Vorwerfbarkeit von Hohn und Verachtung als Waffen des Kritikers, wenn „der Gegenstand, das Werk, die bekämpfte Person so beschaffen ist, daß man ihr mit Verachtung und Hohn auf den Leib rücken" darf, wenn der Gegner sozusagen den Schimpf verdient (zit. in: Erdmann 1973, 93). Zum anderen gewährt er dem bedeutenden Kritiker Sonderrechte, wenn dessen Kritik „von eigenen Gnaden" lebt und demgegenüber deshalb „die Frage nach der objektiven Richtigkeit seines Urteils" sofort verhalle (ebd.). Nicht jeder befreit bedeutende Persönlichkeiten so programmatisch von den sonst üblichen normativen Erwartungen wie Harden, doch besteht in der Beurteilung polemischer Streitfälle bis in die Wissenschaft hinein eine Tendenz, nach dem Prinzip „Quod licet Jovi, non licet bovi" mit unterschiedlichem Maß zu messen. 40

H.D. Zimmermann (1966) fuhrt die Unterscheidung in seiner Charakterisierung der polemischen Auseinandersetzung zwischen Kerr und Kraus nahezu ad absurdum: „Kerr sprach von der Person, meinte aber die Sache. Er zielte auf den Liebhaber Jagow, hoffte aber, den Zensor zu treffen. Wenn sich keine andere Möglichkeit des Angriffs bietet, kann es nützlich sein, einen privaten Vorfall aufzugreifen, um einer Amtsperson Schwierigkeiten zu machen. Ein Skandal ist besser als zehn Argumente. Hier haben wir also das Gegenstück zu dem Fall, den Kerr in dem Pamphlet gegen Kraus zur Sprache brachte. Kraus, hieß es dort, habe eigentlich nichts gegen den Krieg einzuwenden, lediglich eine Affaire mit der Schalek habe ihn zu seinem Pazifismus gebracht. Demnach habe Kraus auf eine Sache gezielt, um eine Person zu treffen. Ob der Autor die Sache hochspielt und die Person meint oder die Person angreift und die Sache im Sinn hat, er wird verfahren, wie er es im konkreten Fall für günstig hält. Es ist auch möglich, daß ein Autor tatsächlich die Sache meint, wenn er sie in die Diskussion bringt. Der böswillige Beobachter wird in jedem Angriff auf einen Sachverhalt eine niedrige persönliche Rache sehen und in jeder Polemik gegen eine Person nur einen Vorwand, die Sache unmöglich zu machen, die diese Person vertritt. So könnte er etwa auch einem Aufsatz über die Schmähschrift vorhalten, dem Autor sei es nur darum gegangen, einer bestimmten Person eins auszuwischen" (335f.).

73 (7) Abgrenzungsprobleme: Probleme bestehen schließlich auch bei der Bestimmung der Grenze zwischen Sache und Person, hinter der das vorwerfbar Persönliche beginnt. Die folgenden Zitate veranschaulichen die Skala möglicher Entscheidungen in dieser Hinsicht. Eine sehr strikte Grenzziehung nimmt Lessing in Briefe, die neueste Litteratur betreffend (Lessing 1760/31892, VIII, 237) für Buchrezensionen vor: Ich habe immer geglaubt, es sey die Pflicht des Kriticers, so oft er ein Werk zu beurtheilen vornimmt, sich nur auf dieses Werk allein einzuschränken; an keinen Verfasser dabey zu denken; sich unbekümmert zu lassen, ob der Verfasser noch andere Bücher, ob er noch schlechtere, oder noch bessere geschrieben habe; uns nur aufrichtig zu sagen, was für einen Begrif sich man aus diesem gegenwärtigen allein, mit Grunde von ihm machen könne.

Etwas weiteren Raum lässt die „Bestimmung unerlaubter Persönlichkeiten" des gleichen Autors in der Schrift gegen Klotz (Lessing 1768-1769/31894, X, 436): Aber sobald der Kunstrichter verräth, daß er von seinem Autor mehr weis, als ihm die Schriften desselben sagen können; sobald er sich aus dieser nähern Kenntniß des geringsten nachtheiligen Zuges wider ihn bedienet: so wird sein Tadel persönliche Beleidigung. Er höret auf, Kunstrichter zu seyn, und wird - das verächtlichste, was ein vernünftiges Geschöpf werden kann - Klätscher, Anschwärzer, Pasquillant.

Die Direktive ist klar, nämlich alle Äußerungen zu vermeiden, die Informationen enthalten, die nicht durch die Schriften des Gegners gedeckt sind. Diese erscheinen im Unterschied zum ersten Zitat im Plural. In der Umkehrung wäre alles, was „die Schriften desselben sagen können", ohne Vorwurf sagbar. Umfasst das, was sie sagen, aber nur, was explizit ausgedrückt ist, oder auch das, was der Betrachter aus dem Gesagten über den Schreiber erschließen zu können glaubt, nämlich z.B. Dummheit, Unehrlichkeit, Böswilligkeit oder andere Eigenschaften des Gegners, die anzunehmen das fragliche Werk dem Kritiker nahelegt? - Strauß (1838/1972, II, 665f.) nimmt in seiner Beurteilung der „Einmischnung des Moralischen und Persönlichen in den literarischen Streit" durch Menzel in dessen Fehde gegen die Jungdeutschen das zweite Zitat Lessings zustimmend auf, mildert aber dessen Bestimmung, so dass die Bezugnahme auf sittliche und persönliche Verhältnisse gegen Lebende nur dann [aber eben doch!] erlaubt ist, wenn sie wie Männer der Vorzeit behandelt werden, d.h. wenn die Kritik sich nicht an einzelne Züge ihres Charakters oder abgerissene Thatsachen ihres Lebens hängt, welche für sich die verschiedenste Deutung zulassen, sondern den Charakter in seinem Innersten, und das Leben in seinem ganzen Zusammenhang aufzufassen sucht.

Die nächste Stufe ist erreicht, wenn Bezüge auf die Person nach Meinung des Betrachters Eigenschaften des Werks zu erklären imstande sind. So bestimmt Heine (1830/1964, V, 297f.) die Grenze, wenn er versichert, er werde „das Materielle, das sogenannt Persönliche, nur insoweit berühren, als sich geistige Erscheinungen [nämlich die literarischen Werke Platens] dadurch erklären lassen." Dann entfällt in der Kritik am Persönlichwerden zumindest das Argument der Dysfunktionalität.

74 (8) Sonderfall Literatur: Bei Werken der schönen Literatur treten in der Beurteilung der Legitimität von Bezügen auf die Person des Autors zu den funktionalen und den ethischen literaturtheoretische Gesichtspunkte hinzu, auf deren Grundlage Äußerungen über den Schöpfer eines Werkes noch aus ganz anderen Gründen grundsätzlich negativ bewertet werden können. Strittig ist sowohl, ob die Beziehungen zwischen Werk und Autor überhaupt der Art sind, dass man Rückschlüsse von einem auf das andere ziehen kann, als auch die methodologische Frage, ob eventuell bestehende Zusammenhänge in der Werkanalyse zu berücksichtigen oder zu vernachlässigen sind. Es scheint in dieser Frage historisch keine klare Entwicklungslinie zu geben. 41 (9) Zusammengehörigkeit von Person und Handlungsprodukt im alltagsweltlichen Denken: Nicht nur im theoretischen Diskurs, auch für das alltagsweltliche Denken ist nicht unmittelbar einsichtig, warum in der Auseinandersetzung über Produkte menschlichen Handelns, also auch über Gesagtes und Geschriebenes, die Person des Handelnden keine Rolle spielen soll, da doch zweifellos die Eigenschaften des Produkts in vielen Fällen in den Eigenschaften seines Urhebers ihre Erklärung finden. Die Trennung von Person und Sache kann also durchaus als künstliches Auseinanderreißen von etwas erscheinen, was natürlicherweise zusammengehört. So hat Marcuses Haltung in dieser Frage (1989, 321) zumindest den Anschein des gesunden Menschenverstandes für sich:

41

Die folgenden Zeugnisse zeigen, vereinfacht auf das Grundsätzliche, in der einen Gruppe Schiller und Lamping, in der anderen Börne und Wollweber. Greiner sperrt sich gegen eine einfache Zuordnung, weil die Grenze für das Vorwerfbare für ihn nicht zwischen Sache und Person, sondern zwischen verschiedenen Aspekten der Person (öffentlich/privat) verläuft: „Kein noch so großes Talent kann dem einzelnen Kunstwerk verleihen, was dem Schöpfer desselben gebricht [...] und Mängel, die aus dieser Quelle entspringen, kann selbst die Feile nicht wegnehmen" (Schiller 1791a/21962, Bd. 5, 972). - „Doch die Behauptung: der Mensch ist wie sein Buch - ist noch falscher, und die Erfahrung spricht täglich dagegen. Der eine dichtet die zartesten Lieder und ist der erste Grobian von Deutschland; der andere macht Lustspiele und ist ein trübsinniger Mensch; der dritte ist ein fröhlicher Knabe und schreibt Nachtgedanken" (Börne [1826] 1964, Bd. 1, 591). - „Daß einer ein Dichter ist, schließt doch nicht aus, daß er ein Schwein sein kann. Und warum sollte ein Schwein nicht auch ein Dichter sein können? [...] Ist Gegenstand der Literaturbetrachtung das dichterische Werk oder der Lebenswandel des Verfassers? Was hat dieses mit jenem zu schaffen?" (Wollenweber 1966/1967, 102). - „Eine Argumentationsfigur, mit der die Einbeziehung der Person in die Polemik grundsätzlich gerechtfertigt werden kann, ist die Behauptung der Einheit von Literatur und Leben, insofern mit ihrer Hilfe ein literarisches Werk als Ausdruck oder Spiegel, sei es des individuellen, sei es des sozialen Lebens seines Verfassers ausgewiesen werden kann" (Lamping 1990, 215). „Und weil es sich nicht um die Diskussion über das berühmte Dreiliterauto handelt, dessen Ingenieure als Person nichts zur Sache tun, sondern um ein literarisches oder wissenschaftliches Werk, das Teil der Person ist, die es schuf, muß der Streit auch die Person betreffen. Die öffentliche Person wohlgemerkt. Und war das nicht so? Hat denn jemand nach dem Liebesleben von Herrn Grass, nach der Zahlungsmoral von Frau Schimmel gefragt?" (Greiner 1994).

75 Was ist das eigentlich: die „Sache", unabhängig von der Person? Die Idee erscheint auf dieser Erde nur mit zwei Augen und zwei Ohren und einem schnelleren oder weniger schnellen Puls.

Auch die Phraseologismen, mit denen wir Verhaltensweisen oder Handlungsprodukte mit Verweis auf Merkmale des Urhebers erklären, zeugen davon, wie fest die Annahme solcher Beziehungen im alltagsweltlichen Denken verankert ist,42 so dass es Mühe macht, die negative Bewertung von Bezugnahmen auf die Person als unsachliche Akte des Persönlichwerdens aufrecht zu erhalten. Mindestens scheint eine Modifizierung notwendig, dergestalt dass nicht alle Äußerungen über die Person kritisierbar sind, sondern, wie Kienpointner (1983, 153) unter Berufung auf Perelman u.a. vorschlägt, nur die, „die allein dem Zweck der Diffamierung des Gegners dienen" - mit Betonung auf allein. Die Unterscheidung zwischen guten und schlechten personenbezogenen Äußerungen auf der Grundlage des Kriteriums ,zur Klärung der Sache beitragend/nicht beitragend' macht die Sache freilich nicht einfacher. Der Beitrag kann mehr oder weniger groß und mehr oder weniger direkt sein. Kienpointner kommt selbst zum Ergebnis, ohne Parteinahme des Analytikers sei „kaum möglich zu unterscheiden, ob eine disqualifizierende Äußerung [...],sachlich' ist bzw. zumindest einen sachlichen Kern hat oder nur eine diffamierende Strategie ist" (153). Entscheidend ist jedoch ein anderer Punkt: So einleuchtend die in Punkt 6 und 7 besprochenen Zweifel am Sinn der Unterscheidung von Person und Sache sind, wenn man polemische Auseinandersetzungen im Rahmen sprach-, argumentations- oder literaturtheoretischer Überlegungen „von außen" betrachtet, im Binnenraum der polemischen Konstellation, gebildet vom polemischen Subjekt, vom polemischen Objekt und dem Publikum als urteilender Instanz, ist die negative Bewertung des Persönlichwerdens voll wirksam. In der Analyse der polemischen Metakommunikation in Kapitel 5 wird sich zeigen, dass die hier angesprochenen Probleme den Umgang mit dem Begriff in der praktischen Kommunikation kaum tangieren. Und zwar deshalb nicht, weil die negative Bewertung, wie schon in Punkt 2 ausgeführt, doppelt begründet ist. Sie beruht zum einen im Sinne der gerade referierten Überlegungen auf funktionalen Gesichtspunkten („Leistet die 42

Den in Frage kommenden Phraseologismen sind in Klammern die Merkmale der Person beigefugt, die als Fundstätten der Beweise im Sinne der loci α persona imstande sind, die Fähigkeiten und das Verhalten eines Menschen zu erklären: „Der Apfel fallt nicht weit vom Stamm"/„Die Katze lässt das Mausen nicht"/„Wie die Mutter, so die Töchter. Alleweil ein bisschen schlechter" (Abstammung). - „Die Grazien haben nicht an seiner Wiege gesungen"/„als Kind zu heiß gebadet worden sein" (Erziehung/Ausbildung). - „Niemand kann aus seiner Haut" (Charakter/Wesensart). - „Ein X, wie er im Buche steht"/„ein wirklicher, echter, typischer X" (u.a. Nationalität). - „Alter schützt vor Torheit nicht"/ „Leichtsinn ist das Vorrecht der Jugend" (Lebensalter). - „Mens sana in corpore sano"/„Voller Bauch studiert nicht gern" (Körperbeschaffenheit). - „ein Pechvogel sein"/„ein Glückskind sein"/„ein Sonntagskind sein" (Schicksal). - „Wem Gott ein Amt gibt, gibt er auch Verstand" (Soziale Stellung). - „Saufen wie ein Bürstenbinder"/ „Pünktlich wie ein Maurer" (Beruf). - „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht" (Vorgeschichte). - „Nomen est omen" (Eigenname).

76 Äußerung einen Beitrag zur Klärung der Sache oder nicht?"), zum anderen und zusätzlich auf ethischen Prinzipien („Ist die Äußerung geeignet, die Person des Gegners in den Augen des Publikums zu diskreditieren?"). Eine Äußerung, fur die die erste Testfrage positiv ausfällt, kann also trotzdem an der Hürde der zweiten hängen bleiben und weiterhin eine negative Bewertung auf sich ziehen. Insofern ist die Behauptung von Ingrid und Günter Oesterle (1975, 171), Polemik hebe die Unterscheidung von persönlicher und sachlicher Kritik auf, nur bedingt korrekt. Zwar neigen Polemiker zu „Persönlichkeiten" im faktischen Verhalten. Umso stärker aber bestätigen sie auf der metakommunikativen Ebene die Norm, auf Akte des Persönlichwerdens zu verzichten (was eine funktionierende Unterscheidung von Sache und Person voraussetzt).

Teil II:

Streiten über das Streiten und seine normativen Grundlagen

4

Streiten über das Streiten

4.0

Einleitung

Kapitel 4 ist der ungewöhnlich intensiven metakommunikativen Komponente des polemischen Streitens gewidmet, das in den fortgeschrittenen Phasen der Auseinandersetzung leicht gänzlich zum Streit über den Streit werden kann. Dieses Phänomen wird in drei Schritten behandelt, wobei neben der sachlichen Klärung zugleich methodologische Probleme erörtert werden: In Kapitel 4.1 werden Funktion und Wirkungsweise der Metakomunikation in polemischen Texten umrissen, worin zugleich eine Erklärung für das Streiten über das Streiten liegt: Die Metakommunikation ist ein Streit über das polemische Verhalten der Streitgegner. - In Kapitel 4.2 stehen die normativen Grundlagen der Beurteilung des eigenen und des gegnerischen Verhaltens, die Existenzweise der Normen und die methodischen Möglichkeiten ihrer Untersuchung im Vordergrund des Interesses. - In Kapitel 4.3 werden die hauptsächlichen Äußerungstypen, mit denen in der Metakommunikation Bezüge auf kommunikative Normen hergestellt werden, vorgeführt und jeweils mit drei Beispielen illustriert. - In Kapitel 4.4 schließlich wird die Rolle des normbezogenen Streitens über das Streiten am Beispiel einer Polemik des Mannheimer Buchhändlers Hoff gegen den jungdeutschen Schriftsteller Gutzkow aus dem Jahr 1839 im Gesamtzusammenhang des Textes veranschaulicht.

4.1

Die Rolle der Metakommunikation in polemischen Texten

Metakommunikation als „Kommunikation über Kommunikation", als „Möglichkeit, innerhalb der Kommunikation diese selbst zu transzendieren, ist wesentliches Kennzeichen menschlicher Kommunikation" (Glück [Hg.] 1993, 386). Sie tritt in vielfältigen Erscheinungsformen und Funktionen auf, u.a. dann, wenn Kommunikationsbedingungen geklärt, Kommunikationsverpflichtungen hergestellt oder verändert oder auch einfach, wenn einzelne Teile des laufenden Diskurses erläutert, kommentiert [...], explizit modifiziert werden etc. (ebd.).

Diese vage Bestimmung des Begriffs soll vorerst genügen. Sie wird im weiteren Verlauf in einigen Punkten präzisiert. Ich verzichte aber auf eine systematische Auseinandersetzung mit der Diskussion des in der Linguistik und in den benach-

79 barten Disziplinen recht unterschiedlich gebrauchten Ausdrucks Metakommunikation. Man kann sich leicht in neueren Veröffentlichungen darüber informieren. 1 Anlässe für Metakommunikation sind typischerweise, dass die Kommunikation problematisch, krisenhaft geworden ist, dass Missverständnisse auftauchen oder antizipiert werden, Irritationen irgendwelcher Art bearbeitet werden müssen. Solche Gelegenheiten führen dann dazu, dass der Gegenstand, um dessentwillen die kommunikative Beziehung aufgenommen wurde, temporär verlassen wird, um auf der Metaebene die irritierenden Aspekte nachfragend, erläuternd oder wie auch immer beseitigen zu können. Verständnissicherung ist jedoch nicht die einzige Funktion, wie der Blick auf alltagsweltliche Streitsituationen schnell zeigen kann. Fast jeder wird schon einmal einen Ehe- oder sonstigen Beziehungsstreit erlebt haben (natürlich bei den anderen), an dessen Anfang ein strittiges Problem des Alltags stand, in dem der eine aber recht bald (sagen wir: nach zwei Minuten) Anlass zu haben glaubt, vorwurfsvoll zu bemerken: „Warum wirst du eigentlich immer gleich so unwirsch, wenn ich auf das Thema zu sprechen komme." Worauf der oder die andere - schon verärgert - entgegnet: „Wieso werde ich immer unwirsch? Du kannst es in deiner typischen Art nicht lassen, bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit zu kritisieren, was ich sage oder tue." Worauf wiederum Nummer 1 Kritik in Abrede stellt, sich nicht ohne Scheinheiligkeit darauf zurückzieht, ja nur gefragt zu haben, und sich im übrigen gegen die ihr zugeschriebene „typische Art" zu wehren beginnt. Das reicht! - für einen ausgiebigen Streit über das kommunikative Verhalten der beiden, mit Ausflügen in die allerersten Anfange der Beziehung („schon damals"), bis sie (sagen wir: nach zwei Stunden), aus purer Erschöpfung etwas friedlicher gestimmt, in ihren Sesseln zurücksinken und sich gemeinsam zu erinnern versuchen, was denn eigentlich das ursprüngliche Thema war. Der Grund für die in solchen Auseinandersetzungen häufige Verschiebung des Streits auf die metakommunikative Ebene ist, denke ich, klar. Verletzungen, die sich Gesprächspartner durch ihr kommunikatives Verhalten zufügen, gehen fast immer mehr an den Nerv und werden deshalb im Gesprächsverlauf wichtiger als die Tatsache der Uneinigkeit über das sachliche Problem, das der Ausgangspunkt war. Zwar wird uns von Psychologen und Therapeuten empfohlen, in Streitfällen auf die metakommunikative Ebene zu wechseln, den Streit selbst zu thematisieren und so, die verständnissichernde Funktion nutzend, gemeinsam aus ihm wieder herauszufinden. Das ist eine gut gemeinte, nicht unbedingt aber auch erfolgversprechende Empfehlung, wenn die Streitenden nichts Besseres zu tun haben, als den Streit auf der nächsten Ebene ungebrochen fortzusetzen. Haben die Partner eine verständigungsorientierte Einstellung, so brauchen sie nicht viel Metakommunikation, um sich zu verständigen. Bringen sie diese Einstellung aber nicht auf, dann nutzt ihnen die Metaebene auch nicht viel. Objartel (1984, 125f.) hat sogar Z.B. in der Studie von Welte und Rosemann (1990), die den theoretisch-begrifflichen Fragen mit Rückblicken auf die letzten Jahrzehnte relativ viel Raum widmen.

80 mit unterstützendem Verweis auf Schwitalla 1979 und Wiegand 1979 - die These vertreten, dass „auf die Rede des Partners bezogene Metakommunikation" nicht nur oft nichts nutze, sondern „tendenziell Aggression fördert", und regt eine systematische Analyse interaktionsreflexiver Handlungen als kommunikatives Mittel eskalierender Aggression an. Genau um solche „auf die Rede des Partners bezogene Metakommunikation" handelt es sich weithin in den polemischen Texten. Das bedeutet freilich nicht, dass in der Polemik die sonst üblichen Praktiken metakommunikativer Verständnissicherung gänzlich fehlten. Auch wenn der Polemiker keine verständigung^onentiertQ Einstellung hat und dahingestellt bleiben kann, ob es ihm um Verständnis geht, ganz zweifellos ist er wie jeder, der redet oder schreibt, daran interessiert, dass der Adressat das von ihm Gemeinte versteht. Und wenn das Verstehen sich als gefährdet erweist, setzt er das Mittel der Metakommunikation wie jeder andere ein, ohne dass seine metakommunikativen Äußerungen auf diese Funktion beschränkt sein müssten. Vergleichbares lässt sich an öffentlich-polemischen Auseinandersetzungen beobachten, wie sie uns in Publizistik, Politik, Wissenschaft oder in anderen Räumen öffentlicher Rede und Schreibe begegnen. Auch dort neigen die Streitgegner dazu, die Tätigkeit des Polemisierens selbst wiederum zum Thema zu machen, und auch dort hört der Streit damit nicht auf. Die Metakommunikation bleibt als strategisches Mittel ein Teil der Polemik. Der Sinn des Ebenenwechsels unterscheidet sich freilich deutlich von dem in der eingangs skizzierten Alltagssituation, weil als ganz entscheidender Faktor das lesende oder zuhörende Publikum als „polemische Instanz" hinzukommt. Im Lichte der Zielbestimmung polemischer Rede -sich selbst und die eigene Position in den Augen der polemischen Instanz als wertvoll, den Angegriffenen und seine Position als minderwertig erscheinen zu lassen (Stenzel 1986, 7) - lässt sich die Neigung der Streitgegner, phasenweise oder auf Dauer auf die Ebene des Redens über die Polemik zu wechseln, so deuten, dass sie glauben, dass es im Zweifelsfall erfolgversprechender sein kann, den Gegner beim Publikum wegen seines kommunikativen Verhaltens zu diskreditieren, als in der Sache Recht zu behalten. Übereinstimmend kommt Stenzel (1986, 8) zu der Feststellung, „Wechselpolemik" erzeuge sich „auf weite Strecken aus dem Streit um die Klassifikation der gegnerischen Argumente als Akzentuierung bzw. Unterstellung". Auch im Streit zwischen Lessing und Goeze wird, wie Kärn (1993, 286) urteilt, „insbesondere von Goeze das Mittel der Metakommunikation selbst als Mittel des Streits eingesetzt." 2 Der Sachverhalt ist etwas genauer schon von Specht (1986, 40) beschrieben worden:

Hinweise auf die Tendenz zur Verlagerung des Streits auf die Metaebene findet man auch sonst in der Literatur. So meint Naess (1975), „Beschuldigungen wegen Unsachlichkeit" gehörten „zu den am wenigsten geeigneten Mitteln, das Sachlichkeitsniveau einer Diskussion zu heben" (161) und hätten auch nicht diese Funktion; denn: „Unsachlichkeitsbeschuldigungen gehören zu den häufigsten Formen der Unsachlichkeit" (194). Wie Naess denkt auch Gruber (1996) in erster Linie an mündliche Gespräche, doch unterscheiden sich diese in dieser Hinsicht nicht von schriftlichen Auseinandersetzungen: „[Es] können in jedem Gespräch Konflikte auch über die Gesprächsregeln selbst, bzw.

81 [Goeze tue] nichts anderes, als die Aufmerksamkeit des Publikums von der ursprünglichen causa, dem Inhalt der Fragmente, „abzuwälzen" (transponere/translatio) auf Fragen nach Lessings Zuständigkeit (Lessing sei kein Theologe, kaum ein Christ), nach Lessings formalem Vorgehen (Theaterlogik, blendende Rhetorik, Mißachtung der akademischen Spielregeln) und nach der Zuständigkeit der Entscheidungsfaller (des durch die Publikationsart angesprochenen Laienpublikums). 3 A n g e s i c h t s der A u f g a b e , die die M e t a k o m m u n i k a t i o n in der P o l e m i k als Streit über das Streitverhalten der Kontrahenten erhält, überrascht e s nicht, dass die entsprechenden P a s s a g e n v o r w i e g e n d aus V o r w u r f s - oder V e r t e i d i g u n g s h a n d lungen bestehen (dazu Kapitel 4 . 3 ) und damit einen B e z u g a u f N o r m e n a u f w e i sen, mit denen über Korrektheit und A n g e m e s s e n h e i t d e s k o m m u n i k a t i v e n V e r haltens entschieden w e r d e n kann. D e r Polemiker unterstellt bei s e i n e m P u b l i k u m b e s t i m m t e Maßstäbe zur Beurteilung der Akzeptabilität b z w . N i c h t - A k z e p t a b i lität des k o m m u n i k a t i v e n Verhaltens und spricht d i e s e in strategischer A b s i c h t an, indem er d e m G e g n e r e t w a s vorwirft, v o n d e m er glaubt, daß e s d i e s e m in d e n A u g e n des Publikums schade, und indem er zur R e c h t f e r t i g u n g oder zur Entschuldigung des e i g e n e n Verhaltens A r g u m e n t e vorbringt, v o n d e n e n er glaubt, daß sie ihn b e i m P u b l i k u m in g u t e m Licht e r s c h e i n e n lassen. D e r p o s i t i v e Effekt, der i m Einzelfall aus mancherlei Gründen faktisch verfehlt w e r d e n kann, beruht dann darauf, daß der P o l e m i k e r als j e m a n d erscheint, der d e n g e s e l l s c h a f t lich akzeptierten N o r m e n folgt, sie zumindest m e t a k o m m u n i k a t i v bestätigt und sie g e g e n einen normverletzenden G e g n e r verteidigt. 4

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4

deren Einhaltung, auftreten (s.u.), die dann wiederum verbal ausgetragen werden" (Gruber, 55). Von Interesse auch die Beobachtung Techtmeiers (1984, 136): „Metakommunikation findet vor allem aber auch dann statt, wenn Sprecher bestimmte .Normübertretungen' beabsichtigen, da derartige Normübertretungen in der Regel nur dann eine Chance haben, akzeptiert zu werden, wenn der Rezipient davon ausgehen kann, daß nicht Unwissenheit des Sprechers die Ursache für dessen abweichendes Verhalten ist, sonden ein .schöpferisches, zieladäquates' Umgehen mit diesen Normen selbst." Siehe zu den Funktionen von Metakommunikation ferner Schwitalla 1987, Fill 1989, Nothdurft 1998, 192. Schilson (1993) gibt für die entsprechenden Reflexionen auf der Seite Lessings eine andere Erklärung. Lessing ginge es in diesem Streit vordringlich um die „Legitimität und Unverzichtbarkeit des [öffentlichen] Streits um die Wahrheit selbst" (68) und deshalb träten „die ebenfalls strittigen theologischen Sachfragen weit zurück" (69). Von hier ist es kein großer Schritt mehr zu der Überlegung, ob aus der Sicht Lessings die Notwendigkeit des öffentlichen Streits über theologische Fragen nicht das eigentliche Thema ist und so gesehen aus seiner Perspektive gar nicht von einer Verschiebung auf die Metaebene gesprochen werden kann. Die zwei Seiten der metakommunikativen Reflexion - Angriff und Verteidigung beschreibt auch Wunnicke (1991, 27): „Die Grundaussage, die dem Leser durch diese Kommentare vermittelt werden soll, ist relativ übereinstimmend zusammen zu fassen. Der Verfasser betont, daß er selbst sich bezüglich Form und Inhalt der Argumentation bestimmten Normen gemäß verhalte, daß ferner seine Beweggründe zum Schreiben moralisch hochstehend seien; der Kontrahent dagegen ignoriere diese Normen, seine Motivation sei, grob gesagt, unehrenhaft."

82 Die Chance, den Gegner durch Verweis auf sein kommunikatives Verhalten bzw. die ihm unterstellten Motivationen beim Publikum zu diskreditieren, liegt auf der Hand, weil sein Verhalten, sofern es polemisch ist, ja immer Aspekte enthält, die, um es vorsichtig auszudrücken, mit den kommunikativen Normen nur zur Not vereinbar sind. Das Gleiche gilt freilich auch fur das vorwerfende polemische Subjekt, und deshalb ist nicht unmittelbar zu erkennen, wie seine metakommunikative Stilisierung als Normbewahrer funktionieren soll, wenn er - auf der ersten Ebene des Verhaltens - selbst Mittel verwendet, deren Kritisierbarkeit er metakommunikativ fortwährend bestätigt. Die Frage gewinnt noch an Berechtigung, wenn man sieht, dass die strategische Nutzung der Metakommunikation gelegentlich sogar meta-metakommunikativ auf dritter Ebene fortgesetzt wird, wenn ein Polemiker seinem Gegner diese strategische Nutzung vorwirft und damit als Möglichkeit, aus der Schule plaudernd, auch dem Publikum bewusst macht. 5 Der mehr oder weniger deutliche Widerspruch zwischen der Ebene des polemischen Tuns und der Ebene des metakommunikativen Redens über das Tun ist für polemische Texte konstitutiv und schafft das schon in der Einleitung angesprochene Erklärungsproblem hinsichtlich der Erfolgsbedingungen der Polemik. Obwohl die Intensität der metakommunikativen Reflexion im Vergleich mit anderen Textarten insgesamt ungewöhnlich groß ist, gibt es in dieser Hinsicht innerhalb der Menge der polemischen Texte doch relative Unterschiede. Die

Solche Vorwürfe enthalten im Folgenden die Zitate von Vogt und Fischer. Heine spießt die Methode kritisch-entlarvend auf. Stapel im letzten Zitat antizipiert eine derartige polemisch gerichtete Bewertung des Streitverhaltens durch seinen Gegner: - „Sonderbar! Und immer ist es die Religion und immer die Moral und immer der Patriotismus, womit alle schlechten Subjekte ihre Angriffe beschönigen! Sie greifen uns an, nicht aus schäbigen Privatinteressen, nicht aus Schriftstellerneid, nicht aus angeborenem Knechtsinn, sondern um den lieben Gott, um die guten Sitten und das Vaterland zu retten" (Heine 1837/1964, 83). - „Jene Jämmerlinge, [...] zu denen auch Herr Wagner gehört, haben die allgemeine Eigentümlichkeit an sich, daß sie die Schimpfreden, welche sie ausstoßen, als Ausbrüche des Humors, die Plattheiten und Geschmacklosigkeiten, in welchen sie sich ergehen, als großartige Aussprüche gereifter Studien und jeden Widerspruch gegen das von ihnen Gesagte als persönlichen Angriff ausschreien, gegen den sie sich mit äußerster Erbitterung im Namen der beleidigten Wissenschaft und der in ihrer Zukunft bedrohten Menschheit wehren" (Vogt 1855/1971, 534). - „Dasselbe ungleiche Mass und die gleiche Selbsttäuschung zeigt sich auch in der Art seines polemischen Verhaltens mir gegenüber; sein Angriff trägt den Stempel der lautern , Wahrheit', meine Erwiederung den des blossen ,Hasses'; bei mir finden sich alle schlechten Geister der Polemik beisammen: ,die Wortgefechte und Wortkünste, der gereizte Ton, die wendungsreiche Dialektik der Verstimmung, die artigen Versuche der Ironie, der Übermuth der Sprache' u.s.f.; dagegen waltet in seiner Polemik der ruhige und starke Geist der Sachkenntnis, ,der milde Ausdruck der Wahrheit', der ächte Geist der ,Geschichtschreibung, die für das Urkundliche und Thatsächliche das zarteste Gewissen hat und die Verletzung desselben mit strengem Namen rügt' (S.36 und 37.)" Fischer 2 1870, 74). „Nun, wackerer Pappenheimer, schimpfen sie sich weiter aus. Nach dem bei Ihresgleichen üblichen Schema müssen Sie sich jetzt darüber empören, daß ich persönlich geworden' sei. Denn, nicht wahr, die schäbigen und plumpen Verdächtigungen, die sie gegen mich erhoben haben, waren .sachlich'?" (Stapel 1927b, 975).

83 Anzahl metakommunikativer Äußerungen korreliert zum einen mit der polemischen Dichte des Textes (vgl. Kapitel 3.1.1.5). An einem Ende der Skala steht theoretisch ein Text mit einem einzigen polemischen (Stil)Zug, am anderen Ende ein Text, der vollständig aus polemischen Äußerungen besteht. Es ist klar, dass damit auch der Raum für metakommunikative Äußerungen der besprochenen Art, die eine Teilmenge der polemischen Züge sind, unterschiedlich groß ist. Die Anzahl der metakommunikativen Äußerungen ist ferner in reaktiven Polemiken höher als in Texten, mit denen eine polemische Auseinandersetzung initiiert wird, mit der Tendenz, in jeder weiteren Runde von Rede und Gegenrede zuzunehmen. In einer initiativen Polemik fehlt dem polemischen Subjekt j a noch das gegnerische Verhalten, auf das es sich metakommunikativ beziehen könnte. Auch der rechtfertigende Bezug auf das eigene Verhalten ist in initiativen Polemiken nur insoweit möglich, als das polemische Subjekt eine Kritik des polemischen Objekts oder des Publikums antizipiert. Hinsichtlich der Positionierung in der sequentiellen Organisation des Textes ist für metakommunikative Äußerungen grundsätzlich keine Position ausgeschlossen. In fortgeschrittenen Phasen der Auseinandersetzung kann sich der Streit über das Streiten durch den ganzen Text ziehen und diesen so gut wie vollständig bestimmen. 6 In Texten mit geringer polemischer Dichte sind Textanfang und Textende bevorzugte Orte metakommunikativer Äußerungen. Im Fall selbständiger Buchveröffentlichungen sind das die Vorwörter und die Nachwörter,7 in denen die Autoren, bevor sie zur eigentlichen Sache kommen oder auch rückblickend über ihre Motivationen und Ziele zu sprechen pflegen. In zweiter Linie bieten in wissenschaftlichen Veröffentlichungen auch die Anmerkungen Gelegenheit, sich metakommunikativ auf das Streitverhalten zu beziehen und diese Kommentare ähnlich wie bei den Vorwörtern vom Rest des Textes zu separieren. 8

Beispiele findet man in den späteren Phasen des Streites zwischen Lessing und Goeze sowie zwischen Menzel und den Jungdeutschen, insbesondere im Streit mit Gutzkow. Manchmal ist die Polemik sogar auf diese Textteile beschränkt, die in ihrer Funktion als Rahmen freilich auch den Binnentext beeinflussen. Anders zu beurteilen sind die Fälle, in denen der ganze polemische Text als eine Serie von Anmerkungen zum eventuell sogar mitabgedruckten Text des Gegners konzipiert ist (z.B. in Hoff 1839; vgl. dazu Kapitel 4.4).

84 4.2

Die normativen Grundlagen des Streitens und ihre Untersuchung

4.2.1

Charakter und Existenzweise der Normen

Wer die Normen oder Regeln, die in der polemischen Metakommunikation zur Beurteilung des Verhaltens herangezogen werden, genauer untersuchen will, setzt voraus, dass es solche Normen auch fur polemische Texte gibt. Dies anzunehmen ist nicht ganz selbstverständlich. Stenzel (1986, 5) meint, die Polemik sei „wesentlich [...] eine spontane Redeform, für die es keine spezielle Regelkompetenz gibt", ohne freilich genauer auszuführen, was er mit dieser Äußerung meint. Vielleicht gibt es wirklich für die Polemik keine „speziellen" Regeln. Regellos und spontan verlaufen Produktion und Rezeption polemischer Texte, wie sich zeigen wird, aber dennoch nicht. Auch die gelegentlich geäußerte Ansicht, dass die üblichen Maßstäbe zur Beurteilung kommunikativen Verhaltens, insbesondere die für argumentative Texte, in der Rezeption polemischer Texte außer Kraft gesetzt wären, erscheint mir nicht einmal als Hypothese sinnvoll. Es ist freilich angesichts der Vieldeutigkeit des Ausdrucks Norm auch in der wissenschaftlichen Sprache ratsam, sorgsam zu bestimmen, in welchem Sinne in diesem Zusammenhang von Normen die Rede sein soll. Man könnte sogar die Meinung vertreten, dass man auf dieses Wort wegen seiner Vieldeutigkeit von vornherein verzichten sollte. Man kommt bei den nahe liegenden Alternativen - Regel, Maxime, Postulat etc. - aber vom Regen in die Traufe. Entweder sind sie ähnlich vieldeutig oder sie evozieren irreführend bestimmte Theoriekontexte. Für die gegenwärtigen Zwecke werden mit dem Ausdruck Norm Erwartungen bezeichnet, aufgrund derer die Mitglieder einer Kommunikationsgemeinschaft kommunikatives Verhalten relativ übereinstimmend und mit Aussicht auf Konsens als richtig/angemessen bzw. fehlerhaft/unangemessen beurteilen. Dass diese Erwartungen, z.B. in einem Vorwurf, artikuliert werden können, zeigt, dass sie bewusst oder bewusstseinsnah sind. Sie unterscheiden sich in dieser Hinsicht vom nicht reflektierten (grammatischen und pragmatischen) Sprachwissen (tacit knowledge), wie dieser Begriff z.B. von Grewendorf u.a. ( 4 1990) verwendet wird. Anders als dieses sind sie auch nicht direkt handlungsleitend. Die fraglichen normativen Erwartungen steuern die Bewertung und nicht unbedingt das kommunikative Verhalten selbst. Einige von ihnen sind rechtlich kodifiziert, ein größerer Teil stimmt inhaltlich mehr oder weniger mit den Anweisungen und Ratschlägen überein, die in der vielfaltigen normativen Literatur zum kommunikativen Verhalten tradiert sind. Wesentlich sind diese Erwartungen aber etwas, was die Mitglieder einer Kommunikationsgemeinschaft in der Sozialisation erwerben, über das sie als Teil des Alltagswissens verfügen und was zu den der polemischen Kommunikation selbst inhärenten normativen Grundlagen gehört. Obwohl sie sich genetisch gegenseitig beeinflussen können, haben die in der metakommunikativen Reflexion zu Tage tretenden alltagsweltlichen Normen also

85 eine andere Existenzweise als die Normen, die von Philosophen oder Wissenschaftlern aus normativ fundierten Sprach-, Kommunikations- oder Argumentationstheorien abgeleitet werden und zum Ausgangspunkt einer Kommunikationskritik gemacht werden können. Die Normen, die in einer Analyse metakommunikativer Äußerungen in polemischen Texten aufgedeckt werden können, sind zunächst einmal Normen, die der Polemiker, der sie einem Publikum gegenüber strategisch anspricht, bei diesem Publikum unterstellt. Was rechtfertigt die Annahme, daß die vom Polemiker unterstellten inhaltlich mit denen übereinstimmen, die in der jeweiligen Kommunikationsgemeinschaft tatsächlich die Beurteilung des kommunikativen Verhaltens bestimmen? Dazu ist zu sagen, dass individuelle Polemiker sich in der Tat täuschen können. Es spricht aber wenig dafür, dass alle Polemiker, die ja selbst kompetente Mitglieder der Kommunikationsgemeinschaft sind, sich gemeinsam täuschen. Wenn also eine Untersuchung hinsichtlich der in der polemischen Metakommunikation thematisierten Maßstäbe der Bewertung überhaupt verallgemeinerbare Ergebnisse erbringt, so ist mit relativ großer Sicherheit anzunehmen, dass die Untersuchung nicht nur Normen erfasst hat, von denen Polemiker meinen, dass sie beim Publikum existieren, sondern solche, die dort wirklich existieren. (Die genauere Untersuchung der metakommunikativ thematisierten Normen in Kapitel 5 wird aber auch einige fragliche Kandidaten zu Tage fördern.) Auch wenn man annimmt, dass die vom Polemiker unterstellten Normen die bei seinem Publikum existierenden sind, so bedeutet das nicht, dass er das Ziel, durch seine normbezogene Metakommunikation beim Publikum als vir bonus im Streit mit dem Gegner die Oberhand zu erlangen, auch erreicht. Es ist zwar eine plausible Annahme, daß normgerechtes und normabweichendes Verhalten bei der Beurteilung der Streitenden durch die Rezipienten eine Rolle spielt. Doch ist eher unwahrscheinlich, dass dieser Aspekt beim Publikum der einzige Faktor bei der Verteilung seiner Zustimmung ist. Die metakommunikative Thematisierung der Normen gehört auf eine noch genauer zu bestimmende Weise zu den Erfolgsbedingungen der Polemik, ist aber nur ein Faktor neben anderen (vgl. dazu besonders Kapitel 7). Dass es Diskrepanzen zwischen den thematisierten Normen und dem eigenen Verhalten des Polemikers geben kann, wurde schon gesagt. Dieser Sachverhalt ist in dem Polemikbegriff, der der Textauswahl zugrundeliegt, quasi impliziert. Es sind ja die Normverletzungen des Polemikers, die die intensive Metakommunikation von Vorwürfen und Rechtfertigungen überhaupt erst in Gang setzen. Die Normen, die das polemische Subjekt beim Publikum unterstellt, müssen auch nicht notwendig mit denen übereinstimmen, die der Autor in der Realsituation für sinnvoll hält. Es kann sein, dass ein Autor die Normen, die er metakommunikativ für sich in Anspruch nimmt bzw. deren Verletzung er beim egner ins Blickfeld rückt, selbst gar nicht für gerechtfertigt hält. Diese Frage ist allerdings durch eine Analyse der textinternen metakommunikativen Äußerungen allein genau so wenig beantwortbar wie die Frage, ob die Vorwürfe, die der Polemiker dem

86 Gegner bezüglich seines kommunikativen Verhaltens bzw. seiner Motivationen macht, bzw. die ehrenwerten Motive und die normentsprechenden Verhaltensweisen, die er sich selbst zuschreibt, begründet sind oder nicht.

4.2.2

Methodische Zugriffe

4.2.2.1

Die Rekonstruktion kommunikativer Normen in der wissenschaftlichen Literatur

Der prototypische Weg in der Linguistik, die Regeln, die das Sprachwissen ausmachen, ausgehend von der These, dass Sprechen und Schreiben ein regelgeleitetes Verhalten sei, aus dem Verhalten zu rekonstruieren, entfallt, weil die gesuchten Normen nicht Bestandteil des unreflektierten, handlungsleitenden Sprachwissens sind. Die negative Bewertung des polemischen Verhaltens beruht darauf, dass es als mehr oder weniger normabweichend empfunden wird. Aus dem polemischen Verhalten kann man also nicht die Normen rekonstruieren, von denen es abweicht. Die Analyse ist vielmehr auf die Einschätzung des Verhaltens im metakommunikativen Reden über das Verhalten angewiesen. Sieht man sich in der Literatur nach Veröffentlichungen zu den der Kommunikation zugrunde liegenden Normen in der Polemik und in benachbarten Textarten um, begegnet man freilich unterschiedlichen methodischen Zugriffen. 9 Ziel der einschlägigen Untersuchungen Kleins (1989) ist wie in einem ähnlich konzipierten Projekt ein Jahr zuvor (Klein 1988) „die Gewinnung, Systematisierung und kommunikationstheoretische Deutung von Gesprächs-Regeln fur politische Diskussionssendungen im Fernsehen" (64). Von Einfluss auf die Anlage der Untersuchung und die Wahl der Methode sind u.a. zwei Voraussetzungen, die Klein in Hinblick auf die triadische Struktur der Kommunikationssituation macht. (1) Das Fernsehpublikum habe „eine Anzahl normativer Ansprüche und Erwartungen an Inhalt, Form und Ablauf solcher Gespräche und an den Umgang der Gesprächspartner miteinander" (66), und (2) orientierten sich die Politiker an diesen Erwartungen, da das Fernsehpublikum mit den Wählern weitgehend identisch sei. Auf diese Weise werden dann „die normativen Erwartungen und Ansprüche der Fernsehzuschauer zu Regeln für das öffentliche Gesprächsverhalten von Politikern" (67). Die beiden Thesen ließen sich modifiziert auf das lesende Publikum polemischer Texte übertragen. Nur wäre es nach dem in Kapitel 4.1 Ausgeführten unangebracht zu sagen, Polemiker orientierten sich in ihrem kommunikativen Verhalten an den Erwartungen des Publikums. Solche Erwartungen

Ich beziehe mich im Folgenden auf einige linguistische, literaturwissenschaftliche und psychologische Untersuchungen, die die in einer Kommunikationsgemeinschaft geltenden kommunikativen Normen explizieren wollen, auch wenn sich nicht alle mit dem Problem des Polemischen befassen.

87 bestimmen in der Polemik widersprüchlich weniger das Tun als das Reden über das Tun in den metakommunikativen Äußerungen. Zur Ermittlung der normativen Erwartungen, der „Regeln", stehen nach Klein im Prinzip zwei Möglichkeiten zur Verfügung: eine Befragung der Politiker, von denen ja angenommen wird, dass sie sich an den Erwartungen des Publikums orientieren und diese also kennen; oder eine Befragung der Zuschauer, von denen ja angenommen wird, dass sie das Verhalten der Politiker an solchen Erwartungen messen und also darüber Auskunft geben können. Klein entscheidet sich mit einleuchtenden Begründungen für die zweite Möglichkeit als die verlässlichere und entwirft ein Experiment, in dem 21 Probanden auf das kommunikative Verhalten zweier Politiker in einem auf Videoband aufgenommenen viertelstündigen Streitgespräch reagieren. Die Probandenäußerungen, positive und negative Bewertungen des Politikerverhaltens sowie Begründungen und Erläuterungen zu den Bewertungen enthaltend, wurden ihrerseits auf Tonband aufgezeichnet und gaben die Basis für die Rekonstruktion der gesuchten Regeln und die resultierenden Regelformulierungen ab. Auch im Projekt von Groeben u.a. (1990-1992) 10 geht es um die Aufdeckung normativer Grundlagen des Kommunizierens, und zwar am Beispiel mündlichdialogischer Kommunikation mit ausgeprägt argumentativer Komponente. Die Grundannahme der Autoren ist, dass Gesprächsteilnehmer/innen, die sich (implizit) darauf geeinigt haben, eine strittige Frage argumentativ (d.h. durch das rationale und kooperative Anfuhren und Abwägen von Gründen) statt durch Abstimmung oder durch Würfeln zu klären, die reziproke Erwartung [haben], daß sie sich auch alle gemäß dieser Vereinbarung verhalten und nicht die „Spielregeln" von Argumentationen verletzen (Groeben u.a. 1990-1992, Heft V, 1).

und dass die Teilnehmer Abweichungen von den Spielregeln als uninteger oder unredlich bewerten. Vor der empirischen Analyse haben sie aus der reichen normativen Literatur in Rhetorik und Argumentationstheorie eine Vielzahl von Auffassungen über akzeptable bzw. inakzeptable Verhaltensweisen beim Argumentieren gesammelt und in einem Konzept der Argumentationsintegrität zusammengefasst, bevor sie sich daran machen, die psychische Realität dieses Konstrukts in der Empirie zu überprüfen. Methodisch wählen die Bearbeiter, um die Maßstäbe für die Bewertungen herauszufinden, ebenfalls die Rezipientenanalyse, indem sie Versuchspersonen auf argumentative Dialoge reagieren lassen und in Interviews bewertende Stellungnahmen hervorlocken. Das Projekt von Groeben u.a. (1990-1992) sowie Klein (1989) kommen zu ihren Ergebnissen also auf der Grundlage metakommunikativer Äußerungen von

10

Es handelt sich um das Projekt Argumentationsintegrität in Alltagskommunikation, das Norbert Groeben u.a. im Rahmen des Sonderforschungsbereiches 245: Sprechen und Sprachverstehen im sozialen Kontext (Heidelberg/Mannheim) in der ersten Hälfte der 90er Jahre durchgeführt und über das sie in Etappen an verschiedenen Stellen berichtet haben. Eine straffe Einführung in Anlage, Verlauf und Ergebnisse des Projekts findet man in einem Aufsatz von Groeben, Schreier und Christmann (1993).

88 Rezipienten, die die Forscher zum Zwecke der wissenschaftlichen Untersuchung unter experimentellen Bedingungen eigens evoziert haben. Die Methode ist nicht immer durchfuhrbar, z.B. nicht bei historischen Texten, wenn das damalige und nicht das heutige Normbewusstsein eruiert werden soll. Eine methodische Alternative sind die unterschiedlichen Arten „natürlich" vorkommender metakommunikativer Äußerungen, seien sie auch so unnatürlich wie die Briefe und Beschwerden in Klein (1996), die bei einer Wahlkampfschiedsstelle in Aachen anfielen. Auch in dieser Untersuchung, als Vorstudie zu einer „Typologie strategischer Bezugnahmen auf eigene oder fremde Sprachverwendung (= strategische Sprachthematisierung)" (77) deklariert, soll, vergleichbar den Gesprächsregeln in Klein (1989), implizites kommunikationsethisches Wissen rekonstruiert werden, das sich in „kommunikationsethischen Maximen" ausdifferenziert. Allerdings ist der Horizont mit dem Interesse an der „Fairness" im wesentlichen auf eine der Obermaximen aus Klein (1989), nämlich „Beschädige nicht das Image deines Gesprächspartners", eingeschränkt. Das Datenmaterial in Form von Beschwerden, Vorwürfen und Verteidigungen der Streitgegner, das der Analyse unterworfen wird, ergab sich sekundär bei der Arbeit einer Wahlkampfschiedskommission während des Kommunalwahlkampfes in Aachen 1989. Die Kommission hatte die Aufgabe zu bestimmen, was im Wahlkampf als fair bzw. unfair anzusehen war. Von Interesse sind ferner einige literaturwissenschaftliche Arbeiten, darunter zwei Aufsätze von Lamping, die der Analyse in Kapitel 5 sachlich und methodisch nahe stehen. Der erste Aufsatz (Lamping 1986) ist einem bestimmten Texttyp, nämlich dem Verriss gewidmet, der den Kritiker als die „streitbarste Form der Literaturkritik" mit seiner „bis zur Vernichtung gehenden Aggressivität" unter besonderen Rechtfertigungsdruck setzt. Der Kritiker müsse, um bei seinen Lesern nicht in Misskredit zu geraten, nicht nur einsichtig machen, „warum er ein Buch für fehlerhaft und daher tadelnswert hält, sondern auch, warum er meint, es verreißen zu dürfen - oder sogar zu müssen" (34). Lamping weist darauf hin, dass es „außerhalb des Verrisses" Versuche gegeben hat, Verrisse prinzipiell zu rechtfertigen, dass die Rechtfertigungsarbeit jedoch in jedem Verriß, der vom Leser akzeptiert werden will [...], aufs neue geleistet werden [muß]; denn als ein einzelnes Urteil muß sich der Verriß auch in jedem einzelnen Fall legitimieren. Gleichwohl sind die Rechtfertigungsgründe, die dann angeführt werden, nicht immer nur auf den besonderen Fall zu beziehen (34).

Die „Rhetorik der Selbstrechtfertigung" beschreibt Lamping anhand ausgewählter Beispiele von Schiller bis Reich-Ranicki „als ein Bündel von Strategien des verreißenden Kritikers". Dabei verfährt er ansatzweise rekonstruktiv, indem er aus der Innenperspektive der polemischen Konstellation die in den Texten selbst vorfindlichen Rechtfertigungsstrategien aufdeckt, mit denen der Kritiker sich mit seinem Publikum zu verständigen versucht. Die so angelegte Untersuchung scheint fur Lamping jedoch nur Vorstufe für ein weiter gehendes Ziel zu sein, nämlich die Ausformulierung von Maßstäben für die literaturwissenschaftliche Bewertung von Verrissen. Spätestens in den Abschnitten 3 und 4 seines Aufsat-

89 zes, in denen die gefundenen Strategien problematisiert und die Funktionen von Verrissen näher beschrieben werden, beruft sich Lamping nicht mehr auf metakommunikative Äußerungen der Kritiker in den Verrisstexten selbst, sondern auf Ansichten über Verrisse, Kritik oder Polemik, die er in der Vergangenheit oder in der gegenwärtigen Literaturwissenschaft vorfindet. Aus diesem Diskussionszusammenhang von „außerhalb des Verrisses" (s.o.) gewinnt er m.E. das Teilergebnis, als Literaturwissenschaftler einen Verriss dann positiv bewerten zu können, wenn das Werk „lächerlich gemacht werden kann" (38) bzw. gekonnt lächerlich gemacht worden ist und wenn der Verriss auf diese Weise das Publikum zu betören imstande ist. Auch im zweiten Aufsatz unter dem Titel Das ,sogenannt Persönliche' und die ,geistigen Erscheinungen'. Zur Problematik der literarischen Kontroverse um Personen am Beispiel des Streits zwischen Heine und Börne (Lamping 1990) ist die rekonstruktive Analyse aus der Innensicht der Kommunizierenden verbunden mit der Betrachtung der Streitfalle von außen mit dem Ziel, zu einer angemessenen literaturwissenschaftlichen Einschätzung solcher problematischer Kontroversen zu gelangen. Lamping verbindet, eingeschränkt auf das Problem der Bewertung, eine Analyse der Realsituation mit einer Analyse der polemischen Konstellation, mit der Gefahr, dass nicht immer klar ist, wer in der Auffassung Lampings Träger der von ihm aufgefundenen Normen ist und auf ihrer Basis ein konkretes Verhalten beurteilt. Zum Teil beruft er sich auf metakommunikative Äußerungen in den Streittexten selbst bzw. auf zeitgenössische Reaktionen auf diese Texte, die für die Aufdeckung der damaligen impliziten oder expliziten Normen relevant sein könnten. Die auf diese Weise ermittelten Normen müssten aber nicht notwendigerweise auch Beurteilungsgrundlage der Streittexte durch den Literaturwissenschaftler um 1990 sein. Andererseits beruhen die Aussagen Lampings über die Normen zum Teil auf „theoretischen" Äußerungen über die Polemik aus früheren (Pascal) oder späteren (Karl Kraus) Zeiten oder aus neueren literaturwissenschaftlichen Veröffentlichungen. Diese Zeugnisse mögen nun umgekehrt fur eine literaturtheoretisch fundierte Bewertung literarischer Kontroversen durch den heutigen Literaturwissenschaftler von Interesse sein, besagen aber zunächst nichts Sicheres über die Normen, die dem Streit zwischen Heine und Börne und seiner zeitgenössischen Rezeption zugrunde lagen. Auch die Anwendung der genannten Normen auf den konkreten Fall mit dem Ergebnis, dass Heines Vorwürfe gegen den Privatmann Börne (1) „nicht nur objektiv haltlos, sondern auch subjektiv standpunktlos waren" (208) und dass (2) „Heines Entlarvung angeblicher ,Mißstände' in Börnes Haushalt" nichts erklärt (209), d.h. keine thematische Funktion hat, ist ein Urteil des heutigen Literaturwissenschaftlers, das hinsichtlich der Aussage „subjektiv standpunktlos" ein inzwischen angesammeltes literarhistorisches Wissen voraussetzt, das dem zeitgenössischen Publikum nur z.T. zugänglich war. Auch in diesem Aufsatz scheinen mir daher zwei sinnvolle Ziele nicht klar genug getrennt. Das eine Ziel wäre die Rekonstruktion der in der damaligen literarischen Öffentlichkeit herrschenden Normen, mit denen man z.B. die zeit-

90 genössischen Reaktionen auf den Streit zwischen Heine und Börne erklären könnte. Die Ergebnisformulierung Lampings bezüglich der normativen Erwartung von Wahrheit und Wahrhaftigkeit könnte in diesem Fall lauten: Das Publikum hielt eine (persönliche) Polemik (von der Erfüllung anderer Normen abgesehen) dann für gerechtfertigt, wenn ihm vom Polemiker glaubhaft gemacht werden konnte, dass er wahrhaftig gesprochen hat. Geht es aber darum, Kriterien für die kritische Beurteilung solcher Auseinandersetzungen in der heutigen Literaturwissenschaft zu entwickeln, bekäme die Ergebnisformulierung eine „objektivistische" Lesart: In der Literaturwissenschaft kann eine (persönliche) Polemik dann als gerechtfertigt gelten, wenn der Polemiker aufrichtig gesprochen hat. Je nach Zielsetzung der Analyse verändert sich die Beweiskraft der unterschiedlichen Arten metakommunikativer Daten. Insbesondere ist von großer Bedeutung, ob die Bewertungen, aus denen der Analytiker seine Schlüsse zieht, innerhalb oder außerhalb einer polemischen Situation geäußert wurden. Auf dieses methodische Erfordernis hat Specht (1968) in seiner Auseinandersetzung mit der Literatur zu den Streitschriften Lessings mit Nachdruck hingewiesen. Kernpunkt ist, daß sogenannte Selbstzeugnisse [in den Streitschriften] nicht als zweckfreie Tatsachenfeststellungen, sondern ebenfalls als Wirkmittel zu betrachten sind, da sie wie alle andern Äußerungen der jeweiligen parteiendialektischen Intention zu dienen haben. „Selbstzeugnisse" atmen daher zu einem gewissen Grade stets den Geist der Ironie (in der Polemik), da sie immer „dogmatikos" geäußert scheinen, aber selten mehr als „gymnastikos" geäußert sind (162).11 Dieser Hinweis ist nicht nur in der Lessingforschung gelegentlich missachtet worden. So nimmt z.B. Holub (1981) m.E. die Bemerkung Heines in seiner PlatenPolemik, er erwähne das Materielle (sprich: Sexuelle) nur, soweit es für das Geistige (die Lyrik Platens) von Interesse ist, zu unkritisch als Tatsache. Auch ist es recht mutig, sich wie Krolop (1987) in der Beurteilung der Krausschen Polemik gegen Harden oder Kerr ganz auf die Kraussche Perspektive zu verlassen und sich dessen Selbstportrait als polemisches Subjekt in der polemischen Konstellation zu eigen zu machen. 1 2 Ginge der Harden- oder der Kerr-Forscher mit gleicher Metho11

12

Im letzten Teilsatz zitiert Specht Lessing (Bd. 18, [1907], 266), der mit der Unterscheidung zwischen dem „dogmatikos" und dem „gymnastikos" Geäußerten (im Original in griechischer Schrift) in einer brieflichen Leseanweisung vom 16. März 1778 an seinen Bruder Karl auf die rhetorische Zweckgebundenheit mancher Äußerungen in seinen Schriften gegen Goeze hinweist („wenn Du bedenkst, daß ich meine Waffen nach meinem Gegner richten muß, und daß ich nicht alles, was ich ,gymnastikos' schreibe, auch ,dogmatikos' schreiben würde") und ihn so davor warnt, das im polemischen Streit Gesagte allzu wörtlich zu nehmen - wenn man wissen möchte, was der Autor selbst denn wirklich denkt. „Karl Kraus dagegen hatte sich von Anfang an vorgesetzt, einen dritten Weg einzuschlagen: über öffentliche Sünden öffentlich zu schreiben und die - etwa von Harden oder Kerr praktizierte - Taktlosigkeit und Indiskretion, über geheime Sünden anderer öffentlich zu schreiben, als eine der schlimmsten dieser öffentlichen Sünden zu bekämpfen" (61).

91 de vor, so würden die literaturwissenschaftlichen Veröffentlichungen nur die polemischen Selbst- und Fremdbeschreibungen derer reproduzieren, die sie sich jeweils zum Gegenstand wählen. Ganz frei von der Vermischung sind auch die in anderen Zusammenhängen schon herangezogenen Analysen von Ingrid und Günter Oesterle (1975) nicht, wenn sie einerseits eine Äußerung Menzels aus einer Schrift gegen Gutzkow zitieren und in ihr die „demagogische Wendung Menzels ans Publikum" (176) erkennen, auf der anderen Seite aber Gutzkows Versicherungen in der Gegenschrift, sich nur noch auf Tatsachen stützen zu wollen und auf Polemik als „einer beim großen Haufen immer siegreichen Waffe" verzichten zu wollen etc., mehr oder weniger zum Nennwert akzeptieren. In manchen literaturwissenschaftlichen Veröffentlichungen besteht eine gewisse Tendenz, sich zur Ehre des jeweils gewählten Autors in dessen Charakterisierung an das - nach Lage der Dinge - positive Bild anzulehnen, das der Polemiker im polemischen Text von sich selbst zeichnet, während der Gegner den negativen Part spielen muss, ohne dass der inszenatorische Charakter dieser Darstellungen genügend beachtet würde. Natürlich ist nichts dagegen einzuwenden, wenn jemand versucht nachzuweisen, dass Lessing, Heine, Börne oder Kraus, dem oberflächlichen Anschein zuwider, sich streng an die Sache gehalten haben und die Person des Gegners unbeschädigt gelassen haben, sich gewissenhaft der Wahrheitssuche gewidmet haben und was der positiven Intentionen und Verhaltensweisen mehr sind. Es ist nur problematisch, sich zum Beleg solcher Thesen auf die metakommunikativen Äußerungen des Schreibers innerhalb polemischer Auseinandersetzungen zu stützen, weil es nachgerade typisch für die polemische Schreibart ist, dass der Schreiber als Textfigur von sich selbst behauptet, nicht polemisch zu sein, sich streng an die Sache zu halten etc. Stattdessen müsste man sich Äußerungen verfugbar machen, die nicht im Verdacht stehen, apologetische Funktion zu haben. Nur so kann man dem gerecht werden, was Lessing seinem Bruder (s.o.) als Interpretationshilfe gibt: dass mancherlei, was in einer Auseinandersetzung gesagt wird, „gymnastikos" und nicht „dogmatikos" geschrieben ist.

4.2.2.2

Die Unterscheidung metakommunikativer und extrakommunikativer Äußerungen

Um die angesprochenen Probleme zu vermeiden, ziehe ich eine in der Linguistik schon länger existierende Unterscheidung heran und spreche auf der einen Seite von metakommunikativer Thematisierung kommunikativen Verhaltens, verkürzt von metakommunikativen Äußerungen, wenn der Sprecher oder Schreiber, der das kommunikative Verhalten thematisiert, sich selbst in einer polemischen Auseinandersetzung befindet und die Thematisierung sich auf bestimmte Aspekte des eigenen oder des gegnerischen Verhaltens in dieser Auseinandersetzung bezieht. Thematisierungen des polemischen Verhaltens, die außerhalb polemischer Auseinandersetzungen geschehen, gelten dagegen als extrakommunikativ geäußert. Unter diesen Sammelbegriff fallen recht unterschiedliche Quellen: zum

92 einen das wissenschaftliche Reden über die Polemik in Philosophie, Literaturwissenschaft, Sprachwissenschaft usw., dazu alles, was in Form von Büchern oder Essays in eine Geschichte der Theorie der Polemik gehört (Klopstock, Kant, Friedrich Schlegel, Schleiermacher, Jaspers etc.), auch Rezensionen polemischer Texte in der Publizistik (insoweit sie nicht Teil einer polemischen Auseinandersetzung sind), und schließlich Äußerungen von Polemikern, wenn diese - außerhalb einer polemischen Auseinandersetzung - aus Briefen oder anderen autobiographischen Schriften stammen. Diese Zeugnisse haben unter sich nicht viel gemein, ergeben also ein sehr heterogenes Gemisch; fur die gegenwärtigen Zwecke ist das einzig Entscheidende, dass ihr Inhalt nicht wie bei den metakommunikativen in den Sog der polemischen Zielsetzung gerät. 13 Die beiden Ausprägungen des Sprechens über die Polemik sind deshalb strikt zu trennen, weil sie intentional unterschiedlich gerichtet sind und deshalb auch ihr Handlungscharakter differiert. Bei extrakommunikativen Äußerungen kann man im allgemeinen annehmen, dass der Sprecher oder Schreiber intendiert auszudrücken, was er über die Polemik im allgemeinen oder über einen bestimmten polemischen Text denkt, was er fur wahr hält. Eine Analyse, die sich zum Ziel setzt zu klären, was Lessing, die Schriftsteller der Aufklärung, die Jungdeutschen, Karl Kraus oder Tucholsky über die oder über eine Polemik gedacht haben, wird sich zweckmäßigerweise auf solche extrakommunikativ geäußerte Daten, im weitesten Sinne auf autobiographische Dokumente dieser Autoren stützen, weil man sie zwar nicht unbesehen, aber in der Regel doch mit Grund als eine Menge von Informationshandlungen über das, was der Schreiber subjektiv denkt, auffassen kann. Eine Analyse mit dieser Zielsetzung sollte sich tunlichst fernhalten von metakommunikativen Äußerungen, die Sprecher oder Schreiber in Bezug auf ihr eigenes Verhalten oder das des Gegners in einer polemischen Auseinandersetzung machen, weil diese als Vorwurfs- oder Rechtfertigungshandlungen auf die Realisierung der polemischen Intention beim Publikum hin funktionalisiert sind. Der Nachteil, dass man aus den metakommunikativen Äußerungen nicht unbedingt erfahrt, was der Autor wirklich denkt, verkehrt sich umgekehrt zu einem Vorzug für das Ziel, die vom Polemiker beim Publikum unterstellten Beurteilungsmaßstäbe für kommunikatives Verhalten herauszufinden, weil das metakommunikativ Gesagte strategisch primär an den vermuteten Maßstäben des Publikums orientiert ist.

13

Die ursprünglich wohl von Ungeheuer (1970) stammende Unterscheidung wurde von Wunderlich (1970, 1974) aufgenommen und taucht bis heute in unterschiedlichen Untersuchungszusammenhängen auf. Vgl. neuerdings z.B. Welte/Rosemann 1990, Kap. 8.1. Auch die Definition von Techtmeier (1984, 133) setzt eine solche Unterscheidung voraus, auch wenn die Autorin andere Funktionen der Metakommunikation im Sinne hat: Metakommunikation sind „Gesprächsakte, mit denen Sprecher Gegebenheiten des jeweiligen Kommunikationsereignisses, in das sie integriert sind, thematisieren [...]." Verwandt ist die Unterscheidung von Paul (1999, 1) zwischen „praktischer Sprachreflexion", die „in ein laufendes Kommunikationsereignis eingebunden" ist, und „handlungsentlasteter" Sprachreflexion.

93 Das was ein Schreiber, der sich an einer Stelle metakommunikativ, an anderer Stelle extrakommunikativ äußert, inhaltlich sagt, kann mehr oder weniger übereinstimmen. Man darf die Übereinstimmung nur nicht ungeprüft voraussetzen, weil die beiden Äußerungsarten selten von den unterschiedlichen Funktionszusammenhängen gänzlich unbeeinflusst bleiben. So enthält z.B. die wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche extrakommunikative Reflexion verbreitet die sozialpsychologisch plausible These, Polemik mache dem Publikum Vergnügen, weil es Bedürfnisse wie Schadenfreude und Freude am Skandal befriedige oder Aggressionsgelüste entlaste. Solche Argumente tauchen in metakommunikativen Äußerungen zur eigenen Rechtfertigung nie und sogar in an den Gegner gerichteten Vorwürfen selten auf, weil es der polemischen Zielrealisation abträglich wäre, dem Publikum oder gar den eigenen Lesern solche Dispositionen zuzuschreiben. In vergleichbarer Weise können die expliziten oder impliziten Aussagen über den psychischen Zustand des polemischen Subjekts differieren (vgl. Kapitel 3.1.2.3). Auch wenn in der extrakommunikativen Thematisierung, z.B. in einem Brief an einen Freund, deutlich wird, dass der Polemiker emotional nicht so erregt war, wie es der Text suggeriert, nimmt er psychische Erregung in der polemischen Auseinandersetzung doch gern in Anspruch, weil er beim Publikum die Neigung unterstellt, Erregtheit wenn nicht als Rechtfertigungs-, so doch als Entschuldigungsgrund für polemische Ausfälle gelten zu lassen. Im Allgemeinen lässt sich ohne große Mühe entscheiden, ob ein kommunikatives Verhalten meta- oder extrakommunikativ reflektiert wird, weil sich zweifelsfrei sagen lässt, ob die Thematisierung Teil einer polemischen Auseinandersetzung ist (und deshalb unter die polemische Zielrealisation fallt) oder ob das nicht der Fall ist (und die Thematisierung als Ausdruck ernsthaften Interesses an der Klärung bestimmter Aspekte kommunikativen Verhaltens angesehen werden kann). Manchmal macht die Unterscheidung jedoch Schwierigkeiten. 14 (1) Gelegentlich kommt es vor, dass die Thematisierung polemischen Verhaltens zweifellos innerhalb einer polemischen Auseinandersetzung beginnt und in ihrem Anlass vorwerfende bzw. verteidigende Funktion hat, jedoch in der Ausführung eine Grundsätzlichkeit bekommt, die sich mit der polemischen Funktion, bezogen auf den Einzelfall, nicht voll erklären lässt. Ein Beispiel dafür ist das Kapitel über Zitierregeln („Der richtige und der falsche Gebrauch der Citate") in der Abhandlung Anti-Trendelenburg. Eine Gegenschrift von Kuno Fischer ( 2 1870). Diese Abhandlung ist, man sieht es schon am Titel, Teil einer polemischen Auseinan14

Die Möglichkeit von Übergängen hat auch Paul (1999) zwischen der „praktischen" und der „handlungsentlasteten" Sprachreflexion beobachtet: „Das praktische Reflexionspotential ist aber nicht mechanisch beschränkt, sondern die Gesprächsteilnehmer können sich der handlungsentlasteten Reflexionsmodalität annähern; allerdings nur in dem Maße, in dem es ihnen gelingt, 1. die zeitliche Dimension eines Auslösers zu kontrollieren, 2. ihre Sicht auf das laufende Kommunikationsereignis vorübergehend .einzuklammern' und 3. das gemeinsam identifizierte Problem ,kontextfrei' zu bearbeiten" (244). Die von Paul genannten drei Bedingungen sind im Modus der Schriftlichkeit wesentlich einfacher zu erfüllen als in den von ihm untersuchten Gesprächen.

94 dersetzung. A u c h der unmittelbare Anlass, sich über die Frage der Zitierung auszulassen, ist apologetisch. 1 5 Im Folgenden nutzt Fischer aber die Gelegenheit zu einer kleinen Abhandlung über den Gebrauch der Zitate, in der über weite Strecken von d e m Vorwurf des Gegners u n d d e m Streit zwischen Fischer und Trendelenburg nicht m e h r die Rede ist und die sich schon w e g e n des U m f a n g s von k n a p p 14 Seiten nicht mehr voll als m e t a k o m m u n i k a t i v e Thematisierung einer N o r m v e r l e t z u n g erklären lässt. 1 6 (2) Zweifelsfalle stellen sich ebenfalls ein, w e n n Dritte sich in einem Streit zwischen ursprünglich zwei Personen zu Wort melden und nicht einfach zu entscheiden ist, ob sie damit zu Teilnehmern a m Streit werden oder ob sie ihn von außen k o m m e n t i e r e n . Im ersten Fall wären die Thematisierungen kommunikativen Verhaltens metakommunikativ, im zweiten könnte m a n sie auch als extrakommunikativ geäußert auffassen. Als Beispiel verweise ich auf David Friedrich Strauß (1838/1972, II, 665f.), der die „Einmischung des Moralischen und Persönlichen" bei M e n z e l mit deutlicher Parteinahme f u r die Jungdeutschen kritisiert, sich tendenziell aber, vor allem mit Bezug auf Äußerungen Lessings, einem Essay ü b e r das Problem der Trennung von Sache u n d Person annähert. (3) Ein letzter, wiederum anders gearteter Fall ist das N a c h w o r t in Eckhart Henscheids Taschenbuch Erledigte Fälle. Bilder deutscher Menschen" (1991), eine S a m m l u n g von Artikeln, die erstmals in der Satire-Zeitschrift Titanic veröffentlicht w o r d e n waren. Das f ü r die T a s c h e n b u c h - S a m m l u n g geschriebene Nachwort ist sicherlich kein polemischer Text u n d insofern ist die rückblickende Thematisierung seines eigenen Verhaltens in den wieder abgedruckten Artikeln extrak o m m u n i k a t i v geäußert. U n d doch hat das N a c h w o r t apologetischen Charakter. Die m e t a k o m m u n i k a t i v e Reflexion des Polemikers scheint hier ausnahmsweise ausgelagert, weil die Texte ursprünglich in einer Satire-Zeitschrift veröffentlicht w o r d e n waren, einem M e d i u m , in dem sich Autoren für ihre Angriffe nicht gleichzeitig zu rechtfertigen oder zu entschuldigen pflegen. Erst außerhalb dieses M e d i u m s , bei der Veröffentlichung als Taschenbuch, scheint Henscheid die Notwendigkeit gespürt zu haben, seine polemischen Porträts gegen geäußerte oder antizipierte Kritik zu erläutern, also das zu tun, was Polemiker normalerweise m e t a k o m m u n i k a t i v im polemischen Text tun.

15

16

„Der Gegner hat mir vorgeworfen, dass ich die Forderung der Citate .bespöttele'. Das ist nicht richtig, da ich diese Forderung selbst mache und, so viel an mir ist, erfülle. Ich würde sonst gegen den Einwurf, dass ich mich der Citate überhebe, als einen völlig unbegründeten und leeren, keine Einsprache gethan haben. Indessen kommt alles darauf an, wie man die Citate gebraucht: ob man sie richtig und methodisch anwendet oder von beidem das Gegenteil thut, indem man sie durcheinander wirft" (Fischer 2 1870, 64). In ähnlicher Weise weitet sich die Verteidigung gegen die Kritik eines ungenannten Gegners bei Scherer (1875-1876) zu einer Artikelfolge Allerlei Polemik in vier Fortsetzungen aus, in denen Fragen wissenschaftlicher Argumentation und des Stils nur noch in lockerer Beziehung zum Ausgangspunkt diskutiert werden. Solche tendenziellen Verselbständigungen kann man auch in den Schriften Lessings beobachten.

95 4.3

Äußerungstypen in der polemischen Metakommunikation

4.3.1

Metakommunikative Äußerungen mit Normbezug

Metakommunikative Äußerungen sind nach Kapitel 4.2.2.2 Äußerungen, in denen ein Sprecher Aspekte der vorangegangenen oder zukünftig erwartbaren Kommunikation thematisiert, während er selbst Teilnehmer an der Kommunikation ist, über die er spricht. Sprecher ist im gegenwärtigen Zusammenhang ein Schreiber, der initiierend oder reagierend an einer polemischen Auseinandersetzung teilnimmt. Aus dem Insgesamt seiner metakommunikativen Äußerungen interessiert allerdings nur das Segment, in dem er das eigene kommunikative Verhalten oder das des Gegners auf eine kommunikative Norm bezieht, um für sich selbst die Einhaltung der Normen in Anspruch zu nehmen und beim Gegner Verstöße zu kritisieren. Zum kommunikativen Verhalten gehören nicht nur alle Formen der sprachlichen Realisierung des Textes, sondern auch Verhaltensweisen wie die, ob sich jemand überhaupt auf die Kommunikation einlässt oder nicht, ob er seinen Namen nennt oder anonym bleibt, ob er privat erworbene Informationen öffentlich macht oder diskret verschweigt u.a.m. Ferner sollen Äußerungen eingeschlossen sein, in denen nicht das Verhalten selbst thematisiert wird, sondern mentale Zustände, die mit dem Verhalten verbunden sind, bzw. auf die aus dem beobachtbaren Verhalten geschlossen werden kann. Der geforderte Bezug auf eine Norm wird in solchen Äußerungen gelegentlich hergestellt, indem die verletzte bzw. eingehaltene Norm explizit als solche formuliert wird, häufiger aber dadurch, dass ein Typ von Sprechakt, z.B. ein Vorwurf, eine Rechtfertigung oder eine Entschuldigung, vollzogen wird, fur den ein Normbezug konstitutiv ist. Jemand, der etwas vorwirft, bezieht sich auf eine Norm, die das inhaltlich Behauptete vorwerfbar macht, genauso wie der, der etwas rechtfertigt oder etwas entschuldigt. Alle drei bestätigen zugleich die Norm; der Vorwerfende, weil er sich auf sie beruft, der Rechtfertigende und der Entschuldigende, weil sie, indem sie sich rechtfertigen oder entschuldigen, zugleich ausdrücken, dass ihr Verhalten der Rechtfertigung bzw. der Entschuldigung bedarf. Insofern ist die polemische Metakommunikation, obwohl stark normbezogen, keine Normdiskussion. Diskutiert wird, wenn überhaupt, die Anwendbarkeit der Norm auf den konkreten Fall. Abgesehen von einer bestimmten Variante der Zurückweisung eines Vorwurfs - durch Bestreitung der Gültigkeit der zugrunde liegenden Norm (Kapitel 4.3.4.3) - wird die Gültigkeit der Normen in der polemischen Metakommunikation wie ein selbstverständlicher Bestandteil des gemeinsamen Wissens vorausgesetzt und gerade nicht problematisiert. Da es für die unterschiedlichen Illokutionstypen kein entsprechend differenziertes System grammatischer Satzmuster gibt und auch andere Indikatoren in der sprachlichen Realisierung des Textes nicht immer eindeutig sind, ist es gelegentlich schwierig, die Zuordnung einer konkreten Äußerung zu den normbezogenen Sprechhandlungen zweifelsfrei zu begründen.

96 Das methodische Problem wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass die gesuchten normbezogenen Äußerungen (Vorwürfe, Rechtfertigungen, Entschuldigungen, Selbstbelobigungen etc.) genauso wie Behauptungen, Feststellungen, Mitteilungen, aber auch wie Beschimpfungen, Beleidigungen, Abqualifizierungen überwiegend die Form von Deklarativsätzen haben. Relativ unproblematisch ist der erste Schritt, die Entscheidung, ob in der fraglichen Äußerung ein Aspekt des eigenen oder gegnerischen kommunikativen Verhaltens im gegenwärtigen Streit thematisiert wird. Woran aber erkennt man, dass (1) dieses Verhalten (positiv oder negativ) bewertet und nicht einfach festgestellt, mitgeteilt, konstatiert wird, und woran (2), dass die Bewertung auf der Grundlage einer Norm geschieht, die das Verhalten vorwerfbar macht bzw. als Verdienst erscheinen lässt? Zum ersten Teil der Frage: Wenn von jemand ausgesagt wird, er habe gelogen oder jemanden verleumdet oder verdächtigt, so ergibt sich die negative Bewertung aus der konventionalisierten Bedeutung dieser sprachlichen Ausdrücke. Die Äußerungen enthalten aber nicht immer solche klaren lexikalischen Indizien. Kennzeichnet z.B. die Aussage, dass der Autor einer Schrift anonym geblieben sei, eine negativ bewertete Verhaltensweise oder ist die Erwähnung der Anonymität nur die für den Leser ja auch relevante Information, dass man über den Autor weiter nichts sagen kann. Wenn man weiß, ob in der gegebenen Kommunikationsgemeinschaft zur gegebenen Zeit Anonymität in bestimmten Zusammenhängen gängige Praxis oder aber negativ bewertet war, ist die Frage entscheidbar. Dieses Wissen kann ein Analytiker, der in der Analyse der metakommunikativen Äußerungen erst herausfinden will, welche Normen der Kommunikation zugrunde liegen, aber nicht beanspruchen zu haben. Die Zuordnungen gewinnen deshalb, gestützt auf lexikalische Indizien, kommentierende Bemerkungen des polemischen Subjekts, Reaktionen des polemischen Objekts, oft nur einen mehr oder weniger hohen Grad an Plausibilität. Manchmal bleibt nur der Rekurs auf die Griceschen Grundmaximen, dergestalt dass man als Funktion der Äußerung die Bewertung des beschriebenen Verhaltens annimmt, weil für die neutrale Information über den Sachverhalt im gegebenen Zusammenhang keinerlei Relevanz oder Informativität erkennbar ist. Zum zweiten Teil der Frage: Ist gesichert, dass in einer Äußerung eine negativ oder positiv bewertete Verhaltensweise thematisiert wurde, die geeignet ist, den Gegner zu diskreditieren bzw. den Sprecher in ein gutes Licht zu setzen, so muss es sich keineswegs um eine normbezogene Äußerung handeln. Es gibt viele, dem Gegner in der grammatischen Form des Aussagesatzes angeheftete negative Prädikationen, die geeignet sind, ihn beim Publikum zu diskreditieren, ohne dass die negativ bewertete Eigenschaft von irgendeiner Norm erfasst und vorwerfbar wäre, z.B. mangelnde Intelligenz. Um diesem Sachverhalt gerecht zu werden, unterscheidet Schwitalla (1986, 45) Vorwerfen und Abqualifizieren. Beide haben imageabwertende Funktion, unterscheiden sich aber darin, dass Vorwürfe, so Schwitalla, als Gegenstand der negativen Wertung „einzelne, verantwortbare Handlungen" haben, Abqualifizierungen hingegen Charaktereigenschaften. Vorwerfbar ist nur, was verantwortbar ist, und verantwortbar ist, was im Horizont der

97 eigenen Handlungsmöglichkeiten liegt. Die einfache Gegenüberstellung von „einzelner Handlung" und „Charaktereigenschaft" bedarf vielleicht einer genaueren Überprüfung, die Unterscheidung ist aber in ihrer Substanz zweifellos wichtig.17 - Es bleiben aber auch hier Zweifelsfalle, etwa bei fahrlässigen Normverstößen. So kann man zwar die Dummheit selbst nicht zum Gegenstand eines Vorwurfs machen, eventuell aber doch das Äußern von Dummheiten, wenn man vom Dummen erwartet, dass er seinen Mangel an Intelligenz selbst einschätzen kann und sich entsprechend verhält, nämlich lieber schweigt. Abgrenzungsprobleme bestehen auch zwischen den normativ gestützten Erwartungen auf der einen Seite und den Klugheitsregeln, die den Sprechern und Schreibern von diesen oder jenen Ratgebern im eigenen Interesse vorgeschlagen werden. Wer solche Ratschläge missachtet, mag sich selbst schaden und ist dann selber schuld; man wird ihm aber nicht vorwerfen wollen, eine Norm verletzt zu haben. So enthält Balthazar Gracians Handorakel und Kunst der Weltklugheit (1653/ 1985) in der Fassung, die Schopenhauer dem spanischen Original von 1653 in seiner deutschen Übersetzung gegeben hat, eine ganze Reihe von Regeln, das kommunikative Verhalten betreffend, die sich wie Paraphrasen einiger der in Kapitel 5 aufgelisteten Normen lesen und doch als Klugheitsregeln einen anderen Status haben. Eine weitere Komplikation in der Identifizierung normbezogener metakommunikativer Äußerungen ergibt sich aus der Mehrfachadressierung. Vorwürfe richten sich nach allgemeiner Auffassung an den, dem etwas vorgeworfen wird, und erfordern, so die meisten Interpreten, konventionell einen Folgeakt dieses Adressaten, während Handlungen des Abqualifizierens auch gegenüber Dritten möglich sind. Beschimpfungen (vgl. Schumann 1990) haben mit den Vorwürfen den Adressaten gemein, erfordern aber keine Folgehandlung von Seiten des Beschimpften. Auch der Normbezug ist unterschiedlich. Vorwürfen geht immer die Verletzung einer Norm voraus, bei Beschimpfungen ist das möglich, aber nicht Bedingung. Wenn nun, wie verschiedentlich betont, der eigentliche Adressat des polemischen Textes das Lesepublikum als polemische Instanz ist, können im polemischen Text eigentlich nur Abqualifizierungen, nicht aber Sprechhandlungen vorkommen, die sich wie Vorwürfe oder Beschimpfungen qua Typ an den richten, über den etwas Negatives ausgesagt wird. Wenn trotzdem im folgenden Kapitel 4.3.2 von Vorwürfen die Rede ist, dann kann das damit gerechtfertigt werden, dass das polemische Objekt ein Nebenadressat ist, der ja auch nicht selten zurückweisend, rechtfertigend, entschuldigend etc. reagiert. Es darf aber nicht vergessen werden, dass die gleichen Äußerungen in Bezug auf das Publikum keine Vorwürfe sind, sondern Behauptungen oder Mitteilungen darüber, 17

Sie wird auch in den polemischen Texten selbst gelegentlich angesprochen. So wenn Liscov (1739/1806, X X V ) fragt, ob eine Eigenschaft oder ein Verhalten seines Gegners willkürlich ist („der lächerliche Stolz, der ihn verleitet, sich, seiner Schwachheit ungeachtet, für einen Lehrer der Unwissenden aufzuwerfen") oder nicht willkürlich (der „Mangel des Verstandes"). Vorwerfbar ist mangelnde Kompetenz, nicht vorwerfbar mangelnde Intelligenz. (Genaueres dazu in Kapitel 5.2.2.)

98 dass das polemische Objekt sich etwas Vorwerfbares hat zu Schulden kommen lassen. Im übrigen stammt die Bestimmung des Publikums als primären Adressaten aus der Analyse der Realsituation. In der polemischen Konstellation erscheint das polemische Objekt oft als Haupt- oder sogar einziger Adressat, der auf die Äußerungen als an sich gerichtete Vorwürfe reagiert, die er zurückweisen kann oder denen gegenüber er sich rechtfertigen oder entschuldigen kann. 18

4.3.2

Bezogen auf das kommunikative Verhalten des Gegners: Vorwürfe

Beispiele: Ich überlasse es nun einem jeden, der diese meine Schrift gelesen hat, zu entscheiden, in wiefern Herr Campe seine Kunst, die Leute moralisch todtzuschlagen, auch an mir versucht hat (Moritz 1789b/1993, 69f.). Aber welcher Leser wird sich mißleiten lassen von einem Manne, dem das Geheimniß der Briefe nicht heilig ist; der nach vielen Jahren Worte, die der unbefangene Freund gegen ihn äußerte, diesem oder einem dritten wehe zu thun, dem Publicum mittheilt? (Stolberg 1820, 3). Diese doppelte Unwahrheit ist von der Art, daß der Recensent nach seiner sonst bekannten Unterscheidungskunst zum voraus sie als unwahr wissen konnte und mußte. Die doppelte Unwahrheit ist demnach geradezu eine doppelte Lüge. Sie ist eine wissentlich und öffentlich nicht auf das Aesthetische und auf Ihre Talente, sondern gegen Ihren Willenscharakter gerichtete, soviel möglich auch gegen Ihr bürgerliches Wohl und moralisches Ansehen berechnete Verläumdung (Paulus 1836/1972,1, 23). Verglichen mit dem Katalog von Äußerungstypen, die inhaltlich das eigene kommunikative Verhalten thematisieren (4.3.3 und 4.3.4), gibt es im wesentlichen nur einen, allerdings sehr häufig realisierten Äußerungstyp, in dem das kommunikative Verhalten des Gegners angesprochen wird: den Vorwurf bzw. dem Publikum gegenüber - die abqualifizierende Behauptung, dass der Gegner sich etwas Vorwerfbares hat zu Schulden kommen lassen. Vorwerfen wird in der Literatur meistens als Ober- oder Sammelbegriff für eine Reihe miteinander verwandter Sprechakte verwendet: jemanden anklagen, anzeigen, beschuldigen, bezichtigen, bloßstellen, sich über etwas beschweren,

18

Bei der Unterscheidung der Äußerungstypen und ihrer Charakterisierung in den folgenden Abschnitten habe ich die Sekundärliteratur mit Gewinn genutzt, ohne die Anleihen und die Abweichungen in allen Einzelheiten kenntlich zu machen: Rehbein 1972 (Entschuldigen, Rechtfertigen), Fritz/Hundsnurscher 1975 (Vorwerfen, Rechtfertigen), Frankenberg 1976 (Vorwerfen, Rechtfertigen), Falkenberg 1981 (Lüge vorwerfen), Objartel 1984 (Beleidigen), Rehbock 1985 (Herausfordernde Fragen), Schwitalla 1986 (imageabwertende Sprechakte), Spranz-Fogasy 1986 (Widersprechen), Klein 1987 (u.a. Rechtfertigen), Schumann 1990 (Beschimpfen), Heine 1990 (Rechtfertigen), Gruber 1996 (u.a. Vorwerfen und Reaktionen auf Vorwürfe), Fix 1997 (Erklären, rechtfertigen), Günthner 2000 (Vorwerfen), Wagner 2001 (implizites Diskriminieren).

99 jemanden kritisieren, zur Rede stellen, rügen, schelten, tadeln, verdächtigen, jemandem Vorhaltungen machen. Dazu kommen Sprechakte, die nicht als solche zu den Vorwürfen gehören, jedoch eine „Vorwurfskomponente" (Fritz/Hundsnurscher 1975) enthalten können wie: etwas behaupten, über etwas klagen, jemandem etwas raten oder verbieten. Eigenschaften, die den Spielarten des Vorwerfens gemeinsam sind, sind: -

-

Inhalt des Geäußerten sind vollzogene oder unterlassene Handlungen bzw. Handlungsprodukte oder auch Einstellungen der Handelnden. Der sich Äußernde drückt seine Mißbilligung der Handlung oder Einstellung aus. Der Mißbilligung liegen explizit oder implizit Normen zugrunde. Der Sprecher nimmt an, dass es für die fragliche Handlung oder Einstellung eine mit der Norm verträgliche und von der fraglichen Person wählbare Alternative gibt. Mit dem Vorwurf ist die Aufforderung verbunden, sich zu rechtfertigen oder zu entschuldigen. Der Vorwurf wird normalerweise „in der grammatischen zweiten Person dem Betroffenen gegenüber erhoben", kann jedoch „auch anderen gegenüber in der grammatischen dritten Person geschehen" (Falkenberg 1981, 157).

Gruber (1996) unterscheidet vollständig realisierte (direkte) und unvollständig realisierte (indirekte) Vorwürfe. Die vollständig realisierten enthalten einen darstellenden Teil, in dem die vom Beschuldigten begangene Handlung beschrieben wird, und einen wertenden Teil, in dem die Handlung zu einer Norm in Beziehung gesetzt und eine Sanktion gefordert wird. Beide Teile können durch Begründungen erweitert werden. Bei den unvollständig realisierten, indirekten Vorwürfen fehlt meistens der wertende Teil. In diesem Fall vertraut der Sprecher oder Schreiber darauf, dass der Adressat des Vorwurfs und/oder die Zuhörer die Vorwerfbarkeit der im darstellenden Teil beschriebenen Handlung selbst erkennen und auf der Basis ihres Normwissens von sich aus bewerten. Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Bestimmungen gilt spezifiziert für Vorwurfshandlungen in der polemischen Metakommunikation: -

-

Die Äußerungen thematisieren inhaltlich Aspekte des kommunikativen Verhaltens des polemischen Gegners bzw. seine die Kommunikation betreffenden Einstellungen/Dispositionen. Der sich Äußernde drückt seine Missbilligung des Verhaltens oder der Einstellung aus. Die ausgedrückte Missbilligung beruht auf einer das kommunikative Verhalten betreffenden Norm. Der Schreiber nimmt an, dass es für das fragliche Verhalten bzw. die Einstellung eine mit der Norm verträgliche und vom Gegner wählbare Alternative gibt. Die Aufforderung, sich zu rechtfertigen, gilt für Vorwürfe in der polemischen Metakommunikation, nur bedingt. Dagegen spricht schon, dass es generell ei-

100

-

ner Rechtfertigung bedarf, auf persönliche Angriffe überhaupt öffentlich zu reagieren (vgl. Kapitel 5.3.1 und 5.6.1). Entgegen dem oben angegebenen Regelfall sind die vorwerfenden Äußerungen häufig in der dritten Person gegenüber dem Publikum geäußert, in dessen Augen die kritisierte Person diskreditiert werden soll.

Die Identifizierung der Vorwürfe steht vor dem schon erwähnten methodischen Problem, dass man den Äußerungen, die äußerlich von Behauptungen oft kaum unterscheidbar sind, nicht ansieht, ob die Bedingungen für Vorwurfshandlungen gegeben sind oder nicht. Drückt der Sprecher Missbilligung aus? Liegt der Missbilligung eine Norm zugrunde? Macht der Sprecher das polemische Objekt verantwortlich? Obwohl unterschiedlich geartet, stellen die drei zitierten Beispiele keine großen Interpretationsprobleme. 19

4.3.3

Bezogen auf das eigene kommunikative Verhalten I: Behauptungen über das zukünftige oder vergangene Verhalten.

4.3.3.1

Erklärungen, sich an die Norm halten zu wollen bzw. gehalten zu haben

Beispiele: Ich bleibe bey der streitigen Sache, und lasse Sie übrigens in ihren Ehren und Würden ungekränkt. - Ihr sehet, daß die Ehre unserer deutschen Nation meine Triebfeder gewesen (Sorge 1760, 1 u. 120). Wenn Menzel in Persönlichkeiten fortfahrt, so zieh' ich den Kürzern. Denn ich nehme keine Sylbe mehr über ihn, als Menschen, in den Mund; und wenn er es thut, so verweigert er mir die verlangte Genugthuung, die er mir in keinem Walde, wie er an meine Freunde geschrieben hat, sondern öffentlich geben will. [...] Was ich, um meine Person zu retten, gegen die seinige vorbrachte, war diesmal erlaubte Waffe. Künftig werd' ich nur von seinen Schriften und von seiner literarischen Stellung sprechen (Gutzkow 1835b/1972,1, 84). Wie ich auch gegen Sie geschrieben, ich habe nie Ihren Charakter verdächtigt, ich habe das in den Häusern über Sie und von Ihnen unvollständig Zusammengehörte niemals auf den öffentlichen Markt ausgetragen. Dieses Fehlers machen Sie sich schuldig durch Hinweisung auf einen Vorfall (Epigonen, Bd. III, S. 263), den Sie, so viel ich mich erinnere, von mir selbst und meiner Frau erwähnen hörten (Schulz, in: Rüge 1847/1976,218). Übereinstimmendes Merkmal aller Äußerungen dieser Kategorie ist, dass sie Aussagen über kommunikative Verhaltensweisen des Schreibers enthalten, deren Übereinstimmung mit den kommunikativen Normen über jeden Zweifel erhaben ist. Indem der Schreiber sich dieses Verhalten zuschreibt, profiliert er sich als 19

Ich erspare mir in diesem Kapitel, in dem es um die Äußerungstypen geht, die Angabe der Normen, die den Vorwurf, die Rechtfertigung usw. jeweils begründen. Sie sind das Thema in Kapitel 5.

101 jemand, der sich (im Unterschied zum Gegner) keiner Normverletzungen schuldig machen wird bzw. gemacht hat. 20 D i e Rede ist entweder von einem zukünftigen Verhalten, von dem der Schreiber ankündigt, es vollziehen zu wollen, oder von einem vergangenen Verhalten, von dem der Schreiber rückblickend behauptet, es v o l l z o g e n zu haben. Sorge kombiniert beides am Anfang (1) und am Ende seiner Schrift (120). Gelegentlich wird das Verhalten ausdrücklich als normgerecht bezeichnet, oft wird aber nur das Verhalten beschrieben. D a s s es ein positiv bewertetes, normgerechtes Verhalten ist, wird als bekannt und v o m Adressaten erkennbar vorausgesetzt. D i e beiden Zitate von Sorge sind Beispiele für das zweite; Gutzkow („erlaubte Waffe") und Schulz („Fehler") stehen für das erste.

4.3.3.2 Erklärungen, auf Norm Verletzungen verzichten zu wollen bzw. verzichtet zu haben Beispiele: Aber was soll ich zum Beschluß Ihrer Scharteke sagen? Oder was würde Ihnen ein Mann antworten, der minder zurückhaltend wäre, als ich? .Dreimal habe ich deine Schandperiode gelesen, würde er sagen, und noch weiß ich nicht, was in derselben mehr auffallend ist, deine galgenmäßige Frechheit, [...] oder deine an Wahnwitz grenzende Dummheit [...]. Weißt du, dass du außer Dieterichen mit deinen Spitzbubendrohungen auch noch den verehrungswürdigen Verfasser beleidigst, ja daß du den Wissenschaften selbst schadest, würde ich sagen, wenn solcher Pöbel wie du, wüßte, was Wissenschaft ist [...]. So würde der Mann sagen, und hätte Er unrecht? Allein Ich, ich liebe ein allezeit laues Blut und Barmherzigkeit (Lichtenberg 1776/1972, 250f.). Wenn ich den ehrgeiz hätte, mich als von einem hochmütigen collegen mishandelt darzustellen oder wenn ich es für hübsch hielte einen collegen als conservativen oder reactionär zu denuncieren, der sich gegen die berechtigten fortschritte der Wissenschaft absichtlich verschließe um eigensinnig veraltete doctrinen festzuhalten: so hätte ich hier dazu genügenden anlaß. Ich ziehe es aber vor, denselben nicht zu benutzen (Wilhelm Scherer 1876, 107). Würde ich mich auf die gleiche Ebene der Auseinandersetzung wie der Autor begeben, müßte ich den „berufenen" Professor der höchsten Gehaltsgruppe nach dem Zusammenhang seiner Kritik mit seiner akademischen Position fragen. Dies aber würde, wie mir einer der beiden Mitherausgeber nachdrücklich versicherte, wegen der allzu persönlichen Tendenz den Abdruck meiner Entgegnung in der Rhetorik verhindern. Nicht nur aus diesem Grunde unterlasse ich es (Rüdiger Scholz 1990, 37). Unter Verzichtserklärungen

sollen Äußerungen verstanden werden, mit denen der

Sprecher seine Absicht kundtut, etwas, w a s er tun könnte, nicht zu tun. Verbausdrücke, mit denen man dies kundtun kann, sind u.a.: auf etwas unterlassen; 20

etwas auf sich beruhen lassen; von etwas Abstand

verzichten; nehmen;

etwas

vorziehen,

Anders als bei den Vorwürfen ist der Normbezug bei Behauptungen nicht schon mit dem Vollzug des Sprechaktes gegeben. Er wird vielmehr mit der Behauptung, sich mit der Norm in Übereinstimmung zu befinden, d.h. über den Inhalt des Geäußerten, hergestellt.

102 etwas nicht zu tun; etwas nicht erwähnen wollen; etwas, was man selbst tun könnte, anderen überlassen. Von Interesse sind im gegenwärtigen Zusammenhang freilich nur Verzichtserklärungen, in denen das Etwas aus kommunikativen Handlungen besteht, die im Verdacht stehen, Normen des akzeptablen kommunikativen Verhaltens zu verletzen, und deshalb von der polemischen Instanz negativ bewertet werden könnten. Indem der Polemiker nicht einfach verzichtet, sondern sagt, dass er es tut, weist er - genau wie bei den Absichtserklärungen, mit denen er sich positiv bewertete Verhaltensweisen zuschreibt - gezielt darauf hin, dass er sich den kommunikativen Normen verpflichtet fühlt und sich ihnen auch faktisch fügt. Formal ähneln solche Äußerungen der rhetorischen Figur der praeteritio, von der Lausberg (1963, 137) sagt, sie sei „eine Hinwendung zur Rede-Situation" und bestehe „in der ausdrücklichen Kundgabe der Absicht, die ausfuhrliche Behandlung eines genannten Gegenstandes oder mehrerer [...] genannter Gegenstände zu unterlassen." Er subsumiert die praeteritio unter die Figuren der detractio, die „in der Weglassung von für den Mitteilungszweck eigentlich notwendigen Gedanken" (136) bestehen und dem Ideal der brevitas verpflichtet seien. Begründet werde die Weglassung häufig mit der Eile; sie „kann aber auch zu einem gedanklichen und sprachlichen Stil-Ideal (wie bei Sallust und Tacitus) werden" (136). Die Verzichtserklärungen im Kontext polemischer Auseinandersetzungen sind nicht dem Brevitas-Ideal verpflichtet, sondern eröffnen dem Polemiker die Möglichkeit, durch mehr oder weniger expandierende Füllung des grammatischen Objekts, das alle in Frage kommenden Verbausdrücke obligatorisch fordern, nicht selten mit einem Augenzwinkern, etwas zu tun, von dem er sagt, dass er es unterlassen wolle. Genau dies dürfte die Beliebtheit der Figur als einer polemischen Strategie erklären. Plett ( 2 1973), der die Figur unter dem Namen Paralipse abhandelt (siehe auch den Artikel „Paralipsis" in Zedier 1740, Bd. 26, 790), stellt übereinstimmend fest, dass „die Verneinung der Themenbehandlung gerade zur Darstellung der Themen" fuhrt, die nicht behandelt werden sollen, und: Die Diskrepanz zwischen Absichtserklärung (Paralipse) und faktischem Tun (Accumulatio) stuft diese Brevitas-Figur zugleich als eine Sonderart der Ironie ein: Gerade dadurch, daß man dezidiert die Aufmerksamkeit von einem Thema ablenkt, wächst ihm Bedeutung zu (59).

Insbesondere sind es, wie die Beispiele illustrieren, Akte des Persönlichwerdens, auf die das polemische Subjekt zu verzichten verspricht, um sie dann doch mehr oder weniger massiv zu vollziehen. 21 Der Präteritio benachbart ist die Taktik 21

Gutzkow (1835b/l 972) bedient sich der Figur in Serie und verschafft sich so in seiner Verteidigung gegen Menzel immer wieder Raum für Bezugnahmen auf die Person des Gegners. Dazu passt der Vorwurf, den ein anonymer Rezensent (Anon. 1835/1972, 636) auf Meta-Metaebene gegen die Jungdeutschen vorbringt und der auf Menzel erweitert werden kann: „Am Widerwärtigsten erscheint es dabei, daß sich das junge Deutschland, d.h. wohlzumerken hier immer die Herren Gutzkow, Wienbarg etc., fortwährend mit der Redensart vernehmen läßt, man wolle nicht auf Persönlichkeiten und Particularitäten eingehen, und doch beide immer von Neuem vorbringt". So formuliert ist der Widerspruch fur polemische Texte fast typisch zu nennen, wobei das Besondere an der Präte-

103 Lichtenbergs, darauf zu verzichten etwas zu sagen und stattdessen auszumalen, was ein anderer sagen würde oder in einer vergleichbaren Situation gesagt hat.

4.3.4

Bezogen auf das eigene kommunikative Verhalten II: Reaktionen auf Vorwürfe.

4.3.4.1

Mögliche Reaktionen auf Vorwürfe

Fritz/Hundsnurscher (1975) unterscheiden grundsätzlich drei Möglichkeiten, auf einen Vorwurf zu reagieren, die sie jeweils weiter differenzieren (85f. und 91): (1) Übergehen des Vorwurfs: schweigen/von etwas anderem reden (2) Partielles Nichteingehen auf den Vorwurf: lächerlich machen/bagatellisieren/ bewußtes Mißverstehen/Gegenvorwurf erheben/Zuständigkeit von A bestreiten/ auflaufen lassen einschüchtern (3) Explizites Eingehen auf den Vorwurf: sich entschuldigen/Vorwurf zurückweisen: Handeln abstreiten, Handeln umdeuten/Verantwortlichkeit bestreiten: sich auf höhere Gewalt berufen, Absichtlichkeit bestreiten/Rechtfertigung vorbringen: sich auf höhere Norm berufen, die Norm angreifen. Da im gegenwärtigen Zusammenhang nur solche Reaktionen von Interesse sind, in denen explizit oder implizit die dem Vorwurf zugrunde liegende Norm angesprochen wird, beschränke ich mich mit der Ausnahme des Exkurses über das Schweigen (4.3.4.2) auf das explizite Eingehen auf Vorwürfe unter Punkt drei, modifiziere das Schema von Fritz/Hundsnurscher aber in einigen Punkten: (1) Die Handlung des Sich-Entschuldigens, mit der Fritz/Hundsnurscher die Möglichkeiten des expliziten Eingehens auf den Vorwurf beginnen, rücke ich an das Ende und nenne sie um Verzeihung bitten. Mit der Umbenennung vermeide ich das Problem, dass Verb und Substantiv entschuldigen/Entschuldigung verschiedene Gebrauchsweisen haben und dabei auch unterschiedliche Handlungen bezeichnen können. Mit der Bitte um Verzeihung ist, im Unterschied zum Entschuldigen, notwendig ein volles Schuldeingeständnis verbunden. (2) Die Handlung Norm-Angreifen, von Fritz/Hundsnurscher unter „Rechtfertigung vorbringen" aufgeführt, betrachte ich als eine dritte Möglichkeit, einen Vorwurf zurückzuweisen. Wer die Norm in Zweifel zieht, auf deren Grundlage ein bestimmtes Handeln eine negative Bewertung erhält, sagt implizit auch, dass der Vorwurf auf einer falschen Voraussetzung beruht und deshalb keine Geltung haben kann. Das scheint mir als Zurückweisung des Vorwurfs besser erfasst als durch Rechtfertigung der fraglichen (zu Unrecht kritisierten) Handlung. ritio ist, dass das Tun und die Erklärung, es nicht tun zu wollen, sozusagen in einem Atemzug geschehen kann.

104 (3) Zwischen „Rechtfertigung vorbringen" und - neu piaziert - „um Verzeihung bitten" ergänze ich als weitere Möglichkeit „um Verständnis bzw. mildernde Umstände bitten", was von anderen auch „sich entschuldigen/Entschuldigung genannt wird. (4) Die beiden Handlungen „sich auf höhere Gewalt berufen" und „Absichtlichkeit bestreiten", die Fritz/Hundsnurscher unter „Verantwortlichkeit bestreiten" als einer eigenen Kategorie zusammenfasst, werden in der linguistischen Literatur z.T. zu den Rechtfertigungen oder Entschuldigungen gerechnet (z.B. Rehbein 1972, Groeben u.a. 1990-1992, V). Man könnte sogar fur „Zurückweisung des Vorwurfs" argumentieren, da die Zuschreibung von Verantwortlichkeit eine notwendige Bedingung dafür ist, dass man einen Vorwurf machen kann. Ich übergehe diese Kategorie, weil ich im Untersuchungsmaterial keine überzeugenden Beispiele gefunden habe. Das mag daran liegen, dass Äußerungen, die eventuell in Frage kämen, sich genausogut unter die Entschuldigungen einreihen lassen. Möglicherweise ist es aber auch einfach unwahrscheinlich, dass ein normwidriges kommunikatives Verhalten eines Menschen auf Wirkungen einer höheren Gewalt zurückgeführt werden könnte oder dass sich kommunikatives Verhalten ohne Absicht auf Irrwege begibt. In der polemischen Metakommunikation kommen relativ viele Verteidigungen vor, denen faktisch kein Vorwurf vorausgegangen ist, sondern wo der Schreiber auf einen antizipierten Vorwurf reagiert, den der Gegner im nächsten Zug machen könnte oder den die Leser erheben könnten. Für die Rekonstruktion der der Kommunikation zugrunde liegenden Normen in Kapitel 5 ist die Differenz zwischen Reaktionen auf faktisch erhobene und Reaktionen auf antizipierte Vorwürfe unerheblich. Sie werden unterschiedslos als „Reaktionen" behandelt.

4.3.4.2

Schweigen

Vor jeder Entscheidung über das Wie stellt sich die grundsätzliche Frage, ob man auf einen polemischen Angriff überhaupt öffentlich reagieren oder auf eine Entgegnung verzichten soll. Welche Gründe kann es geben, einen öffentlichen Angriff unbeachtet zu lassen? Darüber verlässliche Aussagen zu machen, ist nicht einfach, da der Schweigende als Schweigender keine Möglichkeit hat, sein Schweigen zu begründen. Es ist schon schwer, verlässliche Aussagen über die Häufigkeit der Nutzung dieser Möglichkeit zu machen. Unterlassene Handlungen lassen sich schlechter zählen als vollzogene. Es gibt aber eine Vielzahl textinterner und textexterner Zeugnisse, in denen das Schweigen auf persönliche Angriffe thematisiert wird, sei es, dass der Angegriffene im polemischen Text rückblickend begründet, warum er zu einem früheren Zeitpunkt geschwiegen hat, sei es, dass er wortreich begründet, warum er eigentlich lieber schweigen würde, es dann aber doch nicht tut, sei es, dass er die Frage textextern in persönlichen Briefen an Verwandte oder Freunde reflektiert.

105 Das extensive Reden über das Schweigen ist ein R e f l e x seiner Vieldeutigkeit. Oft soll es nach dem Wunsch des Schweigenden ausdrücken, dass er über alle Angriffe erhaben ist, zumal wenn sie von einem unwürdigen Gegner stammen. Auch entgeht der Schweigende d e m lauernden Verdacht, als getroffener Hund zu bellen. Als Totschweigen kann (Ver)Schweigen selbst ein polemischer Z u g sein. 2 2 - Andererseits kann S c h w e i g e n als Zeichen von Schwäche oder sogar als Schuldeingeständnis gedeutet werden. U m das zu vermeiden, bieten sich Formen des „partiellen Eingehens auf den V o r w u r f ' (Fritz/Hundsnurscher) an, bei denen die Tatsache des Angriffs thematisiert wird, Inhalt und Zielrichtung aber übergangen werden. Der Angriff wird als unerheblich, als nicht der Rede wert bewertet oder lächerlich gemacht, 2 3 w a s dem Angegriffenen den Eindruck v o n S o u v e ränität verschafft. Das polemische Objekt kann so auch vermeiden, dass sein Schweigen v o m Gegner oder v o n Dritten metakommunikativ gegen ihn gekehrt wird. 2 4 Wie das partielle Eingehen auf den Vorwurf werden die Vorteile des Schweigens ohne seine Nachteile auch dem zuteil, der Stellvertreter findet, die sich an seiner Stelle und in seinem Interesse äußern. 25

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August Wilhelm Schlegel (1926) beschwert sich darüber als Betroffener brieflich bei Goethe: „Es ist nicht bloß gegen mich und meine Freunde daß die ALZ. in den letzten Jahren die feige Polemik des Schweigens ausgeübt hat. Sie hat die Verbreitung alles Reellen und Durchgreifenden auf diese Weise zu hindern gesucht" (141). Das entspricht dem von Apeltauer (1977, 243) zitierten Rat Hamiltons: „Bei persönlichen Invektiven ziehe Spott einem direkten verbissenen Angriff vor." So wie Fichte (1801/1971, 44—48) über das beharrliche Schweigen Nicolais auf persönliche Angriffe spottet. Fischer ( 2 1870) reflektiert das Problem in eigener Sache: „Ich erkenne aus dieser Stelle von neuem, wie sehr meinem Gegner das Schweigen als ein Kriterium des Unrechts gilt. Nicht bloss, dass er für seine Person, der diese Vorstellung wohlthut, den schweigenden Gegner fur den überwundenen ansieht; er spricht es unbefangen aus, dass eine ,Jury', noch dazu eine wissenschaftliche' ihn zu verurtheilen habe .gerade wegen seines Schweigens'" (77). Kraus (191 lb/1962, 122) hält es sogar für vorwerfbar, wenn ein von ihm Angegriffener den Kampf nicht annimmt, als gebe es eine Verpflichtung, zu öffentlichen Angriffen öffentlich Stellung zu nehmen. Als Jacob Grimm die Kritiker am Deutschen Wörterbuch, Sanders und Wurm, nach langem Zögern 1854 in der Vorrede zum ersten Band als „Spinnen im Wortgarten" selbst attackiert, zieht er sich den umgekehrten Vorwurf von Julian Schmidt zu, der in der Zeitschrift Die Grenzboten schreibt: „Gewiß haben diese in allen Punkten unrecht, aber ein Mann wie Jacob Grimm hätte zu vornehm sein sollen, um überhaupt darauf einzugehen" (zit. Kirkness 1980, 208). Gut dokumentiert sind das eigene Schweigen und die Anstrengungen Jacob Grimms, dritte Personen fur die Reaktion auf die Kritiken von Daniel Sanders und Christian F. L. Wurm zu gewinnen, und seine Versuche, die Entgegnungen sogar inhaltlich zu beeinflussen (vgl. dazu Kirkness 1980 u. Hinderling 1988).- Andere Beispiele für vorgeschobene Stellvertreter nennt Rohner (1987, 198) im Streit zwischen Franz Mehring und Erich Schmidt, der „seinen ,Famulus' August Sauer schreiben" ließ (184), und im Umgang Stefan Georges mit Kritik: "Wiewohl groß im Ablehnen und durch und durch eine polemische Existenz, war der Meister jedem öffentlichen Streit abhold. Der souveräne Herrscher begnügte sich mit apodiktischen 'Merksprüchen'. Die polemische Auseinandersetzung überließ er seinen ,Staatstützen' [...]. Das nötige Gift verabreichte George in seinen Briefen und Gesprächen" (ebd., 197).

106 4.3.4.3

Einen Vorwurf zurückweisen

Beispiele: Ich habe keinen vertraulichen Brief bekannt gemacht, sondern aus einem Briefe, wovon Hr. L. nicht wissen kann, ob er vertraulich oder nicht vertraulich sey, Hm. Heynens Gedanken über die griechische Rechtschreibung und seine Gründe für ä [in der Textvorlage in griechischer Schreibung], Oder glaubt er, diese sind von solcher Beschaffenheit, daß sie nur einem Busenfreunde unter dem Siegel der strengsten Verschwiegenheit anvertraut werden durften (Voß 1782, 240f.). Aber wenn ich in der polemik gegen eine meiner ansieht nach falsche doctrin den Urheber derselben verschweige, wo der name nichts zur sache tut, so scheint mir das eine erlaubte und nicht tadelnswerte, manchesmal sogar eine milde und wegen ihrer milde lobenswerte form (Scherer 1875-1876, 464). Es sei hier zum letztenmal ganz klar gesagt: In meinem Buch gibt es nicht ein einziges Zitat, das nicht Wort für Wort mit den Informanten abgestimmt wäre. Auch mache ich an jeder Stelle des Textes klar, wo ich mich auf Fakten stütze [...], w o ich spekuliere und w o Fragen offenbleiben (Schwarzer 1993).

Bei der Zurückweisung eines Vorwurfs kann man drei Varianten unterscheiden, auch wenn das Ergebnis das Gleiche ist: Der Schreiber ist vom Vorwurf einer Normverletzung völlig freizusprechen. Man kann (1) einen Vorwurf zurückweisen, indem man das vorgeworfene Verhalten abstreitet. So weist Alice Schwarzer (1993) den Vorwurf von Bastian (1993) zurück, Normen des Zitierens verletzt zu haben. Man kann (2) einen Vorwurf zurückweisen, indem man das vorgeworfene Verhalten zugibt, die Deutung des Verhaltens aber, die es zu etwas Vorwerfbarem macht, bestreitet. Dies tut Voß (1782), der sich gegen den Vorwurf Lichtenbergs wehrt, einen vertraulichen Brief Heynes öffentlich bekannt gemacht zu haben. Voß leugnet nicht, dass er aus einem Brief Heynes zitiert hat, und bezweifelt auch nicht die Norm, dass vertraulich erhaltene Informationen nicht öffentlich gemacht werden sollten (vgl. Kapitel 5.4.5). Er weist aber die Deutung des Briefes als eines vertraulichen zurück und kann somit auch das Vertraulichkeitsgebot nicht verletzt haben. Man kann schließlich (3) einen Vorwurf zurückweisen, indem man entweder die soziale Geltung der Norm verneint, mit der die Vorwerfbarkeit der fraglichen Handlung begründet wird, oder ihren Sinn. Im ersten Fall bezweifelt man, dass in der gegebenen Kommunikationsgemeinschaft eine solche Norm existiert, im zweiten Fall wird ihr Wert negiert. Letzteres tut Wilhelm Scherer (1875-1876) gegenüber ungenannten Kritikern, die ihm die Verletzung einer Norm vorgeworfen haben, die man mit der Redewendung „Nenne Ross und Reiter" paraphrasieren kann (vgl. Kapitel 5.4.1.2).

107 4.3.4.4

Sich rechtfertigen

Beispiele: Lieber Herr Pastor, ich wünschte sehr, diese Zumuthung wäre nicht gedruckt an mich ergangen. Es ist eine wahre Kanzelzumuthung: und Sie wissen wohl, wie man einer dergleichen Zumuthung begegnet. Ebenfalls durch eine Zumuthung (Lessing 1778c/ 3 1897, XIII, 108). Hier aber muß ich ausdrücklich bemerken, daß ich als etwas Unedles, ja Gemeines, weit von mir abweisen würde, meine vorteilhafte freie Stelle dem Herrn Menzel gegenüber zu benutzen, wenn es sich bei ihm und bei mir nur um etwas Persönliches handelte. [ . . . ] Ich weiß, daß Herr Menzel nicht die Freiheit hat, die ich genieße, Grundsätze und Meinungen, die er bekämpfen möchte, sich in ihrer ganzen Breite ausdehnen zu lassen. Aber es handelt sich hier um nichts Persönliches, es betrifft die große Angelegenheit eines ganzen Volkes, und da wäre großmütige Zurückhaltung unzeitig, ja frevelhaft (Börne 1836-1837/1964, III, 894). Zutreffend in gewissem Grade wird betont: man soll einen politischen Gegner stürzen, indem man seine Politik angreift. Ja: in konstitutionellen Staaten. Aber bei uns? Wir greifen ja die Politik immerfort an, und es ändert sich nichts. Hier nun hat ein mit großem Recht weggewünschter Polizisten-Politiker endlich sein Amt in einen persönlichen Mißgriff hineingezogen; er hat etwas getan, was nach dem herrschenden Komment unmöglich ist: und ich soll gottesfürchtig den Moment vorbeilassen? Der Nächste (sagt man), der kommt, wird nicht besser sein? Schlechter bestimmt nicht. Das System soll man treffen? In der Person ist das System getroffen: wenn erwiesen wird, wie ahnungslos bei uns die Person auf den Posten gestellt wird. Da liegt der Hund (Kerr 1911 b/1961,363).

Jemand, der etwas rechtfertigt, gibt dadurch, dass er es rechtfertigt, zu erkennen, dass es nach seiner Meinung der Rechtfertigung bedarf, und bestätigt so die Norm, auf deren Grundlage das Verhalten oder die Einstellung vorwerfbar sind. Die Rechtfertigung enthält aber auch die Behauptung, dass der fragliche Sachverhalt, hier also bestimmte Formen kommunikativen Verhaltens, unter bestimmten Umständen, obwohl normwidrig, keine negative Bewertung verdienen. Sie ist, so Rehbein (1972) im Blick auf mündlich-dialogische Kommunikation, ein „ACCOUNT, in dem der Täter die Verantwortung für seine Handlung übernimmt, aber Gründe dafür anführt, warum er die pejorative Einschätzung seitens des Interaktanten nicht teilt" (310). Groeben u.a. (1990-1992, V, 52f.) betrachten Rechtfertigungen in ähnlicher Weise als „Urteilsmodifikationen", die bei gegebenem Tatbestand der Standardverletzung das Vorliegen bzw. Nicht-Vorliegen von Rechtfertigungsgründen thematisieren. Die Zurückweisung der negativen Bewertung geschieht in der Regel durch Verweis auf ein schützenswertes Gut, von dem der sich Rechtfertigende annimmt oder hofft, dass sein Wert von der polemischen Instanz zumindest im konkreten Fall als höher eingeschätzt wird als das, das durch das vorgeworfene Verhalten verletzt wurde. Im Zitat von Lessing liegt der Rechtfertigungsgrund in dem Prinzip, nach dem gerechterweise Gleiches mit Gleichem vergolten werden dürfe (Kapitel 5.6.2), bei Börne und Kerr ist es das Wohl des Gemeinwesens (Kapitel 5.6.2), das bei Börne eine Verletzung des Prinzips der Waffengleichheit, bei KenAngriffe auf die Person rechtfertigen soll.

108 4.3.4.5 Um Verständnis bzw. Zubilligung mildernder Umstände bitten Beispiele: Diesen Umstand wolle denn auch der gütige Leser, indem er sich einige meinen Gemüthszustand während dieser Arbeit versetzt, mir zu einiger gereichen lassen, wenn ich, unter solchen Bewegungen, den ruhigen Ton, welcher dem gesetzten, seine Unschuld darthuenden Mann nur nicht immer so behaupten konnte (Campe 1789/1993, 34).

Augenblicke in Entschuldigung und affectlosen allein geziemt,

Gleich darauf kam Hoffmanns zweytes Heft an das Licht; darin stand nun eine schändliche Lüge von mir, und das verleitete mich, nicht nur in öffentlichen Blättern, sondern auch an einigen Stellen in diesem Buch über Aloisius Hoffmann und sein Journal mehr Worte zu verlieren, als diese unwürdigen Gegenstände werth sind. - Der Leser wird das gütigst verzeihen (Rnigge 1792, IV). A l s ich das Wortregister zum druck zu ordnen begann, brach der krieg aus. In einer zeit der stärksten seelenerregung mußte ich die gedanken, die an die schicksale des Vaterlandes gebannt waren, zur kleinarbeit an einem register zwingen. Zu dieser entsagung mochte meine kraft nicht ausgereicht haben, oder auch, mein temperament war nicht dazu geschaffen (Ehrismann 1920). Ü b e r die psychologische Motivierung, die E h r i s m a n n schließlich diesen Verfehlungen zuteil werden läßt, die seelenerregung der kriegszeit, widerstrebt es mir mit ihm zu rechten, denn ob man ein derartiges motiv als entschuldigung wissenschaftlicher verstoße gelten lassen will, ist eine geschmacksfrage. Indessen: Claudite jam rivos, pueri: sat prata biberunt (Leitzmann 1 9 2 0 , 4 9 6 ) .

Rechtfertigungen einerseits und Bitten um Verständnis andererseits ist gemeinsam, dass der Schreiber zugibt, eine Norm verletzt zu haben, und diese Norm, indem er sich rechtfertigt bzw. um Verständnis bittet, zugleich als geltend bestätigt. Der Unterschied ist, dass es für die Rechtfertigung einen verallgemeinerbaren Rechtfertigungsgrund gibt, der wiederum als Norm beschreibbar ist, während die Bitte um Verständnis oder um Zubilligung mildernder Umstände ersatzweise eintritt, wenn ein solcher Grund nicht auffindbar ist. Der Schreiber macht stattdessen besondere Umstände geltend, die seine Verantwortlichkeit abschwächen und die urteilende Instanz dazu bewegen können, dem Normverletzer mildernde Umstände zuzubilligen. Groeben u.a. (1990-1992, V, 45) nennen solche Sprechakte Entschuldigungen und betrachten sie als „Urteilsmodifikationen [...] die das Vorliegen bzw. Nicht-Vorliegen von .mildernden Umständen' oder Schuldausschlußgründen thematisieren". An erster Stelle steht in dieser Hinsicht die Affektbelastung (Kapitel 5.3.4 u. 5.6.5), wofür die Beispiele Campe (1789) und Ehrismann (1920) stehen. Knigge (1792) entschuldigt sich dafür, das Publikum mit irrelevanten Gegenständen zu behelligen (Kapitel 5.1.1 bzw. 5.2.1). Die polemische Instanz mag sich - ohne die Angabe besonderer Umstände - auch damit begnügen, dass der Regelverletzer mit seiner Bitte um Verständnis ja auf jeden Fall die Norm bestätigt.

109 4.3.4.6

V o r w u r f akzeptieren: Schuld b e k e n n e n / u m V e r z e i h u n g bitten

Beispiele: Insbesondere fühle ich mich einem jüngeren fachgenossen verbunden, der mir vor kurzem folgenden verweis zu erteilen geruht hat: „Scherer scheint es für seine Pflicht zu halten, Lachmann und Müllenhoff in der weise zu folgen, wie dieselben einen unbequemen gegner gelegentlich ohne namensnennung mit einer verächtlichen seitenbemerkung abfertigen." Ich sehe ein dass ich ein arger sünder bin, und wie beschämend dass meine Schändlichkeit nicht einmal originell ist, dass ich mir die mittel der bosheit, welche ich anwende um brave gelehrte zu ärgern, sogar von Lachmann und Müllenhoff erborgen muss, vielleicht aber hat der geehrte junge gönner die gnade, ein wort der Verteidigung anzuhören, das mein vergehen in einem etwas milderen licht erscheinen lassen wird (Scherer 18751876, 462). An erster Stelle möchte ich Ihnen zustimmen, wenn Sie vermuten, daß manche unserer Mißverständnisse wenig substantieller Natur sind, sondern auf die unterschiedliche Sicht- und Ausdrucksweise zweier Disziplinen zurückgehen. Dies wurde noch dadurch unnötig verschärft, daß ich, nachdem ich schon einmal in polemischen Schwung geraten war, auch einige Seitenhiebe austeilte, die für den Gedankengang unerheblich waren. [...] Kurz, ich habe Ihren Tadel verdient und kann mich nur damit trösten, daß Sie den in Rede stehenden Fehler nach wie vor auch bei Linguisten konstatieren (Scheerer 1981, 119f.). Ich entschuldige mich hiermit gleich bei Ludwig Jäger für das erfolgte Revanche-Foul; „die internationale naturwissenschaftliche Forschung", die sich „des Geistes und der Sprache [...] bemächtigt", hat für mich einen unangenehmen Anklang an das internationale Kapital oder ähnliche Formulierungen 2 6 (Habel 1993, 265). In diese Kategorie gehören Schuldbekenntnisse ohne W e n n und Aber. Fritz/ Hundsnurscher (1975, 99) sprechen von „Akzeptierung des Vorwurfs in toto", Schank/Schwitalla (1987, 126) nennen die Handlung (volles) Eingeständnis. Solche Schuldbekenntnisse ohne rechtfertigende oder entschuldigende Relativierungen sind als Reaktionen auf Angriffe in der polemischen Metakommunikation höchst selten. D a s ist auch leicht verständlich. A b g e s e h e n davon, dass man sich normalerweise scheut, die Berechtigung einer öffentlichen Kritik einfach zu bestätigen, gibt es für fast j e d e s Fehlverhalten g e w i s s e Möglichkeiten der Entschuldigung oder zumindest der Erklärung, die ersatzweise entschuldigend wirken kann. Warum sollte man freiwilllig auf diese Möglichkeiten verzichten? A u c h sind polemische Angriffe sogar dann, w e n n sie auf unfaire persönliche Anspielungen weitgehend verzichten, w e g e n ihrer Tendenz zur Zuspitzung und

26

Das Revanche-Foul, für das sich Habel entschuldigt, ist der von ihm kurz zuvor gebrauchte Ausdruck besitzende Klasse im folgenden Passus: „Was Jäger hier ausdrückt, scheint - (vielleicht über-) pointiert formuliert - das folgende zu sein: Die Sprachwissenschaftler - who ever that may be - bestimmen, wie über den Erkenntnisgegenstand zu forschen ist; wenn andere Disziplinen sich ebenfalls diesem Forschungsbereich widmen wollen, haben sie sich dem von der besitzenden Klasse, den Sprachwissenschaftlern, akzeptierten Methoden anzupassen" (Habel 1993, 265).

110 Übertreibung immer selbst kritisierbar, so dass der, dem etwas vorgeworfen wird, fast immer die Möglichkeit hat, das vom Gegner gezeichnete Bild retuschierend wenigstens aufzuhellen. Um so auffalliger sind die Fälle, wo der Angegriffene in der Tat den Vorwurf auf sich sitzen lässt und sich wie Bürger nach einem ersten zaghaften Versuch der Gegenwehr gegen Schillers scharfe Kritik (1791 a u . b) einer „freiwilligen Pacification" (Hinderer 1986) unterzieht. Im Untersuchungsmaterial gibt es keine überzeugenden Beispiele; die zitierten Äußerungen sind Grenzfälle. Scherers Schuldbekenntnis ist unernst-ironisch; außerdem fahrt er mit einer Bitte um mildernde Umstände fort. Die beiden anderen Beispiele (Scheerer 1981, Habel 1993) stammen aus Texten mit sehr geringer polemischer Energie, und sogar in ihren Äußerungen sind, wenn es sich auch nicht um Bitten um Verständnis handelt, mildernde Umstände angesprochen.

4.4

Exemplarische Analyse: Hoff contra Gutzkow 1839

Die Analyse einer Auseinandersetzung zwischen dem Mannheimer Buchhändler und Verleger Heinrich Hoff und dem jungdeutschen Schriftsteller Karl Gutzkow um die Jahreswende 1838/39 soll die Intensität der polemischen Metakommunikation und die im Streiten über das Streiten vorkommenden normbezogenen Sprechakttypen, die bisher isoliert benannt worden sind, im Textzusammenhang veranschaulichen. Der Streit entzündet sich an einem Aufsatz Ueber Preisherabsetzungen im Buchhandel, den Gutzkow im Telegraph für Deutschland im Dezember 1838 veröffentlicht (= Text 1). Hoff, der sich persönlich von Gutzkow angegriffen fühlt, antwortet im Januar 1839 im Intelligenzblatt der Zeitung für die elegante Welt vom 26. 1. unter dem Titel Wie Herr Gutzkow über Preisherabsetzungen im Buchhandel faselt (= Text 2). Daraufhin meldet sich Gutzkow erneut im Telegraph mit einer Abfertigung des Buchhändlers Hoff zu Wort (= Text 3). Hoff findet einen Mitstreiter in dem anonym bleibenden Autor der Schrift Glossen eines alten Buchhändlers über ein Thema eines jungen Schriftstellers, die in Fortsetzungen in den Nummern 5-8/1839 des Organs des deutschen Buchhandels gedruckt wird (= Text 4). Diese Schrift besteht nach einigen orientierenden Hinweisen auf das, worum es sachlich geht, aus dem wiederabgedruckten ersten Artikel Gutzkows (Text 1), der in 27 Anmerkungen von dem alten Buchhändler fortlaufend kommentiert wird. Der Umfang der Anmerkungen beträgt insgesamt mehr als das Fünffache des glossierten Textes. In der ersten Anmerkung spricht der Autor nicht selbst, sondern druckt stattdessen die erste Entgegnung von Hoff (Text 2) ab. Nach dieser Schützenhilfe antwortet Hoff Ende Februar 1839 auf die Abfertigung Gutzkows (Text 3) mit einer selbständigen Schrift im eigenen Verlag: Karl Gutzkow und die Gutzkowgraphie. Ein gemüthliches Literaturbild [...] (Text 5), in die er die gesamte Vorgeschichte in Gestalt der Texte 1 - 4 integriert.

Ill Hoff beginnt diese Schrift mit einigen einfuhrenden Bemerkungen (3-11) zu Gutzkow, seiner früheren Beschäftigung mit dem Buchhandel und seiner jüngsten Schrift Ueber Preisherabsetzungen [...], die wegen ihrer persönlichen Angriffe als Anlass fur die vorliegende Schrift identifiziert wird. Die Verteidigung übernimmt er jedoch nicht selbst, sondern druckt zunächst stattdessen (11-37) die Glossen eines alten Buchhändlers aus den Nummern 6 und 7 des Organs des deutschen Buchhandels (Text 4) nach.27 Wie schon erwähnt, enthielten diese Glossen ihrerseits die Texte 1 und 2, die auf diese Weise in Text 5 also den zweiten Wiederabdruck erfahren. Auf S. 38 nimmt Hoff wieder kurz das Wort, rückblickend auf den Text des Buchhändlers und das Folgende ankündigend. Dieses besteht aus dem Wiederabdruck der Gutzkowschen Abfertigung (Text 3), die Hoff mit 41 „gemüthlichen Anmerkungen" (38) versieht (39-60). Es folgen (6176) einige bislang unveröffentlichte Erläuterungen Hoffs zu seinem von Gutzkow kritisierten Verhalten gegenüber dem Schriftsteller Jerrmann und eine chronologische Darstellung der Schriftstellerexistenz Gutzkows. Den vorläufigen Abschluss des Buches bildet der letzte Teil des Aufsatzes des Buchhändlers aus Nr. 8 des Berliner Organs (Text 4), der den Schluss des ersten Gutzkowschen Textes mit zwei Anmerkungen des alten Buchhändlers enthält. Hoff fugt diesen Text an, „da gerade beim Schluß dieses Bogens die Nr. 8 des Berliner Organs ankömmt, und hier sonst eine weiße Seite bliebe" (77). Ganz am Ende steht eine ironische Verlagsanzeige Hoffs, in der er sein von Gutzkow kritisiertes Verhalten gegenüber Jerrmann wiederholt und nun für Gutzkows früher von ihm verlegte Schrift Vertheidigung gegen Menzel einen „Parthiepreis" verspricht: Bei Abnahme von drei Exemplaren gibt es eines gratis. Wer den Beweis erbringt, dass er das Freiexemplar gelesen hat, bekommt auch das Geld für die drei bezahlten zurück. Auf der allerletzen Seite (der Bogen ist immer noch nicht voll!) bringt Hoff eine gleichfalls ironische Widmung „meinem Gönner, dem großen D. Gutzkow [...]" unter. - Soweit der Überblick über die zwischen Dezember 1838 und Februar 1839 ausgefochtene Kontroverse, die möglicherweise weitere Zeugnisse zeitigte, was jedoch unbeachtet bleiben soll. Ich kommentiere die Auseinandersetzung in der Abfolge der einzelnen Texte von Hoff und Gutzkow (ohne Text 4 des alten Buchhändlers) unter den in Kapitel 4 . 1 ^ . 3 angesprochenen Punkten: Unterscheidung der beiden Kommunikationsebenen (Ebene der Thematisierung eines Sachverhalts/metakommunikative Ebene der Thematisierung des kommunikativen Verhaltens), strategische Nutzung der Metakommunikation in der Verwirklichung der Textintention, Typen normbezogener Äußerungen und - im Vorgriff auf Kapitel 5 - Beispiele für die von Hoff und Gutzkow angesprochenen Normen. Text 1: Gutzkow macht sich in seiner Kritik an den Preisherabsetzungen durch die Verleger engagiert zum Sachwalter der Autoren und der Autorenrechte, die 27

Der erste Teil der Glossen, der in Nr. 5 erschienen war, bleibt ungedruckt und unerwähnt. Der Schluss aus Nr. 8 folgt nach Erscheinen am Ende von Hoffs Schrift.

112 durch willkürliche, d.h. ohne Absprache mit den Autoren vorgenommene Preisherabsetzungen verletzt würden. Er macht auf eine Reihe von Gefahren dieser sich verbreitenden Praxis aufmerksam, die in der kritisierbaren Neigung vieler Verleger begründet sei, Bücher und ganz allgemein Werke der Literatur als Ware wie jede andere zu betrachten. Abgesehen davon, dass Gutzkow die Preisherabsetzungen für Unrecht hält, seien sie fur die betroffenen Autoren auch persönlich demütigend. Für das Verhalten einer „zahllosen Menge anderer Verleger" (27) nennt er schon zu Beginn der Schrift namentlich drei Beispiele: Hoff in Mannheim, Wigand in Leipzig und Hoffmann in Stuttgart. H o f f u n d Wigand geraten in ein besonders schlechtes Licht, weil sie die erwähnten Preisherabsetzungen nicht wie sonst „aus finanziellen Rücksichten", sondern „aus persönlichen Motiven" (16f.) vorgenommen hätten, wobei Hoff noch schlechter wegkommt als Wigand. Der Vorwurf lautet, dass er eine Streitschrift des Schriftstellers Jerrmann, die er vor einigen Jahren verlegt hatte, „für 3 Kreuzer öffentlich ausbot und bei zwei Exemplaren, die der Käufer nehmen wollte, sogar fur 2 Kreuzer" (15), um sich an Jerrmann persönlich zu rächen, nachdem die beiden „aus Ursachen, die nicht hierher gehören" (ebd.), in Unfrieden geraten waren. Mit diesem Vorwurf, der neun Zeilen umfasst, beginnt der Artikel Gutzkows, und so kann durchaus der Eindruck entstehen, dass Hoffs Behandlung Jerrmanns der eigentliche Anlass fur Gutzkows Schrift war. Hoff und Jerrmann spielen aber im weiteren kaum mehr eine Rolle; nur einmal kommt Gutzkow auf sein Beispiel zurück. 28 Der polemische Bezug auf Hoff nimmt also, rein quantitativ betrachtet, einen geringen Teil des Artikels ein. Er besteht im wesentlichen aus einem polemischen Zug an einer ausgezeichneten Stelle, nämlich am Beginn der Schrift. Da mit Gutzkows Text eine polemische Auseinandersetzung initiiert wird, könnten metakommunikative Äußerungen im beschriebenen Sinn höchstens als Reaktionen auf antizipierte Vorwürfe vorkommen. So hätte Gutzkow z.B. seine namentliche Nennung Hoffs (und der anderen Verleger), die für die kritische Behandlung der Nachdrucke ja nicht unbedingt erforderlich war, rechtfertigend oder entschuldigend thematisieren können, um dem Verdacht vorzubeugen, es ginge ihm möglicherweise mehr um die Personen als um die Sache. Der Text enthält aber keinerlei derartige metakommunikative Kommentare. Text 2: In Bezug auf das von Gutzkow initiierte Thema, die Praxis einseitig verfugter Preissenkungen für Bücher, drückt Hoff Konsens aus, indem er zugibt, dass Gutzkow sich mit einer „wichtigen Angelegenheit" beschäftigt habe und dass Preisherabsetzungen etwas seien, dessen „Verderblichkeit und Schädlichkeit jeder verständige Buchhändler und überhaupt Jedermann einsieht" (17). Zwei Seiten später spricht er noch einmal von den „gegenwärtig leider so üblichen Preisherabsetzungen, die auch ich höchlich beklage" (19). Der gesamte weitere Text ist nun aber eine Reaktion auf die ersten beiden Sätze von Gutzkow in „Herr Hoff hat an Herrn Jerrmann sich eine Injurie erlaubt, und selbst Herr Wigand möchte nicht zu rechtfertigen sein, wenn auch [...]" (26).

113 Text 1, in denen Hoff als schlechtes Beispiel genannt worden war. Im Versuch, den Fall Jerrmann aus seiner Sicht aufzuklären, bestreitet Hoff weder die verbilligte Abgabe der Schrift Jerrmanns noch seinen Streit mit diesem als Hintergrund, argumentiert aber, dass sein Verhalten kein Beispiel für die von Gutzkow kritisierten Preisherabsetzungen sei: Der ganze Vorfall ist also nur eine allerdings sonderbare literarische Farce, ein eigenthümlicher nur durch die Umstände bedingter Fall, der sonst mit den gegenwärtig leider so üblichen Preisherabsetzungen, die auch ich höchlich beklage, gar keine Ähnlichkeit hat, und bei Erörterungen über diese Frage gar nicht in Betracht kommen kann (19).

So weist er die Deutung seines Verhaltens durch Gutzkow und dessen Vorwurf zurück, um ihm seinerseits vorzuwerfen, den Fall zu Unrecht als Beispiel für das allgemeinere Problem verwendet zu haben. Mit diesen Passagen begründet er seine Eingangsthese, Gutzkow habe „sehr unklug und täppisch gehandelt, diese literarische Anekdote, seinen Freund Jerrmann betreffend, [...] mit zur Grundlage seiner Erörterungen über Preisherabsetzungen im Buchhandel zu machen" (17). Wiewohl diese Äußerung sicherlich im beschriebenen Sinne metakommunikativ ist, kann man zweifeln, ob die Feststellung, unklug und täppisch gehandelt zu haben, einen Normbezug hat oder ob sie nicht vielmehr abqualifizierende Funktion hat. Wer unklug oder täppisch handelt, tut dies eventuell irrtümlich (weil er es nicht besser weiß) oder aus einem Mangel an Intelligenz und Einsichtsfähigkeit. Ein so erklärtes Verhalten kann man zwar öffentlich behaupten, um die Person beim Publikum zu diskreditieren, man kann es aber kaum als Normverletzung vorwerfen. Der weitere Kontext zeigt jedoch, dass die Unklugheit in diesem Fall etwas ist, wofür Hoff Gutzkow verantwortlich macht; denn: „er konnte wohl wissen, daß diese Anekdote hierzu gar nicht paßt" (17). Und der folgende Satz ist dann ein klares Beispiel fur den Vorwurf einer Normverletzung. Hoff wirft Gutzkow vor, überhaupt auf einzelne Personen Bezug genommen zu haben („er hätte über diese wichtige Angelegenheit im Allgemeinen seine Meinung sagen können"), und unterstellt die bewußte Intention, die genannten Personen durch Persönlichwerden „bei dem Publikum und der Gelehrtenwelt verdächtigen zu wollen" (17). Dem Vorwurf Gutzkows, er, Hoff, habe sich „an Herrn Jerrmann eine Injurie erlaubt" (19), begegnet Hoff seinerseits, indem er die Deutung seines Verhaltens als Injurie und damit als Normverletzung akzeptiert, sich aber mit dem „Retorsionsrecht" auf einen bekannten, sogar rechtsfÖrmig anerkannten Rechtfertigungsgrund beruft (vgl. Kapitel 5.6.2). 29 Der Text enthält noch einige weitere, nicht direkt auf die strittige Einschätzung des Falles Jerrmann bezogenen Ausfalle gegen Gutzkow, die diesen als Schriftsteller allgemein herabsetzen, mit denen aber nicht ohne weiteres auch Normverletzungen thematisiert werden.

„Und was kümmert es Herrn Gutzkow oder das, was er die Literatur nennt, wenn ich nach dem Injurien-Retorsionsrecht Jemanden injuriire, der mich zuvor injuriirt hat" (19).

114 Betrachtet man den gesamten Text, so fallt die Diskrepanz zwischen Titel und Inhalt ins Auge. Der Titel Wie Herr Gutzkow über Preisherabsetzungen im Buchhandel faselt, suggeriert, dass sich Hoff kritisch mit Gutzkows Auffassungen über die Preisherabsetzungen im Buchhandel beschäftigt. Zu diesen hat aber Hoff (s.o.) kaum Kritisches zu sagen. Die Entgegnung betrifft fast ausschließlich das nach Meinung Hoffs zu Unrecht gewählte Beispiel. Das strittige Thema verschiebt sich also schon von Text 1 zu Text 2 von Preisherabsetzungen im Buchhandel zu Fall Jerrmann und seine Beurteilung. Es entspricht jedoch einer verbreiteten Tendenz nach persönlichen Angriffen, das persönliche Interesse an einer öffentlichen Verteidigung eher zu verdecken. Dazu trägt der Titel bei. Die Tatsache, dass er auf den Angriff überhaupt antwortet, begründet Hoff ausdrücklich: Obschon nun eigentlich Karl Gutzkow dies nicht zu thun im Stande ist [Hoff beim Publikum zu verdächtigen], ich also dieser Rücksicht halber die Sache auf sich beruhen lassen könnte, so will ich doch, da sie einmal so zur Sprache gebracht ist und die betreffende Nummer des Telegraphen in Masse als Probeblatt ausgegeben wird, sie wenigstens ein Bischen aufklären, da ich bekanntlich nicht zu denjenigen Verlegern gehöre, die Bücher willkürlich herabsetzen und G. sich, um so an ihnen zu experimentiren, loo andere passendere hätte heraussuchen können (17).

Text 3: Der dritte Zug in der Auseinandersetzung ist Gutzkows Abfertigung des Buchhändlers Hoff in der das ursprüngliche Thema nur noch in einer kurzen rückblickenden Erinnerung präsent ist (41). Wenn Gutzkow nach einigen einfuhrenden Passagen (39-41) „Doch zur Sache" ausruft, so besteht diese Sache inzwischen, wie schon in Text 2, aus der Beziehung zwischen Hoff und Jerrmann, ihrem Zerwürfnis und der Preisherabsetzung der Streitschrift Jerrmanns durch Hoff. Im Schlussteil versucht Gutzkow die Behauptung Hoffs in Text 2, zu Unrecht mit den Preisherabsetzungen in Verbindung gebracht worden zu sein, zu widerlegen, indem er Hoff der Lüge bezichtigt und zum Beweis auf Laubes Sämtliche Schriften als Beispiel einer früheren Preisherabsetzung Hoffs hinweist (53f.). Ansonsten aber reduzieren sich die thematisierten Sachverhalte, besonders im umfänglichen Mittelteil, zunehmend auf Persönliches. Am deutlichsten ist das in der erneuten Darstellung des Falles Jerrmann, in der Gutzkow nun, nachdem Hoff seine Version ausgebreitet hat, seinerseits den Inhalt der ersten neun Zeilen seines ersten Textes auf zehn Seiten expandiert (41-51), ohne irgendwelche zusätzlichen Fakten zu haben. Trotzdem kündigt er seine Beschreibung als „Aufklärung" an, die er seinen Lesern schuldig zu sein glaube (41). Sein Material bekommt er, indem er sich die Verfeindung zwischen Hoff und Jerrmann, deren Ursachen ihm, wie er selbst zugibt, „unbekannt sind" (42), konkret vorstellt, diese seine Vorstellungen mit literarischen Anspielungen aufwendig ausschmückt und erfundene Dialoge zwischen Hoff und Jerrmann nutzt, um über ersteren Bösartigkeiten loszuwerden, die er Jerrmann in den Mund legt. Obwohl sich Gutzkow in diesen Passagen der Satire nähert, behält der Text, insgesamt betrachtet, eine argumentative Grundstruktur. Die strittigen Sachverhalte aber werden immer persönlicher und erweitern sich von der Kritik am Verhalten im

115 konkreten Fall tendenziell auf die Gesamtpersönlichkeit Hoffs in seiner beruflichen Rolle als Verleger. Gelegentlich finden sich Anspielungen auf die Person auch jenseits der beruflichen Rolle, z.B. der Bezug auf Hoffs Herkunft aus einer Konditor-Familie (46). Text 5: Eine analoge Zielrichtung hat Hoffs Broschüre Gutzkow und die Gutzkowgraphie, in der Hoff in den Teilen, die nicht Nachdrucke der Texte 1—4 sind, mit der öffentlichen Schriftstellerexistenz Gutzkows generell abrechnet, ebenfalls mit gelegentlichen Anspielungen auf die private Person. Die Broschüre soll über die Skizze der Grobstruktur hinaus (s.o.) nicht im einzelnen charakterisiert werden. Ich beschränke mich auf die normbezogenen metakommunikativen Äußerungen. Stark ausgeprägt ist der verallgemeinerte Vorwurf an Gutzkow, nicht an den Sachen interessiert zu sein, die er thematisiert, sondern sich vordringlich zu äußern, um Personen öffentlich zu diskreditieren. Dass dies ist der eigentliche Motor der „Gutzkowgraphie" ist, behauptet Hoff schon im ersten Satz der Broschüre, um es über den weiteren Text hin mit einer Serie von Beispielen zu belegen. 3 0 Er moniert nicht nur die Existenz personenbezogener Äußerungen (vgl. Kapitel 5.4.4), sondern unterstellt ausdrücklich auch die Intention, die Personen in der Öffentlichkeit diskreditieren zu wollen (vgl. Kapitel 5.3.2). Die Motivation dazu wird im Eigennutz des Schriftstellers gesucht (vgl. Kapitel 5.3.1). Besteht dieser zum Teil in der Befriedigung von Arroganz, Eitelkeit, Prahlsucht und verwandten Beweggründen, entdeckt H o f f hinter dem Wirken des Schriftstellers Gutzkow auch ökonomische Interessen, denen nicht zuletzt die absatzträchtige Skandalproduktion dient. 31 30

31

„Es ist eine widerliche und wahrhaft Ekel erregende Erscheinung, wenn ein begabter Mensch, der als Schriftsteller vor einer Nation auftritt, sein Talent fast ausschließlich dazu mißbraucht, Anderen schaden, sie herabsetzen und kränken zu wollen" (3). „Darum schreibt er über alle Fächer der Literatur und Kunst, über den Staat, über die Kirche, über die Ehe, über den Buchhandel etc., und will überall reformiren, und nach seinen Ideen einrichten, greift aber bei dieser Gelegenheit sehr häufig Personen an und beleidigt sie gewöhnlich in seinen sogenannten Kritiken auf die schmählichste Weise, weßhalb man ihn seit Jahren schon den ,Gamin' der Literatur getauft hat" (4). - „Seit dieser Zeit schrieb nun G. öfters über den Buchhandel, [...] und zwar stets mit Beziehung auf bestimmte Personen" (9). - „So brachte nun G. [...] einen Artikel über Preisherabsetzungen im Buchhandel', in welchem er, anstatt über die Sache vernünftig zu reden, wieder ziemlich rodomontirte, und anstatt Persönlichkeiten beiseite zu lassen, meiner Person, einer ganz eigenthümlichen Preisherabsetzung wegen, auf unpassende Art gedachte" (10). - „Elender, wer auf solch' heimtückische Weise verläumden will, für den hat unsere deutsche Sprache ein bezeichnendes Wort, ich brauche keinen Gedankenstrich dazu, man nennt ihn im gemeinen Leben einen Schurken" (45). - „Hier hat der edle Hr. Verfasser seine blausaure Bosheit concentriren und dem Kaufmann und Verleger durch die Angabe schaden wollen: die Laube'schen Schriften seien eines erschöpften Zustandes seiner Kasse wegen herabge[se]tzt worden, der aber lacht seiner Verläumdung" (55). „Wer G. und seine egoistischen Zwecke kannte, der wußte damals gleich, wodurch diese Betrachtungen in ihm entstanden waren", [nämlich durch die Überlegung], „auf

116 Eine andere Norm, die nicht nur, aber auch in polemischen Auseinandersetzungen eine große Rolle spielt, ist die Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit, die Forderung also, nicht wissentlich Unwahres zu sagen (vgl. Kapitel 5.4.3). Gutzkow hatte Hoff in seiner Abfertigung eine „offenbare Lüge" vorgeworfen, weil dieser behauptet hatte, „er hätte nie ein andres Buch im Preise herabgesetzt, als den ,Wisch' des Herrn Jerrmann" (53), obwohl H o f f doch, so Gutzkow, „vor einiger Zeit in allen Blättern H. Laubes sämmtliche Schriften zu herabgesetztem Preise angeboten" hatte (ebd.). Hoff dreht den Vorwurf im nächsten Schritt um, indem er den Lüge-Vorwurf Gutzkows selbst als eine Lüge zurückweist. 32 Später verallgemeinert er seinen Lüge-Vorwurf auf das ganze Gutzkowsche „Machwerk". Es schleiche „lahm und geärgert einher, ohne Witz und Verstand, nur Lügen von A - Z auftischend" (61). 3 3 In der Verteidigung des eigenen Verhaltens gegen geäußerte oder antizipierte Kritik bezieht sich Hoff neben der Zurückweisung von Vorwürfen mehrfach auf den Rechtfertigungsgrund, dass Gleiches mit Gleichem vergolten werden dürfe (vgl. Kapitel 5.6.2). Eine weitere Strategie besteht darin, sich auf das Gebot, sich im öffentlichen Streit nicht mit unbedeutenden Gegnern abzugeben (vgl. Kapitel 5.1.1), zurückzuziehen. In dieser Hinsicht manövriert sich Hoff allerdings selbst in eine Falle, weil sein Bestreben, Gutzkow dem Publikum als ein schriftstellerisches Nichts zu präsentieren, eine Erklärung herausfordert, warum er sich so aufwendig mit diesem Nichts beschäftigt und dem Publikum zumutet, dasselbe

32

33

welche Art er für seine Produktionen von den Buchhändlern das meiste Geld erhalten könne" (5). - „Ich, der ich Herrn Gutzkow genau von innen und außen kenne und durchschaue, weiß es zuversichtlich, daß hauptsächlich nur dies Motiv [das ist das eigennützige, ein gutes Geschäft zu machen] bei seinen damaligen Erörterungen ihn leitete" (7). - „Gutzkow gab das Blatt auf seine Kosten heraus (er hatte mittlerweile geheirathet und damit Vermögen erlangt), konnte aber trotz aller Anstrengungen nie über 150 Abonnenten bekommen und der Verlust fing schon an in die Tausende zu gehen. Da ergriff er den großartigen wirklich speculativeη Gedanken, die von ihm schon längst erfundene und practizirte Gutzkowgraphie zur Hebung seines Blattes zu benutzen. Die Gutzkowgraphie, eine edle ganz neue Schreibart, besteht nemlich darin, so arrogant und übermüthig als möglich zu schreiben, und in Kritiken und andern Aufsätzen bald diesen bald Jenen empfindlich und tückisch anzugreifen, so daß hier und da Einer sich verletzt fühlt, es nicht einstecken will, und ihm daher in einem öffentlichen Blatte antwortet. Das lesen die Leute und so wollen sie auch wieder lesen, was der Gutzkowgraph dagegen sagt, denn das Publikum liebt den Skandal und amüsirt sich daran" (69). Das sei „einfach eine Lüge", denn er habe „weder Laube's sämmtliche Schriften zu herabgesetztem Preise angeboten, noch ein einzelnes Werk von ihm, sondern nur für eine Anzahl seiner Schriften, die genau bezeichnet waren, zusammengenommen einen geringem Partiepreis gemacht [...]" (54). Als Beispiel dient etwas später, dass Gutzkow in seinem früheren Buch Zur Philosophie der Geschichte zu Unrecht behauptet habe, dieses Buch in der Haft ganz ohne Bücher geschrieben zu haben: „Hier hat nun der geehrte Verfasser dem lieben deutschen Publikum aus reiner Ostentation, Eitelkeit und Prahlsucht eine heillose Lüge aufgetischt. Er hat nemlich das Buch hier in seiner Haft geschrieben, und dabei im buchstäblichen Sinne des Wortes mitten in den Büchern gesessen, aus denen heraus er sein Werk schuf, ich selbst habe ihm diese Bücher besorgt [...]" (68).

117 zu tun. Eine Auseinandersetzung über das eigentliche Thema, so Hoff, lohne nicht, weil Gutzkow dazu nichts Relevantes zu sagen habe („unverdautes Gewäsch", „Unsinn", 38); eine Verteidigung gegen die persönlichen Anwürfe Gutzkows sei ebenfalls überflüssig, da ein Mensch wie Gutzkow ihm nicht schaden könne („so lachte ich darüber", 11; „ich werde darüber nur herzlich lachen", 20 u.ö.). Diese Einschätzungen vertritt er zudem nicht als individuelle Meinung, die er verbreiten möchte, sondern als etwas, was allen Fachleuten des Buchhandels, darüber hinaus allen vernünftigen Menschen und auch der Leserschaft seit langem bekannt sei: „Das Alles ist eine bekannte und längst abgehandelte Sache, bei der ich mich also gar nicht aufzuhalten brauche" (4). Gutzkow ist in jeder denkbaren Hinsicht ein Spatz! Wozu aber dann die Kanone?

5

Maßstäbe zur Bewertung kommunikativen Verhaltens

5.0

Einleitung

Textkorpus: Die Textsammlung, die Grundlage fur das Korpus metakommunikativer Äußerungen und damit fur die Analyse der in ihnen angesprochenen kommunikativen Normen ist (siehe die Liste der Primärquellen in Kapitel 8.1.1.2), besteht aus gut 250 Texten aus dem Zeitraum zwischen der Mitte des 18. Jahrhunderts (erster Text: 1735) und der Gegenwart (letzter Text: 2003). Teilt man den gesamten Zeitraum in Jahrzehnte ein, so zeigt sich, dass jedes Jahrzehnt mit mindestens einem Text vertreten ist. Es gibt, auch wenn die einzelnen Jahrzehnte ungleichmäßig besetzt sind, keine größeren zeitlichen Lücken in der chronologischen Abfolge. Das Medium ist generell die schriftliche Sprache. Ob und inwieweit die gefundenen Normen auch für mündliche Kommunikation gelten, ist innerhalb der Untersuchung nicht zu klären. Der Vergleich mit den Ergebnissen anderer Untersuchungen in Kapitel 6 legt allerdings nahe, dass die an schriftlichen Texten gewonnenen Ergebnisse nicht voll auf mündliche Kommunikation übertragen werden können. Das Textkorpus enthält nur Zeugnisse des öffentlichen Streits, und zwar überwiegend ausgetragen in periodisch erscheinenden Druckerzeugnissen (Tagesund Wochenzeitungen, Zeitschriften). Das Übergewicht der Periodika wird noch deutlicher, wenn man bedenkt, dass viele der selbständigen Veröffentlichungen in der Liste der Primärquellen ursprünglich auch in Periodika erschienen waren bzw. Sammlungen von Zeitungs- oder Zeitschriftenaufsätzen darstellen. In diesem Befund spiegelt sich das Faktum, dass die Periodika tatsächlich der bevorzugte Ort polemischer Auseinandersetzungen sind. Ob die Normen kommunikativen Verhaltens, die in öffentlichen Texten thematisiert werden, mit denen in privaten Streitfallen übereinstimmen, bleibt offen. Sicherlich aber darf man die an öffentlichen Texten gewonnenen Ergebnisse nicht unbesehen auf Kommunikation in privaten Kontexten übertragen. Hinsichtlich der verschiedenen gesellschaftlichen Kommunikationsbereiche stammen die Texte überwiegend aus Wissenschaft oder Publizistik bzw. bewegen sie sich auf einer Skala zwischen Wissenschaft und Publizistik. Nicht selten sind die Autoren Wissenschaftler, die ein größeres publizistisches Forum wählen, als es die Fachzeitschriften bieten, deren Horizont auf die wissenschaftsinterne Öffentlichkeit der jeweiligen Disziplin beschränkt ist. Trotz des Versuchs, das thematische Spektrum der Streitfalle möglichst breit zu halten, ist der „literarische" Streit, entsprechend der großen Aufmerksamkeit,

119 die ihm in der Sekundärliteratur traditionell gewidmet wurde, überproportional im Textkorpus vertreten. Hinsichtlich der Beteiligten besteht eine deutliche geisteswissenschaftliche bzw. feuilletonistische Schlagseite. Äußerungskorpus: Unmittelbarer Untersuchungsgegenstand in Kapitel 5 sind nicht die polemischen Texte, sondern eine Sammlung von ca. 500 metakommunikativen Äußerungen aus dem Textkorpus. Aus dieser Sammlung zitiere ich zu Beginn eines jeden Teilkapitels zehn Beispiele für die jeweilige Norm bzw. den Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund. Ein Textbeispiel besteht in der Regel aus einer metakommunikativen Äußerung eines Autors, manchmal aber auch aus zwei Äußerungen eines Autors oder aus zwei aufeinander bezogenen Äußerungen zweier Kontrahenten. Im Kommentar beziehe ich mich gelegentlich auf zusätzliche Äußerungen, die direkt im Text zitiert werden oder auf die ich verweise. 1 Die Gliederung der Teilkapitel in „Textbeispiele" und „Kommentar" mit der Frontstellung der Beispiele ermöglicht es, die Textbeispiele unvoreingenommen vor dem Kommentar zu lesen. Es lässt sich aber auch für die umgekehrte Reihenfolge argumentieren. Es dürfte nicht immer ganz einfach sein, in der unvorbereiteten Lektüre der Textbeispiele, die in verschiedenen Richtungen Interesse erregen können, zu erkennen, worauf es im jeweiligen Zusammenhang besonders ankommt, so dass sich beim Lesen der Beginn mit dem Kommentar und der Rückbezug auf die Beispiele als günstiger erweisen könnte. Die „Kommentare" enthalten in der Regel die folgenden Abschnitte: (A) Kurzbeschreibung eines Textbeispiels, (B) Erläuterung der Norm hinsichtlich ihres Inhalts und ihrer Begründung, der Beziehungen zu anderen Normen und gegebenenfalls Behandlung von Abgrenzungsproblemen, (C) Bezugnahmen auf die Norm in den Texten anhand der Textbeispiele (Äußerungstypen, Stellenwert im Streit), (D) Präsenz der Norm im Textkorpus und eventuelle Einschränkungen (Zurückweisungen der Norm, historische Veränderungen). Auf die vorangestellten Textbeispiele wird in den Kommentaren nur mit dem Namen des Autors und dem Jahr der Erstveröffentlichung (ohne Wiederholung der Seitenzahl) verwiesen. Formulierung der Normen und vorläufige Ordnung: Die Liste der Normen, wie sie sich in der Abfolge der Unterkapitel in Kapitel 5 darbietet, ist Ergebnis einer Analyse der metakommunikativen Äußerungen mit einer strikt rekonstruktiven Einstellung. Unterschieden ist - nach bestem Wissen und Gewissen - , was nach Die Verweise beziehen sich generell auf die Liste der Primärquellen (im Literaturverzeichnis 8.1.1.2). Da diese Liste chronologisch geordnet ist, muß man sich bei der Suche an der Jahreszahl der Erstveröffentlichung orientieren, die unmittelbar hinter dem Namen des Autors angegeben ist. Die zweite gibt gegebenenfalls das Erscheinungsjahr der späteren Ausgabe an, nach der zitiert wurde. Eine Ausnahme stellen die musiktheoretischen Schriften von Agricola, Belach, Marpurg, Mattheson, Triller und Sorge um die Mitte des 18. Jahrhunderts dar. Die aus ihren Werken zitierten metakommunikativen Äußerungen entnehme ich der Arbeit von Christine Wunnicke (1991).

120 Ausweis der metakommunikativen Äußerungen von den Schreibern als unterschiedlich erfahren wird (auch wenn der außerhalb stehende Betrachter in dieser oder jener Hinsicht Bedenken anmelden könnte). Zusammengefasst ist, was offenbar als Varianten des Gleichen begriffen wird (auch wenn man sich eine stärkere Differenzierung vorstellen könnte). Die Abstraktionsebene, auf der die Normen formuliert sind, entspricht also (mit Ausnahme der Kapitel 5.4.2 u. 5.4.6) dem Niveau, auf dem die Normen in den Texten thematisiert werden. Ergebnis eines vereinheitlichenden Eingriffs sind die Formulierungen der aufgefundenen Normen als Verbote. In vielen Fällen hätte man mit gleichem Recht auch komplementäre Gebote formulieren können. Statt: „Verfolge keine eigennützigen Zwecke" also: „Sei (uneigennützig) höheren Zwecken verpflichtet!" Mit den gewählten Verbotsformulierungen soll nicht ausgedrückt werden, dass in den Texten der Bezug auf die Normen vorwiegend in Form von Unterlassensforderungen realisiert würde. Bei manchen Normen stehen beide Möglichkeiten gleichberechtigt nebeneinander, bei einigen überwiegt die eine, bei anderen die andere. Für einige ist eine Doppelstruktur charakteristisch (z.B. „Halte dich an die Sache und werde nicht persönlich!"), die fur andere gerade nicht möglich ist, weil ein Gegensatz nicht vorhanden ist oder die direkte Alternative nicht gilt. So lässt sich die Norm, nicht zu lügen, nicht umstandslos in das Gebot, immer die Wahrheit zu sagen, umformulieren, da zwar gilt, dass alles, was jemand sagt, wahr sein sollte, aber beileibe nicht, dass er alles, was wahr ist, auch sagen solle. Eigenmächtig bestimmt ist auch die Reihenfolge, in der die Normen in Kapitel 5 abgehandelt werden, da sich aus der Metakommunikation selbst keine Abfolge für die Darstellung ableiten lässt. Über die unterschiedliche Reichweite der Normen, die ein Gliederungsprinzip sein könnte und im folgenden Kapitel diskutiert werden wird, machen die Kommunizierenden selbst kaum Aussagen. Die vorläufige Gliederung orientiert sich an den Faktoren der polemischen Situation und einer denkbaren Chronologie des Kommunikationsprozesses: Bevor man anfangt zu streiten, entscheidet man normalerweise, ob der Gegner oder das Thema den Streit lohnen, und auch, ob man in der Sache kompetent genug ist, um sich öffentlich darüber äußern zu können usw. Andererseits wäre es problematisch, der Gliederung entnehmen zu wollen, dass die Einstellungen und Intentionen des polemischen Subjekts (Normen 5.3.1-5.3.4) immer und unabänderlich festgelegt wären, bevor die Herstellung des polemischen Textes (Normen 5.4. und 5.5.) beginnt. Man darf sich also von der Gliederung auch nicht täuschen lassen.

121 5.1

Normen betreffend die Wahl des polemischen Objekts

5.1.0

Einleitung

Den drei in Kapitel 5.1 zu behandelnden Normen ist gemeinsam, dass sie die Wahl des polemischen Objekts betreffen und die Menge der akzeptablen Objekte einschränken. Da sie eng benachbart sind, ist es in Einzelfällen schwierig, sicher zu entscheiden, aufweiche der drei Normen in einer metakommunikativen Äußerung Bezug genommen wird.. Eine sorgfältige Analyse der klaren Fälle fuhrt jedoch zum Ergebnis, dass die Ausdrücke unbedeutend, unwürdig und wehrlos im Sinne der Titelformulierungen verschiedene Eigenschaften des potentiellen polemischen Objekts bezeichnen und dass auch die Begründungen für die drei Normen differieren. Schwierigkeiten bei der Zuordnung einzelner Äußerungen treten besonders dann auf, wenn das jeweilige polemische Objekt mehr als eine der drei Eigenschaften besitzt und deshalb mehrere Normen gleichzeitig verletzt werden oder wenn die Formulierung der metakommunikativen Äußerung nicht klar erkennen lässt, ob der Schreiber seinen Gegner als unbedeutend, wehrlos oder als unwürdig einschätzt.

5.1.1

Streite nicht gegen einen unbedeutenden Gegner

5.1.1.1 Textbeispiele Bahrdt 1790/1963 Und - wenn wir denn gleich wohl solche unbedeutende Wassertropfen in Ihren Augen wären, wie kommt es dann, daß Sie über uns so viel Aufhebens gemacht und gegen uns in Ihren Fragmenten geschrieben haben, wie ein beleidigtes Hökerweib? Warum folgten Sie denn dem Rathe der großen Männer nicht, und ließen die Wassertröpfchen in den Fluthen der unbedeutenden Dinge ruhig dahin fließen? (88)

Knigge 1792 Gleich daraufkam Hoffmanns zweytes Heft an das Licht; darin stand nun eine schändliche Lüge von mir [gemeint: über mich], und das verleitete mich, nicht nur in öffentlichen Blättern, sondern auch an einigen Stellen in diesem Buch über Aloisius Hoffmann und sein Journal mehr Worte zu verlieren, als diese unwürdigen Gegenstände werth sind. - Der Leser wird das gütigst verzeihn. (IV)

Heine 1830/1964 Wer mir vorwerfen möchte, daß ich den Grafen Platen zu wichtig nehme, der gehe nach Paris und sehe, wie sorgfältig der feine, zierliche Cuvier, in seinen Vorlesungen, das unreinste Insekt mit dem genauesten Detail schildert. (V, 312)

122 Rüge 1847/1976 Es schickt sich nicht, über einen Mann zu siegen, dessen Existenz man dem Publikum erst beweisen muß. (224) Holz 1900 Es hiesse, dieser Sorte, die sich heute, Goethe im Maul und Mikosch im Herzen, in Alles mengt, und zwar in Jedes, wie das Exempel wieder lehrreich belegt, um so dreister, je kläglich weniger sie davon versteht, selbstverständlich zu viel Ehre anthun, wenn man sich auch nur einen Einzigen aus ihr langte und ihn unter die Douche hielte. Die Sekte wird doch nicht alle. Und so habe ich denn natürlich auch dieses Exemplar hier nur angeführt, nicht, um mit ihm zu verfahren wie verdient, sondern nur als Dokument, als charakteristisches Belegstück [...]. (61) Bartels 1908 Der genannte dritte Artikel, der abermals in der deutschen „Literaturzeitung" erschien (Mai 1907) und „Adolf Bartels als Literaturhistoriker" betitelt ist, mag wohl das Böseste sein, was je unter wissenschaftlicher Maske (denn die Kerr und Genossen rechne ich nicht zur Wissenschaft, sondern zum Zirkus) gegen mich geschrieben worden ist, und so muß ich denn leider das Interesse meiner Leser noch ein bißchen länger für die Persönlichkeit des Herrn Dr. Harry Maync, Professors in Bern, wach zu erhalten versuchen, [...]. (165) Kraus 191 l b / 1 9 6 2 Sie mögen bedenken, daß mir meine polemische Laune nicht so leicht zu verderben ist, denn während andere Polemiker sich dadurch beliebt machen, daß ihnen der Atem ausgeht, regt mich das Fortleben meiner Objekte immer von neuem an. Sie mögen bedenken, daß ich die Großen bis zu den Schatten verfolge und auch dort nicht freigebe, aber auch schon manchem kleinen Mann den Nachruhm gesichert habe. (123) Rilla 1948 Der Fall Lüth ist unbeträchtlich. Unbeträchtlich ist, daß ein Dilettant der Meinung sein kann, eine Literaturgeschichte geschrieben zu haben. Nicht unbeträchtlich ist, daß der Papierwust, den Lüth für eine Literaturgeschichte hält, in zwei Bänden gedruckt und auf den Markt gebracht wurde. [...] Unbeträchtlich ist der Fall Lüth. Aber beträchtlich sind seine Perspektiven. Der Symptomatologe ist ein Symptom seiner Zeit. (14) Reich-Ranicki 1976/1979 Ein belangloser, ein schlechter, ein miserabler Roman. Es lohnt sich nicht, auch nur ein Kapitel, auch nur eine einzige Seite dieses Buches zu lesen. Lohnt es sich, darüber zu schreiben? Ja, aber bloß deshalb, weil der Roman von Martin Walser stammt, einem Autor also, der einst, um 1960, als eine der größten Hoffnungen der deutschen Nachkriegsliteratur galt - und dies keineswegs zu Unrecht. (158) Laermann 1985 Nun gibt es sicher viele Hochschullehrer, die trotz recht geringer Kompetenz zu Amt und Würden gelangt sind. Doch die meisten von ihnen verhalten sich ruhig und erregen wenig Aufmerksamkeit in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit. [...] So hätte es auch dieser

123 Professor [Dietmar Kamper] halten können. Aber nein, er entfaltete eine atemlose Vortragsund Publikationstätigkeit. Daß er damit eine gewisse Resonanz zu finden scheint, will ich nicht verschweigen. Nur ihretwegen ist er von Interesse. Denn da ich ihn für nichtssagend halte, muß ich mich wohl fragen, woher sein Erfolg rührt und warum niemand ihm öffentlich sagt, daß er nichts zu sagen hat. (213f.)

5.1.1.2

Kommentar

(A) In Arnold Ruges Fehde mit dem „Volksphilosophen" Wilhelm Schulz, wieder abgedruckt in den Polemischen Briefen (Rüge 1847/1976), drückt Rüge sein Widerstreben aus, sich weiter mit Schulz auseinanderzusetzen, und begründet dies mit der Feststellung: „Es schickt sich nicht, über einen Mann zu siegen, dessen Existenz man dem Publikum erst beweisen muß" (224). Das ist eine kurze und präzise Paraphrase der hier zu besprechenden Norm. Rüge schreibt diesen Satz, adressiert an seinen Widersacher Schulz, in einem öffentlichen Brief vom 15. Mai 1847, der das siebte Zeugnis einer Kontroverse ist, die ca. neun Monate zuvor im Sommer 1846 mit Ruges Rezension eines Buches von Schulz begonnen hatte. Streitpunkt in den fortgeschrittenen Phasen der Auseinandersetzung war die öffentliche Behauptung Ruges, Schulz habe Anfang September 1839 bei seiner vorübergehenden, politisch bedingten Flucht aus Zürich seine Frau dort zurück- und damit im Stich gelassen. Daraufhin hatte Schulz im Januar 1847 eine öffentliche Ehrenerklärung gefordert und Rüge alternativ auf Pistolen gefordert. Da die Reaktion Ruges Schulz weder in der einen noch der anderen Richtung zufriedenstellte, kam es im April bzw. Mai zur nächsten Streitrunde, in der die zitierte Äußerung fiel. Die von Rüge ausgedrückte Einschätzung seines Gegners war und ist für ihn freilich kein Anlass, die Auseinandersetzung abzubrechen. Er rechtfertigt den öffentlichen Streit mit der Beispielhaftigkeit, die die Person seines Gegners trotz ihrer Bedeutungslosigkeit interessant macht. 2 (B) Verallgemeinernd kann man sagen, unbedeutend in der Formulierung der Norm 5.1.1 sei eine Person, deren Wirken für die Allgemeinheit bzw. für die jeweilige Teilöffentlichkeit nicht relevant ist, was von Fall zu Fall als unbekannt, ungefährlich, einflusslos o.ä. konkretisiert werden kann. Mit der Norm ist der Polemiker, wie übrigens jeder, der sich an die Öffentlichkeit wendet, aufgefordert, die polemische Instanz nicht mit Streitigkeiten zu behelligen, die keine Beachtung verdienen. Die Norm schützt somit in erster Linie den Adressaten und ist ein Ausdruck der Achtung des Publikums. Unübersehbar ist, dass sich die erforderliche Bedeutung des polemischen Objekts nur sehr zum Teil aus der Geltung ergibt, die die fragliche Person außerhalb 2

„Ich hatte dieß [den Beweis der Existenz] auch nicht im Sinn. Ich wollte Sie vielmehr als ein positives Beispiel verworrener Widersetzlichkeit gegen die Philosophie benutzen. Und da Sie sich freiwillig vordrängten und in der Augsburger Zeitung Ihre Frömmigkeit neben Ihrem burlesken Charakter zur Schau stellten, so mußte ich annehmen, daß Sie selbst sich in der Rolle eines frommen Harlekins gefielen" (Rüge 1847, 225).

124 der polemischen Auseinandersetzung in der zeitgenössischen Diskussion, also in der Realsituation hat, sondern wesentlich bestimmt ist von der Bedeutung, die das polemische Subjekt dem Gegner textimmanent zubilligt. Es ist der Polemiker selbst, der sich in Verfolgung seiner polemischen Ziele in einen Widerspruch hineinmanövriert, aus dem er metakommunikativ wieder herauszukommen versucht. Einerseits ist es sein Bestreben, den Gegner in den Augen der polemischen Instanz klein zu machen oder seine Bedeutungslosigkeit als schon allgemein bekannte zu behaupten. Andererseits erhebt sich, je entschiedener er sich von diesem Ziel leiten lässt, desto dringlicher die Frage nach der Angemessenheit des publizistischen Aufwands, den das polemische Subjekt dem Gegner angedeihen lässt. Es ist dieser Widerspruch, auf den Bahrdt (1790) mit einem argumentum ad hominem aufmerksam macht, der die metakommunikativen Bezugnahmen auf die Norm 5.1.1 insgesamt motiviert und beherrscht. 3 Engere Beziehungen bestehen einerseits zur Norm 5.1.2 („Streite nicht gegen einen unwürdigen Gegner"), andererseits zur Norm 5.2.1 („Streite nicht um Nichtigkeiten"). Der wesentliche Unterschied zwischen 5.1.1 und 5.1.2 besteht in den Werten, die die Normen begründen. Schützt die Norm im Falle von 5.1.1 das Publikum, so tritt in 5.1.2 die Selbstachtung des polemischen Subjekts an diese Stelle, weil der, der sich mit einem unwürdigen Gegner befasst, sich selbst beschmutzt. Die Tatsache, dass Knigge (1792) beim Leser Entschuldigung sucht, war ausschlaggebend dafür, die Textstelle beim (un)bedeutenden Gegner einzuordnen, obwohl Knigge selbst das Wort unwürdig verwendet. - Zuordnungsprobleme treten ebenfalls bei der Unterscheidung zwischen „unbedeutendem Gegner" und „unbedeutendem Gegenstand" auf (s. Kapitel 5.2.1); doch heben sie den Sinn der Unterscheidung nicht auf. Dies schon deshalb nicht, weil man, wie das Textbeispiel Reich-Ranicki (1976) veranschaulicht, Verstöße gegen die Norm „Streite nicht um Nichtigkeiten", ein unbedeutendes Buch beispielsweise, mit Verweis auf die große Bedeutung des Autors und damit auf Übereinstimmung mit der Norm „Streite nicht gegen einen unbedeutenden Gegner" rechtfertigen kann, eine Praxis, die eine Trennung der beiden Normen voraussetzt. (C) Explizite oder implizite Bezugnahmen auf die Norm 5.1.1, mit denen sich ein Angegriffener wie Bahrdt (1790) selbst gegen den Angreifer wehrt, sind selten. Der Grund dafür dürfte darin liegen, dass das Opfer einer Polemik, wenn es den Normverstoß des polemischen Subjekts kenntlich machen will, die ihm zuge3

Exemplarisch lässt sich das Dilemma an der Polemik des Mannheimer Buchhändlers Hoff gegen Gutzkow (Hoff 1839) studieren (vgl. dazu Kapitel 4.4), der arge Mühe hat, überhaupt eine Verteidigungsmöglichkeit gegen den Vorwurf der Verletzung der Norm 5.1.1 zu finden, weil er sich mit seiner extrem gehandhabten Strategie der Herabsetzung des Gegners fast alle Auswege selbst verstellt. - Zimmermann (1966, 342) stößt auf das gleiche Problem bei einem modernen Autor, Robert Neumann: „Neumann will seine Gegner als ,Würstchen' darstellen, die sich der Leser nicht klein, nicht harmlos, nicht lächerlich genug denken kann, so daß der Leser sich schließlich fragt: warum beschäftigt sich Neumann überhaupt mit ihnen? Diese Frage stellt sich auch dieser immer wieder."

125 sprochene eigene Bedeutungslosigkeit des Argumentes wegen zitierend oder referierend wiederholen und bedingt akzeptieren muss (siehe den Konditionalsatz bei Bahrdt). Der Normalfall sind vielmehr Sprechhandlungen, mit denen sich ein polemisches Subjekt gegen antizipierte Kritik verteidigt: Der Polemiker gibt zu, dass die Auseinandersetzung - zwar, eigentlich, oberflächlich betrachtet, einerseits - nicht lohne (damit befördert er das Ziel der Herabsetzung des Gegners), dass die öffentliche Kritik - aber, doch, genauer betrachtet, andererseits - aus bestimmten Gründen notwendig sei (damit befreit er sich vom möglichen Vorwurf der Verletzung der Norm). Die auf die Norm bezogenen Äußerungen können die Form einer Rechtfertigung annehmen: „X ist unbedeutend, aber aus bestimmten Gründen ist eine öffentliche Kritik trotzdem gerechtfertigt". Solche Rechtfertigungsgründe sind: (1) Der Gegner ist zwar als Individuum unbedeutend, steht aber repräsentativ fur einen Typ, für eine relevante Zeiterscheinung (Rüge 1847, Holz 1900, Rilla 1948). (2) Der Gegner ist nicht so unbedeutend, wie es in Hinblick auf den unmittelbaren Anlass scheint; er ist bedeutend in anderen Hinsichten oder wegen grosser Verdienste in der Vergangenheit (Reich-Ranicki 1976). (3) Der Gegner ist zwar wirklich unbedeutend, erfreut sich aber ungerechtfertigt eines großen Ansehens bei anderen Kritikern und in der Öffentlichkeit (Laermann 1985).4 Statt einer Rechtfertigung kann man auch die Zurückweisung des (antizipierten) Vorwurfs vorziehen: „X scheint unbedeutend, ist es aber in Wirklichkeit nicht". Der Schreiber behauptet in diesen Fällen mit oder ohne Angabe von Gründen, dass seine öffentliche Auseinandersetzung mit dem Gegner, recht verstanden, gar keine Normverletzung darstelle. Rechtfertigungen oder Entschuldigungen erübrigen sich dann. Knigge (1792) schließlich gibt die Regelverletzung zu, indem er sagt, er habe sich „verleiten" lassen, und bittet die Leser um Verständnis für das kritisierbare Verhalten mit dem Hinweis auf die vorangegangene, von seinem Gegner verbreitete „schändliche Lüge" über ihn. Es hätte ihm auch die Möglichkeit der Rechtfertigung offen gestanden, weil die Wiederherstellung der äußeren Ehre ein bekannter Rechtfertigungsgrund ist (vgl. Kapitel 5.6.1); er entscheidet

4

Zu diesen Rechtfertigungen vgl. auch Lamping (1986), der die Selbstrechtfertigungen der Kritiker in literarischen Verrissen untersucht hat und verallgemeinernd feststellt: „Die .Strategie der Herabsetzung' verlangt nach den Spielregeln des Verrisses zunächst eine Würdigung, nicht selten eine Erhöhung, die im Verweis auf die Bedeutung des betreffenden Autors oder seines Werks, zumal seine Popularität, sein Renommee oder seine Repräsentativität, liegt" (86). Friedrich Schlegel (zit. Specht 1986, 190), der der Polemik gegen Individuen in einem extrakommunikativen Zeugnis generell Kleinlichkeit zuschreibt, hält die Idealisierung des Gegners in jeder Polemik fur notwendig: „Es hat etwas Kleinliches, gegen Individuen zu polemisieren, wie der Handel en detail. Will er die Polemik nicht en gros treiben, so muss der Künstler wenigstens solche Individuen wählen, die klassisch sind und von ewig dauerndem Wert. Ist auch das nicht möglich, etwa im traurigen Fall der Notwehr: so müssen die Individuen, kraft der polemischen Fiktion, so viel als möglich zu Repräsentanten der objektiven Dummheit und der objektiven Narrheit idealisiert werden: denn auch diese sind, wie alles Objektive, unendlich interessant, wie der höheren Polemik würdige Gegenstände sein müssen."

126 sich aber für die Entschuldigung, genauer für eine Bitte um Verständnis. In der Äußerung von Bartels (1908) weist leider als Ausdruck des Bedauerns auch in die Richtung einer Entschuldigung, muss zur Identifizierung des Handlungszwangs aber in die Richtung einer Rechtfertigung. Zu beachten ist in diesem wie auch in anderen Kapiteln, dass die Thematisierung des eigenen oder des gegnerischen kommunikativen Verhaltens nicht immer die Aufgabe bekommt, eigene Normtreue und gegnerische Normverletzung zu beweisen, sondern auch andere Funktionen haben kann. So beweist die Aufwertung des Gegners durch Betonung seiner Bedeutung nicht nur Normtreue, sondern ist, worauf Stenzel (1986) hinweist, ein rhetorisch geschickter Schachzug in der Selbstdarstellung des polemischen Subjekts, weil ein bedeutender Gegner auch den Angreifer aufwertet: „David tritt nicht gegen Hinz und Kunz an, sondern gegen Goliath" (Stenzel 1986, 7). (D) Ausdrückliche Zurückweisungen der Norm, die ihre Geltung in Zweifel ziehen könnten, enthält das Korpus nicht. Auch gibt es keine deutlichen Indizien für historische Veränderungen. Nicht zu übersehen ist die ironisch-unernste Haltung in der Verteidigung gegen mögliche Vorwürfe, die Norm verletzt zu haben, in Heines Polemik gegen Platen (Heine 1830). Wörtlich genommen bemüht Heine das Argument, dass der Gegner nicht so unwichtig sei, wie es scheint, wie ja auch kleine Insekten der Beachtung wert sein können. Doch wird man nicht ernsthaft sagen wollen, Heine rechtfertige oder entschuldige eine Normverletzung. Er spricht die Norm an, setzt aber darauf, dass die polemische Instanz, von der Witzigkeit des Vergleichs betört, davon Abstand nimmt, sie einzuklagen. Die Äußerung von Kraus (1911b) andererseits steht in einer Spannung zu der Norm 5.1.1, gerade weil er sie nicht anspricht. Sein Selbstlob, schon manchem kleinen Mann den Nachruhm gesichert zu haben, würde sich vor dem Hintergrund der Norm 5.1.1 ja in einen Tadel verkehren müssen. Kraus verhält sich aber so, als gäbe es diese Norm gar nicht. Auffallig ist, dass es mit der Ausnahme von Reich-Ranicki (1976) immer darum geht, dem Vorwurf aus dem Wege zu gehen, sich mit nicht bedeutenden Menschen abzugeben. Die unprovozierte Erklärung, der Gegner sei bedeutend, ist demgegenüber selten, und es besteht sogar Grund zu fragen, ob die Umkehrung der Normformulierung zu der Handlungsaufforderung „Streite (nur) mit bedeutenden Gegnern" ohne Einschränkungen Gültigkeit hat. Es scheint nämlich auch nicht ganz ungefährlich, Personen polemisch anzugreifen, die in der öffentlichen Meinung am anderen Ende der Skala der Bedeutsamkeit angesiedelt sind, dort, wo sich die verehrenswürdigen Meister befinden.5 Entsprechende Vorwürfe

5

Faktisch sind es keineswegs nur die Schwachen, die das Opfer von Polemikern werden, sondern oft gerade die allseits Bewunderten und Geschätzten. Diesbezügliche Anfälligkeiten, z.B. bei Goethe oder Hegel, führt Rohner (1987) auf charakterologische Eigenheiten zurück. Es spielt aber auch die öffentliche Geltung eine Rolle. Gerade weil die Autoritäten als Autoritäten zeitweise der öffentlichen Kritik entzogen sind, ziehen sie

127 treffen z.B. Kritiker Lessings, Jacob Grimms und Darwins. 6 Trotzdem wäre es verfehlt, im Untersuchungszeitraum die Existenz einer Norm „Streite nicht gegen die großen Autoritäten" o.ä. zu unterstellen. Gelegentlichen Vorwürfen in dieser Richtung wird nämlich in der Regel auf grundsätzlicher Ebene widersprochen, sei es, dass dem Vorwerfenden seinerseits Autoritätsgläubigkeit vorgeworfen wird, sei es, dass der Kritik andere Motive, etwa Schulen- oder Cliqueninteresse, unterstellt werden. 7

früher oder später leicht polemische Angriffe auf sich, die sie vom Sockel zu stoßen versuchen. Nicht selten vollzieht sich in solchen Vorgängen ein Generationswechsel, „so weis man nicht, was man sagen soll, daß solche Embrionen von Kunstrichtern [gemeint Anton von Klein] die Bildsäulen grosser Männer [gemeint Lessing] mit Kot besprizzen, und Meistern ihrer Kunst, Schulhefte, die sie nicht einmal zur Helfte verdaut haben, vordeklamiren, und sie nach diesen Schulheften beurteilen dürfen" (Schink 1781, 374). - „[.. .] wenn er [Wurm] zum Ziele seiner Naseweisheit einen in thätigster Liebe und ununterbrochenen Verdiensten für sein Vaterland ergrauten, und von allen Mitlebenden mit seltener Pietät verehrten Mann nimmt, ohne ein Gefühl von der ihm diesen gegenüber gebührenden Stellung zu verrathen, den haben wir ein Recht, aus der Reihe ehrenhafter Männer zu streichen" (Zarncke 1853/1980, 193) - „Es ist uns in der Geschichte unserer Litteratur, auch wenn wir ziemlich weit bis in die Blütheperiode kritischer Ungezogenheit zurückgehen, kein Beispiel bekannt daß zwei der ersten Namen der Nation in einem Augenblick wo sie mit einem der schwierigsten litterarischen Unternehmungen hervortreten, auf eine so unwürdige und scurrile Art behandelt worden sind wie die Grimms von den HH. Sanders und Wurm. Beide Kritiker eifern viel gegen den Autoritätsglauben; sie liefern denn allerdings einen erschreckenden Beweis daß sie von dieser Schwäche frei sind" (Häusser 1854/1980, 2o5). „Als ich das erste Heft meiner kritischen Beleuchtung des Grimm'schen Wörterbuchs schrieb, hatte ich mir durchaus nicht verhehlt, wie meine Arbeit von allen auktoritätsgläubigen Philistern würde aufgenommen werden. Die päpstliche Unfehlbarkeit der Meister, auf deren Worte zu schwören sie einmal gewohnt sind, in Zweifel ziehen, das mußte ihnen als eine unerhörte Verwegenheit, als gräuliche Ketzerei erscheinen [...] Die Zeit [...], wo Bannstrahlen noch zündeten, wo Glaube und Auktorität mehr galten als Vernunft und Gründe, ist - hoffentlich auf immer - dahin. Mein Vertrauen hat mich nicht getäuscht, das Publicum hat meine Arbeit günstig aufgenommen [...]" (Sanders 1853, 3f.). - „Einen weiteren Vorwurf muß ich aber mit Entrüstung zurückweisen: ein Rezensent des Württ. Staatsanzeigers, noch dazu ein Theologe, sagt, ich hätte Darwin ,Fußtritte' versetzt. Was soll dies heißen? doch wohl: ich hätte Darwin persönlich beschimpft. Auf diese Weise soll natürlich dies Buch in den Augen der Leser wieder unmöglich gemacht werden. [...] Aber die Sache liegt ja natürlich so: Darwin gilt in den Augen vieler Leute geradezu als Heiliger, er ist absolut sakrosankt; sagt man etwas gegen seine Lehre, seinen Stil, gegen die Unklarheit seiner Definitionen, gegen das Schwankende in seinen Behauptungen, so hat man ihn persönlich angegriffen, ja, so hat man ihm sogar einen .Fußtritt' versetzt" (Dennert 2 1905, 5f.).

128 5.1.2

Streite nicht gegen einen unwürdigen Gegner

5.1.2.1

Textbeispiele

Liscov 1733/1806 Diejenigen, welche meine Schrift für ein Pasquill ausgerufen haben, verdienen zwar nicht, daß ich ihrer erwehne. Ihre Unbilligkeit und Einfalt fällt so sehr in die Sinne, daß ich nicht nöthig habe, mich gegen sie zu vertheidigen: und mich deucht, ich erweise ihnen schon zu viel Ehre, daß ich ihrer Meldung thue. Sie dürfen also nicht besorgen, daß ich sie so abfertigen werde, wie sie es verdienen. Ich habe aber ihre Lästerung nur darum nicht mit Stillschweigen übergehen wollen, damit ich Gelegenheit haben möchte, ihnen aus christlicher Liebe die wohlgemeinte Erinnerung zu geben, daß es ihrer Ehre sehr zuträglich seyn würde, wenn sie belieben wollten, sich auf ein andermal nicht so zu übereilen, und eine Schrift nicht eher für ein Pasquill auszugeben, als bis sie gelernet haben, was eigentlich dieses Wort für eine Bedeutung habe. (252)

Lessing 1754/ 3 1890 Sie sind der Gegner nicht, an welchem man Kräfte zu zeigen Gelegenheit hat. Ich hätte sie von Anfange verachten sollen, und es würde auch gewiß geschehen seyn, wann mir nicht Ihr Stolz und das Vorurtheil, welches man für Sie hatte, die Wahrheit abgedrungen hätten. (V, 260)

Müller 1788/1976 Freylich muß ich bey der Gelegenheit meine Feder und mein Papier wohl mit dem Namen Christian Gottlieb Schmieder's, der sein schändliches Wesen in Karlsruhe treibt, und mit ein und anderm eben so unrühmlichen Namen beschmutzen: aber das mag denn einmal drum seyn. Warum sollte man den Dieb nicht nennen mögen, so gut als wenigstens den ehrlichen Mann der ihm die Kehle zuschnürt? (9) Und nun werfe ich die Feder, mit der ich S.V. Schmieder's ehrlosen Namen so oft schreiben mußte, ins Feuer, wie ich den Handschuh wegwerfen würde in welchem meine Hand diesen verächtlichen Menschen berühret, oder den Stock mit dem ich ihn gezüchtiget hätte, und fahre in Emmerichs Geschichte fort. (106)

Fichte 1801 Zwar sehe ich bei diesem Unternehmen den Tadel zweier durchaus entgegengesetzter Parteien voraus. Zuvörderst den Tadel derjenigen, welche über Kunst und Wissenschaft im Wesentlichen mit mir gleich denken. Ihnen ist, so viel ich habe bemerken können, Nicolai ein so unbedeutender und verächtlicher Gegenstand, daß man in ihren Augen nur sich selbst herabsetzt, wenn man ihn einer Erwähnung und Beachtung würdigt. Sie haben vollkommen Recht, und ich bin ganz ihrer Meinung, wenn von Nicolai als von einer Person geredet werden sollte. Als Objekt aber, als vollendete Darstellung einer absoluten Geistesverkehrtheit ist er, meines Erachtens, dem Litterarhistoriker und Pädagogen wichtig, und so interessant, als dem Psychologen ein origineller Narr, oder dem Physiologen eine seltene Misgeburt nur immer seyn kann. (4)

Wetzel 1848 Natürlich verachten wir es, einen solchen Kampf für Wahrheit und Recht gegen Lug und Trug fortzusetzen. Wir fordern deswegen den Herrn Lieutenant nochmals auf, seine

129 Schmähungen zu beweisen, und erklären zugleich, daß wir es unter unserer Würde halten, hinfuro noch ähnliche, so gehaltlose und die Sache gar nicht berührende Erwiederungen [...] auch nur eine Sylbe zu antworten.

Schoder1848 Es kann mir, ohne mich zu beschmutzen, nicht einfallen, mich mit diesem Blatte, welches seine Würdelosigkeit durch den Artikel „Von den Schnupftüchern" in unzweideutiger Weise an den Tag gelegt hat, in eine Polemik einzulassen. Nur das glaube ich meiner Ehre schuldig zu seyn, die in dem Artikel aufgestellte Behauptung, als hätte ich einen Angriff auf Bassermann gemacht, obwohl ich von dessen Abwesenheit unterrichtet gewesen sey, als eine Lüge und die mit dieser Lüge in Verbindung gesetzte Verdächtigung als eine jenes unsauberen Blattes würdige Schmähung zu bezeichnen.

Grimm 1854 Zwei spinnen sind auf die kräuter dieses wortgartens gekrochen und haben ihr gift ausgelassen. alle weit erwartet hier eine erklärung von mir, ihnen selbst würde ich nie die ehre anthun eine silbe auf die roheit ihrer anfeindung zu erwidern. (LXVIII)

Schenkel 1854 Doch es ist wahrhaftig Schade um Zeit und Papier, die in einem solchen Schriftstreite verschwendet werden. [...] Nein, wahrhaftig, es ist genug, und meine Leser werden begreifen, weßhalb ich gleich von vom herein erklärt habe: nur auf Freundeswunsch hin hätte ich diese Zeilen geschrieben. (20f.) Wer als Philosoph den Freigeist, und als Religiöser den Gläubigen spielt: - der ist auch abgesehen von dem Schmähinhalte seiner Schrift - schon an und für sich nicht würdig, daß man sich in irgend einen Schriftstreit mit ihm einläßt; der hat sich selbst gerichtet. (22)

Kraus 191 lb/1962 Es geht denn doch nicht an, daß man auf einem sorgsam vorbereiteten Terrain nicht erscheint, den Gegner, den weder unsaubere Motive noch ein ehrloses Vorleben noch Namenlosigkeit kampfunwürdig machen, glatt im Stiche läßt und die Zuschauer nach Hause schickt. (122f.)

Stapel 1932 Ich stelle fest: „Die völkische Schule" verbreitet eine wider besseres Wissen geschriebene falsche Darstellung meines Vortrages. Mit einem so unehrlichen Polemiker schlage ich mich nicht herum. Es genügt, seinen Blödsinn vorzuzeigen. (163)

5.1.2.2

Kommentar

(A) Schoder, einer der württembergischen Abgeordneten in der Frankfurter Paulskirche, antwortet mit seiner Erklärung vom 27. Juli 1848, abgedruckt im Frankfurter Journal vom 29. Juli, auf eine ihn betreffende Äußerung in einem Artikel des Flugblatts aus der deutschen Nationalversammlung, Dieses Flugblatt war offenbar

130 keine einmalige Schrift, sondern ein Periodikum. In dem Artikel war ihm vorgeworfen worden, wissentlich einen Angriff gegen einen abwesenden Gegner, den Abgeordneten Bassermann, gerichtet und damit die Norm 5.1.3 verletzt zu haben. In seiner Entgegnung bekundet er die Absicht, sich mit diesem Blatt in keine Polemik einlassen zu wollen. Die Zurückweisung des seine Ehre vor allem beeinträchtigenden Vorwurfs, von der Abwesenheit unterrichtet gewesen zu sein, schafft ihm jedoch auch Raum für einige polemische Zuspitzungen. Dazu gehört der Hinweis auf den Artikel Von den Schnupftüchern, der mit dem Angriff auf Schoder nichts zu tun hat, die „Würdelosigkeit" des Blattes beim Leser aber als zusätzlicher Beweis zu bestätigen imstande ist. Polemischer Überschuss steckt auch im Vorwurf der Lüge im Dienst von Verdächtigung und Schmähung, weil Schoder mit dieser Anschuldigung - genauso wie zuvor der Gegner ihm gegenüber - die Möglichkeit des Irrtums von vornherein außer Betracht lässt. Das Motiv für die ursprüngliche Absichtserklärung, sich mit diesem Gegner in keine Polemik einlassen zu wollen, ist die Gefahr der Selbstbeschmutzung. (B) Werden mit der Norm 5.1.1 die unbedeutenden Menschen aus der Menge der akzeptablen polemischen Objekte ausgeschlossen, so mit der Norm 5.1.2 die unwürdigen; denn, wie Ayrenhoff (1782/1803, 121) es ausdrückt, „Was Verachtung verdient, ist ohnehin unter der Kritik". Unwürdig ist mit den Worten von Kraus sowohl der, der ein „ehrloses Vorleben" hat, als auch der, den beim Streit „unsaubere Motive" treiben, sowie, das wäre zu ergänzen, der reine Zänker, mit dem eine Auseinandersetzung sinnlos erscheint. Begibt sich der Streitende mit einem unwürdigen Gegner ins Handgemenge, läuft er Gefahr, sich selber zu beschmutzen oder sich selbst herabzusetzen. Die Auseinandersetzung mit einem Unwürdigen ist also eine Zumutung für das polemische Subjekt, während der unbedeutende Gegner vor allem eine Zumutung fur das Publikum ist. Die Entscheidung, ob jemand im Interesse des Publikums oder im Interesse des Polemikers als Gegner ausgeschlossen wird, ist wie die darauf beruhende Zuordnung konkreter metakommunikativer Äußerungen zu den Normen 5.1.1 und 5.1.2 nicht immer einfach. Sie kompliziert sich, wenn ein Polemiker es für unter seiner Würde hält, sich mit einem unbedeutenden Menschen abzugeben, so dass der Unbedeutende zugleich zu einem Unwürdigen wird, so wie Kraus (191 lb) ja auch „Namenlosigkeit" zu den Eigenschaften zählt, die kampfunwürdig machen. Auch die Äußerung Fichtes über Nicolai (Fichte 1801) ist ein Zweifelsfall. Er rechtfertigt die Beschäftigung mit Nicolai ganz ähnlich wie die Autoren in 5.1.1 damit, dass Nicolai nur scheinbar unbedeutend, in Wirklichkeit aber ein wichtiger und interessanter Fall sei - auch für das Publikum, ist anzunehmen. Als Problem war aber nicht die Irrelevanz für das Publikum genannt worden, sondern die Gefahr, dass der Kritiker „nur sich selbst herabsetzt, wenn man ihn einer Erwähnung und Beachtung würdigt" - und das ist die typische Begründung für den unwürdigen Gegner im Sinne von 5.1.2. Meist ist die Zielrichtung aber schon an den sprachlichen Formulierungen zu erkennen. In der Ausschließung des unwürdigen Gegners spielen neben verachten/verächtlich/ Verachtung erwartbar die Lexeme Ehre und

131 Würde (samt Ableitungen und Antonymen) eine große Rolle, während beim unbedeutenden Gegner selten die ausdrückliche Wendung ans Publikum fehlt, das ja in diesem Fall der Leidtragende ist. Für die Annahme zweier getrennter Normen spricht neben der Differenz in den geschützten Werten auch, dass die Verletzung der einen Norm mit Bezug auf die andere gerechtfertigt werden kann; so etwa, wenn man sich auf einen unwürdigen Gegner mit dem Argument einlässt, er sei bedeutend, z.B. im Sinne von .gefährlich fur das Gemeinwesen' (Kapitel 5.6.3). Wer zum allgemeinen Wohl den Augiasstall auszumisten unternimmt, wird eine eigene Beschmutzung nicht vermeiden können. (C) Bezugnahmen auf die Norm werden typischerweise so realisiert, dass das polemische Subjekt den Gegner mit dieser oder jener Begründung für unwürdig erklärt und die Absicht bekundet, von einer weiteren Auseinandersetzung abzusehen (Wetzel 1848, mit Einschränkungen Schenkel 1854), oder dass es sich auf ein absolutes Minimum an notwendiger eigener Ehrenrettung, Richtigstellung o.ä. zu beschränken verspricht (Schoder 1848, Stapel 1932) oder begründet, warum der Streit trotzdem fortgeführt wird (Liscov 1733, Lessing 1754, Fichte 1801, Grimm 1854). Liscov (1733) behauptet ironisch, seine Gegner aus christlicher Nächstenliebe über den wahren Sachverhalt belehren zu wollen. Lessing (1754) meint, den ungerechtfertigten Stolz und das gleichfalls ungerechtfertigte Ansehen seines Gegners korrigieren zu müssen. Grimm (1854) beugt sich widerwillig der allgemeinen Erwartung, dass er sich öffentlich zu den Angriffen der „zwei Spinnen", Wurm und Sanders, äußere, verschiebt die Verantwortung also wie Schenkel auf andere. Müller (1788) nimmt die eigene Beschmutzung ausdrücklich in Kauf (um den Dieb nennen zu können) und versucht sich durch symbolische Verbrennung der Schreibutensilien zu reinigen. - Vorwürfe an das polemische Subjekt, die Norm 5.1.2 verletzt zu haben, kommen im Material nicht vor. Sie sind unwahrscheinlich, weil der Betroffene - zumindest des Argumentes wegen - die Rolle des Unwürdigen ja selbst übernehmen müsste. Denkbar ist ein solcher Vorwurf im Munde von Dritten, wie die zeitgenössische Kritik an Jacob Grimms Erklärung im Vorwort zum Deutschen Wörterbuch (Grimm 1854) illustriert.

5.1.3

Streite nicht gegen einen wehrlosen oder schon geschlagenen Gegner

5.1.3.1

Textbeispiele

Heine 1830/1964 Indessen um, außer den sieben Weisen, noch einige Leser zu gewinnen, legte sich der Graf auf Polemik und schrieb eine Satire gegen berühmte Schriftsteller, vornehmlich gegen Müllner, der damals schon allgemein gehaßt und moralisch vernichtet war, so daß der Graf eben zur rechten Zeit kam, um dem toten Hofrat Örindur noch einen Hauptstich, nicht ins Haupt, sondern nach Fallstaffscher Weise, in die Wade zu versetzen. (V, 300)

132 Anon. 1836/1972 Ein altes Gesetz der Spartaner untersagte dem Sieger, einen fliehenden Feind zu verfolgen, und wenn auch diese Aeusserung antiken Geistes vor einem Gerichte von Kriegskünstlern keine Gnade finden dürfte, so wird doch Niemand das sittliche Prinzip darin verkennen, welches die Ehre des Kampfes an das Vorhandenseyn irgend eines Widerstandes knüpft. [...] Mag man nun über den Prozeß, den das angebliche junge Deutschland mit einer etwas bejahrteren Coterie gefuhrt hat, denken, wie man will, und schreiben, wie man darf, so wird man doch nur mit Unwillen den gehässigen Nachruf in das Grab des getödteten Gegners hören, wie er in den Organen oberwähnter Coterie, und namentlich in vorliegender Schrift ertönt. Mehr als Gemeinheit, etwas Bestialisches liegt in diesem Aufscharren und Anheulen der Todten. Ausgraben der Gebeine und Benagung der Leichname war von jeher das Vorrecht und Gewerbe der Hyäne. (II, 659f.)

Börne 1836-1837/1964 Hier aber muß ich ausdrücklich bemerken, daß ich als etwas Unedles, ja Gemeines, weit von mir abweisen würde, meine vorteilhafte freie Stelle dem Herrn Menzel gegenüber zu benutzen, wenn es sich bei ihm und bei mir nur um etwas Persönliches handelte. [...] Ich weiß, daß Herr Menzel nicht die Freiheit hat, die ich genieße, Grundsätze und Meinungen, die er bekämpfen möchte, sich in ihrer ganzen Breite ausdehnen zu lassen. Aber es handelt sich hier um nichts Persönliches, es betrifft die große Angelegenheit eines ganzen Volkes, und da wäre großmütige Zurückhaltung unzeitig, ja frevelhaft. (III, 894)

Anon. 1837/1972 Einverstanden mit dem Grundsatz, daß jedes schlechte Treiben schonungslos bekämpft werden müsse, wollen wir deshalb nicht rügen, daß die noch immer fortgesetzte Menzelsche Verfolgung der schon höherer Gewalt Unterlegenen nicht sehr ritterlich und edel mehr erscheint; [...]. (II, 661)

Vogt 1855/1971 Auch weiter mit ihm streiten oder ihn widerlegen zu wollen, fällt uns für die Zukunft nicht ein. Es wäre unehrenhaft, noch auf einen toten Gegner losschlagen zu wollen, und zum Überfluß warnt uns der Verfasser selbst davor durch seinen nicht unwitzigen Vergleich mit Falstaff. Jeder Versuch, sich über seine erwähnten Absurditäten zu rechtfertigen, würde für uns nicht das Zeugnis von einer neuen Lebensregung des Verfassers sein. Ein solches könnte höchstens mit einem Sichumkehren im Sarge verglichen werden. (548) Es gilt für eine alte Regel, daß man den Gegner auch nur da angreift, wo er sich verteidigen kann, Feder gegen Feder, Mund gegen Mund, Waffe gegen Waffe, daß man Wind und Sonne gleich teilt und fair play in allen Stücken walten läßt. Vor einer großen Versammlung, in einer öffentlichen Sitzung, wo nur Vorträge gehört und keine Diskussionen gepflogen werden können, griff Herr Wagner mich an, den Abwesenden, von dem er wohl wußte, daß er nicht erscheinen könne, um sich ihm gegenüber stellen zu können. (555)

Fischer 2 1870 Ich habe bei dieser ganzen Polemik dem Gegner den Vortritt gelassen und seine Angriffe gelegentlich und anmerkungsweise in Büchern beantwortet, deren Inhalt mit den Streitpunkten zusammenhing. Die Form der Brochüre ändert den äusseren Schauplatz des Streites und verlegt ihn sozusagen auf den offenen Markt. Ich habe diesen Schauplatz nicht gesucht und betrete ihn ungern, obwohl ich ihn nicht scheue. [...] Daher muss ich dem

133 Gegner auf die von ihm gewählte Rennbahn folgen und nun auch meinerseits anstelle des Buchs die Streitschrift treten lassen, damit Licht und Luft gleich getheilt sind. (5f.) Engels 1878/ 3 1971 Die Schrift ist eine Streitschrift, und ich glaube es meinem Gegner schuldig zu sein, da meinerseits nichts zu bessern, wo er nicht bessern kann. Ich könnte nur das Recht beanspruchen, auf Herrn Dührings Antwort wieder zu entgegnen. Was aber Herr Dühring über meinen Angriff geschrieben hat, habe ich nicht gelesen und werde es nicht ohne besondre Veranlassung lesen; ich bin theoretisch mit ihm fertig. Im übrigen muß ich ihm gegenüber die Anstandsregeln des literarischen Kampfes um so mehr aufrechterhalten, als ihm seitdem von der Berliner Universität schmähliches Unrecht angetan worden ist. Freilich ist sie dafür gezüchtigt worden. Eine Universität, die sich dazu hergibt, Herrn Dühring unter den bekannten Umständen die Lehrfreiheit zu entziehn, darf sich nicht wundern, wenn man ihr unter den ebenfalls bekannten Umständen Herrn Schweniger aufzwingt. (7) Kraus 191 lb/1962 u. 191 l d / 1 9 6 2 Sie mögen bedenken, daß mir meine polemische Laune nicht so leicht zu verderben ist, denn während andere Polemiker sich dadurch beliebt machen, daß ihnen der Atem ausgeht, regt mich das Fortleben meiner Objekte immer von neuem an. Sie mögen bedenken, daß ich die Großen bis zu den Schatten verfolge und auch dort nicht freigebe, aber auch schon manchem kleinen Mann den Nachruhm gesichert habe. (123) Es ist das Stärkste, was ich bisher gegen den Kerr unternommen habe. Gewiß, die drei Aufsätze haben einige Beachtung gefunden. Was aber bedeutet aller Aufwand von Kraft und Kunst gegen die spielerische Technik des Selbstmords? Gewiß, ich habe ihn in die Verzweiflung getrieben; aber er, er hat vollendet. Ich habe ihn gewürgt, aber er hat sich erdrosselt. Mit der wohlfeilsten Rebschnur, deren er habhaft werden konnte. Es ist mein Verhängnis, daß mir die Leute, die ich umbringen will, unter der Hand sterben. Das macht, ich setze sie so unter ihren Schein, daß sie mir in der Vernichtung ihrer Persönlichkeit zuvorkommen. (135f.) Tucholsky 1914/1975 Darf ich voranschicken, daß dies um Himmelswillen keine Polemik ist (die Leichenschändung wäre), und daß hier kein Feldzug gegen einen ungefährlichen Mann gefuhrt werden soll? Ich bitte, mich als Naturforscher ansehen zu wollen, als einen Ausgräber merkwürdiger Dinge, der streng objektiv seine Schmetterlinge, Käfer und Schlangen einregistriert. Und wenn er einmal ein Tier mit sieben Beinen erwischt, so sei es ferne von ihm, Gott zu lästern. Er lächelt nur freundlich und spricht leise das kurze, aber innige Gebet, welches so weise ist und einem über so viele Dinge hinweghilft: „Das gibts!" (225) Stapel 1930d u. 1930a Bosheit trieb diesen Juden [einen Redakteur der „Berliner Morgenpost"], um seiner Sklareks willen den Kaiser, der ihm nichts mehr tun konnte, mit Gemeinheit zu beschmutzen. (801) Meine Meuterei gegen den Dürerbund im Augustheft scheint man hier und da mißverstanden zu haben, als wollte ich den zu vier Fünfteln toten Dürerbund ganz tot machen. Nein, ich wollte nicht mit Kanonen auf Ruinen schießen. (804)

134 5.1.3.2

Kommentar

(Α) Der anonyme Rezensent (Anon. 1836) einer Broschüre von Samuel Gottlieb Liesching, in der dieser - ebenfalls anonym - gegen die Jungdeutschen zu Felde zieht, erinnert an „ein altes Gesetz der Spartaner", das es dem Sieger verbot, „einen fliehenden Feind zu verfolgen". Übertragen auf nicht brachiale Formen des Kampfes und über die Flucht hinaus erweitert, knüpft der Rezensent die Ehre des Kampfes „an das Vorhandenseyn irgend eines Widerstandes", das den Jungdeutschen nach dem Verbot ihrer Schriften durch den Deutschen Bundestag, zum Teil auch durch die Verhaftung verwehrt war. Auch der Anonymus von 1837 geht, gegen Wolfgang Menzel gewendet, davon aus, dass es „nicht sehr ritterlich und edel mehr erscheint", wenn man die „schon höherer Gewalt Unterlegenen" weiter verfolgt. Doch ist die Krtik bei ihm milder formuliert, und er findet in diesem Fall im Gebot, „daß jedes schlechte Treiben schonungslos bekämpft werden muß" (vgl. Kapitel 5.6.3), eine Rechtfertigung fur die Verletzung des Gebots der Ritterlichkeit. (B) Dieses „sittliche Prinzip" schützt, anders als die Normen 5.1.1 und 5.1.2, das polemische Objekt, das aus diesen oder jenen Gründen keinen Widerstand (mehr) leisten kann oder will. Dazu gehört der Fliehende, der als Fliehender zu erkennen gibt, daß er keinen Widerstand mehr leisten will; aber auch der Geschlagene, der mit Aussicht auf Erfolg keinen Widerstand mehr leisten kann (vgl. Heine 1830, Vogt 1855, 548, Tucholsky 1914a, Stapel 1930d) und schließlich auch der, der wegen Ungleichheit der Waffen im Austrag des Kampfes behindert ist (Börne 1836-1837, Vogt 1855, 555, Fischer 1870, Engels 1877), sei es, daß ihm die entsprechenden Waffen nicht zur Verfügung stehen, sei es, daß eine besondere Lebenssituation ihre Anwendung unmöglich macht (Börne, Engels). Engere Beziehungen zu anderen metakommunikativ thematisierten Normen bestehen nicht. Allenfalls wäre wieder die Norm 5.1.1 zu nennen, insofern als derjenige, der keinen Widerstand mehr leistet, zugleich auch zu den unbedeutenden im Sinne von 5.1.1 gezählt werden kann, so dass ein öffentlicher Angriff auf eine solche Person mit beiden Normen kritisiert werden könnte. Jedoch geschieht die Bewertung dann auf der Grundlage unterschiedlicher Werte. - Deutlich sind in den Textbeispielen dagegen Beziehungen zu ähnlichen Normvorstellungen in anderen Lebensbereichen. Da ist zunächst das (spartanische) Kriegsrecht, auf dessen begrenzte Übertragbarkeit auf den Krieg in modernen Zeiten der Anonymus von 1836 freilich selbst hinweist. Jedoch hat das Prinzip der im Federkrieg metaphorisch diskutierten Waffengleichheit im ursprünglichen Wortsinn durchaus Parallelen in den diffizilen zeitgenössischen Regelungen fur adlige und studentische Ehrenhändel und Duelle, auch wenn die Textbeispiele keine ausdrücklichen Anspielungen darauf enthalten. Vogt (1855) stellt mit „fair play", Fischer (1870) mit der „Rennbahn" Bezüge zur Welt des Sports her, Engels spricht von „literarischen Anstandsregeln".

135 (C) Im besonderen Fall fehlender Waffengleichheit kann der unfair Angegriffene die Norm in einem Vorwurf an das polemische Subjekt selbst einklagen (Vogt 1855, 555, 2. Zitat). Im allgemeinen ist das bei dieser Norm ungewöhnlich, weil ein Wehrloser, der sich wehrt, kein Wehrloser mehr wäre. Auch wird sich niemand gern als Geschlagenen präsentieren, nur um dem Gegner eine Normabweichung vorwerfen zu können. Häufiger sind einerseits Vorwürfe an ein polemisches Subjekt, das die Norm gegenüber einem Dritten verletzt hat (Heine 1830, Anon. 1836, Stapel 1930d), und andererseits metakommunikative Äußerungen, in denen das polemische Subjekt prospektiv oder retrospektiv sich selbst als jemand darstellt, der der Norm Folge leisten will oder geleistet hat (Vogt 1855, 1. Zitat; Engels 1877; Stapel 1930a, 1. Zitat; Tucholsky 1914) bzw. einen Normverstoß mit Verweis auf einen höheren Wert rechtfertigt (Börne 1836-1837). Fischer (1870) benutzt den Versuch, für sich selbst Waffengleichheit herzustellen, als Argument, um seine Antwort an den Gegner in Form einer Broschüre zu rechtfertigen. Stapel (1930, 2. Zitat) weist als einziger einen faktisch gegen ihn erhobenen diesbezüglichen Vorwurf zurück. Bei allen metakommunikativen Äußerungen, in denen Polemiker erklären, den Gegner schonen zu wollen oder geschont zu haben, ist wieder zu beachten, daß solche Aussagen nicht notwendig die Funktion haben müssen, vor der polemischen Instanz Normkonformität und Großmut zu beweisen. Häufig scheint eine zusätzliche oder sogar die primäre Funktion zu sein, öffentlich ausdrücken zu können, dass der Gegner geschlagen ist. In einem solchen Fall handelt es sich gar nicht um eine normbezogene Äußerung. (D) Die Textbeispiele setzen mit Heine erst 1830 ein und liegen insgesamt vornehmlich im 19. Jahrhundert. Daraus zu schließen, die Norm hätte nur vorübergehend im 19. Jahrhundert gegolten, wäre trotzdem voreilig. Eine systematische Suche könnte vermutlich auch für das 18. und das 20. Jahrhundert Belege beibringen. Man wird aber zumindest sagen können, dass die Betonung des Prinzips der Waffengleichheit in ihren verschiedenen Ausformungen in Texten des 19. Jahrhunderts vor dem Hintergrund der Bedeutung, die die Regelung von Ehrenhändeln in den adligen und akademisch-bürgerlichen Schichten damals hatte, nicht ganz zufällig ist. Eine gewisse Spannung besteht, über den ganzen Untersuchungszeitraum hin, zwischen der hier formulierten Norm und der verbreiteten Funktionsbestimmung, Polemik finde ihr Ziel in der Vernichtung des Gegners. Doch ist der Widerspruch, soweit eine solche Charakterisierung der polemischen Intention in extrakommunikativen Zusammenhängen geäußert wird, nur scheinbar. 8 Metakommu8

Vgl. etwa die Funktionsbestimmungen von Stenzel (1986, 6) oder Rohner (1987, 17ff.) Ähnlich lautende Zielbestimmungen findet man gelegentlich auch bei den Polemikern selbst, aber dann in privaten oder beschränkt öffentlichen Zusammenhängen, so wenn Lessing in einem Brief an den Bruder Karl vom 23. Juli 1778 schreibt, er werde Goeze „capot machen" (Lessing, Bd. 18 [1907], 227). Böttiger ( 2 1998, 421) berichtet ähnliches aus einem Gespräch mit Voß: „Denn das erklärte Voß laut, u. mit einer fürchterlichen

136 nikativ sind solche Funktionsbestimmungen nur dann mit der Norm kompatibel, wenn sie als Vorwürfe an den Gegner realisiert werden. 9 Es bleiben einige wenige Beispiele, in denen ein Polemiker metakommunikativ in der eigenen Selbstdarstellung die Norm zurückweist bzw. außer Betracht lässt. Unter den Textbeispielen gehört Kraus (191 l b u. d) dazu. Zwar kann man nicht sagen, dass Kraus die Norm ausdrücklich negiere. Sie wird ja gar nicht wirklich angesprochen, auch ist nicht ganz klar, ob wir uns seine Objekte notwendigerweise als wehrlose vorstellen müssen. Aber bei jemandem, der von sich sagt, er verfolge seine Gegner „bis zu den Schatten" und darüber hinaus, bleibt eigentlich kein Raum für irgendwelche Einschränkungen in der Bekämpfung des Gegners. 1 0

(?) Streite n i c h t g e g e n V e r s t o r b e n e In den zitierten Äußerungen ist verschiedentlich von Toten im metaphorischen Sinne die Rede (Voß, siehe Anm. 8, Heine 1830, Anon. 1836, Vogt 1855, Kraus 1911, Tucholsky 1914, Stapel 1930d), und da die biologisch Toten zweifellos die wehrlosesten sind und ihnen gegenüber seit altersher gelten soll: „De mortuis nil nisi bene", sollte man meinen, daß sie an erster Stelle aus dem Kreis der akzeptablen Gegner ausgeschlossen sein sollten. Entsprechende Vorwürfe in der extrakommunikativen Reflexion sind bekannt, 11 und es gibt auch in der polemischen

9

11

Festigkeit: er müsse Heyne tod machen. Der erste tödliche Pfeil soll die Sammlung mythologischer Briefe seyn. Der zweite (?) sei noch im Köcher" [Fragezeichen in der Textvorlage], Vgl. Moritz (1789b/1993, 69f.) gegen Campe: „So schreibt Herr Campe, nachdem er meinen guten Namen auf immer glaubt vernichtet zu haben, jezt von mir, und am 15. Jenner 1787 schrieb er mir selbst noch fast mit denselbigen Worten nach Rom, er werde einen Mann, dessen Nahmen ich verschweige, geradezu moralisch todtschlagen. Ich überlasse es nun einem jeden, der diese meine Schrift gelesen hat, zu entscheiden, in wiefern Herr Campe seine Kunst, die Leute moralisch todtzuschlagen, auch an mir versucht hat." Andere Vorwürfe dieser Art sind sprachlich ähnlich formuliert: „alle meine Ansprüche auf Verstand, Fleiß, Gefühl, Rechtschaffenheit, gute Sitten, bürgerliches Glück, edle Freunde, ja fast auf Menschlichkeit selbst, mit Einem Streiche zu vernichten" (Voß 1782, 215f.); „wissenschaftlich und sittlich todt machen" (Häusser 1854, 5); „mich, wenn immer möglich, moralisch zu vernichten" (Schenkel 1854, 3); „wenn man einen erschlagen will" (g. r. 1991). Ahnlich ist die Haltung von Arno Holz ( 2 1909, 91): „Sollten sie aber auf diesen Vorschlag, den ich, ich wiederhole, lediglich im Interesse unserer Nerven mache, von denen mir namentlich auch die meinen lieb sind, nicht eingehn wollen, - so gut, ,denn soll't mir ooch dadruf nich an kommen!' Dann wird's mir wohl oder übel ein Vergnügen sein, die letzten Rücksichten, die mich noch binden, fallen zu lassen und meine Klinge mit Ihnen zu kreuzen bis auf den letzten Blutstropfen. Ihren letzten Blutstropfen, verstehn Sie mich wohl, nicht meinen!" Sie treffen schon bei den Zeitgenossen Voß wegen seiner Polemik gegen den (sterbenden) Grafen Stolberg , Heine wegen der Denkschrift über Börne von 1840 oder v. Hartmann (1898) wegen der gleichfalls verzögerten Attacke gegen Nietzsche (vgl. v. Rahden 1984). Weitere Beispiele nennt Rohner (1987, 24).

137 Metakommunikation Zeugnisse, in denen die Frage der Zulässigkeit der Polemik gegen Verstorbene zumindest zum Thema gemacht wird. D e n n o c h lässt sich aus ihnen die generelle Wirksamkeit einer Subregel „Streite nicht gegen Verstorbene" nicht bestätigen. D i e Äußerungen ergeben ein widersprüchliches Bild. Einige Polemiker berufen sich auf die Notwendigkeit einer pietätvollen Rücksichtnahme gegenüber Verstorbenen im Sinne des Spruches „ D e mortuis ...", w a s auch polemische Angriffe ausschließen dürfte; 12 andere verneinen ausdrücklich einen besonderen Schutz Verstorbener. 13 Was die Zweifel an der Existenz einer N o r m „Streite nicht gegen Verstorbene" vor allem stärkt, ist die Beobachtung, dass es viele Polemiken gegen Verstorbene gibt, ohne dass dieser Sachverhalt von den 12

13

„Weniger, weil ich mich damit gegen Peter Hille richtete, mit dem ich persönlich keinen Verkehr pflegte, sondern - de mortuis nihil nise bene, aber Schlaf zwingt mich zu dieser Richtigstellung' - gegen Conradi" (Holz 2 1909, 50). - „In den Beitr. 42, 503-512 hat Leitzmann bemerkungen zu meiner ausgabe von Rudolf von Ems weltchronik veröffentlicht, die mich aus sachlichen gründen zu einer erwiderung nötigen. Über den verletzenden ton sehe ich weg. Schon gegen andere, würdigere ist er angeschlagen worden [...] und macht neuerdings auch vor verstorbenen nicht halt, selbst nicht vor der verehrenswerten gestalt Heinzeis [...]" (Ehrismann 1920, 268). - „Nachdenklich stimmt mich der besondere Ingrimm, mit dem Alice Schwarzer Frau Kelly bis übers Grab hinaus verfolgt - warum? Ich gebe unumwunden zu, daß ich Petra Kelly nie sonderlich gemocht habe. Aber Abneigung gegen eine lebende Person ist etwas ganz anderes als der Versuch, eine Tote mit allen journalistischen Mitteln zu diffamieren" (Bastian 1993, 80) Das Zitat von Holz ( 2 1909) spricht für die Existenz der fraglichen Norm, weil er es offenbar für nötig hält, Abweichungen zu rechtfertigen. Ehrismann (1920) hält den „verletzenden Ton" gegenüber Verstorbenen zumindest für schwerwiegender. Die Äußerung Bastians (1993) ist in seiner Aussagekraft schwer einzuschätzen. So wie er die Kritik an Schwarzer im ersten Zitat formuliert, scheint mir die Differenz zwischen "lebende Person" und „tote" geringer als die zwischen „Abneigung" und „mit allen journalistischen Mitteln diffamieren". „Vielleicht scheint es manchem, dass ich gegen einen so bedeutenden Mann, wie Lachmann war, zumal nach seinem Tode, die schuldige Rücksicht verletzt habe, indem ich den Widerspruch trocken hinstelle, ohne ihn mit den herkömmlichen Lobeserhebungen und Ausrufungen der Bewunderung einzuhüllen. Aber ich sehe keinen Grund, jetzt zurückzuhalten, was ich viel lieber und dann viel schärfer dem Lebenden gegenüber ausgesprochen haben würde [...]" (Holtzmann 1854, VI) - „Also, kurz und bündig, Herr Maync: Das Privatleben des lebenden Dichters geht den Kritiker gar nichts an, das ist der Kern der Ausführungen Lessings gegen Klotz, die Sie zitieren, und die ich oft genau so zitiert habe. Aber das Leben des toten Dichters gehört dem Literaturhistoriker, sobald die Nachlebenden nicht mehr durch dessen Aufdeckung schmerzlich berührt werden können [...]" (Bartels 1908, 170). - „Ich bin auch nicht der Meinung, daß solche Vermutungen nach dem Motto ,De mortuis nil nisi bene' gar nicht geäußert werden dürften. Pietät findet ihre Grenzen, wo es ein berechtigtes öffentliches Interesse an der Aufklärung eines möglichen Mordfalles gibt - soweit bin ich mit Alice Schwarzer völlig d'accord" (Bastian 1993, 80). - Holtzmann (1854) sieht „keinen Grund", den verstorbenen Lachmann nicht entschieden zu kritisieren, wehrt sich nur, Kritik antizipierend, gegen den Verdacht, er wage sein Kritik erst jetzt, weil Lachmann tot ist. Bei Bartels (1908) scheint das Privatleben toter Dichter eher weniger geschützt als das der lebenden. Im zweiten Teil des Zitats von Bastian wird die Norm als Ausdruck von Pietät bestätigt. Ein „berechtigtes öffentliches Interesse" aber rechtfertigt als höherer Wert die Verletzung der Norm.

138 Schreibern auch nur ansatzweise metakommunikativ thematisiert würde. Die Autoren scheinen keinen Grund zu sehen, sich dafür zu rechtfertigen oder zu entschuldigen. Eine Erklärung für die insgesamt uneindeutige Situation liegt möglicherweise darin, dass in der polemischen Metakommunikation grundlegend zwei Gesichtspunkte eine Rolle spielen, die in ihren Konsequenzen nicht voll in Übereinstimmung zu bringen sind. Es spielen (1) ethische Prinzipien eine Rolle, u.a. solche, die den Gegner schützen, und (2) funktionale, die sich daran orientieren, was zur Klärung der Sache beiträgt bzw. ihr schadet. Je nachdem, wie man die beiden Aspekte hierarchisiert, kommt man hinsichtlich der Frage der Schutzwürdigkeit Verstorbener zu unterschiedlichen Ergebnissen. Wer die Klärung der Sache und in diesem Rahmen z.B. die Widerlegung falscher und gefahrlicher Auffassungen in den Vordergrund rückt, für den ist der personale Urheber dieser Auffassungen ohnehin von sekundärer Bedeutung, und es ist völlig uneinsichtig, wieso die Bekämpfung möglicherweise gefahrlicher Auffassungen davon abhängig gemacht werden sollte, ob der Urheber lebt oder schon gestorben ist. Wer hingegen den ethischen Prinzipien Vorrang einräumt, kann Polemik oder jegliche Kritik an verstorbenen Autoren sanktionieren, muss dann aber eventuell Einschränkungen in der Klärung der Sache hinnehmen. Die Metakommunikation im untersuchten Textkorpus enthält keine eindeutigen Hinweise darauf, dass und zu wessen Gunsten über die Wertekonkurrenz entschieden wäre. Es ist aber die in Anspruch genommene Sachorientierung der Polemik als Streiten „über etwas", die eine bedingungslose Geltung des Prinzips „De mortuis nil nisi bene", das aus dem Kontext der (personenbezogenen) Lob- und Tadelrede stammt, ausschließt. Wirft man einen Seitenblick auf die gesetzlichen Regelungen des Ehrenschutzes, so sieht man, dass es mit § 189 des Strafgesetzbuches („Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener") und mit § 168 („Störung der Totenruhe") Artikel gibt, die speziell Verstorbene bzw. das Andenken Verstorbener schützen. Doch lässt sich daraus nicht ableiten, dass Verstorbene im Vergleich mit Lebenden verstärkten Schutz genössen. Im Gegenteil ist das Rechtsgut der genannten Vorschriften umstritten, da nur lebende Personen als Ehrträger gelten und Verstorbene deshalb nach Meinung vieler z.B. nicht beleidigungsfähig sind. Bestimmt man wie Schönke/Schröder ( 2 °1980, 1281f.) als Rechtsgut die „postmortale Respektierung der menschlichen und sozialen Leistung des Verstorbenen", so drückt sich darin nicht ein besonderer Schutz Verstorbener aus, sondern nur „eine Nachwirkung des Schutzes der Persönlichkeit" auch bei einer „ehemaligen Persönlichkeit" (1281).

139

5.2

Normen betreffend die Wahl des polemischen Themas

5.2.0

Einleitung

Unter dem Stichwort „Normen betreffend die Wahl des polemischen Themas" werden zwei unterschiedlich begründete Einschränkungen bei der Wahl des Themas vorgeführt: die Forderung, sich nicht mit Nichtigkeiten, sondern nur mit bedeutsamen Gegenständen zu befassen, und die Forderung, sich nur zu Dingen zu äußern, für die man ausreichende Kompetenz besitzt. - Im Textkorpus werden einige weitere Restriktionen bezüglich der Themenwahl angesprochen. Unter ihnen bekommt vor allem die Auffassung, dass wissenschaftliche Fragen nur unter bestimmten Bedingungen vor das große Publikum gehören, eine gewisse Prominenz.14 Diese Ansicht gewinnt aber nicht wie die beiden anderen den Rang einer gesellschaftlich oder auch nur gruppenspezifisch anerkannten Norm. Andere Überlegungen zum polemischen Thema, die man in der Sekundärliteratur unter der Fragestellung findet, welche Eigenschaften ein Thema haben muss, um zum Kristallisationspunkt einer polemischen Auseinandersetzung werden zu können (vgl. etwa Stenzel 1986, 5f.; Rohner 1987, 224), sind geeignet zu erklären, warum etwas in einem bestimmten soziohistorischen Kontext zum polemischen Thema wird (oder gerade nicht), können hier aber, solange bei der Wahl des Themas keine Normen eine Rolle spielen, vernachlässigt werden.

5.2.1

Streite nicht um Nichtigkeiten

5.2.1.1

Textbeispiele

Lessing 1768-1769/ 3 1894 Diese Briefe waren Anfangs nur bestimmt, einem wöchentlichen Blatte einverleibet zu werden. Denn man glaubte, daß ihr Inhalt keine andere, als eine beyläufige Lesung verdiene. Aber es wurden ihrer für diese Bestimmung zu viel; und da die Folge den Inhalt selbst wichtiger zu machen schien, als es blosse Zänkereyen über mißverstandene Meinungen dem Publico zu seyn pflegen: so ward geurtheilet, daß sie als ein eigenes Buch schon mit unterlaufen dürften. (X, 232) 14

Diese Ansicht bringt in Hinblick auf theologische Probleme bekanntermaßen Goeze vehement gegen Lessing ins Spiel, wird mit dieser Auffassung jedoch von Lessing genauso entschieden und zwar auf prinzipieller Ebene zurückgewiesen. Ein von Vogt (1855/1971, 536f.) zitierter Gewährsmann, A. Kölliker, schränkt die Themenwahl bei wissenschaftlichen Fragen mit einer etwas anderen Begründung ein: „Wenn wissenschaftliche Fragen vor dem großen Publikum besprochen werden sollen, so ist dies meiner Meinung nach nur in ganz allgemeiner Weise und bei vollkommen festgestellten Materien erlaubt; geschieht dies nicht, werden noch unreife Gegenstände, streitige Fragen oder gar persönliche Beziehungen vor dieses Forum gebracht, so erweckt der Vertreter derselben nicht nur kein günstiges Vorurteil für sich, sondern schadet der Wissenschaft und sich selbst."

140 Sie lachen über mich, daß ich mich bey solchen Kleinigkeiten aufhalten kann. - Ja wohl Kleinigkeiten! Wenn man denn nun aber einen Mann vor sich hat, der sich auf solche Kleinigkeiten brüstet? - Bisher unbemerket! Von mir zuerst bemerkt! - Ist es nicht gut, daß man diesem Manne zum Zeitvertreibe einmal weiset, daß er auch in solchen Kleinigkeiten das nicht ist, was er sich zu seyn einbildet? (X, 267)

Lessing 1769/31885 Ich wollte nicht gern, daß man diese Untersuchung nach ihrer Veranlassung schätzen möchte. Ihre Veranlassung ist so verächtlich daß nur die Art, wie ich sie genutzt habe, mich entschuldigen kann, daß ich sie überhaupt nutzen wollen. Als Beschaffenheit unserer Erkenntniß ist dazu Eine Wahrheit so wichtig als die andere: und wer in dem allergeringsten Dinge für Wahrheit und Unwahrheit gleichgültig ist, wird mich nimmermehr überreden, daß er die Wahrheit blos der Wahrheit wegen liebet. (XI, 3) Auch kann ich nicht der Meinung seyn, daß wenigstens das Streiten nur für die wichtigern Wahrheiten gehöre. Die Wichtigkeit ist ein relativer Begriff, und was in einem Betracht sehr unwichtig ist, kann in einem andern sehr wichtig werden. (XI, 3f.)

Engels 1842/1966 Zu diesen Leuten gehört auch Herr Alexander Jung. Sein obiges Buch bliebe am besten ignoriert; da er aber außerdem ein „Königsberger Literaturblatt" herausgibt und seinen langweiligen Positivismus auch hier allwöchentlich vors Publikum bringt, so mögen die Leser der Jahrbücher es mir verzeihen, wenn ich ihn einmal aufs Korn fasse und etwas ausfuhrlicher charakterisiere. (357)

Müllenhoff 1855a Das Buch liefert den aller traurigsten, aber vollständigsten Beweis dass Hr. Holtzmann geglaubt hat den Anfang alles unsers Wissens, unserer ganzen deutsch-philologischen Bildung, am Mittelhochdeutschen ungestraft überspringen zu dürfen. [...] Eine Schrift von dieser Beschaffenheit einer eingehenden Beurtheilung zu unterwerfen sollte überflüssig sein und eine kurze Abfertigung genügen. Aber man müste den dermaligen Zustand der deutschen Philologie nicht kennen. Hier darf noch jede Thorheit zu Markte gebracht werden und findet Abnehmer und Lobredner, und das Publicum lässt sich von angeblichen Kennern willig täuschen. (6f.)

v. Hartmann 1898 Deshalb scheint es mir eine Pflicht gegen die deutsche Jugend, solche Zeitverirrungen nicht so zu ignorieren, wie sie es ihrem Gehalt nach verdienen, sondern ihnen die gleissende, blendende Maske abzureissen, um sie in ihrer hässlichen Nacktheit blosszustellen. (69)

Bartels 1900 Man wird jetzt über R.M. Meyers Werk orientiert sein. Kurz charakterisieren hätte ich's in drei Zeilen können, aber ich wollte beweisen, daß und warum es nichts taugt, und dies wiederum, weil R. M. Meyer zwar kein großer Mann, aber ein Typus ist, der Typus des Schererianers und des jüdischen Litteraturhistorikers. (33)

Anon. 1906a In der Sammlung „Grossstadtdokumente", die einem ernsten Zweck dienen will, veröffentlicht eine Frau, die bisher den Ehrgeiz hatte, für ernst gehalten zu werden, das nachstehende seichte Gewäsch über einen angeblich bestehenden Typ der „Friedensfanatikerin". Das

141 Zeug ist zu dumm, zu oberflächlich, als dass es widerlegt zu werden brauchte, es sei hier nur als Muster fur jene Gedankenarmut wiedergegeben, die selbst in „gebildeten" Kreisen Deutschlands in bezug auf die Friedensbewegung noch vorherrscht. (176) Rilla 1948 Warum diese ausfuhrliche Behandlung eines komischen Malheurs, das, so sollte man meinen, im Augenblick seines Erscheinens unter Wogen von Gelächter begraben worden ist? Die ausführliche Behandlung deshalb, weil (bis auf eine sehr erfreuliche Äußerung Hans Mayers, des Büchner-Biographen) nichts dergleichen geschah. Weil Lüth nach wie vor ein Prominenter der neudeutschen Literaturkritik ist: [...]. Kein Gelächter, sondern allseitiges Beifallsgemurmel. (51 f.) Reich-Ranicki 1976/1979 Ein belangloser, ein schlechter, ein miserabler Roman. Es lohnt sich nicht, auch nur ein Kapitel, auch nur eine einzige Seite dieses Buches zu lesen. Lohnt es sich, darüber zu schreiben? Ja, aber bloß deshalb, weil der Roman von Martin Walser stammt, einem Autor also, der einst, um 1960, als eine der größten Hoffnungen der deutschen Nachkriegsliteratur galt - und dies keineswegs zu Unrecht. (158) Henscheid 1990 Das Ganze, der Lesetort, lohnte nicht der Mühe, offenbarte der Buchsermon sich nicht rasch als wahrscheinlich äußerst signifikant fürs momentane Zeitgeistganze, für dessen prätendiert edlere, in Wahrheit dünkelseligere Version.

5.2.1.2

Kommentar

(A) Die kritische Frage, ob denn Anlässe und Gegenstände der Streitschriften Lessings seiner Kritik auch immer würdig gewesen sind, ist in der extrakommunikativen Diskussion, der zeitgenössischen wie der nachträglichen bis hin zur gegenwärtigen Literaturwissenschaft, häufig gestellt worden, auch wenn die hohe Wertschätzung, die Lessing allseits genoss und genießt, am Ende doch meist zu einer für Lessing positiven Antwort gefuhrt hat. Diese „von außen" diskutierende Sicht hat in diesem Fall ein deutliches Äquivalent in Lessings eigenen Streitschriften. Offenbar hat er es selbst für notwendig erachtet, sich metakommunikativ gegen mögliche Angriffe abzusichern. 15 Schon der „Vorbericht" im ersten Teil der Briefe antiquarischen Inhalts beginnt mit der Frage nach der Bedeutsamkeit ihres Inhalts als einer Bedingung für die Rechtfertigung ihrer Veröffentlichung als eigenständiges Buch. D i e recht vorsichtige Begründung im ersten Teil des ersten Textbeispiels (Lessing 1 7 6 8 1769, 232) löst das Problem nicht ein für allemal. Es bleibt ja, auch wenn gesi15

Deshalb macht es Mühe, Mattenklott (1993) vorbehaltlos zuzustimmen, der meint, Lessing habe sich in seinen Polemiken und Kontroversen „unbesorgt um das Niveau seiner Gegner oder das Gewicht von Gegenständen oder Argumenten" (343) verhalten. Er hat sich zwar letztlich darüber hinweggesetzt, aber doch Sorge getragen, diesbezügliche negative Wirkungen beim Publikum nach Möglichkeit zu neutralisieren.

142 chert ist, dass eine Schrift in toto der Veröffentlichung wert ist, die Möglichkeit, dass man sich im Detail in Kleinigkeiten verzettelt. So glaubt Lessing im 11. Brief (zweiter Teil des ersten Zitats) Anlass zu der Vermutung zu haben, der Leser könnte an den dort behandelten „Kleinigkeiten" Anstoß nehmen (ebda, 267). Er bestätigt somit, dass es sich in der Tat um „Kleinigkeiten" handelt, gibt aber dem Publikum in Frageform zu bedenken, ob es nicht gut und lohnend sein könnte zu zeigen, dass sich jemand bei Kleinigkeiten aufhält und sich mit ihnen auch noch brüstet. Auch die Schrift Wie die Alten den Tod gebildet aus der Kontroverse mit Klotz beginnt mit einer Thematisierung der Bedeutung des behandelten Gegenstandes (Lessing 1769, 3). Wie in den Briefen verharrt Lessing aber nicht lange in der Position dessen, der sich zu entschuldigen hat, und kommt mit dem Verweis auf die Perspektivität und Relativität in der Beurteilung der Wichtigkeit von Gegenständen einer grundsätzlichen Zurückweisung der Norm nahe. (B) Die Norm „Streite nicht um Nichtigkeiten" hat die gleiche Grundlage wie die Norm 5.1.1 „Streite nicht gegen einen unbedeutenden Gegner". In beiden Fällen gerät der Polemiker unter Rechtfertigungszwang, weil er die polemische Instanz mit Dingen behelligt, die keine öffentliche Aufmerksamkeit verdienen. Auch sonst gilt das in 5.1.1 (Punkt B) Gesagte analog, insbesondere hinsichtlich der textimmanenten Konstruktion der Bedeutsamkeit (von Gegner bzw. Gegenstand). Schwierigkeiten in der Abgrenzung zur Norm 5.1.1 ergeben sich besonders dann, wenn das polemische Thema, über das gestritten wird, identisch ist mit dem polemischen Objekt, gegen das gestritten wird, d.h. wenn der Streitgegner in seiner öffentlichen Rolle als Wissenschaftler, Politiker, Schriftsteller oder Künstler das polemische Thema ist. Trotz der Überschneidungen und der Randunschärfen legt die Metakommunikation aber, wie in Kapitel 5.1.0 schon angesprochen, die Existenz zweier Normen nahe. Nur so kann man metakommunikativen Bewertungen gerecht werden, die darauf beruhen, dass ein bedeutendes polemisches Objekt auch einmal mit einem unbedeutenden Gegenstand befasst sein kann oder umgekehrt ein unbedeutendes polemisches Objekt mit einem bedeutenden Gegenstand oder auch, dass ein bedeutendes polemisches Objekt sich in schwacher Stunde pedantisch, federfuchserisch oder rechthaberisch an unbedeutenden Aspekten eines an sich bedeutenden Problems festbeißt. (C) Die Textbeispiele haben durchgehend die Form von Absichtserklärungen des polemischen Subjekts, in denen das eigene Verhalten gegen antizipierte Kritik gerechtfertigt wird. Die häufigste Rechtfertigungsstrategie ist, wie bei Norm 5.1.1, nur vom Autor auf den Gegenstand verschoben, der Verweis auf die Repräsentativität des behandelten Werkes: Das Werk sei zwar, für sich genommen, unbedeutend, aber typisch/charakteristisch/repräsentativ als Zeiterscheinung. Beispiele dafür findet man bei Müllenhoff (1855a), v. Hartmann 1898, Bartels (1900), Anon. (1906a) und Henscheid (1990). Reich-Ranicki (1992, 36) macht diese Rechtfertigung in einem Text, in dem er halb extrakommunikativer Beobachter, halb selbst Betroffener ist, zu einer allgemeinen Handlungsmaxime des Kritikers: „Bei dem Gegenstand, den er verwirft, ist der ausdrückliche Hinweis

143 auf das Exemplarische unerläßlich; denn hier geht es dem Kritiker vor allem um den Bezug zum Ganzen, um die zeitgenössische Literatur schlechthin" (36). Zu ergänzen ist, dass dieser ausdrückliche Hinweis gegenüber dem Publikum auch dann ein nützliches Mittel des Polemikers bleibt, wenn es ihm einmal nicht wirklich „um den Bezug zum Ganzen" gehen sollte. Eine andere Rechtfertigung ist die Berufung auf die (große) Bedeutung, die der Schöpfer der „Nichtigkeit" wegen anderer Werke oder in anderen Hinsichten hat. Auf diese Weise reklamiert der Polemiker für sein Verhalten Übereinstimmung mit der Norm 5.1.1, um Kritik auf der Grundlage von Norm 5.2.1 abzuwenden. Engels (1842) gibt zu, dass das zur Debatte stehende Buch zwar „am besten ignoriert" bliebe, dass der Autor, Alexander Jung, aber auch Herausgeber einer Zeitschrift sei, und appelliert an das Verständnis des Publikums für die ausführliche Beschäftigung mit dem Buch („mögen die Leser [...] es mir verzeihen"). Reich-Ranicki (1976) rechtfertigt die Beschäftigung mit dem Roman Jenseits der Liebe von Martin Walser, von dem „auch nur eine einzige Zeile [...] zu lesen" nicht lohne, damit, dass der Autor des Romans Aufmerksamkeit beanspruchen kann, weil er „einst, um 1960, als eine der grössten Hoffnungen der deutschen Nachkriegsliteratur galt". Dem gleichen Muster, das im übrigen bei diesem Kritiker reihenbildend ist, folgt die Begründung für die Wahl des Romans Amanda herzlos von Jurek Becker für das Literarische Quartett vom 13. 8. 1992. Auch diesen Roman beurteilte Reich-Ranicki extrem negativ, so dass sich der Mitspieler Karasek zu der Frage gedrängt fühlte, warum der Roman dann für das Literarische Quartett ausgewählt wurde. Reich-Ranickis Antwort: „Becker ist der Autor von Jakob der Lügner." Als weitere Rechtfertigungsgründe findet man wie bei Verletzungen der Norm 5.1.1 die Berufung auf das ungerechtfertigte öffentliche Ansehen eine Buches (Rilla 1948) oder auf Gefahren, die ein Werk für das unkundige Publikum (Müllenhoff 1855a) oder für die Jugend (v. Hartmann 1898) darstellt. (D) Die Norm ist im ganzen Untersuchungszeitraum präsent, was die gelegentliche Artikulation von Zweifeln nicht ausschließt. Lessing, der in dieser Hinsicht schon in (A) besprochen wurde, ist allerdings kein Beispiel für eine strikte Negierung der Norm. Sein Argumentieren mit der Relativität des Begriffs begründet, dass auch scheinbar Unwichtiges wichtig sein kann. Dieses Bewusstsein der Relativität in der Beurteilung der Bedeutung eines Gegenstandes, das auch in anderen Textbeispielen durchscheint, eröffnet Spielräume, um Nichtigkeiten als nur scheinbare rechtfertigen zu können. Allerdings hat sich die Argumentation bei Lessing etwas verschoben. Mag, wie er sagt, die eine Wahrheit so wichtig wie die andere sein als Beschaffenheit unserer Erkenntnis, so muss sie es in gleicher Weise nicht auch sein für den öffentlichen Meinungsstreit und das an ihm teilhabende Publikum, in dessem Interesse die Einhaltung der Norm ja in erster Linie liegt.

144 5.2.2

Streite nicht um Dinge, von denen du nichts verstehst

5.2.2.1

Textbeispiele

Lippert, zit in: Lessing 1768-1769/ 3 1894 Es ist aber etwas sehr gemeines, daß man von Sachen urtheilet, wovon man doch nichts versteht. (X, 268)

Anonymus 1821b/1987 Es war fast nicht möglich in so wenigen Worten mehr Ungereimtheiten zu sagen und damit die völlige Unkunde mit dem indischen Leben zu beurkunden. (97)

Sanders 1853 Da haben wir den letzten Trumpf, der in gewissen Kreisen fast regelmäßig gegen mißliebige kritische Beleuchtungen ausgespielt wird. Aber was gewinnt der Rezensent, was gewinnen die Gebrüder Grimm damit? Gut, angenommen, ich wäre wirklich nicht im Stande, einen einzigen Artikel des Wörterbuchs selbständig zu entwickeln (ein Urtheil über meine Befähigung dazu könnte freilich der Rezensent überhaupt nur dann haben, wenn ihm eine Arbeit von mir vorläge, worin ich Derartiges hätte leisten wollen) - aber angenommen es wäre so, wird dadurch die Arbeit der Gebrüder Grimm auch nur um ein Jota besser? (10) Aber nun zu Ihrer Behauptung selbst, Herr Rezensent! Ich würde nicht im Stande sein, einen einzigen Artikel des Wörterbuchs selbständig zu entwickeln, - behaupten Sie und ich behaupte dagegen, es wird schwerlich ein Tertianer aufzutreiben sein, der nicht ganze Dutzende von Artikeln des Grimm'sehen Wörterbuchs - wie heißt doch noch die volltönende Phrase? - „selbständig zu entwickeln im Stande wäre". (12)

Müllenhoff 1855a u. 1855b Das Buch liefert den aller traurigsten, aber vollständigsten Beweis dass Hr. Holtzmann geglaubt hat den Anfang alles unsers Wissens, unserer ganzen deutsch-philologischen Bildung, am Mittelhochdeutschen ungestraft überspringen zu dürfen. Alles was in frühem Schriften nur unvollständig ans Licht trat ist jetzt aufs vollständigste offenbar geworden. Und doch überbietet die Unkenntnis, und die Verschrobenheit des Urtheils, wie gross sie sind, noch die hochmütige Verblendung und die blinde Anmasslichkeit, mit der Hr. Holtzmann sich zu meistern erlaubt wo er kaum zu lernen angefangen. (6f.) Dass Hr. Holtzmann die Andeutung nicht verstanden, ist begreiflich und zu entschuldigen, da bei ihm von philologischer Bildung nicht die Rede sein kann. Allein Hr. Zarncke hat nach S. 22 eine Schule besucht, so gut wie sie nur einem zu Theil werden kann. (99f.)

Engels 1878/31971 Freiheit der Wissenschaft heißt, daß man über alles schreibt, was man nicht gelernt hat, und dies für die einzige wissenschaftliche Methode ausgibt. Herr Dühring ist aber einer der bezeichnendsten Typen dieser vorlauten Pseudowissenschaft, die sich heutzutage in Deutschland überall in den Vordergrund drängt und alles übertönt mit ihrem dröhnenden höhern Blech. (4) Es war nicht meine Schuld, wenn ich Herrn Dühring auf Gebiete folgen mußte, auf denen ich mich höchstens mit den Ansprüchen eines Dilettanten bewegen kann. In solchen Fällen habe ich mich meistens darauf beschränkt, den falschen oder schiefen Behauptungen meines Gegners die richtigen, unbestrittenen Tatsachen entgegenzustellen. (5)

145 Sievers 1924 Daß Η. Gering weder geneigt, noch geeignet sein werde, die wege der schallanalyse mitzuwandeln, war für den kenner seiner ganzen arbeitsweise wohl selbstverständlich, und es hätte insofern seiner doppelten bankerotterklärung [...] nicht eigentlich bedurft. (329) Frings 1955 Hans Kuhn hat sich, wie in anderen Fällen, auf ein Gebiet begeben, das er nicht beherrscht. Wir werden nachweisen, daß er wichtige Vorstufen der Grundlegung nicht kennt oder nicht gelesen hat, obgleich er mich S. 64 auf meine früheren Arbeiten verweist. (401) Reich-Ranicki 1964b/1993 Die Existenz dieses Festvortrags beweist, daß sich in geistigen Dingen der Fortschritt keineswegs von selber vollzieht. Und noch eins: Wer mit „Soziologischen Beiträgen zur Kritik modemer Literatur" aufwarten will, muß diese Literatur wenigstens etwas kennen. Logisches Denken ist auch nicht überflüssig. (126) Laermann 1985 Nun gibt es sicher viele Hochschullehrer, die trotz recht geringer Kompetenz zu Amt und Würden gelangt sind. Doch die meisten von ihnen verhalten sich ruhig und erregen wenig Aufmerksamkeit in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit. [...] So hätte es auch dieser Professor [Dietmar Kamper] halten können. Aber nein, er entfaltete eine atemlose Vortragsund Publikationstätigkeit. (213f.) Habermas 1986/1991 Beobachten wir zunächst den Kölner Zeithistoriker Andreas Hillgruber bei seiner Gratwanderung. Ohne fachliche Kompetenz traue ich mich an die jüngste Arbeit dieses renommierten Zeithistorikers nur heran, weil diese in einer bibliophilen Ausgabe unter dem Titel „Zweierlei Untergang" bei Wolf Jobst Siedler erschienene Untersuchung offensichtlich an Laien adressiert ist. (62)

5.2.2.2

Kommentar

(A) In seiner bekannten Schrift Anti-Dühring wirft Engels (1878) seinem Gegner vor, über alles zu schreiben, was er „nicht gelernt hat" und erklärt ein solches Verhalten sarkastisch-verallgemeinernd zum Charakteristikum der zeitgenössischen Pseudowissenschaft. Im zweiten Teil des Zitats muss Engels zugeben, sich in seiner Schrift selbst auch nur „mit den Ansprüchen eines Dilettanten" zu bewegen. Die Schuld daran schiebt er jedoch, sich gegen antizipierte Kritik verteidigend, dem Gegner zu, weil er diesem gezwungenermaßen auf seinen W e g e n hätte folgen müssen. Das zugegebene Defizit an Kompetenz scheint in diesem Fall keine großen Konsequenzen zu haben, denn es hindert Engels offenbar nicht daran, „den falschen oder schiefen Behauptungen" seines Gegners „die richtigen, unbestrittenen Tatsachen entgegenzustellen".

146 (Β) Es gibt sehr unterschiedliche im polemischen Subjekt liegende Ursachen, die einen Text (oder andere Handlungsprodukte) für Kritik anfällig machen können. Der Autor kann sich bezüglich bestimmter Sachverhalte irren, es kann ihm die spezielle Kompetenz für den Gegenstandsbereich, in den das Problem fällt, fehlen, es kann ihm aber auch generell an intellektuellen Fähigkeiten mangeln. Ferner mag es sein, dass er aus eigennützigen Motiven heraus die Wirklichkeit bewusst verfälscht oder in ideologischer Verblendung die Wirklichkeit nur verzerrt wahrzunehmen imstande ist. Alle diese Ursachen können in polemischen Auseinandersetzungen angesprochen werden, um den Schöpfer oder sein Werk in den Augen der polemischen Instanz zu verkleinern; es sind aber bei weitem nicht alle am Handlungsprodukt erkennbaren Defizite auf Normverletzungen rückführbar oder überhaupt vorwerfbar. Insbesondere ist es ein probates und beliebtes Mittel, dem Gegner mangelnde Intelligenz, ja Dummheit zu attestieren, um Autor und Werk in den Augen des Publikums herabzusetzen, 16 obwohl es sicherlich keine Norm gibt, intelligent zu sein, und der Dumme somit als Dummer auch gegen keine Norm verstößt. Man kann höchstens das Äußern von Dummheiten zum Gegenstand eines Vorwurfs machen, wenn man vom Dummen erwartet, dass er den Mangel seiner Intelligenz selbst einschätzen kann und sich entsprechend verhält, nämlich lieber schweigt. Vereinzelte Fehler gelten ebenfalls als nicht vorwerfbar, zumindest als entschuldbar, weil Irren menschlich ist. 17 Treten sie gehäuft auf, können sie aber als Zeugnis mangelnder Kompetenz zum Ge-

„Kein vernünftiger Mensch wird eines Blinden spotten; aber wenn er sich unterstehet, von Farben zu urtheilen: so kann man ihm ohne Sünde sagen, daß er nicht sehen kann. [...] Ein elender Scribent gleichet einem solchen vollkommen, und muß es sich also nicht befremden lassen, wenn man auch über ihn lachet. Der Mangel des Verstandes, der aus seinen Schriften hervorleuchtet, ist es nicht, der ihm dieses Unglück zuziehet. Dieses wäre ein Fehler, den man ihm so wohl, als vielen andern ehrlichen Leuten, zu gute halten könnte, weil er nicht willkührlich ist; aber der lächerliche Stolz, der ihn verleitet, sich, seiner Schwachheit ungeachtet, für einen Lehrer der Unwissenden aufzuwerfen, die Unverschämtheit, mit welcher er von der Welt verlanget, sein Geschmier zu lesen, und die Verachtung, die er dadurch für dieselbe bezeuget, das sind Dinge, die nicht zu dulden sind, und denen er es einzig und allein zu danken hat, daß man seiner spottet" (Liscov 1839/1806, XXV). - „Seine Behauptungen hängen in der Luft, seine Angaben sind nicht zuverlässig und seine Ausführungen widersprechen sich. Der Grund hiervon ist ein zweifacher: ein entschuldbarer und ein unentschuldbarer. Der entschuldbare ist Herrn Meyers Intellekt, der der Aufgabe, die Herr Meyer sich gestellt hatte, nicht gewachsen war, und der unentschuldbare seine Parteilichkeit. Diese ist so blöde, so einfach über jeden Begriff, dass sie ihn zu Dingen verführt, von denen ich nicht geglaubt hätte, dass ein Mann sie sich zu Schulden kommen lassen könnte, der dem Lehrkörper einer deutschen Universität angehört" (Holz 1900, 7). Abqualifizierende Äußerungen, die Intelligenz betreffend, findet man auch bei Rüge (1847/1976, 211, 251, 381 u.ö.). „Herr Klotz soll mich eines unverzeihlichen Fehlers, in seinem Buche von den alten geschnittenen Steinen überwiesen haben. Das hat ein Recensent dieses Buches für nöthig gehalten, mit anzumerken. Mich eines Fehlers? das kann sehr leicht seyn. Aber eines unverzeihlichen? das sollte mir Leid thun. [...] Denn es wäre ja doch nur ein Fehler. Fehler schliessen Vorsatz und Tücke aus; und daher müssen alle Fehler allen zu verzeihen seyn" (Lessing 1768-1769/ 3 1894, X, 232).

147 genstand eines V o r w u r f s w e r d e n . Einseitige oder sonst verzerrte Darstellung der Wirklichkeit kann v o r w e r f b a r sein, w e n n der D e f e k t „willkührlich" ist (Liscov 1739, siehe A n m . 16) bzw. auf „Vorsatz und T ü c k e " beruht (Lessing 1 7 6 8 - 1 7 6 9 , siehe Anm. 17). Resultiert die Verzerrung hingegen auf „Geistesverirrungen" 1 8 (Fabritius 1822) oder auf ideologisch getrübter perspektivischer W a h r n e h m u n g bei zugestandener „ehrlicher Überzeugung" 1 9 (Dennert 1903), so bleibt es sinnvoll, zur besseren Beurteilung des fraglichen Textes kritisch auf diesen Sachverhalt hinzuweisen, die V e r z e r r u n g ist d e m Autor aber nicht v o r w e r f b a r . Gleichfalls entschuldigen temporäre Trübungen der W a h r n e h m u n g oder des Urteilsvermögens in Zuständen emotionaler Erregung, w i e zu zeigen sein wird (Kapitel 5.6.5), als mildernder U m s t a n d viele Arten von N o r m v e r l e t z u n g e n . V o r w e r f b a r bleibt als „Fahrlässigkeit zweiter O r d n u n g " (Groeben u.a. 1 9 9 0 - 1 9 9 2 , V, 44) allenfalls, dass der Polemiker es nicht vermieden hat, in diesen Zustand zu geraten, oder dass er, trotz seines Zustandes, nicht auf öffentliche Ä u ß e r u n g e n verzichtet hat. Die in diesem Abschnitt thematisierte N o r m deckt also aus d e m gesamten Spektrum der v o m Autor verursachten Defekte des T e x t p r o d u k t e s nur den Ausschnitt ab, der auf mangelnder K o m p e t e n z im j e w e i l i g e n Sachbereich, auf NichtWissen oder Nicht-Können, allgemein darauf beruht, dass der Polemiker etwas, was er hätte lernen können u n d sollen, nicht gelernt hat. Eigentlicher G e g e n s t a n d des V o r w u r f s ist allerdings nicht die mangelnde K o m p e t e n z selbst, sondern dass der Schreiber sich trotz mangelnder Kompetenz zur fraglichen Sache öffentlich äußert. Die N o r m schützt w i e d e r u m das adressierte Publikum, das an einer fachlich kompetenten Auseinandersetzung interessiert ist. Sie hat sich aber, vor allem in der Wissenschaft, auch zu einem formalen Erfordernis verselbständigt. Engere Beziehungen zu anderen N o r m e n , die zu A b g r e n z u n g s p r o b l e m e n f ü h ren könnten, bestehen in diesem Fall nicht. D a f ü r ist es h ä u f i g schwierig zu entscheiden, o b eine g e g e b e n e Ä u ß e r u n g zu den n o r m g e b u n d e n e n o d e r nur zu den abqualifizierenden gehört, weil m a n über die V o r w e r f b a r k e i t bestimmter Defizite unterschiedlicher M e i n u n g sein kann oder weil m a n die Intentionen des vorwerfenden Schreibers nicht sicher erkennt. Fraglich ist z.B., ob H e i n e mit der folgenden Charakterisierung die geringe dichterische K o m p e t e n z Platens erklärt oder ob er sie ihm auch vorwirft:

19

„Ueber die Träume dieses Hirnkranken - und doch giebts bis auf diese Stunde FichteAnbeter, welche die hohen Geistesverirrungen dieses Sophisten für Göttersprüche, für himmlische Weisheit halten! - Ueber die Träume eines solchen Hirnkranken kein Wort!" (Fabritius 1822, 33). „Wo ehrliches Streben nach Wahrheit bei einem derartigen Widerspruch zwischen dem Werk und seinem Vorwort bleibt, ist zweifelhaft. Ich persönlich will es Haeckel nicht ganz absprechen; denn ich suche den ganzen Mann zu verstehen, und da ist doch der aus den ,Welträtseln' hervorstechende Zug der, daß Haeckel bei sehr mangelhafter philosophischer Durchbildung sich völlig in sein System verrannt hat, so daß er den Sinn für anderes ganz und gar verloren hat und nur das beachtct, was in seinen Kram paßt [...] Bei alledem mag ehrliche Überzeugung noch vorhanden sein, sie ist aber mit völliger Blindheit verbunden" (Dennert 1903, 55).

148 Jenes Meisterwerk [König Ödipus] zeigte mir ihn endlich ganz, wie er ist, mit all seiner blühenden Welkheit, seinem Überfluß an Geistesmangel, seiner Einbildung ohne Einbildungskraft, ganz wie er ist, forciert ohne Force, pikiert ohne pikant zu sein, eine trockne Wasserseele, ein trister Freudenjunge. Dieser Troubadour des Jammers, geschwächt an Leib und Seele, versucht es, den gewaltigsten, phantasiereichsten und witzigsten Dichter der jugendlichen Griechenwelt nachzuahmen! (Heine 1830/1964, V, 312).

Die mangelnde Qualität des ironisch Meisterwerk genannten Dramas König Ödipus wird von Heine auf Eigenschaften zurückgeführt, die den Urheber Platen nach Meinung Heines charakterisieren, jedoch eher abqualifizierend als vorwerfend verwendet werden können. Dennoch könnte die Äußerung als Vorwurf gemeint sein und von Platen oder dem Publikum mindestens wegen des „Versuchs" der Nachahmung des Aristophanes so aufgefasst werden, wenn man annimmt, dass Platen besagten Versuch nicht unternommen hätte, wenn er seine durch Charakter und Wesensart eingeschränkten dichterischen Möglichkeiten realistisch eingeschätzt hätte, und wenn man ihn zugleich für eine solche Selbsteinschätzung verantwortlich macht. 20 (C) In den Textbeispielen werden Bezüge auf die Norm mehrheitlich in der Form von Vorwürfen realisiert. Das kritisierte Defizit ist in der Regel ein Mangel an fachlicher Kompetenz, die in einer entsprechenden Ausbildung oder durch eigenes Studium hätte erworben werden können und sollen (Unkunde, Unkenntnis, nicht gelernt, nicht beherrscht, nicht gelesen etc.). Die Norm ist bei Lessing (1768-1769), der einen anderen Autor, Lippert, zitiert, in einer allgemeinen Aussage paraphrasiert, richtet sich aber im Kontext, in dem sie erscheint, als Vorwurf gegen Lessings augenblicklichen Gegner Klotz, von dem Lessing an anderer Stelle auch sagt, dass seine „Steinkenntniß" eine „sehr ungelehrte Kenntniß" sei (ebd., 309). Ähnliche Vorwürfe finden wir bei dem anonymen Verfasser der Neuen Berliner Monatschrift (Anon. 1821b) gegen Friedrich Schlegel gerichtet, dem er in seiner Rezension zahllose „Irrtümer" nachweisen zu können glaubt, die zusammengefasst eine „völlige Unkunde" dessen bezeugen, worüber Schlegel sich äußert; ebenso bei Müllenhoff (1855a), der Holtzmann Unkenntnis und Verschrobenheit des Urteils ohne Einsicht in die eigenen Unzulänglichkeiten unterstellt; und bei Engels (1877), der (s.o.) den gegen Dühring gerichteten Vorwurf der Inkompetenz mit dem Zugeständnis des eigenen Dilettantentums verbindet. - Die Textbeispiele aus dem 20. Jahrhundert 20

Ein Rest von Unentschiedenheit zwischen Vorwurf und Abqualifizierung bleibt auch bei Hildebrand bestehen, solange nicht genauer bestimmt wird, welche Anteile Intentionalität und Unvermögen bei der kritisierten „Vermischung" haben: „Jürgen Habermas' am 11. Juli 1986 in der ,Zeit' unter dem Titel ,Eine Art Schadensabwicklung' erschienener Artikel über die angeblich apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung' ist ein trübes Gebräu aus Politik und Wissenschaft, aus Weltanschauung und Geschichtsbetrachtung, aus Vorurteilen und Tatsachen. [...] Und wie immer in Fällen einer Vermischung von Wissenschaft und Politik betrügt das eine das andere und bleibt schließlich die Wissenschaft vollends auf der Strecke" (Hildebrand 1986/ s 1991, 84).

149 (Sievers 1924, Frings 1955, Reich-Ranicki 1964b) zeigen deutlich, was auch früher schon galt, dass die Norm vor allem in den Wissenschaften eine Rolle spielt, besonders wenn jemand wagt, die Grenzen seiner Disziplin oder seines Arbeitsbereichs zu überschreiten (wofür Habermas [1986] im Einzelfall eine Rechtfertigung versucht). Da die Norm auch verwendet wird, um Nicht-Wissenschaftlern ohne formale Qualifikationsnachweise den Zugang zu den wissenschaftlichen Foren zu verweigern, ist es nicht ohne Pikanterie, wenn Außenseiter wie Reich-Ranicki (1964) und vor ihm schon Engels (1878) ihrerseits Wissenschaftlern (Arnold Gehlen bzw. Dühring) Inkompetenz vorwerfen. Es bleibt Sanders, der neben Engels (im 2. Zitat) und Habermas (1986) das eigene Verhalten im Lichte der Norm thematisiert. Er verteidigt sich gegen den Vorwurf der Inkompetenz, weil dieser, abgesehen davon, dass Sanders seinem Kritiker die Möglichkeit abspricht, seine Kompetenz überhaupt zu beurteilen, auf einer falschen Voraussetzung beruhe, nämlich der, dass kritisieren nur dürfe, wer das Kritisierte besser machen kann. Im ersten Schritt negiert er diese Voraussetzung, um im zweiten Zitat dann auch noch die Unterstellung, dass er dazu nicht in der Lage wäre, zurückzuweisen. Habermas (1986) gibt in seiner prophylaktischen Verteidigung zu, nicht fachkompetent zu sein, findet aber in dem vom Gegner gewählten Forum, das auch dem Laienpublikum zugänglich ist, eine Entschuldigung. (D) Für die Frage einer eventuell nur eingeschränkten Geltung der Norm 5.2.2 ist die zweite Textstelle Müllenhoffs (1855b) von Interesse, weil sie die hier behandelte Norm zu negieren scheint. Müllenhoff entschuldigt das Nicht-Verstehen Holtzmanns mit dem Mangel an „philologischer Bildung". Dieser Mangel indes ist im Sinne der Norm 5.2.2 gerade kein Entschuldigungsgrund, sondern begründet die Vorwerfbarkeit, weil jemand ohne einschlägige Kompetenz die Öffentlichkeit nicht behelligen sollte. Möglicherweise nimmt Müllenhoff diese Unstimmigkeit an dieser Stelle in Kauf, um einen umso stärkeren Vorwurf gegen Zarncke richten zu können.

5.3

Normen betreffend Bewusstseinszustände des polemischen Subjekts

5.3.0

Einleitung

Die in diesem Teilkapitel zu behandelnden Normen sind locker unter dem Begriff „Bewusstseinszustände" (des polemischen Subjekts) zusammengefasst. Die ersten beiden betreffen gemeinsam die Globalintentionen, um derentwillen der Schreiber sich an die Öffentlichkeit wendet. Auch die dritte Norm („Rede nicht dem Publikum zu Gefallen") ist in einem weiten Sinne als Intention begreifbar. Das ist bei der letzten Norm (Streite nicht im Zustand emotionaler Erregung)

150 sicher nicht möglich. Besonders ihretwegen ist für den Titel der weitere Begriff des „Bewusstseinszustands" gewählt.

5.3.1

Verfolge keine eigennützigen Zwecke

5.3.1.1

Textbeispiele

Marpurg 1749-1750, Mattheson 1750 u. Sorge 1760 Sie entdecken durchgängig ein durch eine Art von Rachgier erregtes, ich will nicht sagen, niederträchtiges Hertz. (26) [...] indem meine Absicht keinesweges auf eigene, sondern auf GOttes, und der Ihm in Ewigkeit gewidmeten Tonkunst Ehre [...] gerichtet ist. (1. Dosis, 19) Ihr sehet, daß die Ehre unserer deutschen Nation meine Triebfeder gewesen. (120) Müller 1788/1976 Denn, nicht bloß weil ich in einem Lande schreibe in dem man Dank erwirbt wenn man die Wahrheit sagt, sondern noch mehr weil ich nicht in den Verdacht kommen kann als schriebe ich dieses Kapitel aus Eigennutz, oder Furcht vor Schaden, oder mit gedungener Feder, fühle ich mich berufen ohne Blatt vor dem Munde über den Nachdruck zu reden [...]. (103) Krug 1822 Doch Hr. Κ. Μ. E. Fabritius ist ein schlauer und zugleich ein edler Mann. Er hat nicht bloß seinen persönlichen Vortheil im Auge, sondern auch das Heil der alleinseligmachenden Kirche, [...]. (17) Menzel 1835c/1972 Ich habe diesen Kampf rein im Interesse der Religion, der Sitte und der vaterländischen Ehre angefangen, es ist nur eine Fortsetzung meiner frühern Kämpfe, die ich gegen weit bedeutendere Leute in gleichem Interesse durchgefochten. Und nun wollen diese Knaben mir vorwerfen, ich bekämpfe sie nur aus Rivalität, weil ich kein anderes kritisches Journal aufkommen lassen wolle. (I, 54) H o f f 1839/1977 Wer G. und seine egoistischen Zwecke kannte, der wußte damals gleich, wodurch diese Betrachtungen in ihm entstanden waren. (5) Ich, der ich Herrn Gutzkow genau von innen und außen kenne und durchschaue, weiß es zuversichtlich, daß hauptsächlich nur dies Motiv [d.i. das eigennützige, ein gutes Geschäft zu machen] bei seinen damaligen Erörterungen ihn leitete. (7) 21

Ich schließe einige weitere Vorwürfe der Eigennützigkeit aus der gleichen Schrift an: „Diese sämmtlichen Phrasen über Laube sind nur eine Fortsetzung seiner aus Neid seit längerer Zeit schon gegen diesen allgemein geachteten und beliebten Autor gerichteten Angriffe, den er mit Gewalt herunter zu setzen sucht" (55); - „Das einzige, worin sich das gutzkowgraphische Meisterstück charakterisirt und worin sich Gutzkow gleich bleibt, ist die alte Eitelkeit und Arroganz" (61 f.); - „Das geehrte deutsche Publikum

151 H o l t z m a n n 1855 Tröstlich ist, daß schon längst die große Mehrzahl der edlergesinnten Philologen das hochmüthige, aller Humanität bare Treiben einer kleinen Zahl von Leuten, die mit solchen Mitteln nicht der Wahrheit, sondern der Partei zur Herrschaft verhelfen wollen, mit Unwillen bemerken. (17) Holz21909 Ihm [dem Kampf] aus dem Wege biegen konnte ich nicht, weil ich, wie stets bisher, so auch hier, nicht für meine Person einzustehen habe - die der Welt vollkommen gleichgültig sein kann, wie die Welt es ihr umgekehrt ist - , sondern für meine Sache. Ich stehe jetzt ganz allein mit ihr, allein auch nach Aussen, und werde fortfahren, sie rein zu halten vor jedem Wischiwaschi. (39) G o e t z 1923b Ich würde, wenn mir irgend etwas an der Fortsetzung des Austausche mit Herrn v. B. gelegen wäre, an ihn die Frage richten, wer wohl die Besprechungen der B.sehen Schrift in der deutschnationalen Presse organisiert hat? Beurteiler wie [XYZ] - sämtlich unzuständig für das in Frage stehende Gebiet, aber ausgewählte Parteigenossen des Herrn v. B. - haben auf Grund der B.sehen Schrift gegen mich Stellung genommen. (286) Eschen 1991 Es spricht vielmehr einiges dafür, daß Broder als Trittbrettfahrer der gegenwärtigen Weltpolitik, stets von der Angst geplagt, in der Öffentlichkeit nicht ausreichend zur Kenntnis genommen zu werden, sein „großes Ding" witterte, mit dem er entsprechend herauszukommen hoffte. Offenbar war ihm dann auch das Mittel recht, solange an dem Interview zu kleben und zu klittern, bis eine ihm genehme „Interview-Collage" herauskam, die - marktgerecht aufbereitet - trefflich in die gegenwärtige Vorurteilslandschaft paßte. L a m p u g n a n i 1994 Lieber Dieter Hoffmann-Axthelm, auf Polemiken, deren Gegenstand man selbst ist, reagiert man nicht. Ich kenne diese Regel und breche sie doch. Denn das, was Sie unter dem Titel „Die Provokation des Gestrigen" in der ZEIT vom 1. April 1994 geschrieben haben, geht über ein persönliches Zerwürfnis zwischen Ihnen und mir hinaus. Ich sehe von den unzähligen überflüssigen kleinen Infamien ab, mit denen Ihr Text durchsetzt ist, und versuche, die drei Vorwürfe herauszudestillieren, die sie mir entgegenschleudern zu müssen glauben.

wolle aus dieser gedrängten Darstellung ersehen, daß es nur ein kleiner rein persönlicher Skandal war, den Gutzkow zur großen Literaturfrage erheben wollte" (64); - „Die Gutzkowgraphie, eine edle ganz neue Schreibart, besteht nemlich darin, so arrogant und übermüthig als möglich zu schreiben, und in Kritiken und andern Aufsätzen bald diesen bald Jenen empfindlich und tückisch anzugreifen, so daß hier und da Einer sich verletzt fühlt, es nicht einstecken will, und ihm daher in einem öffentlichen Blatte antwortet. Das lesen die Leute und so wollen sie auch wieder lesen, was der Gutzkowgraph dagegen sagt, denn das Publikum liebt den Skandal und amüsirt sich daran" (69).

152 5.3.1.2

Kommentar

(Α) Das Textbeispiel Menzel 1836c stammt aus seiner Dritten Abfertigung des Dr. Gutzkow, der in der Kontroverse zwischen Gutzkow und Menzel schon drei Schriften Menzels und zwei Entgegnungen Gutzkows vorausgegangen waren. Der Streit hatte also schon das Stadium erreicht, in dem die metakommunikative Thematisierung des beiderseitigen Streitverhaltens und der Motivationen der Streitgegner mehr Raum einzunehmen pflegt als das ursprüngliche Streitthema. In der zitierten Textstelle verteidigt sich Menzel gegen den Vorwurf, die Jungdeutschen und insbesondere Gutzkow nur aus eigennützigen Motiven angegriffen zu haben, nämlich um lästige Konkurrenten auf dem Markt der Kritik nicht hochkommen zu lassen. Er reagiert damit auf Gutzkow, der in seiner Vertheidigung gegen Menzel (Gutzkow 1835b/l 972) den Ausfall Menzels als „Folge gekränkter Eitelkeit" und als Resultat des peinigenden Gedankens gedeutet hatte, in Gutzkow „für seine Kritik einen Rivalen zu haben" (I, 70f.). Dass auch Gutzkow die Rivalität nicht zuletzt als Rivalität von Zeitschriftenherausgebern versteht, zeigt ein Passus einige Seiten später, wo Gutzkow Menzel vorwirft, dieser wolle ihn „vernichten, da er hört, daß ich ein Journal in größtem Stile herauszugeben gedenke". Solche Vorwürfe weist nun Menzel zurück und setzt dem Eigennutz als Beweggrund seines Handelns die selbstlose Sorge um Religion, Sitte und Vaterland entgegen - ein typisches Verfahren der positiven Selbstdarstellung, das Heine, vermutlich angeregt durch genau die zitierte Menzel-Stelle, auf Meta-Metaebene ironisch kommentiert: Sonderbar! Und immer ist es die Religion und immer die Moral und immer der Patriotismus, womit alle schlechten Subjekte ihre Angriffe beschönigen! Sie greifen uns an, nicht aus schäbigen Privatinteressen, nicht aus Schriftstellerneid, nicht aus angeborenem Knechtsinnn, sondern um den lieben Gott, um die guten Sitten und das Vaterland zu retten (Heine 1837/1964, X, 83).

Einige Jahre später bringt Hoff die gleiche Norm gegen Gutzkow zur Geltung (siehe das Textbeispiel Hoff 1839 und Anm. 21), und natürlich versucht auch dieser, sich beim Publikum als Sachwalter höherer Interessen zu profilieren. (B) Die Norm betrifft in erster Linie die Globalintention des Polemikers, die Frage also, warum er sich überhaupt an die Öffentlichkeit wendet, und nicht die Beurteilung der polemischen Mittel im Einzelnen. Sie schützt die Öffentlichkeit vor Streitereien, die, weil nur in individuellen Interessen begründet, das größere Publikum eigentlich nicht zu bekümmern brauchen. Auch wenn die Norm der Einheitlichkeit der Formulierungen zuliebe nur mit „Verfolge keine eigennützigen Zwecke" angegeben ist, gehört die Alternative „Sei höheren Zwecken verpflichtet" integrativ dazu. Die Norm hat die Doppelstruktur „Nicht A, sondern B", und das jeweils andere Element ist mitzudenken, auch wenn im konkreten Text nur eine Hälfte realisiert ist. Was in den Vorwürfen mit entlarvender Tendenz an eigennützigen Motiven genannt wird, klingt wie der Katalog der christlichen Sündenlehre (Eigenliebe,

153 Hochmut, Neid, Zanksucht usw.). Unter Eigennutz fällt aber auch die Verfolgung ökonomischer Interessen, einschließlich solcher, die - überindividuell - im Interesse von Gruppen liegen, die sozusagen dem „Gruppennutz" einer wissenschaftlichen Schule, einer politischen Partei, eines Publikationsorgans, der alleinseligmachenden Kirche oder eines anderen Kollektivs dienen. Schließlich gehören, und das mag überraschen, auch alle reaktiven Polemiken dazu, mit denen sich ein Schreiber gegen vorausgegangene persönliche Angriffe verteidigt. Zwar kann der Schutz der eigenen Ehre mit dem Rechtfertigungsgrund 5.6.1 („Ein persönlich Angegriffener darf sich verteidigen") relativ einfach gerechtfertigt werden, was die Opfer polemischer Angriffe in zahllosen Fällen auch tun; persönliche Ehrenrettungen werden jedoch zunächst einmal als Verstöße gegen die Norm 5.3.1 empfunden. - Das Spektrum der „höheren Zwecke" als der erforderlichen Alternative ist bei Heine (s.o.) angedeutet. Der Norm 5.3.1 „Verfolge keine eigennützigen Zwecke (sondern sei höheren Zwecken verpflichtet)" eng benachbart ist die Norm 5.3.2 „Versuche nicht, die Person des Gegners zu diskreditieren (sondern sei der Klärung der Sache verpflichtet)". Die Nachbarschaft zeigt sich u.a. darin, dass die beiden Zweierpaare gelegentlich über Kreuz kombiniert werden: „Mir geht es nicht um meine eigene Ehre [Eigennutz], sondern um die Wahrheit über jene Vorfalle" [Klärung der Sache], bzw.: „Mir geht es nicht darum, meinen Gegner in ein schlechtes Licht zu setzen [Diskreditierung der Person], sondern um den Schutz des Vaterlandes [höherer Zweck]." (C) Die drei zusammengefassten Äußerungen aus der Mitte des 18. Jahrhunderts dokumentieren exemplarisch die drei Möglichkeiten, sich auf die Norm zu beziehen: Mattheson (1750) realisiert die Vollform (Nicht A, sondern B); Marpurg (1749-1750) beschränkt sich darauf, Α vorzuwerfen, während Sorge (1760) Β in Anspruch nimmt, ohne dass sie das jeweils Komplementäre erwähnen. Die antithetische Struktur scheint auch in anderen Textbeispielen durch, z.B. wenn Eschen (1991) die höheren Zwecke (das „große Ding") als vorgeschobenes Motiv entlarvt, hinter dem egoistische Antriebe stecken. In Hinblick auf die beiden Hauptvarianten, mit denen in der polemischen Metakommunikation auf Normen Bezug genommen wird - Vorwurf der Normverletzung an den Gegner und beanspruchte Regelkonformität fur sich selbst - , überwiegen in den Textbeispielen die Selbstzuschreibungen. Das polemische Subjekt nimmt unprovoziert entweder gleich zu Beginn der Schrift oder retrospektiv am Ende in Anspruch, mit seinem Text nicht eigene, sondern allgemeine Interessen zu verfolgen (Mattheson 1750, Sorge 1760, Müller 1780, Holz 2 1909), oder es verteidigt sich gegen einen faktischen Vorwurf (Menzel 1835c, Lampugnani 1994). Den Selbstzuschreibungen stehen einige Vorwürfe der Eigenützigkeit an den Gegner gegenüber, nicht selten verbunden mit einer ausdrücklichen Negierung der in Anspruch genommenen höheren Zwecke (Marpurg 17491750, Krug 1822, Hoff 1839, Holtzmann 1855, Götz 1923b, Eschen 1991).

154 Die Spielarten des Eigennutzes und der höheren Zwecke variieren in den Textbeispielen. Im ersten Zitat (Marpurg u.a.) stehen „Rachgier" und „eigene Ehre" auf der einen, „Gottes und der [...] Tonkunst Ehre" bzw. „die Ehre unserer deutschen Nation" auf der anderen Seite. Müller (1788) glaubt voraussetzen zu können, dass er „nicht in den Verdacht kommen kann", aus Eigennutz zu schreiben und gibt als höheren Zweck das Sagen der Wahrheit an. Die von ihm als Alternative aufgezählten Motive - „Eigennutz, oder Furcht vor Schaden, oder mit gedungener Feder" - fallen gemeinsam unter den weiten Begriff „Eigennutz" im Sinne der Normformulierung. Das Zitat von Krug (1822) aus einer Verteidigungsschrift gegen eine scharfe Polemik von Fabritius (1822), die wegen ihres denunziatorischen Charakters in den Zeiten der Demagogenverfolgung für Krug nicht ungefährlich war, führt das individuelle und das Gruppeninteresse („persönlicher Vorteil" und „alleinseligmachende Kirche") nebeneinander auf. Das unterstützt die nicht selbstverständliche Entscheidung, diese beiden Interessen gemeinsam dem allgemeinen Interesse als dem höheren gegenüberzustellen. Dass der Vorteil der alleinseligmachenden Kirche selbst ein höherer Zweck ist, dürfte aus der protestantischen Sicht Krugs zu verneinen sein, wie auch die Fabritius ironisch zugebilligte Eigenschaft, ein edler Mann zu sein, nicht ernsthaft in Opposition zur gleichfalls behaupteten Schläue steht. Bei Menzel (1835c) und Hoff (1839) liegt der unterstellte Eigennutz neben der Befriedigung negativ bewerteter Charaktereigenschaften in vielen Schattierungen vor allem in ökonomischen Interessen. Holtzmann (1855) kritisiert an seinem Gegner wie Krug (1822), untergründig auch Menzel (1835c) zuvor und Götz (1923b) später, die Eigennützigkeit des Partei- oder Schulinteresses. Die Selbstcharakterisierung von Holz (1909) scheint ein Beispiel für die Kreuzung der Normen 5.3.1 und 5.3.2 zu sein, weil die „Sache" eigentlich in Opposition zu „Person" und nicht zu „Eigennutz" steht. Doch stehen sich bei Holz, genauer besehen, ganz im Sinne der Norm 5.3.1, der Kampf für seine Person (Eigennutz) und der Kampf für seine Sache, die in seinem Verständnis mehr als individuelle Bedeutung hat, gegenüber. Die letzte Textstelle von Lampugnani (1994) ist von besonderem Interesse, weil in ihr deutlich wird, dass die öffentliche Entgegnung auf Angriffe, wie oben behauptet, in der Tat als problematisch angesehen wird. Lampugnani formuliert dafür sogar eine eigene Regel. Seine Argumentation („geht über ein persönliches Zerwürfnis hinaus") lässt sich problemlos in die hier behandelte Norm übersetzen: Mit meiner Verteidigung gegen polemische Angriffe befriedige ich nicht nur eigene Zwecke, sondern bin höheren Zwecken verpflichtet.

155 5.3.2

Versuche nicht, die Person des Gegners zu diskreditieren

5.3.2.1

Textbeispiele

Sorge 1760 Ich bleibe bey der streitigen Sache, und lasse Sie übrigens in ihren Ehren und Würden ungekränkt. (1)

Voß 1782 Seine Untersuchung [...] hat nicht sowol die Absicht, mir meinen Irrthum wegen des Schöpsenlautes zu benemen, als vielmehr, alle meine Ansprüche auf Verstand, Fleiß, Gefühl, Rechtschaffenheit, gute Sitten, bürgerliches Glück, edle Freunde, ja fast auf Menschlichkeit selbst, mit Einem Streiche zu vernichten. (215f.)

Campe 1789/1993 u. Moritz 1789/1993 Und nun bitte ich den sanftesten unter meinen sanften Lesern, zu entscheiden: ob ich nach einem solchen Verfahren, wobei Herr Moritz, nicht etwa meiner schriftstellerischen - dies hätte ich ihm leicht verzeihen können - sondern meiner sittlichen und bürgerlichen Ehre einen tödtlichen Stich zu versetzen suchte, umhin konnte, die Wahrheit oder, welches hier leider! einerlei war, seine Schande, so wie ich gethan habe, öffentlich ans Licht treten zu lassen? (30) So schreibt Herr Campe, nachdem er meinen guten Namen auf immer glaubt vernichtet zu haben, jezt von mir, und am 15. Jenner 1787 schrieb er mir selbst noch fast mit denselbigen Worten nach Rom, er werde einen Mann, dessen Nahmen ich verschweige, geradezu moralisch todtschlagen. - Ich überlasse es nun einem jeden, der diese meine Schrift gelesen hat, zu entscheiden, in wiefern Herr Campe seine Kunst, die Leute moralisch todtzuschlagen, auch an mir versucht hat. (69f.)

Paulus 1820 Also nicht gegen Personen, sondern darum sind diese Blätter geschrieben, damit die Gründe, die sie enthalten, Gegengründe erwecken, damit die Wahrheit erkannt und dadurch die Freiheit erhalten oder gewonnen werde. (IV)

Hoff 1839/1977 Es ist eine widerliche und wahrhaft Ekel erregende Erscheinung, wenn ein begabter Mensch, der als Schriftsteller vor einer Nation auftritt, sein Talent fast ausschließlich dazu mißbraucht, Anderen zu schaden, sie herabsetzen und kränken zu wollen. (3)

Schenkel 1854 Die Schrift des Herrn Fischer zerfällt eigentlich in zwei Theile. Der eine ist mit den rohesten persönlichen Ausfällen und Schmähungen gegen meine Person angefüllt und scheint den Zweck zu haben, mich, wenn immer möglich, moralisch zu vernichten. Der zweite scheint sich mit der Sache befassen zu wollen, die übrigens auch nur dazu dienen muß, zu persönlichen Invektiven stets erwünschte Veranlassung zu bieten. Die Schrift selbst verdient im Ganzen keinen anderen Namen als den einer von persönlichen Injurien strotzenden Schmähschrift. (3)

156 Dennert 2 1905 Ruhige Kritiker haben den hier dargelegten Tatbestand anerkannt oder doch höchstens gesagt, ich hätte einseitig berichtet, eine gewisse Sorte von Kritikern aber ist über mich hergefallen, und hat, statt ihren Lesern ein objektives Bild des Buches zu gewähren, versucht, mich in deren Augen durch persönliche Verunglimpfung unmöglich zu machen. (5) Goetz 1935 Nur hat Dr. Bertalot inzwischen sein Material dadurch vervollständigt, daß er die von Dr. Baron besuchten Bibliotheken ebenfalls aufgesucht, ja in der Vaticana (wie er selbst naiv erzählt) sich die von Dr. Baron benutzten Ausleihzettel hat vorlegen lassen, um festzustellen, was etwa nicht benutzt ist, und daß er ferner sich Privatbriefe Dr. Barons an italienische Gelehrte hat aushändigen lassen. Herr Bertalot muß unendlich viel Zeit und Taktgefühl besitzen, daß er derartige Wege einschlagen konnte, um einen anderen Gelehrten mit geradezu fanatischem Hasse zu verfolgen. (250) Greiner 1990 Aber mißachten wir nicht, wenn wir so mit Christa Wolf ins Gericht gehen, ein elementares Gebot, das wir schon im Proseminar gelernt haben? „Was bleibt" nennt sich Erzählung, soll also Literatur sein, Fiktion, die wir nicht verwechseln sollen mit einem wahrheitsgetreuen Bericht. [...] Nein, es hat keinen Zweck, so zu tun, als wüßten wir nicht, wer da spricht und wovon er spricht. Es ist Christa Wolf, es ist der SED-Staat. (63) Schwarzer 1993 Der Sohn begnügt sich mit dem Versuch der Diskreditierung meiner Person, um so meine Arbeit unglaubwürdig zu machen - und dabei sind ihm alle Mittel recht, auch die albernsten. (93)

5.3.3.2

Kommentar

(A) Der öffentliche Streit zwischen Campe und Moritz, begonnen von Moritz, ausgefochten in zwei Runden mit jeweils zwei Schriften, und endend mit der kurzen zweiten Entgegnung Campes, betraf rückblickend das beiderseitige Verhalten nach einem zwischen Verleger und Autor 1786 geschlossenen Vertrag, demzufolge Moritz gegen Honorarvorschüsse Manuskripte von seiner Italienreise an Campe liefern sollte. Die vier Streittexte weisen eine hohe polemische Dichte auf metakommunikativer Ebene auf, auf der besonders Akte des Persönlichwerdens bzw. die aus ihnen erschlossenen Intentionen eine prominente Rolle spielen. Das ist kaum überraschend, weil der Streit sich ja auf Verhaltensweisen der Kontrahenten bezog, die sich nicht leicht von der Person ablösen lassen. So trennt Campe im ersten Zitat auch nicht wie üblich Person und Sache, sondern zieht die Grenze fur den erlaubten Angriff durch die Person hindurch: die „schriftstellerische" Ehre steht der „sittlichen und bürgerlichen" gegenüber. Die berufliche Rolle, mit der die schriftstellerische Ehre verbunden ist, also ein As-

157 pekt der Person, wird sozusagen zur „Sache". Der Angriff auf andere Aspekte der Person, z.B. die sittliche und bürgerliche Existenz, bleiben kritisierbar. Thematisiert werden in den Bezügen auf die Norm 5.3.3.2 allerdings weniger die Akte selbst als die Intention, mit ihnen der Person des Gegners öffentlich schaden zu wollen. Dabei ist nicht untypisch, dass die Kontrahenten sich wechselseitig die gleichen Vorwürfe machen, nicht untypisch auch die Vernichtungsrhetorik („tödtlicher Stich", „todtzuschlagen"). Die Ähnlichkeiten in den Formulierungen, zu denen auch die explizite Wendung an das Publikum gehört, gehen in diesem Fall über die bloße Parallelität hinaus, da die Passage von Moritz eine direkte Reaktion auf die Beschuldigung Campes ist. Dessen Zitat enthält neben dem Vorwurf an den Gegner zugleich eine prophylaktische Verteidigung des eigenen Verhaltens, in der er zugibt, mit seiner Schrift die Schande seines Gegners öffentlich gemacht zu haben. Die dadurch bewirkte Diskreditierung seines Gegners erscheint aber als bedauerlicher Nebeneffekt des Zwangs, seine von Moritz verletzte sittliche und bürgerliche Ehre retten zu müssen. (B) Die Norm, die ebenfalls eine Doppelstruktur hat, die ausformuliert „Richte dein Interesse auf die Klärung der Sache und versuche nicht, die Person des Gegners zu diskreditieren" lautet, hat eine besondere Nähe zur Norm 5.4.4 („Mache keine Äußerungen, die geeignet sind, die Person des Gegners zu diskreditieren, sondern halte dich an die Sache"), und man könnte auch in diesem Fall meinen, beides seien nur Formulierungsvarianten für das Gleiche. Die polemische Metakommunikation legt aber die Annahme zweier Normen nahe. Wenn der Vorwurf an den Gegner, Norm 5.3.2 zu verletzen, mit Verweis auf Handlungen des Persönlichwerdens im Sinne der Norm 5.4.4 gestützt wird, oder wenn die Absichtserklärung, streng an der Klärung der Sache interessiert zu sein, mit dem Versprechen verbunden wird, auf alle argumenta ad personam zu verzichten, wird zwar eine enge Beziehung zwischen den Intentionen und den Handlungen geknüpft; eine Beziehung kann aber immer nur zwischen etwas bestehen, was als getrennt existierend wahrgenommen wird. Im übrigen ist es keineswegs so, dass die Intention, die Person zu diskreditieren, notwendig Handlungen des Persönlichwerdens nach sich zieht. Ob umgekehrt Akte des Persönlichwerdens immer auf die Intention schließen lassen, die Person diskreditieren zu wollen, hängt von der Definition des Begriffs Persönlichwerden ab. In der anderen Richtung aber besteht sicherlich kein striktes Abhängigkeitsverhältnis. Das Ziel, den Gegner in den Augen der polemischen Instanz zu diskreditieren, kann ich unter Umständen gänzlich ohne Akte des Persönlichwerdens, z.B. durch fehlerhafte Wiedergabe der Position des Gegners (Norm 5.4.2), durch wissentliche Unwahrheiten (Norm 5.4.3) oder sogar gerade durch das Äußern der „ungeschminkten Wahrheit" erreichen. (C) Der hauptsächliche Äußerungstyp ist neben Erklärungen des polemischen Subjekts zu seinen eigenen - positiv zu wertenden - Intentionen (Sorge 1760, Paulus 1820) der Vorwurf an die Adresse des Gegners, mit seiner Schrift die Norm verletzt zu haben. Das gleiche Ziel kann man mit lexikalischen Mitteln, nämlich über die Wahl der Ausdrücke für das eigene und das fremde Textprodukt

158 zu erreichen suchen. Zahlreiche texttypbezeichnende Ausdrücke, die im Deutschen zur Verfugung stehen, implizieren den Vorwurf, die Person diskreditieren zu wollen (Hetzschrift, Lästerschrift, Pasquill, Schandschrift, Schmähschrift, Verleumdung u.a), während andere Sachbezogenheit nahelegen oder zumindest nicht ausschließen und die eigene Schrift von der des Gegners positiv absetzen können (.Abhandlung, Aufsatz, Kritik, Streitschrift, Unparteiische Untersuchung, Widerlegung u.a.). Die Doppelstruktur (nicht A, sondern Β/ Β statt A) ist in einigen Zitaten ausgeführt (Sorge 1760, Voß 1782, Paulus 1820, Schenkel 1854, Dennert 2 1905)); in den Vorwürfen an den Gegner begnügen sich die Schreiber hingegen oft mit der Benennung der kritikwürdigen Intentionen (Campe und Moritz 1789, Hoff 1839, Goetz 1935, Schwarzer 1993). (D) Die Norm 5.3.2 gehört, wenn auch übertroffen von dem Äquivalent auf der Handlungsebene (Norm 5.4.4), zu denen, die im gesamten Untersuchungszeitraum am häufigsten angesprochen werden. Das überrascht nicht und besagt nicht viel, weil das Ziel der Diskreditierung des Gegners ja allgemeines Merkmal des dieser Untersuchung zugrundegelegten Begriffs polemischer Text ist. Ein relevantes Untersuchungsergebnis ist aber, dass die Unterscheidung von Person und Sache, verglichen mit den vielfaltigen Problematisierungen in der extrakommunikativen Reflexion (vgl. Kapitel 3.3.2), in der polemischen Metakommunikation weder als solche noch in ihrer Anwendung in Zweifel gezogen wird. Unter den Textbeispielen ist Greiner (1990) allerdings ein Sonderfall. Er begegnet dem Vorwurf der verbalen Hinrichtung der Autorin Christa Wolf mit der Überlegung, dass die Sache (das Buch) und die Person (die Autorin), zumindest in diesem Fall, entgegen der üblichen literaturtheoretischen Forderung, nicht trennbar seien, so dass die Norm 5.3.2, die die Trennung voraussetzt, nicht anwendbar sei.

5.3.3

(?) R e d e nicht d e m P u b l i k u m zu G e f a l l e n

5.3.3.1

Textbeispiele

Voß 1782 Traute er seiner Sache so wenig, daß er, um sein Mütlein zu kühlen, zu dergleichen Behelfen sich erniedrigen mußte? Oder denkt er, unser Publikum sei gutmütig genug, sich selbst an Niederträchtigkeiten zu weiden, wenn man sie nur mit einem launichten Frazengesichte vorträgt? gutmütig genug, dem Lügner Beifall zu klatschen, wenn er nur seinen Gegner mit rascher Spaßhaftigkeit aus dem Felde lügt? (229f.)

Gutzkow 1835b/1972 Hiermit schließ' ich für immer, was ich aus Menzels Lokalverhältnissen und seiner widerlichen Persönlichkeit brauchte, um ihn einigermaßen in's rechte Licht zu stellen. Ich werde den Vorhang, hinter welchem sich ein ruinirter Körper und Charakter verbirgt, nicht wieder

159 aufdecken, und meinem Gegner die Furcht ersparen, daß die Welt von ihm noch mehr zu hören bekomen solle. Dies mein freiwilliges Begeben einer beim großen Haufen immer siegreichen Waffe wird seinen Muth steigern, aber ich will alles dulden [...]. (I, 74f.) Hoff 1839/1977 Die Gutzkowgraphie, eine edle ganz neue Schreibart, besteht nemlich darin, so arrogant und übermüthig als möglich zu schreiben, und in Kritiken und andern Aufsätzen bald diesen bald Jenen empfindlich und tückisch anzugreifen, so daß hier und da Einer sich verletzt fühlt, es nicht einstecken will, und ihm daher in einem öffentlichen Blatte antwortet. Das lesen die Leute und so wollen sie auch wieder lesen, was der Gutzkowgraph dagegen sagt, denn das Publikum liebt den Skandal und amüsirt sich daran. (69) Fischer 2 1870 Wenn eine polemische Schrift, noch bevor sie den Mund zur Erörterung der Sache öffnet, ein Motto zur Schau stellt, welches den Leser einzunehmen sucht, so darf man ein solches Verfahren wohl zu den Wortkünsten rechnen, die man gerechterweise verschmähen sollte. Mein Gegner liebt die Mottos und wählt sie so, dass er dabei nicht zu kurz kommt. (5) Holz 1900 Stürzt sich ein Kritiker auf einen Autor, so kann er von vornherein sicher sein, dass der Janhagel ihm Beifall johlt. Dreht sich dann aber mal ein Autor gegen einen Kritiker und verdrischt er ihn gar, nach allen Kanten und mit dem Knieriemen, so verdriesst dieses Schauspiel auch den Gebildeten und er runzelt missbilligend die Stirn. Missbilligend und misstrauisch. Ich lege den Hauptton auf das Zweite. Ich halte es daher für unumgänglich nöthig, den Punkt, von dem ich hier ausgehe, mit aller Präzision festzulegen. (11) Eulenburg 1925 Er sieht beim Schaffen nach dem Publikum. Ja! Es ist so, ihr seine über diese Erkenntnis entrüsteten Anhänger, er, der Vernichter der Romantik, der Gegner der Leidenschaft und des tiefen Ernstes, der Umgestaltung der Bühne mit der auf ihr vertretenen Sittlichkeit, er liebäugelt immerzu mit der Welt der Zuschauer und besteht aus Rücksicht auf sie. Es ist nämlich gar nicht wahr, daß das Publikum es ungern sieht oder hört, wenn man das Hohe verhöhnt, der Feierlichkeit spottet und das Erhabene in den Staub zieht. Nein! Der Menschenplunder wartet geradezu stets darauf, daß das Große sich eine Blöße gibt oder lächerlich gemacht wird. Das Pack benützt den leisesten Anlaß gern, wie man bei jedem Theaterbesuch feststellen kann, wo es lachen darf oder will, und es fühlt sich erleichtert und bestätigt, wenn man das Kleine, das Mittelmäßige lobt, wie Shaw dies immerzu betreibt. (47f.)

5.3.3.2 Kommentar (A) Fischer war, wie er selbst sagt, schon „seit mehreren Jahren [ . . . ] mit Herrn Professor Trendelenburg in Berlin in einen Streit verwickelt" (1870, 3), bevor die Auseinandersetzung mit Trendelenburgs Broschüre Kuno Fischer und sein Kant eine neue Qualität gewann; denn: „Die Form der Broschüre ändert den äußeren Schauplatz des Streites und verlegt ihn sozusagen auf den offenen Markt" (5).

160 Fischer folgt dem Gegner - wenn auch ungern und gezwungen - „auf die von ihm gewählte Rennbahn" (6), indem er die Streitschrift Anti-Trendelenburg. Eine Gegenschrift veröffentlicht, aus der das Textbeispiel stammt. Seine Kritik bezieht sich auf den Spruch „Veritas odium parit", den Trendelenburg direkt unter den Titel seiner Broschüre gesetzt hatte. Mit der klaren Verteilung („auf seiner Seite die Wahrheit und auf der meinigen der Hass") nimmt der Spruch wie vorher schon der Titel der Broschüre, so moniert Fischer, „ohne Mühe das Urtheil vorweg" (5), bevor auch nur der Streitpunkt geklärt und das erste Argument vorgebracht wurde. Dieses Vorgehen verurteilt Fischer als eine zu verschmähende Wortkunst, die das Ziel hat, den Leser sogleich auf die eigene Seite zu ziehen. (B) Verallgemeinert man diese Bewertung Fischers, so verfiele jede intentionale Orientierung an den Prädispositionen der Leser der Kritik, weil sie (1) dysfunktional ist (nicht zur Klärung der Sache beiträgt) und (2) ethisch kritisierbar ist, wenn und soweit sie an „niedere Instinkte" des Publikums appelliert und diese auf den Gegner lenkt. Die Orientierung der Mittel an den Adressaten ist zwar Grundprinzip jeder rhetorischen Rede, unterliegt jedoch trotzdem in bestimmten Text- und Diskurstypen bzw. Kommunikationsbereichen einer negativen Bewertung. Überall, wo das Ziel die Klärung von (strittigen) Sachverhalten oder die Widerlegung der der Wahrheit entgegenstehenden Meinungen ist, gewinnt die negative Bewertung eine gewisse Plausibilität, entscheidet sich doch die Wahrheit im Blick auf den Gegenstand und nicht auf die variierenden Leserschaften. So wird nicht selten in der extrakommunikativen Reflexion argumentiert, und auch der polemischen Metakommunikation ist dieser rhetorikfeindliche Gedanke nicht ganz fremd (vgl. insbesondere Kapitel 5.5.2). Auch wenn der Sachbezug in der Polemik nicht wirklich im Vordergrund steht; wird er doch für die Tätigkeit des Polemikers im Rahmen der polemischen Konstellation textintern reklamiert. Deshalb ist es naheliegend, dem Gegner ein Schielen nach dem Publikum vorzuwerfen und für sich selbst den unbeirrten Blick auf die Sache in Anspruch zu nehmen. (C) In den untersuchten Texten ist jedoch die negative Bewertung und Vorwerfbarkeit adressatenbezogenen sprachlichen Handelns mit dem Ziel, das Publikum für sich einzunehmen, nur schwach zu belegen. Es fehlt vorab schon quantitativ an Beispielen. Voß (1782) identifiziert das „launichte Frazengesicht" und die „Spaßhaftigkeit" als kritisierbare Orientierung Lichtenbergs am Publikum, zu der man nur greife, wenn man seiner Sache nicht sicher ist. Gutzkow (1835b) glaubt offenbar, seinen Kredit bei seinem Publikum erhöhen zu können, wenn er auf eine „beim großen Haufen immer siegreiche Waffe" verzichtet. Hoff (1839) behauptet ganz im Gegenteil, dass die Gutzkowgraphie darauf angelegt sei, die Skandalsucht des Publikums zu befriedigen. Das Zitat von Eulenburg (1925) gehört nur am Rande in den hier behandelten Zusammenhang, weil seine Kritik sich nicht auf einen polemischen Text, sondern auf die literarischen Werke George Bernhard Shaws bezieht.

161 (D) Die Beispiele sind bei weitem nicht zahlreich genug, um die Wirksamkeit der im Titel formulierten Norm in der polemischen Metakommunikation überzeugend behaupten zu können. Allenfalls könnte man zu bedenken geben, dass die Norm im Untersuchungsmaterial vielleicht nur deshalb nicht deutlicher in Erscheinung tritt, weil der Polemiker, der seinem Gegner die Orientierung am Publikum vorwirft, selbst leicht in die Nähe der Publikumsbeschimpfung gerät. Die vorgeworfene Strategie kann ja nur dann Erfolg haben, wenn das Publikum sich täuschen lässt bzw. tatsächlich an der sachlichen Auseinandersetzung kein Interesse hat und den Skandal vorzieht. Und genau das charakterisiert das Publikum, von dem in den meisten Äußerungen die Rede ist: „den großen Haufen", „den Janhagel", „den Menschenplunder". Dass eine Orientierung an diesem Publikum der negativen Bewertung verfallt, braucht trotz der geringen Zahl von Beispieltexten nicht bezweifelt zu werden. Die Frage aber, ob die anti-rhetorische Tendenz, die in der polemischen Metakommunikation auch sonst gelegetlich zum Vorschein kommt, das rhetorische Prinzip der Orientierung des Redners am Empfänger generell in Mitleidenschaft zieht, bleibt offen. Es gibt dafür Hinweise, die aber insgesamt unsicher bleiben. Eine Norm mit Fragezeichen.

5.3.4

(?) Streite nicht im Z u s t a n d emotionaler E r r e g u n g

5.3.4.1

Textbeispiele

Kästner 1741 Man zeiget, daß der Gegner Unrecht habe, und zeiget dieses mit Gelassenheit. (252)

Lessing 1768-1769/ 3 1894 u. 1778a/ 3 1897 Ich weis nicht, was ich bin, oder zu seyn scheinen mag. So viel weis ich, das ich das, was ich bin, mit sehr kaltem Blute bin. Es ist nicht Hitze, nicht Uebereilung, die mich auf den Ton gestimmt, in welchem man mich mit Herrn Klotzen höret. Es ist der ruhigste Vorbedacht, die langsamste Ueberlegung, mit der ich jedes Wort gegen ihn niederschreibe. (X, 430) Ich fühle es sehr wohl, daß mein Blut anders umfleußt itzt, da ich diese Duplik ende, als da ich sie anfieng. Ich fieng so ruhig an, so fest entschlossen, alles, was ich zu sagen habe, so kalt, so gleichgültig zu sagen, als ich bin, wenn ich auf meinen Spaziergängen, vor langer Weile, Schritte zähle. Und ich ende so bewegt, kann es so wenig in Abrede seyn, daß ich vieles so warm, so theilnehmend gesagt habe, als ich mich schämen würde, in einer Sache meines einzigen Halses zu sprechen [...]. Was soll ich thun? Mich entschuldigen? Mit der albernen Mine eines unausgelernten Heuchlers um Vergebung bitten? Versprechen, daß ich ein andermal besser auf meiner Hut seyn wolle? Kann ich das? Ich versprechen? - Ja, ja; ich verspreche: - mir es nie wieder auch nur vorzunehmen, bey gewissen Dingen kalt und gleichgültig zu bleiben. Wenn der Mensch bey dem, was er deutlich für Mißhandlung der Vernunft und Schrift erkennet, nicht warm und theilnehmend werden darf: wann und wo darf er es denn? (XIII, 89f.)

162 Anonymus 1776/1987 Es ist nemlich bekannt, daß der brave Herr D. Jung, beym Lesen des zweyten Bandes der Leben und Meinungen des Hrn. Mag. Sebald. Nothankers, in überaus großen Eifer gerathen, und in diesem seinen starken Eifer gegen den Nothankerschen Verfasser, als gegen einen hohnsprechenden Philister, in Gestalt eines Hirtenknaben mit der Schleuder in der Hand, vorgeschritten ist. Hr. D. Jung, hätte, unseres Erachtens, freylich besser getan, wenn er die Steine, die er gegen den Philister verschleudern wollte, besser ausgewählt, und mit ruhigerer Ueberlegung nach seinem Gegner gezielt hätte. (197)

Ayrenhoff 1782/1803 Tadeln Sie freymüthig, aber ohne Bitterkeit und Spott. Was Verachtung verdient, ist ohnehin unter der Kritik. Nur tadeln und loben sie immer mit Maaß. Ein Kunstrichter muß sich nie als Enthusiast, er muß sich immer als gelassener, kaltblütiger Richter zeigen. Je mehr seine Phantasie, beym Durchlesen eines schönen oder schimmernden Werks in Brand geräth, desto länger lasse er sie auskühlen! eh er ein Urtheil niederschreibt. Selbst der enthusiastische Ton oder convulsivische Styl einer Kritik ist ein untrügliches Merkmal ihres Unwerths. (121f.)

Knigge 1792 Wenn ich also zuweilen ein wenig heftig gegen Beschränkung der natürlichen Freiheit eifre; so redet nicht Leidenschaft aus mir. Dies kann noch weniger der Fall seyn, wenn ich von den ungerechten Anmaßungen der Edelleute und Priester rede. In diesen nördlichen Gegenden kennen wir den Despotismus aller Art gottlob! nicht aus eigner traurigen Erfahrung; aber ich habe ehemals Gelegenheit gehabt, seine Greuel in der Nähe zu sehen; und das hat Eindrükke in mir zurükgelassen, die meinen Schilderungen einen Anstrich von Bitterkeit geben, welche nicht in meinem Herzen ist. (VI)

Fischer 1853 So werde ich sie [die Vorwürfe des Gegners] eben so ruhig, nur etwas weniger gleichgiltig beantworten, als ich in meiner Vorrede die bezüglichen Sätze niedergeschrieben habe. [...] Die Ausbrüche bloßer Leidenschaft [des Gegners], so sehr sie einen Augenblick lang das üble Selbstgefühl kitzeln mögen, ziemen am wenigsten dem, welcher die Miene der Demuth annimmt, wenigstens sollte es diese Miene nicht sein, womit man dem Andern mit aller Gewalt die Maske des Hochmuths aufzureden sucht. (4)

Holtzmann 1855 [...] mußten [sie] seinen Gründen in Ruhe entgegnen und ihn des Irrthums überweisen, wenn sie konnten. Aber davon ist nicht die Rede, sondern in einer Gereiztheit, die durch ihre Maßlosigkeit auf jeden Unbetheiligten wahrhaft komisch wirken muß, wird Zarncke gleich von Anfang mit Schmähungen aller Art Übergossen. (44)

Müllenhoff 1855b Herr Zarncke eröffnet S. 14, seiner Gewohnheit nach, mit einigen schönen und geistreichen, im Grunde aber läppischen Redensarten, um zuvor dem Leser die Vorstellung von einem besonnenen nüchternen Kritiker zu geben, die Beweisführung: [...]. (89)

163 Bartels 1908 Sauer war als Jude, wie seine Kritik selber deutlich zeigt, über mein Buch in Wut geraten und hatte in dieser Wut toll und blind darauf los geschrieben; das kommt ihm natürlich menschlich zu gute. Der Fall Maync steht schlimmer, [...]. (152)

Kranold 1918 Weiter ist zu sagen, daß Haller sich sehr häufig der Kunst des Lesens nicht gewachsen zeigt. Er macht sich in blinder Leidenschaft einen Hoetsch zum Privatgebrauch zurecht und treibt mit Hilfe dieses Instruments nun diese Art von polemischer Selbstbefriedigung. (419)

5.3.4.2

Kommentar

(A) Als Holtzmann 1854 seine Untersuchungen über das Nibelungenlied veröffentlichte, war er sich bewusst, dass er sich mit seiner Polemik gegen die herrschende Meinung über die Entstehung des Nibelungenliedes und die Beziehungen zwischen den überlieferten Handschriften in einer „gefahrlichen Stellung" (1854, V) befand. In der Tat ließ der Gegenangriff der Berliner Lachmann-Schule nicht lange auf sich warten. Schon im Dezemberheft der Allgemeinen Monatsschrift, ausgeliefert im Februar 1855, erschien die auch separat gedruckte Schrift Zur Geschichte der Nibelunge Not von Müllenhoff (1855b), die auf den Seiten 77-103 eine radikale Kritik an Holtzmanns Auffassungen enthält. Holtzmann reagiert postwendend mit einer noch im Februar verfassten 76seitigen Entgegnung Kampf um der Nibelunge Hort gegen Lachmanns Nachtreter (Holtzmann 1855). In dieser Schrift spielt die Kritik an der Gereiztheit und Leidenschaftlichkeit seiner Gegner, kontrastiert mit Ruhe und Besonnenheit, die Holtzmann sich selbst und seiner Partei zuschreibt, eine große Rolle. Die Gegenüberstellung schlachtet Holtzmann über das Textbeispiel hinaus weidlich aus (S. 9-19 u.ö.); doch handelt es sich nicht immer um eine normbezogene Thematisierung der Emotionalität. Im Textbeispiel ist der Vorwurfcharakter der Behauptung, die Gegner hätten Zarncke „gleich von Anfang an mit Schmähungen aller Art übergössen", weil sie ihn des Irrtums nicht überweisen konnten, recht deutlich. An anderen Stellen aber stellt Holtzmann zwischen Gemütszustand des Schreibers und Schreibprodukt nur eine kausale Beziehung her, um die inhaltliche Position derer, die so leidenschaftlich sind, zu schwächen, ohne erkennbar mit einer kommunikativen Norm zu argumentieren. Der Hinweis auf die emotionalen Zustände schwächt bzw. stärkt die Glaubwürdigkeit des Gesagten, weil der Ruhige und Besonnene nach allgemeiner Annahme die Sachlage besser einschätzen kann als der Erregte. 22 Gereiztheit, die den Verstand 22

Holtzmann (1855, 9) verlässt sich nicht darauf, dass das Publikum aus der behaupteten Ruhe bzw. Leidenschaftlichkeit allein die richtigen Schlüsse zieht, sondern sagt ihm vorsichtshalber, was es zu denken hat: „Wenn nun der Unbetheiligte diesen Streit betrachtet, wenn er sieht, wie einerseits Zarncke und ich mit Ruhe unsre Ansichten entwickeln, wie auf der andern Seite der höchste Grad der Erbitterung nicht zu verkennen ist, so wird er von vom herein geneigt sein, derjenigen Seite Unrecht zu geben, welche lei-

164 vernebelt, ist aber nur bedingt kontrollierbar und deshalb gerade nicht vorwerfbar und als Normverletzung einklagbar. (B) Von den „Gemütszuständen" der Beteiligten ist in der polemischen Metakommunikation recht häufig die Rede, sei es, dass der Schreiber über seinen eigenen Zustand Aussagen macht, sich also Ruhe, Besonnenheit, Gelassenheit o.ä. zuschreibt, sei es, dass er den Zustand des Gegners charakterisiert, der sich in leidenschaftlicher Erregung, Wut oder anderen intensiven Affektzuständen befinde. Solche Äußerungen sind immer ein Zug in der Zielrealisation des polemischen Subjekts, lassen aber keineswegs immer einen Bezug auf eine Norm erkennen. Oft dienen sie, wie schon das Beispiel Holtzmann gezeigt hat, der Erhöhung der eigenen Glaubwürdigkeit bzw. der Minderung der Glaubwürdigkeit des Gegners, indem die Verlässlichkeit des jeweils Gesagten mit Verweis auf den Geisteszustand des Urhebers gestützt oder in Zweifel gezogen wird. 23 Eine weitere Funktion solcher Äußerungen besteht darin, den Verdacht, als getroffener Hund zu bellen, von sich abzuwenden oder ihn, wenn die Reaktion des Gegners Thema ist, auf den Gegner zu lenken. 24 Soweit die Thematisierung der emotionalen Zustände wirklich normbezogen ist, ist der zu schützende Wert die Wahrheit über die zu klärende Sache. Bringt man diesen Wert vorwerfend zur Geltung, so setzt das die Annahme voraus, dass man den Gegner für seine Emotionen verantwortlich machen kann. Das widerspricht nun aber entschieden der gut belegten Wirksamkeit der Emotionalität als Entschuldigungsgrund, 25 zu schweigen davon, dass Emotionalität, w i e Gloy zumindest fur den privaten Streit behauptet, Glaubwürdigkeit sogar erhöhen

23

24

25

denschaftlich ist." Dies sichergestellt, kann sich Holtzmann anschließend in überlegener Haltung die Warnung an die Leser leisten, „nicht vorschnell zu urtheilen"; denn : „Es könnte doch übereilt sein, aus dem Zorn der Herren Haupt und Müllenhoff auf ihr Unrecht zu schließen. Es gibt ja gewiß Fälle, wo der ruhigste Mensch in Wallung geräth, und unmöglich kaltblütig bleiben kann [...]." So behauptet auch Schenkel (1854, lOf.) von seinem Gegner, „daß der junge Mann, der jetzt so muthwillig die Ehre meines Namens antastet und mich der öffentlichen Verachtung Preis geben möchte, nur in einer bedauerlichen Verirrung seines Kopfes und seines Herzens und als ein Opfer sinn- und gewissensverwirrender Leidenschaft handelt". Was kann man schon auf das geben, was jemand in einem solchen Zustand von sich gibt?! Weder Zustand noch Verhalten des jungen Mannes können indes als schuldhafte Normverletzung angesehen werden. In seiner „bedauerlichen Verirrung" ist er ja selbst Opfer und nicht für sein Handeln verantwortlicher Täter. Mit dieser Zielrichtung präsentiert sich z.B. Voß (1782, 250) als jemand, der über alle Vorwürfe seines Gegners Lichtenberg erhaben ist: „Warum meine Antwort auf den heftigen Angrif eines so gelehrten, wizigen und berümten Mannes so ruhig ist? Weil ich von der sichern Höhe der Wahrheit und Rechtschaffenheit auf ihn hinabsehe." - Zum Gestus „Ich bin unantastbar" in der Reaktion auf Personalien vgl. auch Wunnicke 1991, 53. Emotionale Erregung ist in der polemischen Metakommunikation ein wichtiger Entschuldigungsgrund für Normverstöße (siehe Kapitel 5.6.5), extrakommunikativ gestützt durch die juristische Beurteilung des Handelns im Affekt. Die gleiche Auffassung bestätigen Groeben u.a. (1990-1992) für das alltagsweltliche Denken.

165 kann. 26 Die Möglichkeit, Ruhe und Besonnenheit trotzdem normativ einzuklagen, eröffnet sich grundsätzlich dadurch, dass man zwar im Affekt sein Handeln nur bedingt steuern kann, jedoch eventuell vermeiden kann, in einen solchen Zustand zu geraten. Und in jedem Fall ist steuerbar, ob man ein in einem solchen Zustand verfertigtes Schreibprodukt der Öffentlichkeit übergibt. 27 Die Verantwortung für den eigenen Geisteszustand beim Schreiben liegt also in der Möglichkeit, sich seinen Gefühlen nicht widerstandslos zu überlassen. Vor allem ist es eine zumutbare Erwartung, dass der Polemiker mit dem Schreiben wartet, bis sich die A f fekte beruhigt haben, oder dass er das im Affekt Geschriebene nicht aus der Hand gibt. Im Falle geschriebener Texte ist ja die entschuldigende Berufung auf Zustände emotionaler Erregung ohnehin viel weniger überzeugend als in spontanmündlichen Redesituationen, weil Entschuldbarkeit des „Handelns im Affekt" Spontaneität voraussetzt. Eine Emotion bzw. deren Spuren in einem polemischen Text, die den gesamten Schreib- und Druckprozess, einschließlich Bearbeitung und Fahnenkorrektur, überstanden haben, können jedoch kaum als spontan und ungeplant gelten. Die im Titel dieses Abschnitts formulierte Norm steht also nicht unbedingt im Widerspruch zu der entschuldigenden Wirkung emotionaler

26

27

„Es besteht bei Dritten eine deutliche Tendenz, die emotionale Aufgeladenheit eines Kontrahenten als Zeichen des Engagiertseins zu tolerieren, als Zeichen dafür, daß jemand ernsthaft im Kern ihrer bzw. seiner Persönlichkeit berührt worden ist und sich ,authentisch' verhält. Das Recht, auch scharf zu kämpfen, wird also zugestanden, insbesondere dann, wenn diese Person in der Rolle der angegriffenen Person ist. Diese Billigung scheint der Proponent auch vom Opponenten zu verlangen" (Gloy 1996, 368). Immerhin spricht er von der Tendenz, solche Emotionalität „zu tolerieren", was sie selbst dann doch wieder zu etwas grundsätzlich Negativem macht. So betrachtet auch das Zedlersche Lexikon emotionale Erregungszustände durchaus als etwas, was wenigstens teilweise in der Verantwortung des Disputanten liegt. Im Artikel „Disputirkunst" (Bd. 7 [1734], 1059) wird Wert darauf gelegt, dass „ein grosser Unterschied zwischen dem Disputiren und Zancken seyn" müsse, und vom Zank heißt es: „Der Zanck ist eine hefftige Collision derer Adfecten; wo kann aber bey zwey sich widerstreitenden Gemüths-Bewegungen eine vernünfftige Untersuchung Platz haben?" Eine rhetorische Frage, die keiner Beantwortung bedarf! Wird insoweit nur die Schädlichkeit der Affekte für eine vernünftige Untersuchung behauptet, so wird im Artikel „Methode (-Widerlegungs-)" die Vermeidbarkeit dieser Gefahr unterstellt und die faktische Vermeidung den Disputierenden zur Aufgabe gemacht: Die Polemik erfordere „mit allem Fleisse dahin zu sehen, daß man nicht den Zanck-Geist herrschen, und ihm die Direction der Feder überlasse" (Zedier, Bd. 20, 1337). Dieses Gebot gilt besonders für die schriftliche Kommunikation. Die Möglichkeit, die Affekte zu beherrschen, ist dort größer, weil, noch einmal der Artikel „Disputirkunst", „wegen der Zeit die Leidenschafften des Gemüthes bey dem schriftlichen Vortrage eher als bey dem mündlichen gemäßiget werden" (Zedier, Bd. 7, 1058). - Ohne die Möglichkeit, den Ausdruck der eigenen Gefühle zu kontrollieren, ließen sich weder der Eindruck der Erregtheit noch der Eindruck der Gelassenheit bewusst herstellen, worauf das Zedlersche Lexikon an anderer Stelle aufmerksam macht: „Von denen aber, die ihre Widersacher mit der größten Höflichkeit und Bescheidenheit widerlegen, darff man nicht allezeit gedencken, daß sie aus einem gelassenen Gemüthe solches thun, und alle gute Meynungen vor ihre Gegner haben, weil sie aus Ehrgeitz öffters eine Gelassenheit erweisen, um bey Verständigen den Ruhm sittsamer Leute zu erlangen" (Art. Schrifften, Bd. 35, 1195).

166 Zustände. Der Zustand der Emotionalität macht sekundär vieles entschuldbar, und doch kann es als „Fahrlässigkeit zweiter Ordnung" vorwerfbar bleiben, sich in einen solchen Zustand begeben zu haben oder in diesem Zustand vermeidbare Handlungen begangen zu haben. Etwas mit einem Gemütszustand entschuldigen entschuldigt jedenfalls nicht unbedingt auch den Gemütszustand selbst. (C) Obwohl die Widersprüchlichkeit in der Einschätzung der Affekte in den beiden Normen 5.3.4 (vorwerfbar) und 5.6.5 (entschuldigend) nur scheinbar ist und die Norm 5.3.4 durchaus ihre Logik hat, erlaubt das Untersuchungsmaterial nur eine Norm mit Fragezeichen. Ein Problem besteht wie bei der Norm 5.3.3 vor allem darin, dass in den Textbeispielen nicht immer einfach zu entscheiden ist, wann die Thematisierung vor normativem Hintergrund eine vorwerfende Funktion hat, wann mit den Äußerungen andere Absichten verfolgt werden und in welchem Mischungsverhältnis sie gegebenenfalls stehen. Kästner (1741) folgt mit seiner Formulierung einem bekannten Muster fur Sollensäußerungen, doch schon bei ihm ist nicht auszuschließen, dass er die Gelassenheit auf der Basis eines Nutzenkalküls weniger aus Gründen normgestützter Schicklichkeitsvorstellungen als aus Gründen rhetorischer Geschicktheit anrät. - Fraglich ist der Normbezug ebenfalls bei Lessing im ersten Zitat und bei dem Anonymus von 1776. Wenn Lessing (1768-69), um Fehlinterpretationen seines „Tons" auszuschließen, von sich behauptet, dass „nicht Hitze, nicht Uebereilung" ihn bewegen, sondern „der ruhigste Vorbedacht", so könnte das Reaktion auf den antizipierten Vorwurf einer Normverletzung sein. Genauso gut aber kann die Funktion der Äußerung sein, das Publikum davon zu überzeugen, dass trotz des Tons kein Grund besteht, irgend etwas von den gegen Klotz niedergeschriebenen Worten einer emotionalen Aufwallung zuzuschreiben und deshalb zu relativieren. - Der Anonymus (1776) scheint einen Vorwurf an Jung-Stilling zu richten. Nicht nur sagt er, dass es besser gewesen wäre, wenn Jung-Stilling nicht „in diesem starken Eifer", sondern „mit ruhigerer Ueberlegung" nach seinem Gegner gezielt hätte, sondern drückt auch deutlich aus, dass Jung die Wahl zwischen beiden Möglichkeiten gehabt hat. Trotzdem muss kein Bezug auf eine Norm vorliegen. Der Schreiber kann auch ausdrücken wollen, dass es im Sinne optimaler Erfolgsorientierung im eigenen Interesse Jungs besser gewesen wäre, er hätte ruhiger gezielt - und noch besser getroffen. - Ayrenhoff (1782), der nicht die emotional verstärkte Kritik am Gegner, sondern umgekehrt die Abweichung zur anderen Seite hin, das enthusiastisch übersteigerte Lob, kritisiert, formuliert in seiner Aufforderung sehr klar, worauf die negative Beurteilung der Affekte im Medium der Schriftlichkeit beruht: auf der unterstellten Möglichkeit, den Brand sich abkühlen zu lassen, bevor man etwas niederschreibt. - Knigge (1792) ist wie Lessing im ersten Teil des Zitats bemüht, den Verdacht, dass Leidenschaft aus ihm rede, wider den möglichen Anschein zu zerstreuen. Fragt man sich aber, warum er diesen Eindruck vermeiden will, so liegt als Antwort die Abwehr möglicher politischer Verfolgung näher als die Sorge, vor dem Publikum als Verletzer kommunikativer Normen in Misskredit zu geraten. - Fischer (1853), der wie

167 Holtzmann beide Seiten anspricht, die eigene Ruhe und die Leidenschaft des Gegners, betrachtet die mentalen Zustände als etwas, was der eigenen Verantwortung unterliegt. Der Normbezug ist besonders im Ausdruck ziemen indiziert. - Möllenhoff (1855) kommentiert auf Meta-Metaebene das Bemühen Zarnckes, sich dem Publikum als besonnener Kritiker zu präsentieren. Woran diesem aber dabei gelegen ist (Erhöhung der Glaubwürdigkeit, Ausdruck von Souveränität, Beweis der Normtreue) bleibt unbestimmt. - Das letzte Zeugnis schließlich (Kranold 1918) gehört zu den Äußerungen, in denen die inhaltliche Verlässlichkeit des Geschriebenen durch den disqualifizierenden Verweis auf den Zustand des Schreibenden in Zweifel gezogen werden soll. Ob Haller in der Auffassung von Kranold für sein Handeln verantwortlich gemacht werden kann, was generelle Vorbedingung für einen Vorwurf wäre, bleibt widersprüchlich in der Schwebe: Wer in seiner Leidenschaft blind ist, dürfte kaum Herr seines Handelns sein. Andererseits kann er das Produkt seiner Phantasie kaum als Instrument verwenden. (D) Obwohl die Thematisierung der Emotionalität des polemischen Subjekts bzw. des Objekts über den ganzen Untersuchungszeitraum hin belegt ist, bleibt die Norm unsicher, weil oft fraglich bleibt, ob die neben dem entschuldigenden Verweis auf die Emotionalität im Textmaterial zweifelsfrei belegte negative Bewertung affektbelasteten Verhaltens in kommunikativen Auseinandersetzungen auf einer Norm beruht oder auf rhetorischen Nützlichkeitserwägungen. Dass die negative Bewertung hin und wieder auch zurückgewiesen wird, ist dagegen weniger bedeutsam, denn solche Negierungen sind nicht häufiger als in anderen Kapiteln. Im zweiten Zitat Lessings, in dem er zugibt, „warm und theilnehmend" gewesen zu sein, wird der positive Wert der Leidenschaftslosigkeit, die er als „Kälte und Gleichgültigkeit" empfindet, ausdrücklich in Frage gestellt. Eine gewisse Bestätigung der Existenz einer Norm kann man darin erblicken, dass Lessings Fragen „Was soll ich thun? Mich entschuldigen?" die Annahme nahelegen, dass er meint, unter der Erwartung zu stehen, sich entschuldigen zu sollen. Er negiert also nicht die soziale Geltung der Norm, sondern ihren Sinn. Bartels (1908), der seinem Gegner seine Wut zugute hält, scheint die Norm hingegen unbekannt zu sein. Dass ein „toll und blind darauf los"-Schreiben selbst Gegenstand der Kritik sein könnte, lässt er unbeachtet. Vielleicht verzichtet er auf den möglichen Vorwurf aber auch nur im gegebenen Äußerungszusammenhang, um eine umso größere Schuld auf den anderen Gegner, Harry Maync, häufen zu können.

168 5.4

Normen betreffend die Herstellung des polemischen Textes

5.4.0

Einleitung

In Kapitel 5.4 wird eine Gruppe von Normen behandelt, die die Herstellung des polemischen Textes betreffen. 5.4.1 beginnt mit der Frage der namentlichen Identifizierung des polemischen Subjekts und des polemischen Objekts. Ob Anonymität in der einen oder der anderen Variante ein Normverstoß ist, bleibt, wie sich zeigen wird, unsicher. Die Normen 5.4.3-5.4.5 schließen unterschiedliche Klassen von Äußerungen im Text als normwidrig aus. In 5.4.2 (Verfalsche nicht den Standpunkt des Gegners) und 5.4.6 (Verletze nicht die Normen korrekten Argumentierens) fasse ich Gruppen von metakommunikativ thematisierten Normen zusammen, die nur global charakterisiert werden. Das für die Darstellung gewählte Abstraktionsniveau weicht also in der Behandlung dieser Fälle ausnahmsweise von dem der polemischen Metakommunikation ab. Eine differenzierte Beschreibung würde in diesen Bereichen nur die bekannten Negativkataloge der Kunstgriffe des Streitens reproduzieren. Da die im folgenden Kapitel 5.5 behandelten Normen, die sprachliche Realisierung des Textes betreffend, eine spezielle Aufgabe der Textherstellung regulieren, fallen sie eigentlich ebenfalls unter die Überschrift des vierten Kapitels. Sie sind aus Gründen der Übersichtlichkeit in einem gesonderten Kapitel gesammelt.

5.4.1

(?) Streite nicht anonym

5.4.1.1

Verschweige nicht deinen Namen

5.4.1.1.1 Textbeispiele Marpurg 1749-50 Warum haben Sie eine Maske entlehnet, um mit mir zu sprechen? Denn daß Sie würcklich ein Italiäner seyn sollen: dieses suchen mir einige gute Freunde [...] beständig aus dem Sinn zu reden. (26)

Sorge 1760 Dieses muß ich noch von ihm melden: Er gibt in seinen critischen Verleumdungsbriefen eine Gesellschaft von Musikgelehrten vor. Fragt man aber nach deren wahren Nahmen, so ist es niemand als er alleine. Bald heisset er Neologos, bald Hypographus, bald Matz bald Barthel &c. Mit diesem falschen Vorgeben suchet er die musikalische Welt zu hintergehen. (120)

Bürger 1791/ s 1989 u. Schiller 1791b/81989 Ich übrigens, wenn ich einmal Beruf und Mut genug in mir gefühlt hätte, einem alten Günstlinge des Publikums so, wie der Verfasser mir, mitzuspielen, ich - ja, ich würde auch Tapfer-

169 keit genug besitzen, mein Visier aufzuziehen, wenn ich darum gebeten würde. Wohlan denn! Gestrenge und vermutlich ebenso tapfere Maske, ich bitte Dich, wer bist Du? (1243) Um übrigens einem beträchtlichen Teile des Publikums nicht etwas Überflüssiges zu sagen und bei einem andern durch seinen unschuldigen Namen nicht den Beifall zu verwirken, den vielleicht seine Gründe fanden, sei es dem Rezensenten erlaubt, einem Inkognito getreu zu bleiben, welches, seiner Überzeugung nach, bei literarischen Kämpfen solange gut und löblich bleibt, als es überhaupt noch Schriftsteller gibt, die dem Publikum auf ihre eigne und ihres ganzen Standes Unkosten nicht sehr erbauliche Komödien zum besten geben. Wo mit Vernunftgründen und aus lauterm Interesse an der Wahrheit gestritten wird, streitet man niemals im Dunkeln; das Dunkel tritt nur ein, wenn die Personen die Sache verdrängen. (991) Knigge 1792/1992 Indessen bestärkte mich doch die Erfahrung, daß man jezt solche Versuche gegen freimüthige, Wahrheit liebende Schriftsteller wagt, um sie verdächtig zu machen, in dem Vorsazze, nichts mehr über politische Gegenstände zu schreiben, ohne meinen Namen davor zu sezzen; allein da die Form dieses Werkes nicht mehr gestattete, daß ich dies auf dem Titelblatte thun konnte; beschloß ich, eine Vorrede mit meiner Unterschrift hinzuzufügen. (IVf.) Kühne 1835/1972 Ein blöder, lichtscheuer Kläffer hat in dem Buche der jenaischen Weisheit (im Octoberhefte der Minerva) ein eulenhaftes Gekrächze gegen das sogenannte junge Deutschland erhoben. Dieser breitzüngige, leichtschwätzige Mann scheut sich vielleicht sonst nicht, bei Besprechung der trivialsten Miseren sich offen zu nennen: warum nun hier, wo einige Männer der jungen Literatur moralisch und ästhetisch angeschwärzt werden, das feige Verstecken? Hinter solche Verläugnung flüchtet sich die Perfidie mit ihrem lächelnden Aberwitze doch meist vergeblich. Die Scheuling hält sich für verschleiert, wenn er seinen Namen verschweigt, läßt aber dann im Gefühle der Sicherheit seinen speciellen Launen die Zügel schießen und verräth sich durch seine Idiosynkrasieen. Es ließe sich Manches sagen über die auffallende Sympathie des jenaischen Anonymus mit Laube's Ansichten über Gutzkow, Mündt und mich; indessen ist es immer ekelhaft, der Flachköpfigkeit das Spiel der Maskirung zu nehmen, ihr nackter Anblick zeigt in der Regel einen principlosen Menschen, der wie eine Windfahne sich nach allen Ecken dreht, überall hinhorcht, und das Erhorchte dann mit dem Schleim der eigenen Seichtigkeit vermittelt. (II, 712f.) Mündt 1835/1972 In der That, ich glaube, daß der improvisirte Professor Wolf in Jena der Verfasser dieses Aufsatzes ist, in dem die Bestrebungen und Erfolge mehrerer fur unsere Zeit wichtigen Schriftsteller einer ebenso magisterhaften, als persönlich beleidigenden und injuriösen Kritik unterworfen wurden. Und da ich Grund habe, es anzunehmen, so will ich mich an diesen Mann halten, denn was geht seine Anonymität mich an, die, sobald sie unter diesem Mantel der Feigheit uns nachtheilig wird, ich befugt bin, durch meine strafenden Demonstrationen zu sprengen! (II, 715) Pflicht eines literarischen Ehrenmannes ist es, solche kritischen Anonymitäten da, wo er kann, öffentlich zu enthüllen, damit das Publikum weiß, was es davon zu halten hat, und die Verwirrung, aus der wir uns Alle herauszuarbeiten streben, nicht durch solche principlose Hechelkrämer und Zwischenträger noch vermehrt und verfestigt werde! (II, 717) Schopenhauer 1851 Vor allen Dingen daher müßte jenes Schild aller literarischen Schurkerei, die Anonymität, dabei wegfallen. In Literaturzeitungen hat zu ihrer Einführung der Vorwand gedient, daß

170 sie den redlichen Rezensenten, den Warner des Publikums schützen sollte gegen den Groll des Autors und seiner Gönner. Allein gegen einen Fall dieser Art werden hundert sein, wo sie bloß dient, den, der, was er sagt, nicht vertreten kann, aller Verantwortlichkeit zu entziehen, oder wohl gar, die Schande dessen zu verhüllen, der feil und niederträchtig genug ist, fur ein Trinkgeld vom Verleger ein schlechtes Buch dem Publiko anzupreisen. (60) Fischer 1853 Und was den Urheber dieser Schrift angeht, so bin ich gewiß, den anonymen Autor in demselben Mann zu finden, den ich in der Vorrede meines Werks als denjenigen bezeichnet habe, „der zuerst die geheime Anklage gegen mich privatim insinuirt." Ich sage, Herr Schenkel ist der Autor dieses Artikels und ich gründe mich dabei nicht bloß auf die Vermuthung, die mir der Ton und die Absicht dieser Schrift aufdrängen. (4) Siegmund-Schultze, zit. in: Stapel 1930b Der von dem anonymen Einsender Ihres Sprechsaalartikels erwähnte Angriff eines bezeichnenderweise gleichfalls anonym bleibenden Verfassers [...] war nicht, wie es in Ihrem Sprechsaalartikel den Anschein hat, in einem öffentlichen Interesse gegen mich gerichtet worden, sondern in einer persönlichen Angelegenheit jenes ungenannten [...] Herrn, demgegenüber ich einige öffentliche Feststellungen wegen seines Verhaltens [...] hatte machen müssen. (316f.) Diogenes Graugans 1985 Das FORUM, vor kurzem mit der Quo-vadis-Frage konfrontiert, begibt sich eingedenk dieser Konfrontation nunmehr auf die Bahn der Satire. Wissenschaft erscheint der Redaktion als ein zu komplexes Unterfangen, als daß sie sich einer satirischen Spiegelung von dessen allerkomplexesten Zügen verschließen konnte, die so aggressiv wie engagiert, so belustigend wie ernsthaft daherkam wie Diogenes Graugans mit seinem Text. Die Identität des schrägen Vogels war für die Redaktion nicht von Interesse; am Produkt wurde „kein i-Tüpfelchen geändert". (90 [Vorbemerkung der Redaktion])

5.4.1.1.2

Kommentar

( A ) Oskar Ludwig Bernhard Wolff, seit 1829 Professor für Literaturgeschichte in Jena, mischte sich 1835 mit einem anonym veröffentlichten Beitrag Die Partei der Bewegung in der neuesten deutschen Literatur im Oktoberheft der Zeitschrift Minerva in das Stimmengewirr des literarischen und literaturpolitischen Streits um die jungdeutsche Schule. Der Aufsatz (Wolff 1835/1972) enthielt neben dem Versuch einer Gesamteinschätzung und einer Behandlung des Vorläufers Heine Kurzcharakteristiken der Jungdeutschen Laube, Gutzkow, Wienbarg, Mündt und Kühne, in denen der anonyme Autor Lob und Tadel in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen verteilte. A m schlechtesten kamen Mündt und sein „Schildknappe" Kühne weg, auch als Don Quixote und Sancha Pansa auf ausgewechselten Reittieren geschildert. Es ist also verständlich, dass gerade diese beiden sich umgehend noch im Oktober in der Zeitschrift für die elegante Welt bzw. im Zodiacus zu Wort meldeten. Beide gewinnen für ihre Gegenangriffe polemische Energie aus der Anonymität des Verfassers, die als Zeugnis der

171 Feigheit und der Prinzipienlosigkeit ethisch verurteilt wird. Mündt kommt kurz nach dem Textbeispiel (717) noch einmal auf die Anonymität zurück und erinnert an eine unrühmliche Rezension des Buches Rahel, bei der derselbe Verfasser sich schon einmal feige versteckt hatte. Die Aufdeckung der Autorschaft stellt Mündt als „Pflicht eines literarischen Ehrenmannes" gegenüber dem Publikum dar. Mündt und Kühne kritisieren die Anonymität aber nicht ausdrücklich als solche, die Zitate gestatten eventuell auch die Deutung, dass Anonymität nur dann verurteilt wird, wenn sie dem feigen Verstecken dient und sich kein anderer, akzeptabler Grund für sie finden lässt. Kühne schließt diesen Umstand daraus, dass der anonyme Verfasser sich ja sonst nicht scheut, „sich offen zu nennen". Im Novemberheft der Minerva veröffentlicht Wolff (1835/1972) eine Fortsetzung seines Artikels vom Oktober, und nach dem Spielregeln polemischer Auseinandersetzungen würde man nun erwarten, dass er in irgendeiner Form auf die Vorwürfe Mündts und Kühnes reagiert. Doch nichts dergleichen. Seine Anonymität und die Kritik daran bleiben gänzlich unerwähnt. Eine zumindest oberflächliche Erklärung dafür bietet eine Anmerkung, in der er ankündigt, dass er auf die „persönlichen und unanständigen Angriffe" seiner Kritiker generell „keine Sylbe weiter erwidern" wolle. Nur eins hat sich verändert. Die Fortsetzung schreibt Wolff unter eigenem Namen. Was genau er damit ausdrückt, ist nicht sicher zu sagen. (B) Die Wertegrundlage für die Norm 5.4.1.1 ist nicht einfach anzugeben, weil die Einschätzung der Anonymität im Untersuchungszeitraum nicht nur im historischen Ablauf, sondern z.T auch innerhalb einer Epoche variiert. In manchen Kommunikationsbereichen ist Anonymität im 18. und 19. Jahrhundert ein so verbreitetes Verfahren, dass sie als akzeptierte Praxis selbstverständlich vollzogen wurde, ohne von den Kontrahenten in irgendeiner Weise metakommunikativ kommentiert werden zu müssen. Das bestätigt rückblickend ein extrakommunikatives Zeugnis wie Meyers Großes Konversations-Lexikon (61902, Bd. 1, 551 f.) im Artikel „Anonym": Für manche Fächer der Literatur, namentlich für das politisch-journalistische, ist die Anonymität Regel; doch sind in neuerer Zeit von verschiedenen Regierungen Maßregeln getroffen worden, sie zu beschränken oder aufzuheben [...]. Auch hat die literarische Sitte selbst in neuester Zeit die Anonymität eingeschränkt.

Die Einschränkung, die das Lexikon feststellt, dürfte zum Teil auf dem verstärkten Interesse der Autoren an der Nennung des eigenen Namens beruhen, das sich im Zuge der allmählichen Herausbildung des Urheberrechts im 18. und 19. Jahrhundert ergab. Daneben nennt das Lexikon die von den staatlichen Instanzen verfugten Einschränkungen, die freilich insofern eine Kehrseite hatten, als die Anonymität gerade auch gewählt werden konnte, um der staatlichen Verfolgung durch Zensur (dazu Bödeker 1993) oder einschlägige Gesetzesartikel zu entgehen. Letztere gab es für die Schmähschriften, die Pasquille und Pamphlete, immer wieder erneuert, schon seit dem 16. Jahrhundert.28 Anonymität in der Ab28

Wie aus dem Artikel „Libellus famosus" im Zedier (Bd. 17 [1738], 773) ersichtlich ist,

172 sieht, sich staatlichen Sanktionen zu entziehen, ist als gesetzwidrige Handlung juristisch negativ bewertet, wird aber, soweit ich sehe, in der polemischen Metakommunikation nirgends vorwerfend oder verteidigend thematisiert. Offenbar glauben die Polemiker nicht, mit der Entlarvung solcher Motive beim Publikum Vorteile über den Gegner erlangen zu können. Gegenstand der metakommunikativen Reflexion und insbesondere von Vorwürfen an den Gegner wird Anonymität im allgemeinen nur dann, wenn sie (1) nicht als übliche Praxis, sondern als der markierte Fall aufgefasst wird, und wenn sie (2) vom Schreiber ohne die Gefahr staatlicher Verfolgung gewählt werden kann. Die Grundlagen für die negative Bewertung bleiben aber auch dann, je nach unterstellter Motivation, variabel. Anonymität kann als feiges Verstecken (vor Gegner oder Publikum) negativ bewertet und vorgeworfen werden, weil sich der Schreiber der Verantwortung fur seine Schrift entzieht und damit die ethische Grundforderung missachtet, jederzeit für sein eigenes Handeln grade zu stehen. Sie kann aber auch kritisiert werden, weil sich der Schreiber Vorteile in der Auseinandersetzung mit dem Gegner verschafft, dessen Angriffs- und Verteidigungsmöglichkeiten er durch die Anonymität einschränkt. Damit verletzt er in einem weiten Sinne das Gebot der Waffengleichheit, das schon in Kapitel 5.1.3 eine fundierende Rolle gespielt hat. Im Interesse des Gegners gilt die normativ gestützte Aufforderung: „Kämpfe mit offenem Visier". Anonymität kann, wie am Textbeispiel Mündt unter (A) illustriert, schließlich auch im Interesse des Publikums negativ bewertet werden, für das nicht nur die zuverlässige Information über den Streitgegenstand, sondern auch über die Streitgegner, die Allianzen und Kräfteverhältnisse ein Wert ist. In dieser Hinsicht bietet das Versteck z.B. die Möglichkeit, zur Unterstützung der eigenen Position beim Publikum Buhmänner aus potemkinschen Dörfern auftreten zu lassen. (C) Die metakommunikativen Thematisierungen der Anonymität in den untersuchten Texten spiegeln das in Β zu Tage getretene uneinheitliche Bild. Marpurg hatte in seinem Wochenblatt Der critische Musicus an der Spree anonym einen gehörte die „Auslassung des Urhebers Namen" zu den definitorischen Merkmalen dieses auch Schmähschrift oder Pasquill genannten Texttyps. Im Universal-Lexicon der Gegenwart und Vergangenheit von 1826 (Bd. 8,463) scheint er sogar der entscheidende zu sein: „Pasquill, eine ohne oder unter falschem Namen verbreitete Schrift, welche eine, entweder namentlich angegebene oder doch kenntlich gemachte Person, eines Verbrechens, zuweilen auch wohl nur unmoralischer oder auch bloß lächerl. Handlungen beschuldigt." Die negative Bewertung dieser Schriften beruht auf ihrem Charakter als Schmähung, die bald nach Beginn der Reformation im Reichtagsabschied von 1524, in der Folgezeit immer wieder bestätigt, zum Verbot führte (vgl. Bebermeyer 1975). Das Verbot hatte als Folgewirkung die Anonymität, mit der sich die Verfasser der Bestrafung zu entziehen versuchten, obwohl bald auch diese unter Strafe gestellt wurde. Im Reichsabschied zu Augsburg aus dem Jahr 1530 wird die Namensnennung, wenn auch nicht ausdrücklich die des Autors, in Art. 58 gefordert. Alle Obrigkeiten werden aufgefordert, dafür zu sorgen, „daß hinfürter nichts Neues und sonderlich Schmähschrift, Gemähide oder dergleichen, weder öffentlich oder heimlich gedichtet, gedruckt, oder feil gehabt werden [...] ohne des Druckers Namen und Zunamen, auch die Stadt, worinn solches gedruckt."

173 polemischen Artikel gegen die italienische und italienisch beeinflusste Musik geschrieben, auf den Friedrich Agricola unter einem Pseudonym als angeblicher Italiener antwortete. Auf diese Gegenschrift reagierte Marpurg, wiederum anonym, mit einer dritten Schrift (1749-50), in der sich die zitierte Frage findet. Was immer an kritischem Potential in dieser Frage stecken mag, ein Vorwurf der Anonymität (bzw. Pseudonymität) gehört nicht dazu. Hätte er Agricola in dieser Hinsicht einen Vorwurf machen wollen, so hätte er, um ein Minimum an Glaubwürdigkeit zu behalten, auf geeignete Weise seine eigene Anonymität ansprechen müssen. Zum grundsätzlich gleichen Ergebnis kommt man bei der Analyse des Streits zwischen Marpurg und Sorge zehn Jahre später. Hier liegt der unmittelbare Anlass in den anonym veröffentlichten Kritischen Briefen über die Tonkunst Marpurgs, in denen dieser unter Pseudonymen eine allem Anschein nach fiktive musikalische Gesellschaft auftreten lässt und so durch die pseudonymische Vervielfältigung seiner selbst Hilfstruppen für die von ihm vertretenen Ansichten aufmarschieren lässt. Und es ist nicht die Anonymität, sondern das durch sie verdeckte „falsche Vorgeben", was Sorge (1760), ausnahmsweise unter eigenem Namen, moniert. 29 Auch spricht die Selbstverständlichkeit, mit der er sich in diesem Streit als anonymer Autor präsentiert, dafür, dass er bei seinem zeitgenössischen Publikum kaum mit einer Norm „Verschweige nicht deinen Namen" rechnet. - Bürger (1791) rückt den Namenlosen wie Kühne und Mündt in die Nähe des Feigen und erwartet von einem tapferen Gegner, dass er sein Visier aufzieht, wenn er darum gebeten wird. Damit ist aber nicht ausdrücklich auch die ursprüngliche Anonymität kritisiert. - Knigges (1792) Äußerung schließlich als letztes Zeugnis aus dem 18. Jahrhundert ist mit der Einschätzung der Anonymität als Normverstoß unvereinbar. Die Anonymität erscheint bei ihm als das Normale und die Namensnennung als das zu Begründende. Die Textbeispiele aus der Mitte des 19. Jahrhunderts sind in ihrer Anprangerung der Anonymität zweifellos am entschiedensten, sind aber auch keine eindeutigen Indizien für die Existenz der Norm „Verschweige nicht deinen Namen". Bei Fischer sieht man zwar, dass der Hinweis auf die Anonymität ein probates Mittel ist, den Gegner ins Zwielicht zu rücken, doch ist der Vorwurf der Anony29

Wunnicke (1991), die dem „Spiel mit der Anonymität" ein kleines Kapitel gewidmet hat (20-25), kommentiert die hier herangezogenen Textstellen so: „Bei Marpurg und seinen Gegnern Sorge und Agricola ist die Anonymität mehr als die Verhüllung einer Person: sie schafft Figuren, und sie eröffnet dem Autor eine Vielzahl von Möglichkeiten, diese Figuren wirkungsvoll in Szene zu setzen" (21). Und etwas später: „Es entsteht der Eindruck, als mache Marpurg seine ,Gesellschaft' mit Absicht als Inszenierung kenntlich - und er scheint nicht furchten zu müssen, daß dem Leser dieser großzügige Umgang mit Pseudonymen unlauter vorkommt: wahrscheinlich sind dem zeitgenössischen Publikum solche Finten vertraut und nicht unlieb; anders wäre die Selbstverständlichkeit, mit der Marpurg vorgeht, kaum zu erklären" (22). Eine andere Finte im Umgang mit der Anonymität in Flugschriften der frühen Neuzeit nennt Schwitalla (1999), der neben dem Motiv, möglicher Verfolgung zu entgehen, in der Anonymität ein Mittel sieht, „die eigene ideologische Position zu verheimlichen und den Anschein zu erwecken, als schriebe man von der gegnerischen Seite aus" (23).

174 mität, wenn man überhaupt von einem solchen sprechen will, Nebenzweck. Primär thematisiert er das Faktum der Namenlosigkeit des Gegners, weil er beim Publikum ein Interesse unterstellt zu erfahren, wer sich hinter den Texten verbirgt, und weil er sich den Lesern gegenüber Raum verschaffen möchte, Schenkel namentlich angreifen zu können. - Mit größter Entschiedenheit polemisiert Schopenhauer (1851) in einem längeren Text (601-605) gegen die Anonymität als - vorwerfbaren - „Schild aller literarischen Schurkerei", der vor allem für „die Sündflut unnützer und schlechter Bücher" (599) verantwortlich sei. Seinen Namen zu verschweigen gilt ihm als unehrlich, ehrlos, feige, niederträchtig, nichtswürdig. Obwohl Schopenhauer vor allem die Bücherrezensenten der Zeitschriften im Auge hat, wird das Prinzip mit Berufung auf Rousseau und Riemer auch allgemein gefordert, zugleich mit der rechtlichen Konsequenz, die Pressefreiheit „wenigstens durch ein Verbot aller und jeder Anonymität und Pseudonymität" (602) zu beschränken. Schopenhauer beruft sich in seinem Text aber nicht auf eine existierende soziale Norm, um auf dieser Grundlage Abweichungen in der Praxis zu kritisieren. Sein Ziel ist es ja, für eine seiner Meinung nach kritikwürdige Praxis die Möglichkeit einer normativ gestützten negativen Bewertung (und einer wirkungsvollen Bekämpfung) erst zu schaffen. Für das 20. Jahrhundert enthält das Äußerungskorpus kaum einschlägige Beispiele. Im Zitat von Siegmund-Schultze (1930), das mehrfach Hinweise auf Anonymität enthält, werden, verstärkt durch den Zusatz „bezeichnenderweise", zweifelhafte Motive angedeutet. Auch die Opposition von „öffentlich" und „privat" trägt dazu bei, den Gegner in ein schlechtes Licht zu setzen. - Ungewöhnlich ist der Umgang mit dem Problem des anonymen Autors im letzten Text (Diogenes Graugans 1985). Die Bemerkung der Redaktion der veröffentlichenden Zeitschrift, die „Identität des schrägen Vogels [wäre] fur die Redaktion nicht von Interesse gewesen", widerspricht der heute verbreiteten Erwartung, anonym Zugegangenes nicht zu veröffentlichen oder zumindest die Versicherung beizufügen, dass der Autor der Redaktion bekannt sei. Das redaktionelle Desinteresse mag jedoch auch gespielt sein. (D) Angesichts der Tatsache, dass der anonym angreifende Polemiker leicht in den Geruch der Feigheit oder Hinterhältigkeit geraten kann und es zumindest heute in der öffentlichen Kommunikation fast Konsens ist, dass anonym Zugetragenes nicht verwendet werden sollte, überrascht es, dass die Möglichkeit, den Gegner wegen seiner Anonymität in den Augen der polemischen Instanz zu diskreditieren, insgesamt betrachtet, vergleichsweise selten genutzt wird. Aus manchen Thematisierungen der Anonymität scheint der Rückschluss auf die Existenz einer Regel „Verschweige deinen Namen nicht", gerechtfertigt. Die Gegenkontrolle jedoch zeigt, dass es zahlreiche anonyme Polemiken gibt, in denen weder das polemische Subjekt irgendwelche Versuche unternimmt, sich zu entschuldigen oder zu rechtfertigen, noch das Opfer die Gelegenheit nutzt, den anonymen Autor Gegner beim Publikum in ein schlechtes Licht zu setzen. Die Beteiligten scheinen beim Publikum keine diesbezüglichen normativen Erwartungen vorauszusetzen. Manchmal

175 wird die Anonymität nur deshalb angesprochen, weil ein namenloser Text verständlicherweise zu Spekulationen über seinen Autor anregt. Manchmal vermittelt die sprachliche Gestaltung eine mehr oder weniger starke negative Bewertung, die aber auch nicht auf die Anonymität als solche gerichtet sein muss. Anonymität kann auch Gelegenheit bieten, den Gegner (zu Recht oder zu Unrecht) der Feigheit zu bezichtigen, und die Feigheit ist dann Zielpunkt der negativen Bewertung. Insgesamt sind Texte, die die Existenz einer Norm „Verschweige nicht deinen Namen" ausschließen, vor allem im 18. Jahrhundert, einfacher zu finden als solche, die eine Norm dieses Inhalts nahelegen oder gar ausdrücklich ausformulieren. Unter den Textbeispielen findet sich sogar eine explizite Zurückweisung der Gültigkeit einer solchen Regel in der (anonymen) Reaktion Schillers (1791b) auf das Ansinnen Bürgers (1791), sein Visier aufzuziehen. In Schillers Begründung ist Anonymität nichts, wofür man sich entschuldigen oder rechtfertigen müsste, sondern positiv zu wertende Konsequenz aus der Verpflichtung, sich im Sinne der Norm 5.3.2 an die Sache zu halten und die Person aus dem Spiel zu lassen. Und Bürger, dem er antwortet, hatte die Tapferkeit (und Feigheit) nicht mit der ursprünglichen Anonymität, sondern mit der Frage verknüpft, ob jemand sein Visier aufzieht, der „darum gebeten würde". Eine Erklärung für das zunächst überraschende Fehlen normbezogener Thematisierungen der Anonymität dürfte zumindest für das 18. und die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts darin liegen, dass die Nicht-Nennung des Autors bei Publikationen aller Art, insbesondere aber in periodischen Schriften, eine akzeptierte Praxis war. Obwohl die negative Bewertung zur Gegenwart hin stärker wird, enthält das Textkorpus in der zweiten Hälfte des 19. und im 20. Jahrhundert aber auch kaum überzeugende Beispiele. Allerdings nimmt auch die Anzahl der anonym veröffentlichten Texte ab. Es kommen nur die in Tages- und Wochenzeitungen üblichen Reduktionen der Namen auf die Anfangsbuchstaben vor. Es fehlen also zur Gegenwart hin die Anlässe zur metakommunikativen Thematisierung. Die historische Entwicklung geht von der Anonymität als einer weit verbreiteten und deshalb selten kommentierten Praxis im 18. Jahrhundert hin zu seltener Anonymität im 20. Jahrhundert, die nun wegen der Seltenheit kaum Anlässe zur metakommunikativen Thematisierung bietet.

5.4.1.2

Verschweige nicht den Namen deines Gegners

5.4.1.2.1 Textbeispiele Kästner 1741 Er [ein anonymer Autor] beschwerte sich, daß man ihm Grobheiten gesagt, daß man mehr seine Person, als seine Schriften angegriffen. [ . . . ] Der Verfasser würde sehr wohl gethan haben, wenn er gesagt hätte, was das für Leute wären, die mit ihm so übel umgegangen sind, und bey was für Gelegenheiten sie dieß gethan haben. Am allerklügsten aber würde es gewesen seyn, wenn er sich genannt hätte. (249)

176 Wagner, zit. in: V o g t 1 8 5 5 / 1 9 7 1 Wer die physiologischen Briefe und das Buch des Herrn Vogt gelesen hat, der wird keinen Augenblick zweifelhaft sein, woher dieses Autors jetziger Grimm gegen den Verfasser stammt. Derselbe rührt von jener Stelle im 6. Briefe her, wo, ohne daß der Name des Autors genannt wurde, eine unwiderlegliche Kritik an einem Satz des Herrn Vogt geübt ward, [...]. (543) Scherer 1 8 7 5 - 1 8 7 6 Insbesondere fühle ich mich einem jüngeren fachgenossen verbunden, der mir vor kurzem folgenden verweis zu erteilen geruht hat: , Scherer scheint es fur seine pflicht zu halten, Lachmann und Müllenhoff in der weise zu folgen, wie dieselben einen unbequemen gegner gelegentlich ohne namensnennung mit einer verächtlichen Seitenbemerkung abfertigen.' Ich sehe ein dass ich ein arger Sünder bin, und wie beschämend dass meine Schändlichkeit nicht einmal originell ist, dass ich mir die mittel der bosheit, welche ich anwende um brave gelehrte zu ärgern, sogar von Lachmann und Müllenhoff erborgen muss, vielleicht aber hat der geehrte junge gönner die gnade, ein wort der Verteidigung anzuhören, das mein vergehen in einem etwas milderen licht erscheinen lassen wird. (462) Aber wenn ich in der polemik gegen eine meiner ansieht nach falsche doktrin den Urheber derselben verschweige, wo der name nichts zur sache tut, so erscheint mir das eine erlaubte und nicht tadelnswerte, manchesmal sogar eine milde und wegen ihrer milde lobenswerte form. (464) Holz 1900 Die Sekte wird doch nicht alle. Und so habe ich denn natürlich auch dieses Exemplar hier nur angeführt, nicht, um mit ihm zu verfahren wie verdient, sondern nur als Dokument [...]. Herr Steiner - ich hatte seinen Namen absichtlich nicht genannt, aber er war das „Exemplar" - quittirte hierüber, indem er that, als hätte der Rücken, den diese Prügel marmorirt, nicht ihm gehört: [...]. (61) Stapel 1 9 3 0 b Ich habe darin [in dem Aufsatz Wider das Geschlecht der Melanchthoniden] eine geistige Richtung, nicht Personen angegriffen. Mit Bedacht habe ich die Nennung von Namen in dem Aufsatz vermieden. (315) Frisch 1 9 6 6 / 1 9 6 7 Denn du hast j a ganz einfach keine Namen genannt; so konnte jeder Zuhörer sich aufs Korn nehmen, was er schon lange nicht mag [...]. Ich nenne es ein Standgericht: Verurteilung ohne namentliche Aufrufung, selbstverständlich ohne Untersuchung des jeweiligen Falles. (104f.) Staiger 1 9 6 6 b / 1 9 6 7 Namen zu nennen war in einer auf dreißig Minuten beschränkten Rede unmöglich. Es hätten j a auch nicht Namen von Autoren, sondern Titel von Werken sein müssen. Denn ich kenne manchen zeitgenössischen Schriftsteller, von dem ich dies und jenes Werk schätze, ein anderes unnnötig abscheulich finde. Jede Nennung hätte eine gründliche Interpretation erfordert. (116)

177 Scheerer 1981 Ich möchte nämlich einen bestimmten Typ von Eselei, dem ich hauptsächlich entgegentreten wollte, näher bezeichnen. Sie bemerken: ich behalte die von Ihnen gewählte allegorisch-derbe Ausdrucksweise noch bei; mit voller Absicht, denn ich kann sie als Vorwand benutzen, keine Namen nennen zu müssen, was mir ja den Vorwurf persönlicher Beleidigung eintragen könnte. (117) Biermann 1991 Es ist zum Lachen: Wenn man eine grobumrissene Gruppe anknallt, dann schrein immer genau jene Einzelexemplare auf, die am meisten gemeint sind. [...] Wie gesagt, der politische Streit entzündete sich beliebig am Pauschalurteil wie am Einzelfall. Darf man Namen nennen? Muß man es sogar? Nur im Guten? Oder auch im Schlechten? Der französische Aufklärer Helvetius prägte einen Satz, für dessen Inhalt ich in meinem Zorn sieben lange Seiten brauche. Er sagte: Die Wahrheit hat noch keinem geschadet, ausgenommen dem, der sie sagt. Voila! Walser 2 0 0 0 Der Weltgeist tritt eben doch zuerst als Zeitgeist auf. Und da heißt er dann ... Nein, Namen vermeide ich. Wenn möglich sogar mir selbst gegenüber, „...die Alten pflegten, auch wenn sie einen ganz bestimmten Autor meinten, ihn nicht mit Namen einzuführen, sondern in einer allgemeinen Andeutung auf ihn hinzuweisen...": Hanspeter Müller, in seinen Anmerkungen zu Augustinus' Selbstgesprächen. Und hatten doch Recht, die Alten, weil man j a die Sache meint, nicht den Namen. Der Ross-und Reiter-Quatsch ist Tribunaljoumalismus. (42)

5.4.1.2.2

Kommentar

(A) Im Dezember 1966 hielt der Literaturwissenschaftler Emil Staiger anlässlich der Verleihung des Literaturpreises der Stadt Zürich unter d e m Titel Literatur und Öffentlichkeit eine Rede, in der er mit der „heute über die ganze westliche Welt verbreitetefn] Legion v o n Dichtern, deren Lebensberuf es ist, im Scheußlichen und Gemeinen zu wühlen" (Staiger 1966a/1967, 94), streng ins Gericht geht. Die Rede rief in der S c h w e i z und in Deutschland ein vielstimmiges Konzert polemischer Stellungnahmen und Gegenstellungnahmen in den Feuilletons hervor, das wie üblich bald in Sammelbänden (Zürcher Literaturstreit 1967, Beginn einer Krise 1968) dokumentiert wurde und als (zweiter) „Zürcher Literaturstreit" in die Geschichte eingegangen ist. In den Auseinandersetzungen z w i s c h e n den Gegnern und den Unterstützern des von Staiger gezeichneten Bildes der damaligen Gegenwartsliteratur spielte eine wesentliche Rolle, dass Staiger die gemeinten Schriftsteller, mit der Ausnahme von Peter Weiß, namenlos gelassen hatte, so dass, wie Frisch es im Textbeispiel beschreibt, 3 0 die Grenzen der vage bestimm30

In einer weiteren Stellungnahme kommt Frisch auf das Thema zurück: „Lieber Herr Doktor Weber, das ist die Taktik, die über dem Strich üblich ist, die schlichte und gediegene Taktik des Anonymisierens: ,wenn gewisse Leute meinen'; ,leider vor allem gewisse Intellektuelle', ,abgesehen von unverantwortlichen Heckenschützen' usw. Je

178 ten „Legion" nach Belieben des Betrachters enger und weiter gezogen werden konnten und im Extremfall auch die gesamte Gegenwartsliterur unter das Verdikt gestellt werden konnte. Staiger verteidigt sich gegen den Vorwurf mit dem beschränkten Raum, den eine 30minütige Rede bietet. Mit einer etwas anderen Argumentation sekundiert ihm Jaeckle (1967/1967, 195): Provokation und Appell müssen also ihrem Wesen nach verallgemeinern, damit sich jeder aufgerufen fühlt. Die Verallgemeinerung gibt aber dem Ungenannten auch duldsam und unbeachtet die Möglichkeit zur Berichtigung der Fehler. Sie ist tolerant. Der namentlich Genannte verteidigt sich und nicht die Sache; er findet persönliche, nicht aber sachliche Helfer.

Bei dieser Streitfrage ist zu beachten, dass die Namenlosigkeit zwar thematisiert wird, dass es aber eigentlich um den Verdacht einer unzulässigen Verallgemeinerung geht, deren Besonderheit es ist, dass ihre Unzulässigkeit durch die Vermeidung der Namensnennung unangreifbar geworden ist. Darüber hinaus besteht zwischen der unzulässigen Verallgemeinerung, die eine Regel des richtigen Argumentierens verletzt (siehe Kapitel 5.4.6), und dem Verzicht auf die Identifizierung des Gegners weder in der einen noch in der anderen Richtung eine besonders enge Beziehung. (B) Die Existenz der Norm ist im alltagsweltlichen Denken mit der Redewendung „Nenne Ross und Reiter" belegt, deren Begründung nicht offen zutage liegt. Auf der einen Seite ist am Beispiel Staigers deutlich geworden, dass die Nichtidentifizierung des Gegners unsauberen Mitteln Vorschub leisten kann, wozu nicht zuletzt der Aufbau von Buhmännern gehört, auf der anderen Seite leuchtet aber auch die positive Bewertung durch Jaeckle (s.o.) unmittelbar ein. Diese Widersprüchlichkeit durchzieht die gesamte meta- und extrakommunikative Reflexion. Extrakommunikativ nennt z.B. der Artikel „Methode (Widerlegungs-) Methodus polemica" im Zedlerschen Lexikon (Bd. 20 [1739], 1337) als Erfordernis ausdrücklich, dass „die Feinde namhafft gemachet werden", während die theologische Fakultät der Universität Göttingen ungefähr gleichzeitig in ihren Gründerstatuten zumindest fur inneruniversitäre Auseinandersetzungen die Namensnennung verbietet. 31 Auf ähnliche Weise stehen sich für die Gegenwart juristische Einwände gegen Angriffe ohne Namensnennung (vgl. Kapitel 6.2.2, Punkt 2) und eine Deutung wie die Hutters (1993) gegenüber, der die Aussparung von Namen in der Auseinandersetzung mit gegenläufigen Ansichten ausdrücklich als eine Höflichkeitsstrategie betrachtet, mit der eine fur die Beurteilung der Sache nicht erforderliche Diskreditierung des Opponenten vermieden werden

anonymer der Widersacher, um so kostenloser behält man selber recht, und der freundliche Leser ist befreit von der Möglichkeit, zu kontrollieren" (Frisch 1967/1967, 122 ). „In problematicis autem questionibus dissentire modeste licet, modo is, qui refutatur, si sit Collega, non nominetur."/„Bei strittigen Fragen jedoch ist es in bescheidenem Maße erlaubt, verschiedene Meinungen zu haben [sinngemäß wohl: zu äußern]; nur soll jener, der angegriffen wird, nicht genannt werden, wenn es sich um einen Kollegen handelt" (zit. und übersetzt nach Steinfeld 1991, 42).

179 kann. Die unterschiedliche Bewertung findet ihre Erklärung darin, dass die Anonymisierung des Angegriffenen das gemeinte Individuum zweifellos schont, dafür aber alle Mitglieder der gleichen Personengruppe in juristisch bedenklicher Weise potentiell in Mitleidenschaft zieht. (C) Die Widersprüchlichkeit in der extrakommunikativen Diskussion wäre für Zwecke dieser Untersuchung ohne große Relevanz, wenn der eigentliche Prüfstein, die polemische Metakommunikation, ein eindeutiges Bild ergäbe. Das ist jedoch nicht der Fall. Auch in der metakommunikativen Thematisierung des nicht genannten Gegners wird der Sachverhalt unterschiedlich behandelt und bewertet. Kästner (1741) berichtet von einem Autor, der sich über seine Kritiker beschwert, jedoch weder diese noch sich selbst bei Namen nennt. Beides hält Kästner fur unklug. Ob die auf den Einzelfall bezogene Empfehlung eine verallgemeinerbare Grundlage hat, bleibt offen; vor allem ist unklar, ob Kästner Anonymität als Normverstoß betrachtet oder ob er den Verzicht auf die Namensnennung, aus der Perspektive des Autors betrachtet, einfach nur dumm oder rhetorisch ungeschickt findet. Was soll das lesende Publikum schließlich mit der Information anfangen, dass ein ungenannter Autor sich von ungenannten Kritikern ungerecht behandelt fühlt? - Sicherlich ist eine Norm „Verschweige nicht den Namen deines Gegners" nicht bei Rudolph Wagner (in: Vogt 1855) vorausgesetzt, denn der Göttinger Hofrat und Professor fühlt sich ja dafür, dass er an J e n e r Stelle im 6. Briefe" den Namen Vogts nicht genannt hat, gerade nicht schuldig, sondern hält sich offenbar darauf etwas zu gute. 32 Und dies ist, wie die weiteren Belege vom Ende des 19. und aus dem 20. Jahrhundert zeigen, nachgerade typisch Über mehrere Seiten äußert sich Scherer (1875-1876) zum Problem, indem er sich gegen den Vorwurf wehrt, wie Lachmann und Müllenhoff „einen unbequemen gegner [...] ohne namensnennung mit einer verächtlichen seitenbemerkung" abgefertigt zu haben. Zunächst verteidigt er sich mit dem Argument, dass es die kritisierte Praxis schon immer gegeben habe. 33 Da man mit dem Hinweis auf faktisches Verhalten die Gültigkeit einer Norm nicht außer Kraft setzen kann, kann dieses Argument höchstens entschuldigende Wirkung haben. Anschließend geht Scherer aber einen Schritt weiter. Seine Einstellung zur behandelten Frage beruht wie bei Schiller im ersten Teilkapitel (5.4.1.1) auf einer

32

33

H o f f (1839) setzt fast die Gegenregel voraus, wenn er Gutzkow vorwirft, beispielhaft Namen von Verlegern genannt zu haben, welche die von Gutzkow kritisierten Preisherabsetzungen verfügt haben, und als Alternative vorschlägt, „er hätte über diese wichtige Angelegenheit im Allgemeinen seine Meinung sagen können" (17). „so lange litterarische Streitigkeiten in der weit existieren ist es vorgekommen, daß man gelegentlich diejenigen nicht nennt, gegen deren ansichten man sich wendet, unsere deutsche litteratur des vorigen jahrhunderts ist voll von versteckter polemik, die mittelhochdeutsche enthält davon ebenfalls einiges, in allen Zeiten, bei allen Völkern kann man sie finden, wenn man darnach suchen, ja wenn man sich nur darauf besinnen will, und was so vielfach unter den Schriftstellern üblich, was die besten und edelsten manchmal getan, das wird auch wol uns epigonen nicht versagt sein, w o wir gerne darnach greifen" (Scherer 1 8 7 5 - 1 8 7 6 , 463).

180 strikten Auslegung der Norm 5.3.2 (Versuche nicht die Person des Gegners zu diskreditieren) bzw. der Norm 5.4.4 (Mache keine Äußerungen, die geeignet sind, die Person des Gegners zu diskreditieren), insofern schon die Nennung des Namens des Gegners, wo er „nichts zur sache tut", als unzulässiges Persönlichwerden betrachtet werden könnte und den Kontrahenten unnötigerweise zu verletzen imstande ist. Auf diese Weise rechtfertigt Scherer sein Verhalten nicht durch Berufung auf eine höherwertige Norm, sondern weist die Norm der Namensnennung selbst zurück, weil sie als solche eine „falsche doctrin" sei. - In den jüngeren Beispielen von Holz (1900), Stapel (1930) und Scheerer (1981) wird die fehlende Namensnennung rechtfertigend damit begründet, dass die Kritik, auch wenn sie exemplarisch an einer bestimmten Person entwickelt wird, eigentlich nicht speziell diese Person, sondern eine ganze „Sekte" (Holz), „Richtung" (Stapel), einen „Typ von Eselei" (Scheerer) meint. Walser (2000, 42) schließlich bedient sich der Hilfe Augustins und „der Alten", um den „Ross-undReiter-Quatsch" des „Tribunaljournalismus" vehement zurückzuweisen. (D) Angesichts des metakommunikativen Befundes in Punkt (C) kann man die Auffassung vertreten, dass es in diesem Fall, statt die Norm mit einem Fragezeichen zu versehen, besser gewesen wäre, auf die Aufnahme in den Katalog der Normen überhaupt zu verzichten. Widersprechend sei daran erinnert, dass paradoxerweise gerade in so entschiedenen Zurückweisungen der Norm wie bei Scherer und Walser ein starkes Moment der Bestätigung liegt. Sie bezweifeln ja nicht, dass die Norm (für andere) gilt; sie halten sie nur nicht für sinnvoll. Den Gegner nicht zu nennen scheint, auch wenn die Kritiker leichter fassbar sind als die Befürworter, unter dem Verdacht zu stehen, ein kritisierbares Verhalten zu sein. Sonst wäre unverständlich, wieso es überhaupt Gegenstand von Begründungen, Verteidigungen und Zurückweisungen wird.

5.4.2

V e r f ä l s c h e nicht den Standpunkt des Gegners

5.4.2.1

Textbeispiele

Belach 1759 Wir wollen seinen ganzen Mischmasch von Wort zu Wort hersetzen [...]. Hätte der Gegner es auch so gemacht [...] so hätten sie gehandelt als ehrliche und verständige Leute. [...] Da sie aber auch nicht eine einzige anstößige Stelle anführen, sondern nur in allgemeinen Ausdrücken schimpfen, so siehet man leicht, daß meine Gegner ihre Disputirkunst unter den Fleischbänken gelernet. (5)

Lessing 1768-1769/ 3 1894 Wenn einem Unwahrheiten andichten, und diesen angedichteten Unwahrheiten die aller trivialsten Dinge entgegen setzen, einen widerlegen heißt: so versteht sich in der Welt niemand besser auf das Widerlegen, als Herr Klotz. (X, 242)

181 Börne 1 8 3 6 - 1 8 3 7 / 1 9 6 4 Hat denn je Menzel die Rechtlichkeit gehabt, das aus meinen Schriften anzuführen, was er, sei es aus Überzeugung, sei es aus Dienstpflicht, widerlegen und verdammen wollte? Er durfte mich nicht reden lassen, ich weiß es; aber warum sprach er dann von mir? (872) Heine 1839a/1964 Das Beste in der ganzen Abhandlung ist der wohlbekannte Kniff, womit man verstümmelte Sätze aus den heterogensten Schriften eines Autors zusammenstellt, um demselben jede beliebige Gesinnung oder Gesinnungslosigkeit aufzubürden [...]. Das einzige Neue und Eigentümliche, was ich in der obenerwähnten Abhandlung des Herrn Gustav Pfizer gefunden habe, war hie und da nicht bloß eine listige Verkehrung des Wortsinnes meiner Schriften, sondern sogar die Fälschung meiner Worte selbst. (X, 123f.) Schenkel 1854 Hr. Fischer dagegen behauptet jetzt unter lebhaften Aeußerungen anscheinender größter moralischer Entrüstung, daß wer diese Stelle in meinem Sinne verstehe - nicht etwa sie mißverstehe - sondern ein absichtliches Falsum begehe, und ihn auf gewissenlose Weise zu verdächtigen suche. Und indem er mit einem Wortschwalle von Beschimpfungen mir die Absicht eines arglistigen Falsums unterlegt, begeht er gleichzeitig ein Falsum an sich selbst, behauptet S. 35 seiner Schrift, die bezügliche Stelle wörtlich anflihren zu wollen und läßt in der Anführung die Stelle aus, welche ihn gründlich überführt ..J. (13) Engels 1877/ 3 1971 Bisher sind wir von der Voraussetzung ausgegangen, Herrn Dührings hartnäckiges Falschzitieren sei wenigstens in gutem Glauben geschehn und beruhe entweder auf einer ihm eignen totalen Unfähigkeit des Verständnisses, oder aber auf einer, der Geschichtszeichnung großen Stils eigentümlichen und sonst wohl als liederlich bezeichneten Gewohnheit, aus dem Gedächtnis anzuführen. Es scheint aber, daß wir hier an dem Punkt angekommen sind, wo auch bei Herrn Dühring die Quantität in die Qualität umschlägt. [...] wenn wir das alles erwägen, so wird uns der Schluß aufgedrängt, daß Herr Dühring uns hier fast zur Annahme zwingt, er habe hier den Marxschen Gedanken mit Vorbedacht „wohltätig erweitert" - wohltätig für Herrn Dühring. (112f.) Rranold 1918 Weiter ist zu sagen, daß Haller sich sehr häufig der Kunst des Lesens nicht gewachsen zeigt. Er macht sich in blinder Leidenschaft einen Hoetzsch zum Privatgebrauch zurecht und treibt mit Hilfe dieses Instruments nun diese Art von polemischer Selbstbefriedigung. (419) Ehrismann 1920 Zur kennzeichnung des geistes, in dem diese kritik abgefaßt ist, mag die bemerkung über den reim asen. wasen (s. 508f.) vorausgeschickt werden. Was ich sage, wird schlankweg ins gegenteil verdreht. (268) Baron 1932 Freilich bedarf es zuvor der Beseitigung zahlreicher Entstellungen und Verdrehungen, durch die B. überall, wo er Ergänzungen oder Berichtigungen anzubringen hat, meine Ergebnisse in falsches Licht setzt. (353)

182 Ströbele, zit. in: Bittermann 1991 Das Interview war nicht gefälscht. Aber Broder hatte sich aus dem einstündigen Interviewgespräch wie aus einem Steinbruch bedient und Zitate aus dem Zusammenhang gerissen. In dem Artikel der „Jerusalem Post" waren Zitate auch unvollständig und sinnentstellend falsch wiedergegeben. Inzwischen bin ich bemüht, gerichtlich klären zu lassen, daß er das nicht durfte.

5.4.2.2

Kommentar

(A) Andreas Belach, im Hauptberuf königlich-preußischer Kammerfiskal in Breslau, reagierte mit seiner Abfertigung des Erlanger Zeitungsschreibers und seines Alliirten aus dem Jahre 1759 anonym auf einen gleichfalls anonymen Zeitungsartikel zweier Journalisten in einer Erlanger Zeitung, in dem drei kurze Schriften Belachs einer polemischen Kritik unterworfen worden waren. Die ursprüngliche Kritik des „Erlangers" und seines „ B r e ß l a u e r Alliirten", die Belach als unmoralischen und „lieblosen Spötter" gerügt hatten, hält Belach in seiner Abfertigung schon deshalb fur unangemessen, weil er die Texte „in keinen öffentlichen Verlag gegeben" hatte, sondern nur im privaten Kreise hatte „herumgehen" lassen (Belach 1759, 6; vgl. dazu Wunnicke 1991, 6f.) Die Anonymität aller Beteiligten wird weder von der einen noch der anderen Seite zum Gegenstand von Vorwürfen oder Rechtfertigungen gemacht. Sie scheint für die Kontrahenten und das Publikum, dies als Nachtrag zum letzten Kapitel, eher willkommene Gelegenheit zu einem amüsanten Versteckspiel, gibt es doch in den Texten Indizien dafür, dass die Streitgegner sehr wohl wussten, mit wem sie es zu tun hatten, und dass sie sich darüber hinaus auch persönlich kannten. Die Schrift Belachs, aus der das Textbeispiel (Belach 1759) stammt, besteht aus dem vollständig nachgedruckten Artikel aus der Erlanger Zeitung, der von Belach mit mehr als fünfzig Anmerkungen versehen wird. Auf den Wiederabdruck des „ganzen Mischmasch" weist Belach gleich zu Beginn hin, die Gelegenheit nutzend, sich selbst als ehrlichen und verständigen Disputanten zu profilieren, während sein Gegner, so der Vorwurf, kritisiert und schimpft, ohne das zu Kritisierende vorweg getreulich referiert zu haben. (B) In dem schon häufig zitierten Zedlerschen Universal-Lexikon heißt es über die „(Widerlegungs-) Methodus polemica oder elenctica": Solchemnach erfordert dieselbe, daß 1) die Feinde namhafft gemachet werden, 2) ihre Argumente aus richtigen Quellen aufrichtig angefuhret, derselben anscheinende Krafft entdecket und auf das höchste getrieben werden; endlich aber 3) dieselben mit tüchtigen Gründen widerleget werden (Bd. 20 [1739], 1337).

Die Norm bzw. Normengruppe 5.4.2 bezieht sich auf normative Erwartungen in dem Bereich, der im Lexikon unter (2) angesprochen ist und dort aus zwei Teilforderungen besteht. Das Lexikon betont zunächst die Aufrichtigkeit in der Darstellung der Argumente aus richtigen Quellen. Implizit steckt darin auch die von

183 Belach erhobene Forderung, das, was man widerlegen will, im ersten Schritt zunächst einmal darzustellen. Etwas anders steht es mit dem zweiten Teil von Punkt 2 im Zedlerschen Lexikon, der vom Widerlegenden - über die aufrichtige Darstellung hinaus - verlangt, die Argumente des Gegners vorurteilslos zu prüfen und versuchsweise sogar besser zu vertreten als der Gegner selbst. Die Vernünftigkeit einer solchen Regel ist für den, der wirklich ernsthaft an der Wahrheit und nicht an der Bekämpfung des Gegners interessiert ist, kaum zu bezweifeln. Das untersuchte Material enthält aber keine Anzeichen dafür, dass diese strenge Forderung auch in der polemischen Metakommunikation wirksam wäre. Letztere scheint bei der Rekonstruktion der gegnerischen Position zwar nicht Unaufrichtigkeit, aber im Sinne der Rhetorik doch Parteilichkeit zu erlauben. Wie schon bei der Behandlung anderer Normen beobachtet, darf man auch hier nicht alle Behauptungen über verfälschende Darstellungen der Position des Gegners unbesehen als Vorwürfe, eine Norm verletzt zu haben, deuten, weil es auch unbeabsichtigte Verfälschungen geben kann, die nicht im eigentlichen Sinne vorgeworfen werden können, gleichwohl aber thematisiert und berichtigt werden müssen. Ist der Normbezug einer Äußerung gesichert, sind im Einzelnen unterschiedliche Möglichkeiten zu unterscheiden, die Position des Gegners zu verfalschen. Die erste Zweiteilung wurde mit den beiden Teilforderungen: (1) die Position des Gegners darstellen und (2) dies aufrichtig tun, schon angegeben. Vor allem die zweite Forderung kann auf recht unterschiedliche Weise verletzt werden. Zwar wird die unverfälschte Wiedergabe der Position des Gegners gelegentlich auch global eingeklagt, meistens aber bewegen sich die Vorwürfe, Rechtfertigungen oder Absichtserklärungen auf niedrigeren Abstraktionsstufen. Die Normformulierung im Titel dieses Abschnitts weicht also, wie schon angekündigt, ausnahmsweise von dem Prinzip ab, sich in der Darstellung der Normen an dem Abstraktionsniveau zu orientieren, auf dem der normbezogene Diskurs in der polemischen Metakommunikation geführt wird. Beziehungen bestehen vor allem zu den beiden direkt folgenden Normen 5.4.3 (Mache keine Äußerungen, die wissentlich Unwahres enthalten) und 5.4.4 (Mache keine Äußerungen, die geeignet sind, die Person des Gegners zu diskreditieren). Ferner besteht eine Beziehung zur Normengruppe 5.4.6 (Verletze nicht die Regeln richtigen Argumentierens), weil Kritik an Verfälschungen der Position des Gegners auch aus den Zielsetzungen der Disputierkunst abgeleitet werden kann. Benachbarte Forderungen in der Religion (2. Moses 20, 16: „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.") und im Recht (vor allem im Zusammenhang mit den Äußerungsdelikten) haben dagegen eine ethische Grundlage. (C) In den Textbeispielen kommen als Äußerungstypen ausschließlich Vorwürfe vor. Dieser Eindruck mag täuschen, da Vorwürfe in aller Regel auch Verteidigungen nach sich ziehen; nicht zufallig dürfte aber das Fehlen von - nicht durch Vorwürfe provozierten - Erklärungen des polemischen Subjekts sein, die Norm gewahrt zu haben bzw. wahren zu wollen. Ähnlich wie im Falle der Wahrheitsmaxime erweckt es eher Misstrauen, wenn man versichert, etwas zu tun oder zu

184 unterlassen, was normalerweise als selbstverständlich gilt. Bei den „Vorwürfen" ist wiederum zu beachten, dass nicht immer ein Vorwurf sein muss, was wie ein Vorwurf ausssieht. Wie das Zitat von Engels (1877) zeigt, können Verfälschungen, hier: durch ,,hartnäckige[s] Falschzitieren", verschiedene Gründe haben. Engels unterscheidet „Unfähigkeit des Verständnisses", eine „als liederlich bezeichnete Gewohnheit" (im Umgang mit dem Zitieren) und Handlung „mit Vorbedacht". Auch im Schenkel-Zitat (1854) impliziert die Betonung des „absichtlichen Falsums" die Möglichkeit einer unabsichtlichen Verfälschung von Wortlaut oder Sinn. Kranold (1918) unterstellt Absicht gerade nicht und gibt „blinde Leidenschaft" als Grund dafür an, dass sich Haller „sehr häufig der Kunst des Lesens nicht gewachsen zeigt". Es ist eine verbreitete Praxis in den polemischen Auseinandersetzungen, die Frage nach Absichtlichkeit und Unabsichtlichkeit unentschieden zu lassen. Dies vermutlich nicht nur deshalb, weil man über die objektive Seite der Verfälschung sicherere Aussagen machen kann als über die inneren Zustände beim Verursacher, sondern weil die Frage im Prozessfalle rechtsrelevant ist. Wie dem auch sei, wenn ein Schreiber die Möglichkeit offen lässt, dass seine Position vom Gegner „in gutem Glauben", aber wegen einer „totalen Unfähigkeit des Verständnisses" (Engels) verfälscht worden ist, oder dass der Gegner im Zustand „blinder Leidenschaft" (Kranold) unfähig war, den Text angemessen aufzufassen, so kann man nicht ohne weiteres sagen, er kritisiere den Verstoß gegen eine kommunikative Norm, es sei denn, es wäre die Möglichkeit unterstellt, die mentalen Zustände verminderter Zurechnungsfahigkeit selbst wiederum vermeiden zu können. Verletzungen der grundlegenden Forderung, die Position des Gegners überhaupt kenntlich zu machen, sind als Gegenstand der Kritik in der Minderzahl: Belach (1759) wirft seinem Gegner vor, „nicht eine einzige anstößige Stelle" angeführt zu haben - vor jeder möglichen Kritik am Wie einer solchen Anfuhrung. Das gleiche Erfordernis klagt Börne (1836-1837) gegenüber Menzel ein. Unter den Verstößen gegen die Aufrichtigkeit der Darstellung spielt das Zitieren als eine der Möglichkeiten, den Gegner zu Wort kommen zu lassen, eine große Rolle, wobei der Vorwurf, „Falsch zu zitieren" verschiedene Konkretisierungen erfahren kann. Es fallen darunter Formen der nicht wörtlichen Wiedergabe, sinnentstellende und/oder nicht gekennzeichnete Auslassungen (Ströbele, zit. in Bittermann 1991, Schenkel 1854), aus zweiter Hand, vom Hörensagen oder aus der Erinnerung Zitiertes (Engels 1877) und natürlich der kaum widerlegbare Vorwurf, Aussagen aus dem Zusammenhamg gerissen zu haben (Heine 1839a; Ströbele 1991).34 Andere Vorwürfe, die Darstellung der Position des Gegners 34

Die metakommunikative Thematisierung des Zitierens weitet sich gelegentlich zu kleinen Abhandlungen aus. So schiebt Fischer ( 2 1870), sich gegen den Vorwurf zur Wehr setzend, dass er „die Forderung der Citate ,bespöttele'", ein besonderes Kapitel über den richtigen Gebrauch der Zitate ein (64-78). Die Prominenz eines Abschnittstitels erhalten „Falsche Zitate" auch in einer Entgegnung von Hildebrand (1986/® 1991, 84f.) auf Habermas im Historikerstreit. - Die Subnorm „Verletze nicht die Regeln des korrekten Zitierens" hat gelegentlich auch rechtliche Relevanz. Vgl. in dieser Hinsicht

185 betreffend, kreiden nicht die Fälschung der Worte, sondern die Verkehrung ihres Sinns an (vgl. Lessing 1 7 6 8 - 1 7 6 9 , Heine 1839a, Schenkel 1854, Ehrismann 1920, Baron 1932). Verfälschungen des Sinns können sich als unmittelbare Konsequenz des nicht korrekten Zitierens ergeben, genauso aber auch aus Interpretationen des Geschriebenen im Rahmen nicht-zitierender Formen der Redewiedergabe (indirekte Rede, Redebericht, Inhaltsangabe, Zusammenfassung, Referat etc.). Das eine oder das andere wird dann vorgeworfen als: jemandem Unwahrheiten andichten; den Sinn des Gesagten verdrehen, entstellen, verfälschen; jemandem die Worte im Munde umdrehen; etwas in sein Gegenteil verkehren oder auch als Konsequenzmacherei, wenn der Schreiber aus dem v o m Gegner Gesagten Konsequenzen zieht, die der Autor nicht selbst ziehen würde.

5.4.3

Mache keine Äußerungen, die wissentlich Unwahres enthalten

5.4.3.1

Textbeispiele

Lichtenberg 1776/ 3 1994 Die Unterschrift sagt nämlich bei jenem Büchelchen alles mit zwei Worten, was der Leser in demselben zu suchen hat: Lügen, äußerst schlecht erfunden, und noch schlechter gesagt; [...] und diese zwei Worte sind Ihre, des Verfassers, Namen: Tobias Göbhard. (III, 237f.) Voß 1782 Jämmerlich! Und dieser Mann, der selbst bei der Angabe des Streitpunktes (es ist unerhört!) neun wissentliche und unwissentliche derbe Unwahrheiten, und keine einzige Wahrheit vorbringt, giebt sich gleichwohl die Mine eines scharfsinnigen und strengen Untersuchers. (230) Moritz 1789b/1993 [...] daß ich Herrn Campen in Ansehung des Herrn Pökels mit Unwahrheit hintergangen habe: das ist also eine neue Beschuldigung gegen mich, die Herr Campe sich selbst andichtet, und wovon seine Briefe gegen ihn zeugen werden, daß er mir sie nie wirklich gemacht hat, [...]. (47) Schwenck 1835/1979 [...] nachdem er [Menzel] über die „Wally" eine Kritik geschrieben, welche ihn recht als seichten Stümper seines Fachs zeigt, da sie lügenhaft ist (was ich nicht sage, um ihn des Willens der Lüge zu zeihen, denn mit dem Menschen Menzel habe ich es nicht zu tun, sondern mit dem Literator), lügenhaft, wo eine ernste und wahre Kritik eines kundigen das Textbeispiel von Ströbele (1991). Günther (1930a, 4 0 6 ^ 0 8 , 887f.) berichtet ausführlich über einen gerichtlichen Streit mit Hans von Hentig, in dem die Entscheidung, ob Günther sich eine Beleidigung hat zuschulden kommen lassen, davon abhängt, ob das „objektiv unrichtige Zitat" Produkt einer „absichtlichen Fälschung" von Hentigs war oder nicht.

186 Literators, welcher wirklich Beruf zu seinem Amte hat, streng gewesen wäre und nachweisend, wo das Übel sitzt, aber frei von den tollen Gebärdungen Menzels, über den man sich zuletzt des Lachens nicht erwehren kann, wenn er am Schluß den Affen des Lamennais und Mickiewicz spielt. (273) Paulus 1836/1972 Diese doppelte Unwahrheit ist von der Art, daß der Recensent nach seiner sonst bekannten Unterscheidungskunst zum voraus sie als unwahr wissen konnte und mußte. Die doppelte Unwahrheit ist demnach geradezu eine doppelte Lüge. Sie ist eine wissentlich und öffentlich nicht auf das Aesthetische und auf Ihre Talente, sondern gegen Ihren Willenscharakter gerichtete, soviel möglich auch gegen Ihr bürgerliches Wohl und moralisches Ansehen berechnete Verläumdung. (I, 273) Fischer 1853 Zu diesen Herausforderungen kommt, daß mir sittliche Vorwürfe gemacht werden, die, wenn sie richtig wären, mein Gewissen treffen müßten, denn es heißt, daß ich die Thatsachen des Interdicts entstellt, daß die Erzählung dieser Thatsachen Unwahrheiten, absichtliche Unwahrheiten enthalte. Solche Vorwürfe stillschweigend hinzunehmen, kann mir Niemand zumuthen, denn ich müßte denen getroffen scheinen, die mit dem Sachverhalte selbst gar nicht vertraut sind. (3f.) Vogt 1855/1971 Die pikante Geschichte aus dem Berner Oberlande, welche Herr R. Wagner zur Widerlegung meiner Ansicht über die philosophische Begründung von Recht und Strafe mit so vielem Behagen erzählt, ist eine ärmliche Lüge, [...]. (551) Fried 1907 Und Lüge ist es, was der Herr Generalleutnant vorgeworfen hat, denn wir können seine feinen Unterscheidungen zwischen „bewusster Lüge" und „objektiver Unwahrheit" hier nur insofern akzeptieren, als die erstere Form zur gerichtlichen Klage gegen ihn berechtigt, die letztere nicht. Der Herr Generalleutnant hat aber durch den ganzen Ton seines Vorwurfes nicht erkennen lassen, dass er den Friedensfreunden und der Baronin Suttner nur eine „objektive Unwahrheit", das heisst einen Schreibfehler, vorwirft, denn er sprach von der ganzen Haltung und dem gesamten Tun und Lassen der Pacifisten und ihrer großen Vorkämpferin. (105) Sievers 1924 Aber das hätte ich ihm doch nicht zugetraut, daß auch er in seiner polemik von den bahnen der Wahrheit abweichen werde. Wahrheitswidrige anklagen aber bin ich nicht gewillt, auf mir sitzen zu lassen, und so muß ich auch ihm hier den kämpf ansagen, wie ich es bei einem ähnlichen fall in meinen Eddaliedern s. 170f. gegen N. Beckman habe tun müssen. (329) Kerr 1932/1961 Das Andeuten von scharf nationalistischem Untergrund seiner Anstalt nennt er „böswillige Verzerrung". Dieser Pädagog weiß sich nicht anders zu helfen, als daß er wieder folgende Unwahrheit sagt: mir „liege das Vaterländische fern". Das ist ... nicht eine „böswillige

187 Verzerrung", sondern: eine schwindelhafte Behauptung. Nach deutschem Gesetz kann ein, wenn auch noch so intelligenzarmer, Beleidigungsversuch auf der Stelle straflos erwidert werden. Da muß man schon dem Pflug zeigen, was eine Harke ist. (377)

Henscheid 1990 [ . . . ] und merkwürdigerweise überfuhrt schon dieser im Grunde probate Kunstgriff - ohne daß die Autorin dies je ahnte - ihr Werk noch einmal wahlweise der Albernheit und Narretei oder aber der abgründigen Verlogenheit im Ganzen. Die Form des Diariums - der eben seiner Fiktion - stellt nämlich dieses ihr Leben dar als ein andauerndes Pflichtpensum tagtäglicher Nazi-Bewältigung, als immerwährende Sekundärliteraturlektüre nebst FilmeRennerei [...] - so ein Leben, wenn es denn nicht komplett gelogen und aufs Buch hin gebogen ist, muß einen ja rammdösig machen.

5.4.3.2

Kommentar

(A) Der Generalleutnant außer Diensten v. Pelet-Narbonne hatte in einem Artikel im Tag vom 30. April 1907 der bekannten Friedenskämpferin Bertha von Suttner vorgeworfen, „unwahre Behauptungen" aufgestellt zu haben, worauf diese von ihm in der gleichen Zeitung verlangte, seine Behauptung zu beweisen. Darauf schrieb der General in der Nummer vom 23. Mai einen weiteren Artikel, in dem er glaubt, „den Beweis geliefert zu haben", dass Frau von Suttner „unmittelbar ,unwahre' Behauptungen aufgestellt hat, geeignet, die Interessen des Deutschen Reiches zu schädigen". Darüber hinaus behauptet er, dass der Aufsatz Suttners „das Verhalten Deutschlands allgemein in einem schiefen, also ,unwahren' Lichte zeigt". Seine eigenen Behauptungen kommentierend, weist er aber die Lesart, „als hätte ich Frau v. Suttner .bewusste Lüge' zum Vorwurf gemacht", mit Entschiedenheit zurück und macht auf den Unterschied zwischen „unwahrer Behauptung" und „bewusster Lüge" aufmerksam. In Anwendung auf den konkreten Fall urteilt er: „Die Behauptungen der Frau v. Suttner sind objektiv unwahr, ohne dass, wie ich bestimmt annehme, ihr das Unwahre bei der Niederschrift bewusst gewesen ist". In der Selbstdeutung Pelet-Narbonnes hat er nicht Lüge vorgeworfen, sondern kritisiert, „dass sie ihre Worte nicht abzuschätzen weiß" und dass ihre „Voreingenommenheit" sie daran hindert, die Sachen zu sehen, wie sie sind. Daraufhin meldet sich im Interesse der Baronin und aller Friedensfreunde Alfred H. Fried als Herausgeber der Friedenswarte (Jg. IX, 1907, 104f.) zu Wort. Er gibt zu, dass der fragliche Satz der Suttner „vielleicht nicht ganz korrekt ausgedrückt" ist, moniert aber mit scharfen Worten, dass der Kritiker Frau v. Suttner und allgemein die Friedensfreunde „auf Grund eines einzigen Satzes" „der niedrigsten und verwerflichsten Absichten" anklagt. Er nimmt also die Selbstdeutung Pelet-Narbonnes nicht an und sieht in ihr nur das Wirken einer juristischen Vorsichtsmaßnahme. Bei der Intervention Frieds und ihrer Zielrichtung zu beachten ist, dass die von Pelet-Narbonne in Anspruch genommene sprachliche Unterscheidung zwar in der Tat in der juristischen Fachsprache, nicht unbedingt aber auch in der Allgemeinsprache geläufig war, so dass seine Äußerungen beim

188 Leser sogar gegen die eigenen Absichten als Lügevorwurf wirken konnten. Allerdings ist es auch für Fried rhetorisch wirkungsvoll, dem Gegner einen unberechtigten Vorwurf der Lüge vorzuwerfen. So wie die Lüge schwerwiegender als der Irrtum ist, so diskreditiert auch ein falscher Vorwurf der Lüge stärker als ein falscher Vorwurf des Irrtums. (B) Die Forderung, nicht wissentlich die Unwahrheit zu sagen, ist bis auf den Zweifelsfall der sogenannten Notlüge so allgemein anerkannt, dass ihre Präsenz in der polemischen Metakommunikation nicht überraschen kann, ist sie doch juristisch und religiös gestützt - quasi identisch mit der Maxime der Qualität von Grice: „Do not say what you believe to be false" (Grice 1991, 27), fur die universelle Geltung beansprucht wird. Die Bedingungslosigkeit und Stärke der Forderung erweist sich auch darin, dass der Vorwurf der Lüge, wie Falkenberg (1981) zu Recht betont, als einer der stärksten Vorwürfe gilt, die man über das kommunikative Verhalten machen kann 35 Bei ihm findet man auch die schon angesprochene Abgrenzung der Lüge von der Unwahrheit. Auf die Gegenwart bezogen, verdeutlicht er die u.a. in der Parlamentssprache übliche und für Ordnungsrufe relevante Unterscheidung, nach der „Unwahrheit eine objektiv falsche Aussage ist, die subjektiv in gutem Glauben gemacht wurde", während Lüge eine wissentlich falsche Aussage ist. Dieser Begriff von ,Unwahrheit' stimmt aber wiederum nicht mit dem allgemeinen Sprachgebrauch überein, in dem der Satz „Du hast die Unwahrheit gesagt" durchaus eine sprachlich abgemilderte Form von „Du hast gelogen" sein kann, während die in gutem Glauben gemachte falsche Aussage eher durch „Du hast etwas Falsches gesagt"/,,Was Du gesagt hast, trifft nicht zu"/„Du hast Dich geirrt" o.ä. angesprochen wird, wobei die Frage ,wissentlich oder unwissentlich' mindestens in der Schwebe bleibt. Wichtig für das Verständnis der Norm ist auch, dass die Unterlassungsforderung nicht ohne weiteres durch die komplementäre Handlungsaufforderung („Sage [jederzeit] die Wahrheit") ersetzt werden kann; denn die Wahrheit eines Sachverhalts genügt bei weitem nicht zur Begründung seiner öffentlichen Bekanntmachung. 36 Überschneidungen bestehen vor allem mit der Norm 5.4.2, insofern wissentliche Unwahrheiten, wenn sie das vom Gegner Gesagte betreffen, zugleich die Norm 5.4.2 verletzen. Die Abweichungen fallen gemeinsam unter das Verdikt des Gebots „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten". Außerdem ist die Forderung, nicht wissentlich Unwahres zu sagen, in vielfaltigen Formen juristisch gestützt.

36

„Seit dem späten Mittelalter gab es kaum eine ärgere Beleidigung für einen Mann von Ehre als die, von einem anderen Ehrenmann ,Lügner' genannt zu werden" (Falkenberg 1981, 158), weshalb dieser Vorwurf fast automatisch Ehrenhändel nach sich zog. Deshalb ist die Wahrheit des Gesagten auch kein Entschuldigungs- oder Rechtfertigungsgrund für Verstöße gegen andere Normen oder hat in dieser Funktion zumindest einen unsicheren Status.

189 (C) Eine auffällige Besonderheit dieser Norm ist, dass die Strategie, sich gegenüber der polemischen Instanz durch Selbstzuschreibungen ausdrücklich als Befolger der Normen zu profilieren, so gut wie fehlt. Die Erwartung, dass man die Wahrheit sagt, gilt als so selbstverständlich, dass man eher Misstrauen erweckt, wenn man unprovoziert (d.h. ohne unter dem Verdacht zu stehen, gelogen zu haben) die Absicht bekundet, die Wahrheit sagen zu wollen, oder das jeweils Gesagte mit der Versicherung bekräftigt, es sei wahr. Widersprechend könnte man darauf hinweisen, dass Polemiker allenthalben bekunden, sie hätten es nur mit der Wahrheit zu tun, es ginge ihnen nur um die Wahrheit o.ä. Doch steht in solchen Äußerungen die Liebe zur Wahrheit (über die Sache) oft nicht in Opposition zu Lüge, sondern entweder zu Eigennutz (vgl. Norm 5.3.1) oder zu Bekämpfung des Gegners (vgl. Norm 5.3.2). Typischerweise wird Norm 5.4.3 also in Vorwürfen an den Gegner oder in Verteidigungen gegen Vorwürfe angesprochen. In den vorangestellten Texten sind Moritz 1789, Fischer 1853 und Fried (1907) reaktive Befassungen mit dem Vorwurf der Lüge. Alle anderen Zitate enthalten Vorwürfe an den Gegner. Was genau vorgeworfen wird, ist unterschiedlich, da es verschiedene Grade und Spielarten sowohl des Lügens als auch des Lügevorwurfs gibt (auch dazu Falkenberg 1981 u. 1982). Hinsichtlich der Unterscheidung von Unwahrheit und Lüge zeigt das Untersuchungsmaterial, dass auch im klassischen Fall identifizierbarer einzelner Äußerungen der Verstoß gegen die Norm nur zum Teil eindeutig behauptet wird (Lichtenberg 1776, Paulus 1836, Vogt 1855, Sievers 1924), in manchen Fällen aber die Frage, ob es sich um eine wissentliche oder eine unwissentliche Unwahrheit handelt, uneindeutig beantwortet wird oder mit der Angabe alternativer Möglichkeiten in der Schwebe bleibt. Auch wenn die sprachlichen Kunststücke etwas sophistisch anmuten mögen, implizieren nach dem Willen der Schreiber offenbar nicht einmal die Ausdrücke lügenhaft (Schwenck 1835), schwindelhafte Behauptung (Kerr 1932) oder Verlogenheit im Ganzen (Henscheid 1990) notwendig den Vorwurf wissentlicher Unaufrichtigkeit, während dies bei Lüge sowie bei den von Voss gewählten Ausdrücken Verdächtigung oder Verleumdung zweifellos der Fall ist. Andere formulieren die Alternative klar aus, lassen aber offen, welche der beiden Möglichkeiten zutrifft. Voß (1782) behauptet, dass sein Gegner sowohl wissentliche als auch unwissentliche Unwahrheiten gesagt hat, und spart sich die Mühe des Nachweises, welche der neun Unwahrheiten in die eine und welche in die andere Kategorie gehören. Henscheid (1990), der in seiner Rezension eines Buches von Gabriele von Arnim schon zuvor das „adornoisch ,Unwahre' des Ganzen" im Stil der Autorin entdeckt zu haben glaubt, führt die literarische Nutzung der Form des Tagebuchs wahlweise auf Narretei oder auf Verlogenheit zurück, falls nicht das Berichtete selbst „komplett gelogen" ist. Die Zurückhaltung im Vorwerfen der Lüge mag hin und wider dem ehrlichen Bemühen geschuldet sein, nicht etwas zu behaupten, was man nur schwer beweisen kann. Ein Hauptgrund, der über die Jahrhunderte auch immer wieder in den

190 Texten selbst angesprochen wird, ist aber der Versuch, gerichtlichen Prozessen aus dem Wege zu gehen. So beruft sich Kerr (1932), obwohl ihm schon der uneindeutige Begriff schwindelhaft einen gewissen Schutz geben dürfte, ausdrücklich auf den für Beleidigungen gesetzlich spezifizierten Rechtfertigungsgrund, Gleiches mit Gleichem vergelten zu dürfen (siehe Kapitel 5.6.2). Und Fried (1907) thematisiert in seinem Meta-Metakommentar die Strategie, den Gegner unter den Verdacht zu stellen, ein Lügner zu sein, und doch gerichtlich unanfechtbar zu bleiben. (D) Die Norm ist in relativ großer Dichte über den ganzen Untersuchungszeitraum hin in den polemischen Texten präsent. Eine Zurückweisung der Norm kommt nicht vor, ja das Untersuchungsmaterial enthält im Unterschied zu den meisten anderen Normen auch keine Rechtfertigungen oder Entschuldigungen für bewusste Unehrlichkeit. Es gibt zwar, wie jeder weiß, Notlügen und alle möglichen lässlichen Verstöße gegen die Wahrheit, für die dann Wörter wie flunkern zur Verfügung stehen, doch scheinen die Spielräume in der öffentlichen Kommunikation, zumal der schriftlichen, Wahlversprechen und Verwandtes einmal unbeachtet, sehr eng. „Auch wenn alles wahr ist, schweig!" Die Behauptung, man dürfe die Normformulierung „Mache keine Äußerungen, die wissentlich Unwahres enthalten" nicht bedingungslos in die positive Handlungsaufforderung „Sage (jederzeit) die Wahrheit" umformulieren (siehe oben), wie auch die Behauptung, die Wahrheit des Gesagten sei kein akzeptabler Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund für die Vernachlässigung anderer kommunikativer Normen, verträgt sich schlecht mit der Argumentation von Rüge (1847/1976) in den beiden folgenden Zitaten: Sie finden mit Unrecht, „ich wäre Ihrem Charakter und Ihrer Ehre zu nahe getreten." Was fur eine andere Ehre, als Ihren Charakter können Sie haben? Ihrem Charakter aber war ich nichts Anderes schuldig, als ihn wahr zu schildern. Das hab' ich gethan (226). Alles in Allem, wie Ihr Charakter, so ist auch Ihre Ehre Ihre eigene Sache. Das Publikum, dessen Ansicht von Ihrem Charakter Ihre Ehre bildet, wird Sie nach Ihren Leistungen richten. Suchen Sie eine honette Existenz zu sein, und es wird Sie Niemand stürzen können, am Allerwenigsten mit Erdichtungen oder mit Beleidigungen, die keinen Grund haben (227).

Rüge weist den Vorwurf seines Gegners, Wilhelm Schulz, seinem Charakter und seiner Ehre zu nahe getreten zu sein, mit dem Argument zurück, er habe nichts anderes getan, als den Charakter wahr zu schildern. Die fragliche Äußerung Ruges, derentwegen Schulz eine Ehrenerklärung verlangt und alternativ auf Pistolen gefordert hatte, bestand in der Behauptung, Schulz, der in einer gefahrlich scheinenden Situation vorübergehend aus seiner Heimatstadt geflohen war, habe dabei seine Frau allein zurück - und so auch „im Stich" gelassen. Schulz wirft Rüge daraufhin Verschiedenes vor, und es wird nicht ganz klar, was für ihn der zentrale Punkt ist: die falsche Insinuation, die Situation wäre auch für die

191 Frau gefahrlich gewesen (Norm 5.4.3); die diskreditierende Verdächtigung, er habe seine Frau im Stich gelassen (Norm 5.4.4) oder die öffentliche Verbreitung eines Sachverhalts, von dem er nur aus einer vertraulichen Situation, nämlich aus Gesprächen mit dem Ehepaar Schulz, Kenntnis hatte (Norm 5.4.5). Wenn Rüge sich damit verteidigt, was er über Charakter und Verhalten von Schulz gesagt habe, sei wahr, so weist er den Vorwurf der Verletzung der Norm 5.4.3 zurück. Der Vorwurf einer Verletzung der Normen 5.4.4 und 5.4.5 bleibt aber bestehen, es sei denn die Wahrheit des Gesagten könnte auch die öffentliche Verbreitung persönlicher Eigenschaften des Gegners bzw. die öffentliche Verbreitung vertraulich erworbener Informationen rechtfertigen. Für diese Auffassung gibt es in der polemischen Metakommunikation jedoch keinerlei Unterstützung. Rüge ist mit seinem Versuch, unter Berufung auf die Wahrheit des Gesagten eine Kritik an einem persönlichen Angriff abzuwehren, im Untersuchungsmaterial eine Ausnahme. Man brauchte sich mit der Frage also gar nicht zu beschäftigen, wenn besagte Auffassung nicht auch in der extrakommunikativen Reflexion eine gewisse Verbreitung hätte. Sogar in der wissenschaftlichen Studie v o n Groeben u.a. ( 1 9 9 0 - 1 9 9 2 , V, 4 6 u.ö.) zählt die Wahrheit des Gesagten zu den M ö g lichkeiten der „inhaltlichen Rechtfertigung" von Normverstößen. Das wird von den hier untersuchten Texten, w i e die folgenden Beispiele zeigen, mit Entschiedenheit verneint: Um seinen Lesern begreiflich zu machen, wie die neuesten Schriften dieses Gelehrten so schlecht ausfallen können, [...] erzählt er uns: „D. Conradi habe sich seit einiger Zeit auf den Weinhandel und aufs Saufen gelegt, habe seine Creditores, man versteht nicht recht, ob betrogen? oder mit anderer Schaden bereichert? bis er endlich, um bei Ehren zu bleiben und sich des Hungers zu erwehren, von Leipzig nach Marburg entweichen müssen." - Abscheulicher Recensent, wer verlangt das zu wissen? Sag' uns, ob das Buch gut oder schlecht ist, und von dem übrigen schweig'! Auch wenn alles wahr ist, schweig', denn die Gerechtigkeit hat dir es nicht aufgetragen, solche Brandmale auf die Stirne des Unglücklichen zu drücken! (Lessing 1768-1769/ 3 1894, X, 43 lf.). Ich will Herrn Menzel eine Geschichte erzählen. Der bekannte Klotz oder einer seiner Helfershelfer hatte in einer kritischen Schrift über einen gewissen Autor geäußert, man dürfe sich nicht wundern, daß seine neueren Arbeiten weit unter seinen früheren stehen, da der Mann sich seit einiger Zeit auf den Weinhandel und a u f s Saufen gelegt habe. Darüber sagte Einer, den auch Herr Menzel unweigerlich als das Vorbild aller Kritiker wird gelten lassen, sobald ich seinen Namen nenne: „Abscheulicher Recensent! rief Lessing dem Verfasser jenes Artikels zu, wer verlangt das zu wissen? Sag' uns, ob das Buch schlecht oder gut ist: und von dem Übrigen schweig! Auch wenn Alles wahr ist, schweig; denn die Gerechtigkeit hat dir es nicht aufgetragen, solche Brandmale auf die Stirne des Unglücklichen zu drücken!" (Strauß 1838/1972, II, 665). Und wenn Hr. Fischer bei diesem Anlasse mir gar noch „stilistische" gute Räthe ertheilt, und in Nro. 12 der Kirchenzeitung mich sagen läßt: „eine persönliche Verdächtigung sei nur dann zu rechtfertigen, wenn sie sich auf genaue Aktenkenntniß stütze", so lerne der junge Mann [..,] vorerst wenigstens lesen; denn an der von ihm angeführten Stelle der Kirchenzeitung heißt es: „eine solche persönliche Verdächtigung lasse sich nur dann entschuldigen, wenn sie sich auf genaue Aktenkenntniß stütze;" und daß rechtfertigen und entschuldigen zwei sehr verschiedene Begriffe sind, das weiß auch Einer, der kein Philosoph ist (Schenkel 1854, 6).

192 Bei Stifter lesen wir den Satz: „Kinder besaß er nicht und eine Pflegetochter verlor er durch Selbstmord; vielleicht hatte doch die liebevolle Strenge des Adoptivvaters den unerklärten Schritt beschleunigt." Zum Teufel, solche Dinge sagt man nicht, und zumal in einer allgemeinen Litteraturgeschichte, mit einem „vielleicht". Aber Meyer ist auch darin der moderne Litteraturphilolog, daß er überflüssigen Klatsch zur vermeintlichen psychologischen Charakteristik heranzieht (Bartels 1900, 25f.). Alle zitierten Autoren kritisieren die öffentliche Verbreitung von Informationen über die Person unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt, wobei die Nachkommen sich w i e Strauß (1838) oder auch Bartels in einer anderen Veröffentlichung (Bartels 1908, 170) gern auf Lessing berufen, dessen Reflexion über das Problem am Beispiel von Klotz gegen Ende der Antiquarischen Briefe autoritative Geltung erlangte. Der zitierten Stelle von Bartels (1900) kann man allerdings die Auffassung entnehmen, dass nicht erst Unwahrheit, sondern sogar schon Unsicherheit über den wahren Sachverhalt („vielleicht") schuldverstärkend wirkt. Und das Zitat von Schenkel legt nahe, dass eine persönliche Verdächtigung durch ihre zweifelsfreie Wahrheit („auf genaue Aktenkenntniß" gestützt) zwar nicht gerechtfertigt, aber eventuell doch entschuldigt werden könne.

5.4.4

Mache keine Äußerungen, die geeignet sind, die Person des Gegners zu diskreditieren

5.4.4.1 Textbeispiele Triller 1752 Die Rede ist nicht von dem Verfasser des Wurmdoktors, sondern von seinem Gedichte. Sein bürgerlicher oder moralischer Charakter mag beschaffen seyn, wie er wolle. (13) Lessing 1768-1769/ 3 1894 Wovon sie [die Veröffentlichungen von Klotz] uns die häufigsten Beweise gaben, war der unglückliche Hang des Verfassers, in seine Urtheile die diffamirendsten Persönlichkeiten einzuflechten. (X, 430f.) Aber sobald der Kunstrichter verräth, daß er von seinem Autor mehr weis, als ihm die Schriften desselben sagen können; sobald er sich aus dieser nähern Kenntniß des geringsten nachtheiligen Zuges wider ihn bedienet: sogleich wird sein Tadel persönliche Beleidigung. Er höret auf, Kunstrichter zu seyn, und wird - das verächtlichste, was ein vernünftiges Geschöpf werden kann - Klätscher, Anschwärzer, Pasquillant. Diese Bestimmung unerlaubter Persönlichkeiten, und eines erlaubten Tadels, ist ohnstreitig die wahre; und nach ihr verlange ich, auf das strengste gerichtet zu seyn! Herr Klotz klagt mich an, meine antiquarischen Briefe mehr gegen Ihn, als gegen sein Buch gerichtet zu haben [...]. Persönliche Beleidigungen! Hr. Klotz klagt über persönliche Beleidigungen! Herr Klotz! Quis tulerit Gracchos etc. Und doch, wo sind sie, die er von mir erhalten haben will? Er zeige mir eine, und ich will kommen, und sie ihm fußfällig abbitten! Durch welches Wort habe ich mich merken lassen, daß ich ihn weiter als aus seinen Büchern kenne? Welcher Tadel, welcher Spott ist mir entfahren, der sich auf mehr gründet, als auf Beweise seiner Unwissenheit und Uebereilung, wie sie in seinen Schriften da liegen? (X, 436)

193 Campe 1789/1993 Wegen der Schande, welche der Stand der Gelehrten überhaupt und unsere deutsche Literatur insonderheit in den Augen der feinern und gesittetem Welt davon abermals haben wird, daß ein deutscher Schriftsteller von dem andern solche Dinge öffentlich melden mußte, wasche ich meine Hände in Unschuld. (10) Auf diese Thatsachen, und auf diese allein, kommt es an, wenn zwischen Hm. M. und mir entschieden werden soll, wer von beiden schlecht, wer hingegen rechtmäßig gehandelt habe. Er sage also, was er wolle; er verunglimpfe und schmähe meinen schriftstellerischen, meinen bürgerlichen und sittlichen Character, wie er wolle; dies alles wird ihm, kann ihm, so lange jene Thatsachen Thatsachen bleiben, zu seiner eigenen Rechtfertigung ganz und gar nichts helfen. (32)

Heine 1830/1964 Zum Besten der Literatur will ich daher jetzt vom Grafen August von Platen-Hallermünde etwas ausführlicher reden. Ich will dazu beitragen, daß er zweckmäßig bekannt und gewissermaßen berühmt werde, ich will ihn literarisch gleichsam herausfüttern, wie die Irokesen tun mit den Gefangenen, die sie bei späteren Festmahlen verspeisen wollen. Ich werde ganz treu ehrlich verfahren und überaus höflich, wie es einem Bürgerlichen ziemt, ich werde das Materielle, das sogenannt Persönliche, nur insoweit berühren, als sich geistige Erscheinungen dadurch erklären lassen, und ich werde immer ganz genau den Standpunkt, von wo aus ich ihn sah, und sogar manchmal die Brille, wodurch ich ihn sah, angeben. (V, 297f.)

Gutzkow 1835a/1972 u. Menzel 1835b Menzel, der sich in den unfläthigst ersonnenen Persönlichkeiten wälzt, fordert mich auf, meine Stellung ihm gegenüber auf Prinzipien zu reduziren. Ich erkläre hiermit, daß ich andere Prinzipien für die Litteratur habe, als die Waden und Lenden derer, die sich ihr widmen; daß es mir niemals einfallen würde, meinen Gegner als eine kümmerliche Figur hinzustellen und von dem Effekte dieser lügenhaften Metamorphose Vortheile zu ziehen, welche nur den aus der Wissenschaft und dem Leben beigebrachten Argumenten gebühren. (1,67) In Nr. 262 der Allgemeinen Zeitung hat Herr Gutzkow einen Strom von Beschimpfungen gegen meine Person ausgeschüttet, ohne auch nur entfernt eine Vertheidigung seiner schlechten Sache zu wagen. Ich habe gewußt und vorausgesagt, daß es ohne solche Besudelungen nicht abgehen würde. [...] Ich nehme all seine persönlichen Schmähungen auf mich, da meine Ehre außer dem Bereich seiner unwürdigen Waffen liegt und meine Bekanntschaft dem Publikum nicht so neu ist, als die der „ersten Nobilitäten", die Herr Gutzkow aus seines Nichts durchbohrendem Gefühl, wie man die Hand umdreht, heraufbeschwört. (1,52)

Schenkel 1854 Die Schrift des Herrn Fischer zerfällt eigentlich in zwei Theile. Der eine ist mit den rohesten persönlichen Ausfällen und Schmähungen gegen meine Person angefüllt und scheint den Zweck zu haben, mich, wenn immer möglich, moralisch zu vernichten. Der zweite scheint sich mit der Sache befassen zu wollen, die übrigens auch nur dazu dienen muß, zu persönlichen Invektiven stets erwünschte Veranlassung zu bieten. Die Schrift selbst verdient im Ganzen keinen anderen Namen als den einer von persönlichen Injurien strotzenden Schmähschrift. (3)

Fischer 2 1870 Wenn, nach dem bekannten Worte zu reden, der Stil wirklich der Mensch ist, so müssen die Mängel des ersten sehr eng mit jenen persönlichen Mängeln zusamenhängen, die man nicht

194 ändern und ablegen kann, wie ein Kleidungsstück. Ich glaube, die Schreibart des Gegners wohl zu kennen, und es hat auch mich bisweilen gereizt, sie zu beleuchten, doch habe ich es unterlassen, weil es mir unrichtig schien, in einer wissenschaftlichen Polemik so nah an die Person des Gegners zu gehen. (72) Dennert 2 1905 Einen weiteren Vorwurf muß ich aber mit Entrüstung zurückweisen: ein Rezensent des Württ. Staatsanzeigers, noch dazu ein Theologe, sagt, ich hätte Darwin „Fußtritte" versetzt. Was soll dies heißen? doch wohl: ich hätte Darwin persönlich beschimpft. Auf diese Weise soll natürlich dies Buch in den Augen der Leser wieder unmöglich gemacht werden. Es möchte dem Rezensenten unmöglich sein, mir aus meinen zahlreichen Schriften und Aufsätzen gegen den Darwinismus auch nur eine einzige Stelle anzugeben, an der ich Darwin gegenüber persönlich geworden wäre, geschweige denn sein Andenken beschimpft hätte. Wenn er etwa S. 12 im Auge hat, wo ich von Darwins Stellungnahme Wigand gegenüber berichte, so ist doch dies wahrhaftig kein „Fußtritt", [...]. Aber die Sache liegt ja natürlich so: Darwin gilt in den Augen vieler Leute geradezu als Heiliger, er ist absolut sakrosankt; sagt man etwas gegen seine Lehre, seinen Stil, gegen die Unklarheit seiner Definitionen, gegen das Schwankende in seinen Behauptungen, so hat man ihn persönlich angegriffen, ja, so hat man ihm sogar einen „Fußtritt" versetzt. (5f.) Kerr 1926/1961 Sardonisch eifert er [Kraus] dauernd gegen meinen „kleinen Mund" - (unwissentlich befangen in der Vorstellung des großen Mauls). Er schreibt wörtlich: „Von Körpermerkmalen mag man wohl sagen, daß es unziemlich wäre, sie hervorzuheben"; also hebt er meine hervor. Er berennt somit, ziemlich unziemlich, den kleinen Mund - welcher bisher mein ganzer Stolz war... und ein Körpermerkmal ist, oder es gibt keins. (338) Broder 1993 Warum sachlich, wenn es auch persönlich geht. (Motto)

5.4.4.2

Kommentar

(A) Aus den zahlreichen Thematisierungen der Norm 5.4.4 in den Schriften Lessings sind hier noch einmal zwei Textstellen aus dem Streit mit Klotz ausgewählt (Lessing 1768-1769). Sie stammen aus den letzten beiden Briefen des zweiten Teils der Briefe antiquarischen Inhalts, stehen somit am Ende der Schrift, das generell einer der bevorzugten Orte für metakommunikative Charakterisierungen des Gegners und Rückblicke auf das eigene Verhalten ist. In der ersten Textstelle stellt Lessing bei seinem Gegner einen generellen Hang zu Persönlichkeiten fest, den er anschließend illustriert. In der zweiten Textstelle gibt Lessing verallgemeinernd Kriterien an, die ihn bei der Beurteilung des Streitverhaltens hinsichtlich des Persönlichwerdens leiten und nach denen er verlangt, selbst „auf das strengste gerichtet zu seyn!", von denen er also implizit behauptet, dass sie leitend für sein eigenes Verhalten seien. A u f dieser Grundlage weist er im Schlussteil die Vorwürfe von Klotz, durch das Aussprechen persönlicher Beleidigungen die Norm selbst verletzt zu haben, zurück.

195 In diesen Passagen weitet sich die metakommunikative Thematisierung - über die unmittelbaren Funktionen des Vorwerfens bzw. Rechtfertigens und Entschuldigens hinaus - tendenziell zu einer grundsätzlichen Klärung der Norm aus, wie man sie sonst in der extrakommunikativen Diskussion findet, in der die Bestimmungen Lessings ja berühmt geworden sind. Sie werden aber auch in der polemischen Metakommunikation nicht selten zitiert (vgl. Kapitel 5.4.3), um die Autorität Lessings in der Bekämpfung des Gegners bzw. der positiven Selbstdarstellung zu nutzen. (B) Nach der Norm „Versuche nicht die Person des Gegners zu diskreditieren" in Kapitel 5.3.2 geht es in diesem Abschnitt um die metakommunikative Bewertung von Äußerungen, in deren Proposition negativ bewertete Eigenschaften von Personen enthalten sind. In den Bezügen auf die Norm 5.4.4 werden also nicht wie in 5.3.2 Intentionen vorgeworfen, gerechtfertigt oder entschuldigt, sondern das öffentliche Äußern von Propositionen, die nicht die zur Debatte stehende Sache, sondern die Person des Gegners betreffen. Insofern „Äußerung zur Person" in Opposition zu „Äußerung zur Sache" steht, liegt der negativen Wertung ein funktionales Kriterium zugrunde: Angriffe auf die Person bringen die Klärung der Sache nicht voran. Wie in Kapitel 5.3.2 bei der Bewertung der Intention schon festgestellt, verfallen Akte des Persönlichwerdens unabhängig von funktionalen Gesichtspunkten zusätzlich einer ethisch begründeten Kritik. Eine Möglichkeit, die Akte des Persönlichwerdens differenziert zu beschreiben, bietet die Klassifikation der loci α persona in der Rhetorik antiker Tradition (vgl. die Aufstellung bei Ueding/Steinbrink (1986, 220-225), auch wenn jene nicht für diesen Zweck entwickelt wurde. Die in der Topik systematisierten loci sind „Suchformeln für das Auffinden von Beweisgründen" und werden „nach Quintilian eingeteilt in die aus der Person und die aus der Sache sich ergebenden Fundstätten (loci α persona und loci a re), denn es gibt keine Untersuchung, die nicht entweder mit einer Sache zu tun hat, oder mit einer Person' (Quint. 5, 8, 4)" (Ueding/Steinbrink 1986, 218 u. 219). Die Suche nach Beweisgründen in der Person ist im Sinne der Topik nichts Negatives, sondern legitim, ja notwendig, um eine die Person betreffende These argumentativ stützen zu können. Problematisch wird das Verfahren erst, wenn die Untersuchung es nicht mit einer Person, sondern - wirklich oder vorgeblich, nach der Intention der Kommunikationspartner oder nach den Erwartungen des Publikums - mit einer Sache zu tun hat. Nur dann gilt ja die Suche nach Beweisgründen in der Person als „Persönlichwerden". Doch bleiben die Fundstätten auch bei missbräuchlicher Anwendung der Suchformeln dieselben. Sowohl die Nähe zwischen den Normen 5.3.2 und 5.4.4 als auch ihre Trennbarkeit lässt sich am Zitat von Schenkel (1854) illustrieren, der Fischer Akte des Persönlichwerdens im Sinne von 5.4.4 („persönliche Ausfalle und Schmähungen", „persönliche Invektiven") vorwirft und in der gleichen Äußerung von diesen auf Intentionen im Sinne von 5.3.2 schließt („scheint den Zweck zu haben, mich, wenn immer möglich, moralisch zu vernichten"). Dieser Schluss ist nicht

196 selbstverständlich („scheint"), sonst müsste er von Schenkel nicht gezogen werden. Es gibt gelegentlich Akte des Persönlichwerdens, die nicht Ausdruck der Absicht sind, den Gegner zu diskreditieren, und vor allem ist umgekehrt die Absicht der Diskreditierung nicht gebunden an das Mittel persönlicher Anspielungen. In beiden Richtungen sind die beiden Normen im Prinzip voneinander unabhängig. Darauf beruhen die gelegentlichen Versuche, sich dem Vorwurf, die Norm 5.4.4 verletzt zu haben, dadurch zu entziehen, dass der Polemiker nicht den diskreditierenden Charakter der Äußerung, sondern die solchen Äußerungen normalerweise unterstellte Intention des Diskreditierens leugnet. Die Argumentation läuft darauf hinaus, durch Normkonformität bezüglich der Norm 5.3.2 („Versuche nicht, die Person des Gegners zu diskreditieren") Kritik auf der Basis der Norm 5.4.4 zu entschärfen. 37 (C) Bezüge auf die Norm werden in den Textbeispielen als Vorwurf an den Gegner, die Norm verletzt zu haben, realisiert oder - komplementär - in Erklärungen des Schreibers, sein eigenes Handeln befinde sich mit der Norm in Übereinstimmung. Beispiel fur das erste sind Schenkel (1854) und Kerr (1926), fur das zweite Triller (1752), Fischer (1870) und auch Dennert (1905), der einen entsprechenden Vorwurf zurückweist. Vorwurf und Selbststilisierung können, wie in den Beispielen Lessing (1768-1769), Campe (1789) und Gutzkow/Menzel (1835), auch miteinander verbunden sein. Campe (1789) gibt zu, Person und Charakter seines Gegners Moritz öffentlich in ein schlechtes Licht gestellt zu haben, verschiebt die Verantwortung aber auf seinen Gegner, der ihn dazu gezwungen habe. Im zweiten Zitat bewertet er die erwartbaren künftigen Angriffe auf seinen „sittlichen und bürgerlichen Character" schon vorweg als Verunglimpfungen, auf die es in der Streitsache nicht ankomme. - Heine (1830) ist Beispiel fur eine ironisch instrumentierte Inanspruchnahme der Norm für sein eigenes zukünftiges Handeln. Inhaltlich ist die Norm weniger strikt als bei Lessing (oder auch bei Fischer). Die Vorwerfbarkeit des Persönlichwerdens soll offenbar aufgehoben sein, wenn die öffentlich gemachten Eigenschaften der Person für die Beurteilung des strittigen Sachverhalts relevant sind. Es kommt also nur das funktionale, nicht das ethische Kriterium zur Anwendung. Einige Seiten später dient ihm in diesem Sinne der Verweis auf das „Materielle, das sogenannt Persönliche", nämlich auf die sexuellen Dispositi37

In dieser Weise nimmt ein anonymer Rezensent der Schrift Wie ward Friz Stolberg ein Unfreier? "den Autor Voß in Schutz: „Eine gereizte Persönlichkeit kann Ree. diesem Zorne nicht unterlegen. Es handelt sich ja nicht um Persönliches. [...] Allerdings ist von der Geschichte eines einzelnen Mannes die Rede, die durch seine persönlichen Verhältnisse erläutert werden mußte; aber in dieser Geschichte spiegelt sich ein ganzer ZeitCharakter ab, wie sie auch der Vf. mit richtigem Blick in die großen Verhältnisse unserer Zeit zu stellen wußte" (Anonymus 1820b, in: Paulus 1820, 81 f.). Der Rezensent wird sekundiert vom Herausgeber Paulus, der über die gleiche Schrift von Voß sagt: „Also nicht gegen Personen, sondern darum sind diese Blätter geschrieben, damit die Gründe, die sie enthalten, Gegengründe erwecken, damit die Wahrheit erkannt und dadurch die Freiheit erhalten oder gewonnen werde" (Paulus 1820, IV).

197 onen Platens, zur Erklärung ,,geistige[r] Erscheinungen", nämlich des Charakters der Liebesgedichte des Dichters. 38 - Der Streit zwischen Menzel und den Jungdeutschen im allgemeinen und Gutzkow im besonderen (Menzel/Gutzkow 1835) besteht in seinen fortgeschrittenen Phasen, wie schon die Zeitgenossen monierten, zu großen Teilen aus dem Austausch von persönlichen Angriffen und zugleich auf der Metaebene aus gegenseitigen Vorwürfen, persönlich geworden zu sein, bzw. aus Versicherungen, selbst auf persönliche Angriffe verzichten zu wollen bzw. verzichtet zu haben. Der Vorwurf Gutzkows an Menzel, sich „in den unfläthigst ersonnenen Persönlichkeiten" zu wälzen, ist mit der Erklärung verbunden, selbst anderen Prinzipien zu folgen. 39 Menzel seinerseits (Menzel 1835b) wirft Gutzkow genau das Gleiche vor, nämlich gegen seine Person „einen Strom von Beschimpfungen" ausgestoßen zu haben. Eine ausdrückliche Erklärung, selbst auf solche Mittel verzichtet zu haben oder zu wollen, findet man bei Menzel in diesem Zusammenhang nicht, doch ergibt sich dieser Anspruch bei jemanden, der sich über persönliche Angriffe (des Gegners) so vehement ablehnend äußert, spiegelbildlich von selbst. 40 - Fischer ( 2 1870) begnügt sich nicht mit der einfachen Erklärung, sich an die Norm gehalten zu haben, sondern profiliert sich potenziert durch den ausdrücklichen Hinweis, dass er auf etwas verzichtet habe, was für den zur Debatte stehenden Sachverhalt durchaus relevant sein könnte. Anders als Heine stellt er keine Beziehung zwischen den Mängeln des Stils und den persönlichen Mängeln her, weil es ihm „unrichtig schien, [...] so nah an die Person des Gegners zu gehen". 41 - Dennert (1905) verteidigt sich gegen den Vorwurf, Darwin „persönlich beschimpft" zu haben, mit der Zurückweisung des Vorwurfs, den er mit der zu großen Autoritätsgläubigkeit seiner Kritiker erklärtKerr (1926) gewinnt eine besondere Pointe daraus, dass er Kraus nicht nur vor-

39

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„In der Tat, er ist mehr ein Mann von Steiß als ein Mann von Kopf, der Name Mann überhaupt paßt nicht für ihn, seine Liebe hat einen passiv pythagoreischen Charakter, er ist in seinen Gedichten ein Pathikos, er ist ein Weib, und zwar ein Weib, das sich an gleich Weibischem ergötzt, er ist gleichsam eine männliche Tribade. Diese ängstlich schmiegsame Natur duckt durch alle seine Liebesgedichte [...]" (Heine 1830/1964, V, 304f.). In der nächsten Runde (Gutzkow 1835b/l972,1, 73) versichert er kategorisch: „Ich habe niemals ein Wort über Menzels Privatverhältnisse verloren." Dass das Persönlichwerden bei Gutzkow nicht nur ihn selbst treffe, sondern allgemeine Praxis Gutzkows sei, hatte Menzel schon vorher behauptet: „Seine [Gutzkows] Kritik suchte sich nicht durch eine edle Tendenz, nicht durch eine geschichtliche Uebersicht, überhaupt durch nichts Ernstes, Würdiges und Wissenschaftliches, sondern lediglich durch kleine Witzeleien über Persönlichkeiten geltend zu machen. Anstatt von Schleiermachers Hauptwerken zu schreiben, schrieb er von einer zufälligen Jugendsünde desselben. Anstatt an Schleiermachers Tendenz Anstoß zu nehmen, nahm er an Schleiermachers Höcker Anstoß. Statt von Spindlers Romanen zu reden, spottete er über Spindlers kleine runde Frau. Von dieser Art waren seine edeln Kritiken" (Menzel 1835a/1972,1, 42f.). Die Bekanntheit des vielzitierten Satzes „Le style c'est Phomme" aus dem Discours sur le style des Grafen von Buffon setzt Fischer bei seinen Lesern voraus. Zur Beziehung zwischen Autor und Werk siehe auch Kapitel 3.3.2, Punkt 8, insbesondere Anmerkung 41.

198 wirft, Körpermerkmale hervorgehoben zu haben, sondern ihm mit einem Argument ad hominem auf Meta-Metaebene seine eigenen Worte vorhält und so bei Kraus einen Widerspruch zwischen Sagen und Tun aufdeckt. (D) Auch wenn die Grenze zwischen den akzeptablen und nicht akzeptablen Äußerungen „theoretisch" nicht ganz einheitlich gezogen wird und im konkreten Fall interessenabhängig variiert, ist die Norm in der polemischen Metakommunikation im gesamten Untersuchungszeitraum wirksam. Das Zitat von Broder (1993) enthält zwar - über Heines spielerischen Umgang mit der Norm hinaus wörtlich genommen, eine zynische Zurückweisung der Norm; doch dürfte wie bei Heine ein Schuss Eulenspiegelei mitzudenken sein. Serientäter unter den Polemikern wie Broder können sich, wenn und weil das Publikum gar nichts anderes mehr erwartet, mancherlei Freiheiten erlauben und von einem Mechanismus profitieren, der in der Redensart: „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt's sich gänzlich ungeniert" Ausdruck gefunden hat. Die grundsätzlichere extrakommunikative Problematisierung der Norm, insbesondere der Trennung von Person und Sache (vgl. Kapitel 3.2.2), hat in der polemischen Metakommunikation keine Entsprechung.

5.4.5

Mache keine Äußerungen, die vertraulich erworbene Informationen enthalten

5.4.5.1

Textbeispiele

Lessing 1768-1769/ 3 1894 Wenn ihm erlaubt war, eine Stelle aus meinem Briefe drucken zu lassen: so kann mir nicht anders als vergönnt seyn, eben das mit seinem ganzen Briefe zu thun. Hier ist er, von Wort zu Wort! (X, 417) Lichtenberg 1776/ 3 1994 Nachstehender Brief ward eigentlich von dem Verfasser nicht zum Druck bestimmt, sondern sollte auf der Post dem Manne zugeschickt werden, an den er hauptsächlich gerichtet ist. [...] Da aber der Göbharde, zum großen Nachteil der Schriftsteller sowohl als der ehrlichen Buchhändler, mehr sind, als man glauben sollte, und dieser Brief einige derbe Wahrheiten gerade in dem Ton gesagt enthält, den dieses Gesindel allein versteht, das übrigens als vogelfrei für die Schriftsteller keiner Achtung und Schonung wert ist: so glaubt der Herausgeber weder den Unwillen des Verfassers noch den Undank des Publikums zu verdienen, wenn er ihn auf diese Art nicht an Einen Göbhard, sondern an alle gelangen läßt. (III, 237) V o ß 1782 Ich habe keinen vertraulichen Brief bekant gemacht, sondern aus einem Briefe, wovon Hr. L. nicht wissen kan, ob er vertraulich oder nicht vertraulich sey, Hrn. Heynens Gedanken über die griechische Rechtschreibung und seine Gründe für ä [in der Textvorlage in griechischer Schreibung]. Oder glaubt er, diese sind von solcher Beschaffenheit, daß sie nur einem

199 Busenfreunde unter dem Siegel der strengsten Verschwiegenheit anvertraut werden durften? Und Hr. Heyne solte, als mein ehmaliger Lehrer und guter Freund, ein Recht haben, ohne Gründe mich, wie Hr. L. behauptet, öffentlich lächerlich zu machen; und ich nicht einmal die Freiheit, seine mir vormals genannten Gründe anzuführen, und ernsthaft zu widerlegen? Selbst da nicht, als Hr. H. es auf meine Anfrage nicht verbot, und unter welchem Vorwande auch wol verbieten konnte! (240f.) Campe 1789/1993 Mancher Andere würde in einem Falle, wie dieser, kein Bedenken getragen haben, diese Briefe, ohne weitere Umstände, gleich mit abdrucken zu lassen. Ich aber, der es immer für eine, eines Mannes von Ehre und sittlichen Grundsätzen unwürdige Handlung hielt, und halten werde, Privatbriefe ohne die allergrößte Noth, d.i. ohne daß der Gegenparth in einem rechtlichen Handel, Thatsachen, die zu unserer Rechtfertigung dienen, abzuleugnen wagte, drucken zu lassen, habe geglaubt mit dieser Bekanntmachung so lange warten zu müssen, bis Herr M. selbst mich dazu auffoderte. (33 f.) Wihl, 1839/1964 Es ist mir leid, durch Hrn. Heine in Paris, der sich einen unerhörten Mißbrauch mit ihm anvertrauten Briefgeheimnissen in den neuesten Nummern der „Zeitung für die elegante Welt" erlaubt hat, zu folgender Erklärung aufgefordert zu werden. (X, 334) Liebte ich, wie der Buchhändler sagt, die Zuträgereien, so würde es mir ein leichtes sein, Hrn. Heine Gleiches mit Gleichem zu vergelten ... Doch ich will mich nicht so wie Hr. Heine, durch unerlaubte Mitteilung von Privatansichten, entwürdigen [...]. (X, 335) Schulz in: Rüge 1847/1976 u. Rüge 1847/1976 Wie ich auch gegen Sie geschrieben, ich habe nie Ihren Charakter verdächtigt, ich habe das in den Häusern über Sie und von Ihnen unvollständig Zusammengehörte niemals auf den öffentlichen Markt ausgetragen. Dieses Fehlers machen Sie sich schuldig durch Hinweisung auf einen Vorfall (Epigonen, Bd. III, S.263), den Sie, so viel ich mich erinnere, von mir selbst und meiner Frau erwähnen hörten. (218) Darin übrigens irren Sie sich, daß Ihre Flucht Ihr Familiengeheimniß gewesen, es müßte denn sein, daß ganz Zürich Ihre Familie wäre. (227) Kraus 1908/1962 Es ist mir peinvoll, mich auf das Niveau eines Tatsachenkampfes herunterzulassen und im Wust meiner Papiere nach Beweisen [...] zu suchen [...]. Aber da man solche Wahrheitssucher nur mit Tatsachen abspeisen kann, so ist es geboten, jede einzelne seiner Behauptungen als Lüge zu erweisen. Es wäre mir nicht im Schlafe bei der Lektüre seines Sardanapel-Artikels eingefallen, ihm seine einstige Hochschätzung meines Könnens zum Vorwurf zu machen. Aber weil er mit meinen Jugendsünden großtut und die Mutualität ableugnet, muß ich zu den Dokumenten greifen. (65) Kerr 1911a/1961 u. 191 lb/1961 Indem Ihr Schreiben [an die Schauspielerin Tilla Durieux] hier abgedruckt ist, besteht nicht unbilliges Veröffentlichen eines Privatbriefes. Denn: der Brief ist kein Privatbrief, den der Berliner Polizeipräsident unter Berufung auf sein Zensoramt schreibt. (358) In zwei Sätzen ist der Unterschied ausgedrückt. Ein Privatbrief an eine Dame würde lauten: „Ich will Sie Sonntags 'Λ 5 besuchen". Basta. Nicht mehr Privatbrief ist ein Schrei-

200 ben, das beginnt: „Da ich der Zensor bin, will ich Sie besuchen." [...] Wer noch behauptet, ein Privatbrief sei von mir öffentlich behandelt worden, der ist ein Halunke. (361 f.) Emma 1982 Emma, genauer: Alice Schwarzer und Ingrid Strobl, noch genauer: inzwischen nur noch Alice Schwarzer, werden des „Antisemitismus" und der Betreibung einer „zweiten Endlösung" der Judenfrage und der „Sippenhaft" bezichtigt. Der „Stern" ging sogar soweit, in diesem Zusammenhang Ausrisse aus einem sehr persönlichen Brief von Alice Schwarzer an die ehemalige Emma-Mitarbeiterin Hildegard Recher zu veröffentlichen (s. Faksimile). Da es bei diesen Vorwürfen um etwas sehr Schwerwiegendes geht, sehen wir uns zu einer Klarstellung gezwungen. [...] Im März 82 gibt es einen Briefwechsel zwischen Ingrid Strobl und Hildegard Recher, von dem Alice Schwarzer zunächst gar nichts weiß. Es geht dabei darum, daß Ingrid Strobl entdeckt hat, daß während der Monate, in denen Broder Emma öffentlich weiter diffamiert und Hildegard behauptet hatte, sie hätte sich deswegen von ihm getrennt, sie längst wieder eine Beziehung zu ihm hatte. Ingrid Strobl fühlte sich hintergangen und spricht Hildegard Recher darauf an. Diese antwortet ihr Ende März unter anderem: „Du schreibst, du könntest solange mit mir nicht klarkommen, solange ich mit Broder was zu tun habe. Ingrid, weißt du denn auch, was das heißt? So ein Satz von dir bedeutet für mich, daß ich zu Emma nicht zurück kann, und das ist nun unabhängig davon, ob ich ,mit Broder was zu tun habe' oder nicht. Die Bedingung an sich ist einfach unmöglich." Und nun eskalieren die Dinge sehr rasch. [...]. (50) Nolte 1986/1991 Herr Habermas nimmt auf das Interview mit Saul Friedländer Bezug, das in der ZEIT vom 16. Mai 1986 veröffentlicht worden ist. Hier berichtet Herr Friedländer von Äußerungen des Gastgebers bei einer kleinen Abendgesellschaft, die ihn veranlaßt hätten, die Runde demonstrativ zu verlassen. Herr Habermas hält es nun fur guten Stil, auch noch den letzten Schleier zu heben, der im Interview den privaten Bereich verdeckt hatte, und er nennt den Namen, den meinen. (93)

5.4.5.2

Kommentar

(A) In einer Kontroverse zwischen dem Publizisten Henryk M. Broder und der Zeitschrift Emma, ursprünglich ausgelöst durch einen polemischen Artikel Broders in Die Zeit über antisemitische Tendenzen in der deutschen Linken (Broder 1981), ist die Norm auf Seiten von Emma (1982) mehrfach Bezugspunkt für Vorwürfe an Broder bzw. - im ersten Teil des Textbeispiels - an die Zeitschrift Stern. Andererseits greift Emma in ihrer „Klarstellung", die die Form einer rückblickenden Chronologie der Ereignisse annimmt, selbst intensiv auf persönliche Zeugnisse zurück, z.B. auf einen Brief der ehemaligen Mitarbeiterin Recher an Ingrid Strobl (vgl. den zweiten Teil des Textbeispiels), dessen Inhalt der eine oder die andere auch als privaten Klatsch ansehen könnte. Gedeckt sind diese Informationen nur durch die generelle Eingangsbemerkung, dass sich Emma „zu einer Klarstellung gezwungen" sieht, wofür offenbar alles notwendig ist, was dann in der Chronologie der Ereignisse faktisch aufgeführt wird. Die Veröffentlichung der privaten schriftlichen Zeugnisse könnte man mit der zeittypischen

201 These von der politischen Dimension des Privaten zu erklären versuchen, zumal sich der Streit innerhalb der Emma-Redaktion ja an der Frage der Vereinbarkeit einer privaten Beziehung mit der frauenpolitischen Aufgabe von „Emma" entzündet. Dennoch bleibt ein ungelöster Widerspruch zwischen der nicht metakommunikativ reflektierten eigenen Praxis und dem Vorwurf an andere, private Zeugnisse veröffentlicht zu haben. (B) Die Norm 5.4.5 schränkt wie 5.4.3 und 5.4.4 den Bereich des über den Gegner Bekannten ein, den ich in einer Polemik nutzen kann, ohne Gefahr zu laufen, bei der polemischen Instanz in Misskredit zu geraten. Mit der Veröffentlichung vertraulich gegebener Informationen kann der Polemiker zugleich andere Normen verletzen, z.B. weil die Äußerungen, inhaltlich betrachtet, für die Klärung der Sache irrelevant sind oder weil sie geeignet sind, den Gegner öffentlich zu diskreditieren. Doch beruht die Vorwerfbarkeit der Normabweichung im Falle der Norm 5.4.5 wesentlich auf der Art und Weise, wie der Polemiker Zugang zu den Informationen gewonnen hat. Deshalb wäre die Publikation vertraulich erworbener Informationen, die dem Lobe der Person dienlich sein können, eigentlich genau so vorwerfbar wie die, die sie zu diskreditieren imstande sind. Das untersuchte Material enthält jedoch kein Beispiel für eine so konsequente Anwendung der Norm. 42 Verletzungen der Norm gelten aus nachvollziehbaren Gründen als besonders schwerwiegend: Zum einen macht die Indiskretion, wenn die vertrauliche Information aus Äußerungen stammt, die das polemische Objekt in anderen Zusammenhängen selbst gemacht hat, in besonderer Weise wehrlos, weil die Möglichkeit, sich von den eigenen Worten zu distanzieren oder sie als unwahre Unterstellungen zurückzuweisen, begrenzt ist, wenn die Äußerungen zitiert worden sind oder im Gegenzug zitiert werden können. Zum anderen stellt es einen großen Vertrauensbruch dar, wenn Äußerungen, die arglos in einer nichtöffentlichen Situation gemacht wurden, öffentlich verbreitet werden, zumal wenn die Beteiligten sich zum Äußerungszeitpunkt noch nicht im Streit befanden, möglicherweise sogar freundschaftliche Beziehungen pflegten. Vertraulichkeit ist auch auf der Ebene des kodifizierten Rechts geschützt. Das sogenannte allgemeine Persönlichkeitsrecht, das als „Richterrecht" aus Artikel II des Grundgesetzes entwickelt wurde, verlangt, dass Briefe oder andere private Mitteilungen nur mit Zustimmung des Verfassers veröffentlicht werden dürfen (dazu u.a. Wesel 1995). Auch das Strafrecht enthält einige Bestimmungen zum Schutz der Privatsphäre hinsichtlich des im privaten Raum Gesagten und Geschriebenen (vgl. dazu Haft 1982, 6Iff.): §201 (Verletzung der Vertraulichkeit 42

Dass die Bekanntmachung privat gemachter lobender Äußerungen in der Tat als Missbrauch angesehen werden kann, weil nämlich das Recht, selbst zu bestimmen, was man privat und was man öffentlich gesagt haben will, generell zu gelten hat, zeigt die Bemerkung Böttigers (1795/ 2 1998, 170-172), dass „Wielands lobende Briefe [von seinen Empfängern] oft sehr gemißbraucht worden" sind (170), wenn jene nämlich, das Prestige Wielands nutzend, mit dem Lob öffentlich hausieren gingen.

202 des Wortes), § 202 (Verletzung des Briefgeheimnisses), § 202a (Ausspähen von Daten), § 203 (Verletzung von Privatgeheimnissen). (C) In den Textbeispielen sind alle wesentlichen normbezogenen Äußerungstypen (vgl. Kapitel 4.4.3) realisiert: Vorwürfe an den Gegner (Wihl 1839, Schulz, in: Rüge 1847, „Emma" 1982, Nolte 1982), Inanspruchnahme der Normtreue für das eigene Verhalten (Campe 1789, Wihl 1839, Schulz 1847), Zurückweisung von Vorwürfen (Voß 1782, Rüge 1847, Kerr 191 la u. b), Berufung auf Rechtfertigungsgründe (Lessing 1768-1769, Campe 1789), Bitte um Zubilligung mildernder Umstände (Lichtenberg 1776). Die fraglichen vertraulichen Informationen kann das polemische Subjekt vom Gegner selbst erhalten haben; es kann aber auch eine dritte Person als Mittler auftreten. Als Medium fungiert überwiegend der persönliche Brief, in zweiter Linie das nicht-öffentliche Gespräch. Lessing gibt deutlich zu erkennen, dass er die Veröffentlichung persönlicher Briefe für nicht erlaubt hält, und beruft sich für sein abweichendes Verhalten prophylaktisch auf den Rechtfertigungsgrund „Gleiches darf mit Gleichem vergolten werden" (Kapitel 5.6.2). 43 - Im zweiten Beispiel (Lichtenberg 1776) bittet der Herausgeber um Verständnis für die Veröffentlichung eines Briefes ohne Wissen des Verfassers und führt verschiedene Gründe an, warum er meint", „weder den Unwillen des Verfassers", der wegen der öffentlich gemachten „derben Wahrheiten" in den Verdacht der Normverletzung geraten kann, „noch den Undank des Publikums zu verdienen". Doch ist die Figur des Briefherausgebers eine Erfindung Lichtenbergs, auf die er die Veröffentlichung seiner polemischen Schimpfkanonade gegen den Buchhändler Göbhard abwälzt. - Einige Jahre später muss sich Voß (1782) gegen den Vorwurf Lichtenbergs (1781/ 3 1994, III, 301) wehren, „auf die ungezogenste Weise" einen vertraulichen Brief des Hofrats Heyne bekannt gemacht zu haben. Er tut das etwas widersprüchlich mit einer Kombination von Zurückweisung des Vorwurfs (mit der Behauptung, der Brief sei nicht vertraulich gewesen) und einer Mehrzahl von Rechtfertigungen bzw. Entschuldigungen, die sich eigentlich erübrigen, wenn der Vorwurf zurückgewiesen werden kann. Der Streit zwischen Campe und Moritz 1789 weist kaum metakommunikative Bezüge auf die hier behandelte Norm auf, obwohl die Auseinandersetzung fast ausschließlich auf der Grundlage des vorangegangenen Briefwechsels ausgetragen wird. Moritz thematisiert die Norm gar nicht, Campe nur in der hier zitierten 43

Im folgenden Brief nimmt er sich noch einmal diese Freiheit: „Ich theile auch dieses [Schreiben von Klotz] ganz mit; denn da Hr. Klotz es einmal für gut befunden, unser Publicum in einen Privatbrief gucken zu lassen: so mag diesem Publico nun lieber gar nichts verhalten bleiben, was unter uns vorgefallen" (Lessing , ebd., 421). In einer früheren Schrift (Lessing 1754/ 3 1890, V, 237) bedauert er, auf „freundschaftliche Briefe" zurückgreifen zu müssen, um die Unterstellung des Horazübersetzers Lange, Lessing habe sich seine Kritik an Lange für Geld abkaufen lassen wollen, abwehren zu können. Auch in diesem Fall hätte er sein Verhalten rechtfertigen können. Doch wählt er mit der Formulierung „Es thut mir leid" eine konventionalisierte sprachliche Form für Entschuldigungen.

203 Textstelle. Er beruft sich zur Rechtfertigung der Veröffentlichung einiger der Briefe auf die Aufforderung seines Gegners und nennt im übrigen als möglichen Rechtfertigungsgrund die Situation „allergrößter Not" in Rechtsstreitigkeiten. Die fast gänzliche Abwesenheit metakommunikativer Bezüge auf die Norm 5.4.5 in diesem Streit erklärt sich daraus, dass sich die Polemik über das beiderseitige Verhalten nach einem zwischen ihnen geschlossenen Verlagsvertrag gar nicht anders als auf der Basis des nicht-öffentlichen Briefwechsels fuhren ließ, in dem sich ihre Beziehung realisierte und erschöpfte. Die entscheidende Frage war in diesem Fall also, ob es gerechtfertigt werden kann, einen „persönlichen" Konflikt zwischen Autor und Verleger zum Gegenstand einer öffentlichen Kontroverse zu machen, und diese Frage wurde von beiden Kontrahenten ausgiebig metakommunikativ bearbeitet. Der Bezug auf die persönlich adressierten Briefe, die man als Geschäftsbriefe ansehen kann, ergab sich hingegen, dem Leser erkennbar, als eine notwendige Konsequenz. 44 Wihl (1839) wirft Heine im ersten Zitat eine Verletzung der Norm vor und stellt sich selbst im zweiten als jemand dar, der auf solche Mittel sogar dann verzichtet, wenn er sie nach dem Wiedervergeltungsrecht (vgl. Kapitel 5.6.2) nutzen dürfte. Im Konflikt zwischen Wihl und Heine nimmt der Verleger Campe, der erwähnte Buchhändler, eine Mittlerstelle ein. Heines Indiskretionen über Wihl (Heine 1839a) stammen aus Briefen Wihls an Campe, der seinerseits Heine davon berichtet hatte. Heine verletzte das Gebot der Vertraulichkeit gegenüber Wihl nur indirekt, direkt gegenüber Campe. Gleichwohl ist es Heine, dem Wihl „die unerlaubte Mittheilung von Privatansichten" vorwirft, im Sinne der Norm korrekt, weil Heine die Privatansichten öffentlich gemacht hat. - Im Streit zwischen Arnold Rüge und Wilhelm Schulz (1847) stammen die fraglichen Informationen nicht aus Briefen, sondern aus persönlichen Gesprächen. Schulz wirft Rüge eine Verletzung der Norm vor, einen „Fehler", den er sich selbst nie hat zu Schulden kommen lassen. Rüge weist den Vorwurf in der zweiten Textstelle zurück, indem er die Vertraulichkeit des öffentlich von ihm Gesagten bezweifelt, da es ganz Zürich schon bekannt gewesen sei. Zwischen Karl Kraus (1908) und Maximilian Harden war nicht zuletzt die Frage strittig, was die beiden Kritiker zu früheren Zeiten als Kritiker voneinander gehalten haben und wer, wann und warum seine Einschätzung später verändert 44

Ein paralleler Fall aus der Gegenwart ist der öffentliche Streit zwischen dem Verleger Unseld (1989a u. b) und dem Herausgeber der Benjamin-Ausgabe, Tiedemann (1989), in dem, ausgetragen vor allem in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, ausgiebig auf frühere Briefe Bezug genommen wird, ohne dass dieser Sachverhalt metakommunikativ Erwähnung fände. Wieder ist es so, dass sich die Frage der möglichen Benachteiligung der Erben Benjamins, als deren Sachwalter Tiedemann gegen Unseld auftritt, nicht ohne Bezug auf Briefe des Verlegers an Benjamin, an dessen Erben, an den Herausgeber usw. klären ließe, so dass, wer die öffentliche Relevanz des Streites akzeptiert, die Veröffentlichung der Briefe schlecht missbilligen kann. Diese Sachlage ist dem Leser auch hinreichend einsichtig, so dass die Beteiligten sich nicht ausdrücklich um eine Rechtfertigung („Ich bin gezwungen") oder eine Zurückweisung des Vorwurfs („Es handelt sich eigentlich gar nicht um Privatbriefe") bemühen müssen.

204 hat - eine Frage, die mangels öffentlicher Zeugnisse wieder nur durch Rückgriff auf den persönlichen Briefwechsel geklärt werden konnte. So rechtfertigt Kraus an anderer Stelle den Teilabdruck von knapp 30 Briefen Hardens mit dem Argument, wider Willen Harden auf einem Wege folgen zu müssen, den dieser zuerst beschritten habe. Ähnlich wie im Streit zwischen Campe und Moritz hängt die Beurteilung des Streits davon ab, ob der Leser der Klärung der strittigen Frage ein öffentliches Interesse zubilligt oder auf Verletzung der Norm 5.2.1 (Nichtigkeiten) plädiert. Beide Kontrahenten setzen die öffentliche Relevanz der zwischen ihnen strittigen Frage im Gegensatz zu Campe und Moritz (s.o.) ohne große metakommunikativen Umstände voraus. In der Polemik zwischen Kerr und Kraus (1911) drei Jahre später war die Veröffentlichung eines Briefes des Berliner Polizeipräsidenten von Jagow an die Schauspielerin Tilla Durieux durch Kerr in der Zeitschrift Pan unmittelbarer Ausgangspunkt einer Kontroverse, in der die Norm 5.4.5 thematisiert wird. Kerr (1911a) weist den Vorwurf, das Vertraulichkeitsgebot verletzt zu haben, im ersten Zitat mit dem Argument zurück, der Brief sei kein Privatbrief gewesen, und schiebt in der nächsten Nummer der Zeitschrift (1911b) eine Erläuterung nach. 45 Das Argument Kerrs, der Brief des Berliner Polizeipräsidenten sei kein Privatbrief, weil er „unter Berufung auf sein Zensoramt" geschrieben worden sei, lässt es ratsam erscheinen, die eingangs gemachte Feststellung, bei dieser Norm sei entscheidend, auf welche Weise der Polemiker Zugang zu den Informationen gewonnen hat, die er öffentlich macht, etwas zu modifizieren. Um zu entscheiden, ob etwas ein Privatbrief ist, reicht die Form des persönlich adressierten Briefes offenbar nicht immer aus. Kerr argumentiert in der Frage, ob es sich um vertraulich gegebene Informationen handelt, auch mit der Beziehung, die zwischen den Beteiligten besteht bzw. mit den sozialen Rollen, in denen sie agieren. Und diese können Gegenstand kontroverser Interpretationen werden. Hier betreffen sie die Frage, ob v. Jagow den Brief als Zensor oder in einer anderen Rolle geschrieben hat. In der Auseinandersetzung zwischen Lichtenberg und Voss (1782) spielte analog eine Rolle, ob persönliche Briefe, in denen sich die Briefpartner als Wissenschaftler über fachliche Gegenstände austauschen, als Privatbriefe anzusehen sind.46 Zumindest in der Verteidigung gegen antizipierte oder faktisch erhobene Vorwürfe gibt es offenbar eine weiche Auslegung der Norm, die sich nicht allein an der Art des Zugangs orientiert, sondern sich über die

45

46

Diese wird von Karl Kraus (191 la/1962, 114) ironisch aufgenommen: „Herr Kerr nennt jetzt jeden, der ,noch behauptet, er habe einen Privatbrief öffentlich behandelt', und jeden, der ,noch behauptet, er habe unbefugt eine völlig beigelegte Sache der Öffentlichkeit übergeben', ,einen Halunken', und der ,Pan' setzt seine Bemühungen, sich interessant zu machen, fort." Von Interesse in diesem Zusammenhang ist auch die Begründung des Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung Venedy (1848), der den persönlich zugeschickten Brief einer Gruppe von Bürgern mitsamt seiner Antwort im Frankfurter Journal veröffentlicht, weil „das Verhältniß zwischen dem Vertreter des Volkes und seinen Vollmachtgebern [...] ein öffentliches" sei.

205 Überprüfung der sozialen Beziehung oder auch der Art der Inhalte Spielräume verschafft, vertraulich erworbene Informationen als nicht vertrauliche zu behandeln. - Im letzten Beispiel, dem Vorwurf Noltes (1991) an Habermas, könnte man schon das Verhalten Friedländers, der in einem Zeitungsinterview von einer „kleinen Abendgesellschaft" berichtet hatte, als Normverletzung ansehen. Doch blieb in seiner Darstellung die Person, die Anstoß erregt hatte, anonym. Die Kritik Noltes trifft erst Habermas, der nachträglich auch noch den Namen nennt. (D) Die Norm ist über den gesamten Untersuchungszeitraum hin in der polemischen Metakommunikation fest etabliert. Es sei aber nicht verschwiegen, dass es einige Streitfalle gibt, in denen vertrauliche Informationen eine große Rolle spielen, ohne dass die Norm angesprochen wird. Wenn man aus den metakommunikativen Thematisierungen Rückschlüsse auf die Existenz von kommunikativen Normen zieht, muss man natürlich auch die Abwesenheit solcher Thematisierungen als Indiz dafür ernst nehmen, dass die „schuldigen" Schreiber kein Unrechtbewusstsein haben bzw. keine Befürchtungen hegen, beim Publikum negative Reaktionen zu provozieren. So greift Voß im Streit mit dem Grafen Stolberg (Voß 1819, 1820) ausgiebig auf privat erhaltene Informationen zurück, ohne die Norm auch nur ein einziges Mal zu thematisieren. Stolberg (1820, 3) hat allen Grund, Voß die Verletzung des Briefgeheimnisses vorzuwerfen, und beschreibt ihn als jemanden, „der nach vielen Jahren Worte, die der unbefangene Freund gegen ihn äußerte, diesem oder einem dritten wehe zu thun, dem Publicum mittheilt". Der Vorwurf ist so voraussagbar, dass man nach sonstiger polemischer Praxis erwartet hätte, dass Voß das Problem schon in seiner Schrift Wie ward Friz Stolberg ein Unfreier? (Voß 1819) antizipatorisch angesprochen hätte. Doch nichts dergleichen. Voß berichtet augenscheinlich ohne jedes Unrechtsbewusstsein, was ihm Dritte, unter ihnen Katharina, die Schwester des Grafen, vor Jahren gesprächsweise anvertraut hatten, darunter Dinge, die die Schwester ihrerseits nur „im Vorbeigehn an der Laube gehört" hat. Ein anderes Beispiel ist Arno Holz. Dieser zitiert in einer Schrift gegen Schlaf (Holz 2 1909) ausfuhrlich aus persönlichen Briefen und Gesprächen, um mit einem Argument ad hominem zu beweisen, dass Schlaf sich zu den beiderseitigen Anteilen an der Schaffung des neuen Dramas früher anders geäußert habe als nach ihrem Zerwürfnis. Vom Anwalt Schlafs der Veröffentlichung „vertrauliche(r), Ihnen brieflich gemachte(r) Mittheilungen beschuldigt" (7) und aufgefordert, sämtliche Briefschaften postwendend zurückzugeben, weigert sich Holz, der Bitte Folge zu leisten. Zu einem wesentlich späteren Zeitpunkt begründet er die Ablehnung der Rückgabe mit der schuldmindernden Feststellung: „Ich wäre gegen Schlafs nachträgliche Behauptungen - abgesehen natürlich davon, daß sie eben immer weiter nichts als bloße Behauptungen geblieben wären - vollständig machtlos gewesen, wenn ich nicht durch Zufall jene Briefe gehabt hätte" (36). Schon vorher hatte er sich bei der Veröffentlichung dreier weiterer Briefe auf Notwehr berufen: „Diese drei Stadien werden am besten verdeutlicht durch die drei nachstehenden Briefe, zu deren Veröffentlichung ich zu meinem größten Bedauern gezwungen bin aus

206 Notwehr" (10). D a s Bedauern bezieht sich allerdings weniger (oder gar nicht?) auf die Veröffentlichung vertraulich erworbener Informationen, sondern auf ihren sachlichen Inhalt, zu dem die Geisteskrankheit Schlafs gehört. Immerhin wird in diesem Text das Problem wenigstens Thema, während Holz in seiner Auseinandersetzung mit Paul Ernst (im gleichen B u c h , 2 1 9 0 9 , 6 6 - 9 4 ) ebenfalls ausgiebig aus gemeinsamen Tischgesprächen in der Vergangenheit erzählt, darunter auch v o n den Eindrücken, die Frau Holz von ihrem Gast Paul Ernst hatte, ohne metakommunikativ eine einzige Bemerkung dazu zu machen.

5.4.6

Verletze nicht die N o r m e n korrekten Argumentierens

5.4.6.1

Textbeispiele

Marpurg 1 7 4 9 - 1 7 5 0 Nachdem er seinen Bogen nicht mit Einwürfen wider die Sachen vollfullen können: so packet er die Wörter an, und machet mir einen grammaticalischen Process. (62) Lessing 1 7 7 8 d / 3 1 8 9 7 Ich unterstehe mich nicht, zu sagen, was ich nicht erweisen kann; und Sie - Sie tun alle sieben Tage, was Sie nur einen Tag in der Woche tun sollten. Sie schwatzen, verleumden und poltern; für Beweis und Eviktion mag die Kanzel sorgen. [...] Ist es von einem rechtschaffenen Gelehrten - ich will nicht sagen von einem Theologen - begreiflich, daß er unter einem solchen Titel widerlegte Beschuldigungen nochmals in die Welt schickt, ohne auf ihre Widerlegung die geringste Rücksicht zu nehmen? (202) Krug 1822 Denn auch von aller andern Konsequenzmacherei, die sich der Verf. hier zu Schulden kommen läßt, abgesehen, so begreift ja ein Kind, daß mehre Personen in ihren Ansichten und Meinungen zusammenstimmen können, ohne daß sie auch nur in der geringsten persönlichen Verbindung mit einander stehn. Vielweniger läßt sich daraus eine förmliche Verschwörung erschließen. (10) Sanders 1853 Als ich das erste Heft meiner kritischen Beleuchtung des Grimm'sehen Wörterbuchs schrieb, hatte ich mir durchaus nicht verhehlt, wie meine Arbeit von allen auktoritätsgläubigen Philistern würde aufgenommen werden. Die päpstliche Unfehlbarkeit der Meister, auf deren Worte zu schwören sie einmal gewohnt sind, in Zweifel ziehen, das mußte ihnen als eine unerhörte Verwegenheit, als gräuliche Ketzerei erscheinen. (3f.) Holz 1900 Seine Behauptungen hängen in der Luft, seine Angaben sind nicht zuverlässig und seine Ausführungen widersprechen sich. Der Grund hiervon ist ein zweifacher: ein entschuldbarer und ein unentschuldbarer. Der entschuldbare ist Herrn Meyers Intellekt, der der Aufgabe, die Herr Meyer sich gestellt hatte, nicht gewachsen war, und der unentschuldbare seine Parteilichkeit. (7)

207 Dennert 1903 Als drittes Beispiel für Haeckels Art und Weise der Beweisführung, wenn man von einer solchen überhaupt hier noch reden kann, sei angeführt, daß er (S. 97) es als sichere historische Tatsache" hinstellt, „daß der Mensch zunächst vom Affen abstammt, weiterhin von einer langen Reihe niederer Wirbeltiere." [...] Auch in den übrigen Teilen finden sich mancherlei naturwissenschaftliche Behauptungen, die als Tatsachen ausgegeben werden, ohne es zu sein. (57f.) Reich-Ranicki 1964a/1993 Nicht einmal den Schimmer eines Beweises hat Emrich für diese Behauptung zu bieten. (103) Kalverkämper 1979b Verständigung und Ausgleich, also die erhoffte Irenik, lassen sich allerdings nur dann herbeiführen, wenn der polemisch Replizierende Grundbedingungen wissenschaftlichen Diskurses einhält. [...] Gemessen an diesen legitimen Erwartungen wissenschaftlicher Auseinandersetzung über kontrovers beurteilte sprachliche Phänomene hätte eine Replik auf meinen Artikel [...] bestimmte Konstanten des Argumentationsverlaufs bieten müssen. (103 f.) Biermann 1991 Die einen werfen mir vor, daß ich unzulässig verallgemeinere, pauschalisiere, generalisiere, über einen Kamm schere und so weiter und so fort. [...] Jeder Plattkopf wettert gegen das Denken in Schablonen. Sancta simplicitas!, zu deutsch: Unheiliger Bimbamm! Der Mensch muß ja, leider!, in Schubladen denken, sonst könnte er nämlich überhaupt und gar nicht denken. Wir müssen alle erst mal die Phänomene in grobe Gruppen einteilen. [...] Darf ich etwa nicht sagen: Die Engländer? Die Japaner? Die Schwäbische Dichterschule? Die Friedensbewegung? Die Skinheads? Darf ich nicht sagen: Die Neonazis? Die Schweinehunde der Stasi? (74) Bastian 1993 Nicht, daß sie diese These vorträgt, sondern wie sie es tut, weckt meine Kritik: Hypothesen werden als gesicherte Tatsachen geschildert, Vermutungen als Fakten [...].

5.4.6.2

Kommentar

(A/B) Im letzten Teilkapitel der „Normen betreffend die Herstellung des polemischen Textes" gebe ich der Vollständigkeit halber einige Beispiele fur Äußerungen, in denen Erfordernisse korrekter Beweisführung eingeklagt bzw. A b w e i chungen von ihr vorgeworfen werden. Wie in Kapitel 5.4.2 bezeichnet die Titelformulierung nicht eine, sondern eine Gruppe von Normen. Zwar werden die Normen des Argumentierens gelegentlich auch global eingeklagt (Kalverkämper 1979), meistens bewegen sich die metakomunikativen Bezüge aber auf niedrigeren Abstraktionsstufen, auf denen sich die zahlreichen Sammlungen von Fehlschlüssen, Kunstgriffen, Kniffen, Tricks von Aristoteles bis in die Gegenwart

208 befinden. Sie werden in diesem Kapitel im einzelnen nicht dokumentiert und besprochen. Zum einen lässt sich das Spektrum der Kunstgriffe nicht in zehn Textbeispielen repräsentieren und andererseits würde eine umfassendere Dokumentation doch nur die bekannten Kataloge (z.B. in Schopenhauer um 1830/ 1985, Erdmann 1924/ 8 1973, Naess 1975, Lange 8 1981 u.a.) reproduzieren. Geordnete Listen von in Standards zusammengefassten Strategien (un)integren Argumentierens findet man mehrfach auch in den Veröffentlichungen des Projekts Groeben u.a. (1990-1992; z.b. Bd. III, 48-53 mit 80 Einträgen). (C) In den ausgewählten Beispieltexten wird die Norm fast ausschließlich in Vorwürfen an den Gegner angesprochen. Nur Biermann (1991) verteidigt sich gegen den Vorwurf der unzulässigen Verallgemeinerung, indem er die Möglichkeit, sich normgerecht zu verhalten und damit auch die Norm selbst in Zweifel zieht. Diese Verteilung spiegelt aber nicht die wahren Verhältnisse. Den Vorwürfen entsprechen im Textkorpus ebenso häufige Verteidigungen. Unprovozierte Inanspruchnahmen der Norm(en) in Erklärungen über das zukünftige bzw. vergangene eigene Verhalten sowie auch Verteidigungen gegen antizipierte Vorwürfe sind dagegen wirklich selten. Bei Lessing (1778d) verstärkt die positive Selbstdarstellung in diesem Punkt den Kontrast zum Verhalten des Gegners. Häufiger thematisiert ist in den Texten ein relativ überschaubarer Kernbestand an Normen. Spitzenreiter in den Textbeispielen, die in dieser Hinsicht das Untersuchungsmaterial korrekt repräsentieren, ist der Vorwurf der nicht oder schlecht bewiesenen Behauptung. 47 Zu den kritisierten Verfahren in der Beweisführung im Einzelnen gehören: -

bloße Wortkritik (Marpurg 1749-1750) Behauptungen ohne Beweis (Reich-Ranicki 1964) als Tatsachen ausgeben, was erst zu beweisen wäre (Dennert 1903) Autoritätenbeweis (Sanders 1853) Berufung auf bloße Vermutungen und Eindrücke (Bastian 1993). Konsequenzenmacherei (Krug 1822) widersprüchliches Argumentieren (Holz 1900) unzulässige Verallgemeinerung (Biermann 1991) Wiederholung widerlegter Behauptungen (Lessing 1778d).

47

Er beruht auf einer Norm, die Eemeren u.a. (1995, 33), wie folgt, formulieren: „Wer einen Standpunkt vorbringt, ist verpflichtet, ihn auf Verlangen zu verteidigen (d.h., die Beweislast für den Standpunkt zu tragen)." Zu diskutieren wäre, ob sich die Beweispflicht auch bei schriftlichen Texten generell erst „auf Verlangen" ergibt.

209

5.5

Normen betreffend die sprachliche Realisierung des Textes

5.5.0

Einleitung

Ausgehend von Stenzeis Bestimmung der Polemik als unsachlichen Stils gewinnt die sprachliche Gestaltung der Texte besondere Bedeutung, und tatsächlich enthält die polemische Metakommunikation zahlreiche Beispiele für die Thematisierung der Sprache der Polemik vor der Folie eines zu fordernden für die öffentliche Auseinandersetzung angemessenen Stils. Die sprachlich nicht angemessene Unsachlichkeit nimmt jedoch unterschiedliche Formen an. Deutlich tritt hervor, dass einerseits der Schimpfstil (Kapitel 5.5.1) und andererseits die Verwendung literarisch-rhetorischer Sprachmittel (Kapitel 5.5.2) negativ beurteilt werden. Daneben gibt es einige stilistische Sünden (bzw. an der Sprache sich manifestierende Sünden in der Einstellung der Schreiber), deren Status als Normverletzung weniger klar zu Tage tritt. Zu ihnen gehören vor allem die sprachlichen Merkmale zweier komplementärer Haltungen, die gemeinsam in Kapitel 5.5.3 behandelt werden: die Sprache der Überheblichkeit und die Sprache der Höflichkeit.

5.5.1

Verzichte auf Elemente des Schimpfstils

5.5.1.1

Textbeispiele

Marpurg 1749-1750 [...] was hat Sie bewogen [...] Ihre Stärcke in einer gewissen Sprache, die sonsten die Creaturen bey den Plumpen und am Fischmarckte nur zu sprechen pflegen, zu verrathen? (26)

Voß 1782 Dies sind die Gründe, wodurch sich Hr. Lichtenberg zu einem so heftigen Angrif, nicht blos auf mein ä, sondern auf mich selbst und meine Freunde, berechtigt hielt, daß ihm die stärksten und gröbsten Ausdrücke noch immer viel zu fein und gelinde, ja selbst sein Pritschen- und Peitschenklang auf unsern ungezogenen Rücken, in Vergleich mit unsrer verdienten Strafe, ein sanfter attischer Wiz, durch Kenntniß der Sitten und Sprache der feinen Welt gemildert, schien. [...] Seine Genugthuung besteht darin, daß er mit den kräftigsten Schimpfwörtern beweist, die Sache sei so nichtswürdig, daß sie ein vernünftiger, geschmackvoller und höherer Wissenschaften beflissener Mann, wie Er, nicht ernstlich untersuchen dürfe. (248)

Krug 1822 Wie aber der Verf., der sich doch selbst zu den Gelehrten rechnet, seiner eignen Würde so sehr hat vergessen können, daß er dergleichen zum Theil ganz pöbelhafte Ausdrücke, die schon in keiner gebildeten Gesellschaft geduldet werden, in einer Schrift brauchen konnte, welche Kaisern und Königen und andern souveränen Fürsten ausdrücklich gewidmet ist, wo sie also die Majestät selbst herabwürdigen und beleidigen - das ist uns völlig unbegreiflich. (7)

210 Heine 1830/1964 [...] der arme Graf konnte nur einige Äußerlichkeiten des Aristophanes nachahmen, nämlich die feinen Verse und die groben Worte. Ich sage: grobe Worte, weil ich keinen grobem Ausdruck brauchen will. Wie ein keifendes Weib gießt er ganze Blumentöpfe von Schimpfreden auf die Häupter der deutschen Dichter. (V, 313)

Schopenhauer ca. 1855/1985 Ich habe mich aller Kraftausdrücke zur würdigen Qualifikation unsrer Sprachverbesserer enthalten; besonders die Zoologie nicht in Kontribution gesetzt: bitte daher den beistimmenden Leser diese Lücke auszufüllen. (4, II, 36f.)

Wagner, in: Vogt 1855/1971 u. Vogt 1855/1971 Da man leider eine Begegnung mit derselben [d. i. der Lüge und der Frivolität] nicht ganz vermeiden kann, und die Meute solcher Gesellen, denen eine Menge Blätter als Tummelplatz dienen, nicht gering ist, wenn sie auch öfters aus Furcht äußerlich zahm erscheinen, so ist man doch zuweilen genötigt, zu Peitschenhieben zu greifen, um sich reine Bahn zu verschaffen. Man darf es nicht immer hingehen lassen, wenn dies frivole Gesindel die Nation um die teuersten von unseren Vätern ererbten Güter betrügen will und schamlos aus dem gärenden Inhalte seiner Eingeweide den stinkenden Atem dem Volke entgegenbläst und diesem weismachen will, es sei eitel Wohlgeruch. (564) Man möge sich hieraus den Ton erklären, in welchem die vorstehenden Blätter geschrieben sind. Ich habe bis jetzt noch immer dem Grundsatz gehuldigt: „Auf groben Klotz ein grober Keil, / Auf einen Schelmen anderthalbe!" (565)

Bartsch 1864 Es ist zwar keine erfreuliche Sache, sich mit einem Menschen einzulassen, dessen Hauptstärke in der Anwendung von Schimpfwörtern besteht, aus dessen Arbeiten sich eine ganz artige Sammlung solcher Wörter zum Beweise gewinnen ließe, daß es ihm an der weitläufigsten Bildung fehlt. (56)

Holz 1900 Sie hüteten sich, auf diesen Beweis einzugehn, und verlegten sich dafür auf die Politik der Fischfrauen in den Markthallen. Das heisst, Sie pöbelten mich an! Wäre der Sieg durch Schreien zu erringen gewesen, durch Schreien, Unverschämtheit und hysterisches Geschimpfe, Sie hätten ihn. Sie hätten ihn, und es würde mir nicht einfallen, Ihnen Ihren Strohkranz streitig zu machen. Die Gegend, um die es sich hier handelt, ist aber nicht der Kehlkopf, sondern die, wo bei andern Leuten als bei Ihnen, Sie verzeihen das harte Wort, der Verstand sitzt. (62)

Stapel 1930a Wir würden den erstaunlichen Doktor Hoofe verklagen, aber er ist ein vorsichtiger Schimpfer. Er spuckt aus dem sicheren Versteck des § 193 Str.GB. gegen uns. Wollen wir ihn fassen, so duckt er sich - wie uns unser Rechtsbeistand versichert: mit Erfolg - hinter den „Schutz berechtigter Interessen". Denn seine „Interessen" schützt er zweifellos. So bleibt uns nichts, als diesen Schimpferich, der, gedeckt vom Paragraphenzaun, Vorsichtigkeit und Dreistigkeit vereinigt, auf diese Weise hervorzuziehen und zu demonstrieren. (167 f.)

211 Moritz 1992 Entstanden ist vielmehr eine haltlose Tirade, die sich kaum auf Differenzierungen einläßt. Ohne daß Kollegen oder Lektoren Einhalt geboten hätten, steigert sich Zimmermann in einen verbalen Rausch, den das Adjektiv „polemisch" nicht trifft. Auf dieser Ebene läßt sich von Heiner Müller als „preisgekröntem Terroristen", der die „Gewalt so gern verherrlicht", von seinem Stück „Germania Tod in Berlin" als „ideologischem Schmarren", von Emst Jüngers „andauerndem Faschismus", vom „Mist, den Stephan Hermlin verzapfte" und - man reibt sich die Augen - von den „Stasi-Fängern des Dreckschweins Markus W o l f reden.

5.5.1.2

Kommentar

(A) Die Verteidigung gegen Herrn Prof. Lichtenberg von Johann Heinrich Voß (1782) ist das siebte Dokument eines Streites über die richtige Aussprache des griechischen „Schöpsenlautes" (ä), der 1780 mit einem kleinen Aufsatz von Voß über Homer und einer anonymen Rezension des Altphilologen Christian Gottlob Heyne begonnen hatte, in dem aber in der Zwischenzeit Heynes Göttinger Kollege Lichtenberg die Rolle des Gegners übernommen hatte. Gegen dessen Polemik Über die Pronunciation der Schöpse [...] (Lichtenberg 1781) ist Voß' Verteidigung gerichtet. Anschließend folgt eine weitere Runde: Über Hrn. Vossens Vertheidigung gegen mich (Lichtenberg 1782) und Eine Ehrenrettung gegen den Herrn Professor Lichtenberg (Voß 1783). Wie so oft tritt in den fortgeschrittenen Stadien der Polemik die Auseinandersetzung über die strittige Sache hinter der metakommunikativen Thematisierung des gegnerischen Streitverhaltens zurück. Kernstück der Verteidigung von Voß ist die These, dass es Lichtenberg nicht darum gegangen sei, Voß seinen „Irrthum wegen des Schöpsenlautes zu benemen", sondern alle seine Ansprüche auf „Verstand, Fleiß, Gefühl, Rechtschaffenheit, gute Sitten, bürgerliches Glück, edle Freunde, ja fast auf Menschlichkeit selbst, mit Einem Streiche zu vernichten" (216). Dieser Opposition auf der intentionalen Ebene entspricht auf Handlungsund Textebene, wie Voß mit großer Ausführlichkeit zu belegen versucht, der Ersatz von Gründen (für die andersartige Beurteilung der Sache) durch Beschimpfung (der Person). Den behaupteten Schimpfstil Lichtenbergs illustriert Voß gleich zu Beginn seiner Streitschrift mit einer dreiseitigen Auflistung negativ charakterisierender Ausdrücke, mit denen Lichtenberg Voß bedacht hatte. Auf den letzten Seiten resümiert er seine Einschätzung der Schrift Lichtenbergs u.a. mit dem oben zitierten Textbeispiel, kulminierend in dem Satz „Allein dieser Mann ist offenbar über die Linie hinausgegangen, die den Pöbel vom Mann von Erziehung unterscheidet" (249). Diesen Satz borgt er sich allerdings von Lichtenberg, der ihn gegenüber einem Dritten verwendet hatte und nun von Voß als Bumerang zurückbekommt. (B) Man könnte fragen, ob sich die Vorwerfbarkeit des Gebrauchs von Schimpfwörtern nicht schlüssig schon aus anderen Normen ergibt und sich somit die spezifisch auf die sprachliche Realisierung hin gefasste Norm erübrigt. Schimpf-

212 Wörter lassen sich ja kaum mit dem Gebot vereinbaren, die Person nicht zu diskreditieren (Kapitel 5.3.2, 5.4.4). Auch können sie als sekundärer Ausdruck mangelnder Besonnenheit im Sinne der Norm 5.4.1 betrachtet werden. Trotzdem lässt sich die Vorwerfbarkeit der Schimpfwörter nicht auf Verletzungen dieser anderen Normen reduzieren. Die negative Bewertung der Schimpfwörter, die sich, verbunden mit einer sozialen Kategorisierung, in den Dimensionen gesittet/ungesittet, gebildet/ungebildet bewegt, beruht nicht vollständig auf der Dysfunktionalität der Schimpfwörter für die argumentative Wahrheitsfindung und auch nicht auf der ethisch begründeten Abwehr persönlicher Diskriminierung. Es ist der sozial indizierte, auf schlechter Kinderstube beruhende sprachliche Sachverhalt selbst, der kritisiert wird. Jenseits der metakommunikativen Vorwerfbarkeit schaffen Verletzungen der Norm (angesprochen z.B. im Textbeispiel Stapel 1930a) potentiell allerdings auch Straftatbestände im Sinne der Äußerungsdelikte Beleidigung, Verleumdung, Üble Nachrede. (C) Auf die große Rolle, die der Vorwurf, eine ungesittete Sprache zu verwenden, im metakommunikativen Streit spielt, hat schon Oesterle (1986) anschaulich hingewiesen, der für die Abwehr des Polemischen als pöbelhafte Ausdrucksform eine ganze Reihe von Beispielen aus den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts nennt. 48 Kurz bevor der von Oesterle unter anderem zitierte Bahrdt (1790/1963,1, 85-87) seinen Gegner Zimmermann rhetorisch fragt, ob man ihn „bei solchen Ergießungen Ihres Kopfes und Herzens, nicht statt einen Mann von Stande, einen Botsknecht, statt einen Gelehrten, einen Bauernlümmel, statt einen Ritter, einen Troßbuben nennen muß?", und damit den „Herrn Ritter" selbst beschimpft, hatte er als Beispiel für dessen Ergießungen auf achtzehn Zeilen Schimpfwörter aus Zimmermanns Schrift aufgelistet. Und damit steht er, wie man schon bei Voß (1782) nachlesen kann, nicht allein. Die Schreiber begnügen sich oft nicht damit, dem Gegner vorzuwerfen, er schimpfe, sondern führen dem Publikum die

„Formen des Streitens, die die Lust am Polemisieren verraten, werden in klassenspezifischem Interesse nach oben, zur nichtbürgerlichen höfischen Gesellschaft, und mehr noch nach unten, zum ,Pöbel', ausgegrenzt. Fortan wird eine der schärfsten polemischen Waffen die Austreibung des Gegners aus der ,besseren Gesellschaft' sein. Lessing rügt an Goeze, daß er ,mit dem Pöbel die Sprache des Pöbels' spreche, Bahrdt wirft Zimmermann vor, sich nicht wie ein Gelehrter, ein ,Mann vom Stande', ein ,Ritter' zu benehmen, sondern wie ein ,Botsknecht', ein .Bauemlümmel' ein ,Troßbube'. Schon der Titel .Literarischer Sansculottismus' von Goethe verrät diese polemische Argumentationsrichtung. August Wilhelm Schlegel denunziert Kotzebue im gleichen Sinne als Sansculotten, der den .niederen Haufen mit Zoten und Pasquillen zu erkaufen' suche. Wie so häufig, wird schließlich Friedrich Schlegel diese Diatriben zu übertrumpfen versuchen, indem er Schlossers polemische Schrift eine ,nicht bloß plebejische, sondern wahrhaft proletarische Schandschrift' nennt" (109). Auch Nicolai polemisiert, so Berghahn (1986, 196), „wiederholt gegen den .pöbelhaften Ton' der Xenien, der ,eine so neue wie traurige Erscheinung in der deutschen Literatur' sei, die Anstand, Urbanität und Geschmack vermissen lasse".

213 Schimpfwörter anschaulich vor.49 Da die Schimpfwörter in solchen Kompilationen aus dem jeweiligen Kontext, in dem sie nicht selten Reste einer argumentativen Funktion haben, herausgelöst sind und der zusammengestellte Katalog, gewonnen aus Texten von 30, 40 oder 100 Seiten Länge, das Schimpfwortvokabular ungemein verdichtet, suggeriert die polemische Replik oft einen durchgehenden Schimpfstil, den der Bezugstext in dieser Intensität gar nicht aufweist. Die eigenen Textbeispiele in 5.5.1.1, die fast durchgängig vorwerfend sind, zeigen, dass die Abwehr der Schimpfwörter und anderer salopp-umgangssprachlicher Sprachmittel samt ihrer sozialen Indizierung auch im 19. und 20. Jahrhundert die Regel bleibt. So scheint die Verknüpfung der substandardsprachlichen Mittel mit sozialen Klassen oder Milieus, dem Fischmarkt (Marpurg 1749-1750, Holz 1900), der Kutscherwelt und ihren Peitschenhieben (Voß 1782, Vogt 1855), nicht, wie Oesterles Aufsatz (1986) nahelegt, auf das Zeitalter der Aufklärung beschränkt. Nur ersetzt heute der Stammtisch den Pöbel und die kaum mehr möglichen Berufsbezeichnungen, von den keifenden Weibern zu schweigen.50 (D) Obwohl die Norm im gesamten Untersuchungszeitraum immer wieder bestätigt wird, wird ihre Geltung von Einzelnen schon im 18. Jahrhundert51 gelegentlich relativiert. Unter den Textbeispielen aus dem 19. Jahrhundert gehört Wagner (in: Vogt 1855) in diesen Zusammenhang, der meint, daß man „zuweilen genötigt sei, zu Peitschenhieben zu greifen", um sich beim Gesindel „reine Bahn zu verschaffen", worauf Vogt zurückschlagend sich auf das Prinzip, Gleiches mit Gleichem vergelten zu dürfen, beruft. - Schopenhauer (ca. 1855/1985, 36) hält sich zugute, sich aller Kraftausdrücke enthalten zu haben. Diese Inanspruchnahme der Normtreue wird anschließend konterkariert durch die ironische Aufforderung an den Leser, die Lücke zu füllen, im übrigen auch dadurch, dass er seine Gegner im weiteren dann selbst als eine ganze Menagerie mehr oder weniger seltsamer Tiere zeichnet.

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51

Weitere Beispiele findet man in der Gegenschrift des Philosophen Krug (1822, 6f.) gegen die Polemik des Stiftskapitulars Fabritius (1822), während Bartsch (1864) sich damit begnügt zu sagen, dass man „eine ganz artige Sammlung solcher Wörter" (56) zum Beweise, dass es Möllenhoff „an der weltläufigsten Bildung fehlt", aufstellen könnte. Ein gegenwärtiges Beispie! ist Scholz (1991, 5) in seiner Polemik gegen Dyck. Vgl. Moritz (1992) zu den Schimpf-Tiraden Zimmermanns im obigen Textbeispiel: "Sie begeben sich auf ein Stammtischniveau, das fatal an die seinerzeit in der Boulevardpresse gegen den Schreibtischtäter' Boll gerichteten Attacken erinnert." Müller (1788, 21) rechtfertigt seine eigene grobe Sprache („wie ein Kutscher mit seinem ausgearteten Pudelhunde") bis hin zum metaphorischen „Fußtritt" für die „Bestie" damit, dass sein Gegner Schmieder keine andere Sprache verstünde. Das Gleiche behauptet der fiktive Herausgeber der Schrift Lichtenbergs gegen den Raubdrucker Göbhard (Lichtenberg 1776, 237).

214 5.5.2

Verzichte auf literarisch-rhetorische Wirkungsmittel

5.5.2.1

Textbeispiele

Lessing 1770/ 3 1895 Aber wer nur darauf denkt, die Wahrheit unter allerley Larven und Schminke an den Mann zu bringen, der möchte wohl gem ihr Kuppler seyn; nur ihr Liebhaber ist er nie gewesen. (XI, 70)

Goeze 1778/1893 Allein bey dem gegenwärtigen Streite müssen wir sagen: quantum mutatus ab illo! Hier ist es die vornehmste Absicht des Herrn L. seine Gegner, ja auch die Gegner seines Fragmenten-Schreibers, wenn sie ihm auch nicht im geringsten zu nahe getreten sind zu unwissenden und muthwilligen Laffen zu erniedrigen [...]. Er scheint die Logick und gesunde Vernunft aus diesem Streite verbannet zu haben, und wil schlechterdings blos durch Witz, durch Parabeln, Bilderchen und Gleichnissen den Sieg behaupten. (79)

Lessing 1778d/ 3 1897 Wie lächerlich, die Tiefe einer Wunde nicht dem scharfen, sondern dem blanken Schwerdte zuschreiben! Wie lächerlich also auch, die Ueberlegenheit welche die Wahrheit einem Gegner über uns giebt, einem blendenden Stile desselben zuschreiben! Ich kenne keinen blendenden Stil, der seinen Glanz nicht von der Wahrheit mehr oder weniger entlehnet. Wahrheit allein giebt echten Glanz; und muß auch bey Spötterey und Posse, wenigstens als Folie, unterliegen. Also von der, von der Wahrheit lassen Sie uns sprechen, und nicht vom Stil. (XIII, 149f.) Ich suche allerdings, durch die Phantasie, mit auf den Verstand meiner Leser zu wirken. Ich halte es nicht allein für nützlich, sondern auch für nothwendig, Gründe in Bilder zu kleiden; und alle die Nebenbegriffe, welche die einen oder die andern erwecken, durch Anspielungen zu bezeichnen. Wer hiervon nichts weiß und verstehet, müßte schlechterdings kein Schriftsteller werden wollen; denn alle gute Schriftsteller sind es nur auf diesem Wege geworden. (XIII, 188f.)

Voß 1782 Traute er seiner Sache so wenig, daß er, um sein Mütlein zu kühlen, zu dergleichen Behelfen sich erniedrigen mußte? Oder denkt er, unser Publikum sei gutmütig genug, sich selbst an Niederträchtigkeiten zu weiden, wenn man sie nur mit einem launichten Frazengesichte vorträgt? gutmütig genug, dem Lügner Beifall zu klatschen, wenn er nur seinen Gegner mit rascher Spaßhaftigkeit aus dem Felde lügt? (229f.)

Campe 1789/1993 [...] auch er [ein Rezensent] klagt über die blendenden Bilder, (also über das eingemischte Phantasirende,) wodurch die Begierde nach Erkenntnis zwar gespannt, aber nicht befriedigt wird. [...] Denn sie [die Gedanken] sind oft durch abgebrochene Vorstellungen und durch reizende, aber auch zuweilen blendende Bilder, deren Beziehung nicht immer ganz klar sind, mehr angegeben, als deutlich ausgeführt. (35)

215 Heine 1830/1964 [...] daß ich ihnen zeige, wie sehr ich Protestant bin, daß ich mein gutes protestantisches Recht in seiner weitesten Ermächtigung ausübe und die gute protestantische Streitaxt mit Herzenslust handhabe. [...] an den wohlbekannten Schlägen sollten sie schon den Glaubensgenossen eines Luthers, Lessings und Voß erkennen. Freilich, ich würde nicht mit dem Ernste dieser Heroen die alte Axt schwingen - denn der Anblick der Gegner bringt mich leicht zum Lachen, und ich bin ein bißchen eulenspiegeliger Natur und liebe eine Beimischung von Spaß aber ich würde jenen Mistochsen nicht minder stark vor den Kopf schlagen, wenn ich auch vorher mit lachenden Blumen meine Axt umkränzte. (V, 311)

Heine 1839b/1964 Sie können sich nun leicht eine Vorstellung davon machen, wie schmerzlich, widerwärtig schmerzlich mein Gemüt berührt wurde, als nach solchen Vorgängen Ende Dezember das „Jahrbuch der Literatur" mir zu Händen kam und ich meine arme Nachrede, die jetzt einen prätentiösen Titel trug, so gründlich verstümmelt fand, daß ich nicht nur um meine Genugtuung an den darin besprochenen Personnagen geprellt schien, sondern daß, durch Verfälschung der Beiwörter, Ausmerzung der Übergänge und sonstige Entstellung der Form, auch mein artistisches Ansehen bloßgestellt worden. (X, 135)

Müllenhoff 1855b Herr Zarncke eröffnet S. 14, seiner Gewohnheit nach, mit einigen schönen und geistreichen, im Grunde aber läppischen Redensarten, um zuvor dem Leser die Vorstellung von einem besonnenen nüchternen Kritiker zu geben, die Beweisführung: [...]. Hört man hier einen seiner Sache, „der bei Beurtheilung von Hss. in Betracht kommenden Grundsätze" und Kriterien, kundigen reden, oder etwa nur einen litterarischen commis voyageur? (89)

Scherer 1875-1876 Ich lese lieber kurzweilige Sachen als langweilige und setze diesen geschmack auch bei meinen lesem voraus, wenn es mir daher ungesucht gelingt, den ernst schwerfälliger erörterungen durch einige lustige bemerkungen zu mildern, so glaubte ich bisher, mir ein so unschuldiges mittel lebhafterer discussion nicht versagen zu sollen, aber ich sehe wol daß ich es lassen muß, wenn ich nicht in den verdacht kommen will daß fur mich an kleinigkeiten, die mir so klein erscheinen, daß ich sie beinahe nichtigkeiten nennen möchte, ein anderes als ein sachliches interesse hängen könne, - daß mich dabei nicht der reine wünsch leite, zu einer würklichen erledigung von dingen beizutragen, die doch wahrhaftig unter allseitiger Übereinstimmung erledigt werden können, sondern etwa die erbärmliche empfindlichkeit verletzter eigenliebe oder die verdammenswerte sucht, recht zu behalten um jeden preis. [...] wenn ein sonst gerechtigkeitsliebender und friedlich gesinnter gelehrter in den harmlosen spässen, welche ich mir bei gelegenheit des Kero erlaubte (zs. 18, 149) eitel „animosität" erblickt, so muss ich entweder glauben dass die fähigkeit spass zu verstehen nur sehr wenig sterblichen gegönnt ist, oder dass ich nicht die stilistische kunst besitze, harmlos gemeintes auch harmlos auszudrücken: in beiden fällen erscheint es geraten mich künftig ernsthafter trockenheit zu befleissigen. (461)

216 5.5.2.2

Kommentar

(Α) Wilhelm Scherer veröffentlichte in den Jahren 1875 und 1876 unter dem Obertitel Allerlei Polemik eine kleine Serie von vier Beiträgen in fünf Fortsetzungen, in denen er einzelne germanistische Veröffentlichungen rezensiert, die Kritik aber zugleich mit einer metakritischen Reflexion verbindet. Ausgangspunkt für letztere sind meistens Passagen in den rezensierten Werken, in denen er selbst kritisiert wird. Sein weiter reichendes Ziel ist aber, „in der form der abwehr auf fremde angriffe" „die kleinlichkeiten aus unseren wissenschaftlichen beziehungen zu verbannen" (1875, 465). Ob sich die Kennzeichnung Allerlei Polemik auf seine eigenen Beiträge oder die der germanistischen Kollegen bezieht, ist offen. In seiner Reaktion auf Kritik praktiziert er jedenfalls „unpolemisch", was er ausdrücklich als seine Auffassung angibt: „besser doch lachend, meine ich, als mit jener plumpen grobheit, vor der mich ein rest von gutem geschmack hoffentlich zeitlebens bewahren wird" (462). Wir können annehmen, dass Ironie, Witz und leichte Hand, um die er sich in der Abwehr fremder Angriffe bemüht, als allgemeines Rezept zur Verbannung der „kleinlichkeiten aus unseren wissenschaftlichen beziehungen" zu verstehen ist. Nun ist aber gerade die Beigabe von Spaß, Lachen und Unterhaltsamkeit Gegenstand eines Vorwurfs, gegen den sich Scherer zu Beginn des ersten Beitrags zur Wehr setzen muss. Er verteidigt sich in den zitierten Passagen des Textbeispiels damit, dass er die Beimischung von lustigen Bemerkungen und harmlosen Späßen für unschuldig und - im Interesse einer lebendigen Diskussion - sogar für nützlich und vorteilhaft hält, scheint aber trotzdem vor dem Verdacht kapitulieren zu wollen, dass jemand, der sich eines solchen Stils befleißigt, „nicht der reine wünsch leite, zu einer wirklichen erledigung von dingen beizutragen". Sein Versprechen künftiger Besserung enthält indes deutliche Ironiesignale und widerspricht auch dem Stil des Textes, in dem er es ausspricht. So wird in den an Scherer gerichteten Vorwürfen eine Norm erkennbar, die unterhaltsame Elemente in argumentativen, zumal wissenschaftlichen Texten negativ bewertet - eine Norm, deren Existenz Scherer nicht negiert, deren Sinn er aber bezweifelt. (B) Im Artikel „Disputir-Kunst" in Zedlers Universal-Lexikon (1734, Bd. 7, 1062) heißt es: „Ein Disputante muß sich allemal besinnen, daß er ein Disputante und kein Redner sey." Diese entschiedene Trennung des Disputierenden (auch des Diskutierenden, Widerlegenden, in einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung sich Befindenden) vom Rhetor und die damit einhergehende negative Bewertung rhetorischer Mittel, mit denen sich der Redner an der Wirksamkeit beim Adressaten anstatt strikt an den Erfordernissen der Wahrheitsfindung orientiert, findet man auch in der polemischen Metakommunikation. Besonders hervorstechend ist in diesem größeren Rahmen die Abwehr literarisch-ästhetischer Stilmittel, die dem Delectare dienen und im weitesten Sinne Vergnügen bereiten, wie auch das Zedlersche Lexikon im Artikel „Methode (Widerlegungs-)" (1739, Bd. 20, 1337) ausdrücklich vor den „Zierrathen des Styli", dem „satirischen Wesen" und der

217 „Pracht der Troporum und Figuren" warnt. Damit wird der Wert des Ästhetischen als solcher nicht angetastet. Insoweit in der polemischen Metakommunikation auch poetische Stilmittel Gegenstand von Vorwürfen werden, ist das Kritikwürdige vielmehr die rhetorische Funktionalisierung des ästhetischen Wohlgefallens. Hinter der negativen Bewertung des Rhetorischen wie des ästhetisch Reizenden steht die Vorstellung, dass die Wahrheit der rhetorischen Unterstützung (1) nicht bedarf und dass letztere (2) sogar schädlich ist, weil die Beimischungen Aufmerksamkeit auf sich ziehen, die eigentlich der Sache gehören sollte, wenn die Beimischungen nicht sogar eine Schwäche in der Position des Polemikers verdecken sollen. Das Misstrauen gegen die geistreichen und schön schreibenden Publizisten, Journalisten und Feuilletonisten hat eine lange Tradition, so wie vom Grafen von C. zum Missvergnügen Werthers gesagt wird, dass er zwar, „eine gute Feder" führe, dass es ihm aber wie allen „Belletristen" „doch an gründlicher Gelehrsamkeit mangelt" (Goethe 1948-1960, V, 62). - Auch Faust (Goethe 1948-1960, III, 25) warnt Wagner vor den „blinkenden" Reden und macht sich zum Sachwalter sprachlich möglichst unaufwendiger Sachbezogenheit: „Sei Er kein schellenlauter Thor! / Es trägt Verstand und rechter Sinn / Mit wenig Kunst sich selber vor; / Und w e n n ' s euch ernst ist, was zu sagen, / Ist's nötig, Worten nachzujagen? (C) Unter den Äußerungstypen, in denen die Norm thematisiert wird, herrschen wieder die Vorwürfe vor (Lessing 1770, Goeze 1778, Voß 1782, Campe 1789, Müllenhoff 1855b); an zweiter Stelle stehen aber schon Verteidigungen, die in auffalliger Weise auf eine Zurückweisung (des Sinns) der Norm hinauslaufen (Lessing 1778, Heine 1830 und 1839b, Scherer 1875-1876). Nach Lessing (1770) bedarf die Wahrheit keiner „Larven und Schminke" Was unter Larven und besonders unter Schminke zu verstehen ist, ist nicht von vornherein klar. Er macht die Bemerkung in einer Ehrenrettung des Beringarius, von dem behauptet worden war, er „habe mit Fleiß seine Meinung so dunkel und zweideutig vorgetragen, damit sie nicht allzu greulich scheinen möge" (70), eine Strategie, die nach Lessing im besonders gefährlichen „verfeinerten Irrtum" endet. 52 Nach dem Grimmschen Wörterbuch (1899, Bd. 15) ist von der „Schönheitssalbe" Schminke im übertragenen Gebrauch, „oft noch in frischer bildlichkeit", die Rede bei dem, „was zur Verstellung dient und von der Verstellung selbst", und das Wort kann deshalb für Verstellung, Betrug, Lüge, Beschönigung stehen. Diese Ausdrücke zielen vornehmlich auf eine inhaltliche Verfälschung der fraglichen Sachverhalte. Als Schminke kann aber auch die gefällig-reizende Sprache empfunden werden, weil sie das Interesse von der Sache abzieht und eine Ersatzbefriedigung gewährt, wo die Begründung der inhaltlichen Position schwach ist. So zitiert das Grimmsche Wörterbuch Herder, der der „aufrichtigen" Sprache die „poetische Schminke" entgegensetzt.

52

„Geschminkte Ausdrücke", so Mattheson (1750, 2. Dosis, 60), „werden so geachtet, wie des Paradieses Hecken, hinter denen sich zu verstecken der entblöste Sünder trachtet."

218 Die Ersatzfunktion der schönen Sprache, die eine Schwäche in der Sache verdeckt, ist in den Texten mehrfach angesprochen. Den Sieg „durch Witz, durch Parabeln, Bilderchen und Gleichnisse" behaupten wollen, steht im Gegensatz zu „Logick und gesunde Vernunft" (Goeze 1778). Zu einem „launichten Frazengesichte" und „rascher Spaßhaftigkeit" greift nur, wer seiner Sache wenig traut (Voß 1782), ein entblößter Sünder eben. Campe beruft sich gegen Moritz auf einen Rezensenten, der „über die blendenden Bilder", „das eingemischte Phantasirende" klagt, wodurch die Begierde „nach Erkenntnis zwar gespannt, aber nicht befriedigt wird" (Campe 1789). Für Müllenhoff (1855b, 89) sind die „schönen und geistreichen Redensarten" Zarnckes vor allem die läppischen Redensarten eines „litterarischen commis voyageur". Die wiederholten Vorwürfe Goezes gegen Lessing, er „ästhetisiere den theologischen Streit und bringe ihn zugunsten darstellerischer Effekte um sein sachliches Gewicht" (Mattenklott 1993, 342), vertraue auf den Einsatz der „poetischen Funktion der Sprache" und gebrauche „literarische Ausdrucksmittel in einer dafür unpassenden Schreibkonstellation" (Kärn 1993, 286), beruhen wohl nicht nur darauf, dass Goeze Lessings Schriften und den Stil „in der ihm eigenen Weise grotesk mißverstanden und falsch gedeutet" hat (Schilson, 1993, 64f.), sondern entspricht durchaus einer verbreiteten, in der polemischen Metakommunikation zu Tage tretenden Denkweise. (D) Die Textbeispiele enthalten allerdings vergleichsweise häufig opponierende Stimmen, die ihre abweichende Haltung sogar offensiv vertreten. Zu ihnen gehört Lessing (1778d), der im ersten Teil des zweiten Zitats die von Goeze an ihn gerichtete Kritik zurückweist, indem er die Möglichkeit, ungedeckt von der Wahrheit der Aussage durch den Stil zu blenden, bestreitet. Dass „Wahrheit allein giebt echten Glanz", dürfte freilich auch bei Goeze nicht auf Widerspruch stoßen. Lessing sieht in seiner Entgegnung darüber hinweg, dass Goeze von „blendendem Stil" gerade dann spricht, wenn es in seiner Wahrnehmung an echtem Glanz mangelt. Im zweiten Teil bestätigt Lessing mehr oder weniger die Verhaltensweisen, die ihm Goeze vorwirft, bestreitet aber die Vorwerfbarkeit, indem er das Wirken durch Phantasie zum allgemeinen Kennzeichen des guten Schriftstellers macht. 5 3 - Während bei Lessing der Versuch, durch die Phantasie „auf den Verstand meiner Leser zu wirken", in erster Linie eine rhetorische Notwendigkeit scheint, betont Heine seinen spezifisch ästhetischen Wirkungswillen. Lessings „blankes Schwert" ist bei Heine (1830) zu einer „mit lachenden Blumen" umkränzten Axt geworden, und die verstümmelte Nachrede stellt, wie er im zweiten Zitat (Heine 1839) ausdrücklich sagt, jenseits rhetorischer Rücksichtnahmen sein „artistisches Ansehen" bloß. Nimmt man die geringe Anzahl der Textbeispiele hinzu - ich habe nicht mehr als neun gefunden und von ihnen betreffen fünf Lessing und Heine, die in mancherlei Hinsicht Sonderfalle sind - , so hat man ein Argument, auch diese Norm

53

Auch das würde Goeze wahrscheinlich zugeben, solange der Schriftsteller sich nicht anmaßt, gerade theologische Streitfragen öffentlich erörtern zu wollen.

219 mit einem Fragezeichen zu versehen. Andererseits scheint mir zumindest in der Wissenschaft das ähnlich begründete Misstrauen gegen den Journalistischen" Stil bis in die Gegenwart wirksam. In der empirischen Studie von Mischo und Christmann (1998) über Persuasive Effects of (Un-)Fair and Aesthetic Contributions in Argumentations kommen die Autoren zum Ergebnis, dass ästhetische Mittel die Überzeugungskraft beim Publikum auch in alltagsweltlichen Kontexten nur dann erhöhen, wenn die Integrität der Argumentation sonst ohne Fehl ist, dass also argumentative Fairness notwendige Bedingung für ästhetische Effekte ist, die ihrerseits die negative Wirkung von Unfairness nicht kompensieren können. Einen Freibrief im Sinne der Redewendung „Erlaubt ist, was gefallt", der dem Polemiker in der extrakommunikativen Diskussion gelegentlich ausgestellt wird, billigt ihm die polemische Instanz offenbar nicht zu. Die zweifelnden Fragen, die Lazarowicz (1963, 143), wiederum im Blick auf Lessing, stellt - „vermag der, mit Schlegel zu reden, .genialische Stil' das moralisch Anfechtbare - in unserem Fall die persönliche Beleidigung - zu sanktionieren? [ . . . ] Wird aber das Unrecht zum Recht, wenn es sich in formvollendeter Weise darbietet?" - werden in der polemischen Metakommunikation meistens negativ beantwortet.

5.5.3

V e r z i c h t e a u f d i e S p r a c h e der Ü b e r h e b l i c h k e i t

5.5.3.1

Textbeispiele

Lessing 1754/ 3 1890 Doch, Scherz bey Seite; haben Sie denn niemals gehört, wie levis nach der Meinung grosser Stylisten eigentlich solle geschrieben werden? Haben Sie nie gehört, daß alle Diphthonge lang sind? Ich vermuthe, daß in Laublingen ein Schulmeister seyn wird, welcher auch ein Wort Latein zu verstehen denkt. Erkundigen Sie sich bey diesem, wenn ich Ihnen rathen darf. Sollte er aber eben so unwissend seyn, als Sie; so will ich kommen und die Bauern aufhetzen, daß sie ihm Knall und Fall die Schippe geben. Ich weis auch schon, wen ich ihnen zum neuen Schulmeister vorschlagen will. Mich. (V, 227) Den ersten Scholiasten nennen Sie: Acris. Acrisl Die Ruthe her! Die Ruthe her! Er heißt Acron, kleiner Knabe! Laß doch du die Scholiasten zufrieden. — Den andern nennen Sie, Herr Pastor, Landin. Landini Da haben wirs! Merkts, ihr Quintaner, indem ich es dem Herrn Lange sage, daß man keinen Commentator aus dem löten Jahrhunderte einen Scholiasten nennen kann. Es wär eben so abgeschmackt, als wenn ich den Joachim Lange zu einem Kirchenvater machen wollte. (V, 229) Mündt 1835/1972 In der That, ich glaube, daß der improvisirte Professor Wolf in Jena der Verfasser dieses Aufsatzes ist, in dem die Bestrebungen und Erfolge mehrerer für unsere Zeit wichtigen Schriftsteller einer ebenso magisterhaften, als persönlich beleidigenden und injuriösen Kritik unterworfen wurden. (II, 715) Heine 1839b/1964 Zunächst also widersprechen Sie mir, und zwar ganz apodiktisch, von oben herab, ohne Angabe irgendeines Beweises, der etwa Ihre Aussage betätige. (X, 130)

220 Schopenhauer ca.1855/1985 Ich bin weitläuftig gewesen und habe geschulmeistert; wozu ich wahrlich mich nicht hergegeben haben würde, wenn nicht die deutsche Sprache bedroht wäre: an nichts in Deutschland nehme ich größern Antheil, als an ihr [...]. (86) Müllenhoff 1855a Alles was in frühem Schriften nur unvollständig ans Licht trat ist jetzt aufs vollständigste offenbar geworden. Und doch überbietet die Unkenntnis, und die Verschrobenheit des Urtheils, wie gross sie sind, noch die hochmütige Verblendung und die blinde Anmasslichkeit, mit der Hr. Holtzmann sich zu meistern erlaubt wo er kaum zu lernen angefangen. (6f.) Holtzmann 1864 Ich schließe diese Anzeige, ohne mich aufzuhalten bei dem unziemlichen, hochmüthigen Ton, den Herr Müllenhoff an einigen Stellen anschlägt. Dergleichen versteht sich bei den Inhabern und Bewahrern der echten Wissenschaft von selbst [...]. (75) Scherer 1 8 7 5 - 1 8 7 6 Das ist freilich unter umständen recht schwer, zb. wenn ein fachgenosse, dem ich als recensent eine geringfügige sachliche einwendung zu machen hatte, dieselbe zu widerlegen sucht und mich dann in grosser aufregung anfährt: „also nur nicht gleich gehofmeistert!" gibt es eine hofmeisterndere construction als das Imperativisch gebrauchte particip? (461) allgemein dürfte ich darüber wol nicht sprechen, ohne daß ich mir eine hofmeisterrolle anzumaßen schiene, aber in der form der abwehr auf fremde angriffe wird es mir wol nicht verboten sein. (465) Bartels 1908 [...] der Rest ist hochmütige Verdammung ex cathedra und eine schielende Wiedergabe meiner Absichten und Ausführungen, wie sie freilich dem wegen seiner Stellung in einem fremden Volkstum gleichsam zum Schielen verdammten Judentum vielfach natürlich sein mag. (146) Frings 1955 Hans Kuhn, Professor für altgermanische und nordische Philologie an der Universität Kiel, hat im Anz.f d A. 1951/52, S.53ff. die Grundlegung einer Geschichte der deutschen Sprache, 1. Aufl., Halle 1948, besprochen. Der Rezensent schreibt, wie bekannt, die Sprache der Überheblichkeit und des Nihilismus [...]. Ich darf im Namen vieler sagen, daß die Sprache des Rezensenten (Viel ärmer ging es nicht) nicht vereinbar scheint mit der Würde, die die Zs.f d Altertum zu wahren hätte. (401)

5.5.3.2

Kommentar

(A) In der Kontroverse zwischen Holtzmann und der Lachmann-Schule über das Nibelungenlied (siehe auch Kapitel 5.3.4.2, Punkt A ) beschweren sich beide Parteien gegenseitig über den unangemessenen Ton in der Auseinandersetzung. Holtzmann beginnt in der Vorrede zu seinen Untersuchungen über das Nibelungenlied (Holtzmann 1854) mit einer Kritik an dem verstorbenen „Meister" Lachmann:

221 [...] ich gestehe, dass ich bei Lachmann, dessen Verdienste meiner Anerkennung nicht bedürfen, einen Ton herrschend finde, der mein Gefühl (um auch einmal v o m Gefühl zu sprechen) verletzt. Wie ein Unfehlbarer aufzutreten, in geheimnisvollen Winken seine Weisheit errathen zu lassen, statt der Beweise Schmähungen vorzubringen, das sollte nie und nirgends, auch dem grössten Gelehrten nicht gestattet sein; und dass es unter uns möglich war, einen solchen Ton auch nur anzuschlagen, und gar Erfolge damit zu haben, das gereicht der Bildung unserer gelehrten Welt nicht zur Ehre (VI).

In den Untersuchungen Holtzmanns stellt Müllenhoff (1855a) eine große Diskrepanz zwischen „Unkenntnis" und „Verschrobenheit des Urtheils" einerseits und „hochmütiger Verblendung und blinder Anmasslichkeit" andererseits fest, ein Vorwurf, den Holtzmann (1855, 17) postwendend zurückgibt, nur dass er „das hochmüthige, aller Humanität bare Treiben" nicht auf mangelnde Kenntnisse und Fähigkeiten der Lachmann-Schüler, sondern auf den sachfremden Machtanspruch einer „herrschsüchtigen Partei" zurückfuhrt. Die gleichen Vorwürfe wegen des „unziemlichen, hochmüthigen Ton[s]" wiederholt Holtzmann (1864) neun Jahre später in seiner Rezension der Denkmäler deutscher Poesie und Prosa von Müllenhoff und Scherer. (B) Die dritte Kandidatin für eine Norm, die die sprachliche Realisierung des Textes betrifft, ist in der polemischen Kommunikation nicht ganz so auffällig wie die beiden ersten, die Textbeispiele sind jedoch zahlreich genug, um ihre Geltung als Stilnorm, vor allem in wissenschaftlichen Kontexten, zu behaupten. Die Kritik, die vorzugsweise auf der sprachlichen Ebene formuliert wird, zielt auf eine bestimmte Haltung: Der Schreiber erhebt sich über den anderen, versetzt ihn in die inferiore Position. Insofern handelt es sich nicht nur um eine Frage des Stils, sondern um eine Frage der Positionierung des polemischen Subjekts gegenüber dem Objekt mit dem Resultat einer sozialen Asymmetrie, mit der eine Grundvoraussetzung der Kommunikation, vor allem im wissenschaftlichen Austausch, beschädigt wird. Die kritisierbare Positionierung schlägt sich im „Ton" nieder, der als unangemessen wahrgenommen wird. Nun kann man mit einem gewissen Recht sagen, dass es den Polemiker ja allgemein charakterisiere, dass er den Gegner in den Augen der polemischen Instanz klein zu machen versucht und sich selbst somit als Überlegenen präsentiert. Die fragliche Haltung und ihre sprachlichen Formen, die von der Norm 5.5.3 erfasst werden, müssen daher etwas eingegrenzter bestimmt werden. Die Kritik betrifft vor allem den, der den anderen schulmeisterlich in die Rolle des zu belehrenden Schülers drängt, oder den, der mit angemaßter Autorität die diskussionslose Übernahme der eigenen Position verlangt. In beiden Fällen wird der Gegner nicht als gleichberechtigter Partner in der Klärung der zur Debatte stehenden Sache anerkannt. Die diskreditierende Vokabel des Schulmeisters wird daneben auch als Quasi-Synonym für Pedant und Kleinigkeitskrämer gebraucht und zielt dann, falls die Kritik normative Implikationen hat, eher auf eine Verletzung der Norm 5.2.1 („Streite nicht um Nichtigkeiten") als der Norm 5.5.3.54 54

Vgl. in diesem Sinne etwa Lichtenbergs Polemik gegen Voß (Lichtenberg 1781), in der

222 Weist der Schulmeister, als der sich Überhebende, dem anderen eine inferiore Position zu, so stellt der Höfliche den anderen auf ein Podest, indem er ihm den Vorzug gibt. Obwohl nun der gescholtene Schulmeister zweifellos auch unhöflich ist, ist es nicht sinnvoll, die Norm 5.5.3 unter die weiter reichende Maxime „Sei nicht unhöflich" zu subsumieren. Schon gar nicht ist es gerechtfertigt, die Unterlassungsforderung („Verzichte auf die Sprache der Überheblichkeit") umzuformulieren in die Handlungsaufforderung „Befleißige dich einer höflichen Sprache" o.ä. Sprachliche Höflichkeit ist für den, dem sie zuteil wird, sicherlich angenehm, ja schmeichelnd; dennoch taucht sie in der polemischen Metakommunikatiom als positives Gegenstück zur Sprache der Überheblichkeit nicht auf. Das ist auch leicht nachvollziehbar. Höflichkeit verfehlt die Sache genau so wie die Unhöflichkeit, weil sich in beiden Fällen das sprachliche Verhalten an der Person orientiert und mittels der Sprache eine bestimmt geartete Beziehung gestiftet wird. Der dem sachlichen Streit angemessene Stil befindet sich in einer höflichkeitsneutralen Zone, die weder von unhöflicher noch von höflicher Sprache bestimmt ist.55 (C) Die Bezüge auf die Norm werden überwiegend in Form von Vorwürfen an den Gegner realisiert: Mündt 1835, Heine 1839b, Möllenhoff 1855a, Holtzmann 1864, Scherer 1875-1876, Bartels 1908, Frings 1955. Nur zwei Autoren, Schopenhauer (ca. 1855/1985) und Scherer (1875-1876) rechtfertigen das eigene Schulmeistern bzw. die Hofmeisterolle, der erste mit der Gefahr für das Gemeinwesen, 56 der andere mit dem Recht des persönlich Angegriffenen. Fast alle benutzen in sprachlichen Variationen stereotyp die Figur des Schulmeisters: magisterhaft (Mündt 1835); von oben herab (Heine 1839); zu meistern erlaubt (Möllenhoff 1855a); geschulmeistert (Schopenhauer ca. 1855); hofmeisterrolle (Scherer 1875-1876), so dass Sprache der Überheblichkeit (Frings 1955) und schulmeisterlicher Ton fast identisch zu sein scheinen, wäre da nicht die angemaßte Autorität, die kategorisch die Übernahme der eigenen Position verlangt und den anderen nicht einmal als Objekt einer Belehrung für wert hält: ganz

55

56

im Kontext von kleinstädtischem Schulton (455), schulfüchselnder Rechthaberei (458), Schulfüchserey (459) fast immer auch Pedant, pedantisch oder Pedanterie auftauchen und w o die angedeutete Zielrichtung besonders in Lichtenbergs Kritik deutlich wird, „daß von einer elenden, nichtswürdigen, erbärmlichen Schulfüchserey die Rede war, einer Sache, um die sich heutzutage nur die geschmacklosesten Pedanten im Ernste bekümmern" (459). Darin steckt der Vorwurf der Verletzung der Norm 5.2.1, gegen den sich Voß konsequent zur Wehr setzt, indem er sich auf Lessing beruft, für den Wahrheit und Unwahrheit auch „in dem allergeringsten Dinge" nicht gleichgültig gewesen sei (Voß 1782, 235). Vgl. dazu Lessing (1768-1769/ 3 1894, X, 231f.), der in der Auseinandersetzung mit Klotz die Forderung nach Höflichkeit in der Kritik u.a. mit dem Vorbild der „Alten" zurückweist: „Die Alten kannten das Ding nicht, was wir Höflichkeit nennen. Ihre Urbanität war von ihr eben so weit, als von der Grobheit entfernt." Wenn man unterstellt, dass Schopenhauers Anteilnahme an der deutschen Sprache mehr als Ausdruck eines subjektiven Interesses ist und in seinen Augen ein für die gesamte Sprechergemeinschaft bedeutendes und schützenswertes Gut betrifft.

223 apodiktisch (Heine 1839); Verdammung ex cathedra (Bartels 1908). Für beide Varianten passt die Charakterisierung der Einstellung als Hochmut (Müllenhoff 1855a, Holtzmann 1855 und 1864, Bartels 1908) und des Handelns als Anmaßung (Müllenhoff 1855a, Scherer 1875-1876). (D) Eine Sonderstellung unter den Textbeispielen nimmt auch in diesem Punkt Lessing (1754) ein, ftir den, wie Barner (1993, 15) im Blick auf das Vademecum gegen Lange feststellt, die Rolle des Schulmeisters, der den Gegner als Schüler abkanzelt, „ein Hauptelement der polemischen Konstruktion" ist - und zwar ausnahmsweise in der Selbstinszenierung. 57

5.6

Rechtfertigungs- und Entschuldungsgründe für Normverletzungen

5.6.0

Einleitung

Kapitel 5.6 soll der Tatsache gerecht werden, dass Normverletzungen unter bestimmten Bedingungen gerechtfertigt werden können, vor allem dann, wenn das fragliche Handeln von einer höherwertigen Norm gedeckt ist. Groeben u.a. (1990-1992, V) unterscheiden unter den Gründen, die ihre Versuchspersonen zur Rechtfertigung oder Entschuldigung normwidrigen („unintegren") kommunikativen Verhaltens genannt haben, (1) interaktionale, (2) inhaltliche und (3) Rechtfertigungen im eigentlichen Sinne. Unter den „interaktionalen" verstehen sie solche, die auf der „Norm der negativen Reziprozität" (52), z.B. also dem Wiedervergeltungsrecht, beruhen (vgl. Kapitel 5.6.2). „Inhaltliche" Rechtfertigungen beruhen „auf der inhaltlichen Angemessenheit des entsprechenden Verhaltens" (53). Gemeint ist, dass man jemandem, ihren Untersuchungsergebnissen zufolge, beispielsweise die Kompetenz absprechen darf, was eigentlich ein Akt des Persönlichwerdens ist (vgl. Kapitel 5.4.4), wenn der Betreffende wirklich inkompetent ist. „Rechtfertigungen im eigentlichen Sinne" werden durch „weitergehende gute Absichten bzw. höhere Werte/Notstand etc." begründet (53). Im Unterschied zur inhaltlichen Angemessenheit des Verhaltens wird in der dritten Kategorie das fragliche Verhalten als „notwendiges" bzw. als angesichts der Umstände in Kauf zu nehmendes angesehen. In der polemischen Metakommunikation gelten als Rechtfertigungsgründe insbesondere das Recht des persönlich Angegriffenen, sich öffentlich zu verteidigen (5.6.1), und das Recht, Gleiches mit Gleichem zu vergelten (5.6.2). Mit einer gewissen Einschränkung gehört auch das Recht bzw. die Verpflichtung dazu, 57

Schon in Lessings Polemik gegen Johann Jakob Dusch im 41. Literaturbrief wurde pikanterweise „der Schulmann Dusch als der unwissende Lateinschüler" (Grimm 1993, 264) behandelt.

224 Gefahren fur das Gemeinwohl abzuwenden (5.6.3). In 5.6.4 wird ein weiterer Rechtfertigungsgrund behandelt, der im Textkorpus gelegentlich in Anspruch genommen wird, insgesamt aber einen unsicheren Status hat und deshalb mit Fragezeichen versehen ist: „Ein Ehrloser darf als Ehrloser behandelt werden". Kapitel 5.6.5 schließlich enthält mildernde Umstände, die eine Normverletzung zwar nicht rechtfertigen, aber entschuldbar machen können. In allen Fällen rechtfertigen oder entschuldigen die Gründe immer nur bestimmte Arten von Normverstößen, nicht alle global. So wäre es sehr ungewöhnlich, eine Lüge mit einer Lüge vergelten zu wollen. Auch der gute Zweck, das Gemeinwesen vor Gefahren zu bewahren (5.6.3), heiligt nicht alle Mittel. Eine Zuordnung der Rechtfertigungsgründe zu den drei Typen von Groeben u.a. unterlasse ich, weil mir scheint, dass die „interaktionalen" und die „inhaltlichen" genauso wie die „eigentlichen" Rechtfertigungen durch „weitergehende gute Absichten bzw. höhere Werte/Notstand etc." begründet sind. Wer sich auf die „inhaltliche Angemessenheit" seiner Äußerung beruft, um einen Akt des Persönlichwerdens zu rechtfertigen, hat entschieden, dass das Äußern der Wahrheit zumindest im gegebenen Fall ein höherer Wert ist als der Schutz der Persönlichkeit. Bei einer „interaktionalen" Rechtfertigung, die sich auf die „Norm der negativen Reziprozität" beruft, ist es genau diese Norm, die als höherwertige das sonst kritisierbare Verhalten rechtfertigen kann.

5.6.1

Ein persönlich Angegriffener darf sich verteidigen

5.6.1.1

Textbeispiele

Voß 1782 Ich habe geglaubt, daß es jedem frei stehe, sich gegen jeden Angriff, von wem er auch komme, zu vertheidigen, und daß die Gerechtigkeit des Angriffs und der Vertheidigung nicht nach gelehrtem Ruhme, bürgerlichem Stande, und wizigem Vortrage, sondern einzig nach Gründen beurteilt werde. Einige Gelehrte in Göttingen scheinen dies nicht zu glauben. (214)

Stolberg 1820 [...] ich schwiege viel lieber, aber ich d a r f nicht, ich muß antworten, ich bin es der Wahrheit und meinen Kindern schuldig, sonst wird nächstens gesagt werden, daß ich und meine Freunde die Dinge gethan haben, deren man uns beschuldiget. (IV) Mit ruhigem Vertrauen in alle, die den Herrn Hofrath Voß und mich persönlich, oder auch nur aus seinen und meinen Schriften kennen, ja auch im Vertrauen in das Urtheil aller unbefangenen Leser seiner Schmähschrift gegen mich, würde ich diese unbeantwortet lassen, wenn er sich auf allgemeine, grobe und giftige Verunglimpfungen beschränket, wenn er nur den Anstand, nicht auch die Wahrheit verletzet hätte. (3)

Krug 1822 Gegen solche Verleumdungen schützt zwar zum Theile das Leben selbst, aber doch nur im kleinen Kreise der Bekannten und Besonnenen. Der weit größere Kreis der Unbekannten

225 und Unbesonnenen hält nur allzuleicht Stillschweigen für Bewußtsein der Schuld, wo nicht gar für Eingeständniß, besonders wenn die Anklage ihren Vorurtheilen und Aengsten entspricht. Darum war es nöthig, jene Rezension aus der Feder eines Mitangeklagten auch demjenigen Theile des Publikums vorzulegen, der in der Regel keine kritischen Blätter liest. (Ulf.) Gutzkow 183 5b/1972 Zwei meiner jüngst erschienenen Schriften zwingen mich, einige daraus für meine Person abgezogenen Urtheile zu berichtigen. Man will in ihnen eben so viel Atheismus wie Immoralität entdeckt haben. Man schließt auf meine häuslichen Grundsätze und dringt mit den brutalsten Verläumdungen bis auf mein Zimmer. [...] Ich muß selbst für mich eintreten und bitte das Publikum, mir in einer ernsten, meine bürgerliche Existenz bedrohenden Sache zuhören zu wollen. (I, 80) Hoff 1839/1977 Da mir dieser Hansnarr mit dem besten Willen nichts schaden kann, so lachte ich darüber. Als ich aber einige Wochen darauf sah, daß die Verlagshandlung diese Nummer noch als Probenummer für den nächsten Jahrgang in mehreren Tausend Exemplaren überall gratis ausgeben ließ, und nicht Jedermann, der solche Dinge liest, das Falsche von dem Wahren sondern kann, so schrieb ich [...]. (11) Bartsch 1864 Es ist zwar keine erfreuliche Sache, sich mit einem Menschen einzulassen, dessen Hauptstärke in der Anwendung von Schimpfwörtern besteht, [...] Damit jedoch Schweigen nicht als Schwäche ausgelegt werde, sei Folgendes bemerkt: [...]. (56) Fischer 2 1870 Seit mehreren Jahren bin ich mit Herrn Professor Trendelenburg in Berlin in einen Streit verwickelt, den ich nicht begonnen, nicht gesucht und, als er mir aufgenöthigt war, nur ungern und mit Widerstreben aufgenommen habe. Eine Empfindung rein persönlicher Art, die mit wissenschaftlichen Streitfragen nichts zu thun hat, überwog bei mir jeden Reiz der Polemik, und ich würde aus eigenem Antriebe niemals gegen ihn geschrieben haben. Selbst nachdem der Angriff von ihm ausgegangen war, habe ich mich schwer entschlossen und darum lange gezögert, ihn zu erwiedern. (3) Und da ich wohl wusste, wie gern dieser Gegner das Schweigen der von ihm Angegriffenen für deren Niederlage, sogar für das Eingeständniss derselben ansieht, so hatte ich gegen mich und mein Werk die doppelte Pflicht, einer solchen Weise der Kritik nachdrücklich entgegenzutreten. (4f.) Holz 2 1909 Zur Herausgabe dieser kleinen Schrift, die kein Angriff, sondern lediglich eine Abwehr ist, bin ich zu meinem peinlichsten Bedauern gezwungen. Ich werde daher so kurz als irgend möglich sein und, soweit dieses angängig ist, nur durch mein Material sprechen. (3) Ihm [dem Kampf] aus dem Wege biegen konnte ich nicht, weil ich, wie stets bisher, so auch hier, nicht für meine Person einzustehen habe - die der Welt vollkommen gleichgültig sein kann, wie die Welt es ihr umgekehrt ist - , sondern für meine Sache. Ich stehe jetzt ganz allein mit ihr, allein auch nach Aussen, und werde fortfahren, sie rein zu halten vor jedem Wischiwaschi. (39)

226 Schwarzer 1991 u. 1993) Wo Rauch ist, da ist auch Feuer. Das ist das Prinzip, nach dem Diffamierung funktioniert. Da bleibt immer etwas hängen. Ich kenne das, seit 20 Jahren. Aber ich widerspreche selten. Ich weiß: Gegen das Gift der üblen Nachrede ist kein Kraut gewachsen. Diesmal reagiere ich dennoch mit Grund. Grund 1: Antisemitismus scheint mir der schlimmste Vorwurf, den man einem deutschen Menschen nach Auschwitz machen kann. (248) Ich gestehe: Eigentlich möchte ich solche Mechanismen nicht auch noch bedinen. Dennoch bin ich in diesem Fall zur Antwort gezwungen. Denn wo Rauch ist, ist bekanntermaßen auch Feuer, will sagen: Bei Verleumdung bleibt immer etwas hängen. Auch wiegt die Bedeutung des Forums in diesem Fall einfach zu schwer. Zumindest das kann die ZEIT sich anrechnen.

Lampugnani 1994 Lieber Dieter Hoffmann-Axthelm, auf Polemiken, deren Gegenstand man selbst ist, reagiert man nicht. Ich kenne diese Regel und breche sie doch. Denn das, was Sie unter dem Titel „Die Provokation des Gestrigen" in der ZEIT vom 1. April 1994 geschrieben haben, geht über ein persönliches Zerwürfnis zwischen Ihnen und mir hinaus. Ich sehe von den unzähligen überflüssigen kleinen Infamien ab, mit denen Ihr Text durchsetzt ist, und versuche, die drei Vorwürfe herauszudestillieren, die sie mir entgegenschleudern zu müssen glauben.

5.6.1.2

Kommentar

(A) Im Frankfurter Journal befinden sich in den drei Monaten vom 1. Juli bis zum 31. September 1848 in der Rubrik „Privat-Bekanntmachungen" 54 Leserzuschriften, in denen sich mit Ausnahme dreier anonymer Einsendungen namentlich identifizierte Schreiber von lokaler oder nationaler öffentlicher Bedeutung zu Wort melden, um unter Überschriften wie Erklärung, Berichtigung, Erwiderung, Entgegnung oder Antwort zuvor im Frankfurter Journal oder in anderen Zeitungen Berichtetes richtig zu stellen. In fast allen Fällen sind die Einsender von den fehlerhaften Darstellungen selbst betroffen, d.h. es ist ihr eigenes nicht sprachliches oder sprachliches Verhalten, das falsch oder verzerrt wiedergegeben oder gedeutet wurde. Gelegentlich sind sie nur als Mitglied eines Kollektivs in Mitleidenschaft gezogen, oder es macht sich eine dritte Person zum Sachwalter einer angegriffenen Person. Unter diesen Einsendungen gibt es einige, in denen der Einsender das über ihn Berichtete als sachlich falsch, verzerrt, halbwahr, missverständlich o.ä. kennzeichnet und durch die seiner Meinung nach korrekte Darstellung ersetzt. In einer zweiten Gruppe von Einsendungen kennzeichnet der Einsender den ursprünglichen Bericht zusätzlich als einen ehrenrührigen Angriff auf seine Person oder wählt zur Bezeichnung sprachliche Ausdrücke, die solche ehrenrührigen Angriffe implizieren: Lüge, Verleumdung, Denunziation, Pamphlet, Pasquill, Verdächtigung o.ä. Dazwischen liegen einige Zweifelsfalle. Nimmt man nur die klaren Fälle, so fällt auf, dass die Einsender, die das Berichtete zugleich als für ihre Person ehrenrührig kennzeichnen, dazu neigen, die öffentliche Stellungnahme ausdrücklich zu begründen, während diejenigen, die den Inhalt bestimmter Äuße-

227 rangen nur sachlich korrigieren, dies in der Regel ohne irgendwelche metakommunikativen Kommentare einfach tun. Wie ist dieser Unterschied zu erklären? Wäre nicht das Umgekehrte erwartbar? Hat nicht der, dessen öffentliche Ehre, die ja sogar rechtlichen Schutz genießt, böswillig angegriffen wird, mehr Grund und mehr Recht, sich öffentlich zu verteidigen, als der, der einen Sachverhalt richtig stellen will, der möglicherweise nur irrtümlich verfälscht wurde? Die Einsendungen im Frankfurter Journal wie auch einige der in 5.6.1.1 zitierten Textbeispiele vermitteln ein anderes Bild. Für die sachliche Richtigstellung von etwas, was öffentliche Personen getan oder gesagt haben, scheint das Interesse der Öffentlichkeit im Dienste der Wahrheit problemlos vorausgesetzt werden zu können, während die öffentliche Reaktion auf ehrenrührige Angriffe zwar gerechtfertigt werden kann, aber auch gerechtfertigt werden muss. (B) Der Grund für den Rechtfertigungszwang liegt darin, dass die öffentliche Reaktion auf ehrenrührige Angriffe primär im Interesse der angegriffenen Person liegt und somit das Gebot der Uneigennützigkeit (Norm 5.3.1) verletzt, das das Publikum davor schützt, mit Dingen behelligt zu werden, die kein öffentliches Interesse verdienen. 58 Die Wiederherstellung der persönlichen Ehre wird aber als höherwertiges Gut akzeptiert, das das Gebot der Uneigennützigkeit einschränkt und vom Erfordernis des höheren Zwecks dispensiert. Die Erwiderung auf persönliche Angriffe gilt also, obwohl die Aufmerksamkeit des Publikums für die Interessen der Person in Anspruch genommen wird, als erlaubte Notwehr. Gegenstand der Rechtfertigung sind dabei nicht bestimmte, von Normen abweichende Verhaltensweisen im Einzelnen, sondern die grundlegende Entscheidung, sich überhaupt öffentlich zu Wort zu melden. (C) Thematisiert wird die Norm überwiegend in Erklärungen über das eigene Verhalten, die ankündigend zu Beginn einer Entgegnung oder rückblickend auf die jeweilige Schrift oder auf frühere Stadien der Auseinandersetzung abgegeben werden. Es gibt einen Autor (Lampugnani 1994), der es ausdrücklich als Norm formuliert, nicht in eigener Sache auf Angriffe öffentlich zu reagieren. Am anderen Ende der Skala steht in dieser Hinsicht Voß (1782), der das Recht dazu fur selbstverständlich zu halten scheint, was sogar eine Rechtfertigung überflüssig machen würde. 59 Dass die Reaktion auf persönliche Angriffe der Rechtfertigung

58

59

Beleidigungen in einer öffentlichen Rezension bleiben nach Meinung Wilhelm Hauffs zunächst einmal Privatsache des Beleidigten: „Und wie schön ließen diese Leute sich in die Karten sehen! Also weil sie beleidigt sind - vielleicht mit Recht, - wollen sie wieder beleidigen, wollen ihre Privatsache zu einer öffentlichen machen!" (Hauff 1828/0. J., 5. Teil 263). - Auch Wunnicke (1991, 41) betrachtet das Recht, sich gegen persönliche Angriffe zu wehren, als ausnahmsweise erlaubte Wahrnehmung individueller Interessen: „Eine ,abgenöthigte' Verteidigung gilt nicht als Zeichen von Eigennutz." Voß verwendet eine Seite vor der zitierten Textstelle in einem anderen Zusammenhang den Begriff „rechtmässige Gegenwehr", ohne dass man voraussetzen dürfte, dass er jede Gegenwehr fur rechtmäßig hielte.

228 bedarf, und zwar stärker als sachliche Richtigstellungen (vgl. Punkt A), wird in einigen Textbeispielen metakommunikativ bestätigt: „grobe und giftige Verunglimpfungen" können eher unbeantwortet bleiben als Verletzungen der Wahrheit (Stolberg 1820); die Person kann „der Welt vollkommen gleichgültig sein", nicht aber die Reinheit der „Sache" (Holz 1909). Die metakommunikative Reflexion in den Textbeispielen kombiniert, wenn auch nicht in jedem Fall vollständig, die folgenden Elemente: Der Autor drückt aus, dass er (1) lieber schweigen würde/geschwiegen hätte, dass er aber (2) zur Entgegnung gezwungen sei - sie ist abgenötigt, aufgezwungen, notgedrungen. Zusätzlich findet man oft (3) einen Ausdruck des Bedauerns gegenüber dem Publikum, zumindest irgendeine Hinwendung zum Publikum. Der Ausdruck des Widerwillens, sich auf eine Entgegnung einzulassen, dient neben dem Beweis der Normtreue vor allem dazu, sich vor dem Publikum als jemand darzustellen, der sich seiner Ehrenhaftigkeit und seines guten Rufes so sicher ist und sein kann, dass er es eigentlich gar nicht nötig hat, sich gegen ehrverletzende Angriffe zu wehren (Stolberg 1820, Hoff 1839), zumal gegen Leute, die sich mit ihrem Angriff selbst unehrenhaft verhalten und einer Auseinandersetzung eigentlich - im Sinne der Norm 5.1.2 - nicht würdig sind. Auch gilt es, den Eindruck des getroffenen Hundes zu vermeiden. Es stellt sich dann allerdings immer die Aufgabe zu begründen, warum sich der Angegriffene trotz aller wortreichen Versicherungen, es nicht nötig zu haben, und trotz der Belästigung des Publikums mit unerfreulichen Privatgeschichten schließlich doch zu einer öffentlichen Entgegnung entschließt. Er kann es damit begründen, dass der Gegner oder das Publikum Schweigen zu Unrecht als Schwäche oder Schuldeingeständnis nimmt oder nehmen könnte (Krug 1822, Bartsch 1864, Fischer 1870), oder damit, dass das uneingeweihte große Publikum die wahren Verhältnisse nicht richtig einschätzen kann (Krug 1822, Hoff 1839). Er kann auch plausibel zu machen versuchen, dass die persönlichen Verunglimpfungen, genauer besehen, gar nicht nur persönliche sind (Holz 1909, Lampugnani 1994). Mehrfach im Korpus, nicht aber in den Textbeispielen belegt ist die Verschiebung der Verantwortung auf andere: Nur wegen des Drängens oder des dringlichen Rates der Freunde oder wegen nicht weiter spezifizierter Erwartungen der Öffentlichkeit hat sich der Angegriffene zu einer Erwiderung überreden lassen. 60

60

Vgl. in diesem Sinne z.B. Grimm 1854, LXVIII; Schenkel 1854, 3 u. 21; Holz 2 1909, 119.

229 5.6.2

Gleiches darf mit Gleichem vergolten werden

5.6.2.1

Textbeispiele

Agricola 1749 Ich könnte dem Herrn Kunstrichter hier gleiches mit gleichem vergelten. Ich hätte Gelegenheit dazu. Ich könnte, zum Exempel, noch von einer gewissen Schule her, etwas erzählen. (2)

Belach 1759 [...] denn in den Reichsgesetzen ist die Retorsion nicht verboten. (12)

Lessing 1778d/ 3 1897 Gleichwohl, Herr Hauptpastor, befurchten Sie von mir nur nicht, daß ich die Gränzen der Wiedervergeltung überschreiten werde. Ich werde diese Gränzen noch lange nicht berühren, wenn ich von Ihnen auch noch so höhnend, auch noch so verachtend, auch noch so wegwerfend schreibe. Sie können einen ungesitteten Gegner vielleicht an mir finden: aber sicherlich keinen unmoralischen. [...] Nur Ihre unmoralische Art zu disputiren, will ich in ihr möglichstes Licht zu setzen suchen, sollte es auch nicht anders, als auf die ungesittetste Weise geschehen können. (XIII, 153)

Anonymus 1821c/1987 Mit diesen zwei Punkten ist jeder angeführte Tadel erledigt, und indem wir die Unwissenheit und Verdrehung auf sich beruhen lassen wollen, können wir dieses nicht zweckmäßiger thun, als daß wir den Herrn C.S. in seinen eigenen Ausdrücken: „Dilettant und in der Alterthumswissenschaft völlig Unkundigen" - überhüpfen, damit auch die Bosheit wieder zurückkehre, von wannen sie nach Art der Winde gekommen, ohne daß jemand weiß, woher und wohin; damit sie am eigenen Gift ersterbe! (I, 524)

Wihl 1839/1964 Liebte ich, wie der Buchhändler sagt, die Zuträgereien, so würde es mir ein leichtes sein, Hrn. Heine Gleiches mit Gleichem zu vergelten ... Doch ich will mich nicht so wie Hr. Heine, durch unerlaubte Mitteilung von Privatansichten, entwürdigen. (X, 335)

Hoff 1839/1977 Und was kümmert es Herrn Gutzkow oder das, was er die Literatur nennt, wenn ich nach dem Injurien-Retorsions-Recht Jemanden injuriire, der mich zuvor injuriirt hat. (19) Ursprünglich Conditor? Mein Vater war Conditor und ein Ehrenmann. Ich bin Buchhändler seit meinem fünfzehnten Jahre, das weiß Gutzkow sehr wohl, er kennt mich ja, er glaubt also, mit dem Conditor mich ein bischen lächerlich machen zu können. Armseliger, ein guter Conditor und ein Ehrenmann ist mehr werth als ein Schriftsteller zu sein, der sein Talent vergeudet und mißbraucht, und von zweideutigem Charakter ist. Du hast dich freilich deines Vaters schon einmal geschämt, und ihn verläugnet. Als du hier in Untersuchung warst und das Hofgericht der Form wegen nach deinem Vater fragte, gabst du an: er sei Staatsdiener in Berlin. Man erkundigte sich und erfuhr, Hr. Gutzkow in Berlin sei Kanzleidiener beim Kriegsministerium. Ein Kanzleidiener kann auch ein Ehrenmann sein und seine

230 Söhne können Minister werden, aber ein Staatsdiener nach dem bekannten Sinne des Wortes ist er nicht. (46) Da Gutzkow in seiner Bosheit sich auf verläumderische Weise bemüht hat, sogar meinem Kredit als Kaufmann Schaden zu wollen, so wird es mir niemand verargen, wenn ich, um ihn dafür zu strafen, nachstehende wahrheitsgetreue Notizen über den Absatz seiner Bücher und seine wahre Geltung in der Literatur und im Buchhandel mittheile. (65) Vogt 1855/1971 Man möge sich hieraus den Ton erklären, in welchem die vorstehenden Blätter geschrieben sind. Ich habe bis jetzt noch immer dem Grundsatz gehuldigt: „Auf groben Klotz ein grober Keil, / Auf einen Schelmen anderthalbe!" (565) Kerr 1932/1961 Das Andeuten von scharf nationalistischem Untergrund seiner Anstalt nennt er „böswillige Verzerrung". Dieser Pädagog weiß sich nicht anders zu helfen, als daß er wieder folgende Unwahrheit sagt: mir „liege das Vaterländische fern". Das ist ... nicht eine „böswillige Verzerrung", sondern: eine schwindelhafte Behauptung. Nach deutschem Gesetz kann ein, wenn auch noch so intelligenzarmer, Beleidigungsversuch auf der Stelle straflos erwidert werden. Da muß man schon dem Pflug zeigen, was eine Harke ist. (377) Reich-Ranicki 1962/1993 Da Frau Matthias in diesen Erinnerungen weder auf Tote noch auf Lebende Rücksicht nimmt, ist wohl auch mir eine sehr deutliche Sprache erlaubt. (44) Habel 1993 Was Jäger hier ausdrückt, scheint - (vielleicht über-) pointiert formuliert - das folgende zu sein: Die Sprachwissenschaftler - who ever that may be - bestimmen, wie über den Erkenntnisgegenstand zu forschen ist; wenn andere Disziplinen sich ebenfalls diesem Forschungsbereich widmen wollen, haben sie sich dem von der besitzenden Klasse, den Sprachwissenschaftlern, akzeptierten Methoden anzupassen. [Anm. zu besitzenden Klasse] Ich entschuldige mich hiermit gleich bei Ludwig Jäger für das erfolgte Revanche-Foul; „die internationale naturwissenschaftliche Forschung", die sich „des Geistes und der Sprache [...] bemächtigt", hat für mich einen unangenehmen Anklang an das internationale Kapital oder ähnliche Formulierungen. (265)

5.6.2.2

Kommentar

(A) In der Kontroverse zwischen Gutzkow und dem Mannheimer Buchhändler H o f f 1839 spielt die Norm 5.6.2 verschiedentlich eine Rolle, auch wenn sie nur im ersten Zitat ausdrücklich angesprochen wird, w o Hoff sein von Gutzkow kritisiertes Verhalten gegenüber dem Schriftsteller Jerrmann als erlaubte Wiedervergeltung rechtfertigt. Im dritten Zitat ist die Norm nicht genannt; der Normbezug der Äußerung dürfte dem Publikum aber deutlich gewesen sein. Hoff bemüht ja nicht nur eine Retourkutsche, sondern sagt, dass er es tut, verbunden mit der Erwartung dass die polemische Instanz die implizite Begründung anerkennen

231 wird („so wird es mir niemand verargen"). Die Gleichartigkeit von Angriff und Gegenangriff besteht darin, dass beide Äußerungen die finanzielle Situation der Streitgegner betreffen. Hintergrund für das mittlere Zitat ist die diskreditierend gemeinte, jedenfalls von Hoff so aufgefasste Bemerkung Gutzkows, Hoff sei „ursprünglich ein Conditor" gewesen. Dieser behauptet im Gegenzug, dass Gutzkow sich zu einem früheren Zeitpunkt seines Vaters geschämt habe. Auf den ersten Blick scheint kaum ein Zusammenhang zwischen den beiden Aussagen zu bestehen, doch stellt Hoff um einige Ecken eine Beziehung her, um die Gegenattacke als Anwendung der Norm 5.6.2 akzeptabel zu machen. Wie kommt er von Α nach B? Hoff weist zunächst die Behauptung, er sei urprünglich Konditor gewesen, zurück und kommt im nächsten Schritt auf seinen Vater zu sprechen, der in der Tat „ein guter Conditor", aber auch „ein Ehrenmann" gewesen sei, weshalb er sich seines Vaters nicht zu schämen brauche. Und damit hat er den Punkt erreicht, von dem aus sich Vergleichbarkeit herstellen lässt. Im Unterschied zu ihm selbst, so stiftet Hoff die Beziehung, schäme sich Gutzkow seines Vaters, und belegt diese Behauptung mit einer Episode aus einer früheren Gerichtsverhandlung. (B) Das schützenswerte Gut, das als höherwertig ins Feld gefuhrt wird, um Abweichungen von kommunikativen Normen zu rechtfertigen, ist bei diesem Rechtfertigungsgrund die Idee der Gerechtigkeit in einer Ausprägung, die in unserer Kultur seit Jahrhunderten auf verschiedenen Ebenen fest verankert ist. In der Religion begegnet die Norm - mit einer sehr strikten Auslegung des Begriffs der Gleichheit - im Alten Testament: „Auge um Auge, Zahn um Zahn" (nicht Auge um Zahn oder Zahn um Auge). Allerdings steht dieses Prinzip in Konflikt mit dem neutestamentarischen Gebot der Nächstenliebe, das erfordert, „Böses nicht mit Bösem oder Scheltwort mit Scheltwort" (1. Petrusbrief 3,9) zu vergelten. Die Bergpredigt mutet uns sogar zu, in solchen Fällen „den anderen Backen darzubieten" (Matth. V, 39). Auf der juristischen Ebene existiert das Prinzip spätestens seit römischen Zeiten im „ius talionis", dem Retorsions- oder Wiedervergeltungsrecht, das sich bis heute in sich verändernden Formen durch die Jahrhunderte zieht. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts weisen die juristischen Regelungen eine ähnlich enge Auslegung des Begriffs der Gleichheit wie im Alten Testament auf, 61 was auch die „Retorsion" bestimmt das Zedlersche Lexikon (Bd. 3 1 ( 1 7 4 2 ) , 848) als „die abgedrungene Ehren-Rettung, die Heimschiebung, Zurückgebung der Schmäh=Worte, die Wiederscheltung, Gegenschimpffung, oder eine Defension und Vertheidigung [...], wodurch ein Geschmäheter dem Schmäher die ausgestossenen Schmäh=Worte wieder in seinen Busen zurück schiebet, oder in den Hals, daraus sie gefahren und ausgespien worden, einzuschlucken, anheim giebet." Im Artikel „Retorsionsformel" (ebd. 849) wird ausdrücklich gesagt, die juristisch zulässige Retorsion dürfe „anders nicht, als mit eben den Worten und Redens-Arten, die der Injuriante gegen den Geschmäheten gebrauchet, geschehen; z.E. wenn ihn jener einen Dieb, Betrüger und Lügner geheissen, er solchen wieder einen Dieb, Betrüger und Lügner schilt u.dg." Zur rechtmäßigen Retorsion im einzelnen äußert sich der Artikel „Wiedervergeltungs-Recht" (Bd. 55 [1748], 2332-2336).

232 juristische Rechtfertigung in Konflikt mit dem neutestamentarischen Gebot bringen konnte. 62 Noch heute ist das Prinzip juristisch in verschiedenen Zusammenhängen wirksam. Gleichheit wird aber nicht mehr als Identität verstanden; es genügt Gleichheit der Art oder auch nur Äquivalenz. 63 In der gegenwärtigen Rechtsprechung besteht, wie Seibert (1992) zeigt, sogar eine Tendenz, in der öffentlichen Kommunikation unter Umständen Gegenschläge zu dulden, die stärker sind als die Schläge, auf die sie reagieren. Die Begründung dafür liegt in der Einschätzung, dass in der massenmedialen Kommunikation rein sachliche oder zurückhaltende Reaktionen auf Angriffe zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung nicht ausreichen, weil sie beim Leser oder schon bei den Journalisten nicht genügend Aufmerksamkeit erregen. Auch auf der Ebene alltagsweltlicher Vorstellungen koexistieren engere und weitere Deutungen. Die enge wird in der Praxis der Kinder realisiert, Beleidigungen anderer auf höchst ökonomische Weise mit dem Wort „Selber" zu parieren (dazu auch Musil [1931] 1978, 529). Die Erkenntnis, dass dies nicht eben eine intellektuelle Glanzleistung ist, liefern die Kinder allerdings gleich mit, denn: „Selber, selber, rufen alle Kälber." Typischerweise gilt heute ein weiter Begriff von Gleichheit. Sprichwörter und Redensarten wie „Wie du mir, so ich dir", „Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus", „Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil" setzen nicht einmal unbedingt Gleichartigkeit voraus. Das Erfordernis der Gleichheit kann sich bis zur ausgleichenden Gerechtigkeit verflüchtigen, derzufolge es nur gerecht ist, wenn der, der anderen Böses tut, selbst zu leiden hat. Das Nebeneinander von strikteren und weniger strikten Interpretationen des Begriffs der Gleicheit bedingt eine erhebliche Variation im Umgang mit dem Rechtfertigungsgrund. Wie bei allen Rechtfertigungsgründen setzt das Wiedervergeltungsrecht nicht alle Normen außer Kraft. Faktisch am häufigsten werden Abweichungen von der Norm 5.4.4 (Mache keine Äusserungen, die geeignet sind, die Person des Gegners zu diskreditieren), also Akte des Persönlichwerdens, gerechtfertigt. Belegt oder denkbar sind auch Rechtfertigungen für Verletzungen von 5.2.1 (Streite nicht um Nichtigkeiten), 5.4.5 (Mache keine Äußerungen, die vertraulich gegebene Informationen enthalten) oder 5.5.1 (Verzichte auf Elemente des Schimpfstils). Eher unwahrscheinlich oder unmöglich dürfte es sein, eine zurückgegebene 62

63

Zumindest hinsichtlich des polemischen Mittels des Persönlichwerdens befindet der Verfasser des Artikels „Personalien tractiren" im Zedlerschen Lexikon: „Ob es aber erlaubet sey, Personalien sodann wieder zu tractiren, wenn man bereits von dem andern mit Personalien ist angetastet worden? ist zwar eine andere Frage, muß aber auch mit Nein beantwortet werden. Denn, wenn man gleich vor der Welt sich justificiren zu können, es den Schein hat, so behält man doch vor Gott ein böses Gewissen. Es heißt: Man soll nicht Böses mit Bösem, noch Scheltworte mit Scheltworten vergelten" (Bd. 27 [1741], 675). Nach § 199 StGB („Wechselseitig begangene Beleidigungen") kann der zurückgebende Beleidiger vom Richter für straffrei erklärt werden, ohne dass im Gesetzestext oder in den Kommentaren irgendwelche Bedingungen hinsichtlich Form oder Inhalt der zurückgegebenen Beleidigung angegeben wären.

233 Lüge (5.4.3) oder eine zurückgegebene Verfälschung des Gegnerstandpunktes (5.4.2) als Wiedervergeltung rechtfertigen zu wollen. (C) Die Berufung auf diesen Rechtfertigungsgrund ist ungemein häufig, allerdings nach Lage der Dinge wie 5.6.1 beschränkt auf reaktive Polemiken, da ich nur etwas vergelten kann, was mir zuvor zugefügt wurde. Unter den Äußerungstypen herrscht der Fall vor, dass der Polemiker unprovoziert, aber mögliche Kritik antizipierend, den Rechtfertigungsgrund in Anspruch nimmt, um ein sonst problematisches Verhalten zu legitimieren (Belach 1759, Lessing 1778d, Hoff 1839, 65, Vogt 1855, Kerr 1932, Reich-Ranicki 1962). Zwei Autoren (Agricola 1749, Wihl 1839) wählen die Figur der Praeteritio, indem sie großmütig darauf verzichten, ihr Recht in Anspruch zu nehmen, es sich aber nicht nehmen lassen, wenigstens dunkel anzudeuten, dass es über den Gegner mancherlei zu erzählen gäbe. Hoff (1839,19) verteidigt sich mit der Norm gegen einen vorherigen Vorwurf Gutzkows. Eine Besonderheit der Norm 5.6.2 ist ihre große Nähe zu den juristischen Regelungen. Schreiber, die den Rechtfertigungsgrund bemühen, beziehen sich häufig ausdrücklich auf ein juristisch gegebenes Recht, während die Gültigkeit der anderen Normen und Rechtfertigungsgründe meist ohne weitere Begründung als Bestandteil des gemeinsamen Wissens unterstellt wird. Bezüge auf den religiösen Kontext enthalten die metakommunikativen Quellen dagegen nicht. Das dürfte darin seine Erklärung finden, dass man sich zur Rechtfertigung nur auf das Alte Testament berufen könnte und durch Verweis auf das Neue Testament schnell ins Hintertreffen geriete. Deutlich wird in den Textbeispielen die recht unterschiedliche Auslegung des Erfordernisses der Gleichheit: Belach (1759) benutzt den Hinweis auf die Reichsgesetze zur rechtfertigenden Begründung eines Gegenangriffs auf seinen Erlanger Gegner, der von Belach behauptet hatte, er halte sich Tag und Nacht in einem Weinhause auf, um „seine Satyrischen Aufsätze in den Weinschencken zur Vollkommenheit zu bringen" (zit. in: Belach 1759, 27). Belach, der sich ausdrücklich darauf beruft, dass die Retorsion juristisch („in den Reichsgesetzen", 12) nicht verboten sei, hatte zunächst mit einer wörtlichen Gegenschimpfung im strikten Sinne reagiert (11), schiebt aber später eine Personalie des Inhalts nach, daß ich wenigstens noch wegen keiner Weinschuld in den öffentlichen Zeitungen bin erinnert worden, wie der Erlanger wegen einer Schneidersschuld. Erinnern Sie sich noch wohl, wie Sie damals von dem löbl. Schneider-Gewerk angeredet wurden: „Du hungriger Poet, was schimpfest du die Schneider / Ich rathe dir, zuvor bezahle deine Kleider" (27).

Das sind nicht nur nicht die gleichen Ausdrücke, wie es das Zedlersche Lexikon verlangt, sondern nicht einmal die gleichen Sachverhalte. Der Umgang mit dem Prinzip ist nichtsdestotrotz typisch. Der Schreiber versucht, wie später Hoff, um verschiedene Ecken wenigstens einen engen Zusammenhang zu suggerieren. Vom Ausgangspunkt, der ihm unterstellten Gewohnheit, in Weinschenken zu verkehren und zu arbeiten (und der Konsequenzen, die das haben dürfte), kommt

234 er in einem Zwischenschritt zu einer in diesem Zusammenhang denkbaren, ihm aber nicht angelasteten „Weinschuld" und von dieser schließlich zu der faktisch gegebenen Schuld des Gegners in Gestalt einer unbezahlten Schneiderrechnung. Lessing (1778) kündigt bzw. droht seinem Gegner Goeze im ersten Zitat Wiedervergeltung an, was er als allgemein bekanntes und deshalb für den Kontrahenten erwartbares Verfahren bezeichnet. Im zweiten Zitat stellt er sich als jemand dar, der willens ist, sich an die Regeln rechtmäßiger Retorsion zu halten, ohne dass in diesem Fall erkennbar wäre, wie eng oder weit er den Begriff der Gleichheit fasst.64 Der Anonymus von 1821 vollzieht die strenge Form der Retorsion mit Hilfe der gleichen Ausdrücke. Auch Kerr (1932), der sich ebenfalls auf das gesetzlich verbriefte Recht beruft, gibt den mit „böswillige Verzerrung" gestarteten Beleidigungsversuch relativ eng benachbart durch „schwindelhafte Behauptung" zurück, während Vogt (1855) Beispiel für die sich zur Gegenwart hin durchsetzenden unspezifischen Formen der Wiedervergeltung ist, für die es kaum noch formale Beschränkungen gibt, solange Verhältnismäßigkeit gewahrt bleibt. Er rechtfertigt seinen eigenen „Ton" als „groben Klotz" auf den groben Keil der im ersten Zitat hervorgehobenen Ausdrücke des Gegners. (D) In historischer Perspektive betrachtet, besteht eine Tendenz von einem engeren zu einem weiteren Verständnis von „Gleichheit". Zwar war die Identität der Gegenmaßnahmen, wie sie von den juristischen Regelungen verlangt wurde, zu keiner Zeit in den polemischen Texten wirklich gewahrt, weshalb die Kontrahenten sich ja auch nicht selten vor dem Kadi wieder trafen. Im 18. und 19. Jahrhundert sieht man aber deutlich, dass die Autoren sich an einem engeren Verständnis orientieren und sich Mühe geben, ihre Retorsion, auch wenn sie sie faktisch überdehnen, als mit den juristischen Regeln in Übereinstimmung befindlich erscheinen zu lassen wollen, während heutige Schreiber beim Publikum gleich ein weites Verständnis voraussetzen. Ein Sonderfall ist Habel (1993), der auf die mögliche Rechtfertigung seines Revanche-Fouls verzichtet und sich stattdessen bei seinem Gegner ausdrücklich entschuldigt. Habel ist allerdings ein Autor, der sich in der polemischen Auseinandersetzung zwischen Jäger und Vertretern der „Chomsky-Theorie" zu Wort meldet, selbst aber ausdrücklich keine polemischen Intentionen verfolgt, sondern die einäugig verzerrten Wahrnehmungen der Streitgegner als unparteiisch an der Wahrheit Interesssierter zurechtrücken will. Solche Versicherungen sind zwar nachgerade typisch für die positive Selbstdarstellung polemischer Autoren; in diesem Text aber entspricht die Absichtserklärung dem kommunikativen Verhalten. Vor dem Hintergrund seiner Selbstdefinition entschuldigt er sich mit Grund 64

Zuvor hatte er gegenüber Goeze schon einmal vage und in einem weiten Sinne die Wiedervergeltung angesprochen: „Lieber Herr Pastor, ich wünschte sehr, diese Zumuthung wäre nicht gedruckt an mich ergangen. Es ist eine wahre Kanzelzumuthung: und Sie wissen wohl, wie man einer dergleichen Zumuthung begegnet. Ebenfalls durch eine Zumuthung" (Lessing 1778c/ 3 1897, XIII, 108).

235 für das Revanche-Foul, weil es - auch wenn es in einer Polemik erlaubt sein mag zur Realisierung des von ihm angegebenen Ziels unparteiischer Vermittlung nichts beiträgt.

5.6.3

Gefahr für das Gemeinwesen darf abgewehrt werden

5.6.3.1

Textbeispiele

Börne 1836-1837/1964 Hier aber muß ich ausdrücklich bemerken, daß ich als etwas Unedles, ja Gemeines, weit von mir abweisen würde, meine vorteilhafte freie Stelle dem Herrn Menzel gegenüber zu benutzen, wenn es sich bei ihm und bei mir nur um etwas Persönliches handelte. [...] Ich weiß, daß Herr Menzel nicht die Freiheit hat, die ich genieße, Grundsätze und Meinungen, die er bekämpfen möchte, sich in ihrer ganzen Breite ausdehnen zu lassen. Aber es handelt sich hier um nichts Persönliches, es betrifft die große Angelegenheit eines ganzen Volkes, und da wäre großmütige Zurückhaltung unzeitig, ja frevelhaft. (III, 894)

Anonymus 1837/1972 Einverstanden mit dem Grundsatz, daß jedes schlechte Treiben schonungslos bekämpft werden müsse, wollen wir deshalb nicht rügen, daß die noch immer fortgesetzte Menzelsche Verfolgung der schon höherer Gewalt Unterlegenen nicht sehr ritterlich und edel mehr erscheint; [...]. (II, 661)

Wagner, zit. in: Vogt 1855/1971 Da man leider eine Begegnung mit derselben [d.i. der Lüge und der Frivolität] nicht ganz vermeiden kann, und die Meute solcher Gesellen, denen eine Menge Blätter als Tummelplatz dienen, nicht gering ist, wenn sie auch öfters aus Furcht äußerlich zahm erscheinen, so ist man doch zuweilen genötigt, zu Peitschenhieben zu greifen, um sich reine Bahn zu verschaffen. Man darf es nicht immer hingehen lassen, wenn dies frivole Gesindel die Nation um die teuersten von unseren Vätern ererbten Güter betrügen will und schamlos aus dem gärenden Inhalte seiner Eingeweide den stinkenden Atem dem Volke entgegenbläst und diesem weismachen will, es sei eitel Wohlgeruch. (564)

v. Hartmann 1898 Deshalb scheint es mir eine Pflicht gegen die deutsche Jugend, solche Zeitverirrungen nicht so zu ignorieren, wie sie es ihrem Gehalt nach verdienen, sondern ihnen die gleissende, blendende Maske abzureissen, um sie in ihrer hässlichen Nacktheit blosszustellen. (69)

Bartels 1908 Wie nicht anders zu erwarten, hat sich bei mir im verflossenen Jahr noch allerlei Heine-BuchMaterial angesammelt, im besonderen liegen einige verspätete Äußerungen von „Männern der Wissenschaft" zu meinem Buche und zu meiner Person vor, über die ich nicht stillschweigend hinweggehen kann. Besonderes Vergnügen macht mir das Herumstreiten selbstverständlich längst nicht mehr, aber ich halte es für meine Pflicht, auf dem Posten stehen zu bleiben, den ich einmal eingenommen habe, bis der Kampf, den wir nationalen Deutschen erst nach schwerer Reizung aufgenommen haben, so oder so entschieden ist. (131)

236 Maync, zit. in Bartels 1908 Es tut uns leid, einen überzeugten und verdienten Mann, dessen freilich unliebenswürdige Persönlichkeit doch ehrliche Achtung abnötigt, vielfach so schroff ablehnen zu müssen, aber gerade die Anerkennung, die B. in weiten Kreisen genießt, und die Unfehlbarkeit, mit der er auftritt, zwingt, auf das, was die Lektüre dieses Werkes zu einer Gefahr machen kann, nachdrücklich hinzuweisen. (159)

Kerr 191 lb/1961 Ich muß etwas einfügen. Zutreffend in gewissem Grade wird betont: man soll einen politischen Gegner stürzen, indem man seine Politik angreift. Ja: in konstitutionellen Staaten. Aber bei uns? Wir greifen ja die Politik immerfort an, und es ändert sich nichts. Hier nun hat ein mit großem Recht weggewünschter Polizisten-Politiker endlich sein Amt in einen persönlichen Mißgriff hineingezogen; er hat etwas getan, was nach dem herrschenden Komment unmöglich ist: und ich soll gottesfürchtig den Moment vorbeilassen? Der Nächste (sagt man), der kommt, wird nicht besser sein? Schlechter bestimmt nicht. Das System soll man treffen? In der Person ist das System getroffen: wenn erwiesen wird, wie ahnungslos bei uns die Person auf den Posten gestellt wird. Da liegt der Hund. (363)

Broder 1991 Versteht man die Feststellung des Ströbele-Anwalts richtig, wenn man sie dahingehend interpretiert, es habe ein Gespräch unter vier Ohren stattgefunden, bei dem Ströbele sich darauf verlassen habe, sein Gesprächspartner werde den Inhalt für sich behalten? „Bei antisemitischen Äußerungen gibt es keinen Schutz der Vertraulichkeit", sagt Christian Vogt-Moykopf, „schon gar nicht, wenn es sich um Äußerungen von Politikern handelt, die sonst immer Öffentlichkeit herstellen wollen." (261)

Biermann 1991 Zunächst aber war wieder mal der Überbringer der schlechten Nachricht prophylaktisch geschlachtet worden: böser, böser Biermann. [...] Dabei hätten sie wissen können, daß ich nicht leichtfertig einen Menschen verdächtige. Und sie hätten merken müssen, daß da eine Gefahr gebannt werden muß, die größer ist, als es die Schande eines einzelnen Menschen je sein kann. Uns alle bedroht ja die konsequente Verdrängung einer Vergangenheit, die wir noch schmerzhaft vor uns haben. (73)

Bastian 1993 Ich bin auch nicht der Meinung, daß solche Vermutungen nach dem Motto „De mortuis nil nisi bene" gar nicht geäußert werden dürften. Pietät findet ihre Grenzen, wo es ein berechtigtes öffentliches Interesse an der Aufklärung eines möglichen Mordfalles gibt - soweit bin ich mit Alice Schwarzer völlig d'accord. (80)

5.6.3.2

Kommentar

(A) Noch nach dem Edikt des Deutschen Bundestages gegen das Junge Deutschland im Jahre 1835 glaubte Wolfgang Menzel, in Börne einen literaturpolitischen Bundesgenossen gegen Heine und die Jungdeutschen zu haben bzw. gewinnen zu können, eine Hoffnung, die sich erst nach Erscheinen von Börnes polemischem Aufsatz La Gallophobie de M. Menzel in der neugegründeten Zeitschrift La Ba-

237 lance im Januar 1836 zerschlug. Menzel antwortet im April des gleichen Jahres mit Herr Börne und der deutsche Patriotismus, wogegen Börne um die Jahreswende 1836/37 seine Schrift Menzel der Franzosenfresser setzt, die als politische Denkschrift zum Verhältnis von Deutschland und Frankreich und zu den Fragen von Freiheit und Nationalismus in Inhalt und Bedeutung die Kontroverse zwischen den Personen allerdings übersteigt. Es blieb die letzte Veröffentlichung Börnes; er starb im Februar 1837. Im „Franzosenfresser" zitiert Börne (892f.) einige Seiten aus Menzels Deutscher Literaturgeschichte, in der dieser sich mit einer früheren Beschreibung und Bewertung der Lage Deutschlands durch Börne auseinandergesetzt hatte. Börne nimmt sich nun diese „Klatschrosenpredigt" und das „Polizei-Eiapopaia" Menzels seinerseits vor, schiebt aber mit dem Textbeispiel vor dem Hintergrund der Norm 5.1.3, die das Gebot enthält, die Gleichheit der Waffen zu beachten, einen metakommunikativen Kommentar ein, in dem er die ausnahmsweise Abweichung von dieser Norm mit dem Argument rechtfertigt, dass in der „großen Angelegenheit eines ganzen Volkes" eine „großmütige Zurückhaltung" der Person Menzel gegenüber frevelhaft wäre (894). (B) Diese Rechtfertigung, die nicht sehr häufig, aber häufig genug auftritt, um ergänzend aufgenommen zu werden, hat nicht wie die bisherigen höhere Rechte des polemischen Subjekts zur Grundlage, sondern das Interesse der Allgemeinheit am Schutz vor gefährlichen Umtrieben bzw. an der Aufklärung über sie. Das schutzwürdige Gut kann im einzelnen wechseln. Gefahr für das Gemeinwesen ist dafür, vergleichbar den höheren Zwecken in 5.3.1, ein Sammelbegriff, der auch den Schutz gesellschaftlicher Teilbereiche unterhalb der Ebene von Volk/Nation/ Staat/Gesellschaft umfasst. Zugleich können im Prinzip übernationale Einheiten bis hin zur gesamten Menschheit rechtfertigend ins Spiel gebracht werden. Gemeinsam ist allen Berufungen auf diesen Rechtfertigungsgrund die geäußerte oder stillschweigend vorausgesetzte Auffassung, dass der gute Zweck (Schutz der Allgemeinheit) die schlechten Mittel (Abweichungen von akzeptierten kommunikativen Normen in der Auseinandersetzung mit dem Gegner) heiligen könne. (C) Nach Lage der Dinge handelt es sich um Rechtfertigungen, die von den Schreibern in der Mehrzahl unprovoziert vorgebracht werden. Nur Kerr (191 lb), Broder (1991) bzw.Vogt-Moykopf und Biermann (1991) verteidigen sich gegen vorangegangene Kritik. Gelegentlich, so im Falle des Anon. (1837), ließe sich argumentieren, dass es eher um die Zubilligung mildender Umstände als um Rechtfertigungen gehe. Im Allgemeinen gilt in dieser Hinsicht, dass ein Handeln, das gerechtfertigt werden kann, vom Handelnden nicht gerechtfertigt werden muss. Er kann auch vorziehen, das Publikum um Verständnis bzw. um Zubilligung mildernder Umstände zu bitten. Nur in der Umkehrung ist die Möglichkeit der Wahl beschränkt, denn es ist wesentlich mehr entschuldbar als rechtfertigbar. Die schutzwürdige gesellschaftliche Einheit ist in den Textbeispielen unterschiedlich groß. In der Mehrzahl ist es eine nationale Gesellschaft, die „Angelegenheit eines ganzen Volkes" (Börne 1836-1837), „die Nation" (Wagner 1855),

238 „das System" (Kerr 1911b). Auch der Anonymus (1837), Broder (1991), Biermann (1991) und Bastian (1993) dürften diese Einheit im Sinn haben. Es gibt aber Ausnahmen. So rechtfertigt v. Hartmann sein Verhalten mit der Pflicht, „die deutsche Jugend" zu schützen (was sekundär sicherlich für die gesamte Nation bedeutsam ist). Bei Bartels ist es der Kampf, den „wir nationalen Deutschen" führen; entsprechend eingeschränkt ist die Gefahr, die Maync von Bartels Schriften ausgehen sieht. Immer gilt, was Biermann ausdrücklich sagt: Wenn ein größeres Ganzes in Gefahr ist, kann es gerechtfertigt sein, Schaden für einzelne Menschen in Kauf zu nehmen. Auch die Normen, deren Verletzungen gerechtfertigt werden, variieren in den Beispieltexten. Bei Börne (1836-1837) ist die Norm 5.1.3 (Streite nicht gegen einen Wehrlosen oder schon Geschlagenen), und zwar das Gebot, die Gleichheit der Waffen zu beachten, in Mitleidenschaft gezogen. Benachbart ist die Rechtfertigung Menzels durch den Anonymus (1837), der darauf verzichtet, die Verfolgung des - durch das staatliche Verbot der jungdeutschen Schriften - schon geschlagenen Gegners zu rügen. Wagner (in: Vogt 1855) rechtfertigt seine „Peitschenhiebe", die je nachdem, wie man das Wort deutet, mit den Normen 5.3.2 und 5.4.4 (Diskreditierung des Gegners) und/oder mit 5.5.1 (Schimpfstil) in Konflikt stehen. Bezugspunkt für v. Hartmann (1898) ist die Norm 5.2.1 (Streite nicht um Nichtigkeiten). Maync (in: Bartels 1908) drückt, ohne eine spezielle Regelabweichung zu thematisieren, Bedauern über seine schroff ablehnende Kritik der Literaturgeschichte von Bartels aus. Kerr rechtfertigt seinen von Kraus heftig kritisierten persönlichen Angriff auf den Polizeipräsidenten (Norm 5.3.2 bzw. 5.4.4) damit, dass unter den repressiven Bedingungen des politischen Systems die kritische Auseinandersetzung mit der Politik des Gegners in aller Regel wirkungslos bliebe. Räumt man der kritischen Korrektur durch Beeinflussung der öffentlichen Meinung Priorität ein, so wird der Angriff auf die Person also aus der Sicht der Kerrschen Argumentation in bestimmten politischen Systemen akzeptabel. In den abschließenden Sätzen Kerrs steckt freilich eine weiter gehende Argumentation, insofern als mit dem Anspruch, in der Person (und mit dem Persönlichen) das System zu treffen, die Unterscheidung von Sache und Person überhaupt fragwürdig wird. Broder (1991) rechtfertigt den Vertrauensbruch (Norm 5.4.5), den VogtMoykopf sich gegenüber Ströbele hat zu Schulden kommen lassen, mit dem antisemitischen Inhalt der Äußerungen Ströbeles. Bastian (1993) schließlich rechtfertigt einen Verstoß gegen das Gebot „De mortuis nil nisi bene", das aber in der polemischen Metakommunikation (siehe Kapitel 5.1.3) kaum wirksam ist. (D) Das erste Textbeispiel von Börne stammt aus dem dritten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts. Das könnte ein Indiz dafür sein, dass die Berufung auf diesen Rechtfertigungsgrund historisch eingeschränkt ist, was in den sich verändernden Funktionen der öffentlichen Diskussion in den Printmedien eine Erklärung finden könnte. Doch möchte ich darüber nicht spekulieren.. Sicher ist, dass das Untersuchungsmaterial in diesem Fall keine überzeugenden Beispiele für das 18. und das frühe 19. Jahrhundert enthält.

239 5.6.4

[?] Ein Ehrloser darf als Ehrloser behandelt werden

5.6.4.1

Textbeispiele

Lichtenberg 1 7 7 6 / 3 1 9 9 4 Nachstehender Brief ward eigentlich von dem Verfasser nicht zum Druck bestimmt, sondern sollte auf der Post dem Manne zugeschickt werden, an den er hauptsächlich gerichtet ist. [...] Da aber der Göbharde, zum großen Nachteil der Schriftsteller sowohl als der ehrlichen Buchhändler, mehr sind, als man glauben sollte, und dieser Brief einige derbe Wahrheiten gerade in dem Ton gesagt enthält, den dieses Gesindel allein versteht, das übrigens als vogelfrei fur die Schriftsteller keiner Achtung und Schonung wert ist: so glaubt der Herausgeber weder den Unwillen des Verfassers noch den Undank des Publikums zu verdienen, wenn er ihn auf diese Art nicht an Einen Göbhard, sondern an alle gelangen läßt. (III, 237) R i n d s k o p f 1848 Wer mit der Ehre unbescholtener Männer ein freches Spiel treibt, kann für sich selbst auf Ehre keinen Anspruch machen! S c h o p e n h a u e r 1851 Denn offenbar kann auf irgendwelche persönliche Achtung jeder doch nur insofern Anspruch haben, als er sehen läßt, wer er sei. Damit man wisse, wen man vor sich habe; nicht aber, wer verkappt und vermummt einherschleicht und sich dabei unnütz macht: vielmehr ist ein solcher ipso facto [jedenfalls] 65 vogelfrei [...] und jedem steht es frei zu erklären, daß Mr. Nobody ein Schuft sei. (603f.) Z a r n c k e 1853/1980 [...] wenn er [Wurm] zum Ziele seiner Naseweisheit einen in thätigster Liebe und ununterbrochenen Verdiensten für sein Vaterland ergrauten, und von allen Mitlebenden mit seltener Pietät verehrten Mann nimmt, ohne ein Gefühl von der ihm diesen gegenüber gebührenden Stellung zu verrathen, den haben wir ein Recht, aus der Reihe ehrenhafter Männer zu streichen. (193) Harden 1903/81973 Er [Sudermann] klagt über die „Verseuchung unserer Theaterfeuilletons" mit Hohn und Verachtung. Hohn und Verachtung sind aber, wie ihm zunächst hier gesagt sei, gute, literarisch ehrliche, vom Kriegsrecht der kultiviertesten Völker anerkannte Waffen des Kritikers. Weil ein Schriftsteller mit diesen Waffen ficht, ist er nicht etwa schon von vornherein zu verdammen. Wichtig ist nur die Frage, ob der Gegenstand, das Werk, die bekämpfte Person so beschaffen ist, daß man ihr mit Verachtung und Hohn an den Leib rücken dürfte. [...] Nicht eine Sekunde weilt er vor der Frage, ob Hohn und Verachtung nicht das dem Kritisierten Gebührende war, und ob der Leistung des Kritikers, mag sein Endurteil manchem auch ungerecht dünken, nicht persönlicher Wert eine über das kritisierte Werk weit hinausreichende Bedeutung gibt. (93)

65

Eckige Klammer im zitierten Text.

240 Biermann 1991 Ich ziehe in dieser Rechnung nun die Summe. Wer einen Hexenjäger verjagt, ist kein Hexenjäger. Wer professionelle Denunzianten Denunzianten nennt, ist kein Denunziant.

5.6.4.2

Kommentar

(A) Am 18. August 1848 hatte der Frankfurter Bürgerverein, einer der zahlreichen politischen Vereine in der Revolutionszeit, auf seiner wöchentlichen Freitags· Versammlung die Aufnahme von insgesamt 36 zur Mitgliedschaft vorgeschlagenen Personen auf der Tagesordnung. Darunter befanden sich 28 Personen jüdischen Glaubens, denen die Mitgliedschaft in der Abstimmung verweigert wurde, ein Vorgang, der im Frankfurter Journal nicht redaktionell behandelt wurde, jedoch in den Folgetagen Gegenstand dreier eingesandter Zuschriften wurde. Am 23. 8. brachte das Journal unter der Nummer 4983 die ironische „Anfrage" eines Ungenannten, der wissen wollte, welche Bürgertugenden denn ein Israeli besitzen müsse, um in den Bürgerverein aufgenommen werden zu können, und ob vielleicht - „trotz freisinnig tönenden Programms" - „selbst die Nasen der aufzunehmenden gefallen müßten". Auch der dritte Beitrag am 31. 8. (Zuschrift Nr. 5239), in dem die „schönen Phrasen" des Vereinsprogramms ausgiebig zitiert und mit dem Abstimmungsverhalten konfrontiert werden, wählt fur die Reaktion eine ironisch-satirische Tonart. Anders der Einsender Rindskopf am 26. 8., der im Textbeispiel in einer kurzen Erklärung, abgeleitet aus einer vorangestellten allgemeinen Sentenz, die maßgebliche Fraktion des Vereins für ehrlos erklärt, weil sie „die letzte Abstimmung zu einer allem Rechtlichkeitsgefühle Hohn sprechenden Demonstration gegen ihre nicht christlichen Mitbürger herabgewürdigt" habe. Die Äußerung hat nicht ausdrücklich rechtfertigenden Charakter, auch wird nicht gesagt, welche Konsequenzen die festgestellte Ehrlosigkeit für den Umgang mit dem Ehrlosen hat, es sei denn, man betrachtet die Sentenz als Rechtfertigung genau für die Ehrloserklärung, die aus ihr abgeleitet wird und unter normalen Umständen ja die Unantastbarkeit der persönlichen Ehre verletzt. (B) Über das Beispiel Rindskopf hinaus enthalten polemische Schriften gelegentlich solche Ehrloserklärungen des Gegners, woraus man, geleitet auch von der Versicherung, die Ehrlosigkeit mache „vogelfrei", den Schluss ziehen könnte, dass der Polemiker, der es mit einem solchen Gegner zu tun hat, von dem Gebot, niemanden in seiner Ehre zu verletzen, entbunden ist. Der Rechtfertigungsgrund ist im Titel jedoch wieder mit einem Fragezeichen versehen, weil er nicht ausreichend belegt werden kann. Im Textmaterial habe ich nicht einmal zehn Beispiele gefunden und die zitierten sind z.T. nur bedingt überzeugend. (C) Lichtenberg (1776) überzieht seinen Gegner, den Raubdrucker Göbhard, der, wie der fiktive Herausgeber Friedrich Eckard sagt, „als vogelfrei für die Schriftsteller keiner Achtung und Schonung wert ist" (237), mit einer Kanonade ehrver-

241 letzender Schimpfwörter (Dieb, Spitzbube, Betrüger, Pöbel etc.), die unter normalen Umständen kaum zu rechtfertigen wäre. So liegt es nahe, die Erklärung des Herausgebers, der Raubdrucker sei vogelfrei, sowie weitere Textstellen, in denen das polemische Subjekt das Verhalten Göbhards als ehrlos charakterisiert und behauptet, „daß von ihm Ehre gar nicht, und Besserung kaum zu erwarten steht" (238), als rechtfertigende Äußerungen für die Verletzung der Norm 5.4.1 (Verzichte auf Elemente des Schimpfstils) zu deuten. 66 - In Schopenhauers (1851) Auffassung macht Anonymität vogelfrei und rechtfertigt einen ehrverletzenden Ausdruck wie Schuft. Die Ehrlosigkeit kommt ins Spiel, weil ein Nobody fur Schopenhauer auf „irgendwelche persönliche Achtung" keinen Anspruch hat und - obwohl das im Zitat selbst nicht deutlich ausgedrückt ist - durch sein Verstecken selbst ein ehrloses Verhalten an den Tag legt. Zarnckes (1853) Bemerkung über den GrimmKritiker Wurm ist dem Zitat Rindskopfs ähnlich. Er streicht Wurm „aus der Reihe ehrenhafter Männer", erklärt ihn also zum Ehrlosen, ohne das als Rechtfertigungsgrund für ein normwidriges eigenes kommunikatives Verhalten - jenseits der Ehrloserklärung selbst - zu nutzen. Die Textstelle von Harden habe ich aufgenommen, obwohl von Ehrlosigkeit des Gegners nicht die Rede ist, weil Harden ein weiter reichendes Prinzip vertritt, das auch bei Lichtenberg anklingt und aus dem sich die Rechtfertigung der ehrlosen Behandlung Ehrloser eventuell ableiten ließe: Die anzuerkennenden Waffen des Kritikers richten sich in der Auffassung Hardens, entsprechend dem alten Prinzip „Suum cuique" nach dem Charakter des jeweiligen Gegners. Das von Harden in Anspruch genommene Prinzip ist aber wie der im Titel dieses Teilkapitels formulierte Rechtfertigungsgrund in der polemischen Metakommunikation kaum konsensfahig. Wenn schließlich Biermann in Verteidigung seiner Angriffe gegen Sascha Anderson für sich in Anspruch nimmt, einen Denunzianten Denunziant nennen zu dürfen, ist man geneigt zuzustimmen, ohne überhaupt eine Rechtfertigung zu verlangen.

5.6.5

M i l d e r n d e U m s t ä n d e m a c h e n N o r m v e r l e t z u n g e n entschuldbar

5.6.5.1

Textbeispiele

Lessing 1769/ 3 1885 Ich wollte nicht gern, daß man diese Untersuchung nach ihrer Veranlassung schätzen möchte. Ihre Veranlassung ist so verächtlich daß nur die Art, wie ich sie genutzt habe, mich entschuldigen kann, daß ich sie überhaupt nutzen wollen. (XI, 3) 66

Als vogelfrei erklärt Lichtenberg einige Jahre später seinen Gegner Voß auch aus anderen Gründen. Er rechtfertigt seinen von Voß kritisierten „Ton" mit dessen „pedantischem Eigendünkel und Stolz": „Hier hat nun Herr V. meine Erklärung. Wenn ihm der Ton darin nicht gefällt, so muß er bedenken, daß pedantischer Eigendünkel, und Stolz eben so vogelfrei ist, als Irrtum mit Bescheidenheit sanfte Zurückweisung verdient (Lichtenberg 1781/ 3 1994, III, 308).

242 Campe 1789/1993 Diesen Umstand wolle denn auch der gütige Leser, indem er sich einige Augenblicke in meinen Gemüthszustand während dieser Arbeit versetzt, mir zu einiger Entschuldigung gereichen lassen, wenn ich, unter solchen Bewegungen, den ruhigen affectlosen Ton, welcher dem gesetzten, seine Unschuld darthuenden Mann nur allein geziemet, nicht immer so behaupten konnte, wie es mir leicht gewesen seyn würde, wenn ich gegen die Folgen, welche diese meine Rechtfertigung für Hm. M. haben wird, weniger empfindlich gewesen wäre. (34)

Knigge 1792 Gleich darauf kam Hoffmanns zweytes Heft an das Licht; darin stand nun eine schändliche Lüge von mir, und das verleitete mich, nicht nur in öffentlichen Blättern, sondern auch an einigen Stellen in diesem Buch über Aloisius Hoffmann und sein Journal mehr Worte zu verlieren, als diese unwürdigen Gegenstände werth sind - Der Leser wird das gütigst verzeihn. (IV)

Gutzkow 1835b/1972 Zwei meiner jüngst erschienenen Schriften zwingen mich, einige daraus fur meine Person abgezogenen Urtheile zu berichtigen. Man will in ihnen eben so viel Atheismus wie Immoralität entdeckt haben. Man schließt auf meine häuslichen Grundsätze und dringt mit den brutalsten Verläumdungen bis auf mein Zimmer. [...] Ich muß selbst für mich eintreten und bitte das Publikum, mir in einer ernsten, meine bürgerliche Existenz bedrohenden Sache zuhören zu wollen. (I, 80)

Scherer 1875-1876 Insbesondere fühle ich mich einem jüngeren fachgenossen verbunden, der mir vor kurzem folgenden verweis zu erteilen geruht hat: „Scherer scheint es für seine Pflicht zu halten, Lachmann und Müllenhoff in der weise zu folgen, wie dieselben einen unbequemen gegner gelegentlich ohne namensnennung mit einer verächtlichen seitenbemerkung abfertigen." Ich sehe ein dass ich ein arger sünder bin, und wie beschämend dass meine Schändlichkeit nicht einmal originell ist, dass ich mir die mittel der bosheit, welche ich anwende um brave gelehrte zu ärgern, sogar von Lachmann und Müllenhoff erborgen muss, vielleicht aber hat der geehrte junge gönner die gnade, ein wort der Verteidigung anzuhören, das mein vergehen in einem etwas milderen licht erscheinen lassen wird. (462)

Engels 1877/ 3 1971 Es war somit die Beschaffenheit des Gegenstandes selbst, die die Kritik zu einer Ausführlichkeit zwang, zu der der wissenschaftliche Gehalt dieses Gegenstandes, also der Dühringschen Schriften, im äußersten Mißverhältnis steht. Jedoch mögen auch noch zwei andre Umstände diese Ausführlichkeit entschuldigen. Einerseits gab sie mir die Gelegenheit, auf den sehr verschiednen hier zu berührenden Gebieten meine Auffassung von Fragepunkten positiv zu entwickeln, die heute von allgemeinerem Interesse sind [...] Andererseits ist der „systemschaffende" Herr Dühring keine vereinzelte Erscheinung in der deutschen Gegenwart. (4)

Dennert 1905 Ich bitte meine Leser um Entschuldigung, daß ich mit diesem allerdings von Schmidt erfundenen, scharfen Worte aus meiner Ruhe heraustrete; aber es steigt einem doch wahrlich mit Recht Zornesröte ins Gesicht, wenn da irgend ein Mensch daraus, daß er Schüler

243 des „großen" Haeckel ist, die Berechtigung zieht, Kanon. Gore und mich von hinten herum einer Fälschung zu zeihen. (61) Bartels 1908 Sauer war als Jude, wie seine Kritik selber deutlich zeigt, über mein Buch in Wut geraten und hatte in dieser Wut toll und blind darauf los geschrieben; das kommt ihm natürlich menschlich zu gute. Der Fall Maync steht schlimmer. (152) Ehrismann 1920 u. Leitzmann 1920 Als ich das Wortregister zum druck zu ordnen begann, brach der krieg aus. In einer zeit der stärksten seelenerregung mußte ich die gedanken, die an die schicksale des Vaterlandes gebannt waren, zur kleinarbeit an einem register zwingen. Zu dieser entsagung mochte meine kraft nicht ausgereicht haben, oder auch, mein temperament war nicht dazu geschaffen. [...] (279) Über die psychologische motivierung, die Ehrismann schließlich diesen Verfehlungen zuteil werden läßt, die seelenerregung der kriegszeit, widerstrebt es mir mit ihm zu rechten, denn ob man ein derartiges motiv als entschuldigung wissenschaftlicher verstoße gelten lassen will, ist eine geschmacksfrage. Indessen: Claudite jam rivos, pueri: sat prata biberunt. (496) Rutschky 1993 Es bleibt durchschnittlichen, kleinen und kleinsten Geistern überlassen, sich durch stetes, fruchtloses und belangloses Reiben an der Größe eines anderen Illusionen von der eigenen, natürlich überlegenen wissenschaftlichen Potenz hinzugeben. Ein Schlag, weit unterhalb der Gürtellinie angesetzt, den ich mir hier gestatte. Was bleibt der Rezensentin aber anderes übrig. (50)

5.6.5.2

Kommentar

(A) Im Streit zwischen Campe und Moritz über die Erfüllung bzw. Nicht-Erfullung der beiderseitigen Pflichten nach einem zwischen Verleger und Autor geschlossenen Vertrag ging es von vornherein um recht persönliche Eigenschaften der Vertragspartner wie Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit, so dass es unmittelbar einleuchtet, dass in der Auseinandersetzung auch Emotionen eine Rolle spielten. Es liegt also mit dem Affekt ein klassischer Entschuldigungsgrund vor, den Campe in einer Äußerung zur Geltung bringt, die der idealtypischen Realisierung einer Bitte um Zubilligung mildernder Unstände nahe kommt: eine ausdrückliche Wendung an das Publikum, ein Schuldbekenntnis und die Angabe von Umständen, die geeignet sind, das schuldhafte Verhalten verständlich erscheinen zu lassen und die Schuld verzeihlich zu machen. Eine Besonderheit ist freilich die von Campe angegebene Ursache der emotionalen Beteiligung: Die Abweichung vom geziemenden „affectlosen Ton" hat seinen Grund nicht in der verständlichen Erregung des Angegriffenen, sondern, wie Campe dem Publikum erläutert, in seiner selbstlosen Sorge um die Konsequenzen, die die öffentliche Darstellung des Verhaltens v o n Moritz notgedrungen für seinen Gegner haben muss.

244 (Β) Bitten um Verständnis beim Publikum bzw. um Zubilligung mildernder Umstände sind Schuldbekenntnisse mit einem Aber. Ein Fehlverhalten wird, nicht selten verbunden mit dem Ausdruck des Bedauerns, zugegeben. Zugleich wird die Schuldhaftigkeit durch die Angabe mildernder Umstände eingeschränkt. Anreden an das Publikum sind nicht obligatorisch, aber generell häufiger als bei Rechtfertigungen, da der Polemiker in stärkerem Maße von der Beurteilung des konkreten Einzelfalles durch die polemische Instanz abhängig ist, als wenn er sich auf eine verallgemeinerbare Norm berufen kann. Da die Möglichkeit, etwas zu entschuldigen, sich oft erst aus den wenig verallgemeinerbaren Aspekten einer konkreten Situation ergibt, lassen sich die Entschuldigungsgründe auch nicht wie die Rechtfertigungen in einen stabilen Bestand untergliedern. Groeben u.a. (1990-1992, V, 45f.) gruppieren die zahlreichen Entschuldigungsgründe in drei Kategorien: (1) mangelnde Kompetenz/Einsichtsfähigkeit, (2) emotionale Beeinträchtigung, (3) Vorliegen themenrelevanter Sensibilitäten. Kategorie 1 wird in den untersuchten polemischen Texten nicht oder kaum in Anspruch genommen, weil zumindest in geschriebener Kommunikation gilt, dass man sich zu Dingen, von denen man nichts versteht (vgl. Kapitel 5.2.2), gar nicht erst äußern sollte. Unter mangelnder Einsichtsfahigkeit kann man allerdings eventuell auch Fehlleistungen auf Grund von Krankheit, von ideologischen Trübungen des Denkens, von Unüberschaubarkeit der Konsequenzen u.a.m. verstehen, alles Defizite, die man nicht oder nur begrenzt willentlich vermeiden kann und bei denen somit in entschuldbarer Weise die Verantwortlichkeit des „Täters" relativiert wird. Die zweite Kategorie enthält im wesentlichen den bekannten Entschuldigungsgrund Affekt. Bei der dritten Kategorie handelt es sich „um bereits in der Vergangenheit entwickelte spezifische (themen- oder rollen/personenbezogene) Sensibilitäten, die quasi habitualisiert so stark sind, daß sie in allen vergleichbaren Konfrontationen saliert werden" (45). Als entschuldbar gelten also nach den Befunden des Projekts von Groeben u.a. offenbar auch Verhaltensweisen, die normative Erwartungen verletzen, wenn sie aus vergangenen Erfahrungen verständlich gemacht werden können. Gelegentliche Probleme in der Abgrenzung der Bitten um Verständnis bzw. der Bitten um Zubilligung mildernder Umstände können in verschiedenen Richtungen auftreten: sowohl zu den Rechtfertigungen wie auch zu den Schuldbekenntnissen hin, ferner auch zu Kausalerklärungen des eigenen Verhaltens, die wie Bitten um mildernde Umstände wirken können, ohne es zu sein. (C) In den Textbeispielen bringen die Schreiber solche Bitten zum Teil im Vorgriff auf das Kommende vor (Lessing 1769, Gutzkow 1835b), zum Teil rückblickend auf die schon abgeschlossene, zu entschuldigende Normverletzung (Campe 1789, Knigge 1792, Engels 1877, Dennert 1905, Rutschky 1993). Zwei der Autoren reagieren auf vorangegangene Vorwürfe (Scherer 1875-1876, Ehrismann 1920). Die Formulierung Dennerts („Ich bitte meine Leser um Entschuldigung") scheint nach den Unterscheidungen in Kapitel 4.3.4 eher eine Bitte um Verzeihung (mit vollem Schuldbekenntnis). Ich ordne das Zitat dennoch unter die

245 Bitten um Verständnis ein, da Dennert ganz klar mildernde Umstände anfuhrt und unterstützend sogar ins Feld fuhrt, dass „einem doch wahrlich mit Recht [!] Zornesröte ins Gesicht" steigt. Ehrismann (1820) erklärt die ihm vorgeworfenen Fehler im Register einer seiner Veröffentlichungen mit seiner patriotischen Betroffenheit zu Kriegsbeginn, der mit der Arbeit am Register zeitlich zusammenfiel. Obwohl die Äußerung, wörtlich genommen, keine Bitte realisiert, glaubt Leitzmann (1920) doch fraglos, dass Ehrismann mit ihr an das Verständnis der Leser appelliert. Er selbst weist diesen Versuch nicht glattweg zurück, äußert aber Bedenken, ob „ein derartiges motiv als entschuldigung wissenschaftlicher verstoße gelten" kann. Das Spektrum der Normen, deren Verletzung Entschuldigungsversuchen offen steht, ist, wie schon die kleine Auswahl zeigt, groß: unbedeutender Gegenstand oder Gegner (Lessing, Knigge, Engels), Eigennnutz (Gutzkow), Anonymität (Scherer), Affektbelastung (Campe, Dennert, Bartels, Ehrismann), Persönlichwerden (Rutschky). Zwei Umstände spielen in den Texten eine herausragende Rolle: Handeln im Affekt, der als strafmildernder Umstand sogar rechtlich gesichert ist, und aufgezwungene Verteidigung oder ein nicht weiter gekennzeichneter anderer Zwang, der einen etwas tun läßt, was eigentlich nicht als akzeptabel gilt, als Akt der Notwehr aber entschuldigt (oder sogar gerechtfertigt) werden kann. (D) Das Textbeispiel von Scherer ist ein Sonderfall. Es ist nicht ganz klar, ob seine Verteidigung als Rechtfertigung oder als Bitte um Verständnis gemeint ist. Die Formulierung „in einem etwas milderen Licht erscheinen zu lassen" spricht für Bitte um Zubilligung mildernder Umstände; doch ist die offensive Verteidigung der Nichtnennung des Gegners zwei Seiten später durchaus geeignet, sein Verhalten zu rechtfertigen: „Aber wenn ich in der polemik gegen eine meiner ansieht nach falsche doktrin den urheber derselben verschweige, wo der name nichts zur sache tut, so erscheint mir das eine erlaubte und nicht tadelnswerte, manchesmal sogar eine milde und wegen ihrer milde lobenswerte form." Wer dieser Meinung ist, hat eigentlich keinen Grund, sich zu entschuldigen und sich vom Wohlwollen der polemischen Instanz abhängig zu machen.

6

Geltungsbereich und Existenzweise der Normen

6.0

Einleitung

Im folgenden Kapitel werden die bisher einzeln beschriebenen Nonnen unter einigen übergreifenden Gesichtspunkten gemeinsam betrachtet. Zugleich bietet das Kapitel Gelegenheit, die Ergebnisse der eigenen Analyse hinsichtlich der in der polemischen Metakommunikation zur Geltung gebrachten Bewertungsmaßstäbe mit denen benachbarter Studien zu vergleichen und nach Gründen für Diskrepanzen zu suchen. Der erste Gesichtspunkt (6.1) ist die Frage nach dem Geltungsbereich der Normen. Auf der Skala zwischen den extremen Möglichkeiten - spezifische Normen allein fur polemische Texte vs. universelle Normen menschlicher Kommunikation - erweist sich für die Ordnung der in Kapitel 5 beschriebenen Normen hinsichtlich ihrer Reichweite besonders eine Zweiteilung als bedeutsam: (1) funktional begründete Normen für den Text- und Diskurstyp Argumentation und (2) ethisch begründete Normen christlich-europäischer Tradition, die den kommunikativen Umgang mit dem Partner über spezielle Texttypen hinaus regulieren. In Kapitel 6.2 wird der Sachverhalt reflektiert, dass identische Norminhalte verschiedene Existenzweisen haben können. Sie können als subsistente Normen zum Bestand des alltagsweltlich Gewussten gehören, können aber auch als religiöses Gebot oder staatlich gesetztes Recht kodifiziert sein. Diesen Existenzweisen der Normen entsprechen verschiedene Arten ihres Erlernens durch die Sprecher und verschiedene Arten ihrer Verfügbarkeit. Zu klären ist in dieser Hinsicht, in welcher Existenzweise die Norminhalte in der polemischen Metakommunikation wirksam werden: Werden sie als Bestandteil des geteilten Alltagswissens angesprochen oder als rechtlich fixierte Straftatbestände? Und: Sind die alltagsweltlichen Erwartungen inhaltlich immer identisch mit den juristischen oder religiösen Kodifizierungen, soweit solche existieren, oder bestehen Unterschiede auf den einzelnen Ebenen?

247

6.1

Reichweite der Normen

6.1.1

Normen für polemische Texte?

Die in Kapitel 5 dokumentierten und kommentierten Normen wurden in polemischen Texten thematisiert und bewertend auf polemisches Kommunikationsverhalten bezogen. Daraus kann man, das war die Grundidee der Untersuchung, schließen, dass diese Normen in der Auffassung derer, die sie vorwerfend oder rechtfertigend thematisieren, auf polemisches Verhalten sinnvoll anwendbar sind und - für sie selbst oder zumindest für das angesprochene Publikum - mitbestimmen, welches kommunikative Verhalten als akzeptabel und welches als nicht akzeptabel einzuschätzen ist. Das bedeutet freilich nicht, dass die gefundenen Normen in irgendeiner Weise spezifisch für polemische Texte sein müssten. Die Reichweite der Normen ist, wie sich zeigen wird, unterschiedlich groß; von keiner einzigen aber kann man sagen, dass ihre Geltung auf polemische Texte beschränkt sei. Die Untersuchung der polemischen Metakommunikation hat keine Indizien für die Existenz spezifischer Normen für polemische Texte erbracht. Das stimmt mit den Ergebnissen benachbarter Untersuchungen überein, und da auch in der extrakommunikativen Diskussion nichts Gegenteiliges behauptet wird, kann man in diesem Punkt allgemeinen Konsens verbuchen. 1 Es bleibt aber die in der extrakommunikativen, z.T. auch in der wissenschaftlichen Reflexion nicht selten geäußerte Ansicht, dass polemische Texte besonderen Maßstäben unterlägen, insofern in ihrer Bewertung sonst geltende Normen außer Kraft gesetzt wären. In radikaler Form ist diese Auffassung in Tucholskys oft zitierter Antwort auf die selbst gestellte Frage: „Was darf die Satire?" - „Alles" (Tucholsky 1919, Bd. 1, 364) ausgedrückt, die nicht selten auch auf Polemik übertragen wird. Allerdings ist Tucholsky selbst kein guter Gewährsmann für die bedingungslose Unterstützung besagter These. Er ist weit davon entfernt, jedem, der sich als Satiriker betätigt, Freiheit in der Wahl der Mittel zuzubilligen. Gleich zu Beginn des kleinen Aufsatzes unterscheidet er den „Charakterlosen", den gewissenlosen „Hanswurst", „der heute den angreift und morgen den", vom „gekränkten Idealisten", der „die Welt gut haben [will], sie ist schlecht, und nun rennt er gegen das Schlechte an" (363). Es ist die „Satire eines charaktervollen Künstlers, der um des Guten willen kämpft", später auch „echte Satire" genannt, die alles darf - aber natürlich nur das, was der Schreiber tun kann, ohne aufzuhöWenn Klein (1989) formuliert, es ginge ihm um die „Ermittlung der (wichtigsten) Regeln des politischen Streitgesprächs" (69), so könnte das Anlass für das Missverständnis sein, bei den von ihm gefundenen Regeln handele es sich um solche, die für politische Streitgespräche spezifisch seien. Klein behauptet das aber keineswegs. Über die „Kontextrelativität und gesellschaftlich-kulturelle Reichweite" (70) der Regeln wie auch ihren Geltungsbereich auf der Ebene der Text- und Diskurstypen erlaubt die Untersuchungsanlage gar keine Aussagen. Man kann auch hier nur sagen, dass die Regeln augenscheinlich auch in der Bewertung der von ihm untersuchten politischen Fernsehdiskussionen eine Rolle spielen.

248 ren, ein gekränkter Idealist zu bleiben, „der um des Guten willen kämpft" und der also doch wieder an Normen wie „Verfolge keine eigennützigen Zwecke" (Kapitel 5.3.1) gebunden wird. In neueren literaturwissenschaftlichen Veröffentlichungen bekommt der Polemiker selten einen generellen Freibrief, doch besteht auch dort eine gewisse Tendenz, polemische, satirische und verwandte Schriften besonderen Bewertungen zu unterwerfen. Ansätze zu einer verallgemeinerbaren Theorie der Bewertung polemischer Texte enthält das Buch von Lazarowicz über Lessing (1963), in dem polemische Praktiken beschrieben werden, die normalerweise als Normverstöße gelten (Verfälschung des Wortlauts eines Zitats, 148; Konzentration auf die schwachen Stellen des Gegners, 151; tendenziöse Wiedergabe der Meinungen des Gegners, 165), die vom Autor der Kritik mit dem Argument entzogen werden, dass Lessing keine Kritik, sondern eine Polemik geschrieben habe, die „einer je eigenen Gerichtsbarkeit unterworfen" (142) seien: Für einen Kritiker wäre der Nachweis der Unsachlichkeit, der Illiberalität, der Gehässigkeit und Ungerechtigkeit ein vernichtendes Verdikt. Nicht so für den Polemiker. Kritik und Polemik erscheinen zwar als einander benachbarte oder nahe verwandte Ausdrucks· und Darstellungsweisen; genau besehen haben sie aber nicht nur grundverschiedene Tendenzen, sie sind auch einer je eigenen Gerichtsbarkeit unterworfen, nach deren Gesetzen sie jeweils zu beurteilen sind (142).

An anderer Stelle bezeichnet er es als „töricht", „an ein polemisches Werk dieselben Maßstäbe anzulegen, die allein für die Beurteilung kritischer Schriften verbindlich sind". Verwerflich werde Polemik erst dann, „wenn ihre Unsachlichkeit und Indezenz nicht moralisch gedeckt ist" (177), was zu der Frage fuhrt, wer entscheiden darf, wann jemand als Kritiker und wann als Polemiker zu betrachten und zu bewerten ist, zumal es ja eine starke Tendenz gibt, Polemiken als Kritiken auszugeben? 2 - Ähnliche Überlegungen stellt Gallus (1993) an, der meint, dass eine Polemik von Harold James, „als geschichtswissenschaftliche Arbeit" gelesen, als „maßlos überzogen" und die „Wenn und Aber" nicht beachtend gelten müsste, „als Streitschrift gelesen" aber anders zu beurteilen sei, während von Rahden (1984) vorsichtiger nach der Berechtigung einer unterschiedlichen Beurteilung 2

Noch entschiedener fällt bei Lazarowicz, der Polemik und Satire deutlich trennt, der Freispruch für den Satiriker aus: „Gegen den Spruch des satirischen Tribunals läßt sich kein Revisionsverfahren erzwingen. Im Unterschied zu den von den Predigern und Moralisten verhängten Schuldsprüchen ist die satirische Destruktion nicht wieder rückgängig zu machen. Diese Radikalität hat man zu allen Zeiten als inhuman empfunden und als Ausdruck einer Gesinnung verurteilt, die mit dem christlichen Gebot der auch den Feind umschließenden Nächstenliebe unvereinbar sei. Wir haben jedoch gesehen, daß der Vernichtungswille des Satirikers von ganz anderer Art ist als die Zerstörungswut des Pasquillanten; und weiter: daß die satirische ,Rache am Stoff (K. Kraus) gedeckt und entsühnt wird durch die Macht der dichterischen Gestalt. Auch diese Antwort wird die Gegner der Satire kaum befriedigen. Und es ist wirklich schwer einzusehen, warum die Vernichtungstendenz des Pamphletisten anders beurteilt werden muß, als die des Satirikers. Gleichwohl verhält es sich so. Nur ist dieses Faktum nicht schulmäßig zu beweisen, sondern nur an den Texten selbst zu erweisen" (1963, 316).

249 von Regelverletzungen in philosophischen und wissenschaftlichen Diskursen einerseits, Kampfschriften andererseits fragt, ohne die Frage endgültig zu beantworten. 3 Noch einen Schritt weiter geht die Befreiung von kommunikativen Normen, wenn diese nicht nur für die spezielle Textart außer Kraft gesetzt werden, sondern als solche in Zweifel gezogen werden. Die Beweggründe für solche Umwertungen, bei denen - programmatisch, resignativ oder zynisch - gerade das Verhalten akzeptiert wird, das die mit dem Begriff des Polemischen verbundene negative Wertung erklärt, sind unterschiedlicher Art. 4 Gegenüber solchen extrakommunikativen Zeugnissen ist zu sagen, dass entsprechende Vorstellungen der polemischen Metakommunikation fremd sind. Es gibt kaum einen Polemiker, der es wagte, sich gegenüber seinem Publikum darauf zu berufen, dass er ja eine Polemik schreibe, um Dispens von außerhalb der Polemik geltenden Normen zu erlangen und so der Kritik an seinem kommunikativen Verhalten zu entgehen. Die polemische Metakommunikation vermittelt im Gegenteil den Eindruck einer sehr starken Präsenz normativ gestützter Wertmaßstäbe, was allerdings nicht unbedingt mit den andersartigen Vorstellungen in der extrakommunikativen Reflexion kollidieren muss. Überlegungen zur Entwicklung einer theoretisch begründeten Bewertung polemischer Auseinandersetzungen in Wissenschaft und Publizistik müssen sich nicht an die der Rezeption polemischer Schriften zugrunde liegenden und in der polemischen Metakommunikation zu Tage tretenden Wertmaßstäbe binden. Unverträglich werden die unterschiedlichen Sichtweisen erst, wenn in der extrakommunikativen Reflexion der falschliche Eindruck erweckt wird, die Außerkraftsetzung üblicher kommunikativer Normen wäre ein die Produktion und Rezeption polemischer Texte faktisch bestimmendes Prinzip. Zwar gibt es auch in der polemischen Metakommunikation hin und wieder Hinweise auf eine partielle Außerkraftsetzung von Normen. Sie tangieren die Hauptaussage, dass in der polemischen Metakommunikation das polemische Verhalten, gestützt auf den in Kapitel 5 beschriebenen Komplex kommunikativer Normen, negativ bewertet wird, jedoch höchstens am Rande. Ich sammle solche Indizien in vier Punkten: (1) Die Rolle des Publikationsmediums: Einige Indizien sprechen dafür, dass der Ort der Veröffentlichung modifizierend eine Rolle spielen kann, dergestalt, dass die Erwartung normkonformen Verhaltens in bestimmten Publikationsmedien stärker ausgeprägt ist als in anderen, dass also z.B. ein Aufsatz, der auf dem innerwissenschaftlichen Forum in einer Fachzeitschrift erscheint, strengeren Maßstäben unterworfen wird als ein Artikel in einer allgemeinen Wochenzeitung. 3

4

„Es bliebe zu fragen, ob und inwieweit politische Kampfschriften - und als solche ist NNM2 [ein Buch des Philosophen v. Hartmann] einzustufen, mag Hartmann sie auch als ,Studie' camouflieren - den Spielregeln philosophischer und wissenschaftlicher Diskurse überhaupt unterliegen (müssen oder sollen?)" (502). Wobei aber gerade die Camouflage mit der wissenschaftlich klingenden Bezeichnung Studie dafür sprechen könnte! Vgl. das in der Einleitung erwähnte Beispiel Sofsky ( 2 0 0 2 ) . Solche Umdeutung betrifft besonders die Forderung, Person und Sache zu trennen. Vgl. dazu die in Kapitel 3.3.2 zitierten Stimmen, außerdem Polgar 1928, Marcuse 1989b, Steinfeld 1991 u.a.

250 Und ferner, dass eine Polemik in besagter Wochenzeitung wiederum strengeren Maßstäben unterliegt als der gleiche Text in der Satire-Zeitschrift Titanic. Es ist vor allem das auffallige Fehlen normbezogener Metakommunikation in SatireZeitschriften, das diesen Gedanken nahelegt. Der Rechtfertigungsdruck scheint, wiewohl die juristischen Bestimmungen ihre Wirksamkeit nicht verlieren, minimiert oder beseitigt. Ähnliches gilt fur Kabarett und Karikatur. Es wurde schon in Kapitel 3.3.2 darauf aufmerksam gemacht, dass Henscheid (1991) die in den originalen Artikeln fehlende metakommunikative Dimension beim Wechsel des Publikationsmediums in der späteren Taschenbuch-Sammlung in einem normreflexiv-apologetischen Nachwort ergänzt. In diesem Sinne könnte die Lizenz, die Schmidt (1989) der polemischen Satire Henscheids gewährt, 5 auch als beschreibende Aussage über die Leserreaktionen begründbar sein, wenn man sie weniger an die Schreibweise Henscheids als an den Ort der Erstveröffentlichung in der Titanic knüpft. (2) Polemik als Bezeichnung für das eigene Textprodukt: Das Textmaterial gibt Anlass zu der Vermutung, dass die Benennung des Textprodukts in manchen Fällen von der Erwartung gesteuert ist, negativen Bewertungen aus dem Wege gehen zu können. Insbesondere ist an die Etikettierung „Eine Polemik" o.ä. zu denken, die nachweislich oft erst die Zeitungsredaktionen vorschlagen oder selbständig vornehmen. Derartige Benennungen scheinen die Möglichkeit zu bieten, Kritik an der Verletzung kommunikativer Normen durch Flucht nach vorne zu unterlaufen. Das wäre allerdings von Fall zu Fall zu überprüfen, weil in diesem Gebrauch auch die alte positiv oder wertneutral konnotierte Bedeutung von Polemik vorliegen könnte, die in Kapitel 2.2.2 beschrieben worden ist. (3) Der Gegner als existentieller Feind: Deutlich sind gewisse Tendenzen, die Geltung sonst üblicher kommunikativer Normen für bestimmte Gruppen von Gegnern zu relativieren oder zu negieren, und zwar zum einen gegenüber den Ehrlosen, zum anderen gegenüber den existentiellen Feinden. Bezüglich der „Ehrlosen" verweise ich auf Kapitel 5.6.4, wo die Außerkraftsetzung des Ehrenschutzes gegenüber denen, die selbstverschuldet für „vogelfrei" erklärt werden können, als Kandidat fur einen - unsicheren - Rechtfertigungsgrund behandelt worden ist. Die mögliche Dispensierung des Polemikers vom Vorwurf der Normverletzung gegenüber dem „Feind" legt eine metakommunikative Reflexion wie die von Günther (1930, 952) nahe:

„An dieser Stelle muß eines deutlich klargestellt werden: Eine satirische Polemik wie die Henscheids darf nahezu alles. Sie darf ihren Gegner verächtlich machen, beleidigen, herabwürdigen, ihn, wenn es denn unbedingt sein muß, der moralischen Verkommenheit zeihen. Sie hat sich aber mit ihren Angriffen an belegbare Äußerungen, Taten oder Attitüden des von ihr attackierten zu halten; nur aus ihnen lässt sich die Verachtung begründen, die einem ganz bestimmten Menschen oder auch einer ganz bestimmten Gruppe entgegen gebracht wird. Unter bestimmten Bedingungen darf die Satire sogar physiologische Eigenschaften wie z.B. körperliche Gebrechen zum Ziel ihres Spottes machen" (1989, 55).

251 Hansen bemüht sich um eine sachliche Untersuchung der Persönlichkeit und der Werke Ludwigs und trägt seine Einwände in gemäßigter Sprache vor. Aber vielleicht ist dieser Versuch, dem Gegner gerecht zu werden, nicht die beste Form, um die Gestalt Ludwigs in der Öffentlichkeit kenntlich zu machen; bei völliger Artfremdheit zeichnet oft die offene Feindschaft besser und zuletzt auch aufrichtiger, als eine ,objektivierende' Methode, in der notwendigerweise die Abneigung doch das Wort behält.

Es gibt also Gegner, denen gegenüber das Streiten mit „Strategien-des-nichtmehr-Versöhnlichen" (Kärn 1993, 280) jenseits der Erfordernisse kommunikativer Kooperation nicht nur praktiziert, sondern auf der Metaebene sogar ausdrücklich gerechtfertigt wird.6 Vor dem Hintergrund einer Theorie des Politischen wie der von Carl Schmitt (1932/1963) scheint mit dem Feind eine argumentative Problemlösung, ja Kommunikation überhaupt, weder sinnvoll noch möglich, und so entfallen auch die Normen, die eine dialogische Auseinandersetzung bestimmen sollten. Obwohl die Frage nicht ganz abwegig ist, ob die Polemik nicht schon in ihren Anfangen in der frühen Neuzeit als theologische Polemik ein Feindbild hatte, das analoge Konsequenzen nahelegte, ist auch dieses Denken den Texttraditionen, die in Kapitel 5 Grundlage der Untersuchung waren, bis auf die Beispiele aus der Zeit um 1930 fremd. Der Polemiker mag einen „Vernichtungskampf' fuhren, öffentlich zugebbar ist er nicht. (4) Individuelle Polemiker mit Narrenfreiheit: Eine letzte Einschränkung besteht darin, dass der metakommunikative Bezug auf kommunikative Normen bei einzelnen Autoren in auffalliger Weise vom Üblichen abweicht. Es handelt sich (1) um polemische Subjekte, die spielerisch mit dem Normbezug umgehen, und (2) um solche, bei denen die metakommunikative Thematisierung vor allem des eigenen Verhaltens gänzlich unterbleibt. Zur ersten Gruppe gehört Heine, der seine Bezüge auf Normen oft auf unernst-ironische oder witzige Weise realisiert, so dass man kaum annehmen kann, dass er sich vor dem Publikum ernsthaft als normkonformer Streiter profilieren will. Benachbart ist die provokative Negierung von Normen, wie sie Henrik Broder mit der Frage „Warum sachlich, wenn

6

Günthers Mitherausgeber der Zeitschrift Deutsches Volkstum, Stapel, vertritt ähnliche Ansichten. Vgl. dazu Meyer ( 2 1988,17): „Stapel postulierte - unter Berufung auf Fichte eine geradezu metaphysische Geschiedenheit der Völker vom Anfang bis zum Ende der Schöpfung und mußte deshalb alle positiven Möglichkeiten jüdischer Assimilation an deutsches Wesen und deutschen Geist (und umgekehrt) leugnen und verwerfen." Über die Differenz zwischen „Deutschtum" und „Judentum" hinaus verallgemeinert begegnet das gleiche Denken samt seiner Konsequenz für die Kommunikation in einem „germanistischen" Aufsatz von Schulz (1940) über die Kampfschriften Luthers, Lessings und Nietzsches: „Gerade das aber gehört zum Wesen des Vemichtungskampfes mit dem Wort: Über der Freude an der Waffenfuhrung des Siegers erledigt sich die Frage nach Recht oder Unrecht des Unterlegenen gleichsam von selbst, auch wenn der Sieger das nicht wollen sollte. Ihm strömt immer wieder Bewunderung zu; der Gegner erfährt die schlimmste und gründlichste geistige Vernichtung, die es gibt: Vergessenwerden. Auch die logischen Mittel der Sprache, die scharfsinnigen Unterscheidungen und Beweise, verlieren dann ihre eigentliche Bedeutung; sie werden nicht mehr an der Gegenmeinung nachgeprüft, sondern nur noch als erfolgreiche Fechtkünste gepriesen" (447).

252 es auch persönlich geht?" praktiziert. Auch diese Bemerkung hat einen spielerischen Aspekt, scheint daneben aber dem Motto verpflichtet: „Ist der Ruf erst ruiniert, lebts sich gänzlich ungeniert". Zur zweiten Gruppe gehören Polemiker, die gänzlich darauf verzichten, ihr faktisches Verhalten auf der Metaebene zu thematisieren, und somit kein Anzeichen geben, dass sie sich überhaupt unter Rechtfertigungsdruck fühlen. Ein solcher Autor ist bei manchen Gelegenheiten Karl Kraus, ein anderer Holz. Letzterer spricht im Streit mit Paul Ernst (Holz 2 1909, 81 f.) seinen Gegner direkt an und wirft ihm ohne Federlesens alle möglichen Beleidigungen an den Kopf („dialogisirte Mißgeburt", „dilettantische Naivität", „absolute Impotenz", „neurasthenisch Kranker", Jämmerlichste Schablone", „langweiligstes Hingewürge"). Einige höflich klingende Floskeln, mit denen er die Beschimpfungen einleitet („Sie gestatten", „ich kann mir nicht helfen", „Sie entschuldigen"), sind kaum geeignet, den metakommunikativ überhaupt nicht bearbeiteten Affront zu mildern.7

6.1.2

Funktionale Normen für argumentative Texte

Ein erheblicher Teil der in der polemischen Metakommunikation thematisierten Normen - das ist eindeutiges Ergebnis der Analyse in Kapitel 5 - ist identisch mit den bekannten Regeln des richtigen Argumentierens bzw. den gleichfalls bekannten Negativkatalogen des in der Argumentation zu Vermeidenden. Der Polemiker sieht sich also gerade den normativen Erwartungen ausgesetzt, die er in der Polemik als sprachlich Handelnder verletzt und metakommunikativ prätendiert zu folgen: den Normen für die argumentative Klärung strittiger Sachverhalte. Dazu gehören z.B. „Streite nicht um Dinge, von denen du nichts verstehst" (5.2.2), „Verfälsche nicht den Standpunkt des Gegners" (5.4.2), „Verletze nicht die Regeln korrekten Argumentierens" (5.4.6) und die in Kapitel 5.5 behandelten „Normen betreffend die sprachliche Realisierung des Textes". Auch Naess (1975) legt Wert auf die Feststellung, dass z.B. Sachlichkeit kein allgemeines Erfordernis sei, sondern nur für „ernsthafte Diskussion" (193), nicht aber für Propaganda, Wahlkämpfe, Agitation, Reklame, Heilsverkündung gelte.8 Eine Forderung wie die, beim Thema (der Sache) zu bleiben, gilt zwar weitergehend für alle Text- und Diskurstypen, die ein festgelegtes Thema haben, nicht aber für Small Talk, Tagebuchnotizen, Brainstorming u.ä. Beide Normen zusammen unterscheiden sich mit ihrer an den jeweiligen Kommunikationszielen orientierten funktionalen Begründung von ethisch begründeten Normen wie dem VertrauIn Kapitel 5.4.5 habe ich, das deutet in die gleiche Richtung, schon daraufhingewiesen, dass Holz in seinen Polemiken sowohl gegen Ernst als auch gegen Schlaf massiv das Vertraulichkeitsgebot verletzt, ohne eine Rechtfertigung oder Entschuldigung dafür zu suchen. „Die Unsachlichkeit entsteht nur dann, wenn eine suggestive Einwirkung sich mit oder gegen den Willen des Absenders dafür ausgibt, ein sachlicher Diskussionsbeitrag in einem Meinungsaustausch zu sein" (ebd., 196).

253 lichkeitsgebot, das sich funktional kaum begründen lässt. Normen wie „Verfolge keine eigennützigen Zwecke" (5.3.1), „Versuche nicht die Person des Gegners zu diskreditieren" (5.3.2) bzw. „Mache keine Äußerungen, die geeignet sind, die Person des Gegners zu diskreditieren" ( 5.4.4) und „Mache keine Äußerungen, die wissentlich Unwahres enthalten" (5.4.3) haben freilich eine Doppelbegründung. Neben ihrer ethischen Begründung (dazu Kapitel 6.1.3) benennen sie zugleich funktionale Erfordernisse fur die erfolgreiche Klärung strittiger Sachverhalte. Die Tatsache, dass viele Normen, die in der polemischen Metakommunikation thematisiert werden, identisch sind mit denen für das sachliche Argumentieren, wird von den Ergebnissen neuerer empirischer Untersuchungen zum Normbewusstsein der Rezipienten unterstützt. 9 Gewisse Abweichnungen erklären sich dadurch, dass die Normen des Argumentierens ihrerseits mindestens in zwei Dimensionen einer gewissen Variation unterliegen: in der Dimension der Modalität (Schriftlichkeit vs. Mündlichkeit) und in der Dimension der gesellschaftlichen Kommunikationsbereiche (Öffentlichkeit vs. Privatheit). Die Beachtung dieser Variation kann einige Diskrepanzen in den Ergebnissen der unterschiedlichen Projekte erklären. (1) Mündlichkeit-Schriftlichkeit: Divergenzen in den Beurteilungsmaßstäben bestehen besonders bei den Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen. So haben Groeben u.a. (1990-1992, V, 52) in ihren Befragungen unter der Oberkategorie Entschuldigungen schuldmindernde Gründe gefunden, nämlich (a) mangelnde Kompetenz und (b) emotionale Beeinträchtigung, die sich nicht ohne weiteres mit den Ergebnissen des Kapitels 5 vereinbaren lassen. Soweit von „mangelnden intellektuellen Fähigkeiten" oder „religiös-ideologischen Bindungen" die Rede ist, die bei Groeben u.a. in die Kategorie „Mangelnde Kompetenz/Einsichtsfahigkeit" fallen, findet man die Denkweise, dass man ein aus ihnen entspringendes Verhalten nicht vorwerfen kann, auch in der polemischen Metakommunikation. Was aber mangelnde Kompetenz im engeren Sinne betrifft (mangelnde themenrelevante Sachkenntnis, fehlende argumentative Kompetenzen), die bei den von Groeben u.a. Befragten ebenfalls entschuldigende Kraft hat, so gelten solche Defizite in der polemischen Metakommunikation, wie Kapitel 5.2.2 gezeigt hat, nicht als Entschuldigungsgrund, sondern im Gegenteil als Normverstoß. Die Forderung, sich nicht über Dinge zu äußern, von denen man nichts versteht, beruht auf der unterstellten Fähigkeit, Sachkenntnis und eigene Kompetenz selbst einschätzen zu können, und der Erwartung, dass sich der Be-

9

Siehe dazu Wunnicke (1991), die der vorliegenden Untersuchung in Polemikbegriff, Textmaterial und Methode am nächsten steht, aber auch Klein (1989 u. 1969), Groeben u.a. (1990-1992). Die gleiche Nähe besteht zu den zehn Normen rationaler Argumentation von Eemeren u.a. (1995), die ihrerseits auf angelsächsische Informantenbefragungen verweisen, „nach denen die Bewertung argumentativer Formulierungsstrategien durch die Informanten zumindest teilweise an Standards orientiert ist, die idealen Prinzipien für rationale Argumentation nahekommen" (38).

254 troffene der eigenen Einsicht entsprechend verhält. Diese Forderung erhält in der Beurteilung schriftlicher Zeugnisse aus einsehbaren Gründen wesentlich größeres Gewicht, weil Schriftlichkeit einen überlegten Entschluss, sich zu äußern, voraussetzt, im Unterschied zum spontan-mündlichen Gespräch, in dem man leicht in die Situation kommen kann, sich zu etwas zu äußern, auch äußern zu müssen, wovon man eigentlich nicht viel versteht. In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass Groeben u.a. eine Kategorie „erhöhte Verantwortlichkeit" als „schuldverstärkenden Umstand" vorsehen, dessen Einfluss auf die Bewertung sie damit illustrieren, dass etwas, „was im einen Fall als Entschuldigung akzeptiert wird (z.B. Inkompetenz), [...] im anderen Fall zum schuldbegründenden Fall" (ebd.) werden kann, so dass die Differenz zwischen den Untersuchungsergebnissen unter dem Strich nicht sehr groß erscheint. Was den Umgang mit dem Kriterium „Emotionale Beeinträchtigung" betrifft, ist der klassische Entschuldigungsgrund „Affekt" in beiden Projekten belegt. Eine Besonderheit der polemischen Metakommunikation ist nur, dass emotionale Erregung unter Umständen als Gegenstand von Vorwürfen dienen kann. Die Schuldminderung beim Handeln im Affekt, die auf der Annahme beruht, dass man seine Emotionen in bestimmten Situationen nicht steuern kann und deshalb Dinge tut, die man mit kühlem Kopf unterlassen würde, ist wiederum im mündlichen Gespräch einleuchtender als in schriftlichen Zeugnissen. Wie schon in Kapitel 5.3.4 gesagt, kann man auch von einem emotional Erregten erwarten, dass er in diesem Zustand keine Artikel schreibt, oder zumindest, dass er sie nicht aus der Hand gibt. (2) Öffentlichkeit und Privatheit: Auch der Kommunikationsbereich, insbesondere die Differenz zwischen öffentlich und privat kann die Bewertung des kommunikativen Verhaltens beeinflussen. Die Differenz wird in der polemischen Metakommunikation hin und wieder im Zusammenhang mit dem Vertraulichkeitsgebot (Kapitel 5.4.5) und dem Persönlichwerden (Kapitel 5.4.4) angesprochen. 10 Auch juristisch werden das Reden und Schreiben im öffentlichen und im privaten Raum unterschiedlich beurteilt. Äußerungsdelikte im Sinne der §§185ff. des Strafgesetzbuches sind Straftatbestände vor allem wegen der Verletzung der „äußeren" Ehre durch öffentlich gemachte Äußerungen, wohingegen Familie und private Beziehungen als beleidigungsfreier Raum gelten. 11 10

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Siehe etwa die Kritik an einem Autor (Friedrich Mayer), der sich „Angriffe auf den persönlichen Charakter lebender Gelehrten, ja sogar auf deren Frauen erlaubt" hat, in den Blättern für literarische Unterhaltung (Nr. 392 v. 28. Dez. 1835, 1492): „Wenn dergleichen seiner Feder in dem Briefe an seinen Freund auch vielleicht ganz natürlich entschlüpfte, so mußte es doch nicht dem Drucke übergeben werden; die Literatur darf nicht zur chronique scandaleuse herabgewürdigt werden" (zit. Opitz 1986, 128). Eine genauere Betrachtung müsste auch der Variation innerhalb des öffentlichen Raumes, zumindest in der Striktheit der normativen Erwartungen, nachgehen. So scheint die Akzeptabilität der Polemik auf dem engeren Forum der Wissenschaft heute erheblich geringer zu sein als in der Publizistik, besonders im Feuilleton, oder auch in der Politik. Im Prinzip ist zwar auch dem Wissenschaftler erlaubt, im Rahmen des Üblichen Glei-

255 Es bleiben einige Diskrepanzen zwischen den Befunden des Kapitels 5 und anderen neueren Studien, die sich nicht plausibel auf Unterschiede im Untersuchungsmaterial hinsichtlich der beiden genannten Dimensionen zurückführen lassen. Lamping (1990) kommt in seiner Analyse der Problematik von Kontroversen um Personen am Beispiel des Streites zwischen Heine und Börne zum Ergebnis, dass Kontroversen um Personen „grundsätzlich an dieselben Normen gebunden sind wie andere literarische Kontroversen auch" (215), stellt im zweiten Schritt dann aber fest, dass Polemiker sich die Freiheit nehmen, „von der Norm der Diskretion im Umgang mit persönlichen Schwächen des Gegners abzuweichen" (ebd.). Solange damit das faktische Verhalten beschrieben wird, ist die Aussage sicher korrekt. Lamping vertritt aber die Auffassung, dass diese Praxis unter Wertungsgesichtspunkten akzeptabel sei, d.h. gerechtfertigt werden kann, wenn die Indiskretion „argumentativ relevant" sei, weil der Hinweis auf die persönlichen Eigenschaften des Gegners „eine (thematische) Funktion bei der Erhellung, Einschätzung oder Erklärung anderer, literarischer oder allgemein ,geistiger Erscheinungen'" (215) hat. Die eigenen Untersuchungen zeigen hingegen, dass argumentative Relevanz und das heißt auch Funktionalität der Bezugnahmen auf persönliche Eigenschaften des Kontrahenten keine ausreichende Begründung für ihre öffentliche Äußerung ist, da für die Akte des Persönlichwerdens die ethischen Normen des folgenden Kapitels eine zweite und höhere Hürde bilden. Lamping beruft sich für das Akzeptieren funktional relevanter Enthüllungen über den Kontrahenten als Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund vor allem auf eine Selbstrechtfertigung Heines in der Platenkontroverse; doch scheint mir Heine eher eine Ausnahme, und im übrigen hat die konkrete Äußerung in der Polemik gegen Platen unübersehbar ironische Züge.

6.1.3

Ethische N o r m e n christlich-europäischer Tradition

Neben den Normen, die ihre Begründung aus der Funktionalität fur die Ziele der argumentativen Klärung strittiger Sachverhalte gewinnen, gibt es in der polemischen Metakommunikation eine Schicht ethisch fundierter Normen, die die Grenzen einzelner Text- und Diskurstypen transzendieren, nicht auf einzelne Kommunikationsbereiche festgelegt sind und auch eine relativ große Konstanz über Jahrhunderte aufweisen. Es wäre voreilig, sie universal zu nennen; doch lassen sie sich im europäischen Kulturkontext mindestens seit der frühen Neuzeit nachweisen. Das ist sozusagen ihre (historische) Mindestreichweite. Im Blick auf die christliche Ethik ist zunächst eine grundsätzliche Spannung zwischen der Polemik und den christlichen Werten, insbesondere dem Gebot der Nächstenliebe, festzustellen. Betroffen sind davon zunächst nicht nur einzelne Normen, sondern global die Intention, den Gegner zu bekämpfen oder gar zu ches mit Gleichem zu vergelten. Doch scheint die Möglichkeit, dies in einer genuinen Fachzeitschrift zu tun, eher begrenzt.

256 vernichten. Das heißt, dass der Polemiker auch dann, wenn er alle diskurs- und texttypisch gebundenen Normen beachtet und alle rechtsförmigen Straftatbestände vermeidet, immer noch christliche Werte verletzen kann. Der Polemiker müsste, wenn er die christliche Ethik ernst nimmt, im Zweifelsfall auf Polemik ganz verzichten. Das ergibt sich zwingend z.B. aus der Ansicht von Thomas von Aquin, der in der Summe der Theologie den „Streit" zwischen „Krieg" und „Aufruhr" piaziert und befindet: Da der Streit aus ungeordnetem Willen hervorgeht, so ist er immer Sünde und in dem, der den anderen ungerecht angreift, Todsünde und in dem, der sich verteidigt, zuweilen läßliche zuweilen Todsünde, je nach seiner Gemütsverfassung und Verteidigungsweise (zit. Rohner 1987, 22).

„Erlaubt sei einzig", so Rohner, „im Nächsten die Sünde zu hassen." Doch das gibt nicht viel Spielraum; denn „welcher Beichtvater kann das klärlich auseinanderhalten vom ,Haß gegen den Nächsten'?" (Rohner, ebd.). Das Problem ist mit unterschiedlichen Folgerungen im gesamten Untersuchungszeitraum immer wieder Thema. Am Anfang steht Liscov, der sich damit in der „Vorrede" zu seiner Satirensammlung von 1739 auseinandersetzt, sich aber mit einer Verurteilung der Satire nicht anfreunden kann. 12 Gegen Ende des Untersuchungszeitraums im 20. Jahrhundert bewegen die christlichen Maßstäbe Theodor Haecker nach seiner Konversion dazu, sich von seinen früheren polemischen Schriften zu distanzieren und auf Polemik ganz zu verzichten. 13 Den Zwischenraum kann man mit Timms (1986) überbrücken, der das Problem am Beispiel von Satirikern und Polemikern, die sich zugleich als gläubige Christen verstanden, über die Jahrhunderte untersucht und zugleich die Lösungen beschrieben hat, mit denen sie sich theologischer Kritik zu entziehen versuchten; z.B. durch die Einführung eines Sprechers in der Rollensatire, der als fiktives Selbst die Verantwortung vom Autor wegnimmt. Zwar ist die (fiktionale) Satire stärker im Blickpunkt von Timms als die Polemik, doch ist die unchristliche Intention für beide gleich charakteristisch. Abgesehen von dieser generellen Spannung zwischen Polemik und christlicher Ethik, die sich besonders an der Norm 5.3.2 „Versuche nicht die Person des Gegners zu diskreditieren" bewahrheitet, haben auch andere metakommunikativ thematisierte Normen eine christliche Grundlage; zumindest widersprechen

13

„Ich habe zum wenigsten meine Gegner, so ferne sie Menschen sind, nicht gehasset; sondern allezeit den Scribenten von dem ehrlichen Manne sorgfältig unterschieden. Daß mich aber die christliche Liebe verbinden sollte, die Thorheiten dieser Leute mit dem Mantel der Liebe zuzudecken, die sie, als Weisheit, vor den Augen aller Welt auskramen, und mit welchen sie sich brüsten, das glaube ich nicht" (Liscov 1739/1806, XXIV). - „Die Scheinheiligen meinen, dieses Spotten sey unerlaubt: sie sprechen, Ernst und Sanftmuth stehe einem Christen besser an. Ich sage ihnen aber, daß das Spotten zuweilen unumgänglich nöthig ist, und daß ein Christ auch lachen ud scherzen kann, ohne Sünde" (ebd., XXVI). „Es kann nicht einer Christ sein und Satiriker zugleich, ich meine in Mark und Bein ... Man kann nicht zwei Herren dienen, der Liebe und dem Haß" (Haecker im Dialog über die Satire [1930], zit. Timms 1986, 85).

257 Abweichungen von ihnen auch der christlichen Lehre. Lamping (1990) belegt diesen Sachverhalt an Pascals Lettres provinciales, in denen mit Berufung auf Augustin als erste Regel des Streitens genannt wird, „daß man im Streit wahrhaftig und aufrichtig sprechen und nicht aus Neid oder Haß lügen oder verleumden sollte" (ebd., 203), womit mehrere der in Kapitel 5 beschriebenen Normen erfasst werden können (5.3.1, 5.4.2, 5.4.3). Auch Pascals Forderung, Diskretion walten zu lassen, d.h. auf Persönlichkeiten zu verzichten, kann, abgeleitet aus dem Gebot der Nächstenliebe, christlich begründet werden. Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang die Untersuchung von Bogner (1997), der das „christliche Sittengesetz" (16) insgesamt als normative Basis der gegenwärtigen Alltagskommunikation identifiziert und seine Wirkungsgeschichte seit dem Mittelalter beschreibt. Das komplexe Regelsystem moralischer Normen, das die Beurteilung kommunikativen Verhaltens bis in die Gegenwart bestimmt, ist nach Ausweis Bogners das Produkt eines vielhundertjährigen Prozesses der Zivilisierung des Sprechens auf christlicher Grundlage. Der moderne Verhaltenskodex sei „weitgehend bereits während des Mittelalters von den theologischen Fachschriftstellern der Kirche im Rahmen einer differenzierten ethischen Theorie des Sprechhandelns unter Rückbezug auf die Bibel und die antike Philosophie erarbeitet und systematisiert" (XI) worden und in der frühen Neuzeit zunehmend in die breite Bevölkerung getragen worden. Entwicklung, Vermittlung und Durchsetzung dieser Normen beschreibt Bogner unter dem Stichwort „Disziplinierung der Alltagskommunikation" (Untertitel des Buches) als Teil des Zivilisationsprozesses im Sinne von Elias. Die auf diese Weise entstandenen moralischen Verhaltensregeln treten in der Bewertung von Sprechhandlungen neben die Grammatik (Richtigkeit), die Rhetorik (Wirksamkeit) und die Poetik (ästhetische Stimmigkeit), im übrigen auch neben die in 6.1.2 behandelten funktional begründeten Normen. 14 Bogner findet Elemente dieser Theorie der moralischen Bewertung von Sprechhandlungen, zentriert um den Begriff der Zunge {lingua), in zahlreichen Schriften der frühen Neuzeit im 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, verfolgt ihre Verbreitung und Durchsetzung über Verhaltenslehrbücher aller Art (Fürstenspiegel, Predigten, obrigkeitliche Schriften verschiedener Provenienz, Belletristik usw.) und beschreibt ihre allmähliche Entwicklung von zum Teil kodifizierten Sollensforderungen, die zunächst als Fremdzwang wirken, über die zunehmende Verhaltensregulierung in der Kindheit bis zu den heute internalisierten „alltäglich gelebten kulturellen Standards" (47). Das Buch enthält keinen Gesamtkatalog der negativ bewerteten „Zungenlaster", jedoch findet man den größten Teil der in Kapitel 5 beschriebenen Normen, soweit sie ethisch fundiert sind, in der Studie Bogners wieder: Eigennützige Motive (Spott, Prahlerei, Zank- und Streitsucht), den Gegner diskreditierende,

„Ihr Gegenstand ist also nicht die grammatische Korrektheit, die ästhetische Stimmigkeit oder die durch die persuasiven Techniken der Rhetorik hergestellte, größtmögliche Wirkungsmächtigkeit einer Mitteilung an andere, sondern ihre ethische Qualität, die nach den Regeln des christlichen Sittengesetzes bemessen wird" (17).

258 ehrverletzende Äußerungen (Beleidigung, Verleumdung, üble Nachrede, Ehrabschneidung), unwahre Aussagen (Lüge, Verfälschung des gegnerischen Standpunkts), bis zum öffentlichen Ausplaudern diskreditierender Geheimnisse. Das Buch belegt darüber hinaus Formen metakommunikativer Thematisierung solcher Normen schon in der alten Konfessionspolemik (152ff.).

6.1

Universelle Normen

Eine Reihe der in Kapitel 5 beschriebenen Normen hat eine so große Reichweite, dass man geneigt sein könnte, ihnen, über die christlich-europäische Tradition hinausgehend, Universalität zuzuschreiben. Kandidaten dafür sind etwa die Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit (5.4.3) und der Verzicht auf die Diskreditierung des Gegners (5.3.2 und 5.4.4). Sie und andere werden in linguistischen Untersuchungen zu Streit und Polemik in der Tat oft in den Termini universalistischer Theorieentwürfe, wie denen von Grice, Goffman oder Habermas, theoretisch verarbeitet (u.a. Gruber 1986, Schänk, in: Schank/Schwitalla 1987, Kärn 1993, Klein 1989, 1996, Heringer 1990, Piirainen 1996). Zweifellos liegt es nahe, die fur die Polemik zentrale Kategorie des Persönlichwerdens (auf der intentionalen wie auf der Ebene des Verhaltens) mit dem face- bzw. dem /mage-Konzept Goffmans (Goffman 1971, Holly 1979) zu verbinden und die Akte des Persönlichwerdens als /äce-bedrohende Züge zu deuten, mit denen der Polemiker das Selbstbild des Partners verletzt. Kärn (1993) beschreibt in diesem Sinne „Strategien des Nicht-Mehr-Versöhnlichen" im „Streiten jenseits möglicher kommunikativer Kooperation" (280) am Beispiel der Auseinandersetzung zwischen Lessing und Goeze. Unkooperativität äußert sich vor allem in den wechselseitig sich steigernden Imageverletzungen durch sogenannte „destroyer" (dazu auch Kärn 1986). Zwar sind die „destroyer" und ihr Gebrauch historisch variabel, für das von Goffman beschriebene Grundprinzip selbst wird jedoch eine universelle Grundlage angenommen. Verbreiteter noch ist in neueren Untersuchungen zum Streit und verwandten Text- bzw. Diskurstypen der Bezug auf die Konverationsmaximen von Grice. Auch in diesem Theoriekontext erscheinen die Streitstrategien als Verletzung des Grundprinzips der Kooperation, mit der Möglichkeit einer differenzierten Beschreibung mit Hilfe der Untermaximen der Quantität (Informativität), der Qualität (Wahrheit), der Relation (Relevanz) und der Modalität (Art und Weise, Klarheit), unter die sich dem ersten Anschein nach ein Großteil der in Kapitel 5 behandelten Normen subsumieren ließe. So ordnet etwa Schänk (1987) die „unkooperativen Strategien" in den von ihm untersuchten „konfliktären Gesprächen" nach den Maximen von Grice, wobei Strategien als unkooperativ gelten, wenn sie „nicht im Dienst der Verständigung stehen" (69), sondern darauf gerichtet sind, die definierten Beziehungsgefüge zu zerstören. Da sich trotz der Reichhaltigkeit und Differenziertheit des Griceschen Sets an Maximen nicht alle Streitstrategien, die unter dem Verdacht stehen, kommunikative Normen zu verletzen, dem Schema

259 zuordnen lassen, gibt es immer wieder Vorschläge, den Griceschen Bestand durch Zusatzmaximen zu erweitern. Klein (1989) ergänzt zwei weitere Obermaximen: „Streite geschickt" und - Goffman integrierend - „Beschädige nicht das Image deines Gesprächspartners." Piirainen (1996) fügt die auch von anderen vorgeschlagene Maxime „Sei höflich!", Klein (1996) eine Maxime „Rede fair!" hinzu. Letztere betrachtet Klein allerdings als „eine Art Kondensat der Griceschen Maximen in Hinblick auf Aussagen über Menschen unter dem Aspekt der Bewertung" (79), also als etwas, was bei Grice schon vorgesehen, nur nicht als Maxime benannt sei.15 Es ist offensichtlich, dass man in diesen erweiterten Maximenbestand eine ganze Reihe der in Kapitel 5 beschriebenen Normen einordnen könnte, an die man bei den von Grice selbst formulierten Maximen nicht ohne weiteres gedacht hätte. Gegen einen solchen Umgang mit Grice gibt es jedoch wie schon gegen die Erweiterung des Normenbestandes begründbare Einwände. Den wesentlichen Punkt benennt Meibauer (1999, 25f.): Bei einer flüchtigen Lektüre dieser Maximen könnte der Eindruck entstehen, es handele sich hier um eine Anleitung zu richtigem kommunikativen Verhalten. Im Alltagsverständnis ist eine Maxime ja eine Anweisung zu gutem oder ethisch richtigem Verhalten. Es ist nun sehr wichtig zu beachten, daß es sich darum bei Grice gerade nicht handelt. Es geht nicht um moralische Normen, sondern um Regeln rationalen Verhaltens. Zum Beispiel will Grice in der Qualitätsmaxime nicht sagen, dass es moralisch nicht zu vertreten ist, zu lügen, sondern daß Menschen ihren Gesprächspartnern rationalerweise unterstellen, daß sie es nicht tun. Es wäre nämlich in hohem Maße irrational, bei allen Behauptungen, die mir gegenüber jemand aufstellt, zunächst anzunehmen, daß mein Gesprächspartner gerade lügen könnte. 16

Als interaktionslogische Grundannahmen sind die Maximen Hintergrunderwartungen und keine Verhaltensnormen. Mit ihrer Hilfe gelingt es dem Hörer im Verstehensprozess, die Kluft zwischen der konventionalisierten „wörtlichen" Bedeutung der sprachlichen Ausdrücke und der nicht-konventionellen und kontextabhängigen „konversationeilen Implikatur" der Äußerung zu schließen. Beides zusammen erst ermöglicht es dem Hörer oder Leser zu erkennen, was der individuelle Sprecher mit seiner Äußerung in einer bestimmten Situation gemeint hat (dazu genauer Rolf 1994, Gerke 1995). Verstehen heißt in diesem Zusammenhang nicht weniger, aber auch nicht mehr als grammatisches, semantisches und pragmatisches Erfassen des vom Sprecher Gemeinten. 17 15

16

17

Zu dieser Maxime, mit der sich bewertungsrelevante Äußerungen über Menschen, also auch die negativen Prädikationen für den Gegner in polemischen Texten erfassen lassen, und die in dieser Funktion wie die Höflichkeitsmaxime eine theoretische Alternative zum Konzept der image-Verletzung Goffmans ist, schreibt Klein genauer: „Wer unfair redet, legt über Personen eine negative Wertung nahe, indem er unwahre bzw. nicht begründbare Aussagen macht (Verletzung der Maxime ,Rede fundiert'), indem er Unwesentliches hervorhebt (Verletzung der Maxime ,Rede zum Wesentlichen'), indem er penetrant Dinge wiederholt (Verletzung der Maxime ,Rede informativ')" (Klein 1996, 79). Ähnlich Girnth (2000), der sich am Beispiel Heringers (1990) mit der linguistischen Rezeption von Grice im Rahmen einer ethisch begründeten Sprachkritik beschäftigt. Dieses Verständnis von Grice entspricht der „rekonstruktiven Lesart", die Paul (1999,

260 Wendet man sich mit dieser Klärung wieder den polemischen Texten zu, so lässt sich leicht begründen, dass Polemiker dem Gegner gegenüber keine „verständigungsorientierte" Einstellung im Sinne von Habermas haben und dass der Sinn des Gesprächs für sie nicht in der Auslotung eines möglichen Konsenses liegt, sondern dass sie „Strategien-des-nicht-mehr-Versöhnlichen" (Kärn) anwenden und deshalb in mancherlei Hinsicht unkooperativ sind. Ob aber auch die von Grice gemeinte Kooperation als Bedingung der Möglichkeit des Verstehens betroffen ist, ist eine andere Frage. Sicherlich können in der polemischen Kommunikation wie überall sonst die Griceschen Maximen verletzt werden; es spricht aber nichts dafür, dass das Verstehen des Gemeinten grundsätzlich schwieriger wäre als anderswo, wenn und weil jemand polemisiert. Die Maximen, begriffen als Instrumente des Verstehens, haben einen anderen Status als die inhaltlich zum Teil gleich formulierten Normen, die der Polemiker verletzt (und metakommunikativ bestätigt). Polemische Unkooperativität schließt Kooperativität in der Sicherstellung der Möglichkeit des Verstehens nicht aus; denn der Polemiker, der jemanden verletzen will, hat genauso wie jeder andere ein Interesse daran, dass die verletzende Äußerung syntaktisch, semantisch und pragmatisch als das verstanden wird, als was sie gemeint ist, und er bringt deshalb die Kooperativität, die dazu notwendig ist, wie jeder andere auf. Im übrigen ist auch in diesem Zusammenhang an die veränderten Bedingungen zu erinnern, die mit der Mehrfachadressierung polemischer Texte und dem Publikum als primärem Adressaten gegeben sind. Da der polemische Text in der polemischen Situation primär eine Beziehung zwischen dem polemischen Subjekt und dem Publikum etabliert, ist es von vornherein problematisch, Einhaltung bzw. Verletzung der Maximen dem polemischen Objekt gegenüber überprüfen zu wollen. Sogar wenn man die Höflichkeitsmaxime als sinnvolle Ergänzung des ursprünglichen Schemas akzeptieren würde, wäre das Ergebnis, dass sie vom Polemiker - dem Publikum gegenüber - selten verletzt würde. Das sieht nur dann anders aus, wenn man die Zweckbestimmungen nicht am wahren Adressaten, sondern an dem vom Polemiker prätendierten orientiert. Als Ergebnis ist festzuhalten, dass die Normen in Kapitel 5, die inhaltlich mit den Griceschen Maximen übereinstimmen, dem Gegner vorwerfbare Verhaltensnormen sind und gerade deshalb einen anderen Status haben. Entsprechend ist die Unkooperativität, die man dem Polemiker zusprechen kann, nicht zugleich auch eine Verletzung des Kooperationsprinzips von Grice. Trotzdem gibt es keine prin-

60) folgendermaßen beschreibt: „Andererseits wird man Grice vermutlich nur dann gerecht, wenn man sein Modell vom Anspruch her auch als eine Rekonstruktion grundlegender Common-sense-Annahmen deutet, die von den Teilnehmern jeglicher Form der Handlungskoordinierung zugrundegelegt werden." Von diesem Verständnis her gesehen lässt sich u.a. gegen die Ergänzung einer Höflichkeitsmaxime argumentieren, denn „als normatives Postulat hat Höflichkeit einen anderen Status als die vom Kooperationsprinzip abgeleiteten Maximen", weil „im Gegensatz zu letzteren [ . . . ] die Maxime der Höflichkeit verletzt werden [kann], ohne daß weitere Inferenzhandlungen der Adressaten ausgelöst werden" (ebd., 67).

261 zipiellen Einwände dagegen, die Gricesche Systematik und seine Formulierungen für andersartige Zwecke zu nutzen. Nur sollte man nicht vergessen, dass man mit der Umdeutung der Maximen zu moralischen Verhaltensnormen auf letztere nicht zugleich die Universalitätsannahme übertragen darf. Es mag sein, dass die eine oder andere der in Kapitel 5 beschriebenen Normen ein in allen Kulturen vorhandenes Substrat besitzt, um notwendige Bedingungen erfolgreichen Kommunizierens im Sinne von Grice handelt es sich aber nicht.

6.1.5

Historizität der N o r m e n

Die Untersuchung der metakommunikativen Äußerungen gab nur selten Anlass, auf historische Veränderungen hinzuweisen. Der wesentliche Eindruck ist der einer großen Kontinuität, ein bemerkenswerter historischer Wandel stach nirgends ins Auge. Dennoch ist die Polemik als eine Art des Streitens selbstverständlich ein historisches Phänomen. Zielsetzung und Anlage der Untersuchung waren nur nicht geeignet, die Historizität in allen ihren Ausprägungen kenntlich zu machen. Um universalistische Missverständnisse zu vermeiden, sollten deshalb besonders drei Punkte beachtet werden. (1) Auch wenn der Eindruck der Kontinuität sich über einen längeren Zeitraum von ca. 250 Jahren erstreckt (18.-20. Jahrhundert), handelt es sich doch nur um eine begrenzte Zeitspanne in einem bestimmten sozio-kulturellen Kontext, der neuzeitlich-europäischen Kultur, wie diese sich in Deutschland ausgebildet hat. Es bleibt gänzlich unentschieden, ob und inwieweit die Befunde auch jenseits dieses Untersuchungsrahmens gelten. (2) Die von der Untersuchung nahegelegte Konstanz betrifft nicht die Polemik insgesamt, sondern nur die Normen, die in der polemischen Metakommunikation thematisiert werden, und von denen angenommen wird, dass sie die Bewertung des polemischen Verhaltens im Untersuchungszeitraum bestimmen. Es sind einschneidende Veränderungen in der Textart Polemik in mancherlei Hinsichten denkbar, ohne dass sich zugleich die normative Einschätzung des Polemischen in der Gesellschaft ändern müsste. Es ist also unabdingbar, die Frage nach der Historizität der Normen für polemisches Verhalten nicht zu vermengen mit der Frage nach der Geschichte des polemischen Verhaltens. Letzteres war nicht Untersuchungsgegenstand, und so blieben z.B. auch die zeitgenössischen Äußerungen zu historischen Veränderungen in den polemischen Auseinandersetzungen, die sich im Untersuchungsmaterial befinden, unbeachtet. Global charakterisiert, kann man sagen, dass die Autoren in dieser Frage dazu neigen, kulturkritisch immer wieder gerade in ihrer eigenen Zeit eine besonders verderbliche Zunnahme an polemischen Unsitten zu konstatieren. 18 Solche Meinungsäu18

Am Ende des 18. Jahrhunderts sieht z.B. Nicolai im „pöbelhaften Ton" und im „unreins-

262 ßerungen beziehen sich aber auf Veränderungen im polemischen Verhalten und behaupten keine Veränderungen in der Bewertung dieses Verhalten. Im Gegenteil bezeugen sie gerade die Kontinuität der Bewertungsmaßstäbe, mit denen die Verfasser die jeweils beklagten Tendenzen kritisch bewerten. (3) Schließlich kann es sein, dass die Untersuchungen in Kapitel 5 sogar auf der Normebene relevante historische Entwicklungen verdecken, weil die Abstraktionsebene, auf der die Normen, orientiert am metakommunikativen Reden über die Polemik, formuliert wurden, zu hoch ist. Es ist möglich, dass sich zwischen den Zeitpunkten Α und Β das Verständnis einer Norm und ihre Anwendung auf das konkrete Verhalten verändert hat, ohne dass die Entwicklungen einen Einfluss auf die Normformulierungen ausgeübt hat. So könnte etwa die Norm, Akte des Persönlichwerdens zu vermeiden, kontinuierlich sein, die Entscheidung aber, was als Persönlichwerden gilt, historischem Wandel unterworfen sein. In gleicher Weise können historische Verschiebungen der Grenze zwischen dem öffentlich Sagbaren und der schutzwürdigen Privat/Intimsphäre unterhalb der Abstraktionsebene liegen, auf der die Normen metakommunikativ formuliert werden. Die in den Punkten 1 - 3 formulierten Konjunktive sollen im Folgenden nicht in Indikative überfuhrt werden. Das Minimalziel ist auch hier, die Ergebnisse der eigenen Untersuchung rückblickend mit denen anderer wissenschaftlicher Studien zu vergleichen, soweit sie Aussagen über die Historizität der Bewertung des Polemischen enthalten. In der wissenschaftlichen Literatur sind fur die jüngere Geschichte der Polemik in Deutschland zwischen dem 18. und dem 20. Jahrhundert neben Lamping besonders die literaturwissenschaftlichen Beiträge von Günter und Ingrid Oesterle (1975) zur Polemik „nach der Kunstperiode und in der Restauration", im wesentlichen die Auseinandersetzungen zwischen Menzel und den Jungdeutschen (einschließlich der Begleitmusik) umfassend, sowie von Oesterle (1986), die Zeit von Aufklärung und Romantik behandelnd, bedeutsam. Die Autoren haben nicht das ausdrückliche Ziel, kommunikative Normen zu explizieren, die Bewertungsfrage ist aber - im zweiten Aufsatz - schon im Titel angesprochen (das „Unmanierliten Parteigeist" der Xenien „eine so neue wie traurige Erscheinung in der deutschen Literatur" (zit. Berghahn 1986, 196). - Dass der gleiche Eindruck die Zeitgenossen des Streites um die Jungdeutschen in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts beherrscht, überrascht nicht. Aber auch um 1890 meinen die Zeitgenossen besonders üble polemische Sitten feststellen zu können. Halbe (1890, 362f.) diagnostiziert eine allgemeine „Verrohung des Tones in Politik, Wissenschaft, Litteratur" als zeitgenössische „Gesellschaftskrankheit". Etwa zeitgleich klagen Sudermann (1902) über die „Verrohung in der Theaterkritik" und Saenger (1909) über besonders „üble polemische Sitten" im „ästhetischliterarisch-historisch-philologischen Gebiet" (1373). Dass schließlich auch die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts, verglichen sowohl mit den älteren Traditionen wie auch mit der unmittelbaren Gegenwart, sich durch einen besonders unrühmlichen Stil der persönlichen Diffamierung ausgezeichnet hätten, ist Grundtenor des Themenheftes der Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter (Kunst und Elend 1966; siehe die Beiträge von Raddatz, Höllerer und Handt).

263 che" der Streitschrift). Ich betrachte die beiden Aufsätze entgegen der Chronologie ihres Inhalts in der Reihenfolge ihres Erscheinens. In dem Aufsatz von 1975 behandeln Autor und Autorin den „literarischen Bürgerkrieg" um die Jungdeutschen, wobei sie sich auf beiden Ebenen bewegen, der der Praxis der polemischen Schriften und der des Redens über die Polemik. Auf der ersten liegt eine Behauptung wie die, dass die Polemik „bei den Jungdeutschen eine regelrechte Hochkonjunktur" erfahren habe (154), auf der Ebene des meta- bzw. extrakommmunikativen Redens über die Polemik liegt der Bezug auf Äußerungen, in denen die Polemik oder einzelne ihrer Mittel bewertet werden. So zitieren sie Heine, der seinen Rückgriff auf „das alte Schlachtschwert aus der Zeit der Bauernkriege" bzw. auf eine Polemik im Stile von Voß mit den gegenwärtigen Zuständen rechtfertigt (154), ähnlich wie später Marx und Engels (MEW 1, 381) eine „Kritik im Handgemenge" mit den anachronistischen deutschen Zuständen legitimieren. Mit Bezug auf Börnes „Verteidigung der Leidenschaft der Polemik" von 1819 sprechen sie ausdrücklich von einer „Rehabilitierung der Polemik", was eine vorangegangene Diskriminierung voraussetzt. Börne hatte allerdings die von ihm befürwortete Polemik von einer falschen abgesetzt; 19 und da letztere zweifellos nicht rehabilitiert werden soll, ist zu fragen, welche zu Unrecht diskreditierte Polemik bei Börne eine positive Bewertung erhält. I. und G. Oesterle weisen vor allem auf eine Umwertung hin, die sich aus dem von Börne vertretenen und von einigen Jungdeutschen aufgenommenen „Programm der Einheit von Kunst, Wissenschaft und bürgerlichem Leben" (155) ergibt, welches geeignet ist, die Grenze zwischen Person und Sache zu verschieben bzw. die Trennung überhaupt aufzuheben. 20 Die von Oesterle angesprochene Rehabilitierung der Polemik betrifft also gerade deren notorische Vermischung von Sache und Person, die in den Generationen zuvor zweifellos negativ bewertet worden war. Die Verfasser belegen das Misstrauen gegenüber der Polemik (als einer Textart, die diese Grenze nicht anerkennt) mit entsprechenden Äußerungen von Garve, Klopstock, Wieland, W. v. Humboldt und Kant (dazu auch Kapitel 2.2.2). Deren Skepsis erkläre sich „teilweise aus der unsicheren sozialen und gesellschaftlichen Anerkennung des freien Schriftstellers [...], der es nicht dienlich ist, wenn Schriftsteller auf dem Markt, wie noch Kant anführt, wetterwendisch, launisch [...] sich mutwillig Feinde' machen" (175). Das klingt plausibel, steht aber im Widerspruch dazu, dass die Konkurrenzverhältnisse der Schriftsteller auf dem literarischen Markt in der Analyse der Lessingschen Streitschriften wie auch im Blick auf die jungdeutschen Streitfalle bei den zeitgenössischen und bei den späteren wissenschaftlichen Beobachtern gerade umgekehrt auch die Vorliebe für 19

20

„Wahr ist's auch im Streite der Meinungen gibt es Waffen, deren Gebrauch in Kriegen das Völkerrecht, in Zweikämpfen die Ehre verbietet; es gibt öffentliche Redner, die entweder mit vergifteten Pfeilen die Rache der Heimtücke üben oder mit Prügeln, den Faustkampf der Gemeinheit durchfechten" (zit. Oesterle 1975, 155). Siehe dazu auch Homberg (1975, 117-119), der die praktischen Konsequenzen anhand von Laubes Moderne Charakteristiken (1835) beschreibt, die in dieser Hinsicht modernen „human-interest-stories" ähneln.

264 die Polemik erklären sollen. Wie dem auch sei, der Rehabilitierung der Polemik in der Restaurationsepoche, das ist als große Linie der historischen Entwicklung aus der Sicht von Oesterle/Oesterle (1975) festzuhalten, geht zuvor eine Diskreditierung voraus, die G. Oesterle in der späteren Studie über Das „ Unmanierliche " der Streitschrift (1986) in der Aufklärung verortet. In diesem Aufsatz zeichnet er „einige Stationen der Verdächtigung der Gattung Polemik von der Aufklärung bis zum Vormärz" (107) nach und versucht, ihr Verhältnis zur Kritik in Aufklärung und Romantik genauer zu bestimmen. Um über die Einschätzungen der Polemik bei den Zeitgenossen genauere Aussagen machen zu können, nutzt Oesterle (1986) ein breites Spektrum von Texten (theoretische Abhandlungen, Essays, Briefe, Aphorismen), die meist extrakommunikativ und weniger metakommunikativ geäußerte Aussagen über das Polemische enthalten. Die Veränderung, die er ab ca. 1770 wahrnimmt, beschreibt er in ihren wesentlichen Aspekten so: „Die Kritik wird entpolemisiert durch zwei folgenreiche Operationen: erstens die Trennung von Person und Sache und zweitens von Privatem und Öffentlichem. Der Austreibung des Affektischen und Expressiven folgt die Austreibung des Privaten und Persönlichen aus dem Bereich der Kritik" (111). Den resultierenden Verweis der Polemik an die Peripherie der Kritik belegt er u.a. mit Kants Kritik der Urteilskraft. Diese Tendenz, die Oesterle als etwas darstellt, was in der Aufklärung neu entstanden ist („die von der Aufklärung geforderte Trennung von Person und Sache", 118) empfangt bei ihm eine deutlich negative Bewertung: Mit der Unterdrückung der Neugierde an der Person, der Ausblendung der detaillierten Beobachtung des ins Private sich versteckenden Bürgers wird eine Norm des Verhaltens, des Schicklichen, des guten Tons, der Selbstbeherrschung aufgebaut und stabilisiert, die, wenn sie nicht die Kritik entmündigt, ihr jedoch enge Schranken weist (111).

Gegenstimmen gegen die aufklärerische Abwehr des Polemischen findet er, abgesehen von Lessing, vor dem Vormärz bei Friedrich Schlegel. Was Schlegel als Polemik positiv bewertet, ist freilich nur der verallgemeinerte Angriff auf das Zeitalter, nicht die Polemik gegen die einzelne empirische Person. Schlegels „Ästhetisieren und Totalisieren des Polemischen" (119) hebt deshalb für Oesterle, weil es wiederum ein Entpersönlichen nach sich zieht, die Dissoziation von Kritik und Polemik als Dilemma der Aufklärung nicht auf. Die von Oesterle bevorzugte Lösung des Problems bringt erst der Vormärz, auf den der Aufsatz von 1986 nur einen Ausblick gibt. Zusammengefasst zeigt die historische Entwicklung in den Beiträgen von Oesterle einen Dreierschritt: Als erstes eine Phase unbekannter Ausdehnung vor der Aufklärung, in der Polemik als Textart begriffen war, für die die Grenze zwischen Person und Sache nicht galt bzw. in der Grenzüberschreitungen von alters her typisch waren, ohne eine negative Bewertung nach sich zu ziehen. Genau wegen dieser Grenzüberschreitungen geriet die Polemik in der Frühaufklärung und der Folgezeit in Misskredit, um in einer dritten Phase, der Restaurationsepoche, erneut rehabilitiert zu werden.

265 Hinsichtlich der ersten Zäsur um 1770, hervorgerufen durch die aufklärerische Diskreditierung der Polemik, kann man in den Kapiteln 2.2.1/2.2.2 nachlesen, dass Polemik vor der Aufklärung in der Tat mit einer positiven Wertung verbunden war; doch kann man das nicht ohne weiteres zur Unterstützung Oesterles heranziehen, weil das Wort damals ein anderes Denotat hatte und die positive Wertung keinesfalls eine Aufhebung der Trennung von Person und Sache einschloss. Generell scheint es mir lohnend, anhand der in Kapitel 1 unterschiedenen Gebrauchsvarianten sorgfaltig zu überprüfen, ob das, was von den zitierten Autoren in Aufklärung und Romantik diskreditiert wird, immer identisch ist mit dem, was in der Restaurationsepoche rehabilitiert wird. Immerhin aber passen die von Oesterle betonten veränderten Ansichten über die Rolle der Affekte und die Rolle des Persönlichen gut in das Bild, das Geistes- bzw. Mentalitätsgeschichte über das 18. Jahrhundert herausgefunden haben. Die Zäsur wird z.B. von Bremerich-Vos (2003) unterstützt, der in etwas anderen Zusammenhängen, nämlich in der Einschätzung höflichen Verhaltens, auf einen zeitgleichen Wandel in der Bewertung der Eigennützigkeit hingewiesen hat, die ja im Gefuge der metakommunikativ thematisierten Normen ebenfalls eine wesentliche Rolle spielt (vgl. Kapitel 5.3.1).21 Dennoch wird der behauptete Einschnitt um 1770 vom Textkorpus dieser Untersuchungen nicht bestätigt. Die Trennung von Person und Sache und die von Privatem und Öffentlichem sind genauso wie das Misstrauen gegen die Affekte in Kritik und Wissenschaft schon in den frühen Texten der Textsammlung wie auch im Zedlerschen Universal-Lexikon aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts deutlich ausgeprägt. Über die Zeit vor dem 18. Jahrhundert kann ich auf der Basis des eigenen Materials keine Aussagen machen. Die Zeit liegt allerdings auch für Oesterle außerhalb des Blickfeldes. Beiläufig erwähnt er einmal den volkstümlich-derben Ton Luthers als Vergleichspunkt. Im übrigen ist es das Titelzitat von Lessing, „Zanken [sei] etwas so unmanierliches geworden" (107), das diese argumentative Stelle im Aufsatz Oesterles besetzt und damit vielleicht zu großes Gewicht erhält. Auch der Vergleich mit den Ergebnissen von Bogner (1997) zeigt, dass die in Kapitel 5 beschriebenen Normen zum großen Teil schon in der frühen Neuzeit bekannt waren. Die theologische Fachliteratur, in der die Ursprünge für die Beurteilung der Zungenlaster liegen, führen nach Bogner sogar ins Mittelalter. Es nicht unwahrscheinlich, dass man nicht nur die Normen selbst, sondern auch ihre strategische metakommunikative Thematisierung schon in früheren Epochen finden würde, wenn man sich die Mühe machte, sie systematisch zu suchen.22

22

„Die meisten Barockautoren halten den .Eigennutz' für den zentralen .inneren' Antrieb des Menschen. Diesen Eigennutz selbst als ,gut' oder ,böse' zu klassifizieren, kommt ihnen nicht in den Sinn" (Bremerich-Vos 2003, 53f.). Wer sich höflich verhält, folgt also einem „Nutzenkalkül". Wer es nicht tut, schadet sich selbst. Erst die Aufklärer lösen sich von dieser Sichtweise. Ihnen geht es, wie Bremerich-Vos weiterhin ausführt, nicht mehr nur um kluges Verhalten, sondern um tugendhafte Gesinnungen, an denen die Bewertung des Verhaltens orientiert ist. Die folgenden Zitate aus dem Streit zwischen Hutten und Erasmus von Rotterdam könn-

266 6.2

Alltagsweltliches Wissen und Kodifizierungen

6.2.1

Existenzweise der Normen

Die in der polemischen Metakommunikation thematisierten Normen, die wir als Bestandteil alltagweltlichen Wissens betrachtet haben, sind zum Teil in dieser oder jener Form auch kodifiziert. Das trifft zunächst für den Gesamtbereich der rechtlichen Setzungen zu, den wir in Kapitel 6.2.2 etwas genauer ins Blickfeld nehmen werden, gilt aber gleichfalls für christlich-ethisch begründete Normen, die als Teil der „Zehn Gebote" oder anderer kanonisierter Texte als religiöse Gebote bekannt sind 23 bzw. säkularisiert zur ethischen Grundausstattung der heutigen Gesellschaft gehören. Daneben existieren schriftlich fixierte Normen mit mehr oder weniger autoritativer Kraft in gesellschaftlichen Teilbereichen. In der Wissenschaft findet man u.a. ein ausgearbeitetes System von Regeln für das Zitieren und allgemein fur Redeerwähnungen (vgl. Norm 4.2) und für das Argumentieren (vgl. Normgruppe 4.6), die in speziellen Publikationen, z.B. den Empfehlungen zur Anfertigung wissenschaftlicher Arbeiten, niedergelegt sind. Andere bereichsspezifische Kodifizierungen existierten in studentischen Ehrenhändeln für Beleidigungen (vgl. Objartel 1984), aber auch in den Geschäftsordnungen von Parlamenten als Grundlage fur die Erteilung von Ordnungsrufen durch den Präsidenten. Als Vermittlungsinstanzen zwischen den Kodifizierungen und dem Alltagswissen fungieren die Medien, vor allem aber die Institutionen der primären Sozialisation. Hinsichtlich der Medien ist z.B. daran zu denken, dass sie durch die Berichterstattung über Äußerungsdelikte das Wissen über Beleidigungen mitfor-

23

ten so fast wörtlich auch in einem Text aus dem 19. Jahrhundert stehen: „Meine Sache ist nichts weniger als privat, mein Streit mitnichten bloß persönlich ... Weil ich das Vaterland retten wollte, gehe ich selbst zugrunde" (Hutten in einem Brief an den Kurfürsten von Sachsen im Sept. 1520; zit. Rohner 1987, 54: Norm 5.3.1). - „Leute, ob sie gleich wissen, wie manierlich ich mit Hutten in dem Schwämme [Titel einer Schrift des Erasmus] umgegangen bin, entblöden sich nicht zu sagen, ich hätte erst nach Huttens Tode meine Schrift herausgegeben, um gleichsam nur mit einem Gespenste mich schlagen zu müssen. Ich antwortete jedoch auf Huttens Vorwürfe sogleich im Julius" (Erasmus im Vorwort zur 2. Aufl. seiner Gegenschrift; zit. Rohner 1987, 69: Norm 5.1.3). - Siehe auch Schwitalla (1999, 23), der metakommunikative Äußerungen Luthers zitiert, in denen dieser u.a. das Prinzip einklagt, dass die Meinung des Gegners richtig darzustellen sei, was z.B. durch falsches Zitieren verletzt wird (Norm 5.4.2). Auch wehrt er sich gegen die Verletzung des Vertraulichkeitsgebotes durch Veröffentlichung „heimlicher", d.h. privater Briefe, die vom Verfasser nicht selbst durch Druck oder Abschriften öffentlich gemacht worden sind (Norm 5.4.5). Die Bedeutung dieses Prinzips erläutert Luther damit, dass privat Geäußertes keiner Verantwortung vor der Öffentlichkeit bedarf, was unterlaufen wird, wenn ein anderer, in diesem Fall Herzog Georg von Sachsen, einen „gestohlenen B r i e f verbreitet. Dazu gehören das Gebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" (das tendenziell jede Polemik ausschließt und in dieser Eigenschaft auch immer wieder reflektiert worden ist) und das Gebot „Du sollst kein falsch Zeugnis ablegen wider deinen Nächsten". Siehe auch die Bibelzitate in Kapitel 5.6.2 zur Wiedervergeltung.

267 men, zumindest deren rechtlichen Status ins Bewusstsein heben. Die wichtigsten sozialisatorischen Instanzen in der Ausbildung eines Wertesystems für die Beurteilung kommunikativen Verhaltens in der Ontogenese sind natürlich Eltern und Schule, im weiteren Sinne und nicht auf die Kindheit beschränkt auch der weite Bereich der auf Sprache und Kommunikation bezogenen Ratgeberliteratur und der Kommunikationsschulung. - Zu der historischen Frage, auf welcher Ebene die Normen originär ausgebildet wurden und auf welche Ebenen sie sekundär übertragen wurden, hat sich vor allem Bogner (1997) geäußert. Seine Darstellung der Entstehung und Verbreitung der Normen zur „Bezähmung der Zunge" legt nahe (siehe dazu Kapitel 6.1.3), dass sie sich nicht in der kommunikativen Praxis herausgebildet haben, um im zweiten Schritt kodifiziert zu werden, sondern dass der historische Beginn ihre theoretische Erarbeitung im theologischen Fachschrifttum war, deren Ergebnisse in der frühen Neuzeit über geeignete mediale Kanäle in den geistlichen und weltlichen Eliten und schließlich, unterstützt von obrigkeitlichen Kodifizierungen, in der allgemeinen Bevölkerung verbreitet wurden, bis dieser Komplex von Verhaltensregeln am Ende eines jahrhundertelangen Prozesses Teil des Erziehungskanons und der normalen Sozialisation des Kindes wurde und damit selbstverständlicher Bestandteil alltäglicher Weltorientierung. Die Frage muss offen bleiben, ob es nicht für Teilbereiche der Normen genauso plausibel ist anzunehmen, dass die rechtlichen Kodifizierungen sekundäre Verrechtlichungen von etwas sind, was in der kommunikativen Praxis ausgebildet worden ist. Aus dem Textmaterial selbst lässt sich diese Frage nicht beantworten.

6.2.2

Inhaltliche Beziehungen zu Straftatbeständen

Religiöse Gebote, juristische Kodifizierungen, Ratgeberliteratur und alltagsweltliche Erwartungen unterscheiden sich nicht nur in den sozialen Konsequenzen, mit denen ihre Nichtachtung geahndet wird, sondern auch in der Art und Weise, wie sie erlernt werden. Ein weiterer Aspekt der Beziehung zwischen ihnen ist die Identität oder Verschiedenheit der Norminhalte. Insofern war die bisherige Redeweise von den gleichen Normen auf verschiedenen Ebenen bzw. in unterschiedlichen Kommunikationsbereichen etwas unvorsichtig. Es gibt sowohl den Fall, dass auf der einen Ebene eine Forderung besteht, die auf der anderen ausdrücklich nicht erhoben wird, 24 als auch den Fall, dass eine Norm auf verschiedenen Ebenen Äquivalente hat, die inhaltlich differieren. Im Folgenden sollen die Beziehungen zwischen den in der polemischen Metakommunikation thematisier24

Eine Diskrepanz der ersten Art besteht zwischen den religiösen und den juristisch begründeten Normen derart, dass wer die Gesetze hält, vor Gott immer noch als Sünder dastehen kann. Das befindet das Zedlersche Lexikon in der Frage des Rechts zur Wiedervergeltung, zu dem es heißt: „Denn, wenn man gleich vor der Welt sich justificiren zu können, es den Schein hat, so behält man doch vor Gott ein böses Gewissen." Und das schmerzt mehr oder weniger, jedenfalls aber anders als eine Geldstrafe! Vgl. auch Kapitel 5.6.2.

268 ten Normen und den rechtlichen Kodifizierungen wenigstens im Überblick nachgezeichnet werden, da das Wissen von den Rechtsfolgen bestimmer Verhaltensweisen in der Metakommunikation selbst eine nicht nur marginale Rolle spielt. Zu diesem Zweck gehe ich von den in Kapitel 5 unterschiedenen Normen aus, um jeweils nach juristischen Äquivalenten zu fragen, sofern solche existieren. Letzteres ist keineswegs immer der Fall. Eine Norm wie 5.1.2 (Streite nicht gegen einen unwürdigen Gegner) beispielsweise, bei der das schutzwürdige Gut die eigene Ehre des Schreibers ist, bedarf keiner juristischen Stützung, weil kein öffentliches Interesse daran besteht. Es liegt ja im Handlungsspielraum des potentiellen Polemikers, diese Beeinträchtigung seiner Ehre selbst zu vermeiden. (1) Norm 5.3.2: Versuche nicht, die Person des Gegners zu diskreditieren Die Norm steht wie 5.4.4 in enger Beziehung zu den juristischen Regelungen, mit denen das Rechtsgut der äußeren Ehre vor Verletzungen durch die sogenannten Äußerungsdelikte geschützt wird. Im gegenwärtigen Strafgesetzbuch ( 27 1993) handelt es sich vor allem um die §§185 (Beleidigungen als Ausdruck eigener Missachtung gegenüber einem Beleidigten oder gegenüber Dritten), 186 (Üble Nachrede als Förderung fremder Missachtung durch nicht erweislich wahre Tatsachenbehauptungen gegenüber Dritten), 187 (Verleumdung als Förderung fremder Missachtung durch wider besseres Wissen geäußerte Tatsachenbehauptungen gegenüber Dritten). In zweiter Linie gehören auch rechtliche Bestimmungen dazu, die einen besonderen Schutz der Ehre oder benachbarter Werte für spezifizierte Personen oder Personengruppen vorsehen (§§ 90,90a, 90b, 103,166,189). Die juristischen Regelungen enthalten in den §§ 185-187 eine Differenzierung der Ehrverletzungen, die alltagsweltlich nachvollziehbar ist, in dieser Form der polemischen Metakommunikation aber nicht zugrunde liegt. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass das funktionale Argument - Bezüge auf die Person tragen nicht zur Klärung der Sache bei - , das die Norm 5.3.2 mitbegründet, in den Rechtsartikeln entfallt. (2) Norm 5.4.1: (?) Streite nicht anonym Die Rechtwidrigkeit der Anonymität des Textproduzenten ist in historisch wechselnden Formen im gesamten Untersuchungszeitraum seit dem 18. Jahrhundert in der Zensur- und Pressegesetzgebung verankert, um den staatlichen Autoritäten Zugriffsmöglichkeiten zu verschaffen, wenn in Texten (andere) Gesetze verletzt werden. In der Regel verfugt die Gesetzgebung allerdings nicht die Namensnennung des Autors, sondern die des Druckers, Verlegers oder die eines verantwortlichen Redakteurs. 25 Die Vorwerfbarkeit der Anonymität in der polemischen Meta-

25

In der Preußischen Zensur-Ordnung vom 18. Oktober 1819 lautet der einschlägige Artikel 9: „Alle Druckschriften müssen mit dem Namen des Verlegers und Buchdruckers, letzterer am Ende des Werks, alle Zeitungen und Zeitschriften mit dem Namen eines im preußischen Staate wohnhaften bekannten Redakteurs versehen seyn" (Huber

269 kommunikation beruht aber nicht auf ihrer Rechtswidrigkeit, sondern bezieht ihre Logik aus einer bestimmten Auffassung von Fairness, an der gemessen sich der anonyme Kämpfer in der Auseinandersetzung - ethisch vorwerfbar - Vorteile verschaffen bzw. sich aus Feigheit vor dem Gegner verstecken kann. Alltagsweltlich thematisierte Norm und Rechtsregel haben in diesem Fall den gleichen Gegenstand, die Anonymität, begründen die Vorwerfbarkeit aber unterschiedlich. Auch die Nennung der angegriffenen Person entsprechend der Norm 5.4.1.2 „Verschweige nicht den Namen deines Gegners" kann unter Umständen rechtlich relevant werden. So gab der Bundesgerichtshof am 8. Dez. 1959 dem Landgericht Frankfurt am Main Recht, das einen Journalisten wegen Beleidigung verurteilt hatte, weil er zwei Mitglieder einer Fraktion des deutschen Bundestages ohne Namensnennung der Unterstützung einer getarnten kommunistischen Wochenzeitschrift beschuldigt hatte und damit nach Auffassung des Gerichts alle Mitglieder der Fraktion verdächtigt habe. 26 Im Kern stimmt das mit der nicht-juristischen Argumentation Max Frischs in der Polemik gegen Emil Staiger (vgl. Kapitel 5.4.1.2) überein, auch wenn die Zielrichtung in diesem metakommunikativen Zeugnis weder die Gesetzwidrigkeit noch der Sachverhalt der Beleidigung war, sondern die unzulässige Verallgemeinerung und die Möglichkeit, sich durch mangelnde Identifizierung der eigentlich gemeinten Personen gegen Kritik zu immunisieren. (3) Norm 5.4.2: Verfälsche nicht den Standpunkt des Gegners Verletzungen der Norm 5.4.2 können rechtliche Konsequenzen haben, wenn die Verfälschung des gegnerischen Standpunktes (auch) durch die Äußerung wissentlicher Unwahrheiten geschieht. In dieser Hinsicht ist die Norm 5.4.2 ein Spezielfall der folgenden. (4) Norm 5.4.3: Mache keine Äußerungen, die wissentlich Unwahres enthalten Die Norm spielt in allen Rechtsartikeln eine Rolle, in denen die Wahrheit von Tatsachenbehauptungen relevant ist. Unter den ehrverletzenden Äußerungen ist das der Fall in § 186 (Üble Nachrede) und § 187 (Verleumdung), darüber hinaus in § 164 (Falsche Verdächtigung) bei Beschuldigungen wider besseres Wissen, eine rechtswidrige Tat oder eine Dienstpflichtverletzung begangen zu haben. Die juristischen Bestimmungen über die Äußerungsdelikte stimmen mit der polemischen Metakommunikation darin überein, dass die Norm nicht ohne Einschränkungen in das positive Gegenstück „Sage (immer und vollständig) die Wahrheit" umformuliert werden darf. Auch als Entschuldigungsgrund für die Verletzung anderer Normen („Was wahr ist, darf gesagt werden") taugt die Wahrheit des Ausgesagten

26

1961-1966), Bd. I, 95ff.). Wird eine Schrift tatsächlich beanstandet, ist der Verleger im zweiten Schritt nach Artikel 13 verpflichtet, auch den Namen des Autors zu nennen. „Durch die Äußerung eines ehrenkränkenden Verdachts, die sich ihrer äußeren Form nach gegen einen einzelnen Angehörigen einer bestimmten Personenmehrheit richtet, ohne ihn namentlich oder sonstwie deutlich zu kennzeichnen, kann der Täter sämtliche Angehörige dieser Personenmehrheit beleidigen" (Entscheidungen 1949ff., Bd. 14, 48).

270 nur bedingt. Am deutlichsten wird das in § 192 (Beleidigung trotz Wahrheitsbeweis), demzufolge eine Äußerung wegen ihrer Form oder wegen der Umstände des Äußerns trotz der Wahrheit des Ausgesagten eine rechtswidrige Beleidigung sein kann. Hinsichtlich der Form ist z.B. an den Gebrauch von Schimpfwörtern zu denken, hinsichtlich der Umstände z.B. an die Frage, ob an der ehrenrührigen, wenn auch wahren Tatsache ein öffentliches Interessse besteht oder ob die Veröffentlichung ein sogenannter „Publikationsexzess" ist, ein Gedanke, der der Begründung für die Norm 5.2.1 (Streite nicht um Nichtigkeiten) nahe kommt. (5) Norm 5.4.5: Mache keine Äußerungen, die vertraulich erworbene Informationen enthalten Auch im Strafgesetzbuch sind in den Artikeln 201-203 bestimmte Ausschnitte der Privatsphäre geschützt (vgl. Haft 1982, 6Iff.). Die Titel der Artikel klingen freilich weitreichender, als sie in ihrem Inhalt sind: §201 (Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes) betrifft nur Aufzeichnungen des „nichtöffentlich gesprochenen Wortes" durch Tonträger oder über Abhörgeräte; § 202 (Verletzung des Briefgeheimnisses) stellt die Öffnung oder andere Formen der Kenntnisnahme des Inhalts verschlossener Briefe oder anderer Schriftstücke unter Strafe (dazu auch Artikel 10 des Grundgesetzes über das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis); § 202a (Ausspähen von Daten) ist das Äquivalent von § 202 für elektronische Daten; § 203 (Verletzung von Privatgeheimnissen) erfasst nur das Handeln der in diesem Paragraphen aufgelisteten Personengruppen (Ärzte, Psychologen, Rechtsanwälte etc.), die im Rahmen ihrer Berufstätigkeit Zugang zu Privatgeheimnissen bekommen. Man sieht, dass der in der polemischen Metakommunikation thematisierte Normalfall, dass das polemische Subjekt als beliebige Privatperson Kenntnis vertraulicher Informationen erhält und öffentlich macht, in keinem Artikel des Strafrechts explizit abgedeckt ist. Die einschlägige Rechtsnorm, dass Briefe und andere private Mitteilungen auch jenseits der Schweigepflicht der in § 203 genannten Personen nur mit Zustimmung des Urhebers veröffentlicht werden dürfen, ist ein aus Artikel 2 des Grundgesetzes entwickeltes „Richterrecht" (vgl. dazu Wesel 1995). (6) Norm 5.5.1: Verzichte auf Elemente des Schimpfstils Diese Norm hat einen gewissen Bezug zu § 192 (Beleidigung trotz Wahrheitsbeweis), der das Vorhandensein einer Beleidigung und damit die Rechtwidrigkeit einer Äußerung „aus der Form der Behauptung" (Formalbeleidigung), u.a. aus dem Gebrauch von Schimpfwörtern (s. oben unter Punkt 4), ableitet, auch wenn die Wahrheit des Behaupteten erwiesen ist. Es sei aber daran erinnert, dass die Norm 5.5.1 nicht nur auf den beleidigenden Charakter der Schimpfwörter zielt, sondern dass diese negativ bewertet werden, weil sie zum einen Indiz für eine mangelnde Besonnenheit des Kritikers sein können (Norm 5.3.4), zum anderen Zeugnis einer schlechten (sprachlichen) Kinderstube (5.5.1).

271 (7) Norm 5.6.1: Ein persönlich Angegriffener darf sich verteidigen Der Rechtfertigungsgrund 5.6.1 hat z.T. ein juristisches Äquivalent im strafrechtlich verbürgten Rechtfertigungsgrund der Notwehr nach § 32, in dem die Rechtswidrigkeit einer Verteidigung verneint wird, solange sie „erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden". Das gilt auch für die sogenannte „Ehrennotwehr", mit der eine nicht beendete Beleidigung mit einer Gegenbeleidigung abgewehrt werden kann (vgl. dazu Norm 5.6.2 im nächsten Abschnitt). Die Möglichkeit, eine Beleidigung vor ihrer Beendigung erfolgreich abzuwehren, ist allerdings generell begrenzt und fur schriftliche Kommunikation wohl so gut wie ausgeschlossen, so dass der Notwehr-Artikel nur sehr bedingt eine Rechtfertigung im Sinne der Norm 5.6.1 stützen könnte. Widersprechend könnte man darauf aufmerksam machen, dass die Berufung auf Notwehr als Rechtfertigungsgrund in der polemischen Metakommunikation recht häufig ist; doch ist, was dort Notwehr heißt, in Wahrheit, juristisch betrachtet, meist „Wahrnehmung berechtigter Interessen" im Sinne von § 193, der unter anderem ein individuelles Interesse kennt, das in Abwägung mit dem Ehrenschutz des Gegners die Rechtswidrigkeit eigentlich ehrenrühriger Äußerungen aufheben kann. (8) Norm 5.6.2: Gleiches darf mit Gleichem vergolten werden Diese Norm spielte rechtlich im 18. und 19. Jahrhundert eine größere Rolle als heute. Man findet das Prinzip aber auch heute noch, u.a. in § 199 (Wechselseitige Beleidigungen), der über eine Ermessensentscheidung des Richters Straffreiheit ermöglicht, wenn eine Beleidigung „auf der Stelle" erwidert wird. Auch diese Bestimmung scheint auf den ersten Blick in geschriebener Kommunikation nicht anwendbar; doch schließt der Kommentar von Schönke/Schröder (1991, 1447) die Möglichkeit einer schriftlichen Erwiderung am nächsten Tag nicht grundsätzlich aus. Für die Gewährung der Straffreiheit ist nur erforderlich, dass „die Zweittat durch die infolge der Erstbeleidigung ausgelöste affektive Erregung verursacht ist" (1448), was plausibel zu machen für zeitverzögerte schriftliche Erwiderungen schwerer fällt als in mündlich-dialogischen Kommunikationssituationen. Im Prinzip aber bietet der Artikel die Möglichkeit der Straffreiheit bei einer zurückgegebenen Beleidigung auch dann, wenn die Erstbeleidigung schon abgeschlossen ist und die Zweitbeleidigung deshalb nicht mehr als Notwehr im Sinne des § 32 gerechtfertigt werden kann. (9) Norm 5.6.3: Gefahr für das Gemeinwesen darf abgewendet werden Ein juristisches Äquvalent für den Rechtfertigungsgrund 5.6.3 bietet § 193 StGB (Wahrnehmung berechtigter Interessen). Zentral für die Bestimmung und Einschätzung des berechtigten Interesses in Abwägung mit dem „Allgemeinen Persönlichkeitsrecht" (nach Art. 2 des Grundgesetzes) ist der Artikel 5 GG, der im Prinzip sowohl das individuelle

272 Interesse des persönlich Angegriffenen an öffentlicher Verteidigung (Norm 5.6.1) als auch das öffentliche Interesse an gewissen Einschränkungen des Persönlichkeitsrechts zugunsten des allgemeinen Wohls (Norm 5.6.3) gewährleistet. 27 Wie in der polemischen Metakommunikation kann man auch rechtlich nicht alle Arten von Äußerungen rechtfertigen. Generell gilt das Erfordernis, dass die verwendeten Mittel für die Wahrnehmung eines berechtigten Interesses geeignet, notwendig und verhältnismäßig sind. Unwahre Tatsachenbehauptungen sind von vornherein ausgeschlossen, ebenso rein diffamierende oder schmähende Absichten, Eindringen in die Intimsphäre u.a.m. - In der Güterabwägung zwischen Persönlichkeits- und Ehrenschutz auf der einen und Ausübung der Meinungsbzw. Kunstfreiheit nach Artikel 5 GG auf der anderen Seite gibt die gegenwärtige Rechtsprechung der Meinungs- und der Kunstfreiheit oft so großes Gewicht (vgl. Weizsäcker 1995), dass das alltagweltliche Gefühl für die Akzeptabilität von persönlichen Angriffen von den Gerichten gelegentlich strapaziert wird. 28 (10) Norm 5.6.4: Ein Ehrloser darf als Ehrloser behandelt werden Diese Norm, die in der polemischen Metakommunikation nur unsicher verankert ist, findet in manchen Zusammenhängen eine rechtliche Stütze. So fordern etwa Schönke/Schröder ( 20 1980, 1273), bei Anwendung von § 199 (Wechselseitig begangene Beleidigung) zunächst zu prüfen, ob die fragliche Erwiderung überhaupt als Beleidigung zählen soll. Und dabei spielt der Gedanke eine Rolle, dass „derjenige, der sich einer Beleidigung schuldig gemacht hat, einen geringeren Anspruch auf Achtung seiner eigenen Ehre besitzt" (ebd. mit Verweis auf eine Gerichtsentscheidung aus dem Jahre 1972). (11) Norm 5.6.5: Mildernde Umstände machen Regelverletzungen entschuldbar Unter den Entschuldungsgründen ist besonders die auch im Recht verankerte Schuldminderung des Handelns im Affekt zu nennen. Das zeigt sich in unter-

27

28

Artikel 5 GG postuliert im ersten Absatz das Grundrecht der freien Meinungsäußerung sowohl im Interesse der individuellen wie auch der öffentlichen Meinungsbildung (Pressefreiheit). Absatz 2 enthält Einschränkungen der Meinungsfreiheit, zu denen die Vorschriften der allgemeinen Gesetze, der Schutz der Jugend und das Recht der persönlichen Ehre gehören. Absatz 3 postuliert die Freiheit der Kunst und die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung, die - anders als die Meinungsfreiheit in Absatz 2 - durch keinen Gesetzesvorbehalt eingeschränkt sind, deren Grenzen also nur in Abwägung mit anderen grundgesetzlichen Werten (Toleranzgebot, öffentlicher Friede, Recht auf persönliche Ehre etc.) bestimmt werden kann. Voigt (1992), der den Prozess zwischen dem Kaufhausbesitzer Horten und dem Schriftsteller Delius wegen des Gedichtes „Moritat" in einer Unterrichtseinheit behandelt hat, kommt hinsichtlich der Reaktionen der Schüler zu dem Ergebnis: „Schüler im Unterricht erlauben der Satire durchaus nicht,alles'. Viele sind viel strenger als jedes Gericht [...], wenn es sich um eine wirklich lebende Person handelt" (57). Voigt erklärt diese Haltung mit dem „sehr empfindlichen Selbstwertgefuhl Jugendlicher" (ebd.), doch dürfte die Beobachtung verallgemeinerbar sein.

273 schiedlichen Zusammenhängen auch in der Beurteilung sprachlichen Handelns. So ist die verständliche affektive Erregung eines Beleidigten eine Begründung für die mögliche Strafloserklärung im Falle einer Gegenbeleidigung nach § 199. Auch in Artikel 33 (Überschreitung der Notwehr) ist festgelegt, dass der Täter trotz Überschreitung nicht bestraft wird, wenn er „die Grenzen der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken [überschreitet]". Zusammenfassend kann man sagen, dass nur ein Teil der in der polemischen Metakommunikation thematisierten Normen ein Äquivalent auf der juristischen Ebene hat, weil in vielen Fällen kein gesellschaftliches Interesse besteht, die Norm durch Verrechtlichung zu unterstützen. Wo eine Verrechtlichung vorliegt, ist die gemeinsame Wertegrundlage erkennbar; doch bestehen zwischen den alltagsweltlichen und den juristischen Normen keine l:l-Beziehungen, auch wenn der Gesamteindruck der einer zwar komplexen, doch recht engen Beziehung ist. Das kann man sozusagen „objektiv" von außen feststellen. Eine andere Frage ist, ob der juristische Hintergrund in der polemischen Metakommunikation selbst auch eine Rolle spielt oder zumindest mitgedacht ist. Um darüber Aussagen machen zu können, muss man in den polemischen Texten nach Hinweisen suchen, die belegen, dass den Streitenden die Rechtsförmigkeit der Normen bekannt ist und dass sie sie für ihre polemischen Zwecke als relevant erachten. .

6.2.3

M e t a k o m m u n i k a t i v e T h e m a t i s i e r u n g der R e c h t s f ö r m i g k e i t

Betrachtet man die folgende, syntaktisch leicht vereinheitlichte Liste von Bezugnahmen auf Normen aus dem Äußerungskorpus, in denen immer von einem zu beurteilenden kommunikativen Verhalten X die Rede ist, so fallt auf, dass die Einträge gegen Ende hin zunehmend die Existenz zwar nicht ausdrücklich juristischer, aber doch statuierter Normen nahelegen. Ich habe geglaubt, dass es jedem frei stehe, X zu tun. X ziemt am wenigsten. X schickt sich nicht. X wäre unehrenhaft. Die Alten pflegten, X zu tun. Es gilt für eine alte Regel, dass X. Ich kenne diese Regel, dass X. Ich muss die Anstandsregeln des literarischen Kampfes aufrechterhalten. Einverstanden mit dem Grundsatz, dass X. Eine meiner Ansicht nach falsche Doktrin, dass X. Ein altes Gesetz der Spartaner untersagte X. X gehört zu den vom Kriegsrecht der kultiviertesten Völker anerkannten Waffen des Kritikers.

Auch wenn als Gesamteindruck vorherrschend bleibt, dass die Schreiber sich mit ihrem Publikum auf der Grundlage eines gemeinsamen Wissens darüber, was man tut und was man nicht tut, verständigen, ohne sich dabei an Gesetzen zu

274 orientieren, ist das Bewusstsein, dass die thematisierten Nonnen zum Teil (auch) in kodifizierter Form existieren, in der polemischen Metakommunikation also durchaus präsent. Nicht selten wird der rechtliche Status der Normen auch explizit angesprochen, und zwar geschieht das vor allem in zwei Formen: (1) Die Norm, von der die Rede ist, wird ausdrücklich als (auch) rechtliche Norm gekennzeichnet, so dass der Schreiber, der für sich Normtreue in Anspruch nimmt, sich zugleich als Gesetzesbefolger profilieren und den Gegner, der die Norm bricht, als Gesetzesbrecher diskreditieren kann (z.B. Campe 1789/1993, 33f.). Letzteres geschieht z.B. in Vorwürfen, sich einer Beleidigung oder eines anderen Äußerungsdeliktes schuldig gemacht zu haben. Auffällig häufig ist die Berufung auf die Rechtsnorm auch, wenn der Schreiber in eigenem Interesse in Anspruch nimmt, eine Beleidigung straflos erwidern zu können (z.B. Kerr 1932/1961, 377) oder in anderer Weise Gleiches mit Gleichem zu vergelten (z.B. Hoff 1839/1977, 19). - Der juristische Hintergrund kann auch allein durch Benennung der Handlungen des Gegners mit sprechakt- bzw. texttypbezeichnenden Ausdrücken wachgerufen werden, die zugleich oder sogar in erster Linie Straftatbestände bezeichnen: Beleidigung, Üble Nachrede, Verleumdung, Verunglimpfung, Beschimpfung, Verdächtigung, Schmähung, Schmähschrift, Invektive, Pasquill, Briefgeheimnis u.a. Eine gewisse Unsicherheit besteht allerdings darin, dass diese rechtsprachlichen Ausdrücke zum Teil auch in die Bildungs- oder sogar in die Allgemeinsprache eingegangen sind und daher nicht sicher ist, ob in ihrem Gebrauch der rechtliche Status des Bezeichneten mitgedacht ist. In der Verteidigung des eigenen Verhaltens beliebt ist der rechtsprachliche Ausdruck Notwehr, auch wenn mit ihm in der polemischen Metakommunikation manches bezeichnet wird, was keine Notwehr im juristischen Sinne ist. (2) Der Schreiber thematisiert in seiner Schrift die Möglichkeit oder Faktizität einer Klage oder eine schon stattfindende gerichtliche Auseinandersetzung zwischen den Kontrahenten als Teil oder Konsequenz der polemischen Auseinandersetzung (z.B. Holz 21909, 55 oder Stapel 1930a, 167/1930b, 315-17). Das kann wieder die oben genannte Funktion haben (Beweis der Normtreue, Vorwurf der Normverletzung), doch sind solche Prozessberichte auch in anderen Hinsichten rhetorisch sinnvoll. Schon die Bekundung der Absicht, den Gegner zu verklagen, kann der polemischen Instanz gegenüber von Vorteil sein, weil der Eindruck erweckt wird, dass der potentielle Kläger seiner Sache sicher ist. Umgekehrt wird der Gegner bzw. seine Position geschwächt, wenn man ihm unterstellen kann, dass er einem Prozess ängstlich aus dem Wege geht (z.B. Fried 1907, 105). Und natürlich fördert es die Ziele des polemischen Subjekts, wenn er von einem gerichtlichen Erfolg berichten kann.

7

Epilog: Erfolgsbedingungen des Polemikers

7.0

Einleitung

Die erste in Kapitel 1 formulierte Aufgabe, die Rekonstruktion der in der polemischen Metakommunikation thematisierten Normen, war in den Kapiteln 5 und 6 Hauptgegenstand, während die zweite Aufgabe eher mitlief und noch einer ausdrücklichen Wiederaufnahme bedarf. Es ging um die Frage, wie jemand, der bei seinem Publikum Zustimmung für sich selbst und seine Position und Ablehnung des Gegners und seiner Position erlangen will, glauben kann, sein Ziel mit polemischen, d.h. mit weithin negativ bewerteten Mitteln erreichen zu können, die ihn in den Augen des Publikums eigentlich diskreditieren müssten. Die Berechtigung der Frage, die nicht nur einzelne Polemiken, sondern die Schreibart als solche betrifft, verstärkt sich, wenn man sich vor Augen hält, dass die Kritikwürdigkeit des polemischen Verhaltens von den Beteiligten in den polemischen Texten ja selbst immer wieder bestätigt wird. Trotz dieses möglichen Nebeneffekts der metakommunikativen Thematisierung der Normen stand die Behandlung der zweiten Aufgabe unter der Hypothese, dass gerade dem „Streiten über das Streiten" in zu klärender Weise eine wesentliche Rolle in der Beantwortung der Leitfrage zukomme. Dass die höchst intensive Thematisierung der Normen wesentlich ein Versuch des Polemikers ist, negative Bewertungen seines eigenen Verhaltens nach Möglichkeit abzuwehren, indem er sich auf Metaebene als Wahrer der Normen profiliert und den Gegner als Normverletzer anschwärzt, hat m.E. die Beschreibung des metakommunikativen Umgangs des Polemikers mit den Normen in Kapitel 5 ausreichend bestätigt. Doch hat sich damit das Problem nicht in Wohlgefallen aufgelöst, denn es ist kaum ein Publikum vorstellbar, das sich darüber hinwegtäuschen ließe, dass der, der sich auf der Metaebene zum Sachwalter der Normen macht, diese Normen oft im gleichen Text verletzt. Mit der Metakommunikation wird nicht viel mehr als ein Gaze-Vorhang vor das Geschehen auf der polemischen Bühne gezogen, der zwar zu den Erfolgsbedingungen des Polemikers gehört, die Möglichkeit, mit Hilfe eines polemischen Textes sein Kommunikationsziel zu erreichen, aber nur unvollkommen zu erklären imstande ist. In den Teilkapitel 7.1.1 und 7.1.2 verlasse ich deshalb vorübergehend die polemische Metakommunikation und diskutiere die Tragweite eines ganz anderen Erklärungsansatzes, der in der extrakommunikativen Reflexion der Polemik eine erhebliche Rolle spielt, nämlich die „Lust an der Polemik" als Erfolgsgarantie des Polemikers, bevor ich in 7.1.3 versuche, beide Komponenten zusammenzu-

276 führen. Da man aus der Analyse von Texten keine sicheren Rückschlüsse auf die Wirkungen dieser Texte bei den Adressaten ziehen kann, beanspruche ich für die abschließenden Überlegungen über die Erfolgsbedingungen des Polemikers nicht mehr als Plausibilität.

7.1

Die Lust an der Polemik und ihre Grenzen

7.1.1

Welche Lust?

Die These von der durch Polemik befriedigten Lust beinhaltet die Auffassung, dass der Unterhaltungswert der Polemik oder eine auf andere Weise befriedigte Lust den Erfolg des Polemikers bedinge, sei es, dass die negative Bewertung der problematischen Aspekte polemischen Verhaltens angesichts des Lustgewinns überhaupt nicht wachgerufen wird, sei es, dass die Tatsache der Normverletzung vom Rezipienten in Kauf genommen wird, weil der Lustgewinn unter dem Strich überwiegt. 1 Der Begriff der Lust ist in diesem Zusammenhang weit gefasst. Gemeint sind alle Arten der Befriedigung, die eine Polemik - jenseits der Befriedigung, die jeweils strittige Sache mit guten Argumenten geklärt und die Wahrheit siegen zu sehen - einschließlich der Vermeidung von Unlust verschaffen kann. Die Spielarten der Lust, die der Polemiker nutzen kann, um das Wasser auf seine Mühlen zu lenken, sind vielfältig. Sie bewegen sich, jeweils mit mehr oder weniger großen Überschneidungen, auf einer Skala zwischen Schopenhauers „Appell an die Thierheit" und dem intellektuellen Vergnügen, das ein gelungener Witz bereiten kann, auch wenn er auf Kosten eines anderen geht. (1) Psychische Entlastung: Eine erste Möglichkeit des Lustgewinns besteht in der Befreiung von frustrierenden Belastungen und dem Ausleben von Aggressionen gegenüber dem polemischen Objekt. 2 Polemisches Streiten kann als „Stuhlgang 1

2

Am Extrempunkt steht die Möglichkeit des Lustgewinns nicht trotz, sondern wegen der polemischen Nonnverletzungen, wenn die Grenzüberschreitung zum Verbotenen hin, die der Polemiker für den Leser stellvertretend vollzieht, diesem Befriedigung verschafft. Lamping (1986) erklärt die Existenz des literaturkritischen Genres „Verriss" insgesamt mit der durch ihn verschafften psychischen Entlastung: „Ich gehe davon aus, daß die Beschäftigung mit Literatur und zumal mit anspruchsvoller Literatur nicht nur unterhaltend und belehrend, nicht nur bildend und belebend, sondern auch belastend sein kann: belastend für den Schriftsteller, der sich als Konkurrent seiner toten, vor allem aber seiner lebenden Kollegen empfindet; belastend weiter fur den Kritiker, der stets darauf angewiesen ist, daß zunächst ein Schriftsteller ein Buch - und sei es ein schlechtes - vorlegt, das er dann rezensieren kann; belastend schließlich sogar für den Leser und gerade für den Leser, der nur Leser ist und der sich darum jedem Schriftsteller gegenüber erst einmal lediglich in der Position des Publikums, eines zur Dankbarkeit und womöglich zur Bewunderung angehaltenen Empfängers befindet" (39). Solche Belastungen erklären nach Lamping auch beim Kritiker einen Wunsch nach Entlastung, der durch „ag-

277 der Seele" wirken bis hin zu imaginierten, inszenierten oder auch nur metaphorisch bemühten Tötungswünschen und kannibalistischen Phantasien. 3 Benachbart ist die Befriedigung, die eine Polemik verschaffen kann, wenn sie selbsternannte oder in der Öffentlichkeit fest etablierte Autoritäten vom Sockel stößt und auf Normalmaß zurechtstutzt, eine Funktion, die Polemiken nicht selten erfüllen. Auch jede zeitweilige Tabuisierung der Kritik an Personen oder Meinungen in der öffentlichen Diskussion oder in Teilöffentlichkeiten scheint auf Dauer Belastungen zu schaffen, die sich früher oder später in intensivierter Form, eben polemisch, Luft machen. 4 Dass dogmatisch vertretene wie dogmatisch aus der Diskussion ausgeschlossene Meinungen fast voraussagbar zu polemischen Verschärfungen beitragen, ist in den meisten öffentlichen Streitfallen der letzten Jahrzehnte in Deutschland (Historikerstreit, deutsch-deutsche Literaturdebatte nach der Wende, Walser-Debatte u.a.) erkennbar. In allen diesen Fällen ist weniger die möglicherweise beim individuellen Polemiker bewirkte Entlastung von Interesse als die Rolle, die er als Sprachrohr der Vielen spielt, die insgeheim schon länger so gedacht haben, es aber wegen des gesellschaftlichen Druckes nicht auszusprechen wagten. Wenn alle nur loben, wächst das Bedürfnis, wider den Stachel zu locken. 5 (2) Neben der Befreiung von frustrierenden Belastungen können Polemiker das Gefühl der Schadenfreude befriedigen, ein Skandal kann als pikant goutiert werden und der gewährte Blick durchs Schlüsselloch bedient das Bedürfnis nach Klatsch. Solche Antriebe werden den Lesern polemischer Schriften nicht selten zugesprochen. 6

3

4

5

6

gressive, die literarische Etikette respektlos verletzende Genres wie die Parodie oder eben den Verriß" (ebd.) befriedigt werden kann. Letzteres z.B. bei Heine (1830/1964, V, 297f.), Kraus (191 ld/1962, 114), Benjamin ( 2 1980). So verrät die Voraussage, von der der Verleger Hirzel in einem Brief vom 22. August 1853 an Jacob Grimm berichtet, nicht einmal besonderen Spürsinn: „In der Ostermesse vorigen Jahres, als das erste Heft [des Deutschen Wörterbuchs] mit so allgemeinem Jubel begrüßt wurde, sagte ein ruhiger verständiger Kollege zu mir: ,Das wäre doch ein Wunder, wenn dieser Beifall nicht auch einige derbe Angriffe hervorriefe. Machen Sie sich in Zeiten darauf gefaßt.' Solche Mißhandlungen müssen also doch zu den deutschen Erfahrungen gehören" (zit. Kirkness 1980, 200). Es gilt freilich auch die Umkehrung: Was von allen kritisiert wird, findet nicht selten gerade deshalb auch einen Fürsprecher. Siehe dazu die entsprechenden Zitate in Kapitel 5.3.3 und die extrakommunikativen Meinungsäußerungen von Schiller bzw. Friedeil: „Man sollte wirklich suchen, Gegenschriften zu veranlassen, wenn sie nicht von selbst kommen; denn an der Schadenfreude faßt man die Menschen am sichersten. Es würde deswegen auch nicht übel sein, wenn man den Aufsatz vom Kunstsammler auch schon in der Anzeige, die man im Posselt davon macht, als etwas Polemisches darstellte" (Brief Schillers an Goethe vom 15. Juli 1799, in: Goethe-Schiller 1961, 417). - „Eine Sache heruntermachen ist das müheloseste und zugleich dankbarste Geschäft, dem ein Mensch sich hingeben kann", schon weil „selbst der dümmste Leser immer noch genug Bosheit und Dünkel besitzt, um die Schwächen der zeitgenössischen Autoren auszufinden" (Friedell 1984, 113).

278 (3) Die Polemik profitiert ferner von ihrer Nähe zum sportlichen Wettstreit, die sich in der Häufigkeit von Ausdrücken aus dem Turnier- und Sportwesen in der Beschreibung polemischer Auseinandersetzungen spiegelt. 7 Der Wettkampfcharakter der Polemik erlaubt dem Zuschauer im Miterleben, wer mit welchen Mitteln über wen den Sieg davonträgt, ein etwas sublimierteres Vergnügen als das unter (1) und (2) angesprochene. Wird der Boxsport zum Vergleich herangezogen, kann sich die empfundene Lust aber auch zur ausgelebten Aggression im Sinne von (1) verschieben. 8 (4) Intellektuelles und ästhetisches Vergnügen: Weitere Spielarten der Lust sind die Erregung intellektuellen oder ästhetischen Vergnügens. Polemik verwendet, anders als die Satire, nicht notwendig Witz und komische Darstellung als Mittel, doch sind sie oft Bestandteil polemischen Streitens und für die polemische Zielrealisation funktionalisierbar. Komik in allen ihren Formen, so Lamping (1986, 37), dient der „affektiven Leserbeeinflussung" und ist ein Mittel des Polemikers, den Leser für sich einzunehmen. 9 Dabei spielt die Suggestion eine Rolle, dass der Leser „über die vermeintlichen Schwächen des rezensierten Werkes lache - und nicht etwa über den mutwilligen Witz des Kritikers. Durch diese Suggestion vor allem rechtfertigt sich der Verriß als eine aggressiv-komische Entlarvung von Mängeln, die im Lachen des Lesers ihre Bestätigung findet" (Lamping, ebd., 37f.). Im übrigen ziehen alle ästhetischen Formelemente Aufmerksamkeit auf sich und neutralisieren schon durch Ablenkung mögliche Kritik. Intellektuelles Vergnügen findet Nahrung z.B. in der Geschicklichkeit, mit der die Streitgegner ihre Waffen einsetzen, einschließlich der Treffsicherheit, mit der sie dem Gegner eine Niederlage bereiten.

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Carl Friedrich Cramer stellt 1805 bei sich selbst fest: „Mich hat alle meine Lebtage die Polemik ergötzt; ich glaube, daß es auch Mehrere noch giebt, die ihre Freude daran finden, den Turnieren des Irrthums mit der Wahrheit zuzusehen" (zit. Oesterle 1986, 108). Diese Verbindung stellt Zimmermann (1966, 334) in seiner Kommentierung der polemischen Auseinandersetzungen zwischen Kraus und Kerr her: „Das Publikum darf nicht vergessen werden. Die Gladiatoren, die in die Arena hinabsteigen, brauchen die anfeuernden Rufe ihrer Verehrer, um sich zu höchsten Leistungen steigern zu können. In der Blütezeit von Kerr und Kraus nahm das Publikum heftigen Anteil an der Polemik. Es ergriff Partei, spaltete sich in zwei feindliche Lager. Die Freude am Schaukampf war groß, auch auf anderen Gebieten. Boxkämpfe z.B. waren damals weitaus beliebter als heute. [...] Eine ähnliche Freude, eine sadistische Freude wie beim Boxkampf könnten damals die Leser auch bei den Ausfallen der Polemisten Kerr und Kraus empfunden haben." „Indem sie den Gegenstand des Verrisses der Lächerlichkeit preisgibt, hindert sie den Leser daran, mit ihm Mitleid oder gar Empörung zu empfinden und sich gegen den Kritiker zu wenden."

279 7.1.2

Lust bei w e m ?

Da das Publikum als polemische Instanz primärer Adressat des Polemikers ist, ist entscheidend, ob es dem Polemiker gelingt, die psychischen Dispositionen des Publikums zu treffen und es somit zu unterhalten. Doch kann die Lustbefriedigung auch als Selbstbefriedigung des polemischen Subjekts eine Rolle spielen, während das polemische Objekt eher vernachlässigt werden kann. Lust auf Seiten des polemischen Objekts?: Das Opfer einer Polemik kommt als Subjekt von Lustempfindungen in der Rezeption einer gegen ihn gerichteten Polemik, pathologische masochistische Neigungen veruntreuend, kaum in Frage. Zwar ist es möglich, dass Autor und Verleger eines Werkes, das Gegenstand eines polemischen Verrisses geworden ist, den mit der Rezension verbundenen Vorteil, aus dem Meer unbeachteter Veröffentlichungen des Jahres herausgehoben worden zu sein, höher werten als die Tatsache des Verrisses. Auch dann wird man aber sagen, die gewonnene Beachtung und die erhöhten Verkaufszahlen trösteten über den Verriss hinweg, erleichterten es, ihn in Kauf zu nehmen, als zu sagen, er habe Vergnügen gemacht. 10 Soweit das polemische Objekt überhaupt als Nebenadressat angesehen werden kann, kann Lustgewinn auf seiner Seite also weder Ziel noch sekundärer Effekt der gegen ihn gerichteten Polemik sein, genauso wie eine Polemik ungeeignet ist, den polemisch Angegriffenen vom Vorzug der gegnerischen Position zu überzeugen, auch wenn die Figur des zu Belehrenden, der sich hoffentlich als lernwillig erweist, Bestandteil der polemischen Konstellation ist. Lust auf Seiten des polemischen Subjekts: Für die Lust oder das Vergnügen an der Polemik auf Seiten es Polemikers gibt es auch jenseits der von Lamping (s.o.) betonten Entlastung extrakommunikative Selbstzeugnisse und Fremdzuschreibungen. 11 Solche „Geständnisse" kontrastieren auffällig mit den in der Metakommunikation typischen Versicherungen, wie ungern, ja widerwillig sich der Schreiber auf das polemische Geschäft einlässt. 12 10

11

12

Der Aspekt des In-Kauf-Nehmens scheint auch in der Äußerung des Sturm-und-DrangDichters Maler-Müller durch: „Streiten mit grosen Männern macht immer Aufsehen und Lärmen, und wenn man auch zertretten wird, - thut nichts; man wird doch immer in der Polemick neben einem grosen Namen genannt" (zit. aus „Fausts Leben" in: Deutsches Wörterbuch, Bd. 13, 1977). Am Beispiel Lessings: „Besonders freue ich mich, daß Du das haut-comique der Polemik zu goutieren anfängst, welches mir alle andern theatralischen Arbeiten so schal und wäßrig macht" (Brief Lessings an den Bruder Karl v. 25. Febr. 1778, in: Lessing 31886— 1924, Bd. 18, 265). Und ein Zeugnis aus der Außensicht auf Lessing: „Aber manchmal kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß der lautere Lessing eine grausame Lust daran hatte, seine Gegner um der Wahrheit willen zu vernichten [ . . . ] (Berghahn 1992,24). Vgl. dazu die Textzeugnisse in Kapitel 5.6.1. Außerdem als extremes Beispiel Campe (1789), der sich in seiner Auseinandersetzung mit Moritz gar nicht genug darüber auslassen kann, wie peinvoll es für ihn ist, über Moritz das öffentlich zu sagen, was er zu sagen gezwungen ist. - Dem Leiden an der eigenen Polemik gibt auch Briegleb (2003) in seiner Streitschrift gegen die Gruppe 47 Ausdruck: „Am 29. Oktober 2002, einem

280 Lust auf Seiten der polemischen Instanz: Auf die „Lüste" der polemischen Instanz wird nicht nur in der extrakommunikativen Reflexion über die Polemik hingewiesen, sie werden auch metakommunikativ thematisiert, wenn sich die Möglichkeit bietet, den Gegner bei seinem Publikum unter den Verdacht zu stellen, in seinem Text an die Skandalsucht, die Schadenfreude, die Aggressionsgelüste des großen Haufens o.ä. zu appellieren. Wer sich solcher Vorlieben beim Publikum bedient, verfallt also der Kritik. 13 Das ist in den polemischen Texten natürlich immer der Gegner, weil er die Masse, den großen Haufen, die Ungebildeten und Gedankenlosen im Auge hat, denen man alle möglichen niederen Vergnügen gefahrlos zuschreiben kann und von denen man den eigenen Adressaten als den Gebildeten, Kultivierten, Nachdenklichen, an der Wahrheit der Dinge Interessierten deutlich absetzt - ihm oder ihr aber nichtsdestotrotz das gleiche Vergnügen anbietet. Das gehört zu der Doppelbödigkeit und Widersprüchlichkeit, die die Kommunikationsform der Polemik grundlegend aufweist. Das eigene Bekenntnis, sich als Leser an Polemiken zu erfreuen, ist selten und wird vornehmlich in extrakommunikativen, nicht-öffentlichen Äußerungen artikuliert. 14

7.1.3

Das Zusammenspiel von Lusterzeugung und metakommunikativer Normbestätigung

Gelegentlich stellt sich der Verdacht ein, dass Liebhaber der Polemik den Lustgewinn des Lesers etwas zu hoch veranschlagen. Es sei deshalb zur Vorsicht Sloterdijk (2003) zitiert, der fur die starke Betonung der Unterhaltungsfunktion von Krieg und Streit allgemein die zeitgebundene „kryptopropagandistische Grundstimmung" der Medienmacher verantwortlich macht. 15 Überträgt man den

13 14

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unglücklichen Tag - ich gehe diesen Text vor dem Umbruch durch, fühle ich mich elend über ,meinem' unschönen Material, das an dieser Stelle gegen klärende, besonnene Darstellung besonders störrisch bleibt - an diesem Tag auch noch das Pech dazu. Ich geriet vor dem TV-Schirm in die ,Bühler Begegnung' des Intendanten Voß mit dem Musikkritiker Kaiser (3 sat)" (88). Siehe zu Vorwürfen dieser Art die Textbeispiele in Kapitel 5.3.3. Zum Beispiel Kant 1787 in einem Brief an Carl Leonhard Reinhold (zit. Oesterle 1986, 114): „Wenn es ihre Zeit erlaubt darf ich dann wohl bitten, mir bisweilen einige Neuigkeiten aus der Gelehrtenwelt, von der wir hier ziemlich entfernt wohnen zu berichten. Diese hat so gut ihre Kriege, ihre Alliancen, ihre geheimen Intriguen etc., als der politische. Ich kann und mag zwar das Spiel nicht mitmachen, allein es unterhält doch, und gibt bisweilen eine nützliche Richtung, davon zu wissen." „Die meisten Medienmacher mit ihrer kryptopropagandistischen Grundstimmung glauben, dass Krieg oder Streit die beste Unterhaltung sei. Das gehört zum Amüsierfaschismus, auf dem unsere Gesellschaft aufgebaut ist. Auch bei friedlichen, scheinbar demokratischen Moderatoren ist die Überzeugung verbreitet, dass nur der Kampf, der Konflikt unterhält. In meinen Augen eine der größten Dummheiten, aber charakteristisch für unsere Zeit. Die besten Augenblicke sind doch die, wenn jemand einen Gedanken weitergedacht hat" (Sloterdijk 2003). Nicht ganz klar ersichtlich ist, ob Sloterdijk der Auffassung ist, dass diese „Dummheit" in unserer Gesellschaft leider allgemein ge-

281 Gedanken auf die Polemik, so erhebt sich die Frage, ob die Behauptung, dass Polemik Lust bereite und darin der Garant ihres Erfolges liege, nicht partiell eine Erfindung der „Medienmacher" im Feuilleton ist, soweit mit der Behauptung beansprucht wird, (auch) eine Aussage über die Rezeption polemischer Texte beim „normalen Leser" zu machen. Dennoch besteht kein Grund daran zu zweifeln, dass Polemik in der in Kapitel 7.1.1/7.1.2 beschriebenen Weise beim polemischen Subjekt und/oder bei der polemischen Instanz mit Vergnügen verbunden ist und die Rezeption polemischer Texte in der Weise mitbestimmt, dass das gehabte Vergnügen dem Polemiker gutgeschrieben wird und somit dessen Kommunikationsziele fördern kann. Doch sind das zunächst mögliche Wirkungen, die bei den einzelnen Lesern und auch bei unterschiedlichen Sektionen der Leserschaft unterschiedlich große Chancen haben, sich zu realisieren. Die Chancen sind am größten bei dem Teil des Publikums, der schon vor dem konkreten polemischen Angriff auf der Seite des polemischen Subjekts stand bzw. von seinen Voraussetzungen her von vornherein disponiert ist, sich auf die Seite des polemischen Subjekts zu schlagen. Auf der anderen Seite stehen Leser, denen die Angegriffenen bzw. die von ihnen vertretenen Positionen lieb und teuer sind. Bei ihnen wird der Polemiker genausowenig wie beim polemischen Objekt von der potentiellen Lustbefriedigung der Polemik profitieren können. Der Lustgewinn findet also normalerweise dort seine Grenze, wo die Polemik sich gegen jemand richtet, der beim Leser Respekt, Achtung oder Liebe genießt. Dazwischen stehen Lesergruppen, denen die Streitenden und/oder die vertretenen Positionen in gleicher Weise fernstehen, so dass sie wenig Anlass haben, überhaupt Partei zu ergreifen. Sie können die polemischen Auseinandersetzungen wie ein Schauspiel oder einen sportlichen Wettkampf genießen. Es ist aber fraglich, ob man das bei ihnen erregte Vergnügen als Verwirklichung der Kommunikationsziele des Polemikers ansehen kann, solange die Lust sich ihrerseits nicht in einer Parteinahme für das polemische Subjekt und gegen das polemische Objekt auswirkt. So spricht viel für die Auffassung von Griffiths (1991), dass der Polemiker, ungleich dem Rhetoriker, weder den Kontrahenten noch die Andersgläubigen im Publikum überzeugen und auf seine Seite ziehen will, sondern von vornherein die eigenen Parteigänger im Auge hat: „The ideal audience for a polemist is made up of those who are already in sympathy with the cause he is supporting - or who, rather more importantly, share the same enemies with him" (3). Polemik dient, in dieser Hinsicht entfernt den Reden auf politischen Wahlveranstaltungen vergleichbar, vornehmlich dazu, die Kohäsion in der Eigengruppe zu stärken, indem sie, wie Lichtenberg in den Sudelbüchern es ausdrückt, „denen von unserer Seite Mut und Stärke [gibt]".16 Dass der Polemiker diesem Teil des Publikums gegen-

glaubt wird oder dass die einflussreiche Minderheit der „Medienmacher" uns diese Dummheit einzureden versucht. „Daß man seine Gegner mit gedruckten Gründen überzeugen kann, habe ich schon seit dem Jahr 1764 nicht mehr geglaubt. Ich habe auch deswegen die Feder gar nicht ange-

282 über auch vom Unterhaltungswert der Polemik profitieren kann, erscheint einleuchtend, doch reicht die Möglichkeit des Lustgewinns auch bei den eigenen Anhängern allein nicht aus, um die negative Bewertung des polemischen Verhaltens wirkungsvoll zu neutralisieren und den Erfolg des Polemikers sicherzustellen. Könnte sich der Polemiker tatsächlich darauf verlassen, dass beim Publikum trotz oder sogar wegen der Verletzung kommunikativer Normen am Ende die Lust überwiegt und somit den Ausschlag gibt, wäre ganz unverständlich, wieso er dessen negative Bewertungen zu fürchten hat, und warum er sich gegenüber dem Publikum verteidigt bzw. sich etwas davon versprechen kann, den Gegner wegen seiner Polemik anzuschwärzen. Wäre die Lust der eigentliche Erfolgsgrund der Polemik, wäre der ganze metakommunikative Aufwand, mit dem sich die Streitenden wechselseitig beim Publikum auf Kosten des Gegners zu profilieren versuchen, überflüssig. Er ist nicht überflüssig, weil das wie immer geartete Vergnügen die fraglichen Nonnen nicht außer Kraft setzt. Sie begrenzen, wie alle sozialen Normen (im Unterschied zu Naturgesetzen), nicht grundsätzlich das Mach-, Denk- und Fühlbare. Man kann von ihnen handelnd abweichen, man kann mit ihnen spielen, eigene wie fremde Abweichungen können sogar „diebisches Vergnügen" bereiten. Sie begrenzen aber stark den Bereich des Sagbaren, insbesondere des öffentlich Sag- und Zugebbaren. 17 So gibt man den Spass an einem polemischen Angriff auf einen missliebigen Menschen vorzugsweise „im Vertrauen" oder „hinter der hohlen Hand" zu. Die durch die Polemik und insbesondere das Persönlichwerden enthüllte Privatheit des polemischen Objekts korreliert gewissermaßen mit der Privatheit des Vergnügens beim Rezipienten. Der Polemiker mag insgeheim auf die Lust seines Publikums setzen. Aber sagen, dass er es tut, würde die Verwirklichung seines Kommunikationszieles gefährden. Angestrebter Lustgewinn ist kein möglicher Rechtfertigungsgrund. 18

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setzt, sondern bloß um sie zu ärgern, und denen von unserer Seite Mut und Stärke zu geben und den andern zu erkennen zu geben, daß sie uns nicht überzeugt haben" (Lichtenberg 5 1994, I, 384f.). So findet man Hinweise auf den Lustgewinn ja fast ausnahmslos in der extrakommunikativen Kommunikation und dort vorzugsweise in nicht-öffentlichen Situationen. Das hat auch Oesterle festgestellt, der eine Reihe von Beispielen „für das privat geäußerte Vergnügen an der Polemik, bei gleichzeitig öffentlicher Distanznahme" (1986, 108) aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gibt, um seine These zu begründen, dass „dieser hedonistische Affekt [...] in der Aufklärung meist nur noch privat eingestanden, offiziell verleugnet und verdrängt wird" (ebd.). Das gleiche Phänomen bespricht Opitz (1986, besonders 128f.) am Beispiel der zeitgenössischen Reaktion auf Heines Darstellung August Wilhelm Schlegels in der Romantischen Schule. Auch die Untersuchungen von Klein (1989) lassen erkennen, dass die Bewertungen des kommunikativen Verhaltens bei den Probanden zwar nicht allein von ihrem Normbewusstsein gesteuert werden, sondern dass der Unterhaltungswert interferierend eine Rolle spielen kann. Doch setzt das gewonnene Vergnügen die Geltung der Normen nicht außer Kraft; es scheint nur die Intensität zu mindern, mit der die Normen eingeklagt werden. Interessanterweise wird aber in den Befragungen von Klein die Lust als Maßstab der Beurteilung von den Befragten selbst genannt. Das Fehlen solcher Zeugnisse in meinem eigenen Textmaterial mag darauf beruhen, dass es aus Äußerungen des

283 Es bedarf offenbar auch bei den wohlwollenden Rezipienten eines Flankenschutzes, damit sich ein Gefühl der Lust einstellen kann. Die Öffentlichkeit fordert, wie Grimm (1993, 267) am Beispiel Lessings erläutert, „das Sublimieren von Vernichtungsstrategien" , woraus Lessing die „Konsequenz [zieht], daß er sie in literarische, gesellschaftlich sanktionierte Formen einbindet". Eine solche Form ist die Literaturkritik, die die satirischen Elemente tarnt und die Lessing „unwidersprochen als , Streiten für die Wahrheit' ausgeben" kann. In die gleiche Richtung gehen Groeben u.a. (1993) mit der Feststellung, „daß Regelverstöße in Argumentationen in der Praxis häufig mit einem ,Verschleierungsversuch' einhergehen; das heißt, Sprecher, die gegen die Argumentationsbedingungen verstoßen, versuchen häufig, den anderen Teilnehmern/innen gegenüber den Anschein zu erwecken, als hielten sie sich an die Bedingungen" (371). Besagte „Tarnung" bzw. die „Verschleierung" schaffen eine „Alibistruktur" (Grimm (1993, 267) Alibi sowohl für das polemische Subjekt, seine polemischen Intentionen im Schutz des Alibis realisieren zu können, als auch für die polemische Instanz, der es erlaubt, der Lust an der Polemik trotz der eigentlich negativ zu bewertenden Mittel Raum zu geben. - Die Mittel, mit denen die Tarnung bewerkstelligt werden kann, sind vielfaltig. Zu ihnen gehört die von Grimm genannte Möglichkeit, die polemischen Intentionen „in literarische, gesellschaftlich sanktionierte Formen" wie etwa die Literaturkritik einzubinden. In gleicher Weise kann die täuschende Realisierung der „normal rhetorical techniques of argument" wirken, die Griffiths (1991) in seiner Analyse der Dreyfuß-Affare beobachtet hat, 19 wie auch das formale Festhalten am „argumentativen Grundgestus", der für polemische Texte generell charakteristisch ist (vgl. Kapitel 2.3.2.1 u. 3.1.2.4 im Anschluss an Stenzel 1986). Zum Flankenschutz geeignet ist vor allem aber auch die in dieser Arbeit beschriebene metakommunikative Thematisierung der Normen kommunikativen Verhaltens, in der sich das polemische Subjekt als Hüter der Normen und den Gegner als ihren Verletzer darstellt. 20

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polemischen Subjekts und nicht aus Äußerungen der Rezipienten besteht. Die Leser können sich selbst immer noch eher zu dieser Lust bekennen, als dass der Polemiker es wagen kann, sie ihnen von sich aus zuzuschreiben. - Zur begrenzten Möglichkeit, mit ästhetischen Mitteln die Kritik an Normverletzungen außer Kraft zu setzen, siehe auch Groeben u.a. 1990-1992. „If, in sophisticated literary and intellectual polemic of the type of Pascal's Letters provinciales, the normal rhetorical techniques of argument do appear to being used, one must not be misled. The pretence of reasonableness can be one of the most powerful of weapens; and a sub-text created by a series of underlying, assertive techniques makes certain that the reader is in doubt as to where the right lies" (Griffiths 1991, 3). Auch dieses Mittel ist Teil der von Grimm apostrophierten „Alibistruktur": „Lessings theoretische Maximen formulieren die Alibistruktur, die Kritiken selbst sind nicht unbedingt ihre Verwirklichung" (Grimm 1993, 267). Damit spricht Grimm insbesondere die Vermischung von Privatem und Öffentlichen an. Die Bemerkung ist aber auf das gesamte Gefüge kommunikativer Normen und auf die polemische Metakommunikation generell übertragbar. Die Diskrepanz zwischen den „theoretischen Maximen" und der kommunikativen Praxis, die Grimm bei Lessing feststellt, zeichnet die Polemik generell aus.

284 Es bleibt eine Frage, ob die Tarnung tatsächlich so erfolgreich ist und sein kann, dass das Publikum den Streit, wie Grimm es formuliert, „als , Streiten für die Wahrheit'" wahrnimmt und dass ihm die polemische Intention des Autors und seine Abweichungen von kommunikativen Normen entgehen. Es ist nicht unbedingt einsichtig, warum den normalen Lesern gänzlich unzugänglich sein soll, was den analysierenden Wissenschaftlern so klar vor Augen liegt. Man kann sogar in Zweifel ziehen, ob man den polemischen Subjekten die Annahme unterstellen kann, sie könnten beim Publikum oder sogar bei „den anderen Teilnehmer/innen gegenüber den Anschein erwecken, als hielten sie sich an die Bedingungen" (Groeben 1993, 371). Vielleicht reicht es aus, zwischen dem polemischen Subjekt und seinen Anhängern eine Art augenzwinkernder Komplizenschaft zu etablieren, in der die Leser geneigt sind, die Normwidrigkeit des Verhaltens, das ihnen auf der Grundlage einer gemeinsamen Sichtweise auf die verhandelten Sachverhalte und übereinstimmender Interessenlage Lust und Unterhaltung verschafft, zu „akzeptieren", wenn der Polemiker ihnen mit der metakommunikativ aufrechterhaltenen Fasssade - bestünde sie auch nur aus einem Gaze-Vorhang - ein Alibi verschafft, über die Verletzung der kommunikativen Normen hinwegsehen zu können.

8

Literatur

8.1

Quellen zur Geschichte der Polemik: Wort und Sache

8.1.1

Polemische Texte

8.1.1.1 Textsammlungen Beginn einer Krise (1968): Beginn einer Krise. Zum Zürcher Literaturstreit. Sprache im technischen Zeitalter, Heft 26. Blei, Franz (Hg.) (1907ff.): Deutsche Literaturpasquille. 4 Bde. Leipzig: Zeitler. Buchner, Eberhard (1913): Die französische Revolution. Kulturgeschichtlich interessante Dokumente aus alten deutschen Zeitungen. Bd. 1: 1788-1793. München: Albert Langen. Cwojdrak, Günther (Hg.) (1968): Mit eingelegter Lanze. Literarische Streitschriften von Hutten bis Mehring. Leipzig: Reclam. Deiritz, Karl/Hannes Krauss (Hg.) (1991): Der deutsch-deutsche Literaturstreit oder „Freunde, es spricht sich schlecht mit gebundener Zunge". Analysen und Materialien. Hamburg/Zürich: Luchterhand. Estermann, Alfred (Hg.) (1972): Politische Avantgarde 1830-1840. Eine Dokumentation zum „Jungen Deutschland". 2 Bde. Frankfurt am Main: Athenäum. - (1984ff.): Literaturkritik. Eine Textdokumentation zur Geschichte einer literarischen Gattung. Bd.4: 1848-1870. Bearb v. Peter Uwe Hohendahl (1984); Bd.7: 1945-1980. Bearb. v. Jost Hermand. 2 Teile (1988). Vaduz: Topos. Fambach, Oscar (Hg.) (1957-1963): Ein Jahrhundert deutscher Literaturkritik 1750-1850. Bde 2-5. Berlin: Akademie-Verlag. Frankfurter Journal (1848): Nr. 180 (1. Juli) - Nr. 264 (30. Sept.). Handt, Friedrich (Hg.) (1964): Deutsch - Gefrorene Sprache in einem gefrorenen Land? Polemik, Analysen, Aufsätze. Berlin: Literarisches Colloquium. Heintz, Günter (Hg.) (1983): Dokumente zum zeitgenössischen Literaturstreit. In: Ders. (Hg.): Karl Gutzkow: Wally, die Zweiflerin. Stuttgart: Reclam, 259-441. Hering, Gerhard F. (Hg.) (1963): Meister der deutschen Kritik I: Von Börne zu Fontane 1830-1890. München: Deutscher Taschenbuch Verlag. Hermand, Jost (Hg.) (1966): Das Junge Deutschland. Texte und Dokumente. Stuttgart: Reclam. Historikerstreit ( 8 1991): Historikerstreit. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung. München: Piper. Jaeschke, Walter (Hg.) (1990-1995: Philosophisch-literarische Streitsachen. Ein neues Handbuch zur Epoche der klassischen deutschen Philosophie. 4 Teile in 8 Bänden. Hamburg: Meiner. Kirkness, Alan (1980): Geschichte des deutschen Wörterbuchs 1838-1863. Dokumente zu Den Lexikographen Grimm. Stuttgart: Hirzel. Kunst und Elend (1966): Kunst und Elend der Schmährede. Zum Streit um die Gruppe 47. Sprache im technischen Zeitalter, Sonderheft 20.

286 Mayer, Hans (Hg.) (1962): Meisterwerke deutscher Literaturkritik. Aufklärung, Klassik, Romantik. Stuttgart: Goverts - (Hg.) (1965): Deutsche Literaturkritik im 20. Jahrhundert. Kaiserreich, Erster Weltkrieg und erste Nachkriegszeit (1889-1933). Frankfurt a. M.: Goverts - (Hg.) (1967): Große deutsche Verrisse von Schiller bis Fontane. Frankfurt am Main: Insel. - (Hg.) (1971/72): Deutsche Literaturkritik der Gegenwart. Vorkrieg, Zweiter Weltkrieg und zweite Nachkriegszeit (1933-1968). 2 Teile. Frankfurt a. M.: Goverts. - (Hg.) 1976: Deutsche Literaturkritik im 19. Jahrhundert. Von Heine bis Mehring. Frankfurt a. M.: Goverts. Meyer, Jochen (Bearb.) ( 2 1988): Berlin Provinz. Literarische Kontroversen um 1930. Marbacher Magazin 35. Marbach: Deutsche Schillergesellschaft Moeller, Jürgen (1968): Deutsche beschimpfen Deutsche. Vierhundert Jahre Scheit- und Schmähreden. Hamburg/Düsseldorf: Claasen. Röhr, Werner (Hg.) ( 2 1991): Appellation an das Publikum... Dokumente zum Atheismusstreit um Fichte, Forberg, Niethammer. Jena 1798/99. Leipzig: Reclam. Scholz, Rüdiger (Hg.) (1991): Verleumdung von Wissenschaftlerinnen und Zensur. Der Fall Dyck, Jens und Ueding. Eine Dokumentation. Freiburg: Rüdiger Scholz, Universität Freiburg. Deutsches Seminar II. Wittich, Dieter (Hg.) (1971): Vogt, Moleschott, Büchner. Schriften zum kleinbürgerlichen Materialismus in Deutschland. 2 Bde. Berlin: Akademie-Verlag. Zürcher Literaturstreit (1967): Der Zürcher Literaturstreit. Eine Dokumentation. Sprache im technischen Zeitalter. Sonderheft 22.

8.1.1.2 Einzelne Texte (chronologisch) Liscov, Christian Ludwig ([1733] 1806): Unparteyische Untersuchung der Frage: Ob die bekannte Satyre Briontes der Jüngere, oder Lobrede auf den Herrn D. Johann Ernst Philippi [...] eine strafbare Schrift sey? In: Satyren der Deutschen. Hg. v. Carl Müchler. Zweiter Theil: Liscov's Schriften. Berlin: Himburgische Buchhandlung, Zweiter Theil, 83-258. - ([1735] 1806): Anmerkungen in Form eines Briefes über den Abriß eines neuen Rechts der Natur, welchen der (S.T.) Herr Professor Manzel zu Rostock [...] der Welt mitgetheilet hat. Kiel: ο. V. In: Satyren der Deutschen. Hg. v. Carl Müchler. Dritter Theil: Liscov's Schriften. Berlin: Himburgische Buchhandlung, Dritter Theil, 139-398. - ([1739] 1806]: An die Leser. In: Satyren der Deutschen. Hg. v. Carl Müchler. Erster Theil: Liscov's Schriften. Berlin: Himburgische Buchhandlung. Erster Theil, IVXXXVI. Kästner, Abraham Gotthelf (1741): M.[agister] A.[braham] G.[otthelf] K.[ästners] Brief an Herrn J. C. St. über das erste Stück des Bibliothecaire moderne. In: Belustigungen des Verstandes und des Witzes 1, 246-256. Agricola, Johann Friedrich [anon.] (1749a): Schreiben eines reisenden Liebhabers der Musik von der Tyber, an den critischen Musikus an der Spree. Berlin. - [anon.] (1749b): Schreiben an Herrn *** in welchem Flavio Anicio Olibrio, sein Schreiben an den critischen Musikus an der Spree vertheidiget, und auf dessen Widerlegung antwortet. Berlin. Marpurg, Friedrich Wilhelm (Hg.) [anon.] (1749-1750/1970): Der Critische Musicus an der Spree. Berlin. - Textvorlage: Neudruck Hildesheim: Olms. Mattheson, Johann (1750): Matthesons bewährte Panacea, als eine Zugabe zu seinem musikalischen Mithridat, überaus heilsam wider die leidige Kachexie irriger Lehrer, schwermüthiger Verächter und gottloser Schänder der Tonkunst. Erste/zweite Dosis. Hamburg.

287 Triller, Daniel Wilhelm [anon.] (1752): Unpartheiische Untersuchung, was von der Schrift „Der Wurm-Doktor, oder glaubwürdige Lebensbeschreibung des Herrn Verfassers vom Wurmsaamen", zu halten sey. Frankfurt/Leipzig. Lessing, Gotthold Ephraim (1754/ 3 1890): Ein Vade Mecum für den Hm Sam. Gotth. Lange, Pastor in Laublingen. Berlin. - Textvorlage: Sämtliche Schriften. Hg. v. Karl Lachmann. Stuttgart: Göschen, Bd. 5, 223-263. Belach, Andreas [anon.] (1759): Abfertigung des Erlanger Zeitungsschreibers und seines Alliirten mit ihrer ungesunden Critik über verschiedene in Breßlau gedruckte Blätter. Breßlau. Sorge, Georg Andreas (1760): Compendium Harmonicum, oder kurzer Begriff der Lehre von der Harmonie, vor diejenigen, welche den Generalbaß und die Composition studiren [...]. Ebersdorf: Breitkopf. Lessing, Gotthold Ephraim (1760/ 3 1892): Briefe, die Neueste Litteratur betreffend. 17591765. Berlin/Stettin: Nicolai. - Textvorlage: Sämtliche Schriften. Hg. v. Karl Lachmann. Stuttgart: Göschen, Bd. 8, 1-285. - (1768-1769/ 3 1894): Briefe antiquarischen Inhalts. Erster Theil, Berlin: Nikolai 1768. Zweyter Theil, Berlin: Nikolai 1769. - Textvorlage: Sämtliche Schriften. Hg. v. Karl Lachmann. Stuttgart: Göschen, Bd. 10, 2 2 9 ^ 3 8 . - (1769/ 3 1895): Wie die Alten den Tod gebildet. Eine Untersuchung. Berlin: Friedrich Voß. - Textvorlage: Sämtliche Schriften. Hg. v. Karl Lachmann. Stuttgart: Göschen, Bd. 11,3-55. - (1770/ 3 1895): Berengarius Turonensis oder Ankündigung eines wichtigen Werkes desselben [...]. Braunschweig: Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses. - Textvorlage: Sämtliche Schriften Hg. v. Karl Lachmann. Stuttgart: Göschen, Bd. 11, 57-162. Lichtenberg, Georg Christoph (1776/ 3 1994): Epistel an Tobias Göbhard in Bamberg über eine auf Johann Christian Dieterich in Göttingen bekannt gemachte Schmähschrift. Göttingen: Dieterich. - Textvorlage: Schriften und Briefe. Hg. v. Wolfgang Promies. München: Hanser, Bd. III, 237-252. Anonymus (1776/1987): [Rez. zu: Jung-Stilling, Schleuder eines Hirtenknaben]. In: Frankfurter Gelehrte Anzeigen, 629-630. - Textvorlage: Vinke, Rainer: Jung-Stilling und die Aufklärung. Stuttgart: Franz Steiner, 197. Goeze, Johann Melchior (1778/1883): Leßings Schwächen, gezeigt von Johann Melchior Goezen. Hamburg: Harmsen. - Textvorlage: Schmidt, Erich (Hg.): Goezes Streitschriften gegen Lessing. Stuttgart: Göschen, 53-186. Lessing, Gotthold Ephraim (1778a/ 3 1897): Eine Duplik. Braunschweig: Waisenhausbuchhandlung. - Textvorlage: Sämtliche Schriften. Hg. v. Karl Lachmann. Leipzig: Göschen, Bd. 13,21-90. - (1778b/ 3 1897): Eine Parabel. Nebst einer kleinen Bitte, und einem eventualen Absagungsschreiben an den Herrn Pastor Goeze in Hamburg. Braunschweig: Waisenhausbuchhandlung. - Textvorlage: Sämtliche Schriften. Hg. v. Karl Lachmann. Leipzig: Göschen, Bd. 13,91-103. - (1778c/ 3 1897): Axiomata, wenn es deren in dergleichen Dingen giebt. Wider den Herrn Pastor Goeze in Hamburg. Braunschweig: Waisenhausbuchhandlung. - Textvorlage: Sämtliche Schriften. Hg. v. Karl Lachmann. Leipzig: Göschen, Bd. 13, 105-137. - (1778d/ 3 1897): Anti-Goeze. D. i. Nothgedrungener Beyträge zu den freywilligen Beyträgen des Herrn Pastor Goeze Erster (Gott gebe, letzter!). Braunschweig: Waisenhausbuchhandlung. - Textvorlage: Sämtliche Schriften. Hg. v. Karl Lachmann. Leipzig: Göschen, Bd. 13, 141-213. Schink, Johann Friedrich (1781): Emilia Galotti. Trauerspiel in fünf Aufzügen von Lessing. In: Dramaturgische Fragmente. Zweyter Band. Dem Hrn. Legations Sekretär Gotter zu Gotha gewidmet von Johann Friedrich Schink. Graz, 358-384, 403^431. Lichtenberg, Georg Christoph 1781/ 3 1994: Ober die Pronunciation der Schöpse des alten Griechenlands verglichen mit der Pronunciation ihrer neuen Brüder an der Elbe: oder über Beh, Beh und Bäh, Bäh, eine literarische Untersuchung von dem Kozipienten des Send-

288 schreibens an den Mond. In: Göttingisches Magazin 2, 3. Stück, 454-479. - Textvorlage: Schriften und Briefe. Hg. v. Wolfgang Promies. München: Hanser, Bd. 3,296-308. Ayrenhoff, Cornelius Hermann von (1782/1803): Schreiben an den Herrn Verfasser der dramaturgischen Fragmente über Deutschlands Theaterwesen und Theater-Kunstrichterey. Wien. - Textvorlage: Des Herrn Cornelius von Ayrenhoff, kais. königl. Feldmarschall-Lieutenants, sämmtliche Werke. Neu verbesserte und vermehrte Auflage in sechs Bänden. Zweyter Band. Wien: Pichler, 81-126. Voß, Johann Heinrich (1782): Vertheidigung gegen Herrn Prof. Lichtenberg. In: Deutsches Museum, 3. Stück, 213-251. Lichtenberg, Georg Christoph (1782/1977): Ueber Hrn Vossens Vertheidigung gegen mich im März/Lenzmonat des deutschen Museums 1782. In: Göttingisches Magazin 3, 1. Stück, 100-171. - Textvorlage: Neudruck Osnabrück: Otto Zeller. Voß, Johann Heinrich (1783): Ehrenrettung gegen den Herrn Professor Lichtenberg. In: Deutsches Museum, 4. Stück, 340-356. Mueller, Johann Gottwert (1788/1976): Komische Romane aus den Papieren des braunen Mannes und des Verfassers des Siegfried von Lindenberg. Göttingen: Dieterich. - Textvorlage: Nachdruck des 61. Kapitels unter dem Titel „Wider die Räuberzunft der Nachund Schleichdrucker". Heidelberg: Winter 1976. Moritz, Karl Philipp (1789a/1993): Herr Campe in Braunschweig nöthigt mich dazu [...] In: „Allgemeine Literatur-Zeitung", Nr 65 (16. Mai), 555f. - Textvorlage: Marx, Reiner/Gerhard Sauder (Hg.): Moritz contra Campe. Ein Streit zwischen Autor und Verleger im Jahre 1789. St. Ingbert: Röhrig, 7f. Campe, Joachim Heinrich (1789/1993): Moritz. Ein abgenöthigter trauriger Beitrag zur Erfahrungsseelenkunde. In: Braunschweigisches Journal philosophischen, philologischen und pädagogischen Inhalts 2 [Anhang zum siebenten Stück], - Textvorlage: Marx, Reiner/Gerhard Sauder (Hg.): Moritz contra Campe. Ein Streit zwischen Autor und Verleger im Jahre 1789. St. Ingbert: Röhrig, 10-38. Moritz, Karl Philipp (1789b/1993): Ueber eine Schrift des Herrn Schulrath Campe, und über die Rechte des Schriftstellers und Buchhändlers. Berlin: Maurer. - Textvorlage: Marx, Reiner/Gerhard Sauder (Hg.): Moritz contra Campe. Ein Streit zwischen Autor und Verleger im Jahre 1789. St. Ingbert: Röhrig, 40-70. Bahrdt, Carl Friedrich (1790/1963): Mit dem Herrn von Zimmermann [...] Deutsch gesprochen. Berlin/Vieweg in Braunschweig. - Textvorlage: Geismar, Martin v. (Hg.): Bibliothek der deutschen Aufklärer des 18. Jahrhunderts I: Carl Friedrich Bahrdt. Leipzig: Otto Wigand 1846. Fotomechanischer Nachdruck: Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 83-95. Schiller, Friedrich [anon.] (1791a/ 8 1989): Über Bürgers Gedichte. In: Allgemeine LiteraturZeitung, Nr. 13/14 (15./17. Jan.) - Textvorlage: Sämtliche Werke. München: Hanser, Bd. 5, 970-985. Bürger, Gottfried August (1791/ 8 1989): Vorläufige Antikritik und Anzeige. In: Allgemeine Literatur-Zeitung. Intelligenz-Blatt Nr. 46 (6. April), 383-387. - Textvorlage: Schiller, Friedrich: Sämtliche Werke. München: Hanser, Bd. V, 1239-1244. Schiller, Friedrich [anon.] (1791b/ 8 1989): Verteidigung des Rezensenten gegen obige Antikritik. In: Allgemeine Literatur-Zeitung, Nr. 46 (6. April) - Textvorlage: Sämtliche Werke. München: Hanser, Bd. 5, 985-991. Knigge, Adolf Freiherr von (1792/1992): Josephs von Wurmbrand [...] politisches Glaubensbekenntniß, mit Hinsicht auf die französische Revolution und deren Folgen. Frankfurt/Leipzig (richtig: Hannover: Helwing], - Textvorlage: Sämtliche Werke. Hg. v. Paul Raabe. München u.a.: Saur, Bd. 15, Teil 2,1-X, 1-173. Zimmermann, Johann Georg Ritter von (1792): Adolph Freiherr von Knigge dargestellt als deutscher Revolutionsprediger und Demokrat, von dem Hofrath und Ritter von Zimmermann in Hannover. In: Wiener Zeitschrift 2 (1792), 317-329. Goethe, Johann Wolfgang von (1795): Literarischer Sansculottismus. In: Die Hören 1, 5. Stück, 50-56.

289 Fichte, Johann Gottlieb (1801/1971): Friedrich Nicolai's Leben und sonderbare Meinungen. Tübingen: J. G. Cotta. - Textvorlage: Fichtes Werke. Hg. v. Immanuel Hermann Fichte. Berlin: De Gruyter, Bd. 8, 3-93. Grimm, Jacob (1819/1989): Jean Paul's neuerliche Vorschläge, die Zusammensetzung der deutschen Substantive betreffend. In: Hermes oder kritisches Jahrbuch der Literatur, 2. Stuck, 27-33. - Textvorlage: Dieckmann, Walther (Hg.): Reichthum und Armut deutscher Sprache. Berlin: De Gruyter, 121-128. Voß, Johann Heinrich (1819/1984): Wie ward Friz Stolberg ein Unfreier? In: Sophronizon. Hg. v. Heinrich Eberhard Gottlob Paulus. Drittes Heft. Frankfurt: Gebrüder Wilmanns. Textvorlage: Photomechanische Wiedergabe Heidelberg: Winter, 1-113. Stolberg, Friedrich Leopold Graf zu (1820): Friedrich Leopold Grafen zu Stolberg kurze Abfertigung der langen Schmähschrift des Herrn Hofraths Voß wider ihn. Nach dem Tode des Verfassers vollendet von dem Bruder herausgegeben. Hamburg Perthes. Voß, Johann Heinrich (1820): Bestätigung der Stolbergschen Umtriebe, nebst einem Anhang über persönliche Verhältnisse. Stuttgart: Metzler'sche Buchhandlung. Paulus, Heinrich Eberhard Gottlob [Pseud.: C.F.A. Schott] (1820): Voß und Stolberg oder der Kampf des Zeitalters zwischen Licht und Verdunklung. Eine nöthige Sammlung von Belegen zur Beurtheilung des dritten Heftes des Sophronizons und des richtigen Unterschieds zwischen Katholicismus und Pabstthum. In Gesprächen. Stuttgart: Metzler. Anonymus (1821b/1987): Bericht über die indische Bibliothek. Eine Zeitschrift von A. W. v. Schlegel, lr Bd. ls Heft. Bonn bei Eduard Weber 1820. In: Neue Berliner Monatschrift für Philosophie, Geschichte, Literatur und Kunst 1, 81-124. - Textvorlage: Faks.-Neudruck. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog. Anonymus [Herr Dorow gegen Herrn C. S., eingesandt] (182 lc/1987): Leidenschaft und Ruhe. In: Neue Berliner Monatschrift für Philosophie, Geschichte, Literatur und Kunst 1, 524. - Textvorlage: Faks. Neudruck. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog. Fabritius, Karl Moriz Eduard (1822): Über den herrschenden Unfug auf teutschen Universitäten, Gymnasien und Lycäen, oder: Geschichte der akademischen Verschwörung gegen Königthum, Christenthum und Eigenthum. Mainz: Joh. Wirth. Krug, Wilhelm Traugott (1822): Appellazion an den Richterstuhl der öffentlichen Meinung in Sachen des Herrn Stiftskapitulars Fabritius gegen die deutschen Gelehrten, betreffend deren angebliche Verschwörung. Allen Menschen von gesundem Kopf und Herzen gewidmet. Leipzig: Hartmann. Heine, Heinrich (1830/1964): Die Bäder von Lucca. In: Reisebilder. Theil 3. Hamburg: Hoffmann und Campe. - Textvorlage. Sämtliche Werke. Hg. v. Hans Kaufmann. München: Kindler, Bd. 5, 243-317. Anonymus (1835/1972): Das junge Deutschland. In: Der Eremit, Nr. 140 (18. Nov.), 11 Π Ι 116. - Textvorlage: Estennann 1972, Bd. 2, 636f. Gutzkow, Karl (1835 a/1972): Erklärung gegen Dr. Menzel in Stuttgart. In: Allgemeine Zeitung, Nr. 262 (19. Sept.), Beilage 374/375, 1497-1499. - Textvorlage: Estermann 1972, Bd. 1,67-70. - (1835 b/1972): Vertheidigung gegen Menzel und Berichtigung einiger Urtheile im Publikum. Mannheim: Löwenthal. -Textvorlage: Estermann 1972, Bd. 1,70-85. - (1835 c/1972): Appellation an den gesunden Menschenverstand. Letztes Wort in einer literarischen Streitfrage. Frankfurt a. M.: Streng. - Textvorlage: Estermann 1972, Bd. 1, 93-101. Wolff, Oskar Ludwig Bernhard (1835/1972): Die Partei der Bewegung in der neusten deutschen Literatur. In: Minerva, Bd.4, Okt., 122-152; Nov., 461-481. - Textvorlage: Estermann 1972, Bd. 2, 373-393. Kühne, Ferdinand Gustav [anon.] (1835/1972): Journalschau. Eine blinde Eule am hellen lichten Tage. In: Zeitung für die elegante Welt, Nr. 211 (26. Okt.), 843f.; Nr. 212 (27. Okt.), 847f. - Textvorlage: Estermann 1972, Bd. 2, 712-715. Menzel, Wolfgang (1835a/1972): Roman [Rez. zu: Gutzkow, Wally, die Zweiflerin]. In:

290 Literatur-Blatt [zum Morgenblatt für gebildete Stände], Nr. 93 (11. Sept.), 369-372; Nr. 94 (14. Sept.), 373-376. - Textvorlage: Estermann 1972, Bd. 1, 41-52. - (1835b/l972): Zweite Abfertigung des Dr. Gutzkow. In: Literatur-Blatt, Nr. 99 (28. Sept.), 396. - Textvorlage: Estermann 1972, Bd. 1, 52f. - (1835c/1972): Dritte Abfertigung des Dr. Gutzkow. In: Literatur-Blatt, Nr. 107 (19. Okt.), 426-428. - Textvorlage: Estermann 1972, Bd. 1, 53-56. Mündt, Theodor (1835/1972): [Antwort auf einen Aufsatz von Wolff] In: Literarischer Zodiacus, Bd. 2, 378-380. - Textvorlage: Estermann 1972, Bd. 2, 715-717. Schwenck, Konrad (1835/1983): [Unveröffentlichte Erklärung] - Textvorlage: Heintz 1983, 271-273. Anonymus (1836/1972): [Rezension von:] Samuel Gottlieb Liesching [anon.]. Die Jeune Allemagne in Deutschland. Stuttgart: Liesching. In: Iris, Nr. 3 (6. Jan.), 9-10. - Textvorlage: Estermann 1972, Bd. 2, 659. Paulus, Heinrich Eberhard Gottlob (1836/1972): Sendschreiben an Karl Gutzkow. Von einem Freunde der Wahrheit. Mannheim: Hoff. - Textvorlage: Estermann 1972, Bd. 1, 235-245. Riedel, Karl (1836/1972): Polemische Erörterungen auf dem Gebiete der Kunst und Literatur, veranlaßt durch den Vernichtungskampf der Tendenzen der neuesten Literatur gegen sich selbst in der Person der Η. H. Menzel und Gutzkow. Vorrede. Nürnberg: Friedrich Campe. - Textvorlage: Estermann 1972, Bd. 2, 434-^39. Börne, Ludwig (1836-1837/1964): Menzel der Franzosenfresser. Paris: Barrois fils. Textvorlage: Sämtliche Schriften. Hg. v. Inge und Peter Rippmann. Düsseldorf: Melzer, Bd. 3, 871-984. Heine, Heinrich (1837/1964): Über den Denunzianten. Eine Vorrede zum Dritten Teile des „Salons" von Heinrich Heine. Hamburg: Hoffmann u. Campe. - Textvorlage: Sämtliche Werke. Hg. v. Hans Kaufmann. München: Kindler, Bd. 10, 79-94. Anonymus (1837/1972): Noch ein Wort über Menzel. In: Lippisches Magazin, Nr. 14 (5. Juni), 211-213. - Textvorlage: Estermann 1972, Bd. 2, 661-664. Strauß, David Friedrich (1838/1972): Streitschriften zur Verteidigung meiner Schrift über das Leben Jesu und zur Charakteristik der gegenwärtigen Literatur. Heft 1, 98-100, 124f. - Textvorlage: Estermann 1972, Bd. 2, S. 665f. Heine, Heinrich (1839a/1964): Der Schwabenspiegel. In: Jahrbuch der Literatur 1, 335362. - Textvorlage: Sämtliche Werke. Hg. v. Hans Kaufmann. München. Kindler, Bd. 10, 115-127. - (1839b/1964): Schriftstellernöten. Offener Brief des Dr. Heine an Herrn Julius Campe [...]. In: Zeitung für die elegante Welt, Nr. 75 (18.4.); 76 (19.4.); 77 (20.4.). - Textvorlage: Sämtliche Werke. Hg. v. Hans Kaufmann. München: Kindler, Bd. 10, 129-140. Hoff, Heinrich (1839/1977): Karl Gutzkow und die Gutzkowgraphie. Ein gemüthliches Literaturbild [...] als Antwort auf die Abfertigung des Buchhändlers Hoff Wohlgeboren von Karl Gutzkow. Mannheim: Heinrich Hoff. - Textvorlage: Faksimile Heidelberg: Winter. Wihl, Ludwig (1839/1964): Erklärung. In: Hamburger Korrespondent v. 8.Mai. - Textvorlage: Heine, Heinrich: Sämtliche Werke. Hg. v. Hans Kaufmann. München: Kindler, Bd. 10, 334f. Heine, Heinrich (1840/1964): Heinrich Heine über Ludwig Börne. Hamburg: Hoffmann und Campe. - Textvorlage: Ludwig Börne. Eine Denkschrift. Sämtliche Werke. Hg. v. Hans Kaufmann. München: Kindler, Bd. 11, 5-135. Gutzkow, Karl (1840/1845): Vorrede zu: Ludwig Börnes Leben. In: Telegraph für Deutschland vom 10. Aug. (Nr. 137/138). - Textvorlage: Gesammelte Werke. Vollständig umgearbeitete Ausgabe. Frankfurt a. M.: Literarische Anstalt, Bd. 6, 5-22. Engels, Friedrich (1842/1966): Alexander Jung und das junge Deutschland. In: Arnold Ruge/Karl Marx (Hg.): Deutsch-französische Jahrbücher, 7.-9. Juli. Paris. - Textvorlage: Hermand 1966, 356-368.

291 Rüge, Arnold (1847/1976): Polemische Briefe. Mannheim: Grohe. - Textvorlage: Fotomechan. Nachdruck. Leipzig: Zentralantiquariat der DDR. Schoder (1848): Erklärung. In: Frankfurter Journal vom 29. Juli, Nr. 2o8. Wetzel, W. F. (1848): Zweites, und voraussichtlich letztes, Wort der Bewohner Sachsenhausens an ihre Mitbürger. In: Frankfurter Journal vom 14. Aug., Nr. 223, Zweite Beilage. Rindskopf, Ernst (1848): Erklärung. In: Frankfurter Journal vom 26. Aug., Nr. 234, Dritte Beilage. Venedy, Jakob (1848): Antwort an Herrn S. Schwarzhil. In: Frankfurter Journal vom 3o. Sept., Nr. 264, Zweite Beilage. Schopenhauer, Arthur (1851/1989): Über Schriftstellerei und Stil. In: Parerga und Paralipomena: kleine philosophische Schriften. Berlin: Hayn. - Textvorlage: Sämtliche Werke. Hg. v. Wolfgang Frhr. von Löyneysen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Bd. 5, 589-650. - (ca. 1855/1985): Ueber die, seit einigen Jahren, methodisch betriebene Verhunzung der deutschen Sprache. - Textvorlage: Hübscher, Arthur (Hg.): Arthur Schopenhauer. Der handschriftliche Nachlaß in fünf Bänden. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 4, II, 36-87. Sanders, Daniel (1852): Das deutsche Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm, kritisch beleuchtet. Hamburg: Hoffmann und Campe. - (1853): Das deutsche Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm, kritisch beleuchtet. Zweites Heft. Hamburg: Hoffmann und Campe. Zarncke, Friedrich (1853/1980): [Anzeige], In: Literarisches Centralblatt, Nr. 18 (30. April), Sp. 304. - Textvorlage: Kirkness 1980, 193. Fischer, Kuno (1853): Das Interdict meiner Vorlesungen und die Anklage des Herrn Schenkel, Direktor des Heidelberger Prediger-Seminars in der Darmstädtischen Kirchen- Zeitung. Mannheim: Bassermann und Mathy. Grimm, Jacob (1854): Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Erster Band: A-Biermolke. Leipzig: Hirzel, Vorrede, II-LXVIII. Häusser, Ludwig (1854/1980): [Anzeige der ersten Lieferungen des Deutschen Wörterbuches der Brüder Grimm]. In: Beilage zu Nr. 247 der Allgemeinen Zeitung vom 4. September, 3945ff. - Textvorlage: Kirkness 1980, 202-206. Holtzmann, Adolf (1854): Untersuchungen über das Nibelungenlied. Stuttgart: A. Krabbe. Schenkel, Daniel (1854): Abfertigung für Herrn Kuno Fischer in Heidelberg. Heidelberg: Akademische Anstalt fur Literatur und Kunst. Fischer, Kuno (1854): Die Apologie meiner Lehre nebst Replik auf die „Abfertigung" des Herrn Schenkel. Mannheim: Bassermann und Mathy. Müllenhoff, Karl (1855a): Zur Geschichte derNibelunge Not. Braunschweig: Schwetschke, 1-10 [zusammengebunden mit 1855b]. - (1855b): Die Untersuchungen über das Nibelungenlied von Hrn. Dr. Adolf Holtzmann [...]. Braunschweig: Schwetschke, 67-103 [zusammengebunden mit 1855a]. Holtzmann, Adolf (1855): Kampf um der Nibelunge Hort gegen Lachmanns Nachtreter. Stuttgart: A. Krabbe. Vogt, Carl (1855/1971): Köhlerglaube und Wissenschaft. Eine Streitschrift gegen Hofrath Rudolph Wagner in Göttingen. Gießen: J. Ricker'sche Buchhandlung. - Textvorlage: Wittig 1971, Bd. 2, 517-640. Bartsch, Karl (1864): [Rezension von:] Karl Müllenhoff/Wilhelm Scherer (Hg.): Denkmäler deutscher Poesie und Prosa aus dem VIII.-XII. Jahrhundert. In: Germania 9, 55-68. Holtzmann, Adolf (1864): [Rezension von: ] Karl Müllenhoff/Wilhelm Scherer (Hg.): Denkmäler deutscher Poesie und Prosa aus dem VIII.—XII. Jahrhundert. In: Germania 9, 68-75. Fischer, Kuno ( 2 1870): Anti-Trendelenburg. Eine Gegenschrift. Jena: Dabis. Scherer, Wilhelm (1875-1876): Allerlei Polemik I-IV. In: Zeitschrift fur deutsches Altertum 18 (1875), 461-465; 19 (1876), 104-112, 154-159, 390-392; 20 (1876), 205-213.

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293 -

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8.1.2

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Lexika

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Personenregister

Im Register sind unterschiedliche Gruppen von Personen verzeichnet. Namen, deren Träger als Subjekte oder Objekte polemischer Auseinandersetzungen (auch) Quellenstatus haben, sind kursiv gedruckt. Personennamen, die für Sprach- oder Sachlexika stehen (Duden, Wahrig, Zedier u.a.), sind durch den Klammerzusatz (Lex.) gekennzeichnet. Namen in den zitierten Textbeispielen sind im Register nur dann berücksichtigt, wenn es sich um polemische Subjekte oder Objekte handelt oder wenn sie in der Kommentierung der Textbeispiele in anderer Weise eine Rolle spielen. Die Namen der Autoren und Herausgeber im Literaturverzeichnis sind nicht in das Register aufgenommen.

Agricola, Johann Friedrich 119, 173, 229, 233 Anderson, Sascha 241 Anonymus 1776 162, 166 Anonymus 1821b 144, 148 Anonymus 1821c 229, 234 Anonymus 1835 102 Anonymus 1836 132, 134-136 Anonymus 1837 50, 132, 134, 235, 237f. Anonymus 1906a 140, 142 Apeltauer, Ernst 28, 38, 45, 48, 66f., 70f., 105 Aquin, Thomas von 256 Aristophanes 148,210 Aristoteles 66,71,207 Arnim, Gabriele von 189 Amtzen, Helmut 28f. Augustinus 177,180,257 Ayers, Michael R. 39 Ayrenhoff, Cornelius Hermann von 162, 166 Bahrdt, Carl Friedrich 40, 121, 124f„ 212 Barner, Winfried 30, 34, 42f„ 51, 223 Baron, Hans 156,181,185 Bartels, Adolf 42, 122, 126, 137, 140, 142, 163, 167, 192, 220, 222f., 235f„ 238, 243, 245 Bartsch, Karl 43, 210, 213, 225, 228 Bassermann, Friedrich Daniel 129f. Bastian, Till 106, 137, 207f., 236, 238

Bebermeyer, Gustav 25f., 172 Becker, Jurek 143 Beckman, N. 186 Belach, Andreas 119, 180, 182, 184, 229, 232 Belke, Horst 25, 29 Benjamin, Walter 7 1 , 2 0 3 , 2 7 7 Bennett, Jonathan 39 Berger, Jochen 19 Berghahn, Klaus 2 3 , 4 2 , 2 1 2 , 2 6 2 , 2 7 9 Bertalot, Ludwig 151,156 Betz, Werner 43 Biermann, Wolf 177, 207f., 236-238, 240f. Bittermann, Klaus 182,184 Bode, Ursula 53 Bödeker, Hans Erich 171 Börne, Ludwig 74, 89-91, 107, 132, 134-136, 181, 184, 235-238, 255, 263 Böttiger, Karl August 135,201 Bogner, Ralf Georg 2 5 7 , 2 6 5 , 2 6 7 Bolwin, Rolf 15 Bremerich-Vos, Albert 265 Briegleb, Klaus 279 Brockhaus (Lex.) 10f.,20 Broder, Henryk M. 151, 182, 194, 198, 200, 236-238 Brummack, Jürgen 28 Buchner, Eberhard 18 Bürger, Gottfried August 42, 110, 168, 173, 175 Buffon, George Louis Leclerc 197

310 Campe, Joachim Heinrich 11, 40, 43, 50, 69, 98, 108, 136, 155-158, 185, 193, 196, 199, 202, 214, 217f„ 242-245, 274, 279 Campe, Julius 203 Chrisman, M. Usher 27 Christmann, Hans Helmut 15 Christmann, Ursula 87,219 Conradi, Hermann 137 Conradi, Johann Ludwig 191 Cramer, Carl Friedrich 278 Daniel, Ute 22 Darwin, Charles 127, 194, 197 Dascal, Marcelo 27, 37 D'Aubigne, Aggrippa 10 Deiritz, Karl 22 Delius, Christian Friedrich 30, 272 Dennert, Eberhard 40, 127, 147, 156, 158, 194, 196f„ 207f„ 242, 244f. Dieterich, Johann Christian 101 Duden (Lex.) 2 1 , 2 2 Dühring, Eugen 20,45, 132, 144f„ 148f„ 181,242 Dusch, Johann Jakob 223 Dyck, Joachim 23,213 Eckermann, Johann Peter 17 Edelman, Murry 47 Eemeren, Frans H. van 208, 253 Ehrismann, Gustav 108, 137, 181, 185, 243-245 Elias, Norbert 257 Emrich, Wilhelm 207 Engels, Friedrich 45, 133-135, 140, 143145, 148, 181, 184, 242, 244f„ 263 Erasmus von Rotterdam 265f. Erdmann, Karl Otto 65f., 72, 208 Emst, Paul 206, 252 Eschen, Klaus 151,153 Eulenberg, Herbert 159f. Fabritius, Karl Moriz Eduard 41, 51., 147, 150, 154, 209,213 Falkenberg, Gabriel 98f„ 188f. Fichte, Johann Gottlieb 105, 128, 130f., 251 Fill, Alwin 27,81 Fischer, Kuno 82, 93f., 105, 132, 134f., 155, 159f„ 162, 166, 170, 173, 181, 184, 186, 189, 191, 193, 195-197,225, 228 Fix, Ulla 98

Frankenberg, Hartwig 98 Fried, Alfred Η. 186f„ 189f„ 274 Friedell, Egon 277 Friedländer, Saul 200, 205 Frings, Theodor 145,149,220,222 Frisch, Max 44, 176f„ 178, 269 Fritz, Gerd 98f„ 103-105, 109 Gabelentz, Georg von der 15 Gaier, Ulrich 46 Gallus, Alexander 248 Garve, Christian 263 Gehlen, Arnold 149 Georg, Herzog von Sachsen 266 George, Stefan 105 Gering, Hugo 145 Gerke, Ernst Otto 259 Gimth, Heiko 259 Gloy, Klaus 27, 164f. Glück, Helmut 78 Gebhard, Tobias 41, 185, 198,202,213, 239-241 Goethe, Johann Wolfgang von 9, 15, 17, 51, 105, 122, 126,212,217,277 Goetz, Walter 151, 153f., 156, 158 Goeze, Johann Melchior 2, 20, 24, 26, 28, 30, 33, 40, 50, 80f„ 83, 90, 139, 212,214, 217f„ 229, 234, 258 Goffman, Erving 67, 70, 258f. Grabbe, Christian Dietrich 29 Grabes, Herbert 27 Gracian, Balthazar 97 Grass, Günter 40, 74 Graugans, Diogenes (Pseud.) 56-60, 174 Greiner, Ulrich 40, 74, 136, 156, 158 Grewendorf, Günter 84 Grice, Paul 41, 96, 188, 258-260 Griffiths, Richard 27, 47f„ 281, 283 Grillparzer, Franz 66 Grimm, E. Gunter 28, 31, 223, 283f. Grimm, Jacob und Wilhelm (Lex.) 14, 51,63, 127,206,217 Grimm, Jacob 51, 105, 127, 129, 131, 144, 228,241,277 Grimm, Wilhelm 127, 144, 241 Groeben, Norbert 27, 45, 67, 87, 104, 107f„ 147, 164, 191, 208, 223f„ 244, 253f„ 283f. Gruber, Helmut 27, 49, 68, 80f„ 98f„ 258 Günther, Albrecht Erich 185, 250f. Günther, Hartmut 60-62 Günthner, Susanne 98

311 Gutzkow, Karl 2, 13, 66, 71, 83, 91, 100102, 110-117, 124, 150-152, 158, 160, 169f„ 179, 193, 196f„ 225, 229-231, 233, 242, 244f. Habel, Christopher 109f„ 230, 234 Habermas, Jürgen 145, 148f., 184, 200, 205, 258, 260 Haeckel, Ernst 147, 207, 243 Haecker, Theodor 256 Häusser, Ludwig 127,136 Haft, Fritjof 201, 270 Halbe, Max 262 Haller, Johannes 163,167,181 Hamilton, William G. 71, 105 Handt, Friedrich 262 Harden, Maximilian 2, 31, 72, 90, 203f„ 239, 241 Hartmann, Eduard von 51, 136, 140, 142f„ 235, 238, 249 Hauff, Wilhelm 227 Haupt, Moritz 164 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 52, 126 Heine, Heinrich 29, 31, 33, 71, 73, 82, 89-91,121, 126, 131, 134-136, 147f., 153, 170, 181, 184f., 193, 196-199, 203, 210, 215, 217-219, 222f., 229, 236, 251,255,263,277,282 Heine, Roland 98 Heinsius, Theodor (Lex.) 11 Heinzel, Richard 137 Hempfer, Klaus 23 Henscheid, Eckhard 15, 44, 94, 141 f., 187, 189, 250 Ηentig, Hans von 185 Herder, Johann Gottfried 217 Heringer, Hans Jürgen 258f. Hermlin, Stephan 211 Heuberger, Johann Wilhelm (Lex.) 11 Heyne, Christian Gottlieb 106, 136, 198, 202,211 Heyse, Johann Christian August (Lex.) 9, 11 Hildebrand, Klaus 148, 184 Hille, Peter 137 Hillgruber, Andreas 145 Hinderer, Walter 110 Hinderling, Robert 105 Hirzel, Salomon 277 Höllerer, Walter 262 Homberg, Walter 13, 42, 51, 263 Hoetzsch, Otto 181

Hoff, Heinrich 83, 110-117, 124, 150, 152-155, 158-160, 179, 225, 228-231, 233,274 Hoffmann, Aloisius 108,121,242 Hoffmann, Carl 112 Hoffmann-Axthelm, Dieter 151, 226 Holly, Werner 258 Holtzmann, Adolf 43, 137, 140, 144, 148f„ 151, 153f„ 162-164, 167, 2 2 0 223 Holub, Robert C. 90 Holz, Arno 122, 125, 136f„ 146, 151, 153f„ 159, 176, 180, 205f„ 208, 210, 213,225,228, 251,274 Horten, Helmut 30, 272 Huber, Ernst Rudolf 268 Hübner, Johann (Lex.) 8 Humboldt, Wilhelm von 263 Hundsnurscher, Franz 98f., 103-105, 109 Hutten, Ulrich von 265f. Hutter, Otto 178 Jaeckle, Erwin 178 Jäger, Ludwig 109,230,234 Jagow, Traugott von 72, 204, 238 James, Harold 248 Jameson, Robert 23 Jaspers, Karl 15 Jerrmann, Ε. 111-114, 116, 230 Johnson, Mark 9 Jünger, Ernst 211 Jung, Alexander 140, 143 Jung-Stilling, Johann Heinrich 162, 166 Kärn, Konrad 8 0 , 2 1 8 , 2 5 1 , 2 5 8 , 2 6 0 Kästner, Abraham Gotthelf 161, 166, 175, 179 Kallmeyer, Werner 48 Kaiverkämpfer, Hartwig 207 Kamper, Dietmar 123, 145 Kant, Immanuel 52, 92, 159, 263f„ 280 Karasek, Hellmuth 143 Karlstadt (Pseud. für: Bodenstein, Andreas Rudolf) 51 Kelly, Petra 137 Kempcke, Günter (Lex.) 20 Kerr, Alfred 31, 33, 72, 90, 107, 122, 133, 186, 189f„ 194, 197, 199, 202, 204, 230, 233f., 236, 238, 274, 278 Kienpointner, Manfred 28, 48, 67, 71, 75 Kieser, Rolf 45 Kindt, Walther 27, 46 Kirkness, Alan 105,277

312 Klein, Anton von 127 Klein, Josef 86-88, 98, 247, 253, 258f„ 282 Klopstock, Friedrich Gottlieb 11, 16, 92, 263 Klotz, Christian Adolf 73, 137, 142, 146, 148, 166, 180,191f., 194, 202, 222 Knigge, Adolf Freiherr von 108,121, 124f., 162, 166, 169, 173, 242, 244f. Knoch-Mund, Gaby 27 Kölliker, Albert von 139 Körner, Christian Gottfried 15 Kotzebue, August Friedrich v. 212 Kranold, Herman 163, 167, 181, 184 Kraus, Karl 2, 29-31, 33, 43f., 48, 72, 89-92, 105, 122, 126, 129f„ 133, 136, 194, 197, 199, 203f„ 238, 248, 252, 277f. Krauss, Hannes 22 Krolop, Kurt 28, 30, 90 Krug, Wilhelm Traugott 40, 42, 150, 153f., 206, 208f„ 213, 224, 228 Kühne, Ferdinand Gustav 169-171, 173 Kuhn, Hans 145,220 Lachmann, Karl 109, 137, 163, 176, 179, 220f., 242 Laermann, Klaus 122, 125, 145 Lakoff, George 9 Lamping, Dieter 74, 88-90, 125, 255, 257, 276, 278f. Lampugnani, Vittorio Magnago 151, 153f., 226-228 Lange, Gerhard 51,208 Lange, Samuel Gotthold 30,202,219, 223 Laube, Heinrich 116, 150, 169f„ 263 Lausberg, Heinrich 102 Lazarowicz, Klaus 23f., 28f., 219, 248 Leitzmann, Albert 108,243,245 Leonhardt, Rudolf Walter 15 Lessing, Gotthold Ephraim 2, 16, 20, 24, 26, 28-31, 33, 38,40f., 50f„ 73, 80f„ 8 3 , 9 0 - 9 2 , 9 4 , 107, 127f„ 131, 135, 137, 139-144, 147f, 161, 166f., 180, 185, 191f., 194, 195f„ 198, 202,206, 208, 212, 214, 217-219, 222f., 229, 233f., 241, 244f., 248, 251, 258, 263265, 279, 283 Lessing, Karl 38, 90f„ 135, 279 Lichtenberg, Georg Christoph 8, 31, 40f., 43, 101, 103, 106, 160, 164, 185, 189, 198, 202, 204, 209, 211, 213, 221f„ 239-241,281

Liesching, Samuel Gottlieb 134 Lippert, Philipp Daniel 144, 148 Liskov, Christian Ludwig 30, 97, 128, 131, 146f., 256 Lorenz, Konrad 57 Ludwig, Emil 251 Lüth, Paul E.H. 122,141 Luther, Martin 51, 215, 251, 265f. Marcuse, Ludwig 74, 249 Marpurg, Friedrich Wilhelm 119, 150, 153f„ 168, 172f„ 206, 208f.,213 Martens, Wolfgang 42 Marx, Karl 45, 263 Mattenklott, Gert 141,218 Mattheson, Johann 119, 150, 153, 217 Maußer, Otto 29 Mayer, Friedrich 254 Maync, Harry 122, 137, 163, 167,236, 238, 243 Mead, George Herbert 67 Mehring, Franz 105 Meibauer, Jörg 259 Menzel, Wolfgang 2 , 4 1 , 5 1 , 7 1 , 7 3 , 9 1 , 94, 100, 102, 107, 111, 132, 134, 150, 152-54, 158, 184f., 191, 193, 196f, 235-237, 262 Meyer (Lex.) 171 Meyer, Jochen 23,251 Meyer, Richard M. 140, 146, 192, 206 Mischo, Christoph 219 Mogge, Brigitte 45 Moritz, Karl Philipp 31, 43, 69, 98, 136, 155-158, 185, 189, 193,202,218, 242f., 279 Moritz, Rainer 211,213 Müllenhoff, Karl 43, 109, 140, 142-144, 148f„ 162-164, 167, 176, 179, 213, 215, 217f., 220-223, 242 Müller (Maler Müller), Friedrich 279 Müller, Hanspeter 39, 177 Müller, Heiner 211 Müller, Johann Gottwert 128, 131, 150, 153f., 213 Müller, Oliver 39 Müllner, Amadeus Gottfried Adolf 131 Mündt, Theodor 13, 169-173,219,222 Muschter, Gabriele 15, 52 Musil, Robert 232 Naess, Arne 52, 80, 208, 252 Naumann, Michael 15 Neumann, Robert 124

313 Nicolai, Friedrich 105,128,130, 212, 261 Nietzsche, Friedrich 51, 136,251 Nolle, Emst 200, 202, 205 Nothdurft, Werner 81 Nürnberg, Rolf 15 Objartel, Georg 79, 98, 266 Oertel, Eucharius Ferdinand Chr. (Lex.) 11 Oesterle Günter 23, 42, 44, 71, 76, 91, 212f„ 262, 264f„ 278, 280, 282 Oesterle, Ingrid 42, 71, 76, 91, 262, 264 Opelt, Ilona 48, 51 Opitz, Alfred 254, 282 Pascal, Blaise 89, 257, 283 Paul, Hermann (Lex.) 21 Paul, Ingwer 3, 63, 92f„ 259 Paulus, Heinrich Eberhard Gottlob 98, 155, 157f„ 186, 189, 196 Pehlke, Michael 24f. Pelet-Narbonne, Gerhard von 187 Perelman, Chai'm 75 Petri, Friedrich Erdmann (Lex.) 14 Pfizer, Gustav 181 Philippi, Johann Ernst 30 Piirainen, lipo Tapani 258f. Platen, August Graf von 29,33,73,90, 121,126,131,147f„ 193,197,210,255 Plett, Heinrich F. 102 Polgar, Alfred 249 Pott, August Friedrich 15 Quack, Josef 44 Quintilian, M. Fabius 195 Raddatz, Fritz J. 20, 262 Rahden, Wolfert v. 5 1 , 1 3 6 , 2 4 8 Recher, Hildegard 200 Rehbein, Jochen 104,107 Rehbock, Helmut 98 Reich-Ranicki, Marcel 3 9 , 8 8 , 1 2 2 , 1 2 4 126,141-143,145,149,207f„ 230,232 Reinhold, Carl Leonhard 280 Richter, August 30 Riedel, Karl 15 Riedle, Gabriele 54, 56 Riedmüller, Barbara 19 Riemer, Friedrich Wilhelm 174 Rilla, Paul 15, 122, 125, 141, 143 Rindskopf, Ernst 239-241 Rohner, Ludwig 23, 34, 43, 105, 126, 135f., 139,256, 265

Rolf, Eckard 259 Rosemann, Philipp 79, 92 Rousseau, Jean Baptiste 174 Rüge, Arnold 15, 40, 51, 100, 122f„ 125, 146, 190f„ 199, 202f. Rutschky, Katharina 243-245 Saenger, Samuel 262 Sallust, Gajus S. Crispus 102 Sanders, Daniel (Lex.) 9, 14 Sanders, Daniel 105, 127, 131, 144, 149, 206, 208 Saner, Hans 10 Sauer, August 105,163,243 Schänk, Gerd 28, 37,48, 109, 258 Scheerer, Eckart 60, 62, 109f„ 177, 180 Schenkel, Daniel 129,131, 136,155,158, 164,174,181,184f, 191-193,195,228 Scherer, Wilhelm 51, 94, 101, 106, 109f., 176, 179, 180, 215-217, 220-223, 242, 244f. Schiller, Friedrich 9, 15, 42, 74, 88, 110, 168, 175, 179, 277 Schilson, Arno 81,218 Schink, Johann Friedrich 127 Schlaf Johannes 205, 252 Schlegel, August Wilhelm 36, 105, 212, 282 Schlegel, Friedrich 15, 37, 92, 125, 148, 212,219,264 Schleiermacher, Friedrich 12, 92, 197 Schlosser, Johann Georg 212 Schmidt, Erich 105 Schmidt, Julian 105 Schmieder, Christian Gottlieb 213 Schmitt, Carl 251 Schmitt, Reinhold 48 Schneider, Helge 54-56 Schoder, [?] 129-131 Schönke, Adolf 138,271f. Scholz, Rüdiger 101,213 Schopenhauer, Arthur 34f., 39, 48, 51, 63-67, 70f„ 97, 169, 174, 208, 210, 213,220, 222, 239, 241,276 Schreier, Margit 87 Schröder, Horst 138, 271 f. Schulz, Bernhard 251 Schulz, Wilhelm 51, 100f„ 123, 190f., 199, 202f. Schulz-Basler (Lex.) 10 Schumann, Hanna Brigitte 97f. Schwarzer, Alice 106, 137, 156, 158, 200, 226, 236

314 Schwenck, Konrad 185,189 Schwind, Klaus 15, 22 Schwitalla, Johannes 27f., 37, 48, 51, 80f., 96, 98, 109, 173,258, 266 Seibert, Thomas-M. 232 Shaw, George Bernhard 159f. Siegmund-Schultze, Friedrich 170, 174 Sievers, Eduard 145, 149, 186, 189 Sloterdijk, Peter 280 Sofsky, Wolfgang 2, 249 Sorge, Georg Andreas lOOf., 119, 150, 153, 155, 157f„ 168, 173 Specht, Rolf 26, 40f„ 46-51, 80, 90, 125 Spiegel, Carmen 27 Spindler, Karl 197 Spranz-Fogasy, Thomas 98 Staiger, Emil 44, 176-178, 269 Stapel, Wilhelm 82, 129, 131, 133-136, 170, 176, 180,210,212,251,274 Stati, Sorin 27 Steinbrink, Bernd 23,47, 195 Steiner, Rudolf 176 Steinfeld, Thomas 178,249 Stenzel, Jürgen 23, 26-28, 31-38, 41f., 44—48, 52, 80, 84, 126, 135, 139, 209, 283 Stifter, Adalbert 192 Stolberg, Friedrich Leopold Graf zu 98, 136, 196, 205, 224, 228 Strauß, David Friedrich 73, 94, 19 lf. Strauß, Gerhard (Lex.) 7, 15, 19-21, 36 Ströbele, Christian 182, 184f., 236, 238 Strobl, Ingrid 200 Strohschneider-Kohrs, Ingrid 29 Sudermann, Hermann 262 Suttner, Bertha von 186f. Tacitus, Publius Cornelius 102 Techtmeier, Bärbel 81,92 Tieck, Ludwig 29 Tiedemann, Rolf 203 Timms, Edward 256 Traitler, Hildegard 18 Trendelenburg, Friedrich Adolf 93f., 159f., 225 Triller, Daniel Wilhelm 119, 192, 196 Tucholsky, Kurt 49, 92, 133-136, 247 Ueding, Gert 23, 47, 195 Ungeheuer, Gerald 92 Unseld, Siegfried 203 Venedy, Jakob 204

Vogt, Karl 42, 82, 132, 134-136, 139, 176, 179, 186, 189, 210, 213, 230, 233235, 238 Vogt-Moykopf, Christian 236-238 Voigt, Gerhard 272 Voß, Johann Heinrich 42, 106, 135f„ 155, 158, 160, 164, 185, 196, 198, 202, 204f„ 209, 211-215, 217f., 221f., 224, 227, 241,263 Wagner, Franc 98 Wagner, Rudolph 42, 82, 132, 176, 179, 186,210,213,235, 237f. Wahrig, Gerhard (Lex.) 20 Walch, Johann Georg 10 Walser, Martin 122, 141, 143, 177, 180, 277 Walther von der Vogelweide 34 Wartburg, Walther von (Lex.) 10 Weber, Werner 177 Weinrich, Harald 27,41 Weiß, Peter 177 Weizsäcker, Beatrice von 272 Welte, Werner 79, 92 Wesel, Uwe 201,270 Wetzel, W. F. 128, 131 Wiegand, Herbert Ernst 80 Wieland, Christoph Martin 16f., 201, 263 Wienbarg, Ludolf 102, 170 Wieser, Harald 19 Wigand, Otto 112 Wihl, Ludwig 199, 202f., 229, 233 Wolf, Christa 22, 156, 158 Wolf, Markus 211 Wolff Oskar Ludwig Bernhard 169-171, 219 Wollweber, Werner 74 Wunderlich, Dieter 92 Wunnicke, Christine 3, 81, 119, 164, 173, 182, 227,253 Wurm, Christian F. L. 105, 127, 131, 239, 241 Zarncke, Friedrich 127, 144, 149, 162f., 167,215,218, 239, 241 Zedier (Lex.) 8, 10, 13, 22, 25, 47, 63f„ 70, 102, 165, 171, 178, 182f„ 216, 231, 265, 267 Zimmermann, Hans Dieter 72, 124, 211, 213 Zimmermann, Johann Georg Ritter von 212 Zweifel, Joseph 10,27

Sachregister

Bei häufiger verwendeten Begriffen sind nicht alle Vorkommen des betreffenden Wortes aufgeführt, sondern nur Seiten, auf denen der Begriff oder die bezeichnete Sache ausdrücklich thematisiert sind. Gegenstände, die im Inhaltsverzeichnis als Thema von Kapiteln oder Unterkapiteln ausgewiesen sind, sind im Sachregister nicht noch einmal systematisch erfasst. Das gilt insbesondere für den Katalog metakommunikativer Normen und die Äußerungstypen (vgl. Kap. 4), in denen jene in den Teilkapiteln des Kapitels 5 thematisiert werden.

Adressat 40f., 48f., 71, 97f., 260, s.a. Instanz, polemische - angesprochener vs. gemeinter 40f. Adressatenorientierung, s. Rhetorizität Adressierung 40f. - Anredeverhalten 40f. - Mehrfachadressierung 41,43, 97f., 260 Aggression 26f., 45, 71, 80, 88, 93, s.a. Frustrationsentlastung Alibistruktur 283f. Angriffe, persönliche/ehrverletzende, s. Äußerungsdelikte; Beleidigung; Beschimpfung; Diskreditierung; Persönlichwerden; Verdächtigung; Verleumdung Anonymität - des polemischen Subjekts 57f., 96, 168-180

- des polemischen Objekts 57,175-180 Argumentation - als Text-/Diskurstyp 27f., 46f., 69f., 252-255 - fehlerhafte/unintegre/unfaire 27, 45, 48, 63-66, 87f„ 177f„ 206-208, 252, s.a. Persönlichwerden Argumentationsintegrität 45, 67, 87 Argumentativität 33, 45—47, 68, s.a. Grundgestus, argumentativer argumentum ad rem vs. ad hominem vs. ad personam 63-76 Aufklärung (des Publikums) 25,42, 114 Äußerung, metakommunikative 85, 87f., 91-98

- normbezogene 81f., 85f., 95-110, 113, 126, 135, 146f„ 163-167, 174f., 179 - metakommunikativ vs. extrakommunikativ geäußert 91-94, 249, 264 Äußerungsdelikte 212,274 Äußerungskorpus 3, 118f., 254 Äußerungstypen, metakommunikative 95-110, s.a. Behauptung; Erklärung; Bitte; Entschuldigung; Rechtfertigung; Schuldbekenntnis; Vorwurf Behauptung 96, lOOf. Beleidigung 67, 96, 227, 270-272 Beschimpfung 26f„ 33, 46, 67, 97, 211 Bitte - um mildernde Umstände/um Verständnis 104, 108, 244f. - um Verzeihung 103f., 109f. Dialektik 34, 63f„ 66, 70, 82 Dichte, polemische 83 Diskreditierung (des polemischen Objekts) 36, 42, 67f., 82, 155-158, 192198, 268 Diskussion 46f., 86, 252 Disputation 26, 34, 46f., 216 Dominanz- vs. Profilierungsstrategien 49 Doppelbödigkeit 26, 46f, 280 Ehre, Ehrenschutz 138,153,224-228, 240, 268, 271 f. Eigennutz vs. höherer Zweck 115f., 150— 154, 227,237, 265

316 Emotionalität, s.a. Frustrationsentlastung; Handeln im Affekt; Lust an der Polemik - des polemischen Subjekts 2f., 35, 43—45, 70, 264 - als vorwerfbarer Zustand 161167 - als schuldmildernder Zustand 35, 38,93, 161, 164—167, 243-245 - des polemischen Objekts 43f., 71, 164 - der polemischen Instanz 43f., 70, 93, 278 Entschuldigung 103f„ 241-245,s.a. Bitte; Umstände, (schuld)mildernde Erfolgsbedingungen des Polemikers 2f., 85, 275f„ 280-284 Erwartungen, alltagsweltliche, 5. Normbegriff Erklärung - Absichtserklärung lOOf. - Verzichtserklärung 101-103 Ethik, christliche 255-258 Fahrlässigkeit 97, 166 Fairness 27, 88, 259, s.a. Waffengleichheit Frustrationsentlastung 43, 71, 93, 276f. Gebote, religiöse 188, 266f., 231f. Gemeinwohl 235-238 Gerechtigkeit 231-233 Grundgestus, argumentativer 27, 45 Handeln im Affekt 35, 164-166, 243245, 254, 272 Historizität - der Normen 261-265 - des polemischen Verhaltens 261265 Höflichkeitsmaxime 259f., s.a. Stilmittel, höfliche Image 69f„ 88, 96, 258f. Instanz, polemische 33, 35, 38, 42, 80, 97 Interessen - persönliche 42, 112, 150-154, 263f., 284 - Gruppeninteressen 42f., 153f. Kampfschrift 25f. Kommunikationsbereiche, s.a. Öffentlichkeit vs. Privatheit

-

Alltag 34f„ 79f., 254f„ 257 Literatur 74, 118f. Publizistik 13-22,254 Theologie 10-13, 256f. Wissenschaft 13-22, 83, 139, 148f., 254 Kontroversschrift 25 Kooperativität vs. Unkooperativität 87, 251,258-261 Kritik 23f., 26 Kunstgriffe des Streitens 48, 63-65, 207f. Libell 171 Linguistik 2, 27f. Literaturwissenschaft 2, 23-27, 33, 8891 loci a persona 48, 69, 74f., 195 Lüge, s. Wahrheit Lust an der Polemik 93, 275-284 - beim polemischen Objekt 279 - beim polemischen Subjekt 276f., 279-281 - bei der polemischen Instanz 276278, 280-284 - Spielarten der Lust 276-278 Mehrfachadressierung, 5. Adressierung Meinungs- und Kunstfreiheit 30, 272 Metakommunikation, polemische 2f., 7 8 83 - normbezogene, .y. Äußerung, normbezogene - Funktionen 79-82, s.a. Verständnissicherung metakommunikativ vs. extrakommunikativ, 5. Äußerung, metakommunikative Mündlichkeit, s. Schriftlichkeit Norm, kommunikative 2, 84-91 - unterstellte 81,85 - Norm, kodifizierte vs. alltagsweltliche Erwartung 84f., 232, 246, 266274 - Norm vs. Sprachwissen 84, 86 - Norm vs. Klugheitsregel 97 - Verhaltensnorm vs. Konversationsmaxime 258-161 Normenanalyse, Methoden, s.a. metakommunikativ vs. extrakommunikativ - Rekonstruktion vs. Analyse „von außen" 2, 38,75, 86-91, 119f., 123f„ 259f. - Rezipientenanalyse 87f.

317 Normenbegründung - ethisch/christlich 138,231-233, 248, 255-258, 266f. - funktional 69f„ 75f„ 138, 252-255 - juristisch 138, 171f„ 201f., 212, 231-233, 254, 267-274, s.a. Äußerungsdelikte; Handeln im Affekt; Meinungs- u. Kunstfreiheit; Notwehr; Persönlichkeitsschutz; Vertraulichkeit des Wortes; Wahrnehmung berechtigter Interessen; Wiedervergeltungsrecht Normengeltungsbereich, s.a. Öffentlichkeit und Privatheit - Epochenspezifik 255-258,261-265 - Kommunikationsbereichsspezifik 266f. - Text-/Diskurstypspezifik 84, 247249,252-255 - Universalität 258-261 Normverletzung 85f„ 97f., 101, 110,248, 284 - vs. Irrtum 146 - vs. mangelnde Intelligenz 97, 146 - vs. getrübte Wahrnehmung 146-148 Notwehr 205, 227, 245, 271, 273f. Objekt, polemisches 33, 38f., 40, 43, 50 - ehrloses 239-241,272 - unbedeutendes 116f., 121-127 - unwürdiges 128-131,228 - gestorbenes 136-138 - wehrloses 131-136 Öffentlichkeit vs. Privatheit 34f., 80f„ 84f., 118, 198-206, 254, 262, 264, 270 Pamphlet 24f„ 26, 46, 171 Pasquill 24f„ 47, 171 f. Person vs. Sache 64, 69-76, 158, 198, 238, 249, 263-265, s.a. argumentum ad rem; Persönlichwerden Persönlichkeit, Persönlichkeitsschutz 201, 271 f. Persönlichwerden 18-21, 63-76 - als Normverletzung 155-158, 192— 198,258,268 Polemik (Wort und Begriff) - Gebrauchsweisen 8-31 - Geschichte 8-20 - Pejorisierung 11,18-20 - gegenwärtiger Gebrauch 20-22 Polemik (wissenschaftliche Begriffsbildung) 2, 23-32, s.a. Text, polemischer

- Gattung vs. Stil vs. Schreibart 23, 36 - Abgrenzung nach außen 23-31, s. a. Beschimpfung; Disputation; Kampfschrift; Kontroversschrift; Kritik; Libell; Pamphlet; Pasquill; Satire; Schmähschrift; Streit/Streiten; Streitgespräch; Streitschrift; Verriss; Widerlegung; Zank/Zankerei Porträtierung, polemische 48-51 - Selbstporträt vs. Gegnerporträt 48f. - Porträtfiguren 50f. Praeteritio, s. Erklärung (Verzichts-) Privatsphäre 201, 253, 255, s.a. Öffentlichkeit vs. Privatheit; Vertraulichkeit des Wortes Rechtfertigung vs. Entschuldigung 103f., 107f„ 237, 244 Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe 223f., 271-273, s.a. Vorwerfbarkeit Redewiedergabe, fehlerhafte 180-185 Rhetorik 47f„ 70, 160, 216f., 257 Rhetorizität 4 7 , 6 6 , 9 0 , 158-161,216218 Sache vs. Person, s. Person vs. Sache Satire 24, 28-31, 47, 56-58, 247f„ 256 Schimpfstil 209-213,270 Schmähschrift 24f., 26, 172 Schriftlichkeit vs. Mündlichkeit 35f., 80f„ 93, 118, 164f„ 185f„ 253 Schuldbekenntnis 109f.,244 Schweigen 103 Selbstaufwertung vs. Gegnerabwertung 46, 48-51, s.a. Dominanz- vs. Profilierungsstrategien; Porträtierung; vir bonus vs. vir malus Situation, polemische 33f. - Elemente, s. Subjekt, polemisches; Objekt, polemisches; Thema, polemisches; Instanz, polemische - Realsituation vs. polemische Konstellation 37-40, 44, 50, 85, 98 Stilmittel, polemische 27, 33, 36f. - argumentative 33, s.a. Argumentation - höfliche 178,222 - literarisch-ästhetische 214-219,278 - pöbelhafte 209-213,s.o. Schimpfstil - rhetorische 216-219, s.a. Rhetorizität

318 - satirische 28, 31, s.a. Satire - schulmeisterliche 221-223 - unsachliche 26f., 36, s.a. Unsachlichkeit Strategien, polemische, s. Angriffe, persönliche/ehrverletzende; Dominanz- vs. Profilierungsstrategien; Persönlichwerden; Porträtierung, polemische; Selbstaufwertung vs. Gegnerabwertung, vir bonus vs. vir malus Streit/Streiten (Begriff) lf., 27f., 45f. - Streiten, polemisches 1 f., 32-51 Streitgespräch 37, 49, 66f. Streitschrift 24f., 34, 49 Subjekt, polemisches 33, 37f., 48, 50 - Motivationen/Intentionen/Ziele, s. Eigennutz vs. höherer Zweck; Frustrationsentlastung; Interessen; Diskreditierung Text, polemischer - Text vs. Stilzug 36f., 82f. - Eigenschaften, besondere, i. Alibistruktur; Argumentativität; Dichte, polemische; Doppelbödigkeit; Grundgestus, argumentativer; Historizität; Rhetorizität; Unsachlichkeit - initiativer vs. reaktiver 112,233 Textkorpus 35, 117-119 Thema, polemisches 33, 139-143 Theologie 10-13, 257f. Umstände, (schuld)mildernde 237, 241— 245, 272f„ s.a. Bitte Unsachlichkeit 26f., 36, 65f., 80, 209, 252, s.a. Stilmittel, unsachliche Verantwortlichkeit, 5. Vorwerfbarkeit Verdächtigung 96, 189 Verleumdung 67, 96, 189

Verriss 88f., 276f. Verständnissicherung, metakommunikative 79f. Verstehen vs. Verständigung 79f., 258260 Verteidigung, aufgezwungene 224-228 Vertraulichkeit des Wortes 198-206, 270 vir bonus vs. vir malus 42, 48, 50, 85 Vorwerfbarkeit 96f., 113, 146f., 163-167, 201, 21 lf., 248, 254, s.a. Normverletzung - Einschränkungen, s. Fahrlässigkeit; Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe; Umstände, (schuld)mildemde; Vorwurf vs. Abqualifizierung Vorwurf 97-100 - antizipieren 104 - vs. Abqualifizierung 96-98, 113, 147f. - Reaktionen auf Vorwürfe 103-110, s.a. Bitte; Entschuldigung; Rechtfertigung; Schuldbekenntnis; Schweigen, Waffengleichheit 134f„ 172, 237 Wahrheit vs. Lüge 25, 42, 116, 154, 164, 185-192, 216f„ 269f. - Lüge vs. Unwahrheit 187-190 Wahrnehmung berechtigter Interessen 227, 271 f. Werte, normativ geschützte, s. Ehre; Fairness; Gemeinwohl; Gerechtigkeit; Persönlichkeit; Privatsphäre; Vertraulichkeit; Wahrheit Widerlegung, Kunst der 9 - 1 7 , 7 0 Wiedervergeltung, Wiedervergeltungssrecht (Retorsion) 116,229-235,271 Zank/Zankerei 16 Zweck, höherer, s. Eigennnutz