Strategien zur Leidbewältigung im 2. Korintherbrief: Herausgegeben:Bendemann, Reinhard von; Scoralick, Ruth; Gielen, Marlis; Dietrich, Walter 9783170321984, 9783170321991, 3170321986

Wie geht Paulus mit dem Leiden um, das er selbst, seine Mitarbeitenden oder die Gemeinden erfahren? Im 2. Korintherbrief

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German Pages 320 [321] Year 2017

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Titelseite
Impressum
Inhalt
Vorwort
Einführung
Teil I Voraussetzungen der Arbeit
§ 1 Forschungsüberblick zur Leidensdeutung bei Paulus
1.1 Leiden als mystische Teilhabe an Christus
1.1.1 Johannes Schneider (1929)
1.1.2 Albert Schweitzer (1930)
1.1.3 Hans Windisch (1934)
1.1.4 Kritische Würdigung
1.2 Apostolisches Leiden als christologische Epiphanie
1.3 Leiden bei Paulus als ‚Leiden des Gerechten‘
1.3.1 Karl Th. Kleinknecht (1984)
1.3.2 Barry D. Smith (2002)
1.3.3 Kritische Würdigung
1.4 Leiden bei Paulus als Parallele zu Christus
1.4.1 Michael Wolter (1990)
1.4.2 Kar Y. Lim (2009)
1.4.3 Kritische Würdigung
1.5 Leidensdeutung bei Paulus anhand des Begriffs ἀσθένεια κτλ.
1.6 Zusammenfassung und Folgerungen für das weitere Vorgehen
1.6.1 Desiderata bisheriger Forschung
1.6.2 Fragestellung der Untersuchung
1.6.3 Vorgehensweise
§ 2 Vorbemerkungen zum Verständnis des Leidensbegriffs
2.1 Grundlegendes Verständnis von Leiden
2.1.1 Leiden in der Dogmatik: Das Theodizeeproblem
2.1.2 Phänomenbezogene Betrachtung des Leidens
2.1.3 ‚Leiden‘ im Verhältnis zum ‚Schmerz‘
2.2 Differenzierungen der Leidbetrachtung
2.2.1 Anthropologische Verortung der Leiderfahrungen
2.2.2 Ursache der Leiderfahrung
2.2.2.1 Problematisierung von malum morale, malum physicum und malum metaphysicum
2.2.2.2 Handlungen und Ereignisse
2.2.3 Schritte der Leidanalyse
2.3 Möglichkeiten zum Umgang mit Leiden
2.3.1 Leidbewältigung
2.3.2 Weitere Umgangsweisen mit Leiden
§ 3 Hermeneutische Vorbemerkungen
3.1 Antworten auf eine Frage, die ein Text nicht explizit stellt
3.2 Leiderfahrungen bei Paulus und in der Antike
§ 4 Begriffsgeschichtliche Betrachtung von θλῖψις κτλ.
4.1 Der Begriff außerhalb der jüdisch-christlichen Literatur
4.1.1 Grundbedeutung
4.1.2 Übertragene Bedeutung
4.1.3 Bedeutung in der stoischen Philosophie Epiktets
4.2 Der Begriff in der Septuaginta
4.2.1 Θλῖψις κτλ. als Übersetzung der hebräischen Wurzelnצר und לחץ
4.2.2 Leiden und der Umgang damit im Umfeld des Begriffs
4.2.2.1 Erzählende Texte Gen–2Kön und 1–4Makk
4.2.2.2 Prophetische Texte
4.2.2.3 Weisheitliche Texte und Spätschriften
4.2.2.4 Psalmen
4.2.3 Zwischenfazit
4.3 Der Begriff bei Philo von Alexandrien
4.4 Der Begriff in neutestamentlicher Zeit
4.4.1 Matthäus- und Markus-Evangelium
4.4.2 Johannes-Evangelium
4.4.3 Lukanisches Doppelwerk
4.4.4 Außerpaulinische Brieftradition
4.4.5 Johannes-Offenbarung
4.4.6 Zwischenfazit
4.5 Der Begriff im Verhältnis zu semantisch ähnlichen Begriffen
4.5.1 πάθημα κτλ.
4.5.2 λύπη κτλ.
4.5.3 ἀνάγκη κτλ.
4.5.4 στενοχωρία κτλ.
4.5.5 διωγμός κτλ.
4.6 Fazit für die Untersuchung von Leiderfahrungen bei Paulus
§ 5 Exegetische Vorbemerkungen zum 2. Korintherbrief
5.1 Die paulinische Gemeinde im Korinth des ersten Jahrhunderts
5.1.1 Wirtschaftliche, kulturelle und religiöse Situation in Korinth
5.1.2 Die korinthische Gemeinde in ihrem Kontext
5.2 Entstehung des 2. Korintherbriefs
5.2.1 Literarische Integrität
5.2.1.1 Zweifel an der literarischen Integrität
5.2.1.2 Hypothesen zu Teilung und Einheitlichkeit
5.2.1.3 Zwischenfazit
5.2.2 Verortung des 2. Korintherbriefs in der korinthischen Korrespondenz
5.3 Bedeutung der ersten Person Plural bei Paulus
Teil II Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs in 2Kor 1–8
§ 6 Einzelexegese von 2Kor 1,3–11
6.1 Kontext und Abgrenzung
6.2 Analyse des geschilderten Leidens
6.2.1 Betroffene
6.2.2 Betroffenheitsebene
6.2.3 Leidursachen
6.2.4 Leidverantwortliche
6.3 Strategien zur Bewältigung von Leiderfahrungen
6.3.1 Trost Gottes (1,4–7)
6.3.1.1 Bedeutungsskizze zu παράκλησις/παρακαλέω
6.3.1.2 Gemeinde: Gottestrost als Standhaftigkeit im Leiden (1,6f)
6.3.1.3 Paulus-Gruppe: Positive Wirkung des Leidens als Befähigung zurTrostweitergabe (1,4–6)
6.3.2 Parallele zum Leiden Christi (1,5f)
6.3.2.1 Deutungen von παθήματα τοῦ Χριστοῦ (1,5)
6.3.2.2 Gemeinde und Paulus-Gruppe: Leiden als Parallele zu Christus(1,5)
6.3.3 Paulus-Gruppe: Positive Wirkung von Leiden als Grund von Gottvertrauen (1,9)
6.3.4 Paulus-Gruppe: Beendung von Leiden durch Gott (1,10)
6.4 Zwischenfazit
§ 7 Einzelexegese von 2Kor 1,23–2,11
7.1 Kontext
7.1.1 Abgrenzung und Gliederung des Abschnitts
7.1.2 Der Konflikt zwischen Paulus, Gemeinde und Einzelperson (2Kor 2,1–11; 7,5–16)
7.2 Analyse des geschilderten Leidens
7.2.1 Betroffene
7.2.2 Betroffenheitsebene
7.2.3 Leidursachen
7.2.4 Leidverantwortliche
7.3 Strategien zum Umgang mit Leiderfahrungen
7.3.1 Strategien zur Bewältigung von Leiderfahrungen
7.3.1.1 Paulus: Positive Wirkung von Leiden als Erweis der Gemeinschaft von Apostel und Gemeinde (2,1–5)
7.3.1.2 Gemeinde: Positive Wirkung von Leiden als Bewährung des Gehorsams (2,9)
7.3.2 Strategien zur Beendung und Vermeidung von Leiderfahrungen
7.3.2.1 Paulus: Ausweichen vor dem Leiden (2,1–4)
7.3.2.2 Paulus und Gemeinde: Wohlwollen, Vergebung und Trost motiviert durch Liebe (2,6–8)
7.3.2.3 Paulus und Gemeinde: Wohlwollen, Vergebung und Trost motiviert durch Satansabwehr (2,10f)
7.4 Zwischenfazit
§ 8 Einzelexegese von 2Kor 4,7–15
8.1 Kontext und Abgrenzung
8.2 Analyse des geschilderten Leidens
8.2.1 Betroffene
8.2.2 Betroffenheitsebene
8.2.3 Leidursachen
8.2.4 Leidverantwortliche
8.3 Leidbewältigungsstrategien für die Paulus-Gruppe
8.3.1 Positive Wirkung des Leidens als Hinweis auf die Kraft Gottes (4,7)
8.3.2 Peristasenkatalog (4,8f)
8.3.2.1 Die Glieder der Antithesen
8.3.2.2 Bewahrung in Peristasen
8.3.3 Parallelisierung zu Sterben und Leben Jesu (4,10f)
8.3.4 Positive Wirkung des Leidens zugunsten von Gemeinde und Gottes Herrlichkeit (4,12–15)
8.4 Zwischenfazit
§ 9 Einzelexegese von 2Kor 4,16–18
9.1 Kontext und Abgrenzung
9.2 Analyse des geschilderten Leidens
9.2.1 Betroffene
9.2.2 Betroffenheitsebene
9.2.3 Leidursachen
9.2.4 Leidverantwortliche
9.3 Leidbewältigungsstrategien für die Paulus-Gruppe
9.3.1 Leidbewältigung mit der Metapher vom ‚inneren‘ und ‚äußeren Menschen‘ (4,16)
9.3.2 Positive Wirkung des Leidens als Schaffen von Herrlichkeit (4,17f)
9.4 Zwischenfazit
§ 10 Einzelexegese von 2Kor 6,3–13 und 7,2–4
10.1 Kontext
10.1.1 Abgrenzung, Kontext und Gliederung der Perikope
10.1.2 Peristasenkatalog von 6,4b–10
10.2 Analyse des geschilderten Leidens
10.2.1 Betroffene
10.2.2 Betroffenheitsebene
10.2.3 Leidursachen
10.2.4 Leidverantwortliche
10.3 Leidbewältigungsstrategien für die Paulus-Gruppe
10.3.1 Positive Wirkung des Leidens zur Empfehlung als Diener Gottes (6,3.4a)
10.3.2 Gott gibt Standhaftigkeit und Charismen im Leiden (6,4b.6.7)
10.3.3 Gottesbewahrung als Leben im Sterben (6,9b)
10.3.4 Positive Wirkung des Leidens als Zeichen besonderen Gottesbezugs (6,9c)
10.3.5 Freude im Leiden (6,10a)
10.3.5.1 Traditionsgeschichtliche Überlegungen zur ‚Freude im Leid‘
10.3.5.2 Gottesbewahrung im Leiden anhand der ‚Freude in Trauer‘
10.3.6 Positive Wirkung des Leidens für andere (6,10b)
10.3.7 Paulus-Gruppe und Gemeinde: Mitsterben und Mitleben (7,3)
10.3.7.1 Bedeutung des Mitsterbens und Mitlebens
10.3.7.2 Die leidbewältigende Wirkung der Rede vom Mitsterben und Mitleben
10.3.8 Gottesbewahrung im Leiden anhand der ‚Freude in Bedrängnis‘ (7,4)
10.4 Zwischenfazit
§ 11 Einzelexegese von 2Kor 7,5–16
11.1 Kontext und Abgrenzung
11.2 Analyse des geschilderten Leidens
11.2.1 Betroffene
11.2.2 Betroffenheitsebene
11.2.3 Leidursachen
11.2.4 Leidverantwortliche
11.3 Strategien zur Bewältigung von Leiderfahrungen
11.3.1 Paulus-Gruppe: Beendung von Leiden durch Gottes Trost(7,5–7.13)
11.3.2 Gemeinde: Leiden hat positive Wirkung der μετάνοια (7,8–13a)
11.4 Zwischenfazit
§ 12 Einzelexegese von 2Kor 8,1–15
12.1 Kontext
12.1.1 Abgrenzung und Gliederung
12.1.2 Christusgeschehen im Kontext von Kollekte und Leidbewältigung
12.2 Analyse des geschilderten Leidens
12.2.1 Betroffene
12.2.2 Betroffenheitsebene
12.2.3 Leidursachen
12.2.4 Leidverantwortliche
12.3 Strategien zum Umgang mit Leiderfahrungen von Gemeinden
12.3.1 Strategie zur Leidbewältigung: Positive Wirkung des Leidens als Bewährung (8,1f)
12.3.2 Strategie zur Leidvermeidung: Spende in verkraftbarer Höhe (8,13)
12.4 Zwischenfazit
Teil III Exegetischer Ausblick auf 2Kor 10–13
§ 13 Leidbewältigung in 2Kor 10–13
13.1 Situation und Thema
13.2 Ἀσθένεια κτλ. als Leitbegriff für Leidensschilderungen
13.3 Ausgewählte Textpassagen zum Leiden
13.3.1 Leiden und seine Bewältigung im Kontext von 11,23b–33
13.3.1.1 Analyse des geschilderten Leidens
13.3.1.2 Strategien zur Leidbewältigung: Positive Wirkung des Leidens
13.3.2 Leiden und seine Bewältigung im Kontext von 2Kor 12,1–10
13.3.2.1 Analyse des geschilderten Leidens
13.3.2.2 Strategien zur Leidbewältigung
13.3.3 2Kor 13,1–10
13.3.3.1 Begründung der Leidens-Parallele zum Christusgeschehen (13,3f)
13.3.3.2 Reflexion der positiven Wirkung des Christusgeschehens (13,3f.9)
13.4 Zwischenfazit
Teil IV Zusammenfassende Auswertung und Ertrag
§ 14 Auswertung der angewandten Methodik
14.1 Phänomenbezogenes Verständnis des Leidens
14.2 Bedeutung von θλῖψις und ἀσθένεια κτλ. für die Leidinterpretation
§ 15 Auswertung der exegetischen Ergebnisse
15.1 Thematisiertes Leiden
15.1.1 Betroffene
15.1.2 Betroffenheitsebene
15.1.3 Leidursachen
15.1.4 Leidverantwortliche
15.1.5 Fazit
15.2 Strategien zur Bewältigung von Leiderfahrungen
15.2.1 Parallelisierung zu Leiden und Auferweckung Christi
15.2.2 Positive Wirkung des Leidens
15.2.3 In Gott begründete Standhaftigkeit und Bewahrung im Leiden
15.2.4 Beendung des Leidens durch Gottes Trost
15.2.5 Fazit
15.3 Frage nach einem zugrundeliegenden Leidbewältigungsmodell
15.3.1 Zwei Gruppen von Strategien zur Leidbewältigung
15.3.1.1 Verbindung von Parallelisierung zum Christusgeschehen und der positiven Wirkung des Leidens
15.3.1.2 Gotteswirkung im Leiden
15.3.2 Grundgedanke der paulinischen Leidbewältigung: Gott im Leiden
15.4 Zusammenhang von Leidbewältigungsstrategie und konkretem Leid
15.4.1 Berücksichtigung der Betroffenen bei den angewendeten Strategien
15.4.2 Fazit
15.5 Stellenwert des apostolischen Leidens
§ 16 Ertrag: Paulus und das Leiden
Literatur- und Quellenverzeichnis
Quellenausgaben und Übersetzungen
Hilfsmittel
Sekundärliteratur
Abkürzungen
Register
Biblische Texte
Jüdische Texte
Nichtjüdische/nichtchristliche Quellen
Patristische Quellen
Griechische Begriffe
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Strategien zur Leidbewältigung im 2. Korintherbrief: Herausgegeben:Bendemann, Reinhard von; Scoralick, Ruth; Gielen, Marlis; Dietrich, Walter
 9783170321984, 9783170321991, 3170321986

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032198-4_Weidner.indd 1

19.06.2017 10:59:53

Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament Band 212

Herausgegeben von Walter Dietrich Ruth Scoralick Reinhard von Bendemann Marlis Gielen Heft 12 der elften Folge

032198-4_Weidner.indd 2

19.06.2017 10:59:53

Eric Weidner

Strategien zur Leidbewältigung im 2. Korintherbrief

Verlag W. Kohlhammer

032198-4_Weidner.indd 3

19.06.2017 10:59:53

1. Auflage 2017 Alle Rechte vorbehalten © W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Reproduktionsvorlage: Andrea Töcker, Neuendettelsau Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Print: ISBN 978-3-17-032198-4 E-Book-Format: pdf: ISBN 978-3-17-032199-1 Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

032198-4_Weidner.indd 4

19.06.2017 10:59:53

Für meine Familie

Inhalt Vorwort .................................................................................................... Einführung ...............................................................................................

17 19

Teil I Voraussetzungen der Arbeit ..............................................................

21

§ 1 Forschungsüberblick zur Leidensdeutung bei Paulus ...................

21

1.1 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4

Leiden als mystische Teilhabe an Christus ................................. Johannes Schneider (1929) ............................................................ Albert Schweitzer (1930) ............................................................... Hans Windisch (1934) ................................................................... Kritische Würdigung .....................................................................

22 22 23 24 25

1.2

Apostolisches Leiden als christologische Epiphanie .................

26

1.3 1.3.1 1.3.2 1.3.3

Leiden bei Paulus als ‚Leiden des Gerechten‘ ............................. Karl Th. Kleinknecht (1984) ......................................................... Barry D. Smith (2002) .................................................................... Kritische Würdigung .....................................................................

28 29 30 31

1.4 1.4.1 1.4.2 1.4.3

Leiden bei Paulus als Parallele zu Christus ................................. Michael Wolter (1990) ................................................................... Kar Y. Lim (2009) ........................................................................... Kritische Würdigung .....................................................................

32 33 34 35

1.5

Leidensdeutung bei Paulus anhand des Begriffs ἀσθένεια κτλ.

36

1.6

Zusammenfassung und Folgerungen für das weitere Vorgehen ..................................................................... Desiderata bisheriger Forschung .................................................. Fragestellung der Untersuchung .................................................. Vorgehensweise ..............................................................................

38 38 40 40

§ 2 Vorbemerkungen zum Verständnis des Leidensbegriffs ..............

43

2.1 2.1.1 2.1.2

43 43 45

1.6.1 1.6.2 1.6.3

Grundlegendes Verständnis von Leiden ..................................... Leiden in der Dogmatik: Das Theodizeeproblem ...................... Phänomenbezogene Betrachtung des Leidens ...........................

8

Inhalt

2.1.3

‚Leiden‘ im Verhältnis zum ‚Schmerz‘ .........................................

47

2.2 2.2.1 2.2.2

48 49 50

2.2.3

Differenzierungen der Leidbetrachtung ...................................... Anthropologische Verortung der Leiderfahrungen .................. Ursache der Leiderfahrung ........................................................... 2.2.2.1 Problematisierung von malum morale, malum physicum und malum metaphysicum .......... 2.2.2.2 Handlungen und Ereignisse ........................................ Schritte der Leidanalyse .................................................................

50 51 51

2.3 2.3.1 2.3.2

Möglichkeiten zum Umgang mit Leiden .................................... Leidbewältigung ............................................................................. Weitere Umgangsweisen mit Leiden ...........................................

52 52 54

§ 3 Hermeneutische Vorbemerkungen ...................................................

56

3.1 3.2

Antworten auf eine Frage, die ein Text nicht explizit stellt ...... Leiderfahrungen bei Paulus und in der Antike ..........................

56 58

§ 4 Begriffsgeschichtliche Betrachtung von θλῖψις κτλ. ......................

60

4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3

Der Begriff außerhalb der jüdisch-christlichen Literatur ......... Grundbedeutung ............................................................................ Übertragene Bedeutung ................................................................. Bedeutung in der stoischen Philosophie Epiktets ......................

60 60 62 63

4.2 4.2.1 4.2.2

4.2.3

Der Begriff in der Septuaginta ...................................................... Θλῖψις κτλ. als Übersetzung der Wurzeln ‫ צר‬und ‫ לחץ‬.............. Leiden und der Umgang damit im Umfeld des Begriffs ........... 4.2.2.1 Erzählende Texte Gen–2Kön und 1–4Makk ............ 4.2.2.2 Prophetische Texte ....................................................... 4.2.2.3 Weisheitliche Texte und Spätschriften ...................... 4.2.2.4 Psalmen .......................................................................... Zwischenfazit ..................................................................................

65 65 67 67 68 70 71 72

4.3

Der Begriff bei Philo von Alexandrien ........................................

74

4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.4.4 4.4.5

Der Begriff in neutestamentlicher Zeit ........................................ Matthäus- und Markus-Evangelium ........................................... Johannes-Evangelium .................................................................... Lukanisches Doppelwerk .............................................................. Außerpaulinische Brieftradition .................................................. Johannes-Offenbarung ..................................................................

74 75 76 76 77 77

Inhalt

9

4.4.6

Zwischenfazit ..................................................................................

78

4.5 4.5.1 4.5.2 4.5.3 4.5.4 4.5.5

Der Begriff im Verhältnis zu semantisch ähnlichen Begriffen πάθημα κτλ. ..................................................................................... λύπη κτλ. .......................................................................................... ἀνάγκη κτλ. ..................................................................................... στενοχωρία κτλ. .............................................................................. διωγμός κτλ. ....................................................................................

79 79 81 84 84 86

4.6

Fazit für die Untersuchung von Leiderfahrungen bei Paulus

86

§ 5 Exegetische Vorbemerkungen zum 2. Korintherbrief ..................

89

5.1 5.1.1 5.1.2

Die paulinische Gemeinde im Korinth des ersten Jahrhunderts Wirtschaftliche, kulturelle und religiöse Situation in Korinth Die korinthische Gemeinde in ihrem Kontext ...........................

89 89 92

5.2 5.2.1

Entstehung des 2. Korintherbriefs ............................................... Literarische Integrität .................................................................... 5.2.1.1 Zweifel an der literarischen Integrität ........................ 5.2.1.2 Hypothesen zu Teilung und Einheitlichkeit ............. 5.2.1.3 Zwischenfazit ................................................................ Verortung des 2. Korintherbriefs in der korinthischen Korrespondenz ...............................................................................

93 94 94 96 98

Bedeutung der ersten Person Plural bei Paulus .........................

101

Teil II Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs in 2Kor 1–8 ................................................................

105

§ 6 Einzelexegese von 2Kor 1,3–11 ..........................................................

105

6.1

Kontext und Abgrenzung ..............................................................

105

6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.2.4

Analyse des geschilderten Leidens ............................................... Betroffene ........................................................................................ Betroffenheitsebene ........................................................................ Leidursachen ................................................................................... Exkurs: Die Bedrängnis in Asien (1,9) ........................................ Leidverantwortliche .......................................................................

107 107 108 109 109 111

6.3 6.3.1

Strategien zur Bewältigung von Leiderfahrungen ..................... Trost Gottes (1,4–7) .......................................................................

112 112

5.2.2 5.3

99

10

Inhalt 6.3.1.1 6.3.1.2

112

6.3.4

Bedeutungsskizze zu παράκλησις/παρακαλέω ......... Gemeinde: Gottestrost als Standhaftigkeit im Leiden (1,6f) ............................................................. 6.3.1.3 Paulus-Gruppe: Positive Wirkung des Leidens als Befähigung zur Trostweitergabe (1,4–6) ................... Parallele zum Leiden Christi (1,5f) .............................................. 6.3.2.1 Deutungen von παθήματα τοῦ Χριστοῦ (1,5) ........... 6.3.2.2 Gemeinde und Paulus-Gruppe: Leiden als Parallele zu Christus (1,5) ............................................................ Paulus-Gruppe: Positive Wirkung von Leiden als Grund von Gottvertrauen (1,9) ........................................................................ Paulus-Gruppe: Beendung von Leiden durch Gott (1,10) ........

6.4

Zwischenfazit ..................................................................................

127

§ 7 Einzelexegese von 2Kor 1,23–2,11 .....................................................

129

7.1 7.1.1 7.1.2

129 129

6.3.2

6.3.3

114 116 119 119 122 124 124

Kontext ............................................................................................ Abgrenzung und Gliederung des Abschnitts ............................. Der Konflikt zwischen Paulus, Gemeinde und Einzelperson (2Kor 2,1–11; 7,5–16) ....................................................................

130

7.2 7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.2.4

Analyse des geschilderten Leidens ............................................... Betroffene ........................................................................................ Betroffenheitsebene ........................................................................ Leidursachen ................................................................................... Leidverantwortliche .......................................................................

133 133 134 134 135

7.3 7.3.1

Strategien zum Umgang mit Leiderfahrungen ........................... Strategien zur Bewältigung von Leiderfahrungen ..................... 7.3.1.1 Paulus: Positive Wirkung von Leiden als Erweis der Gemeinschaft von Apostel und Gemeinde (2,1–5) ............................................................................ 7.3.1.2 Gemeinde: Positive Wirkung von Leiden als Bewährung des Gehorsams (2,9) ................................ Strategien zur Beendung und Vermeidung von Leiderfahrungen ............................................................................. 7.3.2.1 Paulus: Ausweichen vor dem Leiden (2,1–4) ............ 7.3.2.2 Paulus und Gemeinde: Wohlwollen, Vergebung und Trost motiviert durch Liebe (2,6–8) ........................... 7.3.2.3 Paulus und Gemeinde: Wohlwollen, Vergebung und Trost motiviert durch Satansabwehr (2,10f) .............

135 136

7.3.2

136 138 140 140 141 143

Inhalt 7.4

11 Zwischenfazit ..................................................................................

145

§ 8 Einzelexegese von 2Kor 4,7–15 ..........................................................

147

8.1

Kontext und Abgrenzung ..............................................................

147

8.2

Analyse des geschilderten Leidens ................................................. Exkurs: Peristasenkataloge ............................................................ Betroffene ........................................................................................ Betroffenheitsebene ........................................................................ Leidursachen ................................................................................... Leidverantwortliche .......................................................................

149 149 151 151 152 153

Leidbewältigungsstrategien für die Paulus-Gruppe .................. Positive Wirkung des Leidens als Hinweis auf die Kraft Gottes (4,7) ............................................................................ Peristasenkatalog (4,8f) .................................................................. 8.3.2.1 Die Glieder der Antithesen .......................................... 8.3.2.2 Bewahrung in Peristasen ............................................. Parallelisierung zu Sterben und Leben Jesu (4,10f) ................... Positive Wirkung des Leidens zugunsten von Gemeinde und Gottes Herrlichkeit (4,12–15) ............................

153 153 157 158 160 161

Zwischenfazit ..................................................................................

166

§ 9 Einzelexegese von 2Kor 4,16–18 ........................................................

168

9.1

Kontext und Abgrenzung ..............................................................

168

9.2 9.2.1 9.2.2 9.2.3 9.2.4

Analyse des geschilderten Leidens ............................................... Betroffene ........................................................................................ Betroffenheitsebene ........................................................................ Leidursachen ................................................................................... Leidverantwortliche .......................................................................

169 170 170 170 172

9.3 9.3.1

Leidbewältigungsstrategien für die Paulus-Gruppe .................. Leidbewältigung mit der Metapher vom ‚inneren‘ und ‚äußeren Menschen‘ (4,16) .................................................... 9.3.1.1 Das ‚Woher‘ der Metapher .......................................... 9.3.1.2 Erneuerung des inneren Menschen im Leiden ......... Positive Wirkung des Leidens als Schaffen von Herrlichkeit (4,17f) ........................................................................

172 172 173 175

Zwischenfazit ..................................................................................

182

8.2.1 8.2.2 8.2.3 8.2.4 8.3 8.3.1 8.3.2

8.3.3 8.3.4 8.4

9.3.2 9.4

164

178

12

Inhalt

§ 10 Einzelexegese von 2Kor 6,3–13 und 7,2–4 ....................................

184

10.1 Kontext ............................................................................................ 10.1.1 Abgrenzung, Kontext und Gliederung der Perikope ................ 10.1.2 Peristasenkatalog von 6,4b–10 .....................................................

184 184 186

10.2 Analyse des geschilderten Leidens ............................................... 10.2.1 Betroffene ........................................................................................ 10.2.2 Betroffenheitsebene ........................................................................ 10.2.3 Leidursachen ................................................................................... 10.2.4 Leidverantwortliche .......................................................................

187 188 188 189 192

10.3 Leidbewältigungsstrategien für die Paulus-Gruppe .................. 10.3.1 Positive Wirkung des Leidens zur Empfehlung als Diener Gottes (6,3.4a) .................................................................... 10.3.2 Gott gibt Standhaftigkeit und Charismen im Leiden (6,4b.6.7) 10.3.3 Gottesbewahrung als Leben im Sterben (6,9b) .......................... 10.3.4 Positive Wirkung des Leidens als Zeichen besonderen Gottesbezugs (6,9c) ........................................................................ 10.3.5 Freude im Leiden (6,10a) .............................................................. 10.3.5.1 Traditionsgeschichtliche Überlegungen zur ‚Freude im Leid‘ ............................................................ 10.3.5.2 Gottesbewahrung im Leiden anhand der ‚Freude in Trauer‘ ......................................................... 10.3.6 Positive Wirkung des Leidens für andere (6,10b) ...................... 10.3.7 Paulus-Gruppe und Gemeinde: Mitsterben und Mitleben (7,3) 10.3.7.1 Bedeutung des Mitsterbens und Mitlebens ............... 10.3.7.2 Die leidbewältigende Wirkung der Rede vom Mitsterben und Mitleben ............................................. 10.3.8 Gottesbewahrung im Leiden anhand der ‚Freude in Bedrängnis‘ (7,4) ..........................................................

193

10.4

193 195 197 199 200 201 203 204 206 206 209 209

Zwischenfazit ..................................................................................

211

§ 11 Einzelexegese von 2Kor 7,5–16 ........................................................

213

11.1

Kontext und Abgrenzung ..............................................................

213

11.2 Analyse des geschilderten Leidens ............................................... 11.2.1 Betroffene ........................................................................................ 11.2.2 Betroffenheitsebene ........................................................................ 11.2.3 Leidursachen ................................................................................... 11.2.4 Leidverantwortliche .......................................................................

214 214 214 215 216

Inhalt

13

11.3 Strategien zur Bewältigung von Leiderfahrungen ..................... 11.3.1 Paulus-Gruppe: Beendung von Leiden durch Gottes Trost (7,5–7.13) .................................................................. 11.3.2 Gemeinde: Leiden hat positive Wirkung der μετάνοια (7,8–13a) .........................................................................

216 216

11.4

Zwischenfazit ..................................................................................

221

§ 12 Einzelexegese von 2Kor 8,1–15 ........................................................

223

12.1 Kontext ............................................................................................ 12.1.1 Abgrenzung und Gliederung ........................................................ 12.1.2 Christusgeschehen im Kontext von Kollekte und Leidbewältigung .............................................................................

223 223

12.2 Analyse des geschilderten Leidens ............................................... 12.2.1 Betroffene ........................................................................................ 12.2.2 Betroffenheitsebene ........................................................................ 12.2.3 Leidursachen ................................................................................... 12.2.4 Leidverantwortliche .......................................................................

226 226 227 229 229

12.3 Strategien zum Umgang mit Leiderfahrungen von Gemeinden 12.3.1 Strategie zur Leidbewältigung: Positive Wirkung des Leidens als Bewährung (8,1f) ................................................. 12.3.2 Strategie zur Leidvermeidung: Spende in verkraftbarer Höhe (8,13) .............................................................

229 229

12.4

Zwischenfazit ..................................................................................

233

Teil III Exegetischer Ausblick auf 2Kor 10–13 ..........................................

235

§ 13 Leidbewältigung in 2Kor 10–13 .......................................................

235

13.1 13.2

Situation und Thema ..................................................................... Ἀσθένεια κτλ. als Leitbegriff für Leidensschilderungen ...........

235 236

13.3 Ausgewählte Textpassagen zum Leiden ...................................... 13.3.1 Leiden und seine Bewältigung im Kontext von 11,23b–33 ...... 13.3.1.1 Analyse des geschilderten Leidens ............................. 13.3.1.2 Strategien zur Leidbewältigung: Positive Wirkung des Leidens .....................................................................

239 239 240

219

225

232

242

14

Inhalt

13.3.2 Leiden und seine Bewältigung im Kontext von 2Kor 12,1–10 13.3.2.1 Analyse des geschilderten Leidens ............................. 13.3.2.2 Strategien zur Leidbewältigung .................................. 13.3.3 2Kor 13,1–10 ................................................................................... 13.3.3.1 Begründung der Leidens-Parallele zum Christusgeschehen (13,3f) ........................................... 13.3.3.2 Reflexion der positiven Wirkung des Christusgeschehens (13,3f.9) .......................................

244 245 247 250

13.4

Zwischenfazit ..................................................................................

254

Teil IV Zusammenfassende Auswertung und Ertrag .............................

257

§ 14 Auswertung der angewandten Methodik ....................................

259

14.1 14.2

Phänomenbezogenes Verständnis des Leidens .......................... Bedeutung von θλῖψις und ἀσθένεια κτλ. für die Leidinterpretation ..........................................................................

259

§ 15 Auswertung der exegetischen Ergebnisse ......................................

264

15.1 Thematisiertes Leiden .................................................................... 15.1.1 Betroffene ........................................................................................ 15.1.2 Betroffenheitsebene ........................................................................ 15.1.3 Leidursachen ................................................................................... 15.1.4 Leidverantwortliche ....................................................................... 15.1.5 Fazit ..................................................................................................

264 264 265 266 266 267

15.2 15.2.1 15.2.2 15.2.3 15.2.4 15.2.5

Strategien zur Bewältigung von Leiderfahrungen ..................... Parallelisierung zu Leiden und Auferweckung Christi ............. Positive Wirkung des Leidens ...................................................... In Gott begründete Standhaftigkeit und Bewahrung im Leiden Beendung des Leidens durch Gottes Trost ................................. Fazit ..................................................................................................

268 268 270 273 274 276

15.3 Frage nach einem zugrundeliegenden Leidbewältigungsmodell 15.3.1 Zwei Gruppen von Strategien zur Leidbewältigung .................. 15.3.1.1 Verbindung von Parallelisierung zum Christusgeschehen und der positiven Wirkung des Leidens ..................................................................... 15.3.1.2 Gotteswirkung im Leiden ............................................

276 276

250 252

261

276 279

Inhalt 15.3.2

15 Grundgedanke der paulinischen Leidbewältigung: Gott im Leiden ................................................................................

280

15.4

Zusammenhang von Leidbewältigungsstrategie und konkretem Leid ............................................................................... 15.4.1 Berücksichtigung der Betroffenen bei den angewendeten Strategien ............................................................... 15.4.2 Fazit ..................................................................................................

282 285

15.5

Stellenwert des apostolischen Leidens .........................................

286

§ 16 Ertrag: Paulus und das Leiden ..........................................................

289

Literatur- und Quellenverzeichnis ........................................................... Quellenausgaben und Übersetzungen ......................................... Hilfsmittel ........................................................................................ Sekundärliteratur ............................................................................ Abkürzungen ..................................................................................

291 291 297 298 314

Register .......................................................................................................... Biblische Texte ................................................................................ Jüdische Texte ................................................................................. Nichtjüdische/nichtchristliche Quellen ...................................... Patristische Quellen ....................................................................... Griechische Begriffe .......................................................................

315 315 317 318 319 319

281

Vorwort

Dieses Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Sommersemester 2016 vom Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg angenommen wurde. Das Interesse am Themenkomplex von Theodizeeproblem, Prädestinationslehre, Leiden und damit verbundenen Anfragen an den Gottesglauben hat mich schon während meines Studiums beschäftigt. Deswegen bin ich der Evangelischen Kirche Kurhessen-Waldeck dankbar, dass ich durch die Arbeit am Hans-von-SodenInstitut aus meinem Interesse ein Dissertationsprojekt machen konnte. Es gibt eine Reihe von Personen, denen ich an dieser Stelle danken möchte. Da ist zuerst mein verstorbener Doktorvater Prof. Dr. Friedrich Avemarie (1960–2012), ohne dessen Ermutigung und Motivation ich die Arbeit nicht begonnen hätte. Nach seinem plötzlichen Tod hat Prof. Dr. Angela Standhartinger die Betreuung übernommen. Ich danke ihr für die kritische und zielgerichtete Begleitung der Arbeit, für das Korrekturlesen ungezählter Seiten von Entwürfen, Vorformulierungen und vermeintlichen Endversionen. Ohne sie hätte ich die Arbeit nicht beendet. Ich danke auch Prof. Dr. Lukas Bormann, der das Zweitgutachten übernommen hat. Als Direktor des Hans-von-Soden-Instituts hatte Prof. Dr. Dietrich Korsch immer ein offenes Ohr für meine Anliegen und den Blick für die systematischen, übergreifenden Zusammenhänge. Dafür danke ich ihm. Ein weiterer Dank richtet sich an meine ‚Doktorgeschwister‘ Mareike Schmied, Dr. Aliyah El-Mansy und Dr. Sebastian Weigert, die in der Promotionszeit ein wichtiger Rückhalt für mich waren. In zahlreichen Gesprächen über ihre und meine Themen, bei gemeinsamen Mahlzeiten, Kaffeepausen und den unterschiedlichsten Anlässen habe ich viel von Ihnen gelernt. Schon während des Studiums, aber gerade auch in der Endphase des Schreibens habe ich fruchtbare Diskussionen mit Dr. Raphaela Meyer zu Hörste-Bührer geführt. Sie hat es verstanden, sich in meine Themen hineinzudenken und mir in einigen Sackgassen durch ihren systematischen Blick neue Denkrichtungen aufzuzeigen. Ihr und ihrem Mann Jun.-Prof. Dr. Walter Bührer gilt deswegen mein Dank. Schließlich möchte ich noch den Teilnehmenden des Marburger Exegetischen Arbeitskreises für das Lesen meiner Entwürfe und für die weiterführenden Hinweise danken. Eine wertvolle Arbeit hat Megan Arndt geleistet, die vor der Abgabe die ganze Arbeit Korrektur gelesen hat. Verschiedene weitere Personen haben jeweils Teile gelesen oder mich auf Fehler hingewiesen. Danke!

18

Vorwort

An der Veröffentlichung haben weitere Personen Anteil. Ich möchte den Herausgebenden der „Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament“ danken, dass sie meine Dissertation in die Reihe aufgenommen haben. Prof. Dr. Reinhard von Bendemann hat mich dazu mit hilfreichen Hinweisen beraten. Im Kohlhammer-Verlag danke ich besonders Dr. Sebastian Weigert für die Begleitung der Veröffentlichung. Danke auch an Frau Andrea Töcker für die Überarbeitung des Manuskripts. Schließlich wäre diese ganze Arbeit kaum möglich gewesen ohne meine Familie, die mich während der gesamten Zeit begleitet, unterstützt und wenn nötig geerdet hat. Ihr ist deshalb auch dieses Buch gewidmet. Ebsdorf an Ostern 2017

Einführung „Merke dir es, Anaxagoras: warum leide ich? Das ist der Fels des Atheismus. Das leiseste Zucken des Schmerzes, und rege es sich nur in einem Atom, macht einen Riß in der Schöpfung von oben bis unten.“ G. Büchner, Dantons Tod, Akt 3, Szene 1

Die Erfahrung von Leiden wird häufig als Stein des Anstoßes erlebt und hat nicht selten zu Kritik am christlichen Glauben geführt. Mir selbst ist die Frage von Leiden und Gott während meines Vikariats in Marburg im Religionsunterricht begegnet, als unvermittelt ein Schüler der fünften Klasse sagte: „Wissen Sie, ich glaube nicht, dass es Gott gibt. Denn sonst würde der doch nicht zulassen, dass es auf der Welt so viel Leid gibt.“ Wie kann man auf diese Anfrage, die als spontanes Statement, in der Literatur, philosophisch-theologisch reflektierend oder in existentieller Verzweiflung begegnet, angemessene Antworten finden? Eine Antwort aus der Antike, wie sie dem Namensvorbild aus Büchners Stück zugeschrieben wird, scheint in der Gegenwart wenig hilfreich. Denn die Reaktion des Anaxagoras von Klezomenai (5. Jh. v. Chr.) auf die Nachricht vom Tod seines Sohnes spiegelt die sprichwörtlich gewordene stoische Ruhe wider. In der Überlieferung von Plutarch antwortet er: „Ich wusste, dass ich einen sterblichen Sohn gezeugt hatte.“1 Wie können dagegen Antworten aussehen, die nicht rein akademisch bleiben und somit nicht in der Gefahr stehen, an Leidenden vorbeizugehen? Diese Anfrage des eigenen oder fremden Leidens, das dem persönlichen Weltbild widerspricht und die Erwartungen an den eigenen Lebensverlauf sprengt, ist schon im Urchristentum und davor zu einem Problem geworden: Wenn der Glaube in Spannung zur Erfahrung gerät und an manchen Orten sogar der Grund für das Leiden unter sozialer Anfeindung oder staatlicher Verfolgung ist, dann ist eine Weise der Konfliktlösung die Abwendung von diesem Glauben.2 Daher muss auch der Apostel Paulus nach Möglichkeiten gesucht haben, dem Leiden auf theologischer Ebene so zu begegnen, dass er es in Einklang mit seiner Christuspredigt bringen konnte. Denn einerseits hat er selbst verschiedene Arten von Leiden erfahren. Andererseits ist er mit dem Leiden in den von ihm gegründeten Gemeinden konfrontiert worden, das er

1 2

Plutarch, Cons. App. 118d–e. Vgl. WOLTER, Apostel, 536.

20

Einführung

aus eigenem Erleben vor Ort und auch durch seine Briefkorrespondenzen kennt. Die vorliegende Untersuchung möchte einen Beitrag zur Frage leisten, wie Paulus mit dem Leiden umgeht, das ihm begegnet. Um dabei die dahinterstehenden konkreten Erfahrungen im Blick zu behalten, ist es zunächst wichtig zu analysieren, welche Gegebenheiten des Leidens Paulus überhaupt thematisiert und für wen er es jeweils deutet. Aus diesem Vorhaben ergibt sich bereits die Richtung des Vorgehens, das seinen Ausgangspunkt bei Einzeltexten nimmt, in denen Paulus das Leiden zum Thema macht. Die paulinische Leidinterpretation soll also in ihren jeweils spezifischen Bezügen analysiert werden. Eine ausführliche Exegese der Einzeltexte erfordert eine Konzentration auf eine Auswahl von paulinischen Texten. Deswegen wird der Schwerpunkt der Untersuchung auf dem 2. Korintherbrief liegen. Dieser ist bereits als der persönlichste Brief des Apostels bezeichnet worden, in dem Paulus auffallend häufig auf das Leiden zu sprechen komme.3 In welchen Zusammenhängen und aus welchen Gründen er das tut, wird die Untersuchung zeigen. Die Konzentration auf den 2. Korintherbrief hat den Vorteil, dass das Leiden hier ausreichend oft thematisiert wird, sodass ein Überblick über verschiedene paulinische Leidinterpretationen möglich ist. Bei der Untersuchung werden allerdings auch Aussagen zum Leiden in den anderen paulinischen Briefen in den Blick genommen, wo das angezeigt ist. Der Einstieg in die Untersuchung erfolgt anhand eines Überblicks über die bisherige relevante Forschung zum Thema.

3

Vgl. HAFEMANN, Corinthians, 15, der den 2. Korintherbrief als „most personal letter“ und „stained with Paul’s blood, sweat, and tears“ beschreibt. Für JÜLICHER, Einleitung, 87 und diesen aufnehmend für BULTMANN, Brief, 21 ist er „der persönlichste unter den erhaltenen Briefen des Paulus“.

Teil I Voraussetzungen der Arbeit Teil I: Voraussetzungen der Arbeit

§1 Forschungsüberblick zur Leidensdeutung bei Paulus § 1 Forschungsüberblick zur Leidensdeutung bei Paulus Der Umgang mit dem Leiden in paulinischen Texten ist bereits Gegenstand exegetischer Untersuchungen gewesen. Im Folgenden möchte ich zeigen, dass sich die Forschungsbeiträge verschiedenen Grundtypen zuordnen lassen. Diese unterscheiden sich im jeweils bei Paulus vermuteten zugrundeliegenden Modell, von dem aus sie jeweils die paulinischen Leidensaussagen verstehen möchten. Daher stelle ich die Forschungsmeinungen in erster Linie systematisch gruppiert und nicht chronologisch dar. Einem ersten Modell zufolge deutet Paulus das Leiden von Christusglaubenden als mystisch verstandene Analogie zu den Leiden Christi. Einem zweiten Modell zufolge sieht der Apostel in seinem eigenen Leiden eine Epiphanie des leidenden Christus. In einem dritten Modell interpretiert Paulus das Leiden vor dem traditionsgeschichtlichen Hintergrund des leidenden Gerechten. Ein viertes Modell greift wieder auf die Leidensdeutung anhand der Leiden Christi zurück, wobei hier eine andere als die mystische Begründung für die Parallele der Leidenden zu Christi Leiden gesucht wird. Ein fünftes Modell schließlich nähert sich dem Leidensverständnis aus religions- und traditionsgeschichtlicher Perspektive, erweitert also noch einmal den Blick von Modell 3. Nach diesem Überblick über den Stand der Forschung werde ich zusammenfassen, welche inhaltlichen und methodischen Fragen bisher offen geblieben sind. Daran schließen sich eine Präzisierung der Fragestellung sowie die Darstellung des weiteren Vorgehens meiner Untersuchung an.

22

Teil I: Voraussetzungen der Arbeit

1.1

Leiden als mystische Teilhabe an Christus

Im Rahmen der religionsgeschichtlichen Wende und der damit verbundenen (Wieder-)Entdeckung antiker Mysterienkulte sind auch die paulinischen Leidensaussagen vor diesem Hintergrund gelesen worden. Vermutet wurde eine paulinische Analogie zur mystischen Erfahrung der Verschmelzung oder Vergemeinschaftung mit der Kultgottheit. Die Voraussetzung für die hier darzustellenden Forschungsbeiträge bildet die Untersuchung A. DEISSMANNs aus dem Jahr 1911. Mit der Betonung von Frömmigkeit und Erleben des Paulus richtet er sich gegen eine aus seiner Sicht zu rationale „doktrinäre Paulusforschung“1 im 19. Jahrhundert. Nach seiner Interpretation ist für Paulus durch den Glauben eine mystische Gemeinschaft mit Christus begründet, die sich als reale Teilhabe am Erleben Jesu Christi auswirkt: Christus sei für Paulus „eine Realität und Macht der Gegenwart“.2 Die Bedeutung dieser mystischen Paulus-Interpretation für die Leidensdeutung ist Thema der folgenden Arbeiten.3

1.1.1

Johannes Schneider (1929)

J. SCHNEIDER deutet die Mystik des Paulus vor dem Hintergrund der von ihm untersuchten Mysterienkulte, u. a. des Osiris-, Adonis-, Attis- und Dionysuskults. Für ihn ist jedoch die Mystik des Apostels trotz aller Analogien „genuin paulinische Schöpfung“4 und als Passionsmystik theologisch in der Leidensgeschichte Christi sowie biographisch in den Leiderfahrungen des Paulus begründet. Bei ihm kommen daher die Rolle des Leidens und der Gemeindebezug näher in den Blick: „In der Gemeinschaft mit Christus tritt Paulus und mit ihm jeder, der in Christus ist, nicht nur in Beziehung zu dem πνεῦμα Christi, sondern auch zu seinem σῶμα, das heißt nun aber nicht nur zu seinem himmlischen Leib, sondern durch diesen auch zu seinem irdischen, an dessen Erlebnissen er Anteil gewinnt“ (vgl. 1Kor 10,16).5

1 2

3 4 5

DEISSMANN, Paulus, 3. DEISSMANN, Paulus, 107f. Er verweist dafür z. B. auf 1Kor 1,24; 5,4; 2Kor 12,9; Phil 3,10.21; Kol 1,29; Eph 1,19. Textlich macht er dies einerseits an seiner Interpretation der ‚in-Christus‘ Aussagen, andererseits an dem „Genetivus [sic] mysticus“ (126) fest: „‚Jesu Christi‘ ist hier in der Hauptsache identisch mit ‚in Christus‘“. Nur knappe Aussagen zum Leiden des Apostels finden sich a. a. O., 114f u. 142f. SCHNEIDER, Passionsmystik, 114, vgl. a. a. O., 12 u. 113. A. a. O., 22, Hervorhebung von EW.

§ 1 Forschungsüberblick zur Leidensdeutung bei Paulus

23

Aus dem paulinischen Bild vom Leib Christi (besonders 1Kor 12,26) schließt J. SCHNEIDER, dass auch die Leiden der Gemeinde reale und gegenwärtige Leiden Christi seien.6 Deren Erfahrbarkeit in der Gegenwart zeigt J. SCHNEIDER anhand des paulinischen Sprachgebrauchs: Unter anderem verweist er auf den von A. DEISSMANN sog. mystischen Genitiv („gen. mysticus“),7 der die innige Beziehung der Glaubenden zu Jesus Christus in Wendungen wie ‚Leiden Christi‘ (2Kor 1,5), ‚Sterben Jesu‘ (2Kor 4,10f), ‚Malzeichen Jesu‘ (Gal 6,17) und ‚Bedrängnisse Christi‘ (Kol 1,24) betone.8 Die mystische Gemeinschaft (nicht: Verschmelzung!) mit Christus im Leiden ist für J. SCHNEIDER allerdings nur die im Heilsplan Gottes notwendige Durchgangsstufe im Leben des Paulus und aller Christusglaubenden, die zukünftig eschatologisch in der Totenauferweckung vollendet werde.9 Obwohl sich Paulus demnach wie die anderen Glaubenden als Glied des mystischen Leibes Christi verstehe, hat sein Leiden bei J. SCHNEIDER dennoch eine Sonderstellung: Wie Christus für die Menschen gelitten habe, so leide auch Paulus stellvertretend für sie, sodass sein Leiden auf mystische Weise den Gliedern des Leibes Christi zugutekomme.10 Diese Schlussfolgerung geht allerdings hauptsächlich auf den heute allgemein als deuteropaulinisch anerkannten Kolosser-Brief zurück, besonders auf die einzigartige Aussage Kol 1,24:11 „Nun freue ich mich in den Leiden für euch und fülle auf (ἀνταναπληρόω) den Mangel der Bedrängnisse Christi an meinem Fleisch für seinen Leib, das ist die Gemeinde.“ Vergleichbares findet sich in den genuin paulinischen Briefen nicht.

1.1.2

Albert Schweitzer (1930)

Während A. DEISSMANN sich mit dem Modell der Mystik gegen den Gedanken eines paulinischen ‚theologischen Systems‘ wehrt, stellt A. SCHWEITZER die Mystik als genau ein solches System bei Paulus dar.12 Für ihn ist die Mystik untrennbar mit der paulinischen Eschatologie verbunden und „nur ein anderer Ausdruck der eschatologischen Vorstellung von der Erlösung“.13 Mit 6

7 8 9 10

11

12

13

Vgl. a. a. O., 64: „Was sich an Christus vollzog, vollzieht sich jetzt in Christus an den Gläubigen in der κοινωνία τοῦ Χριστοῦ.“ A. a. O., 47. Vgl. a. a. O., 49–59. Vgl. a. a. O., 68. Vgl. SCHNEIDER, Passionsmystik, 56 mit Verweis auf Röm 15,16; 2Kor 12,15; Eph 3,1; Phil 2,17 und 2Tim 4,6. Der Kolosser-Brief ist spätestens seit dem Forschungsbeitrag von BUJARD, Untersuchungen als deuteropaulinisch anerkannt. Für SCHWEITZER, Mystik, 140 bildet die paulinische Mystik ein System und ist rational durchdringbar, vgl. a. a. O., 2. A. a. O., 114.

24

Teil I: Voraussetzungen der Arbeit

Tod und Auferweckung Christi habe die Verwandlung der Welt bereits begonnen und die Glaubenden könnten durch mystische Verbindung in realer Weise „bereits vor der allgemeinen Totenauferstehung die Seinsweise der Auferstehung annehmen“.14 Denn bis zum Beginn des messianischen Reichs sei nur eine Christus- und keine Gottesmystik möglich, da die „Engelgewalten“,15 z. B. Röm 8,35ff und Gal 4,9 zufolge, noch bis zu ihrer Überwindung den direkten Weg zu Gott verstellten. Das Leiden versteht A. SCHWEITZER christologisch: Durch die in der Taufe konstituierte Gemeinschaft des Leibes Christi erlebe der Glaubende den Tod Christi selbst real als Leiden. Die Malzeichen Jesu (Gal 6,17) interpretiert er als Leiden, das zum Zeichen der Christus-Zugehörigkeit wird.16 Die Auferweckung Christi wirke sich als Ende des Leidens erst bei der endgültigen Totenauferweckung aus. Bis dahin zeige sie sich in einzelnen Geistwirkungen, wie z. B. der Zungenrede und der prophetischen Rede (vgl. 1Kor 14).17 Eine explizite Sonderstellung des Paulus wie J. SCHNEIDER beschreibt er in seiner ausführlichen Auflistung der konkreten paulinischen Leiden nicht.18 Das Markante an A. SCHWEITZERs Ansatz sind besonders seine Verbindung der Mystik mit der Eschatologie und seine Betonung apokalyptischer Elemente (z. B. Engelwesen, Darstellung von Christi Tod und Auferweckung als Beginn des neuen Äons).

1.1.3

Hans Windisch (1934)

H. WINDISCH rekurriert für sein Paulusbild auf die biblische und gemeinantike Vorstellung der „θεῖοι ἄνδρες“.19 Diese seien „vom Gotte Besessene und Inspirierte, der homo numinosus [sic], in den eine übernatürliche, göttliche Kraft hineingefahren“20 sei. Diesen griechischen ‚gotthaften Männern‘ stellt H. WINDISCH eine Auswahl an Propheten, Königen und Priestern aus der Geschichte Israels zur Seite. Damit möchte er einerseits diese Vorstellung

14 15 16

17 18

19 20

A. a. O., 114. A. a. O., 10. A. a. O., 142. Er verweist dafür auch auf 1Kor 15,31; Röm 6,4.8.11.2; 7,4; 8,10; 2Kor 4,10.11 und Gal 2,20. A. a. O., 167–170. Vgl. SCHWEITZER, Mystik, 147–158. Eine besondere Gewichtung der von ihm aufgezählten Leiden des Paulus oder einen Bezug zu verschiedenen paulinischen Leidensdeutungen an den genannten Stellen nimmt er nicht vor. Seine mystische Paulusdeutung gewinnt er nicht aus den Belegstellen zum Leiden. WINDISCH, Christus, 26. A. a. O., 27. Er findet die Vorstellung schon früh in der antiken Literatur, konzentriert sich aber auf Kyniker und vorwiegend auf Platon, bei dem verschiedene Dichter, Künstler, v. a. aber Philosophen wie Pythagoras, Sokrates usw. als θεῖος ἀνήρ dargestellt seien.

§ 1 Forschungsüberblick zur Leidensdeutung bei Paulus

25

in den biblischen Texten nachweisen und andererseits „Paulus und Christus als Gottesmänner biblischer Prägung“21 darstellen. Beide seien sich in vielerlei Hinsicht ähnlich (vgl. Paulus als Wundertäter z. B. in Apg 9,8–12; 14,8ff; 16,16ff). Außerdem habe Paulus für die Gemeinde auch die soteriologische Relevanz „eines zweiten Christus, eines Mittlers und Stellvertreters Christi auf Erden“.22 Anders als die vorigen Ansätze geht H. WINDISCH von einem mystischen „Zusammenschmelzen mit Christus“ aus, sodass für Paulus gelte: „Er und der Christus sind eins“.23 Dennoch betont er ein aktives Moment auf Seiten des Paulus. Dessen Christusmystik sei „zugleich auch ein bewußtes Nachfolgen, eine mystisch-ethisch begründete imitatio Christi.“24 Zu dieser Nachahmung zählen jedoch für H. WINDISCH im Gegensatz zu den obigen Positionen nicht nur die beiden Aspekte von Teilhabe an Leiden und Auferweckung des Christus. Vielmehr ordnet er beiden zusätzlich noch die positive Wirkung des „den Gemeinden zugute Kommenden Leidens“25 zu.

1.1.4

Kritische Würdigung

An die vorgestellten Vertreter der mystischen Paulus-Interpretation ergeben sich einige inhaltliche und methodische Anfragen, die teilweise bereits formuliert worden sind.26 Methodisch ist zu bemerken, dass entsprechend dem Stand der damaligen Exegese jeweils die Deuteropaulinen als genuin paulinisch in die Paulus-Exegese einfließen. Das beeinflusst aufgrund von Kol 1,24 die Deutung der apostolischen Leiden erheblich in Richtung eines stellvertretenden und heilsrelevanten Charakters. Außerdem erfolgt kaum eine sorgfältige Untersuchung einzelner Passagen. Inhaltlich greift erstens die Auslegung zu kurz, wonach sich für Paulus immer der gekreuzigte und auferweckte Christus unter Überbrückung der zeitlichen und räumlichen Differenz am Leib von Apostel und Gemeinde real auswirke. Neben Stellen wie z. B. Phil 3,10f, die diese Möglichkeit belegen 21 22

23

24 25 26

A. a. O., 115. A. a. O., 238. Allerdings geschehe keine „Sündentilgung“ durch Paulus: In „dieser Hinsicht ist das Leiden des Christus suffizient, keiner Nachhilfe bedürftig und keiner Nachahmung fähig.“ Paulus erleide nach Kol 1,24 das noch an den Leiden Christi Fehlende, vgl. a. a. O., 245. A. a. O., 233. Die paulinischen Leiden überträfen die des Christus sogar, da von Paulus im Gegensatz zu jenem auch von körperlicher Schwäche berichtet werde (235). Gegen eine Interpretation der paulinischen Mystik als Verschmelzung richtet sich bereits DEISSMANN, Paulus, 64 als Reaktion auf Kritik an der ersten Auflage seines Buchs. Das Bild der Glieder am Leib nach 1Kor 12 mache deutlich, dass die einzelnen Glieder aufeinander bezogen, aber unterscheidbar sind. WINDISCH, Christus, 230, vgl. a. a. O., 251. WINDISCH, Christus, 251. Vgl. für kritische Würdigungen der mystischen Paulus-Interpretation z. B. FISCHER, Bedeutung, 58–70; GÜTTGEMANNS, Apostel, 16–26; WOLTER, Paulus, 227–257 und die knappe differenzierte Betrachtung bei V. BENDEMANN, Christusgemeinschaft, 305–309.

26

Teil I: Voraussetzungen der Arbeit

können, gibt es Texte, bei denen Paulus besonders das einmalige historische und vergangene Ereignis des Lebens und Sterbens Christi betont (vgl. 2Kor 13,4). Damit hängt zweitens zusammen, dass Paulus zwar sein eigenes Leiden wie das des Christus durch ὑπέρ-Formeln als zugunsten der Glaubenden darstellen kann (vgl. 2Kor 1,6). Jedoch ist die Begründung jeweils unterschiedlich und beugt der soteriologischen Interpretation der paulinischen Leiden vor: Während sich das Christus-Leiden in Versöhnung und Rettung auswirkt (z. B. Röm 5,6–11), wird zu zeigen sein, dass Paulus den Nutzen seines eigenen Leidens für die Gemeinden mit der Verkündigung begründet (z. B. 2Kor 1,5–7; 5,17–21). Drittens ist der Gedanke einer Nachahmung Christi als Voraussetzung der mystischen Teilhabe problematisch, da einerseits Paulus an einigen Stellen auch Leiden vermeidet (vgl. 2Kor 2,1–4; 11,32f).27 Andererseits ließe sich durch den Gedanken einer aktiven Nachahmung kein passiv erlittenes, ungewolltes Leiden deuten. Trotz dieser Kritik wird eine mystische Paulus-Interpretation auch in neueren Positionen ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und gegenwärtig vertreten.28

1.2

Apostolisches Leiden als christologische Epiphanie

In scharfer Abgrenzung zur mystischen Paulus-Interpretation formuliert 1966 E. GÜTTGEMANNS seinen Ansatz zur paulinischen Leidensdeutung unter Rückgriff auf die existentiale Theologie und Hermeneutik R. BULTMANNs.29 Er fragt nach dem Erscheinungsort der eschatologischen Existenz

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Obwohl Paulus den Begriff μίμησις z. B. in 1Thess 1,6 und 1Kor 4,16; 11,1 gebraucht, wendet GÜTTGEMANNS, Apostel, 14f zu Recht ein, dass der Begriff Nachfolgen (ἀκολουθέω) bei Paulus fehlt. Vgl. z. B. die Beträge von PROUDFOOT, Imitation aus dem Jahr 1963 und von BISER, Paulus aus dem Jahr 2003. Ein Seitenarm der mystischen Interpretation ist das Konzept der „corporate personality“. Es ist 1935 von H.W. ROBINSON, Corporate Personality formuliert worden und bezieht sich auf die enge Verbindung von Individuum und Gruppe/Stamm/Volk im AT. Er führt dies z. B. anhand der Bestrafung des Kollektivs der Sippe Achans für das Vergehen der Einzelperson Achan in Jos 7 aus (ROBINSON, Corporate Personality, 25f) und anhand von Dan 7,13.27, wo s.E. der Menschensohn mit dem ganzen Volk identifiziert werde und beide als Eins verstanden seien (a. a. O., 29f). Dieses Konzept ist in die Diskussion um das Verständnis der Teilhabe von Paulus und Gemeinde an Christus eingebracht worden: z. B. in den 1960er Jahren von AHERN, Fellowship, 9ff und der Sache nach von KAMLAH, Paulus, 227 sowie in den 1980er Jahren von CARMACK, Affirmation, 53ff u. 104ff und von LAMBRECHT, Paul, 56ff. Kritik an der Anwendung des Konzepts auf Paulus bringt bereits TANNEHILL, Dying, 28ff. Die anthropologischen Grundlagen des Konzepts wurden 1970 von ROGERSON, Conception, 1–16 kritisiert. Neben dieser Grundlagenkritik stellt er fest, dass das Verständnis des Konzepts nirgends einheitlich formuliert sei und somit jeder Forschungsbeitrag eine eigene Definition bringen müsse. Für die genannten Paulus-Deutungen anhand der ‚corporate personality‘ bedeutet dies, dass sie meistens dem mystischen Verständnis zuzuordnen sind. Vgl. den Forschungsüberblick bei GÜTTGEMANNS, Apostel, 13–30; 102–112 u.ö.

§ 1 Forschungsüberblick zur Leidensdeutung bei Paulus

27

des „irdischen Jesus“30 und stellt dazu ausführliche forschungsgeschichtliche und hermeneutische Überlegungen zur Paulus-Exegese voran, die in Einzelexegesen31 und deren systematisch-theologischer Auswertung münden. Er will zeigen, dass der ‚irdische Jesus‘ durch die Auferweckung zum einen mit dem Geist Gottes verbunden und zum anderen (mit einem Begriff von R. BULTMANN) „in die eschatologische Zeit versetzt“32 sei. Das wirke sich nach Gal 6,17 aus durch die „‚Realpräsenz‘ des Gekreuzigten als Herrn an der apostolischen Existenz“, sodass der Leib des Apostels zum „‚Ort‘ der Epiphanie und Präsenz des irdischen Jesus als Herrn“33 werde. Der Apostel werde damit Teil des göttlichen Offenbarungsgeschehens.34 Die Leiden des Apostels sind nach dem für E. GÜTTGEMANNS zentralen Text 2Kor 4,7–15 nicht zufällig, sondern unter Betonung des φανερόομαι (4,10f, offenbaren, zeigen) die „christologische Epiphanie an der apostolischen Existenz“:35 Am Leib des Apostels dokumentiere sich „leibhaft-existentiell“ die paradoxe Identität von „Leichnam Jesu am Kreuz“ und „Leben des Auferstandenen“.36 Weil Christus im Leiden des Apostels aktiv wirke, könne dessen Leiden zum „Heilsgut der Gemeinde“37 werden. Da für E. GÜTTGEMANNS die „Epiphanie- und Verkündigungsfunktion das Spezifikum der apostolischen Leiden“38 ist, folgt für ihn auch: Die „Leiden des Apostels [sind] wegen ihrer Verkündigungsfunktion deutlich von den Leiden der Gemeinde unterschieden.“39 Die Gemeinde sei völlig auf die Vermittlung des Apostels angewiesen. Eine positive Wirkung von deren Leiden sei nicht zu erkennen. Beider Leiden seien sich nur insofern ähnlich, als sie „in der ‚eschatologischen Zeitenwende‘ begründet“ seien.40 An E. GÜTTGEMANNS’ Methodik ist besonders die Verbindung methodisch gründlicher Vorüberlegungen mit ausführlichen Einzelexegesen und deren 30

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Vgl. a. a. O., 38–41: Der Begriff ‚irdischer Jesus‘ ist für ihn gleichbedeutend mit ‚historischer Jesus‘. Er vermeide den Ausdruck ‚historischer Jesus‘, um nicht dessen forschungsgeschichtliche Problematiken zu übernehmen. GÜTTGEMANNS, Apostel untersucht als „exegetische Stichproben“ (53) 1Kor 15,1–11; 2Kor 4,7– 15; 10,1; 12,9f; 13,1–4; Gal 4,12–20, außerdem die „christologische Relation des σῶμα auf die Kyrios-Funktion Jesu“ (199) anhand von Röm 6; 1Kor 6,12–20; Phil 3,20f; Röm 8,9–11 und schließlich zur „Zeit des irdischen Jesus und die Verkündigung des Apostels“ (282) noch 2Kor 5,11–6,10. In die Exegese des 2. Korintherbriefs fließen literarkritische Überlegungen zu dessen Teilung ein. A. a. O., 196. A. a. O., 134, Hervorhebung im Original. GÜTTGEMANNS sieht seinen Ansatz bereits im Forschungsüberblick (29) als Fortführung der Exegese von KÄSEMANN, Legitimität, 53: Im Apostolat vollziehe sich „die irdische Manifestation des Christus selbst.“ Vgl. GÜTTGEMANNS, Apostel, 197. A. a. O., 197. GÜTTGEMANNS, Apostel, 118f. A. a. O., 124. A. a. O., 324f, Hervorhebung im Original. Vgl. uch GRÄßER, Schatz, 310, der wie GÜTTGEMANNS die Apostelleiden als „christologisches Epiphaniegeschehen“ ansieht. GÜTTGEMANNS, Apostel, 327. Ebd.

28

Teil I: Voraussetzungen der Arbeit

systematisch-theologischer Auswertung hervorzuheben. Allerdings hat sein Entwurf zu Recht einige Kritik erfahren, die ich hier in drei Punkten ausführe.41 E. GÜTTGEMANNS betont durch seine Paulus-Deutung als für die Gemeinde heilsrelevanter christologischer Epiphanieträger erstens die Besonderheit der paulinischen Leiden. Dabei erwähnt er nicht, dass nicht nur der Apostel für die Gemeinde relevant ist, sondern umgekehrt auch Paulus von der Gemeinde profitiert, wie z. B. 2Kor 2,14b betont: „denn wir sind euer Ruhm wie auch ihr der unsere am Tag des Herrn Jesus“. Zweitens ist die Exegese der für E. GÜTTGEMANNS zentralen Stelle 2Kor 4,7–15 zu kritisieren:42 Betrachtet man das für sein Deutungsmodell entscheidende Verb φανερόομαι an anderen Stellen (z. B. 2Kor 3,3; 5,10f; 7,12), so wird deutlich, dass sich ein christologisches Epiphaniegeschehen daraus nicht einfach ableiten lässt.43 Drittens kommen bei E. GÜTTGEMANNS die Eigenheiten der jeweils untersuchten Stellen nicht in den Blick. Er schreibt selbst, dass die „exegetische[n] Stichproben“44 dazu dienen, seine vorgängige These zu untermauern. Durch diese Nachordnung der Exegesen hinter die Verallgemeinerung entsteht das Risiko einer Vorfestlegung der Ergebnisse.45

1.3

Leiden bei Paulus als ‚Leiden des Gerechten‘

Die beiden vorgestellten Modelle zur Erklärung des paulinischen Leidensverständnisses stellen explizit das Verhältnis von Christus zu Paulus bzw. seltener zu allen Glaubenden in den Mittelpunkt. Damit konnte kein Forschungskonsens erzielt werden, sodass die beiden nun vorzustellenden Arbeiten anders vorgehen. Sie blenden zwar den paulinischen Christusbezug in der Leidensfrage nicht aus. Jedoch setzen sie voraus, dass die Leidensdeutung für Paulus in erster Linie durch den traditionsgeschichtlichen Rückgriff auf den Vorstellungskreis des leidenden Gerechten zu erklären sei.

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Vgl. z. B. die kritische Würdigung bei FISCHER, Bedeutung, 85–99 sowie die daran anschließende knappe Kritik bei KLEINKNECHT, Gerechtfertigte, 5f. FISCHER, Bedeutung, 99 führt die Probleme bei GÜTTGEMANNS auf dessen Intention zurück, den Ansatz BULTMANNs weiterführen zu wollen. Vgl. FISCHER, Bedeutung, 96–99. In 2Kor 3,3 werden die KorintherInnen als Brief Christi offenbar und in 5,10 ein ‚Wir‘ vor dem Richterstuhl Christi. 5,11 handelt davon, dass ein ‚Wir‘ bereits vor Gott offenbar ist. In 7,12 begründet Paulus sein Schreiben damit, dass der Eifer der Gemeinde für ihn offenbar werden solle. GÜTTGEMANNS, Apostel, 53. Gegen eine solche Exegese richtet sich bereits BULTMANN, Problem, 230. Vgl. § 3.1.

§ 1 Forschungsüberblick zur Leidensdeutung bei Paulus

1.3.1

29

Karl Th. Kleinknecht (1984)

K. TH. KLEINKNECHT führt eine umfangreiche diachrone Analyse der Tradition des leidenden Gerechten durch, um zu einer Verhältnisbestimmung „zwischen den paulinischen Leidensaussagen und den alttestamentlich-jüdischen Aussagen vom ‚leidenden Gerechten‘“46 zu kommen. Die Tradition lässt sich für ihn nicht an konkreten Begriffen festmachen, sondern sei „von der Sache her“ zu bestimmen und umfasse dementsprechend Texte, die ein „negatives oder positives Verhältnis des Leidenden zu Jahwe“47 widerspiegelten. In seine Analyse bezieht er alt- und zwischentestamentliche Texte sowie Qumran-Texte ein.48 So kommt er zu folgendem Zwischenergebnis, das die Basis seiner Arbeit an den Paulus-Texten bildet: Die Tradition des leidenden Gerechten sei „konstitutiv für die theologische Bewältigung des Leidensthemas im 1. Jh.n.Ch.“49 In Bezug auf die Deutung von Leiden gehören laut K. TH. KLEINKNECHT besonders folgende Aspekte zu der von ihm untersuchten Tradition:50 i) apokalyptische Vorstellungen von Gott und Welt (zwei Äonen, Gotteshandeln über den Tod hinaus, Spekulation über Endgericht und Jenseits), ii) Leiden als göttliche Erziehung,51 iii) die Märtyrertradition (Leiden aufgrund des Jahwe-Glaubens)52 und iv) die Andeutung einer „stellvertretenden Wirksamkeit des Leidens“.53 In knappen Einzelexegesen untersucht K. TH. KLEINKNECHT dann briefweise geordnet die paulinische Aufnahme der Tradition.54 Für den 2. Korintherbrief legt er dabei eine literarkritische Teilungshypothese nach G. BORNKAMM zugrunde und wertet die Briefteile zunächst separat aus.55 Dabei hält er fest, dass seine Ergebnisse tendenziell für einen einheitlichen Text sprechen, da sich die Tradition des leidenden Gerechten durch den ganzen 46 47 48

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KLEINKNECHT, Gerechtfertigte, 16. A. a. O., 19, Hervorhebung im Original. A. a. O., 11–13 u. 15, Anm. 77 bezieht sich explizit auf die Untersuchung des Motivs in der Habilitationsschrift von RUPPERT zum leidenden Gerechten, die in drei Teilen erschienen ist als RUPPERT, Gerechte I, DERS., Gerechte II und DERS., Jesus. Allerdings untersucht dieser nicht das Motiv in seiner Aufnahme bei Paulus, sondern ist vorwiegend an der Rezeption in der JesusÜberlieferung interessiert. Vgl. RUPPERT, Jesus, 42–75. KLEINKNECHT, Gerechtfertigte, 164. Vgl. a. a. O., 164–166. A. a. O., 165 nennt KLEINKNECHT z. B. SapSal 3; TestJos 2ff sowie mit explizitem Bezug zur Sünde PsSal 10 u. 13. Vgl. Josephus, BJ 2,152f sowie 2Makk und 4Makk. KLEINKNECHT, Gerechtfertigte, 166 [Hervorhebung im Original] verweist auf TestBen 3,6–8; 2Makk 7,37f; 4Makk 6,28f; 17,22f, wo sich allgemein gesagt aus dem negativen Ergehen einer Person oder Gruppe etwas Positives für eine andere ergibt. Im Einzelnen untersucht KLEINKNECHT 1Thess 1–3; 1Kor 1,10–4,5; 4,6–13; 15; 2Kor 1,3–11; 4,7– 18; 6,1–10; 7,5–7 und summarisch 2Kor 8f sowie 10–13; kapitelweise Phil 1–4 unter besonderer Berücksichtigung des Hymnus in 2,1–11; Röm 5,1–11; 8,18–39; 15,1–6. Vgl. a. a. O., 242. Vgl. für Argumente zu Teilung und Einheitlichkeit des 2. Korintherbriefs § 5.2.

30

Teil I: Voraussetzungen der Arbeit

kanonischen Brief ziehe.56 Paulus kenne die Tradition nicht nur, sondern sie bilde den primären Verständnishintergrund für Tod und Auferstehung Christi. Er nutze sie, um sein eigenes Leiden als Leiden des Gerechten darzustellen und um Gott als denjenigen zu charakterisieren, der auf der Seite der Leidenden stehe.57 Im Handeln an Christus habe Gott die Verheißungen von Heil und Leben für den leidenden Gerechten als wahr erwiesen. Da Paulus nach K. TH. KLEINKNECHT alle Glaubenden als „Gemeinde der leidenden Gerechtfertigten“58 ansieht, mache er keinen Unterschied zwischen dem eigenen Leiden und dem der Gemeinde.

1.3.2

Barry D. Smith (2002)

Im Gegensatz zu K. TH. KLEINKNECHT geht B. D. SMITH in seiner Untersuchung synchron vor. Dabei setzt er voraus, dass sich Paulus selbst als leidender Gerechter versteht und sein Leiden mithilfe von Deutungen aus der Tradition interpretiert.59 Als erster der bisher vorgestellten Forschungsbeiträge legt er zumindest knapp sein Verständnis von Leiden offen, was für eine exegetische Untersuchung des Leidens methodisch geboten ist. Er versteht es in einem weiten Sinne als „any negative experience“.60 Außerdem betont er zu Recht die Subjektivität von Leiden: „the stress is on the subjectivity of the sufferer: What appears unpleasant or painful is suffering, regardless of how others may respond in the same circumstances.“61 Während B. D. SMITH den Fehler vorangegangener Untersuchungen des Leidens bei Paulus darin sieht, ein einziges Deutungsmodell nachweisen zu wollen, geht er von sieben Leiderklärungen aus.62 Diese weist er zunächst in Texten des AT, der zwischentestamentlichen Literatur, in Qumran und bei den Rabbinen nach, bevor er sie in ausgewählten Paulus-Texten zeigt. Dabei versteht er gegen den Forschungskonsens die Deuteropaulinen als genuin paulinisch.63 Die von ihm identifizierten sieben Leiderklärungen sind die Deutung als i) Verfolgung, ii) „remedial“,64 iii) heilsgeschichtliche Notwen56

57 58 59 60 61 62 63 64

Vgl. a. a. O., 303f. Das Argument kann allerdings kaum überzeugen: KLEINKNECHT zeigt, dass sich die Tradition in allen paulinischen Passagen über das Leiden findet. Also ist es kein Spezifikum eines einheitlichen Briefes, sondern könnte genauso in den Teilen des kanonischen Briefes zu finden sein. Vgl. a. a. O., 367–371. A. a. O., 374. Explizite Verbindungen zwischen Rechtfertigung und Leiden weist er nicht nach. Vgl. SMITH, Explanations, 1f. A. a. O., 4. Ebd. Vgl. SMITH, Explanations, 2. Kritik an SMITH formuliert auch LIM, Sufferings, 9f. SMITH, Explanations, 59–118. Das Adjektiv ‚remedial‘ bedeutet wörtlich ‚abhelfend, rehabilitierend, fördernd‘, ist aber in SMITHs Verwendung schwierig zu übersetzen. Am ehesten versteht er

§ 1 Forschungsüberblick zur Leidensdeutung bei Paulus

31

digkeit, iv) göttliche Prüfung und v) Auswirkungen der Sünde Adams. Dazu kommen für B. D. SMITH zwei genuin paulinische Leidensdeutungen, die vorpaulinisch höchstens in Ansätzen zu finden seien: vi) göttliche Erziehung (!) und vii) mystische Partizipation an Christi Leiden.65

1.3.3

Kritische Würdigung

Beide Beiträge dieses Modells zur paulinischen Leidensdeutung bringen Erkenntnisse für die hier verfolgte Fragestellung. Traditionsgeschichtliche Überlegungen liefern einen wichtigen Horizont für das Verständnis der Texte und zeigen, wie Paulus in der Leidensthematik auf traditionelle Erklärungen zurückgreift. Außerdem ist die Einsicht zu gewinnen, dass sich Paulus nicht auf eine einzige Deutung des Leidens reduzieren lässt: Was sich bei K. TH. KLEINKNECHT durch seine vier Aspekte der Tradition vom leidenden Gerechten bereits andeutet, wird von B. D. SMITH in sieben Leiderklärungen weitergeführt. Es zeigen sich allerdings auch Schwierigkeiten. Erstens wird die Tradition vom leidenden Gerechten durch ihr weites Verständnis in beiden Ansätzen zum Sammelbegriff für Leidensdeutungen in jüdischen Texten. So haben beide Forschungsbeiträge zwar verschiedene Interpretationen in den untersuchten Texten gezeigt. Deren Verbindung untereinander anhand eines Motivs ist aber kaum plausibel. Damit hängt zweitens zusammen, dass die TextAuswahl „von der Sache her“66 im traditionsgeschichtlichen Teil und auch in der Paulus-Exegese intransparent bleibt. Schließlich ist zu bemerken, dass beide Ansätze einen hellenistischen Einfluss auf Paulus größtenteils ablehnen.67 Spätestens seit Anfang des 20. Jahrhunderts ist dieser Einfluss jedoch schon durch den Vergleich von paulinischen Peristasenkatalogen oder paulinischer Ethik mit stoischen Texten nahezu unbestritten.68 Denn auch der

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68

es als Gottes fürsorgendes Handeln, wozu er anhand von 2Kor 7,8–11 die Umkehr/Reue rechnet sowie anhand von 1Kor 5,3–5; 11,17–34 die Versöhnung (84–93). A. a. O., 175 verwendet SMITH dafür die Bezeichnung „spiritual union“, was für ihn identisch ist mit „mystical union“. Er verweist für seine Erklärungen meist mit knappen exegetischen Ausführungen auf folgende Stellen: zu i) auf 1Thess; 2Thess 1,4–10; Phil 1,27–30; Gal 3,3f; Röm 8,28–39; zu ii) auf 2Kor 7,8–11; 1Kor 5,3–5; 11,17–34; zu iii) auf 1Kor 1–4; 2Kor 1,10; 2,14–16b; 2Thess 3,2; zu iv) auf Röm 5,2–4; 2Thess 1,5; zu v) auf Röm 5,12; 1Kor 15,20–22; zu vi) auf 2Kor 10–13; 4,7– 12; 1,8–11 und zu vii) auf Röm 8,16–18; 2Kor 1,4–6; 4,10–12.17; Phil 3,7–11; Kol 1,24. KLEINKNECHT, Gerechtfertigte, 19. HOLLAND, Review, 90 kritisiert die Methodik generell: Es sei unverantwortlich, aus Texten einer so langen Zeitspanne ein einheitliches Motiv zu konstruieren. Während KLEINKNECHT hellenistische Einflüsse auf Paulus annimmt, aber für theologisch wenig bedeutend hält, lehnt SMITH, Explanations, 3 außerjüdische Einflüsse auf Paulus in geradezu polemischer Weise ab: „My view is that attempts at interpreting Paul against a Hellenistic background are fundamentally misguided and will produce distortion.“ Der Zusammenhang von paulinischem Umgang mit Leiden und der Stoa ist spätestens seit BULTMANN, Diatribe und BONHÖFFER, Epiktet um 1911 gesehen. Zumindest bedenkenswert ist

32

Teil I: Voraussetzungen der Arbeit

Alltag von Jüdinnen und Juden in der Antike ist durch griechisch-hellenistische Kultur geprägt.69 In meine Untersuchung werden also auch profangriechische Texte einbezogen.

1.4

Leiden bei Paulus als Parallele zu Christus

Die paulinische Leidensdeutung wird neben der Erklärung aus der Tradition vom leidenden Gerechten weiterhin durch die Verbindung von Christus und den Leidenden interpretiert. Die entsprechenden Ansätze lassen sich unter der Formel ‚Leiden des Apostels bzw. der Christusglaubenden als Parallele zum Leiden des Christus‘ zusammenfassen. Der Begriff ‚Parallele‘70 ist bewusst gewählt, da er in der Diskussion um die Leidensdeutung bei Paulus weniger vorgeprägt ist als die Begriffe ‚Analogie‘71 oder ‚Konformität‘.72 Die mystische Paulusinterpretation hat diese Parallele als reale Teilhabe gedeutet. Neuere exegetische Kommentare zu einschlägigen Stellen wie 2Kor 1,3–11; 4,7–15 oder Phil 3,10 und Beiträge z. B. zur Untersuchung der Peristasenkataloge wählen unterschiedliche Erklärungsansätze.73 Obwohl sich bisher noch keine Forschungsmeinung durchgesetzt hat, verdient diejenige Begründung der Parallele des Leidens von Christusglaubenden zum Leiden Christi besondere Beachtung, die diese im Leiden selbst begründet sieht. So argumentieren in etwas unterschiedlicher Weise die nun darzustellenden Forschungsbeiträge von M. WOLTER und K. Y. LIM. Ich fasse beide trotz ihrer unterschiedlichen Herangehensweisen zusammen, da sie zu vergleichbaren Ergebnissen kommen.74

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auch der Hinweis von NESTLE, Überwindung, 15f, der bei der Darstellung des Todes des Sokrates in Platon, Grg. 473b.c und R. 361b–362a Parallelen zum Motiv des leidenden Gerechten zeigt. Vgl. LIM, Sufferings, 10. Den Begriff der Parallele zwischen Jesu Christus und dem Apostel bzw. den Glaubenden verwenden z. B. LAMBRECHT, Nekrōsis, 313; LIM, Sufferings, 57 und TANNEHILL, Dying, 92. Der Begriff der Analogie wird v. a. von GÜTTGEMANNS, Apostel, 13–29 stark kritisiert, der damit die mystische Paulus-Interpretation und jede Form einer Interpretation von Leiden als Nachahmung oder Stellvertretung Christi bezeichnet. Ähnlich auch FISCHER, Deutung, 13f und SCHMELLER, Brief I, 263. HOTZE, Paradoxien, 278 will die forschungsgeschichtlichen Probleme mit dem Begriff „Analogie im Modus des Glaubens“ umgehen. GRÄßER, Brief I, 172 zu 2Kor 4,14 verwendet den Begriff, grenzt sich jedoch in Brief II, 254 zu 2Kor 13,4 zugunsten des Konformitäts-Begriffs davon ab. Der Begriff Konformität zwischen dem Schicksal Jesu Christi und dem Leiden des Apostels bzw. der Glaubenden wird z. B. von SCHRAGE, Leid, 162f gegen Analogie abgegrenzt und von ihm als abgeschwächte Form der Nachahmung dargestellt. Dem schließt sich GRÄßER, Brief II, 254 an. Ähnlich z. B. WELBORN, Appeal, 57 und THEOBALD, Gnade, 229 zu 2Kor 4,16. AHERN, Fellowship, 30 verwendet den Begriff im Sinne einer mystischen Teilhabe an Christus. Die Parallelität zu Christus kann im Christusglauben selbst begründet sein. Sie wirkt sich z. B. für BULTMANN, Theologie, 349–352; GRÄßER, Brief I, 171f und HOTZE, Paradoxien, 278–281 durch die Teilhabe an Christi Auferstehungsleben bereits gegenwärtig aus. SCHRAGE, Leid, 165 u. 175; TANNEHILL, Dying, 90–93 und HECKEL, Kraft, 316 begründen ebenfalls aus dem Leiden selbst die Parallele vom Leiden der Glaubenden zu Christi Leiden. Im Leiden

§ 1 Forschungsüberblick zur Leidensdeutung bei Paulus

1.4.1

33

Michael Wolter (1990)

Für M. WOLTER zielt die paulinische Auseinandersetzung mit dem Leiden darauf, dass der Apostel durch theologische Deutung „dem Leiden seinen Charakter als Differenzerfahrung nimmt und den Gemeinden eine positive Bewältigung ihrer jeweiligen Leidenswirklichkeit ermöglicht.“75 Diese Deutung leistet Paulus nach M. WOLTERs traditionsgeschichtlichem Zugang mithilfe des Begriffs κοινωνία κτλ. (Gemeinschaft, Teilhabe) aus der hellenistischen Freundschaftsethik.76 Die antike Freundschaft zeichne sich dadurch aus, dass man im Leiden bis zum Sterben verbunden bleibe.77 M. WOLTER schließt daher anhand von Phil 3,9f vom missionsbedingten Leiden des Apostels wegen Christus zurück auf die Gemeinschaft mit diesem.78 Diese Gemeinschaft liege also im Leiden begründet, das Paulus in der Christusverkündigung als Leiden Christi erfahre.79 Von der so verstandenen Zugehörigkeit zu Christus her deute Paulus auch die Überwindung des Leidens: Die Teilhabe an Christi Leiden impliziere eine Teilhabe an seiner Auferstehung, die sich nicht in der zukünftigen Totenauferstehung erschöpfe (Phil 3,10f), sondern sich als Erfahrung von Rettung (2Kor 1,9f) und Bewahrung (4,8–11) in Todesgefahren zeige. Das apostolische Leiden ist nach M. WOLTER auch für die Deutung der

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79

der Christusglaubenden wirke sich das Kreuz als eschatologisches Ereignis aus, wobei die Parallele zum Auferstehungsleben Christi aus dem Glauben an das Einbezogenseins in Gottes Heilshandeln kommt. WOLTER, Apostel, 536. Vgl. DERS., Art. Leiden, 680. Da der eigentliche Freundschaftsbegriff φιλία bei Paulus nicht vorkommt, nennt DERS., Apostel, 544–546 zahlreiche Belege für die Verbindung von κοινωνία und φιλία in der Antike, z. B. Platon, Grg. 507e; Aristoteles, EN 1159b; Lukian, Tox. 5. FITZGERALD, Paul, 331–340, hat gezeigt, dass es im Griechischen sog. „linkage groups“ (319) gibt, die Worte oder Vorstellungen enthalten, die mit einem Begriff assoziiert werden. Dazu rechnet er für φιλία neben κοινωνία κτλ. z. B. auch καταλλαγή κτλ. (334). Seine Schlussfolgerung geht allerdings deutlich über WOLTER hinaus, wenn er festhält, dass Gott eine Freundschaft mit Paulus etabliert und die Kirche als Gemeinschaft von Freunden gestiftet habe (337f). STÄHLIN, Bemerkungen, 512, auf den sich WOLTER bezieht, verweist darauf, dass φιλία in außerpaulinischen Schriften des NT verwendet wird: Apg 27,3; 3Joh 15; Lk 12,4 und Joh 15,14f. Insofern ist der Begriff dem Urchristentum nicht fremd. Dafür nennt WOLTER, Apostel, 546 z. B. Aeschylus, Ch. 977ff; Strabo 17,2,3; Plutarch, Amic. mult. 96b; Ant. 71,4f und Lukian, Tox. 7. Die Frage nach dem Fehlen antiker Belege für eine Freundschaft zu einem Toten (und Auferweckten) wird von WOLTER nicht thematisiert. Vgl. STÄHLIN, Bemerkungen, 512f für eine Reflexion des Problems anhand von 2Kor 7,3. WOLTER, Apostel, 546f führt anhand von Phil 3,10 aus: „Als συμμορφιζόμενος τῷ θανάτῳ αὐτοῦ [seinem Tod Gleichgestalteter, EW] wird Paulus zum Teilhaber von Christi eigenem Leidensgeschick, und die damit ausgesagte κοινωνία τῶν παθημάτων [Gemeinschaft der Leiden, EW] erweist des Apostels unmittelbare und unverstellte Zugehörigkeit zu Jesus Christus“. Er zieht weitere Stellen mit dem Begriff κοινωνία besonders aus dem Philipperbrief heran, darüber hinaus z. B. 2Kor 1,5; 4,10; Gal 6,17, wo Leidbegriffe durch einen „Christusgenitiv“ beschrieben werden. Vgl. WOLTER, Apostel, 548 u. 556f. Dieses Leidensverständnis habe Paulus in Auseinandersetzung mit Gegnern in Korinth (vgl. 2Kor 10–13) entwickelt (538f).

34

Teil I: Voraussetzungen der Arbeit

Gemeindeleiden entscheidend.80 Denn die Verbindung von Paulus und Gemeinde sei einerseits charakterisiert als gemeinsame Teilhabe am Christusglauben (vgl. Phil 1,5; 2Kor 7,2f)81 und andererseits begründet durch das Evangelium als Ursache des jeweiligen Leidens: Christus und Paulus litten wegen der Verkündigung/Mission und die Gemeinde wegen der Annahme des Evangeliums.82 Grundlegend ist für M. WOLTER auch, dass der Apostel an den Leiden Christi Anteil hat, während die Gemeinde ‚nur‘ als „Teilhaberin am Leidensgeschick des Apostels“83 vorgestellt ist. Die Gemeinde sei nach 2Kor 1,7 auf die apostolische Christus-Vermittlung angewiesen.

1.4.2

Kar Y. Lim (2009)

K. Y. LIM analysiert die Rolle des Leidens bei Paulus anhand der Erzähldynamik im kanonischen 2. Korintherbrief.84 Methodisch angeregt durch die Narrationsforschung geht er davon aus, dass Paulus eine „story of Jesus“85 kenne. Diese beinhalte über den historischen Jesus hinaus auch folgende Elemente (vgl. 1Kor 15,3; 2Kor 8,9; Gal 4,5): die protologische und eschatologische Existenz, Gottes Heilsandeln darin und dieses als schriftgemäß. Die so definierte Jesus-Geschichte sei der hermeneutische Schlüssel („master story“)86 für die paulinische Theologie und Argumentation besonders in Bezug auf das Leiden. Daher rekurriere der Apostel speziell an wichtigen Übergängen des Briefes auf sie.87 Für K. Y. LIM spielen die paulinischen Leiden eine zentrale Rolle in der apostolischen Mission, die er als Einladung zum Mitleben der ‚story of Jesus‘ versteht.88 Exemplarisch zeigt er das an 2Kor 1,5, wo er den Ausdruck τὰ παθήματα τοῦ Χριστοῦ unter Einbezug des εἰς ἡμᾶς interpretiert: „die Leiden 80

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Vgl. a. a. O., 551. Der Apostel thematisiere das Gemeindeleid nie außerhalb eines Zusammenhangs mit seinem eigenen. Vgl. a. a. O., 553, wobei er auf die Ergebnisse der begriffsgeschichtlichen Untersuchung von HAINZ, Koinonia, verweist. Vgl. a. a. O., 557. A. a. O., 550. Vgl. LIM, Sufferings, 29. Ohne nähere Erklärungen hält er fest, dass die Frage der Einheitlichkeit nichts zu seiner Untersuchung beitrüge und seine Ergebnisse für einen einheitlichen Brief sprächen. A. a. O., 25 u.ö. Seine Definition der „story of Jesus“ zitiert er von WEDDERBURN, Paul, 163. In seinem Forschungsüberblick nennt er weitere Beiträge zur Erforschung der Erzähldynamik von Paulus-Texten, v. a. den Sammelband von LONGENECKER, Narrative Dynamics. LIM, Sufferings, 36. Vgl. LIM, Sufferings, 37, der seine Untersuchung an solchen s.E. wichtigen Stellen durchführt: 2Kor 1,3–11; 2,14–16; 4,7–12; 6,1–10 und 11,23–12,10 im weiteren Kontext der Kapitel 10–13. LIM schließt sich explizit der Position von HAFEMANN, Role, 165–184 an. Aus dem Verständnis von der Mission her erklärt sich wahrscheinlich die Untersuchung von 2Kor 2,14–16 bei beiden, was in der Forschung zur Leidensdeutung bei Paulus sonst kaum berücksichtigt wird. Vgl. zum Verständnis der Mission LIM, Sufferings, 198.

§ 1 Forschungsüberblick zur Leidensdeutung bei Paulus

35

Christi in Bezug auf euch“. Zwischen den Leiden Christi und denen des Paulus sieht er ähnlich wie M. WOLTER eine ‚missiologische Identität‘:89 Das paulinische Leiden sei Ausdruck derselben Art von Leiden, das Christus aufgrund seiner Mission erfahren habe und das der Gemeinde zugutekomme: Christus habe wegen seiner Verkündigung gelitten und Paulus, weil er Christus verkündige.90 Wie genau die Leidensparallelität von Christus und Paulus zustande kommt, bleibt offen. Ein mystisches Teilhabeverständnis schließt K. Y. LIM jedoch aus.91 Die Leiden sind für ihn allerdings die von Gott gewirkte notwendige Basis des paulinischen Apostolats: „a divinely ordained vehicle for mediating God’s presence in the lives of his people.“92 Da die ‚story of Jesus‘ jedoch ein eschatologisches Ereignis beschreibe, das sich gegenwärtig auswirke, seien die paulinischen Leiden soteriologisch wirksam für die Gemeinde.93

1.4.3

Kritische Würdigung

Beide Ansätze stellen das paulinische Leidensverständnis in den Kontext der apostolischen Mission. Besonders hervorzuheben ist M. WOLTERs Einsicht, wonach sich bei der Parallelisierung von Leidenden zu Christus dessen Auferweckung nicht erst bei der Totenauferstehung an den Leidenden auswirkt, sondern bereits im gegenwärtigen Leben in Form von Rettungs- und Bewahrungserfahrungen.94 Kritisch zu hinterfragen ist jedoch erstens die angenommene zentrale Rolle des Leidens für Christusglaubende. Für M. WOLTER lässt sich daran die Gemeinschaft mit Christus und unter den Glaubenden ablesen, während K. Y. LIM darin ein gottgegebenes Mittel für die Evangeliumsverkündigung sieht. Das ist zum einen problematisch für Gemeinden und paulinische Mitarbeitende, die gerade nicht wegen ihres Glaubens leiden und steht zum anderen in Spannung zu paulinischen Berichten, nach denen Paulus dem Leiden teilweise ausweicht (vgl. 2Kor 2,1–4; 11,32f).95 Es ist kritisch zu prüfen, ob sich das Leiden als Begründung der Parallele von Leidenden und Christus eignet. 89

90

91 92

93

94 95

A. a. O., 52 spricht von „missiological (not ontological) identity“. Vgl. WOLTER, Apostel, 547 u. 553. Vgl. LIM, Sufferings, 52. Im Gegensatz zu WOLTER dehnt er das nicht auf die Leidensbegründung für die Gemeinde aus. Den Begriff der Parallelität gebraucht LIM, Sufferings, 57 bei der Einzelexegese von 2Kor 1,3–11. A. a. O., 57. Das macht er an den passiva divina in 2Kor 1,3–11 und 4,7–12 fest, womit er an die Überlegungen von HAFEMANN, Role, 174 anknüpft. Vgl. LIM, Sufferings, 54f u. 111. Anders als LIM hält HAFEMANN, Role, 179 das apostolische Leid nicht für eine zweite Versöhnung, sondern für die Vermittlung von Tod und Leben Jesu Christi. Vgl. auch BULTMANN, Brief, 25–27 zu 2Kor 1,3f. Dieses Leiden aller Gemeinden wegen ihres Glaubens setzt WOLTER, Apostel, 536 voraus.

36

Teil I: Voraussetzungen der Arbeit

Zweitens ist für beide Ansätze die Rolle des Apostels zentral. Besonders bei K. Y. LIM kommt die Gemeinde und ggf. ihr Leiden nur als ‚Objekt‘ der Mission in den Blick. Die Deutung der paulinischen Leiden als heilsrelevant für die Gemeinden ist bei der Exegese der relevanten Stellen, z. B. 2Kor 1,3–11; 4,7–15; 6,3–10, kritisch zu hinterfragen. Drittens erklären beide Ansätze ihre Stellenauswahl nicht. Während M. WOLTER stark auf den Philipper-Brief rekurriert, hängt bei K. Y. LIM die Auswahl der Stellen am Zusammenhang zur ‚story of Jesus‘. Weder deren knappe Darstellung in seinem Einführungskapitel noch das von ihm genannte Kriterium ‚wichtiger Übergänge im Text‘ machen die Stellenauswahl nachvollziehbar. Das ist im folgenden Modell anders.

1.5

Leidensdeutung bei Paulus anhand des Begriffs ἀσθένεια κτλ.

Das paulinische Verständnis des Leidens wird auch in einigen Untersuchungen des Begriffs ἀσθένεια κτλ. (Schwachheit, Krankheit) thematisiert.96 Als Ausgangspunkt dient meist 2Kor 12,9f. Wegen der dortigen paradoxen Aussagen wird häufig der Gegenbegriff δύναμις (Kraft, Macht) mit einbezogen.97 Für die hier verfolgte Fragestellung ist die Untersuchung von J. KRUG (2001) weiterführend, da sie den 2. Korintherbrief auch über 2Kor 10–13 hinaus untersucht. J. KRUG untersucht die Bedeutung des Verhältnisses von Kraft und Schwachheit für die paulinische Apostolatstheologie hauptsächlich im 1. Thessalonicherbrief und in den beiden Korintherbriefen.98 Bereits in seinen begriffsgeschichtlichen Untersuchungen von ἀσθένεια und δύναμις setzt er den Schwachheitsbegriff in Beziehung zum Leiden: Es bestehe eine enge Verbindung zwischen beiden, da „Paulus seine Leiderfahrungen selbst gelegentlich als ‚Schwachheiten‘ bezeichnet“.99 In jüdischen und paganen Texten der Antike erkennt er vier Modelle, mit deren Hilfe die paradoxe Beziehung

96

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99

HECKEL, Kraft thematisiert 1993 in seiner Untersuchung des Verhältnisses von Kraft und Schwachheit in 2Kor 10–13 auch das Leiden, ohne jedoch den Begriff ἀσθένεια κτλ. ins Zentrum zu stellen. Ein neueres Beispiel dafür, wie 2Kor 10–13 untersucht werden kann, ohne auf das Leiden oder den Begriff der Schwachheit einzugehen, bietet AEJMELAEUS, Schwachheit von 2001. Abgesehen von den einschlägigen Artikeln in Begriffslexika hat als erster D.A. BLACK (1984) alle 44 Belege von ἀσθένεια κτλ. in den paulinischen und deuteropaulinischen Briefen untersucht. Vgl. BLACK, Paul und eine knappe Darstellung seiner Ergebnisse in DERS., Art. Weakness. Da er kaum auf die Leidensthematik eingeht, ist eine Darstellung seiner Arbeit hier nicht weiterführend. Ausführliche Einzelexegesen bietet KRUG zu 1Thess 1,6; 2,4–13; 1Kor 1,10–4,21; 5,1–13; 2Kor 1,3–11; 4,7–12; 6,3–10 und 12,7–10 im weiteren Kontext von 2Kor 10–13. Im Rahmen seiner Zusammenfassung werden knapper auch 1Kor 1,23f; 2Kor 13,3f und Röm 1,3f thematisiert. KRUG, Kraft, 62f unter Verweis auf 2Kor 12,5.9.11.

§ 1 Forschungsüberblick zur Leidensdeutung bei Paulus

37

zwischen Kraft und Schwachheit aufgelöst werde.100 Nach dem chronologischen Modell sei jemand zu einem Zeitpunkt schwach, aber zu einem späteren stark. Im lokalen Modell seien Schwachheit und Stärke unter Annahme einer dualistischen Anthropologie auf verschiedene Orte im Menschen verteilt, z. B. auf Körper und Geist. Für das perspektivische Modell gelte, dass aus einer Perspektive jemand schwach sei, bei Einnahme einer anderen Perspektive jedoch stark. Zentral sei das „Transzendenz-Modell“, da es der Lösungsstrategie des Paulus „religionsgeschichtlich am nächsten“101 stehe. Es reagiere auf den Widerspruch „zwischen empirischer Beobachtung und weltlicher Erwartung, […] indem es […] die erfahrene Kraft theologisch qualifiziert. Dem Beobachter wird also die weltimmanent nicht zu erklärende Verteilung der Begriffe dadurch plausibilisiert, daß ihm für die Existenz und das Wirken der Kraft eine transzendente Ursache angeboten“,102 also „der göttliche Bereich in die Rechnung mit einbezogen wird.“103

Mit der Anwendung dieses Modells im Aposteldienst provoziere Paulus durch den Gegensatz von Kraft und Schwachheit eine „revelatorische[r] Erkenntnis“:104 Die am Apostel sichtbar werdende – und immanent nicht aufzulösende – Spannung zwischen Schwachheits- und Kraft-Phänomenen verweise auf das Wirken der Gotteskraft am gekreuzigten Christus. Als „Träger der göttlichen Kraft“105 sehe sich Paulus als der Gemeinde vorgeordnet und seine Leiden als heilsrelevant für diese an. Die Stärke von J. KRUGs Untersuchung liegt zum einen darin, dass sie das an Paulus gezeigte Modell zur Auflösung der Spannung zwischen Kraft und Schwachheit aus antiken Texten gewinnt. Zum anderen macht sie durch die beiden Begriffe ἀσθένεια und δύναμις transparent und nachvollziehbar, welche Stellen er in die Analyse einbezieht. Das ist anders als in den ebenfalls traditionsgeschichtlich angelegten Untersuchungen zum ‚Leiden des Gerechten‘, über die J. KRUG deutlich hinausgeht. Obwohl sein Hauptanliegen nicht die Untersuchung von Leiden ist, sind seine Modelle zur Erklärung paradoxer Aussagen und v. a. das ‚Transzendenz-Modell‘ wichtig für die paulinische Leidensdeutung. Neben den genannten Modellen erwägt er auch ein

100 101 102

103 104 105

Vgl. a. a. O., 61–88. A. a. O., 87. A. a. O., 78f. Als griechisches und römisches Beispiel für das Transzendenz-Modell mit je eigenen Akzenten nennt er Platon, Ion 534c/d und Seneca, Epist. 41,4f, aus dem jüdischen Bereich verweist er auf den Lobgesang der Hanna in 1Sam 2,1–6 und auf einen Hymnus in 1QM 14,4–7 anhand des hebräischen Begriffs ‫ כּשׁל‬als einem Äquivalent zu ἀσθένεια κτλ. KRUG, Kraft, 81. A. a. O., 314. A. a. O., 309.

38

Teil I: Voraussetzungen der Arbeit

christologisches Modell der Parallelität zu Christus als zentral für Paulus.106 Seine Untersuchung zeigt also auch, dass ein einziges Modell zur paulinischen Leiderklärung nicht ausreichend ist. Allerdings ist wiederum die Bedeutung der paulinischen Leiden für die Gemeinde kritisch zu hinterfragen.

1.6 1.6.1

Zusammenfassung und Folgerungen für das weitere Vorgehen Desiderata bisheriger Forschung

1. Methodische Anfragen: Es fällt erstens auf, wie selten bisher der Begriff des Leidens reflektiert worden ist. Nur wenige Untersuchungen klären, was sie unter Leiden verstehen: ob es z. B. eine subjektive oder objektive Kategorie ist oder ob relevant ist, wer jeweils betroffen ist.107 Als Konsequenz bleibt häufig unklar, worauf sich Untersuchungen zum Leiden bei Paulus genau richten. Meiner Untersuchung soll daher eine Reflexion des Leidbegriffs vorangestellt werden. Ein Folgeproblem ist zweitens die Auswahl der behandelten Texte in verschiedenen Forschungsbeiträgen: Einschlägige und häufig untersuchte Stellen sind Gal 6,17; 2Kor 1,5; 4,10 und Phil 3,10 sowie die paulinischen Peristasenkataloge. Diese Texte werden jedoch häufig ohne transparente Erklärungen in Bezug zu weiteren Stellen gesetzt, wie z. B. zur Taufthematik in Röm 6. Das führt zu einer möglicherweise interessengeleiteten Stellenauswahl, die durch Einzelexegesen eine vorgängige Paulusinterpretation stützen möchte. Das ist z. B. in J. KRUGs Untersuchung anders, der die zu behandelnden Stellen anhand ausgewählter Begriffe festlegt. Seine Methode ist daher auch für die von mir verfolgte Fragestellung weiterführend. Drittens werden durch das Interesse am Umgang mit dem Leiden bei Paulus als einem theologischen Thema oftmals grundsätzliche exegetische Fragen explizit oder implizit übergangen. Das bezieht sich für den 2. Korintherbrief besonders auf den sozialgeschichtlichen Kontext der korinthischen Gemeinde, die Diskussion um die Einheitlichkeit des Briefes sowie die Bedeutung der häufig verwendeten ersten Person Plural. Diese Aspekte sind jedoch unbedingt mit einzubeziehen.

106

107

In einer Schlussbetrachtung anhand von 1Kor 1,23f; 2Kor 13,3f und Röm 1,3f nennt KRUG, Kraft, 295ff ein christologisches Modell paulinischer Leidensdeutung, was der o.g. Parallelisierung entspricht: Die beiden Phasen von Leiden und Auferweckung Christi erfahre der Apostel vermittelt durch Gottes Geist gleichzeitig am eigenen Leib (vgl. 2Kor 13,3f). Ansätze finden sich nur bei SMITH, Explanations, 4 und WOLTER, Apostel, 536.

§ 1 Forschungsüberblick zur Leidensdeutung bei Paulus

39

2. Inhaltliche Anfragen: Als erstes ist dabei das Verständnis von Paulus als unersetzbarem Heilsvermittler der Gemeinde zu nennen (z. B. H. WINDISCH, M. WOLTER, K. Y. LIM).108 Während sich ältere Forschungsbeiträge dafür auf Kol 1,24 berufen konnten, bedarf diese Interpretation in der gegenwärtigen Exegese zumindest einer Begründung. Das verbindet sich mit der genannten Schwierigkeit des Verständnisses der ersten Person Plural bei Paulus. Viele Untersuchungen, die das paulinische Leiden als heilsvermittelnd interpretieren, reduzieren die Bedeutung auf die Person des Paulus. Auch diese vereinfachende Interpretation ist kritisch zu hinterfragen. Zweitens gerät durch die Konzentration auf die Rolle des Apostels die Frage nach dem Leiden der Gemeinde teilweise aus dem Blick: Oft wird nur das apostolische Leiden in den Blick genommen (z. B. J. SCHNEIDER, H. WINDISCH) oder die Gemeinde lediglich als Objekt der apostolischen Verkündigung untersucht (z. B. E. GÜTTGEMANNS, K. Y. LIM). Drittens wird durch die generalisierende Rede von ‚dem Leiden‘ kaum untersucht, ob und inwieweit Paulus von verschiedenen Arten von Leiden schreibt. Differenzierungen reichen bisher kaum weiter als bis zu einer Unterscheidung von Verfolgung und Krankheit (z. B. H. WINDISCH, M. WOLTER) oder einer konkordanzartigen Auflistung der von Paulus beschriebenen Leiden (z. B. A. SCHWEITZER). Daher ist bisher nicht geklärt, ob Paulus bei seinem Umgang mit Leiden differenziert, je nachdem, ob er selbst oder die Gemeinden betroffen sind bzw. um welche Art von Leiden es sich jeweils handelt. Für die Untersuchung sind also geeignete Kriterien zur differenzierten Untersuchung des Leidens zu entwickeln. Viertens ist die Frage zu klären, ob die paulinische Leidinterpretation einem einzigen oder mehreren Modellen folgt. Als ein wichtiges mögliches Modell wird in der Forschungsgeschichte oft die Parallelität zwischen Christus und Leidenden genannt. Jedoch ist bisher noch nicht überzeugend gezeigt worden, worauf diese Parallelität beruht und wie sie begründet werden kann. Bisher hat auch kein Forschungsbeitrag ein anderes überzeugendes einheitliches Modell aufzeigen können. Das kann ein Indiz dafür sein, dass ein einziges Modell nicht ausreichend sein könnte, um die paulinische Leidensdeutung in den verschiedenen Texten zu beschreiben (so B. D. SMITH).

108

Auch in Untersuchungen außerhalb der Leidensthematik bei Paulus wird die Heilsrelevanz des Apostels vertreten, z. B. von SCHRÖTER, Versöhner, 341: Paulus sei in einer „exklusiven Position, ist ‚Medium Gottes‘ geworden, Mittler der Versöhnung zwischen Gott und den Menschen, größer noch, als es einst Mose im Alten Bund gewesen war.“

40

Teil I: Voraussetzungen der Arbeit

1.6.2

Fragestellung der Untersuchung

Aus den genannten methodischen und inhaltlichen Forschungsdesiderata lassen sich für meine Untersuchung zusammenfassend folgende Leitfragen festhalten: 1. Welcher Art ist das Leiden, das Paulus an unterschiedlichen Stellen des 2. Korintherbriefs thematisiert? 2. Welche Deutungen des Leidens führt Paulus an, die er aus verschiedenen Traditionshintergründen aufnimmt oder selbst entwickelt? 3. Sind im 2. Korintherbrief ein Modell oder mehrere Modelle nachzuweisen, die der paulinischen Leidbeschreibung und -deutung zugrunde liegen? 4. Unterscheiden sich die paulinischen Leidensdeutungen im Hinblick darauf, welcher Art das jeweils thematisierte Leiden ist oder wer jeweils vom Leiden betroffen ist? 5. Lässt sich eine Höherwertung des paulinischen Leidens gegenüber dem der Gemeinde feststellen?

1.6.3

Vorgehensweise

Aufgrund der genannten Forschungsdesiderata und der genannten Fragestellung werde ich in meiner Untersuchung folgendermaßen vorgehen: 1. Zu Beginn sind nach der Forschungsgeschichtliche weitere Voraussetzungen der Arbeit zu klären. Die Darstellung des Verständnisses von Leiden sowie von möglichen Differenzierungen und Umgangsweisen damit wird unter Einbezug gegenwärtiger dogmatischer und religionsphilosophischer Einsichten geschehen. Daran schließt sich eine hermeneutische Reflexion der entwickelten Methodik an, um die Frage zu klären, wie sich das dargestellte Leidverständnis auf die paulinischen Texte beziehen lässt. 2. Die zu untersuchenden Stellen im 2. Korintherbrief müssen der Fragestellung entsprechend nach überzeugenden Kriterien transparent ausgewählt werden. Eine Auswahl anhand der Gattung bzw. des Stils der Peristasenkataloge würde dabei zu kurz greifen. Denn einerseits wäre z. B. mit 2Kor 1,3– 11 bereits ein in der bisherigen Forschung relevanter Text nicht einbezogen. Andererseits ist der Peristasenkatalog eine in der Antike verbreitete Form, die den Inhalt der Leidensaussagen entscheidend mitprägt.109 109

Vgl. den Exkurs zu Peristasenkatalogen unter § 8.2, der auch die gute Forschungslage darstellt.

§ 1 Forschungsüberblick zur Leidensdeutung bei Paulus

41

Insofern ist es naheliegend, die zu behandelnden Stellen anhand von zentralen Begriffen für die Leidensthematik bei Paulus auszuwählen, wie das bereits J. KRUG in seiner Untersuchung tut. Im Griechischen gibt es allerdings kein eindeutiges Äquivalent zum deutschen Oberbegriff ‚Leiden‘ um die Auswahl der zu untersuchenden Stellen zu begründen.110 Vielmehr gebraucht Paulus eine Vielzahl verschiedener Begriffe zur Beschreibung von Leiden, die teils auf konkrete Situationen verweisen, wie z. B. δίψος (Durst), διωγμός (Verfolgung), λίμος (Hunger) oder πληγή (Schlag, Prügel), und teils relativ bedeutungsoffen sind, wie z. B. ἀνάγκη (Not), στενοχωρία (Notlage, Verzweiflung), ἀσθένεια (Schwachheit, Krankheit) oder θλῖψις (Bedrängnis).111 Für die Untersuchung eignen sich vornehmlich solche bedeutungsoffenen Begriffe, da diese nicht auf eine spezielle Situation und Form von Leiden beschränkt sind. Im kanonischen 2. Korintherbrief kommen demnach die beiden Begriffe θλῖψις κτλ. und ἀσθένεια κτλ. infrage, die dort etwa gleich oft und nie gemeinsam vorkommen: Während θλῖψις κτλ. 12mal ausschließlich in 2Kor 1– 8 belegt ist, kommt ἀσθένεια κτλ. 14mal in 2Kor 10–13 vor.112 Ἀσθένεια κτλ. ist bereits Gegenstand einiger Forschungsbeiträge, auf die meine Untersuchung zurückgreifen kann.113 Eine Untersuchung der Leidensthematik bei Paulus anhand des Begriffs θλῖψις κτλ. steht jedoch bisher noch aus.114 Dessen Bedeutung und Vorkommen wird daher zuerst in einem begriffsgeschichtlichen Überblick dargestellt. Er soll als Indikator zur Textauswahl der Einzelexegesen dienen, um das durch ihn und in seinem Kontext thematisierte Leiden zu analysieren. 3. Vor den exegetischen Untersuchungen erfolgt eine Darstellung der relevanten Einleitungs- und Hintergrundfragen zum 2. Korintherbrief. Dabei wird die korinthische Gemeinde in ihrem sozialgeschichtlichen Kontext verortet, da sie den konkreten Hintergrund für die paulinischen Aussagen zum 110

111

112

113 114

Die Einschätzung von HECKEL, Kraft, 33 u. 223–225, demzufolge die Wortfamilie ἀσθένεια κτλ. für Paulus die Funktion eines solchen Oberbegriffs haben kann, ist zumindest kritisch zu hinterfragen. Allerdings gebraucht Paulus auch manche in der Antike zur Leidensthematisierung häufig verwendete Begriffe nicht, wie z. B. συμφόρα (Unglück, Unfall, Übel) oder τύχη (Glück, Unglück). Der Begriff λύπη κτλ. (Schmerz, Traurigkeit) kommt im 2. Korintherbrief mit 18 Belegen ebenfalls auffallend häufig vor und ist stark auf die Abschnitte 2Kor 2,1ff und 7,5ff konzentriert, in denen auch θλῖψις κτλ. genannt wird. Insofern wird der Begriff im Rahmen der Untersuchung mit thematisiert, ist jedoch nicht Hauptgegenstand der Untersuchung. Denn als einer der sieben Affekte aus der antiken Affektenlehre ist er in seinem Bedeutungsspektrum vorgeprägt und weniger offen als ἀσθένεια und θλῖψις κτλ. Vgl. § 4.5.2. Vgl. § 1.5. Neben einschlägigen Lexikonartikeln ist die Monographie von GRAF, Leiden die einzige Ausnahme. Diese bietet eine Zusammenfassung der entsprechenden Artikel. Ihr Fokus liegt auf der soziologischen Untersuchung der Bedrängnisse der gegenwärtigen indischen Nethanja-Kirche.

42

Teil I: Voraussetzungen der Arbeit

Leiden bildet. Außerdem werden Hypothesen zur Entstehung des kanonischen Briefes sowie zu seiner Verortung innerhalb der ereignisreichen Geschichte des Apostels mit der Gemeinde thematisiert. Daran schließt sich die Frage nach der Bedeutung der paulinischen Plural-Verwendung an. 4. Im ersten exegetischen Teil erfolgt die Untersuchung von 2Kor 1–8 anhand des θλῖψις-Begriffs nach einem wiederkehrenden methodischen Schema. Zuerst wird der jeweilige Text in seinem Kontext verortet. Dann erfolgt die Analyse des jeweils thematisierten Leidens und schließlich werden die von Paulus verwendeten Strategien zur Leidbewältigung aus dem konkreten Text erarbeitet. Dabei werden der jeweilige traditionsgeschichtliche Hintergrund sowie mögliche weitere Textbezüge dargestellt. 5. Im zweiten, deutlich knapperen exegetischen Teil der Arbeit wird ein Ausblick auf die Leidensthematisierungen in 2Kor 10–13 gegeben. Dieser wird anhand des bereits erwähnten ἀσθένεια-Begriffs kurz die relevanten Texte in den Blick nehmen, um sie schwerpunktartig in die Untersuchung des Leidens mit einzubeziehen. 6. Im Auswertungsteil wird zunächst die Herangehensweise reflektiert, die Leidensinterpretation bei Paulus exegetisch von zwei Seiten her anhand eines religionsphilosophisch reflektierten Leidensverständnisses und eines begriffsgeschichtlichen Zugangs zu untersuchen. Die weitere Auswertung erfolgt anhand der genannten Leitfragen.

§2 Vorbemerkungen zum Verständnis des Leidensbegriffs § 2 Vorbemerkungen zum Verständnis des Leidensbegriffs Vor der Untersuchung der paulinischen Texte werde ich zunächst klären, wie der Leidensbegriff unter Berücksichtigung seiner konkreten Phänomene1 gefüllt werden kann. Im ersten Schritt werden dazu nach einer kurzen Skizze über die Behandlung des Leidensthemas in der Dogmatik ausgewählte Forschungspositionen dargestellt. Im zweiten Schritt ist zu klären, wie der Umgang mit dem Leiden differenziert betrachtet werden kann und was unter Strategien zur Leidbewältigung zu verstehen ist. Zum Schluss werden mögliche Kategorisierungen von Leiden dargestellt, die einen Teil des Analyserasters bei den Einzelexegesen bilden werden.

2.1 2.1.1

Grundlegendes Verständnis von Leiden Leiden in der Dogmatik: Das Theodizeeproblem

Im systematisch-theologischen Diskurs wird das Thema ‚Leiden‘ in verschiedenen dogmatischen Loci behandelt: in der Gotteslehre als möglicher Widerspruch zur göttlichen Eigenschaft der Allmacht,2 in der Schöpfungslehre als möglicher Widerspruch zur guten Schöpfung,3 in der Anthropologie bzw. Harmatiologie,4 in der Christologie,5 in der Soteriologie oder in der Eschatologie aus der Perspektive seiner Überwindung.6 Dabei fällt auf, dass das Leiden in den verschiedenen Themenfeldern meistens im Zusammenhang des Theodizeeproblems verhandelt wird. Dieses ist folgendermaßen knapp zu beschreiben: Es wird a) das Leiden als Widerspruch zur b) Allmacht, c) Güte und d) Verstehbarkeit Gottes wahrgenommen und damit als Zweifel an Gott oder einer der Eigenschaften verstanden.7 So formuliert bereits Epikur (4./3.

1

2 3 4 5 6 7

Diese phänomenbezogene Reflexion des Leidens ist nicht mit der Methode der Phänomenologie zu verwechseln, wie sie von E. Husserl formuliert und im Anschluss an ihn ausdifferenziert wurde. Vgl. JOEST, Dogmatik I, 180–185. Vgl. HÄRLE, Dogmatik, 439–455 und PANNENBERG, Theologie II, 188–201. Vgl. TILLICH, Theologie II, 80–82. Vgl. BARTH, Grundriß, 119–126. Vgl. PANNENBERG, Theologie III, 679–684. Von diesen vier Konstituenten des Theodizeeproblems sprechen auch BAUKE-RUEGG, Allmacht, 39f; FELDMEIER, Theodizee, 25f und JONAS, Gottesbegriff, 36–40. Vgl. für einen Überblick über die

44

Teil I: Voraussetzungen der Arbeit

Jh. v. Chr.) seine Anfrage an Gott.8 In der christlichen Tradition wird das Problem zwar z. B. von Augustin, Thomas von Aquin sowie M. Luther behandelt. Aber erst der Philosoph G. W. LEIBNIZ (1710) entwickelt den Terminus ‚Theodizee‘ aus den griechischen Begriffen θεός und δίκη. Damit verdeutlicht er, dass es Gottes Gerechtigkeit ist, die gegen Kritik verteidigt werden soll. Seine metaphysische Lösung des Problems, nach der Gott unter Berücksichtigung aller logisch möglichen Welten die existierende als die beste aller möglichen Welten geschaffen habe, wirkt bis in heutige Forschungsbeiträge zum Thema nach.9 Lösungsversuche für das Theodizeeproblem setzen jeweils bei einer der drei relevanten Gotteseigenschaften oder am Leiden selbst an. Sie thematisieren das Leiden jedoch nicht in Bezug auf seine Bedeutung für die jeweils Leidenden, sondern als theologisch-philosophisches Problem bzw. als logischen Widerspruch der Wirklichkeitserfahrung zum monotheistischen Gottesglauben.10 Dabei wird die Möglichkeit des Leidens z. B. als Bedingung für die Existenz der größeren Güter des freien Willens (Free-Will Defense) oder der charakterlichen Reifung (Soul-Making-Theodicy) gedeutet.11 Da es hier um die Reflexion des entsprechenden Gottesverständnisses anhand des Leidens als Problem der Vernunft geht, wird bereits eine grundsätzliche Distanz und Abstraktion vom konkreten Leiden vorausgesetzt.12 Für einen Zugang zum Leiden anhand der paulinischen Einzeltexte, der die konkrete Erfahrung des Leidens und dessen Bedeutung berücksichtigen möchte, ist jedoch zunächst eine phänomenbezogene Betrachtung weiterführend.

8

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Bearbeitung des Theodizeeproblems z. B. HERMANNI, Böse; KREINER, Gott; AMMICHT QUINN, Lissabon sowie SPARN, Leiden. Vgl. Epikur, Fr. 65 bzw. dessen lateinische Überlieferung bei Laktanz, De ira dei, 13,20f: „Entweder will Gott die Übel [mala] aufheben und kann nicht oder er kann und will nicht oder er will nicht und kann nicht oder er will und kann. Wenn er will und nicht kann, ist er schwach und das trifft für Gott nicht zu. Wenn er kann und nicht will, ist er neidisch, und das ist ebenso unvereinbar mit Gott. Wenn er nicht will und nicht kann, ist er neidisch und schwach und dementsprechend auch kein Gott. Wenn er aber will und kann, wie das allein angemessen für Gott ist – wo kommen dann die Übel her und warum hebt er sie nicht auf?“ (Übersetzung von H. Kraft/A. Wlosok). Bei der Behandlung des Theodizeeproblems wird häufig darauf verwiesen, z. B. bei HÄRLE, Dogmatik, 446; DALFERTH, Malum, 41f und FELDMEIER, Theodizee, 24f. Vgl. LEIBNIZ, Essais, § 7f und HERMANNI, Böse, 266–291 der wiederholt von einer „unübertrefflich guten Welt“ spricht. Daher wird bei der Behandlung des Theodizeeproblems in differenzierten Forschungsbeiträgen etwa zwischen seiner logischen und seiner empirischen Seite unterschieden, wie z. B. bei HERMANNI, Böse, 261–265 u.ö. sowie ähnlich bei STOSCH, Theodizee, 112f. Vgl. für einen Überblick z. B. HÄRLE, Dogmatik, 446ff. Prominente Vertreter der Free-Will-Defense sind z. B. SWINBURNE, Existence, 222–224 u.ö. und KREINER, Gott, 207–319. Vgl. für eine Kritik HERMANNI, Böse, 292–314. Hauptvertreter der Soul-Making-Theodicy ist HICK, Evil, 253– 261. Vgl. DALFERTH, Malum, 38–41; FELDMEIER, Theodizee, 27; MARQUARD, Entlastungen, 14f. Einige Exegeten vertreten, dass Paulus das Theodizeeproblem nicht nur nicht kenne, sondern dass es sich ihm nicht stelle, vgl. BULTMANN, Theologie, 350; DERS. Brief, 31; HOLMÉN, Motifs, 646f. Beide begründen das mit der eschatologischen Weltdeutung des Paulus.

§ 2 Vorbemerkungen zum Verständnis des Leidensbegriffs

2.1.2

45

Phänomenbezogene Betrachtung des Leidens

1. A. SCHOPENHAUER begreift mehr als ein Jahrhundert nach den TheodizeeAufsätzen von G. W. LEIBNIZ das Leben als ein andauerndes Leiden, in dem das Unglück die Regel und das Glück die Ausnahme ist.13 Da das Leben insgesamt keinen zielgerichteten Sinn und auch keinen „Selbstzweck“14 habe, ist für ihn auch das Leiden sinn- und zwecklos und damit „das Zweckwidrigste auf der Welt.“15 Diese zuerst von A SCHOPENHAUER formulierte Bestimmung des Leidens als sinn- und zwecklos ist eine weithin akzeptierte Basis im Leidensdiskurs.16 Eine weitere Einsicht zum Leiden ist bei ihm ebenfalls bereits angelegt: Die phänomenbezogene Betrachtung des Leidens geht vom Subjekt aus und bleibt somit nicht abstrakt. Denn durch die Untersuchung des Leidens von Menschen und Tieren bestimmt er es als konkrete Erfahrung für jemanden. Für A. SCHOPENHAUER zeigt sich das bei seiner Destruktion des LEIBNIZ’schen Arguments, wonach ein Leiden in der Welt durch andere Güter aufgewogen oder sogar übertroffen werde. Wer das vertrete, solle „die Empfindung des Thieres, welches ein anderes frißt, mit der dieses andern“17 vergleichen. Man könne eben nicht sagen, dass das Wohlgefühl des einen Tieres den Schmerz des anderen auf- oder überwiege. Die damit markierte Position, dass das Leiden einer Person auf deren subjektivem Erleben beruht und von außen nur in einer empirischen Distanz zu beschreiben ist, ist ebenfalls Konsens des Diskurses über Leiden.18 Denn ob jemand leidet, lässt sich nur von der betroffenen Person selbst feststellen und aussagen. Was dagegen Außenstehende für eine Leiderfahrung halten, muss aus der Perspektive von Betroffenen nicht unbedingt auch eine solche sein und umgekehrt.19 2. Nach A. SCHOPENHAUER ist die phänomenbezogene Untersuchung des Leidens weiterentwickelt worden. Die neusten für die hier verfolgte Fragestellung relevanten Forschungsbeiträge hat I. U. DALFERTH verfasst, weswegen die folgende Darstellung häufig darauf zurückgreift. Er ordnet die

13

14 15 16

17 18 19

SCHOPENHAUER, Parerga II, 271 und DERS., Welt I, 484 u.ö. Vgl. für den Hinweis auf die Relevanz SCHOPENHAUERs für die Leidbetrachtung EICHER, Art. Leiden, 470: SCHOPENHAUER habe „erstmals das Phänomen des Leidens selbst bestimmt: als zweckloses und sinnloses Erleiden.“ SCHOPENHAUER, Welt II, 670. DERS., Parerga II, 264. Vgl. für die Bestimmung des Leidens als sinnlos SPAEMANN, Sicht, 105; LÉVINAS, Leiden, 119 und BEMPORAD, Art. Suffering, 99. DALFERTH, Böses, 150 nennt es auch „widersinnig“. SCHOPENHAUER, Parerga II, 265. Vgl. DERS., Welt II, 670f. Vgl. EICHER, Art. Leiden, 469f. Vgl. DALFERTH, Böses, 95f und MENDT, Art. Leiden, 1298. GERSTENBERGER/SCHRAGE, Leiden, 9f. betonen, dass neben der Grunderfahrung der Subjektivität des Leidens die zweite Grunderfahrung zum Tragen kommen muss, dass Leiden immer eine soziale Dimension hat: Andere Menschen sind als „Verursacher, Zuschauer oder Freunde“ (10) beteiligt.

46

Teil I: Voraussetzungen der Arbeit

Leiderfahrung zunächst in eine vierteilige Betrachtung von allgemeinen Erfahrungen ein, um damit zu erläutern, warum Leiden nur subjektiv erlebt werden kann.20 Am Anfang steht dabei für I. U. DALFERTH erstens ein Ereignis. Erst dadurch, dass es jemanden betreffe, werde es für diese Person zweitens zum Widerfahrnis. Während das Ereignis objektiv beschrieben werden könne, sei für ein Widerfahrnis entscheidend, dass es aus der Ich-Perspektive einer konkreten Person drittens zu deren Erlebnis werde. Das Widerfahrnis sei also das, was eine Person betreffe, während deren Erleben des Widerfahrnisses bereits eine Deutung beinhalte und zeige, wie das Widerfahrnis sie betreffe. Aus dem Erlebnis werde schließlich viertens eine Erfahrung, indem das Widerfahrene, so wie es erlebt worden sei, in subjektiver Deutung kommunizierbar werde. Diese Differenzierung ist weiterführend für die Untersuchung der paulinischen Leidensdeutung. Daraus folgt, dass in den Briefen immer nur Leiderfahrungen zur Sprache kommen, also Äußerungen darüber, wie Paulus ein bestimmtes Widerfahrnis als Leid erlebt hat. Objektiv gültige Aussagen sind nicht nur wegen einer immer zugrundeliegenden situativ bedingten Abfassungsabsicht der Briefe unmöglich, sondern auch, weil Leiden subjektiv erlebt wird: Was Paulus als Leiden erlebt und als Leiderfahrung kommuniziert, muss nicht zwingend von seinen Gemeinden, Mitarbeitenden und Lesenden genauso eingeschätzt werden. Der Zugang zur Perspektive anderer Betroffener und auch zu den tatsächlichen Widerfahrnissen ist durch die briefliche Kommunikationsform nur mittelbar als Rekonstruktion aus den paulinischen Texten möglich. Diese Unterscheidung ermöglicht für den Umgang mit dem Leiden eine differenzierte Betrachtung, die unten noch weiter ausgeführt wird. 3. Zu den häufig vertretenen religionsphilosophischen Einsichten über das Leiden gehört weiterhin, dass dieses zunächst sprachlos macht angesichts seiner Sinnlosigkeit. Damit isoliert es Leidende von ihrer Umwelt, da das Leiden eine Person immer in Gänze einnimmt und sich nicht auf einen bestimmten Bereich innerhalb einer Person eingrenzen lässt.21 Dadurch beraubt es die Betroffenen ihrer selbstbestimmten Handlungsoptionen.22 Als solch sinnlose Erfahrung stellt es den Sinn- und Deutungshorizont in Frage: Bisherige Erklärungsmuster und Weltbilder von Leidenden greifen nicht mehr, was die Sprachlosigkeit und die Passivität des Erlebens erklärt.23 Daher 20 21

22 23

Vgl. für das Folgende DALFERTH, Böse, 4–8 und DERS., Umgang, 6f. Vgl. DERS., Leiden, 125f; SÖLLE, Leiden, 89; STANDOP, Art. Leiden, 785; BEMPORAD, Art. Suffering, 99; GERSTENBERGER/SCHRAGE, Leiden, 30 u. 46 und MENDT, Art. Leiden, 1298. Vgl. WALDENFELS, Leiden, 131f. Vgl. EICHER, Leiden, 451. Die Passivität des Leidens macht MICHAELIS, Art. πάσχω, 903 am griechischen Begriff πάσχω in seiner Grundbedeutung ‚erfahren‘ deutlich. Als Gegenbegriffe nennt er z. B. δράω (tun, verrichten), ἐνεργέω (sich betätigen, bewirken) und ποιέω (tun, machen). Kritisch zu einer passiven Auffassung des Leidens äußern sich WALDENFELS, Leiden, 130–132 und

§ 2 Vorbemerkungen zum Verständnis des Leidensbegriffs

47

provoziert es Fragen nach neuer Orientierung, Weltdeutung oder der eigenen Bestimmung.24

2.1.3

‚Leiden‘ im Verhältnis zum ‚Schmerz‘

In der Diskussion der Leidensphänomenologie ist es – bei terminologischen Unterschieden der jeweiligen Forschungsbeiträge – Konsens, dass Schmerzen und Leiden unterscheidbar und unterschiedlich zu behandeln sind. Denn nicht jeder Schmerz wird als Leiden erfahren. Der Unterschied zwischen beiden wird jedoch jeweils auf verschiedene Weise begründet.25 Für E. LÉVINAS liegt die Unterscheidung darin, dass zum von ihm als körperlich verstandenen Schmerz noch auf psychischer Ebene die Angst und Verzweiflung hinzutreten müssen, um ihn zum Leiden zu machen, das „als reines Phänomen, zutiefst ohne Nutzen, sinnlos sei“.26 Die Differenzierung hängt für ihn daran, dass das Leiden beide Erfahrungsebenen umfasst, der Schmerz jedoch nur die körperliche. Nach P. EICHER besteht der Unterschied im Ausmaß der Erfahrung. Er differenziert zwischen dem punktuellen Schmerz und dem „Leiden, das das ganze Dasein erschüttert“.27 Der punktuelle Schmerz wird demnach durch seine Potenzierung zum Leiden. Erst darauf und nicht schon auf den Schmerz treffe die oben bereits dargestellte Beschreibung als sinnlose Erfahrung zu, bei der die „bisherige Weltdeutung in Frage gestellt wird“.28 R. SPAEMANN begründet seine Differenzierung der beiden Phänomene funktional. Er spricht dem körperlichen Schmerz in der Natur einen positiven Wert zu und hebt ihn damit vom Leiden ab: Schmerz sei ein Warnsignal (z. B. bei Hunger oder Verletzungen) und stehe in einem „Funktionszusammenhang“.29 Das Negative des Schmerzes habe den Sinn, vor Schlimmerem zu warnen. Erst wenn Schmerz „eine Minderung des Lebens“ bewirke und damit sein Ausmaß jede Relation zur Signalwirkung sprenge, werde er zum Leiden, das mit dem Herausfallen „aus der Geborgenheit in Sinn- und Funktionszusammenhänge[n]“30 verbunden sei. Aus R. SPAEMANNs Ansatz ist für

24 25

26 27 28 29 30

DALFERTH, Leiden, 110. Beide sehen eine Nähe des Leidens eher zu reflexiven Verben, dem griechischen Modus des Mediums oder Verben wie ‚träumen‘, bei denen der Modus nicht eindeutig bestimmbar ist. Vgl. a. a. O., 130–141 u.ö. Vgl. a. a. O., 28f, mit Verweis auf HICK, Evil, 292–353. Er unterscheidet gleichzeitig auch zwischen Leiden und Leiden, in dem Böses erfahren wird. LÉVINAS, Leiden, 119. EICHER, Leiden, 452. Ebd. SPAEMANN, Sicht, 105. SPAEMANN, Sicht, 106.

48

Teil I: Voraussetzungen der Arbeit

die Untersuchung von Leiden bei Paulus festzuhalten, dass er die Subjektivität der Leiderfahrung ernst nimmt: Mit dem Leidensbegriff sind für ihn nicht nur Katastrophen wie das in der Theodizee-Debatte häufig zitierte ‚Auschwitz‘, tödliche Krankheiten oder Naturkatastrophen verbunden. Vielmehr umfasse er auch ganz persönliche und fast alltägliche Erfahrungen von Schmerz, „der das Leben an seiner Entfaltung hindert, der Grüne Star, der den Maler befällt, oder die Arthrose, die den Organisten lähmt“31 sowie die Erfahrung einer unglücklichen Liebe. Anhand der genannten Forschungsbeiträge ist grundsätzlich festzuhalten, dass die Unterscheidung der beiden Phänomene Schmerz und Leid möglich und weiterführend ist. Die konkrete Differenzierung weicht jedoch in den einzelnen Positionen voneinander ab. Allerdings hat sich eine Übereinstimmung in Bezug auf die Rolle des subjektiven Erlebens gezeigt: Schmerz wird erst dann als Leiden bezeichnet, wenn er als zwecklos und sinnwidrig erlebt wird. Das kann an einem leicht abgewandelten Beispiel I. U. DALFERTHs verdeutlicht werden:32 Wenn jemand während eines freiwilligen Fastens hungert, versteht er oder sie das nicht als Leiderfahrung, sondern verfolgt durch das Hungern ein Ziel und gibt ihm so einen Sinn. Jemand, der oder die in einer Hungersnot nichts zu essen hat, leidet jedoch unter dem Hunger. Beide Personen erleben also die gleichen Schmerzen, machen darin aber eine je unterschiedliche Erfahrung. Daran wird auch in Bezug auf den Schmerz noch einmal deutlich, dass es wichtig ist zwischen einem Widerfahrnis und dessen individueller Beurteilung zu unterscheiden.33

2.2

Differenzierungen der Leidbetrachtung

Zur Untersuchung des Leidens ist eine differenzierende Betrachtung aufschlussreich. Denn möglicherweise ist die Wahl der Umgangsweisen mit dem Leiden abhängig von bestimmten Charakteristika, die durch dessen differenzierte Betrachtung erkennbar werden. Im Folgenden werden daher zwei Differenzierungen dargestellt, die zunächst den Wirkungsort des Leidens und seine Ursache betreffen. Daraus ergeben sich die Untersuchungsschritte der Leidanalyse für die Einzelexegesen.

31 32 33

Ebd. Vgl. SÖLLE, Leiden, 89. Vgl. DALFERTH, Leiden, 30f. Vgl. a. a. O., 28.

§ 2 Vorbemerkungen zum Verständnis des Leidensbegriffs

2.2.1

49

Anthropologische Verortung der Leiderfahrungen

Leiderfahrungen können zunächst dahingehend differenziert werden, ob sie eine Person zuerst auf sozial-psychischer oder auf somatisch-physischer Ebene treffen.34 Wie bereits dargestellt, ist zwar immer die ganze Person involviert. Dennoch kann sinnvoll nach dem Einwirkungsort des leidverursachenden Widerfahrnisses gefragt werden, von dem aus es auf den ganzen Menschen übergreift. Denn einerseits können Leiderfahrungen eine Person auf der somatischen Ebene als physische Widerfahrnisse treffen, z. B. als Misshandlungen, Gefangenschaft, Schiffbruch oder Krankheiten. Andererseits kann einer Person auf sozial-psychischer Ebene Leiden widerfahren, ohne dass sie dabei zunächst körperlichen Schaden erleidet.35 Das kann wiederum auf zwei Weisen geschehen. Erstens durch solche Widerfahrnisse, die von einer Person in Bezug auf sich selbst als Leiden erfahren werden. Darunter fallen beispielsweise Drohungen, Beleidigungen, Streit oder der Ausschluss aus einer Gemeinschaft.36 Zweitens geschieht das durch Mitleiden mit dem Leiden anderer und durch die Sorge um sie. Das Mitleiden kann dazu führen, dass eine Person sich die Leiderfahrung einer anderen zu Eigen macht.37 Dabei ist jedoch einem Missverständnis vorzubeugen: Eine mitleidende Person macht nicht dieselbe Leiderfahrung wie die zuerst leidende Person. Denn da Leiden subjektiv erfahren wird, ist das Mitleiden als gesonderte Leiderfahrung zu verstehen.38

34

35

36

37 38

Vgl. MENDT, Art. Leiden, 1298, der in der Konsequenz aber keinen ganzheitlichen Leidensbegriff vertritt. Dagegen gehen schon GERSTENBERGER/SCHRAGE, Leiden, 131f von „primär“ physischen oder psychischen Leiden aus und bleiben dennoch bei einem ganzheitlichen Leidensbegriff. Der Sache nach ist diese Differenzierung beispielsweise bereits in den beiden Phasen von Hiobs Leiden zu erkennen: Während Hiob in Hi 1,13–22 auf der sozial-psychischen Ebene durch die sprichwörtlich gewordenen ‚Hiobs-Botschaften‘ getroffen wird, trifft ihn das Leiden in 2,7 zusätzlich auf der somatisch-physischen Ebene. Beides ist Leiden. Dauert eine psychisch verursachte Leiderfahrung an, kann sich das sekundär auch auf den Leib auswirken. Das ist jedoch die physische Auswirkung einer auf der psychischen Ebene beginnenden Leiderfahrung. Den sozialen Aspekt einer Leiderfahrung betont v. a. SÖLLE, Leiden, 21–25. In diese Rubrik fällt nicht die Strafe durch eine rechtsprechende Instanz. Denn diese zielt (auch) auf eine körperliche Einschränkung einer Person. Vgl. LÉVINAS, Leiden, 121. Diese Differenzierung ist in den Evangelien ausgedrückt, wenn jemand stellvertretend für andere um Heilung bittet (vgl. Mk 7,24–30; 9,14–27parr). Die Bittenden sind primär auf psychisch-sozialer Ebene als Mitleidende, die Kranken primär auf somatisch-physischer Ebene betroffen. Das auf psychisch-sozialer Ebene verursachte Leiden der syrophönizischen Frau hat dabei die beiden Facetten der Ausgrenzung wegen ihrer Ethnizität und des Mit-Leidens mit ihrer Tochter.

50

Teil I: Voraussetzungen der Arbeit

2.2.2

Ursache der Leiderfahrung

Die wohl bekannteste Differenzierung der Ursachen von Leiderfahrungen stammt von G. W. LEIBNIZ. Sie wird im Folgenden zunächst dargestellt, um dann zu reflektieren, wie sie in kritisch weitergeführter Form für die hier verfolgte Fragestellung fruchtbar gemacht werden kann.

2.2.2.1

Problematisierung von malum morale, malum physicum und malum metaphysicum

G. W. LEIBNIZ rekurriert in seinen „Essais de Théodicée“ nicht direkt auf Leiden, sondern auf Übel (frz. ‚mal‘) als Ursache des Leidens.39 Er unterscheidet drei Arten von Übeln: erstens das malum physicum („Leiden“), zweitens das malum morale („Sünde“) und drittens das malum metaphysicum („bloße Unvollkommenheit“40 der Geschöpfe). Der Ursprung der beiden ersten Übel liege dabei im dritten begründet, also in der Unvollkommenheit der Geschöpfe, da Gott bei deren Erschaffung an „ewige Wahrheiten“41 gebunden gewesen sei. Genauer gesagt: Um optimal, aber vom Schöpfer unterschieden zu sein, ist es G. W. LEIBNIZ zufolge notwendig, dass das Geschöpf im Gegensatz zu Gott unvollkommen sei. I. U. DALFERTH hat die LEIBNIZ’sche Terminologie untersucht und gezeigt, dass sie an manchen Stellen problematisch ist.42 Abgesehen davon, dass in dessen Theodizee-Modell die Übel notwendig sind und eine Beendung von Leiden nicht vorgesehen ist, erscheint besonders seine Kategorie des malum morale fragwürdig. Die Gleichsetzung von moralischem Übel mit Sünde widerspricht einerseits der Erkenntnis, dass nicht nur absichtliche böse Taten Leiden verursachen. Andererseits wird damit der Sündenbegriff auf menschliche Handlungen beschränkt und so verkürzt.43 Gerade der paulinische Ansatz, Sünde z. B. in Röm 7,18–20 auch als verhängnisvolle Macht zu beschreiben, ist darin nicht abgebildet. Es ist daher in Bezug auf Leiderfahrungen angemessener, nicht anhand der LEIBNIZ‘schen Kategorien zu differenzieren, sondern zwischen leidverursachenden Handlungen und Ereignissen zu unterscheiden. 39 40 41 42

43

Der französische Begriff „mal“ kann auch mit „böse“ übersetzt werden. LEIBNIZ, Essais, § 21, 240–243 (Übers. H. Herring). A. a. O., § 20, 240f (Übers. H. Herring). Vgl. DALFERTH, Malum, 166–213 (= DERS., Übel, 117–169) für eine Darstellung und Kritik der LEIBNIZ’schen Theodizee. Vgl. für diese und weitere Kritikpunkte an der LEIBNIZ’schen Theodizee a. a. O., 205–213. Während malum physicum und morale in Ereignis und Handlung ihre Neubestimmung finden, bietet diese Unterscheidung keine Fortführung des malum metaphysicum.

§ 2 Vorbemerkungen zum Verständnis des Leidensbegriffs

2.2.2.2

51

Handlungen und Ereignisse

Eine Unterscheidung zwischen Handlungen und Ereignissen ist für Widerfahrnisse jeglicher Art bereits in verschiedenen Forschungsbeiträgen getroffen worden.44 Im Folgenden halte ich mich an die neueste Darstellung der Differenzierung bei I. U. DALFERTH.45 Handlungen haben ihm zufolge eine Person als verantwortliche Urheberin. Daher könne bei einem durch Handlungen verursachten Widerfahrnis sinnvollerweise nach dieser und ihren Motiven gefragt werden.46 Das bedeute jedoch nicht, dass eine Person nur absichtsvoll einer anderen eine Leiderfahrung zufügen könne. Denn die Auswirkungen einer Handlung liegen laut I. U. DALFERTH außerhalb des Verfügungsbereichs der handelnden Person: Auch Handlungen, die gut gemeint seien, könnten eine Leiderfahrung zur Folge haben. Ereignisse haben dagegen keinen konkret fassbaren Urheber. Sie könnten aber Ursachen haben, die allerdings nicht unbedingt immer zu ermitteln seien, wie z. B. bei einem Erdbeben. In keinem Fall seien bei Ereignissen Absichten von Personen ausfindig zu machen.47 Teilweise sind Handlung und Ereignis nur schwer zu unterscheiden oder greifen ineinander.48

2.2.3

Schritte der Leidanalyse

Bei der Analyse der Leiderfahrung werde ich in den Einzelexegesen von der phänomenbezogenen Betrachtung des Leidens in vier Schritten ausgehen, die bei der Seite der Betroffenen ansetzen und dann auf die Ursachenseite wechseln. Diese Differenzierungen werden als heuristische Methodik verwendet 44

45 46 47

48

Bereits BULTMANN, Problem, 231f unterscheidet zwischen „Handeln des Menschen“ und „Naturereignissen“, die er dem Handeln Gottes gegenüberstellt. Vgl. WALDENFELS, Leiden, 134, der unterscheidet, ob jemand für das Leiden verantwortlich gemacht werden kann oder nicht. Vgl. für das Folgende DALFERTH, Leiden, 103–109 und DERS., Umgang, 8–10. Vgl. auch MEIXNER, Art. Handlungstheorie, 1427. Die Unterscheidung von Leiden aus Handlung und Ereignis ist auch in antiken Texten zu finden. Z. B. in Lk 13,1–5 steht handlungsbasiertes Leiden durch die Anordnung des Pilatus und deren Ausführung durch römische Soldaten bei bewaffneten Einsatz dem Ereignis des eingestürzten Turms in Siloa gegenüber. Für Letzteres ist kein Urheber benennbar. Die Ursachen sind hier klar unterschieden, wobei beide zur Frage nach dem Sinn der jeweiligen Leiderfahrung führen. Vgl. für eine solche Unterscheidung auch Epiktet, Diss. 3,8; 3,13 sowie die Ausführungen dazu in § 4.1.3 der Begriffsgeschichte. Insbesondere durch Ereignisse verursachtes Leiden führt zu einer Erklärungsnot in der Antike, weshalb häufig auf Gott bzw. Zwischenwesen als Urheber verwiesen wird. Damit sind diese auch verantwortlich für Heilung. Vgl. im Profangriechischen z. B. Homer, Il. 1,1–479; Plutarch, Quaest. conv. 663c und für ironische Kritik daran Lukian, Philops. 19. Vgl. im AT z. B. Ex 15,26; Hi 1f; Ψ 103,3; Sir 38,1–15; PsSal 7,4 und im NT z. B. Mk 5,1–5; 9,17f uvm. So z. B. im Fall der tausenden im Mittelmeer ertrunkenen Menschen, die im Jahr 2015 aus ihren Heimatländern fliehen mussten. Das Leiden dieser Menschen ist einerseits auf das Ereignis von Seegang und Unwettern zurückzuführen, andererseits auf fahrlässige Handlungen von Schleusern sowie auf unterlassene Hilfeleistung in Form fehlenden politischen Willens.

52

Teil I: Voraussetzungen der Arbeit

und dienen einer genaueren Betrachtung des Leidens bei Paulus und seines Umgangs damit. Daran wird sich einerseits zeigen, ob Paulus bestimmte Arten von Leiden häufiger verhandelt als andere. Andererseits wird sich so erweisen, ob sich für die Auswahl der paulinischen Umgangsweisen mit dem Leiden ein Unterschied ergibt, je nachdem, wie sich das konkrete Leiden anhand der vier Analyseschritte darstellt. Wo sich Stellen der Zuordnung entziehen, wird dies jeweils deutlich gemacht, um die Texte nicht in eine ihnen widerstrebende Methodik hineinzuzwingen. Erstens wird jeweils die Frage geklärt, wer in einem konkreten Text die vom geschilderten Leiden Betroffenen sind. Zweitens wird die Ebene der primären Einwirkung des leidverursachenden Widerfahrnisses analysiert: Trifft es die Leidenden zuerst auf der sozial-psychischen oder der somatisch-physischen Ebene? Im dritten Schritt wird nach der Kategorie der Leidursachen gefragt, ob sich das Leiden als verursacht durch Ereignisse oder Handlungen beschreiben lässt. Im Falle von leidverursachenden Handlungen werde ich viertens danach fragen, ob Verantwortliche für das Leiden anhand des Textes bestimmbar sind. Dabei werde ich unterscheiden, ob eine Verortung der Leidverantwortlichen entweder innerhalb des Beziehungsraums von Apostel, Apostel-Gruppe und Gemeinde oder außerhalb davon erkennbar ist.

2.3

Möglichkeiten zum Umgang mit Leiden

Im Folgenden möchte ich anhand von Einsichten aus den Überlegungen von E. LÉVINAS und I. U. DALFERTH zeigen, was ich unter Leidbewältigung und Strategien dazu verstehe. Das wird in Bezug zu anderen Möglichkeiten des Umgangs mit Leiden gesetzt.

2.3.1

Leidbewältigung

Für E. LÉVINAS ist das Leiden – wie oben erwähnt – an sich sinnlos, sodass es im Grunde keine Strategien zu seiner Bewältigung geben kann.49 Er unterscheidet jedoch zwischen dem „Leiden im Anderen, wo es für mich unverzeihlich ist, mich wachrüttelt und aufruft, und dem Leiden in mir“.50 Dieses ‚Leiden in mir‘ kann nur dann einen Sinn erhalten, wenn es zum Leiden wegen der anderen, also zum Mitleid wird. Die Suche nach einem Sinn des Leidens verortet er im Theodizee-Diskurs, in dem das Leiden durch metaphysi49 50

Vgl. LÉVINAS, Leiden, 119, aber auch schon der Titel seines Aufsatzes: „Das sinnlose Leiden“. A. a. O., 121, Hervorhebung im Original.

§ 2 Vorbemerkungen zum Verständnis des Leidensbegriffs

53

sche Zweckbestimmung als sinnvoller Schmerz verständlich gemacht werden solle.51 Anhand der brutalen Ereignisse des 20. Jahrhundert habe sich jedoch gezeigt, dass jede „Rechtfertigung des Schmerzes des Anderen mit Bestimmtheit der Ursprung aller Unmoral“52 sei. Daher ist die Theodizee für E. LÉVINAS gescheitert. Daraus zieht er die Konsequenz, dass ein Sinn des Leidens nur in der je eigenen Person gefunden werden könne und zwar genau dann, wenn es sich anderen gegenüber als Mitleid und ethisches Verantwortungsgefühl äußere.53 Aus diesen Einsichten ist festzuhalten, dass die Bewältigung von Leiden nicht gegen dessen Vermeidung oder Beendung ausgespielt werden kann: Leidbewältigung wird E. LÉVINAS zufolge zynisch und zur Rechtfertigung eines bestehenden Zustands oder Gottesbildes instrumentalisiert, wenn ihr nicht der Versuch vorangeht, das Leiden zu vermeiden oder zu beenden. Jedoch ist auch kritisch zu bemerken, dass nicht alles Leiden durch entsprechendes moralisches Verhalten beendet werden kann. Dieses Problem wird in der Position von I. U. DALFERTH aufgenommen, der für Leiderfahrungen zwischen zwei Klärungsebenen unterscheidet:54 Zuerst werde angesichts von Leiden nach Erklärungen und Ursachen gefragt. Möglicherweise könne eine Leiderfahrung durch Beendung ihrer Ursachen ebenfalls beendet werden. Damit sei jedoch noch nicht alles zur Leiderfahrung gesagt. Für den Umgang damit sei die zweite Ebene entscheidend: Die Frage ‚Warum trifft gerade mich das Leiden?‘ sei eine Orientierungsfrage. Sie suche nach Sinn und Orientierung und damit nach einer Bewältigungsstrategie für das Leiden.55 Diese Leidbewältigung ziele I. U. DALFERTH zufolge darauf, dem Leiden seinen leidvollen Charakter zu nehmen: Schreibe man dem Leiden als notwendige Bedingung die Sinnlosigkeit zu, dann könne es dadurch beendet werden, dass es in einen neuen Sinn- und Deutungshorizont gestellt werde.56 Dabei bleibe das schmerzvolle und leidverursachende Widerfahrnis zwar bestehen, werde aber nicht mehr als Leiden im oben be-

51 52 53 54 55 56

Vgl. a. a. O., 122f. LÉVINAS, Leiden, 126. Vgl. a. a. O., 127f. Vgl. DALFERTH, Umgang, 8. Vgl. DERS., Leiden, 176–180. Hier gibt es Berührungspunkte mit der sozialpsychologischen Anschauung von Leiden, wie sie G. THEIßEN für die Exegese fruchtbar gemacht hat. Leiden kann nach THEIßEN, Aspekte, 41 und DERS., Erleben, 265ff beschrieben werden als „kognitive Dissonanz“, also als Spannung zwischen dem im Rahmen des eigenen (religiösen) Deutungshorizonts erwarteten Wohlergehen und einem damit nicht zu vereinbarenden tatsächlichen Ergehen. Die Bewältigung dieser Spannung geschehe dadurch, dass „alle dissonanten Elemente zurückgedrängt“ (41f) werden. Das nennt DERS., Bibel, 200 „kognitive Umstrukturierung“. Vgl. WOLTER, Apostel, 536, der Leiden als „Differenzerfahrungen“ bezeichnet.

54

Teil I: Voraussetzungen der Arbeit

schriebenen Sinne erfahren.57 Die Leidbewältigung versucht nach I. U. DALFERTH allerdings nicht nur einen Deutungshorizont für eine Leiderfahrung zu finden. Vielmehr solle ein (neues) Verhalten dazu ermöglicht werden: Der passiv machende Charakter des Leidens solle überwunden und die Handlungsfähigkeit wiedergewonnen werden.58 Dabei sei das spezifische an religiöser Leidbewältigung ihr „Umweg über Gott“:59 Damit drückt er aus, dass der religiöse Deutungshorizont speziell auf Gott verweise, um Leiderfahrungen zu bewältigen.60

2.3.2

Weitere Umgangsweisen mit Leiden

Im Anschluss an die beiden genannten Ansätze sind nun also die folgenden grundlegenden Umgangsweisen mit dem Leiden zu unterscheiden. Als erstes ist die Leidvermeidung zu nennen. Diese richtet sich darauf, mögliche leidverursachende Widerfahrnisse zu umgehen. Sie setzt also bereits an, bevor solche Widerfahrnisse entstehen oder zu Leiderfahrungen führen. Wenn jedoch ein Widerfahrnis bereits zum Erleben als Leiden geführt hat und möglicherweise noch andauert, kommt zweitens der Versuch zur Leidbeendung zum Tragen. Diese zielt darauf, dass das leidverursachende Widerfahrnis aufhört. Wenn jedoch diese ersten beiden Umgangsweisen nicht möglich sind, ein leidverursachendes Widerfahrnis also entweder nicht vermieden oder beendet werden kann oder noch nach seinem Ende durch seine Sinnlosigkeit den Deutungshorizont einer Person sprengt, dann ist drittens Leidbewältigung nötig. Diese zielt auf die Leiderfahrung selbst, wobei ihr Wert für das Gelingen der Bewältigung nicht von außen bewirkt oder garantiert werden kann. Die Leidbewältigung geschieht durch Leidensdeutungen/-interpretationen, die den Leidenden viertens als Strategien zur Leidbewältigung von Dritten angeboten und geschildert werden können.61 Diese können den Leidenden zwar nicht die eigene Bewältigung des Leidens abnehmen, ihnen dazu jedoch eine Hilfestellung geben und mögliche Wege 57

58 59 60 61

Vgl. DALFERTH, Leiden, 180f. KLEIN, Bewältigung, 257 versteht Bewältigung als „Aufarbeitung eines Erlebnisses, sodass am Ende eine positive Einstellung dazu vorhanden ist.“ Vgl. in der Untersuchung von 2Kor 4,7–15 LAMBRECHT, Paul, 65, der das hier geschilderte Verständnis von Leiden voraussetzt, wenn er die generelle Frage zum Leiden formuliert als „whether thus all sufferings can be made meaningful and fruitful.“ Vgl. DALFERTH, Leiden, 115 und DERS., Malum, 500. DERS., Umwege, 119; DERS., Umgang, 12 und DERS., Malum, 500. Vgl. die Darstellung des ‚Transzendenz-Modells‘ von KRUG, Kraft, 78–88 in § 1.5. Ähnlich nennen GERSTENBERGER/SCHRAGE, Leiden, 210 die „Leidensbewältigung und -überwindung“, PRATSCHER, Bewältigung, 74 u. 87 die „theologisch-argumentative Bewältigung von Leid“ und die „praktische Bewältigung von Leid“ sowie KLEIN, Bewältigung, 261 die „Bewältigung unabänderlicher Nöte“ und „Bewältigung veränderbarer Nöte“ (269).

§ 2 Vorbemerkungen zum Verständnis des Leidensbegriffs

55

aufzeigen. Da ihr Nutzen situations- und personenabhängig ist, kann es sinnvoll sein, den Leidenden mehrere Strategien zu nennen, von denen sich einige als mehr und andere als weniger hilfreich erweisen können. In meiner Untersuchung konzentriere ich mich auf paulinische Strategien zur Leidbewältigung, mit denen der Apostel eigenes und fremdes Leiden deutet.

§3 Hermeneutische Vorbemerkungen § 3 Hermeneutische Vorbemerkungen

3.1

Antworten auf eine Frage, die ein Text nicht explizit stellt

Da die Fragestellung dieser Untersuchung auf paulinische Strategien zur Leidbewältigung zielt, ist zu klären, wie sich dies zur Aussageintention der Texte verhält. Denn die Paulus-Briefe sind keine Abhandlung über das Leiden, sondern thematisieren dieses in einer Vielzahl von sozialen und theologischen Kontexten. Es stellen sich also zwei hermeneutische Fragen: Kann die Exegese eines neutestamentlichen Textes Antworten auf eine Frage geben, die dieser nicht explizit behandelt? Sind zweitens die Ergebnisse einer solchen Exegese nicht zwangsläufig stark von der Sicht der Untersuchenden geprägt? Der hermeneutische Ansatz von R. BULTMANN bietet dazu mögliche Entgegnungen. 1. R. BULTMANN geht davon aus, dass jede Exegese einen Text unter einer bestimmten Fragestellung und mit einem „Sachinteresse“1 untersucht. Zu dieser Sache – hier also der paulinische Umgang mit Leiden – haben Untersuchende bereits ein „Vorverständnis“,2 welches die Untersuchung überhaupt erst motiviert. Für R. BULTMANN gibt es zwei Möglichkeiten, in welchem Verhältnis die Untersuchungs-Intention – in seinen Worten „das Woraufhin der Befragung“3 – zur Text-Intention stehen kann:4 i) Die Fragestellung ist identisch mit der Text-Intention. In diesem Fall gibt der Text direkt eine Antwort auf die Frage. ii) Die Fragestellung ist nicht identisch mit der Text-Intention. In diesem Fall gibt der Text indirekt eine Antwort auf die Frage. Für R. BULTMANN ist in beiden Fällen eine seriöse Exegese möglich, da ein Text auf beide Arten die untersuchungsleitende Frage beantworten könne. Meine Untersuchung fällt in die zweite Rubrik.5 Paulus verhandelt Leiderfahrungen und den Umgang mit ihnen insofern indirekt, als er es mit verschiedenen Hauptintentionen thematisiert. Das heißt zwar nicht, dass er beispielsweise aus apologetischen Gründen etwas schreibt, was er nicht für 1

2 3 4 5

BULTMANN, Problem, 227 und DERS., Exegese, 147. Vgl. LUZ, Hermeneutik, 138, demzufolge jede Frage und Methode der Gegenwart den biblischen Texten fremd sei. BULTMANN, Problem, 216. A. a. O., 227. Hervorhebung im Original. Vgl. a. a. O., 227. Das gilt z. B. auch für Fragestellungen der Befreiungstheologie oder nach STANDHARTINGER, Wahrnehmung, 218f für viele Themen der feministischen Theologie.

§ 3 Hermeneutische Vorbemerkungen

57

theologisch begründbar hält – schon deswegen, weil er durch die Verschriftlichung auf seine Aussagen behaftet werden kann, wie z. B. 2Kor 10,10 (vgl. 1Kor 5,9–13; 2Kor 2,4) zeigt. Das bedeutet aber, dass er seine Argumente unter dem Einfluss antiker Briefkonventionen darlegt und im Fall des 2. Korintherbriefs im konkreten Kontext der Auseinandersetzung um sein Apostolat formuliert.6 Die zu untersuchenden Texte können also Antworten auf die Frage nach dem Leiden geben, für deren Verständnis jedoch der jeweilige Zusammenhang zu beachten ist. Denn es ist davon auszugehen, dass Paulus wegen des Kontexts manches über sein Leidensverständnis in einer davon bestimmten Weise und anderes möglicherweise gar nicht schreibt. 2. Mit R. BULTMANN ist festzuhalten, dass die neutestamentlichen Texte als „geschichtliche Phänomene“7 untersucht werden. Und als solche kann man ihnen nicht eine einzige ‚objektive‘ Bedeutung zuschreiben. Vielmehr können die Texte unter verschiedenen Fragestellungen untersucht werden, die zu jeweils anderen – aber nicht beliebigen – Ergebnissen führen können.8 Wenn die Exegese methodisch kontrolliert stattfindet, führt sie zu einem Verständnis, das in der Perspektive der jeweiligen Fragestellung dem Text angemessen ist. Es gibt also keine Auslegung eines Textes, die absolut und in jeder Perspektive die einzig mögliche wäre. Dabei ist jedoch wichtig, dass das Vorverständnis nicht die Ergebnisse lenkt: Exegese kann demnach nicht voraussetzungslos sein, muss aber – wie jede Untersuchung eines historischen Dokuments – „vorurteilslos“9 sein und sich die eigenen Voraussetzungen bewusst machen. Ein Text ist also mit R. BULTMANN in seiner Eigenheit wahrzunehmen und nicht zur Bestätigung einer vorgefertigten These oder dogmatischen Position.10

6

7

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9 10

Für FREDRICKSON, Paul, 181–184 ist das Leiden in 2Kor 1–7 Teil der rhetorischen Strategie des Briefes. Vgl. z. B. LAMPE, Briefe, 149–158, der einen Überblick über Forschungsbeiträge gibt, die Paulus-Texte anhand rhetorischer und epistolographischer Konventionen der Antike untersuchen. BULTMANN, Problem, 229. Vgl. DERS., Exegese, 144: Ein Text spreche demzufolge „in seiner historischen Sphäre“, was im Fall neutestamentlicher Texte die Kenntnis z. B. von Apokalyptik, Qumran-Texten und hellenistischer Religionsgeschichte unabdingbar mache. DERS., Problem, 229 nennt die geistesgeschichtliche, psychologische oder soziologische Fragestellung und hält fest: „Die methodisch gewonnene Erkenntnis ist eine ‚objektive‘, und das kann nur heißen: eine dem Gegenstand, wenn er in eine bestimmte Fragestellung gerückt ist, angemessene.“ DRES., Exegese, 142. DERS., Problem, 230 widerspricht der Forderung, dass „der Interpret seine Subjektivität zum Schweigen bringen, seine Individualität auslöschen müsse, um zu einer objektiven Erkenntnis zu kommen.“ Allerdings ist es für BULTMANN unabdingbar, dass der Interpret „seine persönlichen Wünsche hinsichtlich des Ergebnisses der Interpretation zum Schweigen bringen muß, – etwa den Wunsch, daß der Text eine bestimmte (dogmatische) Meinung bestätigen oder für die Praxis brauchbare Anweisungen hergeben soll …“ Vgl. DERS., Exegese, 142f.

58

Teil I: Voraussetzungen der Arbeit

3.2

Leiderfahrungen bei Paulus und in der Antike

Wie bei der Verwendung jeder gegenwärtigen Methodik ist auch für das hier vertretene phänomenbezogene Leidensverständnis zu reflektieren, inwiefern es für die verfolgte Fragestellung aufschlussreich und den antiken Texten angemessen ist. Erleben antike Menschen etwas als Leiden, was heutige Lesende dafür halten würden? Dabei ergibt sich die Schwierigkeit, dass Berichte von Leiderfahrungen generell bereits eine Deutung des Erlebten sind und eine Distanz zur akuten Leidenssituation voraussetzen. Die briefliche Kommunikation ermöglicht also keinen direkten Zugang zu den konkreten Leidensphänomenen oder zu den sie verursachenden Widerfahrnissen in Form von Handlungen oder Ereignissen. Eine Differenzierung der Leidensphänomene ist nicht durch Beobachtung, sondern nur anhand der Texte möglich, in denen Paulus das Erlebte verarbeitet. Dies ist zudem durch die Konventionen antiker Briefe geformt. An dieser Stelle sind eine anthropologische und eine methodische Erwägung weiterführend. 1. Aus anthropologischer Sicht kann mit E. S. GERSTENBERGER/W. SCHRAGE gesagt werden, dass sich die leidverursachenden sozialen, kulturellen und geschichtlichen Bedingungen im Laufe der Zeit verändern.11 Diese sind bei der Untersuchung zu berücksichtigen, da sie Aufschluss über die Gründe von Leiderfahrungen geben können. Jedoch stellt das subjektive Erleben von Leiden eine zeitübergreifende anthropologische Konstante dar.12 Damit ist das, was im NT zu verschiedenen konkreten Leiderfahrungen und ihren Ursachen und Deutungen gesagt ist, „bei aller Verschiedenheit mit modernen Erfahrungen durchaus vergleichbar.“13 Das zeigt sich auch daran, dass im NT häufig Bemühungen erkennbar werden, entweder eine negative Erfahrung zu beenden, ihr eine Deutung zuzuschreiben oder ihr von einem Außenstehenden eine Deutung zuschreiben zu lassen. Ein Beispiel für die angestrebte Beendung von leidverursachenden Widerfahrnissen ist der häufig geäußerte Wunsch nach Heilung von Krankheit bzw. mythologisch gefasst von Beses-

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Vgl. GERSTENBERGER/SCHRAGE, Leiden, 11. Vgl. a. a. O. 17. Dort nennen GERSTENBERGER/SCHRAGE zwei „Brücken“, die heutige und damalige Menschen in ihren Erfahrungen miteinander verbinden. Die erste Brücke ist die Teilhabe an der „Glaubensgeschichte“. Die zweite Brücke ist, dass in den antiken Texten „glaubende und leidende Menschen heute noch vernehmlich reden. Das Menschsein verbindet uns mit allen anderen Menschen.“ Vgl. a. a. O., 114 sowie PREUß, Frage, 79, der die Verbindung von heutigen und antiken Menschen speziell im Blick auf das Leiden „durch anthropologische Analogien und Konstanten“ gegeben sieht. Vgl. im Kontext des Theodizeeproblems THEIßEN, Kausalattribution, 184. GERSTENBERGER/SCHRAGE, Leiden, 120. Vgl. a. a. O., 16: „Was in der je andersartigen Hülle, oder: vor wechselndem Bühnenbild, geschieht, ist eindeutig als menschliches Leid erkennbar, daran, wie es über sich selbst hinausweist und wie es den Menschen in Frage stellt“.

§ 3 Hermeneutische Vorbemerkungen

59

senheit.14 Ebenso finden sich Beispiele für den Versuch, nicht (mehr) vermeidbare Leiderfahrungen zu deuten und so zu bewältigen.15 Diese Beobachtungen zeigen, dass antike Texte nicht nur das hier vertretene Verständnis von Leiden, sondern auch die Frage nach dessen Bewältigung kennen.16 2. Methodisch begegne ich der Frage nach dem Leiden antiker Menschen insofern, als die bereits genannte Definition von Leiden und Strategien zu seiner Bewältigung reflektiert auf neutestamentliche Texte angewandt wird. So wird von der phänomenbezogenen Sichtweise her eine wechselseitige Bestimmung von Leiden vorgenommen: Ein Text handelt dann von Leiden, wenn Menschen durch ein Widerfahrnis Schmerzen empfinden, die nach Deutung und Bewältigung verlangen. So begegne ich der Schwierigkeit, dass die Grenze zwischen dem Erleben von Sinnhaftigkeit und Sinnlosigkeit nicht immer eindeutig zu erkennen und schon gar nicht von außen durch Dritte festzulegen ist. Damit ist auch deutlich, dass meine Untersuchung von einem „Vorverständnis“17 von Leiden geprägt ist. Dieses wird methodisch kontrolliert die Exegese leiten. Die von mir angewandte methodische Verbindung einer Analyse der Leidensphänomene mit der Orientierung am Begriff θλῖψις in 2Kor 1–8 bzw. an ἀσθένεια κτλ. im Ausblick auf 2Kor 10–13 hat mindestens drei Vorzüge: Erstens erfolgt die Auswahl der untersuchten Texte nach einer transparenten Methode. Zweitens setzt die Exegese nach dem dargestellten Leidverständnis bei den Einzeltexten an. Und drittens sind die Ergebnisse durch die dogmatische Reflexion anschlussfähig an den religionsphilosophischen und systematisch-theologischen Diskurs zum Leiden.

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Vgl. die Krankheit des Paulus in 2Kor 12,7–10 sowie die häufigen Heilungsberichte in den Evangelien, wie z. B. Mk 1,23–28.29–31.40–42; 8,22–26 und die entsprechenden Summarien wie Mk 1,32–34; 6,53–56. Die Rede von Besessenheit ist bereits eine Deutung des Leidens. Das gilt z. B. bei gegenwärtig erlebter Verfolgung (z. B. in 1Petr 4,12ff) oder der apokalyptischen Ankündigung zukünftiger Verfolgung (z. B. Mt 24,9; Mk 13,9.11–13; Lk 24,12f.16–19) als Gelegenheit zu Bewährung und Verkündigung des Christusglaubens. KLEIN, Bewältigung, 257ff überträgt eine ganz ähnliche Definition auf AT und NT. Er versteht ‚Bewältigung‘ als „Aufarbeitung eines Erlebnisses, sodass am Ende eine positive Einstellung dazu vorhanden ist“ (257). Die Texte wollten mit „Erlebnissen fertig werden, sie innerlich verarbeiten und ihnen einen Sinn“ abgewinnen (261). BULTMANN, Problem, 216.

§4 Begriffsgeschichtliche Betrachtung von θλῖψις κτλ. § 4 Begriffsgeschichtliche Betrachtung von θλῖψις κτλ.

Der Begriff θλῖψις κτλ. wird als Kriterium zur Auswahl der Texte dienen, anhand derer der Umgang mit dem Leiden im 2. Korintherbrief analysiert wird. Eine Untersuchung des Leidensthemas bei Paulus anhand dieses Begriffs liegt bisher noch nicht vor. Um einen Eindruck von dem damit bezeichneten Bildfeld zu geben, werde ich folgendermaßen vorgehen: Bevor die Verwendung des Begriffs in der LXX ausführlich dargestellt wird, erfolgt zunächst ein Überblick über dessen Verwendung in profangriechischen Texten. Denn bis zur Entstehung der LXX im 3. Jh. v. Chr. ist θλῖψις κτλ. über 150mal belegt, sodass das bis dahin entwickelte Bedeutungsspektrum bereits vorauszusetzen ist. Danach erfolgt ein Einblick in die Verwendung bei dem hellenistisch-jüdischen Autor Philo, bevor schließlich der Begriff im NT außerhalb der paulinischen und deuteropaulinischen Tradition betrachtet wird. Als letztes schließt sich eine weitere Bedeutungsprofilierung in Gegenüber und Abgrenzung zu semantisch ähnlichen und oft parallel verwendeten Begriffen an.

4.1 4.1.1

Der Begriff außerhalb der jüdisch-christlichen Literatur Grundbedeutung

Das Verb θλίβω hat die Grundbedeutung von ‚drücken, pressen, reiben, quetschen, drängen‘. Das Substantiv bezeichnet entsprechend: ‚(äußeren) Druck‘.1 Ursprünglich kann sich der Begriff aus einer Verbindung des seltenen in seiner Grundbedeutung mit θλίβω synonymen Verbs φλίβω und des häufigeren θλάω (zerquetschen, zermalmen) ableiten.2 Beide werden häufig in naturwissenschaftlichen Zusammenhängen gebraucht.3 In der Grundbedeu-

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Vgl. PASSOW, Handwörterbuch, 1418 und SCHLIER, Art. θλίβω, 139. BAUER, 735 nennt eine Grundbedeutung nur für das Verb („drücken, drängen […] zusammendrängen, einengen“). Bei LIDDELL-SCOTT, 802 ist als Grundbedeutung des Verbs „squeeze, chafe, exercise pressure“ angegeben und für das Substantiv „pressure, crushing, castration“. A. a. O., 1944 sind φλίβω und θλίβω synonym. Bereits im 1. Jh. sind für Apollonius Sophista, Lex. 164,7 ἀποθλίβω und φλίβω bedeutungsgleich. Vgl. FRISK, Wörterbuch, 676 und SCHIPPERS/GÄCKLE, Art. θλῖψις, 121. Für θλάω vgl. die Reibung bzw. den Druck in mechanischen Zusammenhänge z. B. bei Aristoteles, Pr. 881a; 890a sowie zahlreiche Belege bei den Medizinern Dioscorides (1. Jh. n. Chr.) und

§ 4 Begriffsgeschichtliche Betrachtung von θλῖψις κτλ.

61

tung wird bereits bei Homer Odysseus als Bettler beschimpft, der nur in eine Stadt komme, um seine Schultern an vielen Türpfosten zu reiben, also um zu betteln.4 Das passive Partizip des Verbs hat zusätzlich über das wörtliche ‚Gedrängtsein‘ die feststehende Bedeutung von ‚eng, schmal‘ erlangt.5 Theokrit, Idyll. 21,18 schreibt von einer beengten Hütte (θλιβομένα καλύβα), während bei Lukian eine Stadt durch einen Besucherstrom eng/bedrängt werden kann und sich (ggf. ironisch) ein Reicher mit seinen vielen Bediensteten in ein öffentliches Bad drängen kann.6 Diese Vorstellung von der räumlichen Enge greift später Mt 7,14 metaphorisch auf: „Der Weg ist schmal (τεθλιμμένη ἡ ὁδός), der zum Leben führt.“ Der Begriff kommt mit verschiedenen Präfixen vor. Beim Kompositum ἀποθλίβω findet eine Intensivierung der Bedeutung statt, die im Deutschen etwa durch ‚zerdrücken, zerquetschen‘ wiedergegeben werden kann.7 Das Präfix συν- bewirkt eine leichte Bedeutungsverschiebung: „zusammendrücken, zerdrücken, zerquetschen“8 Im NT sind nur diese beiden in Lk 8,45 und Mk 5,24.31 belegt. Daher führe ich die Betrachtung der Komposita nicht weiter fort.9 Für das Substantiv ist eine ähnliche Verwendung in naturwissenschaftlichen Texten belegt wie für das Verb. Bei Epikur kann es das meteorologische Verhalten von Wolken bezeichnen, bei Aristoteles das Zerdrücken von Beeren in der Phytologie oder eine Quetschung durch Schläge.10 Außerdem

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Galen. Für φλίβω vgl. Hippokrates, Loc.Hom. 13,22; Theokrit, Idyll. 15,76 und nur 24 weitere Belege. Homer, Od. 17,221: „Der wird an viele Pfeiler sich stellen, die Schultern sich wetzen (θλίψεται ὤμους)“ (Übersetzung A. Weiher). Vgl. für die Stelle LIDDELL-SCOTT, 802 und eine kurze Abwägung der Bedeutung bei PASSOW, Handwörterbuch, 1418. Weitere scheinbar feststehende Wendungen sind z. B. das Küssen als „Drücken der Lippen“ (χείλεα θλίβειν) bei Theokrit, Idyll. 20,4 oder das unbeobachtete Drücken des Fußes, um jemandem ein Zeichen zu geben in JosAs 23,8. Vgl. SCHLIER, Art. θλίβω, 139; SCHIPPERS/GÄCKLE, Art. θλῖψις, 121 und BAUER, 735. Josephus, AJ 20,111; BJ 3,330; 4,22 beschreibt mit dem Partizip Passiv die Bedrängnis im Kampf durch räumliche Enge (στενός κτλ.) von Gelände oder Straßen. Lukian, Alex. 49: „Als dann sehr viele hineinfluteten und ihre Stadt von der Menschenmasse bedrängt wurde (θλιβομένης ὑπὸ τοῦ πλήθους), die zum Heiligtum kommen wollte, und sie nicht aus-reichend vorbereitet war …“ Ders., Nigr. 13: „Als er aber auch in Gymnasien und öffentlichen Bädern war und mit seinen Haus-Sklaven die Anwesenden drängelte (θλίβων) und einengte (στενοχωρῶν) …“ Vgl. LIDDELL-SCOTT, 199 und BAUER, 182. Das Verb ἀποθλίβω kommt z. B. in Num 22,25 und Josephus, AJ 2,64; 6,118 vor und kann auch die unten dargestellte übertragene Bedeutung haben. BAUER, 1575. Vgl. LIDDELL-SCOTT, 1717. Es ist z. B. belegt bei Aristoteles, HA 555b; Resp. 472b und beschreibt in Mk 5,24 die Menge, die Jesus bedrängt. Vgl. FRISK, Wörterbuch, 676. Der Begriff kommt noch mit vielen weiteren einzelnen Präfixen (z. B. ἐκ-, ἐν-, ἀνα- oder δια-) oder einer Kombination aus mehreren vor. Epikur, Ep. Pythoclem 101,6 erklärt Blitze durch Wolkenreibung: „… es kann auch durch Herauspressen geschehen, wenn die Wolken zusammengedrückt werden.“ (καὶ κατ’ἐκπιασμόν, θλίψεως τῶν νεφῶν γινομένης). Aristoteles, Pr. 890a in der Übersetzung von P. Gohlke: „Dagegen verursachen Schläge mit hartem Holz durch ihre Schwere und Kraft Druck und Quetschung“ (διὰ δὲ τῶν

62

Teil I: Voraussetzungen der Arbeit

kommt θλῖψις als physikalische Reibung, Wasserdruck, Druck von Puls oder Atmung vor.11 Dabei steht der Begriff in seiner Grundbedeutung teilweise neben solchen, die in anderen Kontexten zur Beschreibung von Leiderfahrungen vorkommen.12

4.1.2

Übertragene Bedeutung

Neben die Grundbedeutung tritt schon bei Aristoteles der Gebrauch in übertragener Bedeutung als ‚bedrängen‘ bzw. ‚Bedrängnis‘. Dabei lässt sich häufig zwischen zwei Ebenen unterscheiden, auf denen sich der Druck als Bedrängnis im übertragenen Sinne zeigt. 1. Auf der somatisch-physischen Ebene ist die Bedrängnis meistens mit dem Geschehen in Kampf oder Krieg verbunden. Sie wird daher häufig in der Geschichtsschreibung verwendet und geschieht etwa durch den Feind.13 Die Bedrängnis kann seltener durch einen Mangel oder Armut hervorgerufen sein, was von Dionysius von Halicarnassus auch als ‚bedrängtes Leben‘ bezeichnet wird.14 Krankheiten werden kaum als Bedrängnis im übertragenen Sinn beschrieben. Lediglich für einzelne Symptome ist θλῖψις κτλ. in der Grundbedeutung belegt. 2. Die Bedrängnis auf der sozial-psychischen Ebene kann als Druck auf das Innere des Menschen, auf seine Seele und sein Innenleben verstanden und mit ‚traurig machen, kränken‘ wiedergegeben werden.15 Das hat Ähnlichkeiten zur Bedeutung von λύπη/λυπέω. Insgesamt ist diese Verwendung jedoch selten.16

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σκληρῶν αἱ πληγαὶ διὰ τὸ βάρος καὶ τὴν ἰσχὺν θλῖψιν καὶ θλάσιν ποιοῦσιν) und a. a. O. 925b über das Zerreiben einer Pflanze in der Hand (ἐν τῇ χειρὶ θλιβέντα). Vgl. z. B. die Belege bei Aristoteles, der etwa 10mal das Substantiv und über 35mal das Verb verwendet, sowie verschiedene medizinische Autoren wie Galen (2. Jh.), der über 120mal das Substantiv und über 370mal das Verb verwendet. Vgl. für Beispiele SCHLIER, Art. θλίβω, 139. Vgl. z. B. βάρος (Gewicht, Last), πόνος (Arbeit, Mühe) bei Aristoteles, Pr. 881b und Theophrast, Fr. 7,9,3, πληγή (Schlag) bei Aristoteles, Pr. 890a und στενοχωρέω (einengen) bei Lukian, Nigr. 13. Vgl. Aristoteles, Pol. 5,7; für das 3./2. Jh. v. Chr. Polybius 18,19,11; 18,24,3 u.ö., für das 1. Jh. v. Chr. Diodorus Siculus 12,66; 13.10.17.109 u.ö. sowie für das 1. Jh. Josephus, BJ 3,330; 4,22. Dionysius von Halicarnassus 8,73,5 über Appius, der für Arme eine wiederkehrende ökonomische Bedrängnis für möglich hält: „their means of livelihood are scanty“ (τεθλιμμένων ἔστιν ὅτε τῶν βίων) and will be further cramped by providing this money [sc. Kriegsabgaben]“ (Übersetzung E. Cary). Vgl. Plutarch, Reg. imp. apophth. 177d: „starkes Bedrängt Sein durch Armut“ (θλίβομαι ἰσχυρῶς ὑπὸ πενίας) und den Hinweis von ARZT-GRABNER u. a., Korinther, 293 auf verschiedene Papyri. Allerdings bezeichnet die Bedrängnis bei Josephus, BJ 3,412 auch den Versorgungsengpass einer Stadt, die eine Armee versorgen muss. Vgl. SCHIPPERS/GÄCKLE, Art. θλῖψις, 121; SCHLIER, Art. θλίβω, 139 und PASSOW, Handwörterbuch, 1418. SCHLIER, Art. θλίβω, 139 nennt Aristoteles, EN 1,11 und aus dem jüdisch-hellenistischen Bereich Belege bei Philo, vgl. § 4.3.

§ 4 Begriffsgeschichtliche Betrachtung von θλῖψις κτλ.

63

In beiden Fällen hat θλῖψις κτλ. in übertragener Bedeutung für die Betroffenen eine negative Wirkung, während der Begriff in der Grundbedeutung neutral die Einwirkung auf eine Person oder ein Objekt beschreibt. Dabei ist er in beiden Bedeutungen ein Verhältnisbegriff: Ein äußerer Anlass wirkt sich in Form der Bedrängnis auf jemanden aus und bewirkt dabei eine Leiderfahrung.

4.1.3

Bedeutung in der stoischen Philosophie Epiktets

Der Stoiker Epiktet (1. Jh.) verwendet das Verb θλίβω 16mal. Das ist auffällig, da der Begriff ansonsten in der griechischen Philosophie kaum eine Rolle spielt.17 Die folgenden Aspekte zeigen das Verständnis von θλίβω bei Epiktet – hier immer in übertragener Bedeutung. 1. Der stoische Philosoph soll sich nicht von den ihn bedrängenden Außendingen (τὰ ἔξω, Diss. 3,10,16) abhängig machen, sondern herausfinden, was genau ihn bedrängt und wie das zu heilen (θεραπεύω) und wegzunehmen (ἐξαίρω) ist. Solche bedrängenden Dinge sind für Epiktet leidverursachende Widerfahrnisse, von deren Einfluss man sich selbst frei machen muss. Auch der Kaiser kann nach Diss. 3,13,8–10 die Menschen zwar von einigen Bedrängnissen befreien (Überfälle, Krieg, Piraten). Doch viele Außendinge kann selbst er nicht verhindern, wie z. B. Krankheit, Gewitter, Schiffbruch, Erdbeben. Hier unterscheidet Epiktet ähnlich wie die oben dargestellten Ansätze seit der Neuzeit zwischen Leiden aus Handlungen, was durch Maßnahmen gegen die Verantwortlichen vermeidbar ist, und aus Ereignissen, was wegen der nicht greifbaren Verursachenden nicht vermeidbar ist.18 Besonders wegen dieses nicht zu verhindernden Leidens aus Ereignissen muss man sich mit Hilfe der Philosophie bzw. Gott, der durch das Wort der Philosophie spricht, gegen äußere Geschehnisse immunisieren (Diss. 3,8,11– 13). Dadurch lernt der Mensch, dass sogar ein tödlicher Angriff nicht ihn, sondern nur den Körper trifft, und demnach keine Leiderfahrung, sondern letztlich ein irrelevantes Außending ist, also ein Adiaphoron (Diss. 3,13,17).19 2. Damit ist bereits angedeutet, dass es für Epiktet zwar potentiell leidverursachende Bedrängnisse von außen gibt. Ob diese jedoch zum Leiden führen, hängt von den Betroffenen ab. Das verdeutlicht er am Beispiel der 17

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Vgl. SCHLIER, Art. θλίβω, 139, der den Begriff ebenfalls lediglich bei Epiktet als zentral ansieht, ohne das jedoch genauer zu untersuchen. Vgl. SCHIPPERS/GÄCKLE, Art. θλῖψις, 121. Der Begriff πάθημα κτλ. kommt jedoch wesentlich häufiger bei Epiktet vor, allein das Verb über 75mal. Vgl. bereits die antiken Text-Beispiele für Differenzierung von Leidensphänomenen in § 2.2.2.2. Vgl. auch Epiktet, Diss. 1,27,1f. Nach Ansicht der Stoa ist der Tod als Außending kein leidverursachendes Widerfahrnis. Vgl. Cicero, Fam. 5,16; Tusc. 1,32,82ff; 1,76; Plutarch, Cons. App. 107d– 110d.

64

Teil I: Voraussetzungen der Arbeit

Trauer über ein verreistes Kind oder über gestohlenes Eigentum: „Nicht das Geschehene bedrängt, weil es nämlich einen anderen nicht bedrängt, sondern die Einschätzung/Meinung (δόγμα) von diesem.“20 Ebenso pointiert sagt er: „Siehst du, dass du dir selbst Enge/Not bereitest (στενοχωρίαν παρέχεις) und du dich selbst bedrängst (θλίβεις)?“ (Diss. 1,25,26).21 Für Epiktet wird also die Bedrängnis subjektiv erfahren.22 3. Am Anfang von Diss. 1,2 kann man eine generelle Erklärung der Leidbewältigung bei Epiktet erkennen. Demnach ist für den Menschen als vernünftigem Lebewesen nur das Unvernünftige nicht auszuhalten (ἀφόρητος) und durch nichts wird er so bedrängt wie davon. Was dagegen als logisch erkannt wird, ist auch auszuhalten.23 Das gilt, wenn man ausgepeitscht (μαστιγόομαι) oder sogar gehängt (ἀπαγχόομαι) wird (Diss. 1,2,3). Darin zeigen sich Berührungen mit der Theorie von Leidbewältigungsstrategien, wie sie in § 2.3. dargestellt werden: Leiden kann auch für Epiktet beendet oder von vorneherein vermieden werden, indem einem schmerzvollen Widerfahrnis ein Sinn oder eine Deutung zugeschrieben wird. Dabei ist wiederum der Bezug zum Subjekt zu beachten (vgl. Diss. 1,2,5). Denn wenn das Leiden auf die eigene Wahlfreiheit (προαίρεσις) des Menschen zurückgeht, dann kann es nach der stoischen Überzeugung Epiktets genauso aus eigener Entscheidung beendet werden.24 So besteht für Epiktet die Hauptleistung einer Leidbewältigungsstrategie darin, einem Widerfahrnis einen Sinn zuzuschreiben oder es mit Hilfe der Philosophie als äußerlich und unwichtig zu begreifen.25

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Epiktet, Ench. 16,1: θλίβει οὐ τὸ συμβεβηκός, (ἄλλον γὰρ οὐ θλίβει) ἀλλὰ τὸ δόγμα τὸ περὶ τούτου. Vgl. Ders., Diss. 1,25,28: „Die Entscheidungen/Meinungen bedrängen uns und schaffen uns Not/Enge“ (τὰ δόγματα ἡμᾶς θλίβει καὶ στενοχωρεῖ). Beachtenswert ist der gemeinsame Gebrauch von θλῖψις κτλ. und στενοχωρία κτλ., der sonst hauptsächlich für LXX und Paulus verbreitet ist. Vgl. BONHÖFFER, Neues Testament, 117–119, der wie erwähnt die Unterschiede zu NT und LXX betont. Anhand der Verwendung in 2Kor 4,8 erkennt er jedoch eine Ähnlichkeit im Gebrauch beider Begriffe. Vgl. § 4.5.4. Vgl. § 2.1.2 zum subjektbezogenen Verständnis des Leidens. Vgl. Epiktet, Diss. 1,2,1: „Für das vernünftige Lebewesen ist einzig das Unvernünftige unaushaltbar“ (Τῷ λογικῷ ζῴῳ μόνον ἀφόρητόν ἐστι τὸ ἄλογον) und a. a. O., 1,2,4: „Wenn wir also nur genau hinschauen, so finden wir, dass die Menschen von nichts so bedrängt werden wie vom Unvernünftigen“ (ἀπλῶς ἐὰν προσέχωμεν, ὑπ’ οὐδενὸς οὕτως εὑρήσομεν τὸ ζῷον θλιβόμενον ὡς ὑπὸ τοῦ ἀλόγου). Vgl. a. a. O., 1,25,1ff sowie dazu BONHÖFFER, Stoa, 118f. Vgl. ENGBERG-PEDERSEN, Paul, 1 u.ö., der Verbindungen von Paulus und Stoa v. a. für die Ethik zeigt. Vgl. allerdings BONHÖFFER, Neues Testament, 117–119, wonach sich die Bedeutung äußerlichen Drucks bei Epiktet nicht finde, da dieser äußere Dinge nicht als mögliche Bedrängnisse anerkenne.

§ 4 Begriffsgeschichtliche Betrachtung von θλῖψις κτλ.

4.2

65

Der Begriff in der Septuaginta

Mit über 220 Belegen wird θλῖψις κτλ. in der LXX häufiger verwendet als in der griechischen Literatur davor. Im Folgenden werde ich zuerst die hebräischen Wurzeln betrachten, die in der LXX mit dem Begriff wiedergegeben werden, da diese das bisherige Bedeutungsspektrum erweitern oder einschränken können. Danach werden die Verwendung in verschiedenen Kontexten und Schwerpunkte des Vorkommens aufgezeigt. Schließlich wird gefragt, welche Weisen des Umgangs mit Leiden sich im direkten Umfeld des Begriffs θλῖψις κτλ. finden.

4.2.1

Θλῖψις κτλ. als Übersetzung der hebräischen Wurzeln ‫צר‬ und ‫לחץ‬

In der überwiegenden Zahl der Fälle (ca. 120mal) werden mit θλῖψις κτλ. Formen der Wurzel ‫ צר‬wiedergegeben:26 Neben ‫ צַ ר‬I in adjektivischer (eng, beengt, bedrängt) und substantivischer Bedeutung (Bedrängnis, Not) sind das ‫ צָ ַרה‬I (Bedrängnis, Not) und ‫ צָ ַרר‬I meistens als hif. (bedrängen, in die Enge treiben, Wehen haben).27 Mit etwa 54 Belegen liegt der Schwerpunkt dabei eindeutig bei den Psalmen. Die Wurzel ‫ צר‬wird in der LXX auch durch κακός und ἀνάγκη wiedergegeben, die auch im NT gebräuchliche Parallelbegriffe von θλῖψις κτλ. sind.28 Daneben wird die seltene Wurzel ‫ לחץ‬in substantivischer (Drangsal) und verbaler (bedrängen, bedrücken) Bedeutung übersetzt: Sie wird konsequent mit θλῖψις κτλ. wiedergegeben.29 Drei Aspekte sind für die Untersuchung von Leiderfahrungen hervorzuheben. 1. Entscheidend ist für die Wurzel ‫צר‬, dass sich bei der Beschreibung der jeweiligen Bedrängnis die „Vorstellung einer räumlichen Enge, des Beengtseins im Sinne von ‚keinen Platz haben‘“30 durchhält: Besonders ‫ צַ ר‬I wird einige Male mit dem griechischen στενός (eng) wiedergegeben.31 Daher kann

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Nach DENIS, Concordance, 652f übersetzt das Verb θλίβω über 50mal einen Begriff der Wurzel ‫צר‬, das Substantiv θλῖψις ungefähr 70mal. Die Wurzel ‫ לחץ‬wird insgesamt ca. 12mal mit dem Verb und 6mal mit dem Substantiv wiedergegeben. Daneben steht das Verb vereinzelt noch für zahlreiche weitere hebräische Wurzeln. Belegstellen führt auch SCHLIER, Art. θλίβω, 140 an. Vgl. für die Wortbedeutungen: GESENIUS, 1135–1141 sowie FABRY, Art. ‫צַ ר‬. A. A. O., 1121. Vgl. REINDL, Art. ‫לַחַ ץ‬, 549, der als einzige Ausnahme Ri 2,18 nennt, was in der LXX mit πολιορκεῖν (bedrängen, belagern) wiedergegeben ist. Die Wurzel kommt ihm zufolge nur 19mal als Verb und 12mal als Substantiv vor. FABRY, Art. ‫צַ ר‬, 1114. Vgl. REINDL, Art. ‫לַחַ ץ‬, der auch für diesen Begriff „die Grundbedeutung ‚drücken‘, ‚einen Druck ausüben‘“ festhält. Vgl. für die Verbindung von θλῖψις und στενοχωρία κτλ. § 4.1.3 zu Epiktet sowie § 4.5.4 bei der Abgrenzung des θλῖψις-Begriffs zu ähnlichen Begriffen.

66

Teil I: Voraussetzungen der Arbeit

ein tatsächliches oder erhofftes Ende der Bedrängnis durch einen Begriff aus dem semantischen Feld von ‚Weite ‘ ausgedrückt werden, wie in Ψ 24,17: ‫רחב‬ hif./πλατύνω (weit machen) und 30,8f: ‫מֶ ְדחָ ד‬/εὐρύχωρος (weites Feld).32 Die konkrete Ursache oder Art der Bedrängnis ist nicht aus dem Begriff abzuleiten: Gerade in den Psalmen muss sie aus dem Kontext erschlossen werden oder bleibt in ihren genaueren Umständen teilweise unspezifisch. 2. Für die Wurzel ‫ לחץ‬ist die Bedeutung deutlicher zu erkennen: Die damit bezeichnete Bedrängnis richtet sich gegen eine Gruppe oder deren Repräsentanten. Meistens ist die Bedrängnis des Volkes Israel gemeint, die von Gott gesehen wird.33 Diese ist durch äußere Feinde veranlasst und auf der somatisch-physischen Ebene verortet. 3. R. SCHIPPERS/V. GÄCKLE zufolge bekommt ‫ צָ ַרה‬eine speziellere Bedeutung, wenn es in den Wortverbindungen ‚Zeit/Tag der Bedrängnis‘ steht.34 Die konkrete Not wird dann in einen weltumspannenden Rahmen mit ‚proto-apokalyptischen‘35 Motiven gestellt. Das findet sich auch in Qumrantexten, wo „Termine ihrer Bedrängnisse“ (1QS 3,23) und eine „Stätte der Not“ (1QS 10,15) genannt sind sowie eine „Torah“ die auf das Ertragen der „Schmelztiegel-Bedrängnis“ (1QS 8,4) zielt.36

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Z. B. 2Kön 13,4: „Gott sah die Bedrängnis Israels.“ Vgl. FABRY, Art. ‫צַ ר‬, 1114. Vgl. außerdem Hi 36,16 und Ψ 4,2; 117,5. Vgl. auch Ex 3,9; Dtn 26,7; Ψ 43,25; 105,42 und für einen Überblick REINDL, Art. ‫לַחַ ץ‬, 548f. SCHIPPERS/GÄCKLE, Art. θλῖψις, 122 verweisen auf unterschiedlich zu datierende Texte: Jer 30,7: ‫ ֵﬠת־צָ ָרה‬/χρόνος στένος ἐστιν; Zeph 1,15: ‫יוֹם־צָ ָרה‬/ἡμέρα θλίψεως; Dan 12,1: ‫ ֵﬠת צָ ָרה‬/ἡμέρα θλίψεως. Der Begriff ‚apokalyptisch‘ stammt wahrscheinlich von HANSON, Dawn, 27. Bereits seine Definition ist umstritten, wie so unterschiedliche Forschungsbeiträge wie HELLHOLM, Art. Apokalyptik I; BOUSSET, Religion; COLLINS, Prophecy oder WOLTER, Apokalyptik zeigen. Für meine Untersuchung ist das methodische Vorgehen von BIBERGER, Heil, 17f.386–389 weiterführend, der an die Definition von SCHIPPER, Apokalyptik, 26f anknüpft. Apokalyptisch sind demnach Texte, in denen jemand eine Offenbarung der transzendenten Wirklichkeit empfängt. Grundlegend ist v. a. ein zeitlicher und räumlicher Dualismus von zwei Äonen, wobei der jetzige/hiesige pessimistisch gesehen und sein dramatisches Ende als kurz bevorstehend dargestellt wird. Danach beginnt mit dem neuen Äon das Heil. Kennzeichen ist also auch eine universalistische und nicht bloß nationale Ausrichtung. Proto-apokalyptische Texte „sind nicht in vollem Sinne apokalyptisch, zeigen aber Tendenzen auf, die für die Apokalyptik wesentlich sind“ (BIBERGER, Heil, 388): Sie betrachten die Geschichte als zu Ende gehend, erwarten die Heilsperiode dabei aber nicht außergeschichtlich. D. h., sie enthalten nur Ansätze von Universalisierung und Zwei-Äonen-Lehre. Sie kennen ggf. auch apokalyptische Charaktere wie Teufel, Engel, Dämonen, Zwischenwesen sowie die Vorstellung Gottes als Krieger. Vgl. HANSON, Dawn, 27 und KAISER, Jesaja, 2 für ähnliche Arbeits-Definitionen. Es besteht Konsens, dass nicht mit einer geradlinigen Entwicklung von Prophetie oder Weisheit über proto-apokalyptische hin zu apokalyptischen Texten gerechnet werden kann. Ein Nebeneinander ist sehr wahrscheinlich. Vgl. SCHIPPERS/GÄCKLE, Art. θλῖψις, 122. Laut ABEGG, Concordance, 640f ist ‫ צָ ַרה‬45mal in Qumran belegt und ‫ צַ ר‬I nur 3mal. Die Wurzel ‫ לחץ‬ist nur einmal belegt (865).

§ 4 Begriffsgeschichtliche Betrachtung von θλῖψις κτλ.

4.2.2

67

Leiden und der Umgang damit im Umfeld des Begriffs

Im Folgenden soll nun skizziert werden, wie in verschiedenen Teilen der LXX anhand von θλῖψις κτλ. Leiderfahrungen und der Umgang damit beschrieben werden. Dabei wird besonderes Augenmerk auf folgende Aspekte gelegt: Wie ist die Bedrängnis verstanden oder erklärt? Ist sie als gegenwärtig, zukünftig oder vergangen gedacht? In welchem Verhältnis ist Gott zur Bedrängnis dargestellt? Ist das Leiden vorwiegend als resultierend aus Handlungen oder Ereignissen und verortet auf der somatisch-physischen oder der sozial-psychischen Ebene dargestellt? Aufschlussreich und exemplarisch ist die Wendung vom ‚Tag der Bedrängnis‘ (25mal, ἡμέρα θλίψεως) bzw. von der ‚Zeit der Bedrängnis‘ (11mal, καιρὸς θλίψεως), die sich in verschiedenen Teilen der LXX unterschiedlich zeigt. Daher wird ihre Bedeutung jeweils separat dargestellt.

4.2.2.1

Erzählende Texte Gen–2Kön und 1–4Makk

In den erzählenden Texten kommt θλῖψις κτλ. über 70mal vor und ist meistens als gewalttätige oder politische Bedrängnis und Unterdrückung verstanden.37 Insofern wird der Begriff fast ausschließlich für Handlungen verwendet. Dabei sind das Volk Israel oder selten einige exemplarische Einzelne in der Rolle der Bedrängten und fast nie in der Rolle der Bedrängenden.38 Für die Beschreibung der Bedrängnis als Ereignis im oben erklärten Sinne wird θλῖψις κτλ. äußerst selten gebraucht. Dann kann es aber so verschiedene Dinge beschreiben wie die Kinderlosigkeit der Hanna (1Sam 1,6) und Amnons Verliebtheit (2Sam 13,2), insofern sie als Auslöser der Vergewaltigung seiner Schwester Tamar beschrieben wird (13,14).39 Die thematisierte Bedrängnis ist meistens im Rückblick auf vergangene Geschehnisse oder in der Gegenwart formuliert.40 Sie wird insofern theologisch gedeutet, als sie häufig auf die Abwendung des Volkes oder repräsentativer Einzelner von Gott zu37

38

39

40

Vgl. Ex 3,9; 4,3; Dtn 28,52ff; Jos 19,48; Ri 4,3; 6,9; 10,8f.12–14; 1Sam 10,18f; 30,6; 2Sam 22,19; 1Kön 8,37; 22,27; 2Kön 13,4; 2Chr 6,28; 15,6; 28,22; 33,12; 1Makk 9,27.68; 10,46; 11,53. Vgl. Esr 4,1; Neh 4,5; 9,27.37. Im Kontext des konkreten Kampfes steht θλῖψις κτλ. dafür, dass sich das Geschehen stark zu Ungunsten einer Partei verlagert (vgl. Ri 4,3 und häufig in 1–3Makk, z. B. 1Makk 5,16; 6,11; 9,7.68; 12,13 u.ö.). Etwas allgemeiner ist die Bedrängnis auf der politischen Ebene, die sich ohne Kriegshandlungen als materielle Not gegen das Volk richtet (vgl. Ri 6,9; 10,8; 1Sam 30,6; 2Chr 6,28). Vgl. die Bedrängnis des idealisierten vorstaatlichen Volkes in Ägypten in Ex 3,9; 4,31. Selbst bei der Landnahmeerzählung im Josua-Buch (θλίβω/ἐκθλίβω nur in Jos 19,47) ist Israel nicht als Bedränger dargestellt. In 2Chr 20,9 sind in einer Aufzählung Bedrängnisse aus Handlungen und Ereignissen nicht klar zu unterscheiden: Unglück, Schwert, Gericht, Tod und Hunger (vgl. Hi 15,24; 20,22). Eine Ausnahme ist die große Geschichtsvorschau in Dtn 28,52ff.

68

Teil I: Voraussetzungen der Arbeit

rückgeführt wird.41 Dabei wird Gott meistens nicht direkt für die Bedrängnis verantwortlich gemacht. Vielmehr geschieht sie, weil Gottes Hilfe nicht in Anspruch genommen wird oder die Gottesbeziehung als nicht intakt dargestellt ist. Daher besteht die Strategie zum Beenden von akuter Bedrängnis des Volkes meist in der Rückkehr zu Gott oder in seiner Anrufung um Hilfe.42 Ein Nebenaspekt ist der Zusammenhang zu materieller Bedrängnis und Notlage. Einige Rechtstexte fordern dazu auf, Witwen, Waisen und entlaufene Sklaven nicht zusätzlich zu bedrängen.43 Die Wendung vom ‚Tag der Bedrängnis‘ kommt 3mal vor: In Gen 35,3 bezeichnet Jakob damit rückblickend seine Flucht vor Esau in Gen 28, während in 2Sam 22,1.19 David in einem Psalm die Bedrängnis durch Feinde und Saul thematisiert. In 2Kön 19,3 = Jes 37,3 ist damit die Bedrängnis durch das assyrische Heer angesprochen, was mit der ‚Zeit der Bedrängnis‘ in Ri 10,14 vergleichbar ist. Für Israel oder die Hauptcharaktere der Erzählung haben beide Wendungen negative Bedeutung. Sie sind aber nicht Teil eschatologischer oder apokalyptischer Motive.

4.2.2.2

Prophetische Texte

Bei 43 Belegen für θλῖψις κτλ. in prophetischen Texten44 zeigt sich ein in Teilen anderes Bild von der Bedrängnis. Sie steht zwar auch hier häufig in Zusammenhang mit kriegs- und kampfbedingten Notlagen und richtet sich fast nie gegen Einzelne.45 Es sind also auch bei den Propheten überwiegend Bedrängnisse aus Handlungen im Blick. Diese sind allerdings anders als in den erzählenden Texten entweder bereits aktuell oder werden vorausgesagt – eine rückblickende Darstellung kommt kaum vor.46 Kontext ist meistens eine Gerichtsankündigung, wobei sich die Bedrängnis als Auswirkung des Gerichts gegen die eigene Volksgruppe des Propheten richtet, je nach Buch also

41 42

43

44 45 46

Vgl. Ri 8,34; 10,14; 1Sam 10,19; 2Chr 28,22. Vgl. Ri 6,9; 10,12; 1Sam 26,24; 2Sam 4,9; 22,19; 2Chr 28,22; 33,12, aber z. B. Lev 26,26 für Gott als Bedrängenden. Wenn das gegen Einzelne gerichtete Bedrängen explizit verboten wird, so ist daraus zu schließen, dass aktives Bedrängen negativ besetzt ist. Vgl. 2Sam 13,2 für die negative Darstellung des Amnon als Bedränger. Vgl. außerdem Ex 22,21; 23,9; Lev 19,33; Dtn 23,17 sowie die Aufforderung in Lev 25,14.17 u.ö., man solle den Nächsten nicht übervorteilen (μὴ θλιβέτω ἄνθρωπος τὸν πλησίον). Ähnlich Sir 31,31. Vgl. die Verwendung des Begriffs bei Sib 3,630; TestIss 3,8 (Spende an Bedrängte) und TestSeb 7,1 von jemandem, der im Winter keine Kleidung hat. Sib 3,242 und TestBen 5,1 zeigen die Perspektive, dass die Unterstützung der Bedrängten zum Normalfall wird. Θλῖψις κτλ. ist 20mal in Jesaja und 6mal in Jeremia belegt, bei den übrigen Propheten nur selten. Vgl. Hos 5,15; Mi 2,12; Nah 2,2; Jes 29,7; 30,6; 37,3; 49,26; Jer 6,24; 37,20. Anders z. B. Jon 2,3. Vgl. Hos 7,12; Mi 5,8; Ob 12.14; Nah 1,7.9; Jes 10,3.26; 11,13; 29,7; 37,3; 49,26 u.ö. Vgl. für einen der seltenen Rückblicke auf eine Bedrängnis z. B. Jes 63,9.

§ 4 Begriffsgeschichtliche Betrachtung von θλῖψις κτλ.

69

entweder auf Israel, Juda, Jerusalem oder einen ‚Rest‘.47 Der Grund für die Bedrängnis der Volksgruppe des Propheten liegt in deren Abwendung von Gott, wodurch sie oft explizit auf diesen als Verursacher zurückgeführt wird:48 Häufig bewirkt er für die eigene Volksgruppe als Strafe die Bedrängnis durch das Herbeiführen feindlicher Völker.49 Dabei richtet sich der Blick eher auf die Bedrängnis oder ihr Kommen als auf ihr Ende: Denn die Erklärung der Bedrängnis durch die Abtrünnigkeit von Gott zielt auf ihre Deutung und nicht ihre Beendigung. An einigen Stellen erweitert sich anhand der Bedrängnis der Blick von der eigenen Volksgruppe auf ein weltumgreifendes Geschehen mit proto-apokalyptischen Charakteristika.50 Die Rede vom ‚Tag der Bedrängnis‘ kommt bei den Propheten gehäuft vor und gehört zum Motivkreis des Tags Jahwes.51 Dieser ist meistens vorgestellt als kommender Tag des Gerichts, der sich gegen die Volksgruppe des Propheten (vgl. Ob 12.14; Jes 10,3.26f; 37,3; Jer 15,11) oder deren Feinde richtet (vgl. Jes 33,2).52 Dabei kann das Bild von Jahwe als Krieger auftauchen (vgl. Hab 3,3ff). Häufig finden sich im Umfeld auch Beschreibungen von protoapokalyptischen Phänomenen: entweder die Darstellung des Gerichtstages als universal weltumspannend (vgl. Nah 1,7; Zeph 1,15ff; Hab 3,16) oder die Begleitung durch Naturereignisse wie Flut, Dunkelheit und Erdbeben (vgl. Hab 3,3ff; Nah 1,7).53 Dazu treten Begriffe, die in der späteren jüdischen apokalyptischen Literatur häufig vorkommen, besonders die Beschreibung der Bedrängnis als Geburtswehen (ὠδίν, vgl. Jer 6,24; 27,43; Jes 26,16f; 37,3).54 Schließlich steht der ‚Tag der Bedrängnis‘ in Dan 12,1 in explizit apokalyptischem Zusammenhang.55 Entscheidend ist jedoch, dass dabei die Geschichtsmächtigkeit Gottes nicht aufgehoben wird, was durch die Rede 47 48

49

50 51

52 53

54 55

Für eine gegen andere Völker gerichtete Bedrängnis vgl. lediglich Hab 3,16. Vgl. SCHLIER, Art. θλίβω, 142: „Denn fast alle solchen realen Bedrohungen der geschichtlichen Existenz des erwählten Volkes sind von Gott als Strafe für seine Untreue herbeigeführt und dienen der Bereitung eines gehorsamen Volkes.“ Dabei nennt er als Belege fast ausschließlich prophetische Texte: 2Chr 20,9ff; Hos 5,15; Neh 9,26f; Jes 26,16; 37,3; 63,9; 65,16; Jer 10,18 uvm. Vgl. Hos 7,12 als Erziehung oder Züchtigung (παιδεύω), Jer 10,18 als Plage bzw. Schläge (πλήγη), vgl. Jer 11,16. In Jes 63,9 werden die Feinde mit Gott identifiziert: Gott führt Krieg gegen das Volk. Vgl. für die universale Ausrichtung der Bedrängnis: Ob 14f; Hab 3,3–16 und Zeph 3,14–18. Vgl. SÆBØ, Art. ‫יוֹם‬, 582, demzufolge die Rede vom ‫ יום יהוה‬in der hebräischen Bibel 16mal wörtlich und 11mal in leichten Varianten vorkommt. In der LXX ist ἡμέρα (τοῦ) κυριοῦ in wörtlicher Übersetzung von ‫ יום יהוה‬belegt in: Jes 13,6.9; Ez 13,5; Jo 1,15; Jo 2,1.11; 3,4; 4,14; Am 5,18; 5,20; Ob 15; Zeph 1,7.14 und Mal 3,22. Bei Daniel kommt der Ausdruck nicht vor. Gemeinsam kommen der Tag Jahwes und der Tag der Bedrängnis vor bei Ob 12ff und Zeph 1,14f. SÆBØ, Art. ‫יוֹם‬, 584 zufolge ist die zukünftige Ausrichtung des Tags die häufigere. Vgl. zu typischen Phänomenen apokalyptischer Texte HELLHOLM, Art. Apokalyptik I, 589; BOUSSET, Religion, 242–286, insbes. 250 zu Naturphänomenen sowie BEKER, Sieg, 29f zum universalen Charakter apokalyptischer Motive. Vgl. BOUSSET, Religion, 250 für zahlreiche Belegstellen in apokalyptischen Schriften. Vgl. a. a. O., 243 und LEBRAM, Art. Apokalyptik II, 194f. Der Ausdruck ‚Tag Jahwes‘ kommt in Dan 12 nicht vor.

70

Teil I: Voraussetzungen der Arbeit

vom Zorn deutlich wird (z. B. Nah 1,7ff; Zeph 1,15): Gott ist Urheber des ‚Tags der Bedrängnis‘ und damit gleichzeitig der Leiderfahrung für die eigene Volksgruppe oder für Fremdvölker.56

4.2.2.3

Weisheitliche Texte und Spätschriften

Der Begriff θλῖψις κτλ. ist in den 34 Belegen in weisheitlichen Texten und Spätschriften der LXX deutlich stärker auf das Ergehen von Einzelnen bezogen.57 Zeitlich wird die Bedrängnis wie in den prophetischen Texten als bereits eingetreten oder zukünftig ausstehend und nicht als vergangen vorgestellt. Meistens ist sie auf Handlungen zurückzuführen wie die Bedrängnis durch Feinde (vgl. SapSal 5,1; 10,15; PsSal 1,1; 8,1; Sir 31,31), bei der die Bedeutung offen bleiben kann. Die Bedrängnis kann besonders im Sirach-Buch als bloße Möglichkeit in der Freundschaftsethik dargestellt werden: In der potentiellen Bedrängnis erweist sich echte Freundschaft (vgl. Sir 6,8.10; 22,23; 37,4). Ein ebenfalls neuer Aspekt ist die explizite Erwähnung von Sünde als Ursache der Bedrängnis. Dabei ist mehr an einen Tat-Folge-Zusammenhang gedacht als an ein explizites Strafhandeln Gottes.58 Wo die Bedrängnis eindeutig auf Gott zurückgeführt wird, ist damit die Erziehung (παιδεία κτλ., vgl. PsSal 16,11; ferner OdSal 5,16; 6,3 und schon Hos 7,12) oder Prüfung (δοκιμασία, PsSal 16,14) von Einzelnen beabsichtigt.59 Gleichzeitig wird Gott als derjenige beschrieben, der aus der Bedrängnis rettet (vgl. Sir 46,5.16; 51,3; PsSal 5,5; SapSal 10,15). Der ‚Tag bzw. die Zeit der Bedrängnis‘ kann in diesen Texten einerseits als Moment einer konkret vorgestellten Situation (vgl. Sir 51,10) oder als die bereits erwähnte potentielle Bedrängnis im Freundschafts-Kontext verwendet werden (vgl. Sir 6,8.10; ferner 22,23). Andererseits kann er auch mit

56

57

58

59

Vgl. SCHLIER, Art. θλίβω, 142. LEBRAM, Art. Apokalyptik II, 196 betont, dass die Prophetie des AT „mit einem ständigen Handeln Gottes in der Geschichte“ [Hervorhebung im Original] rechne. Vgl. SÆBØ, Art. ‫יוֹם‬, 584, der für den ‚Tag Jahwes‘ festhält: „Die Hauptsache ist aber die Tat Gottes.“ Dagegen bestreitet KRATZ, Art. Apokalyptik II, 592, dass die Anfänge der Apokalyptik im AT liegen. Vgl. LEBRAM, Art. Apokalyptik II, 198, der davon ausgeht, dass in der Apokalyptik ein Problem auf kosmisch-geschichtlicher Ebene thematisiert wird, das in der Weisheit zentral für die Fragen des Einzelnen ist. Ich berücksichtige hier besonders Sir, welches die meisten Belege hat (15mal) und OdSal, Spr, Hi, SapSal sowie PsSal. Vgl. Gen 42,21; Spr 24,10; Sir 2,11; PsSal 1,1; 16,11–15. Vgl. ferner die Belege Hi 15,24; 20,22, die den Frevler (ἀσεβής) als anfällig für Bedrängnis beschreiben. Der Begriff kommt bei Hiob sonst nur in 36,15 vor. Vgl. TALBERT, Learning, 11–17, der das Motiv von „Suffering as Divine Discipline“ im antiken Judentum darstellt. Er zeigt es auch in der griechisch-römischen Antike (17–20) und verweist z. B. auf Platon, R. 380b; Seneca, De providentia, 2,5f; Epiktet, Diss. 1,24,1–3.33; 3,10,7f. Das Motiv ist dort jedoch nicht direkt mit dem Begriff der θλῖψις κτλ. verbunden.

§ 4 Begriffsgeschichtliche Betrachtung von θλῖψις κτλ.

71

proto-apokalyptischen Motiven als Zeitpunkt des Eingreifens Gottes als Krieger vorgestellt werden (vgl. Sir 35,18–24: Gericht der Menschen, Vergeltung der Völker).60

4.2.2.4

Psalmen

In den Psalmen ist der Begriff mit etwa 70 Belegen am häufigsten vertreten. Dabei findet sich die überwiegende Zahl in den Klage- oder Dankliedern des Einzelnen.61 Die Verteilung der Belege entspricht dabei in etwa der Häufigkeit der jeweiligen Psalmengattungen im gesamten Psalter. Lediglich im kollektiven Hymnus fehlt der Begriff völlig, sodass in den Psalmen meistens exemplarische Einzelne von Feinden bedrängt sind.62 Daher ersetzt das Partizip des Verbs θλίβω häufig den Begriff ἐχθρός (Feind, Gegner).63 Fast immer ist die Bedrängnis also auf Handlungen und nicht auf Ereignisse zurückzuführen.64 Ψ 65,11 macht deutlich, dass sie als Druck und Last auf die Schultern vorgestellt sein kann, wodurch die Grundbedeutung des Begriffs aufscheint. Es geht meistens um gegenwärtige Situationen, aus denen sich das Psalmengebet an Gott richtet.65 Die Bedrängnis wird dabei für die Gerechten teilweise als selbstverständlich und unvermeidbar dargestellt (vgl. Ψ 33,20; 36,39).66 Wenn nicht auf narrative Kontexte wie den Exodus verwiesen wird (vgl. Ψ 105,11), bleibt der konkrete Hintergrund der jeweiligen Bedrängnis unklar und eine detaillierte Analyse der Leiderfahrung kaum möglich. Wahrscheinlich ist meistens an Leiden auf somatisch-physischer Ebene gedacht, was 60

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63

64 65

66

Vgl. für den Zusammenhang von Weisheit und Apokalyptik in Bezug auf eine universale Perspektive z. B. COLLINS, Cosmos, 142. Zum Problem des Verhältnisses von Weisheit und Apokalyptik vgl. MICHEL, Weisheit, 413–415, der die Problemlage skizziert. Er kommt in seiner Untersuchung zu dem Ergebnis, dass Berührungen zweifellos vorhanden seien, wenn auch die Apokalyptik nicht aus der Weisheit entstanden sei (431–434). Vgl. für die Gattungseinteilung z. B. HARTENSTEIN/JANOWSKI, Art. Psalmen II, 1762–1766. Thematisch stehen einige Geschichtspsalmen den Charakteristika der erzählenden Texten nahe, andere weisheitliche Psalmen den weisheitlichen Texten. In Bezug auf das ganze Volk kommt der Begriff θλῖψις κτλ. nur in Klageliedern des Volkes in zwei Psalmen vor: Ψ 24,2; 43,8.25; 105,11.42.44. Auffällig ist dabei, dass zumindest Ψ 105 thematisch als Geschichtspsalm bezeichnet wird und den erzählenden Texten nahesteht. Vgl. Ψ 3,2; 12,5; 22,5; 80,15; 142,12; vgl. Klgl 1,5.7.10; Mi 5,8. Selten kann ἐχθρός Subjekt des Verbs θλίβω sein (Ψ 105,42) oder das Substantiv θλῖψις parallel zu ἐχθρός stehen (Ψ 53,9). FABRY, Art. ‫צַ ר‬, 1121 weist darauf hin, dass bereits das hebräische ‫ צַ ר‬I in der LXX personalisiert als ‫ צַ ר‬II mit ἐχθρός übersetzt werden kann. Auf Ereignisse bezieht sich θλῖψις κτλ. nur in Ψ 106,19 (Krankheit) und 106,28 (Seenot). Vgl. Ψ 3,2; 12,5; 21,12; 24,17.22; 26,12; 30,10; 45,2. In einigen Fällen ist die Bedrängnis nicht als konkret gedacht, sondern es wird Gottes Hilfe in möglicher Bedrängnis bekräftigt: z. B. 9,22; 31,7; 33,20; 36,39. Manchmal wird auf die vergangene Bedrängnis zurückgeblickt, wenn für eine Rettung gedankt wird, z. B. 17,7; 33,7.18; 43,8; 53,9. Vgl. SCHLIER, Art. θλίβω, 142, der noch auf 4Makk 18,15; Ψ 137,7 verweist.

72

Teil I: Voraussetzungen der Arbeit

manchmal durch entsprechende Parallelbegriffe wie ὀδύνη (Schmerz) in Ψ 106,39; 114,3 ausgedrückt wird. Selten ist eine Bedrängnis auf der psychischen Ebene gemeint, wie die Schmährufe in Ψ 41,11. Die Schilderung der Bedrängnis zielt immer auf die Rettung daraus, die nur in Verbindung mit Gott geschehen kann. Daher wird dieser beschrieben als Hilfe/Helfer (βοηθός κτλ., Ψ 9,10; 21,12; 45,2; vgl. Klgl 1,7; PsSal 5,5; 15,1), als Zuflucht (καταφυγή, Ψ 9,10; 31,7; 45,2; 58,17) und häufig als Rettung/Retter (σωτηρία κτλ. bzw. ῥύομαι).67 Gott kann allerdings auch explizit als Ursache der Bedrängnis genannt werden (z. B. Ψ 65,10f; 70,20; 77,49).68 Schließlich fällt auf, dass der Begriff θλῖψις κτλ. hauptsächlich hier im Zusammenhang eines (möglicherweise von deuteronomistischer Redaktion beeinflussten) Rettungsschemas verwendet wird.69 Demzufolge sind in erster Linie Betende und selten das Volk in Bedrängnis (θλῖψις κτλ., teils στενοχωρία κτλ. oder ἀνάγκη κτλ.). Darin rufen sie zweitens Gott an, was vorwiegend mit den Begriffen βοάω, κράζω und ἐπικαλέω ausgedrückt wird. Drittens erhört Gott die Betenden (εἰσακούω, ἐπακούω), was bereits einer Rettung aus der Bedrängnis gleichkommt, die noch explizit mit den Begriffen ῥύομαι oder σωτηρία κτλ. ausgedrückt werden kann. Die beschriebenen Charakteristika von θλῖψις κτλ. in den Psalmen zeigen sich auch anhand des lediglich fünfmaligen Vorkommens des Tags der Bedrängnis: In Ψ 19,2; 49,15 bezieht er sich darauf, dass im potentiellen Fall einer Bedrängnis die Betenden Gott um Hilfe bitten können. Ψ 58,17 besingt Gottes Zuflucht in einer gegenwärtigen Not, während Ψ 76,3; 85,7 auf die Rettung in einer vergangenen Not zurückblicken. Dabei sind keine protoapokalyptischen Motive verwendet.70

4.2.3

Zwischenfazit

1. In der LXX überwiegt die übertragene Bedeutung von θλῖψις κτλ. Die Bedrängnis ist fast immer negativ konnotiert: Dem Volk und exemplarischen Einzelnen wird Leiden bereitet, das meistens im Zusammenhang mit Krieg, 67

68

69

70

Vgl. für die Verbindung des Endes der Bedrängnis mit dem Begriff σωτηρία κτλ. Ψ 43,8; 59,13; 107,13; 137,7 und außerhalb des Psalters Ri 10,12.14; 1Sam 10,19; 2Sam 22,18f; 2Chr 20,9; Jes 19,20; 63,9. Vgl. für eine Verbindung mit dem Begriff ῥύομαι vgl. Ψ 53,9; 80,8; 106,6.13.19.28 und außerhalb des Psalters Ri 6,9; Jes 49,26; 3Makk 2,12; SapSal 10,15. Vgl. SCHLIER, Art. θλίβω, 142 mit Verweis auf Bedrängnis durch Krankheit und Todesgefahr (Ψ 3,2; 12,5; 22,5) sowie durch Feinde (Ψ 65,11; 70,20). In Ψ 9,22; 44,24f lässt Gott Bedrängnis zu. So z. B. Ψ 17,7; 33,7.18; 68,18; 80,8; 85,7; 90,15; 105,44; 106,6.13.19.28; 117,5; 119,1. Das Schema tritt aber auch darüber hinaus auf: einige Male in erzählenden Texten (Ex 3,9; 4,31; Ri 6,9; 10,12– 14; 2Sam 22,7.18) und selten in prophetischen (Jes 19,20; 57,13; Jon 2,3 = OdSal 6,3) sowie weisheitlichen Texten (SapSal 46,5.16; PsSal 15,1). Vgl. REINDL, Art. ‫לַחַ ץ‬, 549, der den hebräischen Begriff ‫ לַחַ ץ‬häufig im „Wortfeld des dtr Rettungsschemas“ belegt sieht. Vgl. die Belege für den Ausdruck ‚Zeit der Bedrängnis‘ in Ψ 36,39; 9,10.22.

73

§ 4 Begriffsgeschichtliche Betrachtung von θλῖψις κτλ.

Kampf und deren Auswirkungen steht. Aktiv bedrängende Menschen werden negativ dargestellt und der Begriff kann auch ökonomische Bedrängnis bezeichnen. 2. Die Grundbedeutung des neutral verstandenen ‚Drängen, Quetschen‘ kommt kaum vor. Allerdings spielt das Bildfeld von Enge und Druck noch bei einigen Leidbeschreibungen eine Rolle. Begriffe zur Beendigung des Leidens stammen dann aus dem antonymen Bildfeld des Weitens und Raum Schaffens. 3. Es zeigt sich, dass θλῖψις κτλ. häufig nicht die Leiderfahrung selbst beschreibt, sondern die Einwirkung äußerer Einflüsse, die im Menschen die Leiderfahrung bewirken. Die Umstände einer Leiderfahrung sind also mit dem Bedrängnis-Begriff nicht eindeutig festgelegt. Sie bedürfen einer weiteren Beschreibung. 4. Das Motiv von ‚Tag/Zeit der Bedrängnis‘ taucht in verschiedenen untersuchten Teilen der LXX auf. Es ist nicht eindeutig auf einen einzigen Traditionshintergrund festzulegen. Damit kann auch der θλῖψις-Begriff selbst nicht nur auf einen Verwendungskontext reduziert werden. 5. Die Bedrängnis wird überwiegend auf Handlungen zurückgeführt. Dabei ist fast ausschließlich die somatisch-physische Ebene im Blick, während die sozial-psychische anhand des Begriffs kaum betrachtet wird. Wegen des eindeutigen Ergebnisses sind diese beiden Differenzierungen nicht in der untenstehenden Tabelle aufgeführt. 6. Mit Blick auf die Fragen der zeitlichen Verortung, der Betroffenen sowie einer möglichen Rückführung auf Gott lassen sich Unterschiede zwischen den untersuchten Teilen der LXX feststellen. Zur Illustration dient die folgende Tabelle, die sich jeweils auf die Mehrzahl der Belege bezieht.

Erzählende Texte Prophetische Texte Weisheitliche Texte Psalmen

Zeitliche Verortung vergangen/ gegenwärtig gegenwärtig/ zukünftig gegenwärtig/ zukünftig überwiegend gegenwärtig

Betroffen

Rückführung auf Gott

Volk

meist nur implizit

Volk

explizit

einzelne Gerechte

teils explizit

überwiegend Einzelne

meist nur implizit

74

Teil I: Voraussetzungen der Arbeit

4.3

Der Begriff bei Philo von Alexandrien

Der jüdisch-hellenistische Autor Philo verwendet θλῖψις κτλ. meistens in der übertragenen Bedeutung.71 Menschen können von ihrer Not (συμφόρα) völlig niedergedrückt und ‚bedrängt‘ sein. Das gilt für Jakob, wenn er vom vermeintlichen Tod seines Sohnes erfährt (Jos. 22), wie auch für Flaccus, wenn er die Insel seiner Verbannung erreicht (Flacc. 160). Dabei wird die Leiderfahrung in Anlehnung an die Grundbedeutung als eine Last dargestellt, die als Gewicht (βαρύς) auf Kopf oder Nacken drückt. θλῖψις κτλ. bezeichnet also weder direkt das Leiden der Betroffenen noch den äußeren Anlass, sondern die Art und Weise, wie der Anlass auf die Betroffenen einwirkt. In Jos. 26 stellt Philo den Begriff in einen Zusammenhang mit anderen Leiderfahrungen Jakobs wie λύπη, θάνατος und ἀποθνῄσκω (Trauer, Tod, Sterben). Im Zitat von Ψ 77,49 in gig. 15 greift er die Vorstellung auf, dass Gottes Zorn als Strafe für die Untreue des eigenen Volks eine Bedrängnis bringen wird. Der Psalm bezieht sich auf die Plagen in Ägypten, unter denen ausschließlich Ereignisse genannt sind. Ähnlich beschreibt praem. 145 den Schmerz einer Krankheit als Druck, die Krankheit selbst aber zuvor in praem. 143 als Resultat von Gottlosigkeit. Der θλῖψις-Begriff erhält also bei Philo keine neue Bedeutung, aber eine Pointierung. Er verwendet ihn neben der Grundbedeutung zur Darstellung von Leiderfahrungen Einzelner. Diese werden einerseits als Handlungen anderer Menschen erklärt, die sich aber anders als in der LXX eher auf der somatisch-psychischen Ebene auswirken. Andererseits bezieht er den Begriff auf Ereignisse wie Krankheiten oder Naturkatastrophen und führt diese auf Gott als Urheber zurück.72

4.4

Der Begriff in neutestamentlicher Zeit

Im NT/bei Paulus kommt θλῖψις κτλ. insgesamt 55mal/24mal vor, davon 10mal/4mal das Verb und 45mal/20mal das Substantiv. Im 2. Korintherbrief gebraucht Paulus den Begriff 12mal. Die bereits in § 4.1.1 genannten Belege zeigen, dass der Begriff den neutestamentlichen Autoren in seiner Grundbedeutung vertraut ist (Mt 7,14; Mk 3,9; 5,24.31; Lk 8,45), während er sonst in übertragener Bedeutung verwendet wird.73 Für das Verständnis von Leid71

72

73

Die Grundbedeutung von ‚Quetschen, Drücken, Drängen‘ verwendet Philo in Mos. 1,271; aet. 129; praem. 145, wobei die körperlichen Krankheiten des letzten Belegs Teil göttlicher Strafe sind. Eine gesonderte Darstellung des jüdisch-hellenistischen Geschichtsschreibers Flavius Josephus ist nicht weiterführend, da er seine seltene Verwendung des Begriffs wie andere antike Historiker auf den militärischen Kontext beschränkt (vgl. BJ 1,115; 3,412; AJ 20,111). Vgl. KREMER, Art. θλῖψις, 376.

§ 4 Begriffsgeschichtliche Betrachtung von θλῖψις κτλ.

75

erfahrungen ist also die Grundbedeutung mitzudenken. Im Folgenden wird der Begriff im NT untersucht, um seine Bedeutung in nachpaulinischer Zeit im sich unterschiedlich ausbildenden Urchristentum zu erfassen. Die deuteropaulinischen Texte werden dabei nicht einbezogen, sondern soweit relevant als wirkungsgeschichtliche Perspektive bei den Einzelexegesen berücksichtigt. Gleiches gilt für die verhältnismäßig wenigen Belege der außerneutestamentlichen pseudepigraphen Literatur.74

4.4.1

Matthäus- und Markus-Evangelium

Θλῖψις κτλ. ist in Mk und Mt zusammen 7mal in übertragener Bedeutung und dabei besonders in der jesuanischen Endzeitrede Mk 13/Mt 24 (nicht bei Lk!) belegt. Dieser Text ist stark apokalyptisch geprägt:75 Die Bedrängnis wird dort unter Bezug zu Dan 12,1 als θλῖψις μεγάλη beschrieben, wie seit dem Beginn der Schöpfung keine geschehen ist (Mk 13,19; Mt 24,21; vgl. Lk 21,23: ἀνάγκη μεγάλη).76 Die Bedeutung wird jedoch wie bereits häufig in der LXX nicht aus dem Begriff selbst klar, sondern erst durch die vielen inhaltlich damit verbundenen Bilder.77 Das zeigt sich auch in Mt 24,9: Die Menschen liefern die Jünger an die θλῖψις aus, was in 24,9b erklärt wird als Mord und Hass gegen die Jünger. Da die Rede im Futur formuliert ist und eingeleitet wird durch die Frage nach den Zeichen für das Ende der Welt (Mk 13,4/Mt 24,3), sind die Bedrängnisse auf der Textebene als noch ausstehend dargestellt. Das trifft auch auf die beiden weiteren Belege in Mk 4,17/Mt 13,21 zu. In der Erklärung zum Gleichnis vom Sämann führt Bedrängnis, erklärt als Verfolgung (διωγμός), dazu, dass jemand am Wort Anstoß nimmt (σκανδαλίζω) und es verleugnet. Wahrscheinlich ist auch hier der Kontext des anbrechenden Weltenendes vorausgesetzt, da das Substantiv θλῖψις bei

74

75 76

77

Beispielsweise in TestXII und Herm kommt θλῖψις κτλ. je 15mal vor, in Sib 11mal, in JosAs 9mal, in den griechischen Fragmenten von 1Hen 5mal und in ApkMos 2mal. Vgl. SCHLIER, Art. θλίβω, 144. Vgl. für die große Bedrängnis auch Sib 3,187. Weitere apokalyptische Motive sind die Qualifizierung von Krieg, Hungersnöten, Verführern und falschen Christussen als Wehen (ὠδίν, Mk 13,8/Mt 24,8; vgl. Jes 37,3; Jer 6,24; 27,43), die anschließenden Naturereignisse wie Sonnen- und Mondfinsternis (Mk 13,24/Mt 24,29, vgl. Lk 21,10f.25f), das Kommen des Menschensohns (Mk 13,26/Mt 24,2; vgl. Dan 7,13) die Aussendung der Engel mit Posaunentönen und die Zeitangabe ‚in jenen Tagen‘ (Mk 13,19.22/Mt 24,19.22; vgl. Lk 21,23). LUZ, Matthäus III, 435 zufolge können die Rezipienten des Textes z. B. durch das Bild der Posaune „von ihrem Traditionswissen her“ die Beschreibung als „die letzte große Not der Endzeit“ (422) einordnen: Es bestehen Verbindungen zum Tag Jahwes (Jo 2,1; Zeph 1,16) und dem Gericht (ApkMos 22; Sib 8,239ff). Weitere Zeichen des Weltendes außerhalb des NT mit dem Begriff θλῖψις κτλ. sind z. B. die Geburt von weißhaarigen Kindern (Sib 2,156), der politische Zwang zur Gottlosigkeit (Sib 3,187; Herm 14,5; 98,3), schlechte Lebensumstände und Krieg (Sib 5,86) sowie Streit, Inhaftierungen und Krankheit (TestSeb 9,6; TestNaph 4,2).

76

Teil I: Voraussetzungen der Arbeit

Mt/Mk sonst nur in der Endzeitrede und dort im Singular vorkommt. Beide verwenden also den Begriff ausschließlich für die kommende endzeitliche Bedrängnis.

4.4.2

Johannes-Evangelium

In den Abschiedsreden von Joh 16 sind die zwei Belege für θλῖψις κτλ. in den Kontext apokalyptischer Motive gestellt.78 Durch das Gegenüber von Freude und Trauer (16,20.22, λύπη vs. χαρά) und die parallele Verwendung von θλῖψις und λύπη in 16,21 wird χαρά auch für θλῖψις als Gegenbegriff gebraucht. Dadurch kann sich die Bedrängnis hier sowohl auf die somatischphysische wie auch auf die sozial-psychische Ebene beziehen.79 Die zeitliche Darstellung der Bedrängnisse changiert zwischen bereits angebrochen (16,21f.32f) und noch als zukünftig ausstehend (16,20.32), was die in der Apokalyptik strikte Trennung von gegenwärtigem und kommendem Äon aufweicht.

4.4.3

Lukanisches Doppelwerk

Im Lukas-Evangelium kommt der Begriff nur in 8,45 in der Grundbedeutung vor. In der Apostelgeschichte ist das Substantiv θλῖψις 5mal belegt. Apg 7,10 schildert allgemeine Bedrängnisse: In einer Genesis-Nacherzählung im Rahmen der Rede des Stephanus wird Josef rückblickend „aus allen seinen Bedrängnissen“ (Plural!) von Gott gerettet.80 Das kann sich auf verschiedene Erfahrungen in Josefs Biographie beziehen, wie die Verschleppung nach Ägypten oder die Zeit im Gefängnis. In Apg 7,11 wird die nacherzählte Hungersnot (λιμός) von Gen 41,27.30f u.ö. zusätzlich mit der apokalyptischen Wendung θλῖψις μεγάλη beschrieben. Bei der Bedrängnis in Apg 11,19 wird an eine Verfolgung gedacht sein, die auf die Steinigung des Stephanus folgt. Der Begriff θλῖψις steht also hier synonym für διωγμός. In Apg 14,22 blickt Paulus auf viele zu erwartende Bedrängnisse für die Christusglaubenden 78

79

80

Apokalyptische Motive sind der Vergleich zum Geburtsvorgang (16,21, allerdings ohne ὠδίν), die von Jesus besiegte Welt (16,33, vgl. Apk 17,14), die Zeitangabe ‚an jenem Tag‘ (ἐν ἐκείνῃ τῇ ἡμέρᾳ, 16,23.26) und die Rede von der erfüllten Freude (16,24). Vgl. DIETZFELBINGER, Johannes II, 185, für den sich allerdings bei Joh 16,21 „eine Auslegung auf die apokalyptisch verstandene Parusie“ (174) verbietet. Vgl. BULTMANN, Art. λύπη, 314; SPICQ, Art. λυπέω, 417 und HAARBECK/FREY, Art. λυπέω, 535. Der Begriff ist bereits in Gen 3,16f mit den Schmerzen der Geburt verbunden. Vgl. § 4.5.2. Vgl. TestJos 17,6; 20,1. Vgl. auch die zahlreichen Belege in JosAs, womit meistens die Bedrängnis der Aseneth gemeint ist (11,6; 13,1; 15,3; 18,3), aber Gott generell als Helfer der Bedrängten beschrieben ist (11,10.13; 12,11.13).

§ 4 Begriffsgeschichtliche Betrachtung von θλῖψις κτλ.

77

voraus. Konkreter wird Apg 20,23 durch den Zusatz „und Fesseln“: Der lukanische Paulus erwartet demnach für seine Reise nach Jerusalem eine Gefangenschaft, die er als Bedrängnis bezeichnet. Insgesamt kann die Apostelgeschichte also mit dem Begriff θλῖψις Anklänge an apokalyptische Motive haben. Überwiegend bezeichnet Lukas damit jedoch konkrete Widerfahrnisse auf der somatischen Ebene, die bis auf die nacherzählte Hungersnot auf Handlungen rückführbar sind.

4.4.4

Außerpaulinische Brieftradition

Außerhalb der paulinischen und deuteropaulinischen Briefliteratur kommt der Begriff nur vereinzelt vor. In den beiden Belegen Hebr 10,33; 11,37 wird auf bereits erduldetes Leiden zurückgeblickt. Während in 10,32f die Bedrängnis gemeinsam mit Beschimpfungen (ὀνειδισμός) und Kämpfen des Leidens (ἄθλησις παθημάτων) genannt ist, steht sie in 11,37 im Zusammenhang einer Liste von Martyriumsbeschreibungen der „Wolke der Zeugen“ (12,1). Es überwiegt die Verortung der Bedrängnis auf der somatisch-physischen Ebene, während die sozial-psychische Ebene am Rande im Blick ist. Im Jakobus-Brief bezieht sich die Bedrängnis auf eine materielle und soziale Notlage: Es wird als positiv angesehen und geboten, „den Bedrängten“ beizustehen.81 Diese sind in Jak 1,27 als zu besuchende Witwen näher bestimmt. Es ist bemerkenswert, dass θλῖψις κτλ. im 1. Petrusbrief nicht vorkommt, in dem doch häufig von Leiderfahrungen die Rede ist: Der Begriff πάθημα κτλ. wird dort 16mal verwendet – so häufig wie in keiner anderen neutestamentlichen Schrift.82

4.4.5

Johannes-Offenbarung

In der Johannesoffenbarung ist θλῖψις κτλ. 5mal belegt. Zunächst stellt sich der Seher in Apk 1,9 als Mitteilhaber (συγκοινωνός) der Bedrängnisse der Angesprochenen vor. Hier ist wie im Folgenden mit dem Begriff eine Leidenssituation der Angesprochenen vorausgesetzt: In 2,9 ist von der Bedrängnis und Armut (πτωχεία) der Angesprochenen die Rede, während in 2,10 eine nicht näher erklärte, aber durch den Teufel verursachte Bedrängnis noch als ausstehend dargestellt ist.83 In 2,22 und 7,14 ist die große Bedrängnis

81 82 83

Vgl. 1Tim 5,10 und den Bezug zu den erzählenden Texten der LXX in § 4.2.2.1. Vgl. § 4.5.1 für die Abgrenzung von θλῖψις κτλ. zu πάθημα/πάσχω. Vgl. für den Teufel bzw. Beliar als Ursache der Bedrängnis auch TestBen 3,3; 7,2.

78

Teil I: Voraussetzungen der Arbeit

(θλῖψις μεγάλη) angesprochen: In einem Fall wirft Gott die Untreuen in sie hinein, während in der Thronsaalvision ab 7,9 die Märtyrer aus ihr als Gereinigte vor den Thron treten (vgl. Sib 8,85; 1Hen 103,9; Herm 63,6).84 Diese Vision stellt die Bedrängnis der Märtyrer als endzeitlich und bereits vergangen dar.

4.4.6

Zwischenfazit

1. Während in der LXX auch Einzelne die Bedrängnis erfahren, treten diese im NT als Bedrängte in den Hintergrund (vgl. Apg 7,10; 20,23; Jak 1,27; Apk 1,9). Am häufigsten ist hier eine Gruppe von den Bedrängnissen betroffen. An die Stelle des bedrängten Gottesvolks aus der LXX tritt die bedrängte Gemeinde und in den Evangelien die bedrängten Jüngerinnen und Jünger.85 2. Im NT kommt die Grundbedeutung von θλῖψις κτλ. als ‚drücken, drängen‘ noch vereinzelt vor (z. B. Mk 3,9par; 5,24.31; Lk 8,45). Für sich genommen bezeichnet der Begriff also ein Widerfahrnis als drückend und einengend und damit als leidvoll. Es bedarf des Kontexts oder weiterer Begriffe, um die genaueren Umstände zu erhellen. In den meisten Fällen ist im jeweiligen Zusammenhang eine Verfolgung gemeint, selten auch eine ökonomische Notlage (Jak 1,27). Überwiegend wird die Leiderfahrung auf Handlungen zugespitzt, die sich primär auf der somatisch-physischen Ebene auswirken. 3. Etwa zwei Drittel der untersuchten θλῖψις-Belege stehen in Texten mit apokalyptischen Motiven (Mk, Mt, Joh, Apk).86 Hier gehört der Begriff zum optionalen Repertoire, ohne eine zusätzliche semantische Information einzubringen. Zeitlich ist die Bedrängnis durch diesen Kontext in die Zukunft verlagert, kann jedoch bereits in der Gegenwart beginnen (vgl. Joh 16). Zusätzlich zu Handlungen kann das als ‚große Bedrängnis‘ bezeichnete Leiden dabei besonders in den Endzeitreden von Mk 13/Mt 24 auf (Natur-)Ereignisse ausgeweitet werden. Die sozial-psychische Ebene wird teilweise ebenfalls einbezogen (vgl. den Hass gegen die Jüngerinnen und Jünger in Mt 24,9par).87 84

85 86

87

Bei apokalyptischen Visionen, die auf kommende Bedrängnisse vorausschauen oder das kommende Schicksal als rätselhafte Bilder zeigen, wird auch an anderen Stellen θλῖψις κτλ. verwendet: Herm 22,2; 23,4f; 63,4–7; 1Hen 22,13; 89,46; Sib 1,391. Vgl. SCHLIER, Art. θλίβω, 143. Vgl. a. a. O., 144f, der den eschatologischen Bezug unter Aufnahme apokalyptischer Motive als einen von vier Charakteristika des Begriffs im NT ansieht. Die drei anderen Charakteristika sind das Verständnis der Bedrängnis als notwendig, als Leiden Christi und schließlich im Zusammenhang mit dem letzten Gericht. Der zeitgeschichtliche Bezugspunkt für Mt und Mk ist wahrscheinlich der jüdische Krieg. Vgl. GNILKA, Markus II, 197 sowie den Bezug zu Dan 9,27; 11,31; 12,11. Die „Gräuel der Verwüstung“

§ 4 Begriffsgeschichtliche Betrachtung von θλῖψις κτλ.

79

4. Der in den besagten Schriften hergestellte Bezug gegenwärtiger Leiderfahrungen zu apokalyptischen Widerfahrnissen eröffnet m. E. zwei Strategien zur Leidbewältigung: Einerseits ist dadurch das Leiden als Erfüllung prophetischer Weissagungen gedeutet (vgl. Mt 24,15). Die Leiderfahrungen sind also nicht kontingent, sondern gehören nach Mk 13/Mt 24 (vgl. Lk 21,7ff) und Joh 16,33 notwendigerweise zum Weltenende. Ursache der Bedrängnisse ist dabei nicht Gott, sondern diese Welt bzw. die Menschen dieser Welt. Andererseits eröffnet die Verortung der Leiderfahrungen im Vollzug des Weltenendes die Perspektive auf das Ende des Leidens (z. B. Joh 16,21; Mk 13,27par.). Das kann verbunden sein mit göttlicher Vergeltung gegenüber den Bedrängenden (Apk 2,22) und Lohn für die Aushaltenden (vgl. Apk 7,9–17).88

4.5

Der Begriff im Verhältnis zu semantisch ähnlichen Begriffen

Das Verständnis der Bedeutung von θλῖψις κτλ. kann zusätzlich durch den Blick auf parallel vorkommende Begriffe und das Verhältnis zu ähnlichen Begriffen verdeutlicht werden.89 Im Folgenden werden zuerst πάθημα κτλ. und λύπη κτλ. dargestellt, da sie in der griechischen Philosophie und der LXX eine große Rolle einnehmen.90 Danach erfolgt ein Blick auf die beiden in der biblischen Literatur häufig parallel mit θλῖψις κτλ. vorkommenden Begriffe ἀνάγκη und στενοχωρία κτλ. Schließlich wird noch διωγμός κτλ. als eine mögliche Konkretion der Bedrängnis untersucht. Bei allen diesen Kurzdarstellungen ist das Verhältnis zum θλῖψις-Begriff im Fokus, sodass keine ausführlichen begriffsgeschichtlichen Darlegungen erfolgen.

4.5.1

πάθημα κτλ.

Das Hauptkennzeichen des Verbs πάσχω ist die Beschreibung der Passivität, mit der jemand ein Widerfahrnis erlebt. Damit steht es im Gegensatz zu Ver-

88

89

90

in Mk 13,14 beziehen sich wahrscheinlich auf den Plan des Kaisers Caligula, ein Kaiserbild im Jerusalemer Tempel aufzustellen. Vgl. a. a. O., 195. Zu Mt 24,15 vgl. LUZ, Matthäus III, 425–427. HELLHOLM, Art. Apokalyptik I, 590f schreibt zur sozialen Situation und Funktion apokalyptischer Texte: „In Krisenzeiten … wird durch hierarchisch autorisierte, supranaturale Enthüllungen endzeitlicher Geschehnisse den Leidenden die tröstende Botschaft der göttlichen Überwindung des Bösen und der Erneuerung des Guten kundgetan.“ Vgl. COLLINS, Prophecy, 158, der sich der These HELLHOLMs anschließt. Vgl. SCHLIER, θλίβω, 141, der eine Liste von parallel mit θλῖψις κτλ. vorkommenden Begriffen allerdings ohne Belegstellen nennt. Ich konzentriere mich auf die relevantesten. Für eine knappe begriffsgeschichtliche Betrachtung des Begriffs ἀσθένεια κτλ. vgl. den Ausblick auf 2Kor 10–13 in § 13.2 und für einen mit dem θλῖψις-Begriff vergleichenden Rückblick § 14.2.

80

Teil I: Voraussetzungen der Arbeit

ben des Tuns wie δράω (tun, verrichten), ἐνεργέω (sich betätigen, bewirken) und ποιέω (tun, machen).91 Das Verb bedeutet also zunächst neutral beschreibend ‚etwas erfahren/erleben, erleiden‘ ohne dabei selbst aktiv zu werden (vgl. Gal 3,4). Das Substantiv πάθημα kann darüber hinaus wie πάθος (Leidenschaft, Trieb) mit negativer Konnotation verwendet werden, was sich ebenfalls bis ins NT zeigt (vgl. Gal 5,24; Röm 7,5).92 Ein passiv erfahrenes Widerfahrnis wird zunächst durch entsprechende adverbiale Zusätze zum Verb als positiv oder negativ gekennzeichnet (κακῶς/εὖ πάσχειν), bevor die Bedeutung als leidvoll und negativ zur dominierenden wird.93 Daher beschreibt auch das Substantiv πάθημα wie θλῖψις die negativ erlebten Umstände und nicht die emotionale Seite des Leidens. Anhand des Begriffs werden in der außerbiblischen Literatur Strategien zur Leidensdeutung diskutiert, von denen hier nur zwei genannt seien. In der griechischen Tragödie wird anhand des Wortspiels πάθειν – μάθειν (Leiden – Lernen) hervorgehoben, dass Leiden einen pädagogischen und damit positiven Zweck erfüllt, man also sein Leben lang etwas daraus lernen kann.94 Dagegen zielt die stoische Philosophie darauf die ἀπάθεια zu erreichen, sich also von jeglicher Form von Affekten und Leiden zu befreien (vgl. Epiktet, Diss. 1,4,3; 3,15,12). Das Leiden zeigt dann den Charakter des Weisen, weil es ihm nichts anhaben kann (vgl. Diss. 2,19,24).95 Anders ist der Befund in der LXX. Dort ist das Substantiv gar nicht und das Verb πάσχω nur etwas mehr als 20mal belegt. Es gibt kein eindeutiges hebräisches Äquivalent.96 Belege finden sich vorwiegend in Märtyrer-Texten, wodurch der Begriff einen starken Bezug zu Tod und Getötet Werden bekommt.97 In einer weiteren Häufung ist der Begriff besonders in SapSal mit Strafen Gottes verbunden, die auf Götzendienst (SapSal 12,27), Fremdenhass (19,13) oder die ägyptische Unterdrückung des Volkes (18,11.19, die Plagen als κακῶς πάσχω) zurückgeführt werden. Außerdem wird der Begriff als ‚Mitleiden‘ gebraucht (Sir 38,16; Ez 16,5, Am 6,6; Sach 11,5). Reflexionen 91

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95 96

97

Vgl. MICHAELIS, Art. πάσχω, 903, der diese passive Bedeutung bereits bei Homer zeigt. Für die Wortbedeutung vgl. BAUER, 1279 und LIDDELL-SCOTT, 1346f. Das Gegenüber zu Verben des aktiven Handelns verwendet z. B. Philo, LA 1,49; 2,38; 3,201; Cher. 1,77.49.50.161.163 u.ö. Vgl. MICHAELIS, Art. πάθημα, 929. Vgl. in der Tragödie des 5./ 4. Jh. v.Chr z. B. Aeschylus, Pr. 1041 und Sophokles, OC 1489 sowie die Hinweise bei MICHAELIS, Art. πάσχω, 903 und GÄRTNER/HECKEL, Art. πάσχω, 1291. Vgl. MICHAELIS, Art. πάσχω, 905 und GÄRTNER/HECKEL, Art. πάσχω, 1292 mit Hinweis u. a. auf Aeschylus, Ag. 250f: Δίκη δὲ τοῖς μὲν παθοῦσιν μαθεῖν ἐπιρρέπει (Gerechtigkeit/Die Göttin Dike aber wägt so ab, dass durch die Leiden das Lernen kommt). Vgl. Hesiod, Op. 218; Herodot 1,207. Vgl. MICHAELIS, Art. πάσχω, 905. Nach DENIS, Concordance, 1103 übersetzt es in Am 6,6 die Wurzel ‫( חָ לָה‬affizieren, beeindrucken) und hat ansonsten kein eindeutiges hebräisches Äquivalent. Vgl. MICHAELIS, Art. πάσχω, 906 und GÄRTNER/HECKEL, Art. πάσχω, 1292. Vgl. in Est 9,26; 2Makk 6,30; 7,18; 7,32 und 4Makk 4,25; 9,28; 10,10; 13,17; 14,9. In 4Makk 13,17 ist πάσχω varia lectio für θνῄσκω.

§ 4 Begriffsgeschichtliche Betrachtung von θλῖψις κτλ.

81

über Ursache oder Deutung von Leiden geschehen in der LXX kaum anhand des Begriffs πάθημα κτλ.98 Im NT bezeichnen 42 Belege das Leiden. Außerhalb der Paulus-Briefe ist der Begriff, möglicherweise durch den Hintergrund der Märtyrer-Texte der LXX bedingt, überwiegend auf das Leiden Christi bezogen und seltener auf das Leiden der Christusglaubenden.99 Dabei liegt ein besonderer Schwerpunkt des Vorkommens im 1. Petrusbrief (16mal): Das Leiden Christi wird dort als unverdientes Leiden des Gerechten und Vorbild für die Christusglaubenden gedeutet (vgl. 1Petr 2,21–24).100 Für Christus ist in Passion und Tod somatisch-physisches Leiden mitgedacht (vgl. 1Petr 2,21–24; 4,1).101 Ähnlich wie in der LXX und anders als in der griechischen Philosophie findet anhand des Begriffs im NT – außer in 1Petr – keine ausgeprägte Leidensreflexion statt. Paulus verwendet πάθημα κτλ. insgesamt 12mal. Im 2. Korintherbrief kommt der Begriff nur 3mal im Proömium vor (2Kor 1,5–7).102 Da die genannten Belege im 2. Korintherbrief im Kontext von θλῖψις κτλ. stehen, werden sie bei der Untersuchung des Proömiums in den Blick kommen.

4.5.2

λύπη κτλ.

Der Begriff λύπη κτλ. bezeichnet zunächst allgemein den ‚Schmerz‘. Dieser kann entweder auf der somatisch-physischen Ebene verortet sein, ausgelöst durch Ereignisse wie Hunger, Durst und Kälte (Platon, Phlb. 31e: πεινάω/δίψος; Phd. 85a: πεινάω/ῥιγόω) oder Krankheiten (Sophokles, Aj. 338: νόσημα/νοσέω). Er kann jedoch häufiger auf der sozial-psychischen Ebene die Bedeutung von ‚Trauer, Kummer, Leid‘ und die „zornige Empfindung von Belästigung und Schädigung aller Art, bes. von Kränkung und Beleidigung“ 103 annehmen. In der Philosophie ist der Begriff meistens belegt, wenn es um das Erreichen der ἡδονή (Lust, Genuss) und später der χαρά geht, die das Gegenteil 98 99

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Vgl. MICHAELIS, Art. πάσχω, 906 und GÄRTNER/HECKEL, Art. πάσχω, 1292. Auf die Leiden Christi ist πάθημα κτλ. bezogen in: Mt 16,21parr; Mk 9,12par; Lk 22,15; 24,26.46; Apg 1,3; 3,18; 17,3; 1Petr 1,11; 2,21.23; 3,18; 4,1.13; 5,1; Hebr 2,9f.18; 5,8; 9,26; 13,12. Auf die Leiden von Paulus wegen des Glaubens ist er in Apg 9,16; Kol 1,24; 2Tim 1,12; 3,11 bezogen, auf das Leiden Christusglaubender wegen ihres Glaubens in 2Thess 1,5; Hebr 10,32. Vgl. PROSTMEIER, Handlungsmodelle, 52–57, auf den SIGISMUND, Identität, 180f verweist. Darüber hinaus bezeichnet πάθημα κτλ. allgemeine Krankheiten oder Besessenheit in Mt 17,15; Mk 5,26; Apg 28,5 oder tödliche Verletzungen in Lk 13,2. In der Bedeutung von ‚Leid/leiden‘ ist der Begriff insgesamt 12mal belegt, das Verb in 1Thess 2,2.14; 1Kor 12,26 (2mal); 2Kor 1,6; Phil 1,29; 3,10; Röm 8,17 und das Substantiv in 2Kor 1,5.6.7; Röm 8,18. Außerdem kommt das Verb als ‚erfahren‘ (Gal 3,4) und das Substantiv als ‚Leidenschaft‘ (Gal 5,24; Röm 7,5) vor. Dabei sind die drei Komposita mit συν- und προ- mitgerechnet. BULTMANN, Art. λύπη, 314. Vgl. LIDDELL-SCOTT, 1065f mit „pain of body“ als erster und „pain of mind, grief“ als zweiter Bedeutung für λύπη. Das Verb λυπέω bedeutet zunächst „grief, vex, distress“, dann auch „cause pain/grief“ (1065).

82

Teil I: Voraussetzungen der Arbeit

der λύπη sind.104 Von konkreten Ausdrücken des Trauerns abgesehen (z. B. κλαίω, δακρύω, πενθέω), hebt die λύπη am stärksten die emotionale Seite des Leidens hervor.105 Sie wird zwar fast ausschließlich als negativ angesehen, gehört aber genauso zum Leben wie die Freude.106 Fast nie wird der λύπη eine positive Funktion zugeschrieben.107 In der Stoa zählt sie mit φόβος (Furcht), ἐπιθυμία (Begierde) und ἡδονή (Lust, Vergnügen) zu den πάθη (Leidenschaften), von denen der Weise sich freimachen soll und kann (vgl. Epiktet, Diss. 1,2,22; 2,18,14; 3,13,11). Anlass können sowohl äußere Ereignisse als auch Handlungen anderer Menschen sein. Der fast ausschließliche Bezug auf die sozial-psychische Ebene unterscheidet dabei den Begriff von πάθημα κτλ., wobei die stoische Haltung gegenüber beiden identisch ist. Die Vermeidung der λύπη durch Philosophie und Willenskraft ist verwurzelt im Blick auf die Gottheit (Diss. 2,16,45f). Diese hat den Dingen ihre Qualität als böse genommen, sodass man auch in der Erfahrung von Negativem glücklich sein kann (Diss. 3,8,3–5).108 Hat jemand dennoch wegen leidvoller Widerfahrnisse λύπη, so wird dies als κακόν beurteilt (Diss. 3,8,3). In der LXX kommt λύπη κτλ. mit über 100 Belegen deutlich häufiger vor als πάθημα κτλ. Der Begriff bezeichnet dort wie schon in der profangriechischen Literatur negative und schmerzhafte Erfahrungen, die nach Möglichkeit zu vermeiden sind.109 Das wird durch die parallelen Begriffe im jeweiligen Kontext verdeutlicht, wie ὀδύνη κτλ. (Schmerz), στεναγμός κτλ. (Seufzen), κλαίω κτλ. (Weinen) und vereinzelt θλῖψις κτλ.110 Als Gegenbegriff

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Vgl. BULTMANN, Art. λύπη, 315 mit Verweis auf Platon, Phlb. 21d; 31b. Nach CONZELMANN, Art. χαίρω, 351f mit diversen Belegen unterscheidet Platon kaum zwischen ἡδονή und χαρά. Ihm zufolge zieht Aristoteles ἡδονή vor, sodass χαρά kaum vorkommt. Vgl. MICHAELIS, Art. πάσχω, 904. BULTMANN, Art. πένθος, 41 hält πενθεῖν und λυπεῖσθαι für „kaum zu unterscheiden“. Paulus kennt beide Ausdrücke und gebraucht πενθεῖν z. B. in 2Kor 12,21. Euripides, IA 30–34: „Du musst dich aber freuen und leiden, denn sterblich bist du aufgewachsen. Auch wenn du es nicht wolltest, dieses ist von den Göttern so gewollt“ (δεῖ δέ σε χαίρειν καὶ λυπεῖσθαι·θνητὸς γὰρ ἔφυς. κἂν μὴ σὺ θέληις, τὰ θεῶν οὕτω βουλόμεν’ ἔσται). Vgl. Platon, Phd. 60b.c. Vgl. für den Hinweis auf diese sowie weitere Belege BULTMANN, Art. λύπη, 315. Vgl. a. a. O., 317f, wo BULTMANN bei der Ausführung von Ansätzen positiver Wertungen des Leidens in der griechischen Antike fast ausschließlich auf Belege verweist, die nicht von λύπη κτλ., sondern von πάθημα κτλ. handeln. Für den ‚Schmerz zur Reue‘ in 2Kor 7,9–11. Vgl. § 11.3.2 in der Einzelexegese zu 7,5–16. Epiktet, Diss. 3,8,5 sieht das als Argumente dafür, dass Zeus dem Stoiker wohlgesonnen sei: „Denn er [Zeus, EW] hat den Dingen ihr Böse-Sein genommen; denn es ist dir erlaubt, diese Dinge zu erleiden und (dabei) glücklich zu sein“ (ὅτι ἀφεῖλεν αὐτῶν τὸ εἶναι κακά, ὅτι ἔξεστιν σοι πάσχοντι ταῦτα εὐδαιμονεῖν …). Vgl. Sir 30,23: „Überrede deine Seele und tröste/ermahne dein Herz und halte den Schmerz weit weg von dir.“ Parallel zu λύπη kommt ὀδύνη κτλ. in Tob 3,1.10; Jes 19,10; 35,10; Spr 31,6; PsSal 4,15 vor, στεναγμός κτλ. in Gen 3,16; SapSal 11,12; Klgl 1,22; Jes 35,10; 51,11, κλαύω κτλ. in Tob 3,1; 7,6; Jes 15,2; Sir 38,17 und vereinzelt θλῖψις κτλ. in 1Makk 6,8–13; Sir 30,21; Jes 8,21f.

§ 4 Begriffsgeschichtliche Betrachtung von θλῖψις κτλ.

83

kommen v. a. in späten Schriften und im weisheitlichen Kontext häufig Begriffe für Freude vor: εὐφροσύνη κτλ. und seltener χαρά κτλ..111 In den meisten Fällen ist λύπη auf der sozial-psychischen Ebene verortet. Entweder wird sie ausgelöst durch das Unglück eines anderen, z. B. seines Todes (vgl. Gen 42,38; 44,29; 1Makk 14,16; 4Makk 16,12; Tob 2,5), hat also die Konnotation des Mitleidens.112 Oder eine Person erleidet λύπη durch Worte, die an sie oder andere gerichtet sind, wie Beleidigungen (Neh 5,6; Tob 3,6.10; 1Makk 10,22; 10,68; Sir 18,15) oder Unheilsbefürchtungen (Est 2,21; 6,12). Nur selten ist der Anlass der λύπη auf der somatischen Ebene verortet (1Makk 6,4ff; SapSal 15,13). In Gen 3,16f bezeichnet sie die Schmerzen von Frau und Mann nach der Ausweisung aus dem Garten Eden. Im NT wird der Begriff λύπη κτλ. 33mal verwendet, davon 24mal bei Paulus (18mal in 2Kor). Außerhalb der paulinischen Briefe ist er primär in den Evangelien belegt. Durch ihn wird dort die Reaktion entweder auf ein konkretes negatives Geschehen ausgedrückt (Mt 14,9; 18,31) oder auf die Leidensankündigung bzw. Erwartung von Leiden (vgl. Mt 17,23; 26,22; Lk 22,45; Mt 26,37; Joh 16,6.20.22). Er bezieht sich also in erster Linie auf die psychische Ebene und kann dementsprechend treffend mit „Trauer … Kummer … Herzeleid“113 wiedergegeben werden. Nur in Joh 16,20 und Hebr 12,11 ist er als ‚Schmerz‘ auf Erfahrungen der somatisch-physischen Ebene bezogen. Als Gegenbegriff wird hauptsächlich χαρά κτλ. verwendet (Joh 16,20; Hebr 12,11 und v. a. bei Paulus in 2Kor 2,3; 6,10; 7,8f; Phil 2,27).114 In 1Petr 2,19 steht λύπη neben πάσχω und scheint im Gegensatz zu diesem die sozial-psychische Ebene zu bezeichnen. Insgesamt ist festzuhalten, dass der Begriff λύπη κτλ. im NT das Leiden von der Betroffenheit auf der sozial-psychischen Ebene her beschreibt. Damit hat er ein deutlich engeres Bedeutungsspektrum als θλῖψις κτλ. und bildet nur einen relativ kleinen Ausschnitt aus dem paulinischen Diskurs über Leiderfahrungen ab, obwohl er im 2. Korintherbrief häufig belegt ist. Daher wird er nicht als Leitbegriff verwendet. Die Belege für λύπη κτλ. werden bei der Behandlung von Leiderfahrungen anhand des θλῖψις-Begriffs in 2Kor 2; 6 und 7 mit einbezogen.115 Im Gegenüber zu πάηθμα κτλ., was wiederum stär-

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112 113 114 115

Als Gegenbegriffe zu λύπη steht εὐφροσύνη κτλ. in Tob 10,13; 13,16; Sir 30,5; Esr 3,20; Spr 10,1; 14,13; 15,13, aber auch in Jes 35,10. In Tob 7,17; 13,16; Spr 14,13 ist dagegen χαρά κτλ. Antonym. Vgl. zum ‚Stachel der Trauer‘ (δῆγμα δὲ λύπης) als Mitleid bereits Aeschylus, Ag. 791. BAUER, 976–978. Vgl. BULTMANN, Art. λύπη, 321. Nur in 2Kor 2,2 ist εὐφραίνω der Gegenbegriff zu λυπέω. Der einzige weitere Beleg für λύπη in der Kollektenaufforderung von 2Kor 9,7 spielt für den paulinischen Diskurs zum Leiden keine entscheidende Rolle. Dort wird der Begriff gemeinsam mit ἀνάγκη als falsche Gesinnung für die Teilnahme an der Kollekte verwendet. Dagegen schreibt Paulus in Aufnahme von Spr 22,8, dass die Spende fröhlich (ἱλαρόν) gegeben werden solle. Über den Ursprung der potentiell falschen Einstellung zum Kollektenwerk, die nach den vorangehen-

84

Teil I: Voraussetzungen der Arbeit

ker auf die somatisch-physische Ebene zielt, bildet λύπη eine Ergänzung zur Untersuchung des Leidens anhand des θλῖψις-Begriffs. Während der Begriff in der griechischen Philosophie als Gegenteil von Lust den ‚Schmerz‘ bezeichnet, kann er in der LXX überwiegend und im NT fast ausschließlich als Gegenteil zum Begriffsfeld ‚Freude‘ mit ‚Trauer‘ wiedergegeben werden.

4.5.3

ἀνάγκη κτλ.

In der LXX ist ἀνάγκη κτλ. der häufigste Begriff im direkten Umfeld von θλῖψις κτλ. und wird oft direkt durch καί beigeordnet.116 Während er in seiner Grundbedeutung für einen Zwang oder eine Notwendigkeit steht, bezeichnet er in der LXX in übertragener Bedeutung verschiedene Not- und Bedrängnis-Situationen des Einzelnen oder des Volkes.117 Er wird auch in proto-apokalyptischen und apokalyptischen Texten verwendet. Im NT ist das Verb nur in der Grundbedeutung gebraucht (17mal, davon 4mal bei Paulus) und besagt immer, dass Personen gegen ihren Willen zu etwas gebracht werden (z. B. Mt 14,22par; Apg 26,11; 2Kor 12,11; Gal 2,3.14; 6,7). Diese Bedeutung hat auch das Substantiv (18mal, 9mal bei Paulus) z. B. in 1Kor 7,37; 2Kor 9,7; Phlm 14. Dazu tritt aber ein durch Gott oder göttliches Gesetz begründeter Zwang wie in 1Kor 9,16; Röm 13,5; Mt 18,7; Hebr 7,27. Nur in Kombination mit θλῖψις κτλ. (1Thess 3,7; 2Kor 6,4; vgl. 1Kor 7,26; Lk 21,23) oder weiteren Begriffen einer Leidensliste (2Kor 12,10) bezeichnet ἀνάγκη eine Not im Sinne einer Leiderfahrung, die apokalyptisch konnotiert sein kann.118 Im Vergleich zu θλῖψις κτλ. drückt ἀνάγκη als Bezeichnung von Leiderfahrungen stärker die Unfreiwilligkeit und Unausweichlichkeit eines Geschehnisses aus, weil jemand (gegen den eigenen Willen, vgl. 1Kor 7,37; 9,16; Phlm 14) dazu gezwungen ist. In seiner konkreten Bedeutung bleibt er jedoch unbestimmt.

4.5.4

στενοχωρία κτλ.

Fast ebenso häufig wie ἀνάγκη κτλ. ist in der LXX στενοχωρία κτλ. als Parallelbegriff für θλῖψις κτλ. belegt.119 In der Grundbedeutung bezeichnet es als

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118 119

den Versen 2Kor 9,5f als kärglich und geizig charakterisiert ist, oder über dem zugrundeliegendes Leiden ist hier nichts zu erfahren. Vgl. Zeph 1,15; Ψ 24,7; 106,28; 118,143; Hi 15,24; 20,22. In Ψ 106,6.13.19 sind θλῖψις und ἀνάγκη explizit synonym gebraucht. Vgl. BAUER, 102 sowie GRUNDMANN, Art. ἀναγκάζω, 349. In der LXX kommt er etwa 34mal vor. Im NT ist er 17mal belegt, davon 9mal bei Paulus. In seiner übertragenen Bedeutung ist er in Lk 21,23; 1Kor 7,26; 2Kor 6,4; 12,10 und 1Thess 3,7 verwendet. Vgl. GRUNDMANN, Art. ἀναγκάζω, 349 v. a. mit Verweis auf Lk 21,23. Dagegen aber 1Thess 3,7. Vgl. Dtn 28,53.55.57; Est 1,1g; Jes 8,22; 30,6 und ferner Jes 30,20.

§ 4 Begriffsgeschichtliche Betrachtung von θλῖψις κτλ.

85

Kompositum aus στενός (eng) und χώρα (Raum) einen ‚engen Raum‘. Davon ausgehend verweist es in übertragener Bedeutung auf Enge, Beklemmung und allgemeine Formen von Not, Angst und Verlegenheit, die in der LXX wie bereits θλῖψις κτλ. häufig im Kontext von Krieg und Kampf stehen.120 Im NT wird στενοχωρία κτλ. (7mal) ausschließlich bei Paulus verwendet und steht in 2Kor 4,8; 6,4; Röm 2,9; 8,35 in direkter Verbindung zu θλῖψις κτλ.121 Eine genaue Unterscheidung beider Begriffe ist schwierig, wie bereits an der problematischen Deutung von Origenes zu sehen ist: Dieser bestimmt anhand von 2Kor 4,8 θλίβεσθαι als Leiden aus einem ungewollten/unabsichtlichen (ἀπροαιρέτως) Widerfahrnis und στενοχωρεῖσθαι als Leiden, das durch das willentliche Nachgeben und sich von der Bedrängnis Überwindenlassen entsteht.122 Zu kritisieren ist bei diesem und anderen Ansätzen zur Differenzierung beider Begriffe, dass sie ein bestimmtes Verständnis der Antithesen von 2Kor 4,8f voraussetzen und dieses zu begründen versuchen:123 Das gilt für die an Origenes angelehnte Unterscheidung von θλῖψις als äußerer und στενοχωρία als innerer Not,124 für die versuchte Differenzierung in θλῖψις als „affliction in general“ und στενοχωρία als „unavoidability of divinely imposed disaster“125 sowie für die Darstellung von στενοχωρία als Steigerung von θλῖψις.126 Mit M. EBNER kann θλῖψις κτλ. zwar eher den Druck bezeichnen, während στενοχωρία κτλ. eher auf das Gefühl der räumlichen Enge abzielt. Ein Unterschied in der Bezeichnung von Leiderfahrungen ergibt sich daraus jedoch nicht: Die beiden Begriffe sind synonym.127 Allerdings ist θλῖψις κτλ. der

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Vgl. BERTRAM, Art. στενός, 604 und BAUER, 1530. Die beiden anderen Belege stehen in 2Kor 6,12 und 12,10. Neben den Belegen der LXX sind θλῖψις κτλ. und στενοχωρια κτλ. auch an wenigen anderen Stellen direkt verbunden: Vgl. Epiktet, Diss. 1,25,28 und die sieben Belege in der Traumdeutung bei Artemidorus Daldianus, Onir. 1,66,46; 1,79,67; 2,3,72; 2,37,24; 2,50,1; 3,57,3; 3,59,3; 3,59,6. Vgl. Origenes, Or. 30,1: „Der Ausdruck ‚bedrängt werden‘ [θλίβεσθαι] bezeichnet traditionell im Hebräischen ein Ereignis, das ohne den eigenen Willen eintritt, ‚niedergedrückt werden‘ [στενοχωρεῖσθαι] aber einen Menschen, der sich aus freiem Willen dem Leiden ausgeliefert hat und davon besiegt worden ist“ (Übersetzung M-B. v. Stritzky). Die Rückführung auf hebräischen Sprachgebrauch ergibt sich aus dem angeschlossenen Zitat aus Ψ 4,2. Vgl. § 8 zur Einzelexegese von 2Kor 4,7–15. Vgl. WILCKENS, Römer I, 127, Anm. 290. Vgl. für eine Kritik daran: JEWETT, Romans, 208. Diese Differenzierung ist auch von daher schwierig, weil dann das Begriffspaar θλῖψις καὶ διωγμός kaum zu erklären ist, wie es z. B. in Mk 4,17/Mt 13,21 steht. JEWETT, Romans, 208. Vgl. KÄSEMANN, Römer, 56, aber auch SCHLIER, Art. θλίβω, 147, der die Begriffe als weitgehend synonym ansieht, aber für 2Kor 4,8f die Unterscheidung trifft, dass στενοχωρέω „dann nur das ans Ziel gekommene θλίβειν“ meint. EBNER, Leidenslisten, 210 weist in 2Kor 4,8 beide Begriffe als synonym nach, da die Bedeutungsfacetten von Druck und Enge semantisch keinen Bedeutungsunterschied relaisieren. Vgl. SCHRÖTER, Apostolat, 685 und SCHLIER, θλίβω, 141, der ἀνάγκη und στενοχωρία „im engeren Sinn“ als Synonyme von θλῖψις κτλ. bezeichnet. L&N, 242f ordnen beide Begriffe in das semantische Feld „trouble, hardship, distress“ ein.

86

Teil I: Voraussetzungen der Arbeit

weiter verbreitete Begriff. Zusammen bilden sie eine formelhafte Wendung, wie anhand von Röm 2,9 deutlich wird. Ein Bezug zur somatisch-physischen Ebene ist wahrscheinlich, doch im Blick auf die Ursachenkategorien ist anhand von στενοχωρία keine Einteilung möglich.

4.5.5

διωγμός κτλ.

Der Begriff διωγμός κτλ. kommt in der LXX über 100mal vor, wovon nur 3mal das Verb belegt ist. Häufiger sind die Komposita mit ἐκ- und κατα-.128 Das einfache Verb steht eher für das Verfolgen eines Ziels oder einer Sache, während die Komposita den Sinn einer „aktive[n] Verfolgung eines oder mehrerer Menschen in einer für jene negativen Absicht“129 haben. In direkter Nähe zu θλῖψις steht διωγμός κτλ. in der LXX nur in Form von Komposita: ἐκδιώκω und ἐκθλίβω in Ψ 118,157 sowie καταδιώκω und θλίβω in Klgl 1,3. Im NT überwiegt die Bedeutung als Verfolgung aufgrund des Bekenntnisses zum Christusglauben, was den Begriff mit θλῖψις verbindet.130 Gemeinsam stehen beide als Simplex-Form in Mk 4,17/Mt 13,21 und 2Thess 1,4 in direkter Beiordnung. Damit wird wahrscheinlich einerseits die konkrete und gezielte Verfolgung und andererseits die weiter gefasste Bedrängnis allgemeiner Art bezeichnet:131 Sie kann nicht nur aus (gezielten) Handlungen stammen, sondern auch aus weniger planvollen Handlungen sowie Ereignissen und wird meistens passiv erfahren.132 Bei Paulus kommt das Substantiv nur 2mal vor und steht in Leidenslisten (2Kor 12,10; Röm 8,35; vgl. das Verb in 1Kor 4,12; 2Kor 4,9), während er das Verb 18mal auch in übertragener Bedeutung gebraucht (vgl. 1Thess 5,15; Phil 3,12). Anders als der Bedrängnis-Begriff ist die Grundbedeutung der Verfolgung sehr konkret und variiert im jeweiligen Kontext nur wenig.

4.6

Fazit für die Untersuchung von Leiderfahrungen bei Paulus

Zusammenfassend lässt sich für den Begriff θλῖψις κτλ. festhalten, dass er ein breites Bedeutungsspektrum abdeckt. Aus seinem Auftreten kann nicht auf einen bestimmten Traditionshintergrund zurückgeschlossen werden. Viel-

128 129 130 131

132

Vgl. OEPKE, Art. διώκω, 232f sowie EBEL/GÄCKLE, Art. διώκω, 119f. A. a. O., 120. Vgl. Phil 3,6; Gal 1,13.23; 5,11; 6,12; Mt 5,11; 10,23 und ferner Joh 5,16. Vgl. SCHLIER, Art. θλίβω, 146 zum gemeinsamen Auftreten mit στενοχωρία, ἀνάγκη, λύπη und besonders διωγμός: „θλῖψις ist freilich auch in solchen Verbindungen der weitere Begriff.“ Vgl. COENEN/HAACKER, Art. Bedrängnis, 119.

§ 4 Begriffsgeschichtliche Betrachtung von θλῖψις κτλ.

87

mehr ist seine Bedeutung im jeweiligen Kontext zu bestimmen.133 Seine Grundbedeutung von ‚drücken, pressen, quetschen‘ ist in allen untersuchten Text-Corpora bekannt als physikalische oder medizinische Beschreibung. Das zeigt sich auch darin, dass noch die Vulgata einige Belege des Begriffs mit pressura wiedergibt.134 Erst die übertragene Bedeutung ‚bedrängen, bedrücken‘, die zunächst im militärischen Kontext beheimatet ist, rückt ihn in den Zusammenhang von Leiderfahrungen. Meistens wird durch den Begriff nicht der konkrete Anlass einer Leiderfahrung beschrieben. Vielmehr wird ein explizit genannter oder implizit vorausgesetzter äußerer Umstand als leidvoll dargestellt. Dabei braucht es wie für die hebräischen Wurzeln ‫ צַ ר‬I bzw. ‫ צָ ַרה‬I den Kontext, um etwas über den Anlass der Bedrängnis zu erfahren. Denn θλῖψις κτλ. bezeichnet die Wirkung eines Widerfahrnisses auf jemanden als Druck oder Bedrängnis. Diese Wirkungsweise löst dann die Leiderfahrung bei einer Person aus. Das spiegelt die Aufnahme der Grundbedeutung wider. Auch Druck im naturwissenschaftlichen Sinn beschreibt die Art der Einwirkung auf eine Person oder Sache, ohne dass dabei explizit genannt sein muss, was die Ursache des Drucks ist. Was für den hebräischen Begriff ‫ לַחַ ץ‬gilt, kann auch für θλῖψις κτλ. gesagt werden:135 Nuancierungen in der Bedeutung ergeben sich aus der Beschaffenheit des Objekts, auf das etwas als Druck einwirkt. Zielt es in der Grundbedeutung auf etwas Nachgiebiges, kann dieses zurückgedrängt oder verdrängt werden (eine Armee, eine Personengruppe aus einem Ort). Betrifft es den Körper, löst es eine Quetschung aus. Bezieht es sich in übertragener Bedeutung auf die somatisch-physische Ebene, dann kann damit eine Verletzung, Freiheitsberaubung etc. gemeint sein. Bezieht es sich auf die psychisch-soziale Ebene, dann kann es Sorgen und Trauer und bildlich vorgestellt eine ‚Quetschung der Seele/des Geistes‘ auslösen. Die Bedrängnis ist generell als negativ verstanden, außer wenn sie Feinde betrifft. Dieses Verständnis, als von der Bedrängnis negativ und passiv betroffen, zeigt sich auch darin, dass das Verb im NT nicht im Aktiv gebraucht wird. In der LXX ist es nur von Feinden oder feindlichen Gruppen aktiv verwendet. Das stimmt mit zwei Charakteristika von Leiderfahrungen überein, wie sie in dieser Arbeit verstanden werden: Einerseits wird Leiden als so negativ erlebt, dass es erstrebenswert ist, es zu beenden oder es nach Möglichkeit von vornherein zu vermeiden. Andererseits wird Leiden als passives

133

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135

Selbst die oft als apokalyptisches Motiv verwendete Wendung von der θλῖψις μεγἀλη ist variabel genug, um bei Lk 21,23 zur ἀνάγκη μεγάλη abgewandelt zu werden oder in Apg 7,11 für eine innerweltliche Hungersnot in der Nacherzählung der Josefs-Geschichte zu stehen. Vgl. 2Kor 1,4; Phil 1,17; Joh 16,21.33. Im NT steht pressura sonst nur noch für ἀνάγκη und συνοχή in Lk 21,23.25. Sonst wird θλῖψις/θλίβω mit tribulatio/tribulare übersetzt. Vgl. REINDL, Art. ‫לַחַ ץ‬, 549.

88

Teil I: Voraussetzungen der Arbeit

Widerfahrnis erlebt. Dem entspricht der Gebrauch von θλῖψις κτλ. in der LXX und speziell im NT. In der LXX wird der Begriff häufig in erzählenden Texten, Psalmen und teilweise in der Prophetie verwendet, wenn ein Ende leidverursachender Widerfahrnisse von Gott erbeten und erhofft wird. Obwohl das auch in weisheitlichen Texten und dem NT im Hintergrund steht, rückt dort mehr die Deutung und Bewältigung von Leiderfahrungen in den Vordergrund. Das gilt auch für die stoische Philosophie, wie bei Epiktet deutlich geworden ist. Durch die Verbindung zu (proto-)apokalyptischen Motiven kann das erwartete Ende des Leidens jedoch auch in späten Texten des Judentums sowie dem NT mit dem Begriff thematisiert werden. Für die Exegese des 2. Korintherbriefs ist aus der gezeigten Verwendung von θλῖψις κτλ. Folgendes zu beachten: Wenn die Umstände der jeweiligen Leiderfahrung nicht aus dem Kontext zu klären sind, dann ergeben sich aus der Begriffsgeschichte Anhaltspunkte für die konkrete Bedeutung: In den meisten Fällen kommen durch den Begriff Leiderfahrungen in den Blick, die auf Handlungen zurückzuführen sind, wie das für die LXX und das übrige NT gilt. Meistens betreffen diese Leiderfahrungen primär die somatisch-physische Ebene. Der Traditionshintergrund der Kontexte, in denen Paulus den Begriff verwendet, muss jeweils individuell untersucht werden: Aufgrund der häufigen Verwendung im NT in Verbindung mit apokalyptischen Motiven sind auch in den paulinischen Texten Zusammenhänge dazu zu vermuten. Ebenso ist in Verbindung mit Strategien zur Leidbewältigung näher auf die bereits beobachteten Gegenbegriffe παράκλησις/παρακαλέω, ὑπομονή/ὑπομένω und χαρά/χαίρω einzugehen.

§5 Exegetische Vorbemerkungen zum 2. Korintherbrief § 5 Exegetische Vorbemerkungen zum 2. Korintherbrief Vor dem Beginn der Einzeluntersuchungen von Texten aus dem 2. Korintherbrief sind zunächst einige exegetische Grundfragen des Briefes zu thematisieren. Für die Untersuchung sind Klärungen zur sozialgeschichtlichen Verortung der korinthischen Gemeinde, zu Literarkritik und Redaktionsgeschichte sowie zur paulinischen Erzählperspektive der ersten Person Plural weiterführend.

5.1

Die paulinische Gemeinde im Korinth des ersten Jahrhunderts

„Zur Einleitung in 2Kor ist es nicht notwendig, ein Bild von Korinth und der christlichen Gemeinde dort zu entwerfen – im Unterschied von 1Kor, in dem konkrete Fragen des Gemeindelebens erörtert werden. […] Alles bewegt sich nur um die Frage nach dem Verhältnis der Gemeinde zu ihrem Apostel.“ 1

Ganz ähnlich verzichten auch viele andere auf eine Darstellung des korinthischen Umfelds oder verweisen dazu auf Kommentare zum 1. Korintherbrief.2 Damit könnte bereits alles gesagt sein. Jedoch ist es für die Fragestellung der Untersuchung interessant, ob sich aus antiken Quellen Hinweise auf äußere Anlässe für Leiden von Bevölkerung und paulinischer Gemeinde in Korinth ergeben: Sind Naturkatastrophen, Verfolgungen, Anfeindung, soziale Isolation oder andere Leiderfahrungen zu belegen? Auf solche Hinweise zielt die folgende kurze Skizze Korinths zu paulinischer Zeit.

5.1.1

Wirtschaftliche, kulturelle und religiöse Situation in Korinth

Korinth ist zu paulinischer Zeit die Hauptstadt der römischen Provinz Achaia und eine antike Großstadt.3 Nachdem das alte Korinth 146 v. Chr. als 1 2

3

BULTMANN, Brief, 1f. Dem schließt sich GRÄßER, Brief I, 34 an. So. z. B. ARZT-GRABNER, Korinther; SCHMELLER, Brief I; WINDISCH, Korintherbrief; HARRIS, Epistle; KLAUCK, 2. Korintherbrief; THRALL, Epistle I; WAN, Power; ZEILINGER, Krieg I. Dagegen bieten z. B. MARTIN, Corinthians, xxvii–xxxiii; FURNISH, Corinthians, 4–21 und HAFEMANN, Corinthians, 22–30 eine Darstellung von Stadt und Gemeinde. Nach ENGELS, Corinth, 84 hat das römische Korinth im 1. Jh. etwa 80 000 Einwohner sowie zusätzlich 20 000 im weiteren urbanen Raum.

90

Teil I: Voraussetzungen der Arbeit

wichtiger Teil des griechischen Städtebunds durch den römischen Feldherrn Lucius Mummius zerstört worden war, wurde es 44 v. Chr. durch Julius Cäsar neu gegründet.4 Aus verschiedenen Quellen ist zu erschließen, dass wie im römischen Reich üblich ‚Arme‘ bzw. Freigelassene und auch einige Veteranen dort angesiedelt wurden.5 Entscheidend für das rasche Wachstum war die günstige Lage an der Meerenge (Isthmus), die die peloponnesische Halbinsel mit dem Festland verbindet. Die antike Schifffahrt nutzte die Meerenge als Verbindung aus dem nordwestlich der Stadt gelegenen Golf von Korinth in den südöstlich gelegenen saronischen Golf: Schiffe wurden seit dem 6. Jh. v. Chr. auf dem Landweg über eine Schiffstraße (Diolkos) zwischen den beiden korinthischen Außenhäfen Lechaion und Kenchreai transportiert.6 Für Kenchreai ist in Röm 16,1f eine Gemeinde mit der Vorsteherin Phoebe belegt. Ein weiterer wichtiger Faktor für den Wohlstand der Stadt war die Austragung der Isthmischen Spiele, die im Zwei-Jahres-Turnus zahlreiche Schaulustige anzogen. Diese waren nach den Olympischen Spielen das prestigeträchtigste und größte Wettkampfereignis Griechenlands.7 Als große Handelsstadt war Korinth zugleich ein multikulturelles Zentrum der Antike. Der Geograph Pausanias besichtigte eine Vielzahl von Statuen, Altären und Heiligtümern in der Stadt, die verschiedenen Gottheiten aus dem Pantheon gewidmet waren.8 Die griechische und römische Götter- und Heroenwelt war also prägender Teil des Stadtbildes.9 Für eine Hafenstadt ist es nicht verwunderlich, dass Gottheiten wie Poseidon und Palaimon dominierten, die dem Meer zugeordnet sind. Stark präsent waren auch Aphrodite mit dem markanten Tempel auf dem Berg Akrokorinth sowie Apollon auf 4

5 6 7

8

9

Vgl. Strabo 8,6,23 und Pausanias 2,1,2 bei MURPHY-O’CONNOR, Corinth, 54f. Die Zerstörung ist nach archäologischen Erkenntnissen allerdings nicht so massiv gewesen, wie lange Zeit angenommen: Die neu Angesiedelten konnten auf alte Gebäude zurückgreifen, vgl. WISEMAN, Corinth, 494. Vgl. Appian 8,136; Strabo 8,6,23 und Plutarch, Caes. 47,8. Vgl. ELLIGER, Paulus, 188. Vgl. Strabo 8,6,20. Nach Pausanias 2,2,2 wurden die Spiele nach der Zerstörung bis zur Neugründung Korinths im Nachbarort Sikyon ausgetragen. Vgl. MURPHY-O’CONNOR, Corinth, 14– 17. Pausanias nennt z. B. Statuen, Altäre und Heiligtümern von Poseidon, Amphitrite, Thalassa (2,1,7), Palaimon, Aphrodite (2,1,8), Artemis (2,2,6), Dionysus (2,2,6f), Zeus, Poseidon, Apollon (2,2,8), Athena (2,2,8), Herakles (2,3,2), Hermes, Leukothea, Palaimon (2,3,4), Hygieia (2,4,5) sowie Helios, Ananke, Bia (2,4,6). Auch die ägyptischen Gottheiten Isis und Sarapis sind vertreten (2,4,6). Dazu gab es zahlreiche Tempel: z. B. von Palaimon (2,2,1), Tyche (2,2,8), Zeus, Asklepios (2,4,5), Kybele (2,4,6), Apollon (2,5,5), Demeter und ihrer Tochter Kore (2,4,7) sowie v. a. der Aphrodite auf dem Berg Akrokorinth (2,4,7), an der Straße Richtung Kenchreai (2,2,4) und in Kenchreai selbst (2,2,3). Korinth hat sich zwischen der Zeit des Paulus und des Pausanias im 2. Jh. zwar verändert, v. a. da die Gegend im Jahr 77 von einem Erdbeben getroffen worden ist, das erhebliche Reparationsarbeiten nach sich gezogen hat. Die Grundzüge der Stadt mit ihren vielen römischen und griechischen Gottheiten ist aber schon zu paulinischer Zeit ähnlich anzunehmen. Vgl. WISEMAN, Corinth, 506f.

§ 5 Exegetische Vorbemerkungen zum 2. Korintherbrief

91

einer Anhöhe nordöstlich des Forums.10 Außerdem ist mit unterschiedlichen Mysterienkulten zu rechnen.11 Das ist beispielhaft am Isis-Kult in Kenchreai festzumachen, wo archäologisch ein großes Heiligtum nachzuweisen ist. Dieses ist aller Wahrscheinlichkeit nach der Schauplatz einer Isis-Initiationsfeier, die Apuleius im 2. Jh. in einem Roman beschreibt.12 Obwohl auch im 1. Jh. Athen das Zentrum der griechischen Philosophie war, sind in der bunten Stadtlandschaft Korinths ebenfalls zahlreiche Philosophen anzunehmen. Dio Chrysostomus beschreibt polemisch für die Zeit der Austragung der jeweiligen Isthmischen Spiele ein jahrmarktartiges Treiben, in dem sich auch Sophisten und ihre Schulen Wettstreite lieferten.13 Auch die Kynikerbewegung ist in Korinth belegt: Dio Chrysostomus erwähnt die (historisch nicht fassbare) Präsenz des frühen Kynikers Diogenes von Sinope, dessen vermutetes Grab sich Pausanias zufolge aus Kenchreai kommend am Stadttor von Korinth befand.14 Außerdem ist der im 1. Jh. bekannte Kyniker Demetrius mit Korinth verbunden.15 In der religiösen und philosophischen Landschaft finden sich auch Hinweise auf die Präsenz des Judentums. Nach dem historisch zurückhaltend zu bewertenden Zeugnis von Apg 18,4–8 ist eine Synagoge die erste Anlaufstelle des Paulus in Korinth. Der in 1Kor 1,14 von Paulus erwähnte Krispus ist nach Apg 18,8 Synagogenvorsteher in Korinth. Philo, legat. 281 kennt in der ersten Hälfte des 1. Jh. eine jüdische Kolonie (ἀποικία), während Justin, Dial. 1,3 um das Jahr 160 den Juden Tryphon als gebürtigen Korinther ausweist. Archäologisch ist ein Türsturz mit der Aufschrift ‚Synagoge der Hebräer‘ belegt, dessen genaue Datierung unsicher, jedoch nachpaulinisch, ist.16 Diese Hinweise machen es wahrscheinlich, dass in Korinth auch zu paulinischer Zeit Jüdinnen und Juden lebten.

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13 14 15 16

Vgl. ELLIGER, Paulus, 293, der darauf hinweist, dass die Zuordnung des sog. „archaischen“ Tempels zu Apollon nicht letztlich geklärt ist. Vgl. KLAUCK, Herrenmahl, 235f, der einerseits archäologische Funde nennt und andererseits in Pausanias‘ Text Hinweise auf Mysterienkulte aufzeigt: den Mysterienkult der Göttermutter (2,3,4), der Demeter und Hekate (2,12,5) sowie Kultmähler während der Isthmischen Spiele. Vgl. ELLIGER, Paulus, 220f, Apuleius, met. 11 und für dessen Untersuchung und Auslegung EBNER, Stadt, 236–247. Vgl. Dio Chrysostomus 8,9f. Vgl. a. a. O., 6,1–6 und Pausanias 2,2,4. Vgl. Lukian, Ind. 19. Eine Abbildung des Türsturzes bieten WISEMAN, Corinth, Bildtafel 5, Abb. 8 und ELLIGER, Paulus, 194, Abb. 36. KLAUCK, Herrenmahl, 234 Anm. 3 schließt sich der Datierung auf das 2./3. Jahrhundert bei DE WAELE, Geschiedenis, 164f an. ELLIGER, Paulus, 194 zeigt die Abbildung eines „skulptierten Steins aus dem 4. Jh. mit Menora und floralen Symbolen, die dem Laubhüttenfest zuzuordnen sind.

92

Teil I: Voraussetzungen der Arbeit

5.1.2

Die korinthische Gemeinde in ihrem Kontext

Das skizzierte Bild der kulturellen und religiösen Landschaft Korinths lässt bezüglich der neuen paulinischen Bewegung vermuten, dass sie zunächst kaum aufgefallen sein dürfte: „The Christian community at Corinth was but another touch of colour in the variegated mosaic of a great city.“17 Dafür spricht auch die wahrscheinlich relativ kleine Zahl der Gemeindeglieder, wenn auch die Schätzungen hypothetischen Charakter haben. Einerseits wird aus 1Kor 14,23 und Röm 16,23 geschlossen, dass die Gemeinde klein genug gewesen sein müsse, um im Haus des Gaius Platz zu haben. Andererseits werden aus den in 1Kor 1,14.16; 16,17–19; Röm 16,23f und Apg 18,2 erwähnten korinthischen Personen Rückschlüsse auf deren mögliche ebenfalls getaufte Familien und Angestellte gezogen.18 Jedenfalls ist die Gemeinde im Gesamtbild von Korinth nicht bedeutsam oder auffallend genug gewesen, als dass Pausanias sie in seine Stadtbeschreibung aufgenommen hätte. Die gute Dokumentation in archäologischen und schriftlichen Quellen inklusive der ausführlichen paulinischen Korrespondenz hat Korinth zum Ausgangspunkt für viele sozialgeschichtliche Untersuchungen des frühen urbanen Christentums gemacht. Dabei wird kontrovers diskutiert, welchen sozialen Schichten die Gemeindeglieder und die bei Paulus beschriebenen Konflikte zuzuordnen sind. Die beiden hauptsächlich vertretenen Positionen gehen davon aus, dass entweder Menschen aller gesellschaftlichen Schichten zur Gemeinde gehörten19 oder eher Angehörige der sozialen Unterschicht.20 Neben der möglichen Armut zumindest einiger Gemeindeglieder können Konflikte mit der andersgläubigen Umwelt Auslöser von Leiden sein. Während diese für andere Gemeinden z. B. nach Phil 1,28–30 oder 1Thess 3,1–11 belegt sind, gibt es allerdings in der korinthischen Korrespondenz kaum Hinweise darauf. Vielmehr enthält der 1. Korintherbrief einige Indizien, wonach Angehörige der paulinischen Gemeinden in Korinth gerade keine Nachteile wegen ihres Glaubens zu befürchten hatten. Die aus einem frühe-

17 18

19 20

MURPHY-O’CONNOR, Corinth, xix. Aus dem exegetischen Befund schließen die meisten Forschungsbeiträge auf etwa 100 Gemeindeglieder für die Zeit des Paulus. Vgl. KLAUCK, 1. Korintherbrief, 8; LINDEMANN, Korintherbrief, 13 und SCHRAGE, Brief I, 39. MURPHY-O’CONNOR, Corinth, 158 kommt durch Auswertung der gleichen Stellen auf eine Zahl von 50 und überlegt anhand archäologischer Quellen, wie man sich die Gemeindeversammlung räumlich vorzustellen hat. Ebenfalls unter Einbezug der archäologischen Häuser-Funde in Korinth und Diskussion bisheriger Forschungsbeiträge nimmt WELBORN, End, 324 etwa 100 Personen an. THEIßEN, Structure, 83 nennt als sozialgeschichtlichen Vergleichspunkt das Ergebnis von SCHMELLER, Hierarchie, 40 zu anderen antiken Vereinen, die demnach zwischen 10 und 100, meistens 20 bis 50 Mitglieder hatten. Diese Position vertreten z. B. THEIßEN, Schichtung, 267 und MEEKS, Christians, 72f. FRIESEN, Poverty, 348f und LONGENECKER, Poor, 253–258 verorten die paulinischen Gemeindeglieder anhand einer Armutsskala knapp unter oder über dem Existenzminimum.

§ 5 Exegetische Vorbemerkungen zum 2. Korintherbrief

93

ren Brief wiederholte Aufforderung in 1Kor 5,9–13 sich von der Außenwelt abzugrenzen, lässt auf eine zumindest mögliche Vermischung zurückschließen. Nach 1Kor 6,1–6 war der Gang vor öffentliche Gerichte der Stadt unproblematisch, wenn auch von Paulus nicht erwünscht. Die Frage nach der Ehe mit Andersglaubenden in 1Kor 7,12–16 lässt darauf schließen, dass solche Verbindungen möglich und gängige Praxis waren.21 Gleiches gilt für die Problematik des Opferfleisches in 1Kor 8: Christusglaubende in Korinth konnten offenbar problemlos solches Fleisch kaufen und verzehren. Nach 1Kor 10,27–29 scheint es gemeinsame Mahlzeiten zwischen Angehörigen der paulinischen Gemeinde und Andersglaubenden zu geben. Schließlich rechnet Paulus bei seinen Ausführungen zu Zungen- und prophetischer Rede in 1Kor 14,23–25 damit, dass Andersglaubende in Gemeindeversammlungen hineinkommen konnten. Es ist also festzuhalten, dass sich in den antiken Quellen kein Hinweis darauf findet, dass es zu paulinischer Zeit für die korinthische Gemeinde leidbringende äußere Widerfahrnisse wegen ihres Glaubens gegeben hätte. Systematische Maßnahmen der Obrigkeit oder Anfeindungen aus der Bevölkerung sind nicht belegt. Die Erfahrung von Leiden aufgrund von Anfeindung oder Verfolgung haben eher Flüchtlinge aus anderen Orten nach Korinth gebracht, wie das Beispiel von Prisca und Aquila in Apg 18,2 zeigt.22

5.2

Entstehung des 2. Korintherbriefs

Für den 2. Korintherbrief ist die Rekonstruktion seiner Entstehungssituation eng verbunden mit der Beurteilung seiner literarischen Einheitlichkeit. Ich werde zunächst einige wichtige Beobachtungen skizzieren, die zu Anfragen an die literarische Einheitlichkeit geführt haben. Danach werde ich unter Berücksichtigung der wichtigsten redaktionskritischen Hypothesen die Chronologie der Geschehnisse um seine Entstehung nachzeichnen. Man kann zunächst fragen, inwiefern die begründete Entscheidung einer Hypothese zur Entstehung des 2. Korintherbriefs für die Exegese überhaupt relevant ist. R. BIERINGER bezweifelt in seinem Forschungsüberblick eine solche Relevanz: „Im einzelnen [sic] wirkten sich die jeweils verschiedenen 21

22

Vgl. dagegen LINDEMANN, Ekklesiologie, 77. Er bezieht 1Kor 7,12–16 nur auf bereits bestehende Ehen, in denen sich die Frau oder der Mann neu zum Christusglauben bekennen. Er hält neue Eheschließungen zwischen Christus- und Andersglaubenden mit Verweis auf 7,39 für ausgeschlossen. Die Darstellung in Apg 18,12–17 scheint eher einem literarisch-theologischen Muster der Apostelgeschichte zu entsprechen als auf ein historisches Ereignis zurückzugehen. Sollte dahinter eine historische Begebenheit stehen, lässt das lediglich darauf schließen, dass es einzelne Übergriffe aus dem Umfeld der jüdischen Synagoge gegeben haben könnte.

94

Teil I: Voraussetzungen der Arbeit

Erklärungsversuche der Einheit auf die Exegese … nur sehr wenig aus.“23 In Arbeiten zu theologischen Themen des Briefes werden wahrscheinlich aus diesem Grund häufig literarkritische Fragen ausgeklammert.24 Dass die mögliche Teilung des Briefes einen Einfluss auf die Untersuchung des paulinischen Umgangs mit dem Leiden hat, wird jedoch an 2Kor 7 evident: Wird der Brief einheitlich gelesen, dann kann 7,5–16 plausibel als Ausführung der in 7,4 gegebenen Stichworte ‚Trost‘ und ‚Freude in Bedrängnis‘ betrachtet werden. Rechnet man jedoch 7,4 zu einem anderen Brief als 7,5ff, dann muss besonders die Formel ‚Freude in Bedrängnis‘ aus 7,4 ohne die Erläuterungen der nachfolgenden Verse interpretiert werden.

5.2.1

Literarische Integrität

5.2.1.1

Zweifel an der literarischen Integrität

Bereits 1776 hat J.S. Semler in seinem Kommentar zum 2. Korintherbrief Zweifel an der literarischen Einheitlichkeit des Briefes geäußert und eine Dreiteilung in 2Kor 1–8 | 9 | 10–13 vorgeschlagen.25 Auch danach sind immer wieder Textbeobachtungen als Anhaltspunkte für die Zusammensetzung aus mehreren Briefen gedeutet worden. Im Folgenden nenne ich nur einige der wichtigsten.26 1. Zwischen 2Kor 1–9 und 10–13 wird ein Bruch konstatiert. Zum einen wird möglicherweise eine jeweils unterschiedliche Situation vorausgesetzt: In 2Kor 1–9 scheint ein Streit zwischen Paulus und der Gemeinde beigelegt zu sein, sodass ein versöhnlicher Ton angeschlagen wird. In 2Kor 10–13 dagegen greift der Apostel die Gemeinde an und der Ausgang des Konflikts erscheint ungewiss. Zum anderen gibt es literarkritische Auffälligkeiten: z. B. enthält 10,1 mit αὐτὸς δὲ ἐγὼ Παῦλος einen Neueinsatz; in 2,14–7,4 (ohne 6,14–7,1) verwendet Paulus gehäuft ‚Wir‘, in 10–13 aber gehäuft ‚Ich‘; in 2Kor 1–8 häufen sich teilweise die Begriffe δόξα, θλῖψις, παράκλησις, χαρά u. a., während sie in 10–13 gar nicht vorkommen; andere, wie z. B. ἀσθένεια sind nur in 10–13 belegt.27 23 24

25

26

27

BIERINGER, Korintherbrief, 129. GRÄßER, Brief I, 34 verweist auf KREMER, Korintherbrief, 14. Das tun in ihren Untersuchungen z. B. KRUG, Kraft, 177–179 und LIM, Sufferings, 28f. Beide untersuchen ohne exegetische Reflexion die kanonische Gestalt des 2. Korintherbriefs. Vgl. BIERINGER, Teilungshypothesen, 71f. Einen Forschungsüberblick zu vertretenen Hypothesen literarischer Einheitlichkeit und Teilung des 2. Korintherbriefs bietet z. B. der Aufsatzband von BIERINGER/LAMBRECHT, Studies, aber auch VEGGE, 2 Corinthians, 9–34. Vgl. für die folgende Übersicht: SCHNELLE, Paulus, 253–261, der eine kompakte Darstellung der literarkritischen Probleme des 2. Korintherbriefs bietet, und den Forschungsüberblick BIERINGER, Teilungshypothesen. Vgl. BIERINGER, Teilungshypothesen, 74f.

§ 5 Exegetische Vorbemerkungen zum 2. Korintherbrief

95

2. Der an den Bericht über einen Konflikt mit einem Gemeindeglied anschließende Reisebericht in 2,12f scheint wenig zum folgenden Vers 2,14 zu passen, der noch dazu von der 1. Person Singular in die 1. Person Plural wechselt. Sowohl die Ortsangabe Makedonien als auch der von Paulus sehnsüchtig erwartete Titus werden erst in 7,5ff wieder genannt. 3. Mit 2Kor 8 und 9 folgen zwei Kollektenaufforderungen unmittelbar aufeinander, was als Doppelung interpretiert worden ist. Hinzu kommt, dass in 8,1ff die angesprochene korinthische Gemeinde durch das vorbildliche Kollektenverhalten der makedonischen Gemeinden zur Spende motiviert werden soll. In 9,2 dagegen ist die Kollekte der Gemeinden in Achaia inklusive Korinth vorausgesetzt und wird für die angesprochenen makedonischen Gemeinden als Vorbild dargestellt. In der Forschung bestehen Zweifel darüber, ob ursprünglich beide Kollektenaufforderungen zusammengehören, ob ein oder beide Kapitel ursprünglich an die vorigen Kapitel angeschlossen gewesen sind oder ob sie möglicherweise jeweils eigenständig für verschiedene Zielgruppen gedacht gewesen sind.28 4. Der Abschnitt 2Kor 6,14–7,1 weist einerseits sprachliche Besonderheiten auf, da einige verwendete Begriffe sonst nicht bei Paulus vorkommen.29 Andererseits zeigen sich auch inhaltliche Besonderheiten, wie die Erwähnung von „aller Befleckung des Geistes und des Fleisches“ (7,1: παντὸς μολυσμοῦ σαρκὸς καὶ πνεύματος). Dies steht in Spannung zum sonstigen paulinischen Gegensatz von Geist und Fleisch (vgl. Röm 8,1–10.13; Gal 5,16–26). Parallelen finden sich in Texten aus Qumran (z. B. 1QM 13,11f). Daher wurde der Abschnitt über die Grenzen unterschiedlicher redaktionsgeschichtlicher Hypothesen hinweg als unpaulinisch oder „gezielt antipaulinisch“30 angesehen. Andere Positionen halten das Stück zwar für authentisch paulinisch, aber möglicherweise von einer anderen Stelle hierher versetzt.31 Die Besonderheiten werden dann mit einer bewussten paulinischen Aufnahme von

28 29

30

31

LINDEMANN, Kirche, 153 leitet dies aus 2Kor 9,2 mit der Ortsangabe „Achaia“ ab. Vgl. § 12.1.1. SCHNELLE, Paulus, 257f nennt u. a. die paulinischen und neutestamentlichen Hapaxlegomena μετοχή, μέρις, καθαρίζω und als singuläre paulinische Satans- bzw. Gottesbezeichnungen Βελιάρ und παντοκράτωρ. Vgl. LAMBRECHT, Fragment. Einen Forschungsüberblick zur Interpretation und Stellung von 2Kor 6,14–7,1 bietet BIERINGER, Kontext. Eine Liste unter Einbezug neuerer Forschungsbeiträge bietet SCHMELLER, Brief I, 366f. LINDEMANN, Kirche, 143. So z. B. auch GRÄßER, Brief I, 264; BORNKAMM, Vorgeschichte, 177f und GEORGI, Gegner, 21f. Eine ausführliche Begründung bieten FITZMYER, Qumran, 271–280; GNILKA, Lichte, 86–99 und BETZ, Fragment. Vgl. den Forschungsüberblick von BIERINGER, Kontext, 551–570, der für die neuere Forschung die Tendenz erkennt, „die Authentizität und Integrität von 6,14–7,1 zu bejahen.“ LAMBRECHT, Fragment, 531–549; THRALL, Epistle I, 20–36, ARZT-GRABNER, Korinther, 122–127 schließen sich dem an. Für eine ‚Versetzungs-Hypothese‘ plädieren SCHMELLER, Brief I, 378–382, der 2Kor 6,14– 7,1 für die ursprüngliche Verbindung zwischen 2 Kor 1–9 und 2 Kor 10–13 hält und BULTMANN, Brief, 182, der es für einen Teil des in 1Kor 5,9–11 erwähnten verlorenen Briefs hält.

96

Teil I: Voraussetzungen der Arbeit

Traditionen erklärt, was aber nicht plausibel nachzuweisen ist.32 Aus den genannten Gründen und auch aufgrund des glatten Anschlusses von 2Kor 7,2–4 an 6,11–13 als ‚Werberede‘ der Paulus-Gruppe um die Gemeinde gehe ich davon aus, dass das Textstück nicht ursprünglich paulinisch ist.

5.2.1.2

Hypothesen zu Teilung und Einheitlichkeit

Die genannten Textbeobachtungen können als Indizien für eine Entstehung des 2. Korintherbriefs aus mehreren Fragmenten verstanden werden. Doch der Befund ist nicht eindeutig, sodass sowohl die These der Einheitlichkeit wie auch diejenige einer ursprünglichen Uneinheitlichkeit begründungsbedürftig sind.33 Die Erklärungsmodelle sind dabei keine exegetischen Spitzfindigkeiten, sondern zeigen das Ringen um ein angemessenes Verständnis des Briefes und seiner Entstehung.34 Im Folgenden werden drei Modelle zum Verständnis des Briefes dargestellt, die am weitesten verbreitet sind. Ziel ist dabei ein Überblick über die in der Forschung diskutierten Möglichkeiten, nicht aber deren erneute Diskussion.35 1. Häufig wird eine Zweiteilung des 2. Korintherbriefs vertreten, um der skizzierten Spannung zwischen 2Kor 1–9 und 10–13 Rechnung zu tragen. Dabei sind zwei Varianten zu unterscheiden: Einerseits können die Kapitel 10–13 mit dem in 2Kor 2,3f und 7,8f.12 erwähnten ‚Tränenbrief‘ identifiziert und damit zeitlich vor dem ‚Versöhnungsbrief‘ (1–9) angesetzt werden.36 Andere halten den ‚Tränenbrief‘ für nicht erhalten und die Reihenfolge der beiden Teile 2Kor 1–9 und 10–13 für ursprünglich.37 Die o.g. Punkte 2 und 3 nötigen nach diesem Modell nicht zur Annahme weiterer ursprünglicher Briefteile. 2. Weiter verbreitet ist die Erklärung des 2. Korintherbriefs nach G. BORNKAMM, der eine Redaktion aus fünf Briefen bzw. Brieffragmenten an-

32 33

34 35

36

37

So aber z. B. WOLFF, Brief, 146–154 und MARTIN, Corinthians, 189–212. Vgl. KOCH, Korintherbrief, 122f. Dagegen sieht SCHMELLER, Brief I, 36 die Beweislast eher bei den Teilungshypothesen. Vgl. LINDEMANN, Kirche, 132. Man könnte auch von ‚Zusammensetzungshypothesen‘ sprechen. Vgl. für einen Überblick über Hypothesen zur Teilung z. B. BECKER, Schreiben, 11–14; BIERINGER, Teilungshypothesen; THRALL, Epistle I, 3–77 und zur Einheitlichkeit z. B. BIERINGER, Plädoyer und SCHMELLER, Brief I, 19–40. Vgl. AEJMELAEUS, Schwachheit, 19–26, der auf seine früheren ausführlichen Studien verweist: AEJMELAEUS, Streit. Vgl. auch KLAUCK, 2. Korintherbrief, 5–10 und die Darstellung der „Hausrath-Kennedy-Hypothese“ bei BIERINGER, Teilungshypothesen, 73–81. Vgl. z. B. FURNISH, Corinthians, 29–48 und MARTIN, Corinthians, xxxviii–xlvi sowie mit kleinen Abweichungen bei den Kollektenkapiteln 2Kor 8–9 auch WINDISCH, Korintherbrief, 26–28 und THRALL, Epistle I, 77. Vgl. die Darstellung der „Semler-Windisch-Hypothese“ bei BIERINGER, Teilungshypothesen, 81–85.

§ 5 Exegetische Vorbemerkungen zum 2. Korintherbrief

97

nimmt.38 Er hat den Anspruch, alle genannten Spannungspunkte durch literarkritische Eingriffe zu lösen. Er geht von einer ‚ersten Apologie‘ (2Kor 2,14–7,4) aus, die durch beginnende Spannungen wegen Christusmissionaren mit Empfehlungsbriefen in der Gemeinde ausgelöst und vor einem Zwischenbesuch geschrieben worden sei. Dem folge dann der ‚Tränenbrief‘ (2Kor 10–13) in einer durch Gegner verschärften Situation.39 Nach dem Konfliktende schließe sich ein ‚Versöhnungsbrief‘ (2Kor 1,1–2,13; 7,5–16) an. G. BORNKAMM hält 2Kor 8 entweder für einen Anhang zu diesem ‚Versöhnungsbrief‘, den Titus dann überbracht hätte, oder für ein Fragment eines eigenständiges Empfehlungs- bzw. Kollektenschreibens.40 2Kor 9 sei demnach Teil eines späteren eigenen Briefes an die Gemeinden in Achaia (vgl. 9,2). Womöglich sei der Abschnitt 13,11–13 der Briefschluss des Versöhnungsbriefes, während 6,14–7,1 als unpaulinisch gilt. Diese Hypothese zur Entstehung des 2. Korintherbriefs wird auch in Varianten vertreten, die besonders die Zuordnung der Kollektenkapitel und die versgenaue Abgrenzung des ‚Versöhnungsbriefes‘ in 2Kor 7 betreffen.41 3. Schließlich wird die ursprüngliche Einheitlichkeit des 2. Korintherbriefes vertreten, wobei die genannten Spannungen anders erklärt werden.42 Meistens werden dafür Pausen bei der Abfassung des Briefes angeführt, in denen 38

39

40

41

42

Vgl. für die Darstellung: BORNKAMM, Vorgeschichte, 177f und BIERINGER, Teilungshypothesen, 85–98. Dem schließen sich GRÄßER, Brief I, 29–35; GEORGI, Gegner, 16–24 und weitgehend auch KOCH, Korintherbrief, 142f an. In der Forschung ist immer wieder versucht worden, die Gegner im 2. Korintherbrief näher zu bestimmen. Der Forschungsüberblick bei BIERINGER, Gegner, 192–215 nennt als wichtigste Vorschläge bisheriger Forschung die Identifikation der Gegner mit Judaisten (z. B. M. E. THRALL), Gnostikern (z. B. R. BULTMANN, W. SCHMITHALS), hellenistischen θεῖοι ἂνδρες (z. B. D. GEORGI, W. SCHRAGE) und urchristlichen Missionaren (z. B. E. KÄSEMANN, R.PH. MARTIN). BIERINGER kommt zu dem Schluss, dass alle Vorschläge hypothetisch bleiben, weil „für Paulus die Identität der Gegner in 2 Kor nur von untergeordneter Bedeutung ist“ (221). Problematisch sei auch die Beurteilung der Frage, inwieweit die paulinischen Bezüge auf die Gegner v. a. in 2Kor 10–13 von Polemik durchsetzt sind. Paulus gehe es darum, a) zu zeigen, inwiefern sie das Wesen des Evangeliums verfehlen und b) die KorintherInnen wieder für sich zu gewinnen. Für die hier verfolgte Fragestellung ist die nähere Bestimmung der Gegner nicht weiterführend. Stattdessen werde ich mich im Anschluss z. B. an BIERINGER, Gegner, 219f und SCHMELLER, Korintherbrief, 191 auf den Inhalt der paulinischen Aussagen konzentrieren, statt zu versuchen mit deren Hilfe die Gegner zu rekonstruieren. Vgl. § 17.1 im Ausblick auf 2Kor 10–13. Vgl. zur Einordnung von 2Kor 8 BORNKAMM, Vorgeschichte, 186f. Spätestens sein Schüler D. GEORGI macht die zweite Möglichkeit stark, vgl. GEORGI, Gegner, 28 und DERS., Armen, 56. BAUMERT, Rücken 10f rechnet 2Kor 9 zum ‚Versöhnungsbrief‘, den er „Freudenbrief“ nennt. LINDEMANN, Kirche, 151–153 grenzt als ersten Brief einen „Apostelbrief“ von 2Kor 2,14–7,3 ab. Nach den Kapiteln 10–13 („Kampfbrief“) folgen für ihn der „Tränenbrief“ (1,3–2,11) und ein Versöhnungsbrief (2,12f; 7,4–16), während die beiden Kollektenschreiben in 2Kor 8 und 9 dem Verlauf nicht eindeutig zugeordnet werden können. Noch vor BORNKAMM vertritt BULTMANN, Brief, 23 und DERS., Probleme, 307, Anm. 17 die Hypothese, dass zum ‚Tränenbrief‘ neben 2Kor 10–13 auch 2,14–7,4 gehören. Die ursprüngliche Einheitlichkeit des 2. Korintherbriefs vertreten z. B. WOLFF, Brief, 1–3, BIERINGER, Plädoyer; SCHNELLE, Paulus, 260; HARRIS, Epistle, 51; SCHMELLER, Brief I, 25–36; BRENDLE, Prozeß, 273–316 und unter Einbezug von Papyrusfunden ARZT-GRABNER, Korinther, 146–148. Nach SCHMELLER, Korintherbrief, 188 hält heute nur eine Minderheit den Brief für einheitlich.

98

Teil I: Voraussetzungen der Arbeit

möglicherweise neue Nachrichten eingetroffen seien. Daneben wird auf die Problematik der Teilungshypothesen verwiesen, die die redaktionelle Anordnung des Briefes in seiner Endgestalt erklären müssen: Für derart kompliziert redigierte Briefe fehlen bisher Analogien in der Antike.43 Die redaktionsgeschichtlichen Nahtstellen nach 2,13; 7,4; 7,16; 8,24 und 9,15 sind jedoch inzwischen weitgehend als Zäsuren zur Grobgliederung des Briefes akzeptiert.

5.2.1.3

Zwischenfazit

Aus der Darstellung verschiedener Hypothesen zur Teilung oder Einheitlichkeit des 2. Korintherbriefes ist ersichtlich, dass es in dieser Frage keinen Forschungskonsens gibt. Sowohl die Teilung wie auch die ursprüngliche Einheitlichkeit des Briefes werden in der exegetischen Diskussion vertreten. Da der Fokus meiner Untersuchung nicht auf literarkritischen und redaktionsgeschichtlichen Erwägungen liegt, erscheint für die hier verfolgte Fragestellung folgende Vorgehensweise zielführend: Eine Entscheidung für oder gegen die ursprüngliche Einheitlichkeit des Briefes bleibt wird offen gelassen. Die für das paulinische Leidverständnis relevanten Texte werden in ihrem jeweiligen Zusammenhang analysiert. Besonders bei der Kontexteinbettung und an den möglichen redaktionsgeschichtlichen Nahtstellen fließen die Überlegungen der dargestellten Hypothesen in ihrer Relevanz zum Verständnis der konkreten Stelle ein.44 Das gilt besonders für die Einzelexegesen zu 2Kor 6,3–13 u. 7,2–4 sowie 7,5–16. Wenn im Folgenden jedoch vom 43

44

Vgl. BORNKAMM, Vorgeschichte, 182, demzufolge ein späterer „Sammler“ den 2. Korintherbrief durch seine Anordnung als „apokalyptisches Siegel und unanfechtbare, testamentarische Gültigkeit“ verstanden habe. Vgl. für eine ähnliche Erklärung LINDEMANN, Kirche, 154–156. SCHMELLER, Brief I, 33–36 weist dagegen darauf hin, dass die Frage nach Parallelen in der außerchristlichen Briefliteratur kaum gestellt wird. Er zieht zum Vergleich das Corpus der Cicerobriefe heran und kommt zu dem Ergebnis: „Wenn 2Kor wirklich eine Briefverschmelzung darstellen sollte, dann ist diese unter anderen Bedingungen und mit anderen Zielen entstanden, als das bei den Cicerobriefen der Fall war.“ ARZT-GRABNER, Korinther, 145f hält eine Kompilation nur aus zwei Briefen für möglich, wenn ein erster Brief zum Zeitpunkt der Zusammenstellung nicht mehr vollständig gewesen wäre: Dessen noch vorhandener Bestand (2Kor 10–13) wäre dann an den später eingetroffenen vollständigen Brief 2Kor 1–9 angehängt worden, wofür ARZT-GRABNER Parallelen in den von ihm untersuchten Papyrusbriefen findet. Da dies aber hypothetisch sei und zudem die skizzierten Spannungen Parallelen in den Papyrusbriefen haben, geht er von der Einheitlichkeit des 2. Korintherbriefs aus (146–148). BECKER, Schreiben, 64–71 versucht die Zusammenstellung der verschiedenen Briefe durch Rückgriff auf die Erklärung der antiken Briefabfassung auf Holzoder Wachstafeln zu erklären. Diese könnten gesammelt und dann zur Konservierung auf Papyrus übertragen worden sein. Dann stünde kein redaktionelles Interesse hinter der kanonisch gewordenen Reihenfolge der Teile. Vgl. für eine ähnlich offene Herangehensweise auch KLEINKNECHT, Gerechtfertigte, 242f, der erst am Ende seiner Untersuchung zur Tradition des leidenden Gerechten im 2. Korintherbrief seine Ergebnisse als Hinweis auf die ursprüngliche Einheitlichkeit des Briefs wertet (303f).

§ 5 Exegetische Vorbemerkungen zum 2. Korintherbrief

99

2. Korintherbrief die Rede ist, sind die Kapitel 2Kor 1–13 gemeint, ohne dass damit eine Festlegung auf dessen ursprüngliche Einheitlichkeit impliziert ist. Wichtig für die Untersuchung von Leiderfahrungen besonders in 2Kor 2 und 7 sind jedoch die Ereignisse und die Situation, die die Abfassung des 2. Korintherbriefs oder seiner Teile angestoßen haben. Und über diese Ereignisse besteht weitgehend Einigkeit. Daher werde ich sie im Folgenden darstellen und den Brief bzw. seine Teile entsprechend der drei vorgestellten Hypothesen in die Chronologie einordnen.

5.2.2

Verortung des 2. Korintherbriefs in der korinthischen Korrespondenz

Nur mit einer Vorstellung von den Geschehnissen lassen sich die paulinischen Ausführungen zu Leiderfahrungen einordnen. Dazu dient die folgende Rekonstruktion. Paulus gründete die korinthische Gemeinde von Athen her kommend (Apg 18,1–18).45 Die Gründung wird aufgrund zweier Hinweise aus der Apostelgeschichte auf das Jahr 50/51 datiert: Erstens trifft Paulus nach Apg 18,2 in Korinth auf das gerade wegen des Claudius-Edikts aus Rom geflohene jüdische Ehepaar Prisca und Aquila (vgl. 1Kor 16,19). Das Edikt wird meistens auf das Jahr 49 datiert. Zweitens ist die Amtszeit des Prokonsuls Gallio in Achaia, vor dem Paulus, Silas und Timotheus in Apg 18,12 verklagt werden, durch einen Brief des Kaisers Claudius nach Delphi auf das Jahr 51/52 einzugrenzen.46 Gemäß Apg 18,11.18–22 bleibt Paulus etwa eineinhalb Jahre in Korinth, bevor er über Ephesus und verschiedene weitere Zwischenstationen nach Antiochien zurückkehrt. Nach der Abreise aus Korinth und vor der Abfassung des 1. Korintherbriefs muss Paulus einen weiteren Brief geschrieben haben, auf den er sich in 1Kor 5,9–11 bezieht: Von diesem ist außer dem genannten Hinweis nichts bekannt.47 Dann jedoch erfährt Paulus durch die Chloë-Gruppe, dass es in der Gemeinde Spaltungen gibt (1Kor 1,11). Auch schriftliche Fragen zur Sexualethik in Korinth haben ihn erreicht (1Kor 7,1). Darauf reagiert er mit dem 1. Korintherbrief, der um das Jahr 54/55 datiert wird.48 Die Themen der gemeindeinternen Kontroversen können nur aus dem Inhalt des Briefs erschlossen werden. In 1Kor 16,5–7 teilt Paulus der Gemeinde seine Reisepläne mit: Er möchte 45 46 47

48

Vgl. GRÄßER, Brief I, 28 und ZELLER, Korintherbrief I, 33. Vgl. zum Claudius-Edikt und zur Gallio-Inschrift MURPHY-O’CONNOR, Corinth, 129–152. Vgl. SCHMELLER, Brief I, 38. Für BULTMANN, Brief, 182 ist das Stück 2Kor 6,14–7,1 Teil dieses Briefs. Weitere Briefe nach und von Korinth sind nicht erwähnt, aber auch nicht auszuschließen. Vgl. GRÄßER, Brief I, 28 und THRALL, Epistle I, 77.

100

Teil I: Voraussetzungen der Arbeit

noch bis Pfingsten in Ephesus bleiben und nach der Reise durch Makedonien die Gemeinde besuchen und in Korinth überwintern. Zusätzlich reist auch Timotheus nach Korinth, da Paulus ihn in 16,10f (vgl. 4,17) der Gemeinde ankündigt. Nach der Absendung des 1. Korintherbriefs ändert Paulus offenbar seine Reisepläne, wovon er der Gemeinde aber erst im Nachhinein berichtet (2Kor 1,15f). Er plant jetzt einen Besuch auf dem Hinweg nach und dem Rückweg von Makedonien.49 Doch auch diese Reisepläne haben keinen Bestand: Möglicherweise von Timotheus erhält Paulus nach dessen Rückkehr (1Kor 16,11) Informationen über Schwierigkeiten durch Gegner mit Empfehlungsbriefen in der Gemeinde (2Kor 3,1). Daraufhin bricht er zu einem ungeplanten Zwischenbesuch in die Gemeinde auf, der in 2Kor 12,14; 13,1 vorausgesetzt ist. Geht man von einer Teilungshypothese nach G. BORNKAMM aus, schreibt Paulus vor dem Besuch einen Brief als „erste Apologie (2,14–7,4)“50 und reist erst in die Gemeinde, als dieses Schreiben keinen Erfolg hat. Dieser Zwischenbesuch führt zu einer Eskalation des Konflikts mit einem einzelnen Gemeindeglied – dem Unrechtstäter (ἀδικήσας, 7,12; vgl. 12,21) – und daraufhin mit der ganzen Gemeinde.51 Dabei unterstützt die Gemeinde nicht eindeutig ihren Apostel (2,5), weshalb dieser wieder abreist und einen weiteren Besuch ankündigt (13,2).52 Stattdessen verfasst er jedoch – wahrscheinlich in Ephesus – den ‚Tränenbrief‘, der in 2,3f und 7,8f.12 erwähnt ist. Unabhängig davon, ob man ihn mit 2Kor 10–13 identifiziert oder analog zu dem in 1Kor 5,9 erwähnten Schreiben für nicht überliefert hält, überbringt Titus den Brief, während Paulus gespannt auf die Reaktion wartet (2Kor 2,12f; 7,5ff).53 In diese Wartezeit fällt wahrscheinlich die in 2Kor 1,8–10 erwähnte Bedrängnis in Asien.54 Daher ist Paulus erleichtert und voller Freude, als er Titus in Makedonien trifft und dieser gute Nachrichten aus der Gemeinde bringt: Die korinthische Gemeinde hat sich auf die Seite des Apostels und damit gegen den Unrechtstäter gestellt (2,6.10; 7,6f).55 Allerdings berichtet Titus auch über Probleme in der Gemeinde. Entweder 49 50 51

52

53

54 55

Vgl. SCHMELLER, Brief I, 38. Vgl. BORNKAMM, Vorgeschichte, 178 und LINDEMANN, Kirche, 152. Durch das Maskulin der Partizipien in 2Kor 2,2; 7,12 und des Demonstrativpronomens in 2,6 liegt es nahe, hinter der konfliktauslösenden Person einen Mann zu vermuten. Zum Konflikt vgl. § 7.1.2. Vgl. SCHMELLER, Brief I, 38f; GRÄßER, Brief I, 28 und BIERINGER, Plädoyer, 132. Vgl. zur überstürzten Abreise des Paulus aus Korinth SCHMELLER, Brief I, 39 und WOLFF, Brief, 3. Vgl. § 5.2.1.2 für den ‚Tränenbrief‘. Z. B. SCHMELLER, Brief I, 39; WINDISCH, Korintherbrief, 17f und THRALL, Epistle I, 57–61 halten den ‚Tränenbrief‘ für nicht überliefert. Vgl. z. B. SCHNELLE, Paulus, 252. Vgl. BIERINGER, Plädoyer, 133; SCHMELLER, Brief I, 39 und THRALL, Epistle I, 77. LINDEMANN, Kirche, 152 geht davon aus, dass dieser „Kampfbrief“ keinen Erfolg hatte, weswegen Paulus einen „Tränenbrief“ (2Kor 1,3–2,11) an die Gemeinde schicke, mit dem er die Gemeinde für sich gewinne.

§ 5 Exegetische Vorbemerkungen zum 2. Korintherbrief

101

geht es dabei um neu in die Gemeinde gekommene Gegner. Dann wird an dieser Stelle der Chronologie der um das Jahr 55 in Makedonien abgefasste, als einheitlich angenommene, 2. Korintherbrief56 oder ein ‚Versöhnungsbrief‘ im Umfang von 2Kor 1–9 verortet.57 Geht man davon aus, dass sich die Probleme hauptsächlich auf den Konflikt zwischen Paulus und der Gemeinde beschränken, dann wird hier ein ‚Versöhnungsbrief‘ im Umfang von 1,1– 2,13; 7,5–16 angenommen.58 Es gibt keine direkten Informationen darüber, wie sich die Situation danach entwickelt hat. Nimmt man eine Zweiteilung des Briefes an, bei der 2Kor 10–13 nicht mit dem Tränenbrief identisch sind, dann verfasst Paulus diese Kapitel zur Verteidigung gegen gegnerische Missionare nach weiteren Nachrichten aus der Gemeinde.59 Aus Apg 20,2f und Röm 15,26 und besonders der Erwähnung des Gaius in 1Kor 1,14 und Röm 16,23 lässt sich erschließen, dass Paulus um das Jahr 56 wieder nach Korinth gekommen ist. Dort hat er wahrscheinlich die Kollekte abgeschlossen und den Römerbrief verfasst.60 Insofern ist anzunehmen, dass die Korrespondenz aus Sicht des Paulus erfolgreich gewesen ist und sich die Gemeinde letztlich ihm angeschlossen hat.

5.3

Bedeutung der ersten Person Plural bei Paulus

Nach der Darstellung der Ereignisse um den 2. Korintherbrief wird nun eine Problematik thematisiert, die alle paulinischen Briefe betrifft: Paulus schreibt nicht nur in der ersten Person Singular, sondern auch in der ersten Person Plural. Die Bedeutung dieses Plurals ist umstritten und wurde in der Exegese des 2. Korintherbriefs teilweise zur Unterstützung von Teilungshypothesen herangezogen.61 Da jedoch beide Numeri besonders in 2Kor 7 sehr dicht beieinander stehen, lässt sich dieses Argument genauso wenig halten wie J. MURPHY-O’CONNORs Versuch einer systematischen Unterteilung von ‚IchAbschnitten‘ und ‚Wir-Abschnitten‘ in 2Kor 1–9.62 56

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Vertreter der Einheitlichkeit halten mehrheitlich die Abfassung in Makedonien für wahrscheinlich: z. B. SCHMELLER, Brief I, 39; SCHNELLE, Paulus, 252; WOLFF, Korintherbrief, 3f; aber auch MARTIN, Corinthians, xlvi–xlvii und THRALL, Epistle I, 74ff. Vertreter von Teilungshypothesen können die Abfassung an verschiedenen Orten ansetzen: z. B. BORNKAMM, Vorgeschichte, 164 u. 178 in Ephesus und Makedonien sowie LINDEMANN, Kirche, 151–153 in Makedonien und Troas. Vgl. AEJMELAEUS, Schwachheit, 19–26; KLAUCK, 2. Korintherbrief, 6f; WINDISCH, Korintherbrief, 26–28 und THRALL, Epistle I, 77. Vgl. BORNKAMM, Vorgeschichte, 186, der 2Kor 8 als „Schluß oder Anhang“ zum Versöhnungsbrief sieht. Für LINDEMANN, Kirche, 152 umfasst der Versöhnungsbrief nur 2Kor 2,12f und 7,4–16. So z. B. WINDISCH, Korintherbrief, 26–28 und THRALL, Epistle I, 77. Vgl. SCHMELLER, Brief I, 39. Vgl. MURPHY-O’CONNOR, Co-Authorship, 572–577 und die berechtigte Kritik daran bei VERHOEF, Senders, 423f. Vgl. § 5.2.1. Vgl. MURPHY-O’CONNOR, Co-Authorship, 573. ‚Wir-Abschnitte’ seien demnach 2Kor 1,3–14;

102

Teil I: Voraussetzungen der Arbeit

Es bleibt also die Frage nach dem jeweiligen Bezug der paulinischen Pluralverwendung. Die Klärung ist insofern wichtig für die hier verfolgte Fragestellung, als bei der Analyse des Leidens auch untersucht wird, wer jeweils betroffen ist. In den bisherigen exegetischen Beiträgen zum Thema lassen sich trotz einzelner Detail-Abweichungen folgende Bezugsmöglichkeiten unterscheiden:63 a) Schriftstellerischer Plural: Paulus meint nur sich selbst.64 b) ‚Echter‘ Plural: Paulus bezieht sich auf eine Gruppe von Personen, die außer ihm selbst entweder nur den Mitabsender Timotheus oder alle Mitarbeitenden umfasst.65 c) Allgemeiner Plural: Paulus bezieht Aussagen auf alle Christusglaubenden oder gar alle Menschen.66 d) Kommunikativer Plural: Paulus schließt die Adressatinnen und Adressaten des Briefes und sich selbst zusammen.67 In der älteren Forschung wird die Diskussion fast ausschließlich um die ersten beiden Bedeutungen geführt, die jeweils absolut gesetzt werden:68 TH. ZAHN vertritt in seiner Einleitung von 1897 die Meinung, dass sich jeder paulinische Plural auf eine Mehrzahl bezieht, besonders auf die genannten Mitabsender der Briefe. Paulus verwende demnach „an keiner einzigen Stelle seiner Briefe […] jenes ‚Wir = Ich‘“.69 Dagegen richtet sich K. DICK, der in seiner Untersuchung aus dem Jahr 1900 zu dem Schluss kommt: „Der

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1,18–22; 2,14–7,2; 7,13–8,7; 8,16–24 und ‚Ich-Abschnitte‘ 1,15–17; 1,23–2,13; 7,3–12; 8,8–15; 9,1– 15. Er selbst nennt schon neun Ausnahmen, die er zu erklären versucht. VERHOEF, Senders, 423 weist auf weitere Ausnahmen hin, die die Systematik erheblich stören, wie die Verwendung der ersten Person Singular in 2Kor 1,13.19, die mitten in zwei sog. ‚Wir-Abschnitten‘ stehen. VERHOEF beobachtet zu Recht, dass bereits die Bezeichnung der Abschnitte bei MURPHY-O’CONNOR zeigt, dass dieser lediglich die Pronomen in Subjekt-Position berücksichtigt. Andere Fälle wie Possessiv-Pronomina werden nicht beachtet. Außerdem decken sich die so gefundenen Abschnitte kaum mit sonstigen sprachlichen und inhaltlichen Gliederungen. Eine Liste von möglichen Bedeutungen der ersten Person Plural bei Paulus bieten z. B. BAUMERT, Täglich, 25–28; BECKER, Schreiben, 153f; LINDGÅRD, Line, 102; KLAUCK, 2. Korintherbrief, 12f; MURPHY-O’CONNOR, Co-Authorship, 571; WOLFF, Brief, 10f und HARRIS, Epistle, 139f. Die Verwendung kann als Bescheidenheit des Apostels durch Zurücksetzen seines ‚Ich‘ erklärt werden (pluralis modestiae), so WOLFF, Brief, 10. Vgl. Esr 4,11ff; 1Makk 12,6ff; 2Makk 1,1ff; Josephus, AJ 12,258–261. Diese Bedeutung wird z. B. von BAUMERT, Täglich, 25–28 noch unterteilt in das Wir „der individuellen konkreten Gruppe“ (Mitarbeiter, Mitabsender) und dem „der Artbezeichnung“ (Apostel). Vgl. mit Variationen LINDGÅRD, Line, 102; MURPHY-O’CONNOR, Co-Authorship, 571 und KLAUCK, 2. Korintherbrief, 12. Nach KLAUCK, 2. Korintherbrief, 13 bezeichne Paulus dadurch „die Allgemeingültigkeit von Aussagen, die ihn betreffen“. Beispiele für diese Verwendung des Plurals im Griechischen finden sich z. B. bei Epiktet, Diss. 2,3,3; 4,2; 5,10. BYRSKOG, Co-sender, 232 unterscheidet noch zwischen zwei verschiedenen Bedeutungen des kommunikativen Plurals, den er „pluralis sociativus“ nennt: Entweder verbinde sich der Autor mit allen Adressatinnen und Adressaten oder nur mit einer bestimmten Gruppe unter diesen. Eine Sondermeinung vertritt J. BECKER, Paulus, 984, der das „Wir“ für eine ekklesiologische Größe hält, die Paulus selbst nicht einbezieht. Vgl. für diesen Hinweis AVEMARIE, Tauferzählungen, 296. Vgl. zur Forschungsgeschichte BYRSKOG, Co-sender, 230–232. ZAHN, Einleitung, 150f.

§ 5 Exegetische Vorbemerkungen zum 2. Korintherbrief

103

schriftstellerische Plural wird in weitem Umfang von P. angewandt, in so weitem Umfang, dass er bei sonst zweifelhaften Stellen für die näherliegende Erklärung gelten muss“.70 Ein Bezug des Plurals auf die im Präskript genannten Mit-Absender lasse sich nirgends bei Paulus zeigen. Der oft angezweifelte schriftstellerische Plural wird von ihm und von späteren Arbeiten auch außerhalb des NT zumindest als Randphänomen in der Antike nachgewiesen.71 Jenseits der skizzierten Frontstellung besteht in der gegenwärtigen Forschung nur darüber Einigkeit, dass es keine allgemeine Regel für den Bezug der ersten Person Plural bei Paulus gibt.72 Es bleibt umstritten, ob man eher zum schriftstellerischen Plural oder einer anderen Pluralbedeutung tendieren sollte, wenn der jeweilige Kontext keine Hinweise gibt.73 Dabei ist anzunehmen, dass Paulus in einigen Fällen die Bedeutung bewusst offen gehalten hat: „Die Verwendung der 1. Sing. und Plur. ist bei P. äußerst vielseitig und elastisch und nicht in starre Regeln zu bannen.“74 Im Hintergrund kann allerdings häufig die Intention des kommunikativen Plurals gesehen werden, um eine Nähe zu den Adressatinnen und Adressaten herzustellen. Doch darin erschöpft sich die konkrete Bedeutung nicht.75 Wer einen echten Plural völlig ablehnt, muss den raschen Wechsel zwischen Singular und Plural in 2Kor 7 erklären können.76 Doch ist ein echter Plural nicht generell dadurch zu rechtfertigen, dass der im Präskript genannte Timotheus als Mitabsender oder sogar Mitverfasser gemeint sei, zumal im Briefverlauf häufiger Titus erwähnt 70

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DICK, Plural, 168. Er scheint als erster den Begriff „schriftstellerischen Plural“ zu verwenden und definiert ihn als „Plural der Selbstbezeichnung“ (3). Vgl. a. a. O., 15–23: In griechischen Texten generell komme der schriftstellerische Plural selten, in hellenistischen Texten ab dem 1. Jh. häufiger vor, im Bereich von alltagssprachlichen Briefen gar nicht. Seine Interpretation der Stellen ist allerdings im Einzelfall kritisch zu hinterfragen. Die von ihm (17) angeführten Stellen Epiktet, Diss. 2,3,3; 4,2; 5,10 sind m. E. eher als kommunikativer Plural zu verstehen. Die jüngere Untersuchung von BYRSKOG, Co-senders, 233–236 zeigt unter Einbeziehung verschiedener Papyri, dass Briefe mit mehreren Absendern in der Antike im griechisch-römischen und jüdischen Umfeld eine seltene Ausnahme sind. Für den jüdischen Bereich nennt er als solche Ausnahmen die Briefe in Esr 4,11; 1Makk 12,6; 2Makk 1,1; 1,10 und Josephus, AJ 12,258. Dabei beziehe sich der Plural allerdings immer als echter Plural auf alle genannten Absender. So schon DICK, Plural, 169, für den „die Entscheidung über den einzelnen Fall in den oben dargelegten Grenzen Sache des exegetischen Gefühls“ bleibt. Für einen schriftstellerischen Plural in der überwiegenden Zahl der Fälle votiert v. a. SCHMELLER, Brief I, 62, dagegen: MURPHY-O’CONNOR, Co-authorship, 577–579 (echter Plural); VERHOEF, Senders, 425 (echter Plural) und BYRSKOG, Co-senders, 249f (echter oder kommunikativer Plural). WINDISCH, Korintherbrief, 34. Er stellt aber dennoch eine Regel auf: Paulus verwende die erste Person Singular, „wenn es sich um seine Person, seine Erlebnisse, seine Maßnahmen, seine Überzeugungen, seine Ehre handelt, außerdem in konventionellen, einfachen Wendungen wie λέγω, γράφω, ἐλπίζω, μαρτυρῶ.“ Er verwende dagegen den Plural „um seine Einzelperson zurückzudrängen (gen. humilitatis), sei es um den Mitverfasser einzubeziehen, sei es um sich als Glied einer kleineren oder umfassenderen Gruppe vorzustellen.“ Vgl. gegen eine solche Regel schon DICK, Plural, 168f. Vgl. BYRSKOG, Co-senders, 249 und SCHMELLER, Brief I, 62. Für MURPHY-O’CONNOR, Co-authorship, 575 drückt sich im Auftreten der ersten Person Singular in ‚Wir-Abschnitten‘ m. E. wenig überzeugend die Ungeduld des Paulus aus. Diese sei „characteristic for Paul’s temperament“.

104

Teil I: Voraussetzungen der Arbeit

wird.77 Die deutlich unterschiedene Einführung von Timotheus als „der Bruder“ und Paulus als „Apostel Christi Jesu durch den Willen Gottes“ spricht gegen eine Briefabfassung zu gleichen Teilen. Mit der Diskussion ist die Frage verbunden, ob Paulus „als einsamer Held“ verstanden wird oder ob man ihn sich im „Teamwork“78 agierend vorstellt. Die Erwähnung des Timotheus könnte auch andere Gründe als seine Mitverfasserschaft haben: Paulus erwähnt ihn als jemanden, der der Gemeinde bekannt war, um wie durch den kommunikativen Plural gleich zu Beginn eine Verbindung zu den Adressatinnen und Adressaten aufzubauen.79 Dann könnte jedoch auch Titus erwähnt werden, der der Gemeinde ebenfalls bekannt war (vgl. 2Kor 7,6f.13–15). Das ist anders im 1. Thessalonicherbrief. Denn an dessen Beginn sind Paulus, Silvanus und Timotheus gleichrangig mit Namen genannt und der Brieffast durchgängig im Plural verfasst.80 Aus dem Dargestellten ergibt sich für die Untersuchung von Leiderfahrungen und speziell für die Frage nach den Betroffenen Folgendes: Die Bedeutung der ersten Person Plural ist im 2. Korintherbrief mehrdeutig. Ich werde daher bei der Pluralverwendung aufgrund der schwachen antiken Belegsituation des schriftstellerischen Plurals zunächst von einem echten Plural und einer Paulus-Gruppe ausgehen, ohne diese mit einer Verfassergruppe gleichzusetzen. Das literarische paulinische ‚Ich‘ und ‚Wir‘ wird somit auseinandergehalten. Anhand der Einzeluntersuchungen wird sich herausstellen, ob Paulus für Leiderfahrungen und den Umgang mit diesen eine Unterscheidung zwischen Singular und Plural trifft. Der Nachweis eines kommunikativen und eines allgemeinen Plurals kann ein Hinweis darauf sein, dass die Leidbewältigungsstrategien anhand der ersten Person Plural sich auf exemplarisch vorgestellte und daher für die Gemeinde verallgemeinerbare Strategien zur Leidbewältigung beziehen lassen.81

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So auch SCHMELLER, Brief I, 62 und VERHOEF, Senders, 425. BYRSKOG, Co-senders, 245f hält es für möglich, dass Timotheus der Mitautor von 2Kor 1,1–14 ist. MÜLLER, Plural, 200f. Z. B. MARTIN, Corinthians, 2 geht davon aus, dass eine vorige Mission des Timotheus in Korinth fehlgeschlagen ist und Paulus ihn durch die Nennung im Präskript als seinen Mitarbeiter rehabilitieren wollte. Dagegen WINDISCH, Korintherbrief, 32f, der von keinem „Fall“ Timotheus zur Zeit der Abfassung des 2. Korintherbriefes ausgeht. Vgl. BYRSKOG, Co-senders, 244. Vgl. BYRSKOG, Co-senders, 236–238. Die Ausnahmen in 1Thess 2,18; 3,5; 5,27, bei denen sich die erste Person Plural auf Paulus bezieht, sind aus dem Kontext deutlich markiert. Die Vorstellung, dass Paulus seine Briefe unabhängig von jeweils im Präskript erwähnten Mitabsendern im Diskurs mit Mitarbeitenden verfasst hat, erscheint plausibel. So z. B. a. a. O., 250f. Wenn ich im Folgenden von Paulus als Autor des 2. Korintherbriefs spreche, dient das der besseren Verständlichkeit der Formulierungen. Eine Festlegung auf Paulus als alleinigen Autor oder eine pauschale Interpretation der ersten Person Plural als schriftstellerischer Plural ist nicht impliziert.

Teil II Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs in 2Kor 1–8 Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

§6 Einzelexegese von 2Kor 1,3–11 § 6 Einzelexegese von 2Kor 1,3–11

6.1

Kontext und Abgrenzung

Der vorliegende Text ist entweder der Beginn des kanonischen 2. Korintherbriefs, eines Briefteils 2Kor 1–8(9) oder des in der Hypothese von G. BORNKAMM „Versöhnungsbrief“ genannten Abschnitts 1,1–2,13 und 7,5–16, der nach dem Ende des Konflikts zwischen Gemeinde und Apostel verfasst wäre. Nach dem Präskript beginnt Paulus in 2Kor 1,3 eine Beschreibung und Reflexion sowie einen Rückblick auf überstandenes Leiden. Dabei wird in der Forschung diskutiert, ob das Proömium mit 1,11 oder bereits mit 1,7 endet. Denn nach 1,7 setzt Paulus eine formale und inhaltliche Zäsur: In 1,8 beginnt er mit einer sogenannten disclosure-Formel formal die kurze Erzählung und Deutung seiner konkreten Bedrängnis in der Provinz Asien.1 Auch in Bezug auf die vorkommenden Begriffe findet eine Verschiebung statt: In 1,3–7 verwendet Paulus gehäuft θλῖψις κτλ., πάθημα/πάσχω, παράκλησις/παρακαλέω und den Christus-Titel, während diese Begriffe in 1,8–11 fast völlig zurücktreten. Trotz dieser Zäsur zwischen 1,7 und 1,8 wiegen die Argumente der Mehrheitsmeinung schwerer, nach der der Briefeingang erst nach 1,11 endet:2 Erstens stellt erst 1,12 einen überzeugenden Neueinsatz und den Beginn des 1

2

„Denn wir wollen euch nicht darüber im Ungewissen lassen …“ (οὐ γὰρ θέλομεν ὑμας ἀγνοεῖν). Vgl. für eine Erklärung der disclosure-Formel z. B. WÜNSCH, Brief, 160f. Sie besteht aus vier Elementen: a) dem Verb θέλω, b) einem noetischen Verb im Infinitiv, c) der Nennung der Adressaten, d) einer (neuen) Information und optional e) der (erneuten) Nennung der Adressaten im Vokativ. In Gal 1,11 und Phil 1,12 leitet sie den Hauptteil ein. Innerhalb dessen kann sie auch einen neuen Abschnitt einleiten (z. B. 1Kor 10,1; 12,1; 15,1). Vgl. z. B. SCHMELLER, Brief I, 45; HOTZE, Paradoxien, 303 und VEGGE, Corinthians, 151f.

106

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

Brief-Corpus dar, weil inhaltlich das Leiden der Wir-Gruppe dort nicht mehr thematisiert ist. Zweitens muss die disclosure-Formel strukturell nicht immer eine Zäsur vor dem Brief-Corpus anzeigen.3 Im vorliegenden Text markiert sie eine Trennung der theologischen Deutung von Leid und Trost der Apostel (1,3–7) von der knappen Beschreibung einer konkreten Rettungserfahrung (1,8–11), die eine rückwirkende Begründung der Eulogie von 1,3 zu sein scheint.4 Drittens kommt mit der Danksagung durch das Verb εὐχαριστέω in 1,11 das Proömium inhaltlich zu einem Abschluss. Denn die in den Paulusbriefen übliche Danksagung wird hier geradezu nachgereicht.5 Auch deswegen wird der Abschnitt häufig als „Gegenentwurf“6 zu sonstigen Briefanfängen bei Paulus interpretiert: Statt des Gotteshandelns an der Gemeinde macht Paulus dessen Rettungshandeln an der Wir-Gruppe zum Thema, was der Form des Danklieds des Einzelnen aus den Psalmen ähnlich ist.7 Und statt eines Gebets des Paulus für die Gemeinde bittet die WirGruppe um Gebete und Dank für die Rettung (1,11). So wird eine Beziehung von Geben und Nehmen etabliert (1,6f.11): Die Apostel geben der korinthischen Gemeinde den empfangenen Trost (παράκλησις) weiter und erbitten dafür deren Gebet (δεήσις).8 Das Proömium weist auffällige Ähnlichkeiten zu 4,7–15 auf.9 Diese bestehen neben dem θλῖψις-Begriff in weiteren gemeinsamen Begriffen, z. B. ἐξαπορέω (völlig verzweifeln) in 1,8 und 4,8, ὑπερβολὴ ὑπὲρ δύναμιν (über die Kraft gehendes Übermaß) in 1,8 als Parallele zu ὑπερβολὴ τῆς δυνάμεως (Übermaß der Kraft) in 4,7. Auch inhaltlich gibt es Gemeinsamkeiten, wobei deren mögliche Relevanz für die Leidbewältigung erst noch zu untersuchen ist. Parallelen werden sich auch bei der Beschreibung des Leidens und den Strategien zu seiner Bewältigung zeigen. Es wird selten reflektiert, ob dies ein Argument für oder gegen die ursprüngliche Einheitlichkeit des Briefes sein kann.10 3 4

5

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9 10

SCHMELLER, Brief I, 45 nennt Röm 1,13; 11,25 für eine nur schwache Zäsur durch die Formel. Vgl. LIM, Sufferings, 41. Nach SCHMELLER, Brief I, 48f zielt Paulus mit beiden Teilen ganz im Stil antiker Briefkonventionen zuerst auf Ethos (1,3–7) und dann auf Pathos (1,8–11) der Lesenden. Vgl. SCHMELLER, Brief I, 79. Proömien mit Danksagung finden sich in 1Thess 1,2–10, 1Kor 1,4–9, Phil 1,3–11, Phlm 4–7 und Röm 1,8–15. WOLFF, Brief, 19. FURNISH, Corinthians, 116 bezeichnet 1,3–11 als „curiously inverted form of the usual Pauline thanksgiving period“. Nach HOFIUS, Gott, 252 spricht Paulus in 2Kor 1,3ff in der „Sprache des Gebetsbuches Israels.“ Er verweist anhand des Trost-Begriffs auf Anhaltspunkte z. B. in Ψ 22,4ff; 93,16ff. Weitere Parallelen nennt BERGER, Formen, 330f. Auf beide verweist KRUG, Kraft, 182. Vgl. GRÄßER, Brief, 66. CRÜSEMANN, Trost, 115 sieht den Trost hier dargestellt „als Substanz eines großen Kreislaufs“: Er geht von Gott aus (1,3) und fließt durch Dank und Lob an Gott zurück (1,11). Vgl. CHOI, Peristasenkataloge, 105–107 und GRÄßER, Schatz, 313. Vgl. allerdings CHOI, Peristasenkataloge, 107, die anhand dessen die Einheitlichkeit des 2. Korintherbriefs voraussetzt: „Das Proömium im 2. Korintherbrief ist demnach ein Vorspiel der Peristasen, die danach in vier Katalogen in Kap. 4, 6, 11 und 12 entfaltet werden.“

§ 6 Einzelexegese von 2Kor 1,3–11

6.2

107

Analyse des geschilderten Leidens

Im vorliegenden Textabschnitt kommt das Substantiv θλῖψις 2mal und das Verb θλίβω einmal vor. Daneben ist πάθημα κτλ. (4mal) ein zentraler Begriff für die Beschreibung und Deutung des Leidens.

6.2.1

Betroffene

Paulus spricht im ganzen Abschnitt in der ersten Person Plural, weswegen für die Analyse der Betroffenen zu klären ist, worauf diese sich hier bezieht.11 Ab 2Kor 1,6 wird durch die auffallend häufigen Pronomen in der ersten und zweiten Person Plural deutlich, dass Paulus zwischen Wir-Gruppe und Gemeinde trennt.12 Bereits in 1,4 wird das Gegenüber beider Gruppen vorbereitet durch den Zielpunkt des Tröstens auf „alle, die in Bedrängnis sind“ und ist so schon in 1,3–5 vorausgesetzt. Wäre nicht schon hier die Gemeinde als Gegenüber gedacht, dann wäre das ‚Ihr‘ in 1,6 völlig unvorbereitet und ohne eine zu erwartende sprachliche Zäsur eingeführt. Daher scheiden sowohl die kommunikative wie auch die allgemeine Interpretation der ersten Person Plural hier aus: Die korinthische Gemeinde ist nicht in die Wir-Gruppe einbezogen. Dagegen ist nicht zu entscheiden, ob Paulus als Grundbedeutung von einem schriftstellerischen oder einem echten Plural ausgeht.13 Wegen der Nähe zum Präskript kann eine Mitarbeitenden-Gruppe und speziell der genannte Timotheus mit gemeint sein.14 Ich werde dementsprechend von einem Leiden der Wir-Gruppe – und nicht des Paulus – ausgehen. Die Bedrängnis der Gruppe ist auf der begrifflichen Ebene durch drei der vier Belege von θλῖψις κτλ. in 1,4a.6.8 ausgedrückt, die sich ausschließlich auf sie und nicht auf die Gemeinde beziehen. Der Begriff bezeichnet also sowohl die allgemein gehaltene Reflexion des Verhältnisses von Trost und Bedrängnis in 1,3–7 wie auch die konkrete Bedrängnis in Asien innerhalb von 1,8–11. Nur der Beleg in 1,4b bezieht sich auf eine 3. Person Plural, in deren weitem Bedeutungsspektrum die Gemeinde verortet sein kann. Für diese Bedrängnis 11 12

13

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Vgl. für die Bedeutung der ersten Person Plural bei Paulus § 5.3. Personalpronomina der ersten Person Plural kommen mit 14 Belegen deutlich häufiger vor als solche der zweiten Person Plural (4mal). Paulus setzt auf der Textebene in 2Kor 1,3 auch den Glauben an „Gott, den Vater unseres Herrn Jesus Christus“ nicht als verbindendes Element zwischen paulinischer Wir-Gruppe und Gemeinde voraus. Das kann durch die Konflikte begründet sein, die ab 2Kor 2 in den Fokus rücken. Z. B. FURNISH, Corinthians, 122 lässt die Frage nach weiteren Bedrängten neben Paulus offen, während z. B. STANDHARTINGER, Welt, 150, Anm. 40 hier einen echten Plural sieht und von einer angeklagten Gruppe aus Paulus, Timotheus (vgl. 2Kor 1,1) und evtl. weiteren Aposteln ausgeht. Timotheus wird allerdings innerhalb des 2. Korintherbriefs nur noch in 2Kor 1,19 mit Silvanus genannt. Ansonsten ist hier der Mitarbeiter Titus von Bedeutung, vgl. 2,13; 7,6.13–16; 8,6.16ff.

108

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

ist jedoch kein Bezug zu einem konkreten leidverursachenden Widerfahrnis genannt, sodass sie als potentielle Bedrängnis anzusehen ist. Erst in 1,6f spricht Paulus explizit die Gemeinde (ὑμῶν) als leidend an.15 Dabei scheint jedoch keine konkrete Situation im Blick zu sein. Die Bedrängnis ist vielmehr potentiell denn akut gedacht.16 Dieses Leiden der Gemeinde steht jedoch nicht isoliert im Fokus der Betrachtung, sondern im Zusammenhang mit dem der Paulus-Gruppe. Es wird in 1,6f nicht mit dem Begriff θλῖψις κτλ. bezeichnet, sondern ausschließlich durch πάθημα/πάσχω, was 3mal auf beide Gruppen bezogen ist. Gemeinde und Paulus-Gruppe sind durch den noch näher zu untersuchenden Ausdruck παθήματα τοῦ Χριστοῦ (Leiden Christi) in 1,5 auf Christus bezogen. Daraus ergibt sich für die weitere Analyse und auch für die Untersuchung der Strategien zur Leidbewältigung, dass diese für die verschiedenen Zielgruppen separat zuzuordnen sind: In 1,4–7 wird das Leiden von PaulusGruppe und Gemeinde anhand von θλῖψις und πάθημα reflektiert. In 1,8–11 wird das Leiden der Paulus-Gruppe ausschließlich anhand des θλῖψις-Begriffs thematisiert.

6.2.2

Betroffenheitsebene

In 1,4 eröffnet die Thematisierung von „jedweder Bedrängnis“ (ἐπὶ πάσῃ τῇ θλίψει) ein breites Bedeutungsspektrum, das sich kaum eingrenzen lässt. Daher ist es naheliegend, für 1,3–7 und damit für Paulus-Gruppe und Gemeinde sowohl von potentiellen Leiderfahrungen auf sozial-psychischer wie auch auf somatisch-physischer Ebene auszugehen. Der zweite Teil des Abschnitts bezieht sich in 1,8f auf die Bedrängnis in Asien, die nur die Paulus-Gruppe betrifft. Aufgrund der begriffsgeschichtlichen Überlegungen zum θλῖψις-Begriff und des Zusammenhangs zu den noch zu besprechenden Hypothesen zur Rekonstruktion der Bedrängnis ist davon auszugehen, dass hier Leiden primär auf somatisch-physischer Ebene gemeint ist.17

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17

Vgl. Phil 1,29; 1Thess 2,14 wo ebenfalls eine Gemeinde mit dem Begriff πάθημα κτλ. als leidend beschrieben ist. Der Kontext ist dort jeweils stark christologisch geprägt, was unten für den vorliegenden Text zu untersuchen ist. Vgl. im begriffsgeschichtlichen Teil § 4.2.2.3 für die Bezeichnung potentiellen Leidens durch den θλῖψις-Begriff in der weisheitlichen Tradition. Anders und wenig überzeugend interpretiert FREDRICKSON, Sentence, 102 u. 107 den Todesbescheid als innerlich gefälltes und auf Paulus alleine bezogenes Urteil. Diese Selbstverurteilung sei Ausdruck seiner Reue, die er wegen der Auswirkungen seines Tränenbriefs fühle, und ziele im Zusammenhang mit 2Kor 2,1–11 und 7,5ff auf die Versöhnung mit der Gemeinde.

§ 6 Einzelexegese von 2Kor 1,3–11

6.2.3

109

Leidursachen

In 1,4–7 thematisiert Paulus Leiden, das er so sehr verallgemeinert, dass es als potentielle Erfahrung sowohl von Ereignissen wie von Handlungen verursacht sein könnte. Eine Entscheidung muss zunächst offen bleiben. Die Bedrängnis in Asien in 1,8f hat man dagegen in der Forschung näher zu bestimmen versucht.

Exkurs: Die Bedrängnis in Asien (1,9) In der Forschungsdiskussion besteht nur in Bezug auf die wenigen Details Einigkeit, die Paulus selbst über die Bedrängnis in Asien preisgibt:18 a) Die θλῖψις fand in der römischen Provinz Asien statt.19 b) Sie geschah nach der Abfassung des 1. Korintherbriefs, da sie dort nicht erwähnt ist.20 c) Aus der drastischen Beschreibung bis hin zur Gleichsetzung mit dem Tod in 1,10 geht hervor, dass sie in ihrer Schwere alles bisher von Paulus Erlebte übertrifft und bis dato einmalig ist.21 Er beschreibt sie mit den seltenen Begriffen βαρέω22 (bedrücken, belasten), ἐξαπορέω23 (völlig verzwei18

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23

Vgl. für diese Auflistung HARRIS, Epistle, 164–166, der daraus auf eine Krankheit als Inhalt der Bedrängnis schließt. Vgl. SCHMELLER, Brief I, 69f für eine Kritik daran. Z. B. BAUMERT, Rücken, 18f; WOLFF, Brief, 25 und HARVEY, Renewal, 1 schlagen eine Lokalisierung in Ephesus als der Hauptstadt der Provinz Asien vor. Dagegen ist mit z. B. FURNISH, Corinthians, 122; THRALL, Commentary, 114–116 und HARRIS, Epistle, 154 einzuwenden, dass Ephesus als Deutung zwar möglich, aber nicht zwingend ist. Wenn Ephesus gemeint ist, kann Paulus es an anderen Stellen (1Kor 15,32; 16,18) explizit erwähnen. Das ist allerdings ein Argument e silentio. Vgl. z. B. HARRIS, Epistle, 164. Eine Identifikation der Bedrängnis mit dem in 1Kor 15,32 erwähnten Tierkampf in Ephesus (θηριομαχέω) ist nicht wahrscheinlich, schon weil das Stadion in Ephesus nach a. a. O., 166 im 1./2. Jh. nicht für Tierkämpfe genutzt wurde. Vgl. OMERZU, Prozeß, 320f: „Die wilden Tiere sind vermutlich eine Metapher für die Widersacher, die Paulus auch in 1Kor 16,9 erwähnt …“ So bereits IgnRöm 5,1 nach SCHWEITZER, Mystik, 149. Für MALHERBE, Beasts, 71–80 gehört der Kampf mit wilden Tieren in die kynische Tradition mit den Vorbildern des Herakles (Epiktet, Diss. 1,6,32; Dio Chrysostomos 5,22f) und des ersten Kynikers Diogenes (Dio Chrysostomos 8,26ff). Die Tiere seien im Kontext der Epikureer-Polemik eine Metapher für die zu besiegenden Leidenschaften. Vgl. WÜNSCH, Brief, 181 und HARRIS, Epistle, 165. HOTZE, Paradoxien, 334 geht von einer Steigerung aus, die in einer „semantischen Klimax“ mit dem Wort θάνατος endet, was er aus der Psalmensprache entnommen sieht: „Paulus war wirklich mitten im Tode …“ [Hervorhebung im Original]. WINDISCH, Korintherbrief, 45 spricht vom „unglaublichen Grad des Druckes“ der Leidenden. Das Verb βαρέω kommt im NT insgesamt nur 7mal vor, bei Paulus nur hier und 2Kor 5,4 (gemeinsam mit ‚Seufzen‘ für das Leiden in diesem Äon, vgl. Röm 8,22f.26). Das Substantiv βαρός gebraucht er höchst unterschiedlich in 1Thess 2,7 (Gewicht i.S.v. ‚Einfluss‘), Gal 6,2 (gegenseitig zu tragende Last der Menschen) und 2Kor 4,17 (Gewicht/Größe der Herrlichkeit). Das Verb ἐξαπορέομαι kommt im NT sonst nur in 2Kor 4,8 vor, dort allerdings als nicht eingetretener, leidvoll negativer Zustand. In der LXX steht es nur in Ψ 87,16. WINDISCH, Korintherbrief, 46 sieht die Situation des Paulus als der des Psalmisten sehr ähnlich an.

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Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

feln) und ἐν ἑαυτοῖς ἀπόκριμα24 τοῦ θανάτου (Todesbescheid in uns, Hapaxlegomenon im NT). d) Paulus erwartet ähnliche Bedrängnisse für die Zukunft. Das ergibt sich aus dem Anschluss des Futurs ῥύσεται in 1,10 an die Beschreibung der einmaligen bereits erfolgten Rettung aus konkreter Not (ἐρρύσατο), was auf die Erwartung weiterer Rettungstaten hinweist. Die Methodik der hiesigen Untersuchung hat den Vorteil, dass sie nicht darauf angewiesen ist, die Bedrängnis im Detail zu rekonstruieren.25 Vielmehr muss sie lediglich einer der Ursachenkategorien zugeordnet werden, um zu entscheiden, ob sie aus Handlungen oder Ereignissen resultiert. Dazu erfolgt hier ein Überblick über die diskutierten Hypothesen. Als Ereignis wäre die Bedrängnis von 1,8 angesehen, wenn sie als möglicherweise chronische Krankheit gedeutet wird.26 Das würde die Erwartung einer ähnlichen Bedrängnis für die Zukunft erklären, ebenso die Beschreibung als Todesbescheid in uns, die unspezifische Lokalisierung und schließlich den Verweis auf den totenerweckenden Gott. Jedoch sind diese Argumente nicht zwingend. Der Todesbescheid und besonders der Bezug zum Tod in 1,10 kann wie in den Psalmen auf allgemeine Erfahrungen von Not bezogen sein. Bei einer Krankheit wäre es zudem verwunderlich, dass Paulus überhaupt eine Ortsangabe macht. Denn der Ort ist dafür irrelevant. Ein Bezug zur paulinischen Krankheit in 2Kor 12,7 (oder auch Gal 4,12–14) legt sich weder durch gemeinsame Begriffe noch einen ähnlichen Kontext nahe.27 Es ist also unwahrscheinlich, dass Paulus sich in 1,8f auf eine Krankheitssituation bezieht. Alle anderen Deutungen der Bedrängnis in Asien verweisen auf Leiderfahrungen, die auf Handlungen rekurrieren: Das gilt für eine Identifikation mit dem in Apg 19,23–40 geschilderten Aufstand in der Silberschmiede in Ephesus28 genauso wie für eine Gefangenschaft (möglicherweise in Ephesus) unter 24

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26

27

28

Vgl. für die Bedeutung von ἀπόκριμα als offizieller Bescheid z. B. WINDISCH, Korintherbrief, 46 mit Verweis auf Josephus, AJ 14, 210 und Polybius 12,26,1. BAUMERT, Rücken, 20 leitet die Bedeutung vom Verb ἀποκρίνω ab und übersetzt „Todesantwort“. So auch LIM, Suffering, 59 und KRUG, Kraft, 186. Letzterer erklärt den Mangel an Details zur Bedrängnis in Asien mit einem Bezug zu den Psalmen, in denen ebenfalls die konkrete Not in den Hintergrund trete und exemplarisch verstanden werde. Vgl. für das Folgende HARRIS, Epistle, 170–172. Eine Krankheits-Deutung vertritt auch KLAUCK, 2. Korintherbrief, 20. WELBORN, End, 435f interpretiert die θλῖψις als Depression infolge des Endes der Freundschaft mit Gaius, was der Hintergrund des in 2Kor 2 und 7 dargestellten Konflikts sei. Vgl. für m. E. nicht überzeugende Papyrus-Belege zu dieser Deutung ARZT-GRABNER, Korinther, 211 und für Hinweise auf weitere Vertreter der Krankheitsdeutung HECKEL, Kraft, 262, Anm. 279. HARVEY, Renewal, 27 interpretiert die Bedrängnis als „period of severe physical weakness, dependence and incapacity for work“. Damit sieht er einen Zusammenhang zur Schwachheit des Apostels, die in 2Kor 10–13 intensiv thematisiert ist. Vgl. für eine Diskussion und schließlich überzeugende Ablehnung einer Identifikation von Apg 19,23–40 mit der Bedrängnis in Asien z. B. HOTZE, Paradoxien, 327; SCHMELLER, Brief I, 69f und

§ 6 Einzelexegese von 2Kor 1,3–11

111

belastenden Bedingungen ggf. mit einem juristischen Todesurteil.29 Problematisch daran ist, dass zwar ἀπόκριμα terminus technicus für einen offiziellen Bescheid ist, es jedoch keine Belege für die Wendung ἀπόκριμα τοῦ θανάτου als juristisches Todesurteil gibt.30 Für den weiteren Verlauf der Untersuchung ist also davon auszugehen, dass Paulus mit der Bedrängnis in Asien in 2Kor 1,8–10 eine konkrete Leiderfahrung thematisiert, die aus Handlungen anderer Menschen resultiert. Es ist von daher sehr wahrscheinlich, dass er in 1,3–7 bei dem potentiellen Leiden ebenso Handlungen als Auslöser für die Leiderfahrung ansieht.

6.2.4

Leidverantwortliche

2Kor 1,6 bezieht sich auf zwei Seiten des Geschehens: ‚Wir werden bedrängt bzw. getröstet, dafür erhaltet ihr Trost bzw. Rettung‘. Es wäre m. E. nicht plausibel, dass die Gemeinde die Apostel bedrängt und ihr daraus Trost erwächst. Zudem fügt Paulus hinzu, dass die Gemeinde Leiderfahrungen macht, „die auch wir erleiden“. Da sowohl die Wir-Gruppe wie auch die Gemeinde passiv etwas erleiden, ist eine dritte verantwortliche Seite vorausgesetzt. Die leidverursachenden Widerfahrnisse von Paulus-Gruppe und Gemeinde kommen also wahrscheinlich von außerhalb der Gemeinde. Damit ist m. E. ausgeschlossen, dass Paulus sich direkt auf den in 1,23ff und 7,5ff mit anderer Begrifflichkeit (v. a. λύπη/λυπέω) beschriebenen Konflikt mit der Gemeinde bezieht. Vielmehr betont er gerade hier im Proömium die Verbindung zwischen Aposteln und Gemeinde, indem er gemeinsame Leiderfahrungen durch Dritte thematisiert.

29

30

OMERZU, Prozeß, 320. a) Die terminologisch singuläre Beschreibung der θλῖψις in 2Kor 1,8 hat keine Entsprechung in Apg 19. b) In der Episode wird keine Lebensgefahr für Paulus erwähnt. c) Der Konflikt geht in Apg 19,38f ohne Einmischung der Exekutive zu Ende, weshalb man ihn im Vergleich zu anderen Vorfällen z. B. in Philippi und Thessaloniki als weniger gefährlich einstufen kann. Vgl. z. B. FURNISH, Corinthians, 123f. THRALL, Epistle I, 114–117 hält eine Kerkerhaft immerhin für eine Möglichkeit. ARZT-GRABNER, Korinther, 207–212 vermutet eine illegale Festnahme und Folter in Ephesus. Gegen eine Gefangenschaft z. B. HECKEL, Kraft, 262, Anm. 279 und WOLFF, Brief, 25. Paulus wird laut eigener Aussage (2Kor 11,23) häufig gefangen genommen, was der konstatierten Einmaligkeit widerspricht. Eine bestimmte Gefangenschaft unter schweren Bedingungen wäre denkbar, bleibt jedoch Hypothese. Vgl. zu den harten Haftbedingungen der Antike z. B. Lukian, Tox. 29 und mit Verweis auf weitere Quellen STANDHARTINGER, Welt, 146–150, die die Bedrängnis ebenfalls als Gefangenschaft deutet. Die Wendung ἀπόκριμα τοῦ θανάτου ist im Griechischen nur hier belegt. Vgl. gegen die Deutung als juristisches Todesurteil SCHMELLER, Brief I, 71; BAUMERT, Rücken, 20; ARZT-GRABNER, Korinther, 200f und MOULTON/MILLIGAN, Vocabulary, 64. Wahrscheinlich meint Paulus schon wegen des vorangestellten ἐν ἑαυτοῖς eine innere Einsicht in die Ausweglosigkeit der Situation.

112

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

6.3

Strategien zur Bewältigung von Leiderfahrungen

Ich werde im Folgenden unterscheiden zwischen ausschließlich auf die Paulus-Gruppe bezogenen, nur auf die Gemeinde bezogenen oder auf beide gleichermaßen bezogenen Strategien. Es ist zwar möglich, dass die PaulusGruppe exemplarisch für den Umgang der Gemeinde mit Leiden steht, sodass die für sie entwickelten Strategien auch für die Gemeinde Geltung haben. Doch aus Gründen der methodischen Klarheit werden beide zunächst auseinander gehalten.

6.3.1

Trost Gottes (1,4–7)

Im ersten Teil des Proömiums 2Kor 1,3–7 ist die für Paulus singuläre Häufung des Begriffs παράκλησις/παρακαλέω auffallend, der hier mit der Hauptbedeutung ‚Trost/Trösten‘ verwendet ist.31 Schon in 1,3 beschreibt Paulus Gott als Urheber allen Trostes (vgl. 2Kor 7,6). Das Verb gebraucht er dabei 4mal, das Substantiv 6mal. Im zweiten Teil des Proömiums 1,8–11 allerdings kommt παράκλησις/παρακαλέω nicht vor. Das kann bedeuten, dass Paulus die Tröstung nicht mit seiner konkreten Bedrängnis-Erfahrung in der Provinz Asien in Verbindung bringt. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass die allgemein gehaltenen Ausführungen zu παράκλησις/παρακαλέω aus 1,3–7 nun unter dem Stichwort des Errettens (ῥύομαι) aufgenommen und konkretisiert sind.32 Um die Bedeutung des Begriffs im Kontext der Leidbewältigung nachzuvollziehen, ist zunächst ein Blick in seine weitere Verwendung hilfreich. 6.3.1.1

Bedeutungsskizze zu παράκλησις/παρακαλέω

Die außerbiblische griechische Tradition hat ein weites Feld an Trostliteratur mit verschiedenen Trostmotiven zur hauptsächlichen Anwendung bei Todesfällen entwickelt.33 Allerdings wird in der außerbiblischen Literatur der Begriff παράκλησις/παρακαλέω meistens in der Bedeutung von ‚Herbeirufen, Bitten, Ermahnen‘ und nur selten als ‚Trösten‘ verwendet.34 Stattdessen ist 31

32 33

34

Die weiteren in § 6.3.1.1 genannten Bedeutungen von παράκλησις/παρακαλέω sind für griechisch-sprachige Leserinnen und Leser sicherlich ebenfalls präsent. Vgl. SCHMELLER, Brief I, 70. Vgl. für die antike Trostliteratur z. B. SCHMITZ/STÄHLIN, Art. παρακαλέω, 777–785. Bekannte Trostschriften sind z. B. Plutarch, Cons. Apoll. und Seneca, Marc. Das Begriffsfeld παραμυθία κτλ. ist auch im tröstenden Stil der Typenregister des Pseudo-Libanius 25 und des Pseudo-Demetrius 5 belegt. Vgl. SCHMITZ/STÄHLIN, Art. παρακαλέω, 772–774. In der Bedeutung von ‚Herbeirufen‘ ist παρακαλέω ihnen zufolge z. B. bei Xenophon, Anab. 3,1,32; Polybius 2,20,1 verwendet, als ‚Bitten‘ z. B. bei Epiktet, Diss. 1,9,30; 1,10,10; Polybius 1,67,10 und als ‚Ermahnen‘ bei Xenophon, Anab.

§ 6 Einzelexegese von 2Kor 1,3–11

113

für die Bedeutung von ‚Trost‘ v. a. παραμυθία κτλ. belegt.35 Im Folgenden werde ich mich auf die Verwendung von παράκλησις/παρακαλέω zunächst in der LXX konzentrieren, wo der Begriff deutlich häufiger gebraucht ist. Der Begriff kommt in der LXX mehr als 140mal vor. Die Bedeutung des Trostes geht mindestens in zwei Richtungen:36 Einerseits kann dabei das leidverursachende Widerfahrnis bestehen bleiben und der Trost sich wie in der außerbiblischen Literatur auf die Verbesserung des Gemütszustands richten, etwa nach dem Tod eines nahen Menschen (z. B. 2Sam 10,2f; 13,39; 1Chr 7,22; Jer 16,7), bei Angst (z. B. Est 5,2; 1Makk 9,35; 13,3), eigener Krankheit (z. B. Hi 2,11; 4,3) und eigenem Leiden (z. B. Hi 29,25; Jes 61,2; Klgl 1,2). Diese Form des Trosts geben ausschließlich Menschen einander und manchmal auch sich selbst (z. B. Hi 7,13; Jes 21,2; Sir 30,23; 38,17–23).37 Andererseits gibt es entgegen dem falschen Trost von Götzen (ματαία παράκλησις, z. B. Sach 10,2; Jes 28,29) den wahren Trost von Gott (z. B. παράκλησις ἀληθινή in Jes 57,18, vgl. Ψ 22,4; Jes 51,12). Damit wird ein konkretes rettendes Eingreifen Gottes – oder die Hoffnung darauf – beschrieben, womit dieser das leidverursachende Widerfahrnis beendet.38 Bei den Propheten zielen Trost und Bedrängnis meistens auf das Gottes-Volk, in den Psalmen vermehrt auf den einzelnen Menschen.39 Gott kann den Trost unmittelbar oder durch verschiedene Mittler zu den Menschen bringen, allen voran durch die Propheten.40 Das zeigt sich beispielsweise durch die Häufung von παράκλησις/παρακαλέω speziell in Deutero-Jesaja (Jes 40,1ff). Hier bekommt der Trost Gottes zusätzlich eine endzeitliche Facette: Der Prophet verkündigt ihn als Perspektive auf die eschatologische Erneuerung Israels und die Vernichtung der Feinde (z. B. Jes 49,14ff; 51,13).41 Nach SapSal 3,18 kann Trost gemeinsam mit Hoffnung (ἐλπίς) für die Rettung am Tag des Gerichts ste-

35

36

37 38 39

40 41

5,6,19. Für die Bedeutung von Trost führen sie nur Phalaris, Ep. 103; Dio Chrysostomus 30,6; Teles 60,11 und Plutarch, Oth. 16,2 an. Für die seltene Verwendung von παράκλησις/παρακαλέω im außerbiblischen Griechisch betont BRAUMANN, Art. παρακαλέω, 382, dass „dieses Trösten aber stets eine mahnende Note enthält (etwa die, auch im Leid Haltung zu bewahren).“ Vgl. a. a. O., 382f. Der Begriff παραμυθία κτλ. kommt in der LXX sehr selten vor: Das Verb παραμυθέομαι ist in 2Makk 15,9 belegt, die Abstraktbildung παραμυθία in Est 8,12 sowie SapSal 19,12 und das einfache Substantiv παραμύθιον nur in SapSal 3,18. Paulus gebraucht παραμυθία κτλ. in 1Thess 2,12; 5,14; Phil 2,1; 1Kor 14,3 als ‚trösten, freundlich zureden‘ jeweils zusammen mit παράκλησις/παρακαλέω, wobei dieses dann in ermahnender Bedeutung gebraucht ist. Für die überzeugende Unterscheidung von menschlichem und göttlichem Trost vgl. SCHMITZ/STÄHLIN, Art. παρακαλέω, 785–788. Vgl. SCHMITZ/STÄHLIN, Art. παρακαλέω, 785f. Vgl. z. B. Ψ 70,21; 85,17; 125,1; Jes 35,4; 38,16; 40,1ff; 49,10–16; 51,3.12; Klgl 2,13; 2Makk 15,8f. Vgl. HOFIUS, Gott, 247–252. Als Beispiele für den Trost des Volkes nennt er v. a. Jes 49,13; 51,3.9.12f; 52,9, aber auch Bar 4,30 und Lk 2,25. Beispiel für den Trost von Einzelnen sind Ψ 70,20ff; 85,1f.7.12ff; 93,16ff; 22,4f. Vgl. WINDISCH, Korintherbrief, 9f zum Trost in den Psalmen. Demnach sei das Neue bei Paulus die Verbindung des göttlichen Trostes mit Christus. SCHMITZ/STÄHLIN, Art. παρακαλέω, 787 nennen z. B. Jer 31,18–20; Jes 43,22–28; Sir 48,24; 49,10. Vgl. THRALL, Epistle I, 102.

114

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

hen. Neben den Propheten kommen als Mittler von Gottes Trost später die heiligen Schriften (z. B. 1Makk 12,9; vgl. Röm 15,4), das Wort Gottes (z. B. Ψ 118,50) oder die Weisheit (SapSal 8,9) infrage.42 Im NT sind weiterhin mind. die folgenden drei Aspekte von παράκλησις/ παρακαλέω unterschieden: die Bedeutung von ‚Herbeirufen/Bitten‘ (z. B. Phlm 9f; Mk 5,12 parr; Lk 15,28; Mt 18,29; Apg 16,9), ‚Ermahnen‘ (z. B. 1Thess 2,12; 5,14; Phil 4,2; Apg 15,32; Lk 3,18) und ‚Trösten‘ (z. B. Mt 5,4; Lk 6,24; Phlm 7; 1Thess 3,7).43 Diese Bedeutungen schwingen für griechischsprachige Lesende bei der jeweiligen Verwendung mit. Im Vergleich zu synonymen Begriffen bewirkt παράκλησις möglicherweise eine Intensivierung.44 Während der Trost durch Menschen und deren Worte gegeben werden kann, wird ebenso wie in der LXX auch ein Ende leidverursachender Widerfahrnisse durch göttlichen Trost bezeichnet (vgl. Apg 20,12). Ein eschatologischer Zusammenhang wird durch die Tröstung der Trauernden (Mt 5,4) und das Warten auf den Trost Israels (Lk 2,25) deutlich. Für die hier verfolgte Fragestellung ist Folgendes festzuhalten. Neben weiteren Bedeutungen geht παράκλησις/παρακαλέω in der Bedeutung als Trost in zwei Richtungen. Einerseits kann der Trost von Menschen oder von Gott die Wahrnehmung einer Leiderfahrung ändern. Dabei kann ein leidverursachendes Widerfahrnis bestehen bleiben, wird jedoch im Fall gelungenen Tröstens nicht mehr als Leiden erfahren.45 Andererseits bezeichnet der Trost eine Erfahrung der Rettung durch Gott, bei der ein leidverursachendes Widerfahrnis beendet wird.46 Dies wird im NT auch in einem eschatologischen Horizont gedacht. Außerdem kann der Trost durch Personen vermittelt werden. Dementsprechend stellt sich die Apostel-Gruppe mit 2Kor 1,3–7 in die Nachfolge der Propheten als Trost-Mittler.47 6.3.1.2

Gemeinde: Gottestrost als Standhaftigkeit im Leiden (1,6f)

In 2Kor 1,6b wird nun die Wirkweise des Gottestrostes für die Gemeinde beschrieben. Sie ist präzisiert durch den Begriff ὑπομονή (Standhaftigkeit, 42 43 44

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Vgl. SCHMITZ/STÄHLIN, Art. παρακαλέω, 787. Vgl. BRAUMANN, Art. παρακαλέω, 382f und SCHMITZ/STÄHLIN, Art. παρακαλέω, 791–794. THOMAS, Art. παρακαλέω, 57 nennt als Begriffe im Bedeutungsspektrum von παρακαλέω, u. a. παραγγέλλω (befehlen), νουθετέω (ermahnen), δέομαι (bitten) und παραμυθέομαι (trösten). Vgl. DALFERTH, Leiden, 130–141. Ganz in diesem biblischen Sinn beschreibt er (religiösen) Trost als „die Hilfe zur Neuorientierung eines Lebens, das durch den Einbruch von Sinnlosem und Sinnwidrigem den Halt seiner bisherigen Ordnungen und Orientierungen eingebüßt hat“ (131). HOFIUS, Gott, 246 u.ö. macht in seiner Untersuchung von 2Kor 1,3–11 fast ausschließlich diese Art des Trosts stark, die von Gott kommt und das leidverursachende Widerfahrnis beendet. Dass die Rolle der Trostvermittelnden nicht exklusiv den Aposteln vorbehalten ist, wird sich anhand der Untersuchung von 2Kor 7,5–16 zeigen. Dort ist der Trost Gottes durch Gemeinde und Titus an Paulus persönlich vermittelt. Vgl. die Einzelexegese von 2Kor 7,5–16 in § 11.

§ 6 Einzelexegese von 2Kor 1,3–11

115

Geduld) im Leiden, der auch in Röm 15,4f mit dem Trost verbunden ist. Dort werden noch eindeutiger als hier beide ihrem Ursprung nach bei Gott verortet. Sie zielen genauso auf Hoffnung wie auch in 2Kor 1,6f. Das bedeutet nicht, dass das leidverursachende Widerfahrnis durch den Trost notwendigerweise beendet wäre. Denn im Kettenschluss von Röm 5,3f wird die ὑπομονή als gottgewirkte Konsequenz der Bedrängnis beschrieben, während sie in 2Kor 6,4 eine der Voraussetzungen für das Überstehen der dort aufgezählten Leiden ist.48 In beiden Fällen bleibt das verursachende Widerfahrnis bestehen. Aufforderungen zur Standhaftigkeit gegenüber negativ konnotierten Aspekten finden sich zwar auch im außerbiblischen Sprachgebrauch, z. B. gegenüber Krieg, Trauer, Tod oder harter Arbeit.49 Im stoischen Kontext bezeichnet die Standhaftigkeit „die Idealhaltung des Weisen“,50 der dabei nicht auf ein Ende seiner Leiden hofft. Doch an der vorliegenden und den genannten Stellen bezeichnet die Standhaftigkeit im Leiden gerade keine von den Christusglaubenden verlangte Einstellung. Vielmehr kommt sie von Gott.51 Dabei ist sie nach 2Kor 1,6 genauso wie der Trost nicht an eine Bedingung geknüpft („der sich wirksam erweist, wenn ihr in Geduld die gleichen Leiden ertragt …“)52 oder als Begründung zu verstehen („der sich wirksam erweist, weil ihr in Geduld die gleichen Leiden ertragt …“).53 Vielmehr wird der Trost Gottes ohne Vorbedingung konstatiert („der sich wirksam erweist im geduldigen Ertragen der gleichen Leiden …“).54 Das Trosthandeln Gottes ist in 1,4 als Partizip Präsens formuliert, was ihm einen durativen oder iterativen Aspekt verleiht.55 Paulus rechnet also damit, dass die Bedrängnis andauert oder wiederkehrt, also die Regel ist.56 Daher 48

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Es besteht allerdings eine Spannung zwischen der gottgegebenen ὑπομονή an den genannten Stellen und der Aufforderung dazu in Röm 12,12.Vgl. auch WOLTER, Art. Leiden, 686. Vgl. BAUER, 1686f mit Verweis auf Polybius 4,51,1; Pseudo-Platon, Def. 412c; Plutarch, Pel. 1,8 und Josephus, AJ 2,7. Vgl. Röm 12,12. Die Verwendung von ὑπομονή in Bezug auf positive beizubehaltende Eigenschaften oder Handlungen ist Paulus auch bekannt, wie 2Kor 12,12 und Röm 2,7 zeigen. Vgl. PsSal 2,36; TestHi 1,5; TestJos 10,2 und Josephus, AJ 3,16. EBNER, Leidenslisten, 286, der als Belege z. B. Epiktet, Diss. 2,2,13 und Seneca, Epist. 80,3. nennt. Einen ausschließlichen Bezug auf die stoische Bedeutung vertritt KRUG, Kraft, 185 u. 231. Vgl. BULTMANN, Korintherbrief, 31, der zum selben Schluss kommt. Vgl. für die Verbindung von Gott mit Standhaftigkeit auch Apk 1,9; 3,10; 13,10. Nach RADL, Art. ὑπομονή, 969f ist die ὑπομονή im NT keine menschliche Tugend, sondern wird von Gott verliehen und bewirkt „das schimpfliche Ertragen von Demütigungen.“ Vgl. 1Kor 10,13 und 2Kor 6,3–10, wo Paulus die Standhaftigkeit ebenso als von Gott gegeben beschreibt. HAUCK, Art. ὑπομένω, 589f, unterscheidet für ὑπομονή zwei Bedeutungsrichtungen: erstens die „Gottesrichtung: erharren, warten“ [Hervorhebung im Original] und zweitens die „Weltrichtung: standhalten, aushalten“. So HARRIS, Epistle, 122f, der eine Art ‚Geduldsvorhalt‘ vor den Trost Gottes setzt. So auch die Luther- und die Einheitsübersetzung. Vgl. BAUMERT, Rücken, 16 und BAUMEISTER, Anfänge, 171f. So auch SCHMELLER, Brief I, 66f. Vgl. WÜNSCH, Brief, 175. Vgl. SCHLIER, Art. θλίβω, 139–148. Das hat sich bereits für den θλῖψις-Begriff in den Psalmen gezeigt. Vgl. in der begriffsgeschichtlichen Untersuchung den Abschnitt § 4.2.2.4.

116

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

besteht dauerhaft Bedarf an Trost, um im Leiden standhaft bleiben zu können. Der Trost Gottes fließt dabei für die Gemeinde über und ist nach 1,6 mit dem Wirken der Paulus-Gruppe verbunden. Bisher ist noch offen, wie sich die gottgegebene Geduld/Standhaftigkeit für die Bedrängten konkret auswirkt. Möglicherweise ist diese Bewältigungsstrategie von Paulus rückwirkend im Sinne von 1Kor 10,13 gewonnen: Im Leiden – dort gefasst als Versuchung – haben Paulus oder die Paulus-Gruppe erfahren, dass es ihre Kraft nicht übersteigt (οὐκ … ὑπὲρ ὅ δύνασθε). Das steht jedoch in Spannung zu den Aussagen ab 2Kor 1,8, denen zufolge die Paulus-Gruppe unermesslich heftig über ihre Kraft bedrängt worden ist. Die genaue Wirkweise der gottgegebenen Geduld/Standhaftigkeit ist aus dem Text nicht zu ersehen. Wie man jedoch die Vermittlung des Gottestrostes an die Gemeinden und die Rolle der Paulus-Gruppe verstehen kann, wird bei der folgenden Leidbewältigungsstrategie näher erläutert.

6.3.1.3

Paulus-Gruppe: Positive Wirkung des Leidens als Befähigung zur Trostweitergabe (1,4–6)

Für die Paulus-Gruppe wird sowohl für den Trostempfang wie auch für die Bedrängnis nach 1,4–6 eine positive Wirkung konstatiert: Das Ziel der Leidbewältigungsstrategie besteht dabei in der Kompetenz zur Vermittlung von Trost (1,4.6). Das wird in 1,4 durch den mit εἰς τό eingeleiteten Finalsatz deutlich: „Gott tröstet uns, damit wir trösten können, die in allerlei Bedrängnis sind.“ Mit dem Bezug auf die unbestimmte dritte Person Plural wird die Zielgruppe der Tröstung zunächst allgemein und als über die korinthische Gemeinde hinausgehend beschrieben. Erst in 1,6 geschieht die Zuspitzung auf die korinthische Gemeinde, da Bedrängung und Tröstung der PaulusGruppe hier zugunsten (ὑπέρ) der Tröstung der Adressatinnen und Adressaten geschehen. Dabei ist im Gegensatz zu 1,4 allerdings keine aktive Tätigkeit des Tröstens der Apostel beschrieben: Vielmehr wirken sich sowohl das Bedrängt Werden als auch das Getröstetwerden direkt für die Gemeinde positiv aus. Mit dieser Ausrichtung auf die Gemeinden kennzeichnet Paulus sein Verständnis des Aposteldienstes als „Pro-Existenz“57 zugunsten der Gemeinden: Leiden und Trost der Paulus-Gruppe geschehen zugunsten von Trost und Rettung (σωτηρία) der Gemeinde. Die Leidbewältigungsstrategie besteht also darin, dem Leiden der Apostel eine positive Wirkung für die Gemeinden zuzuordnen. 57

SCHMELLER, Brief I, 254. Er gebraucht den Begriff im Zusammenhang von 2Kor 4,7–15. Vgl. EBNER, Leidenslisten, 121 und GRÄßER, Brief I, 169f.

117

§ 6 Einzelexegese von 2Kor 1,3–11

Es bleibt noch zu klären, wie sich Paulus die Rolle der Apostel bei der Weitergabe des Gottestrostes vorstellt und wie er dessen Wirkung versteht.58 1. Da der Ursprung der παράκλησις nach 1,3 bei Gott liegt,59 wird er von diesem direkt (1,4.6a) oder durch Christus (1,5b) an der Paulus-Gruppe gewirkt und dann durch diese auch an der Gemeinde (1,6.7). Das ist häufig so interpretiert worden, dass die Gemeinde den Trost Gottes nicht direkt von Gott oder Christus erhalten könne, sondern nur durch die Vermittlung der Apostel.60 1,7b allerdings beschreibt das Verhältnis von Leiden und Trostempfang für die Gemeinde mit der gleichen korrelativen Konstruktion, wie 1,5 das für die Paulus-Gruppe tut:61 1,5 Paulus-Gruppe καθὼς περισσεύει τὰ παθήματα τοῦ Χριστοῦ εἰς ἡμᾶς οὕτως διὰ τοῦ Χριστοῦ περισσεύει καὶ ἡ παράκλησις ἡμῶν

1,7b Gemeinde ὡς κοινωνοὶ ἐστε τῶν παθημάτων οὕτως καὶ τῆς παρακλήσεως

Aufgrund der syntaktisch parallelen Konstruktionen in 1,5 und 1,7b ist es plausibel anzunehmen, dass hier nicht an eine Teilhabe der Gemeinde an der Paulus-Gruppe gedacht ist. Die Gemeinde erhält vielmehr unmittelbar Anteil an Leiden und Trost Christi (1,7b).62 Dabei ergibt sich allerdings eine Spannung zu 1,4.6a, wo Leiden und Trost gleichzeitig als vermittelt durch die Paulus-Gruppe beschrieben werden. Diese lässt sich erklären, wenn man das Trösten der Paulus-Gruppe nicht als mystisches oder „magisches Überströmen des Trostes“,63 sondern als Beschreibung harter paulinischer Missionstätigkeit versteht. Die Apostel vermitteln insofern den Trost Gottes, als sie die Korintherinnen und Korinther erstmals mit dem Christusglauben in Berührung bringen und ihr durch weitere Besuche und Briefe immer wieder den Trost bringen. Das ist ihr vermittelnder und unerlässlicher Anteil an der Trostvermittlung. Das zielt jedoch auf soteriologische Selbständigkeit der 58

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61 62

63

Für BULTMANN, Brief, 30 bleibt die Frage nach dem Wie der Trostvermittlung offen, v. a. weil Paulus den Trost nur erhoffe. Vgl. 2Kor 7,6; Röm 15,5 und ferner 2Thess 2,15f. Eine solche Interpretation sieht „Paulus als unentbehrliche[n] Mittler im Heilsvorgang zwischen Gott und Gemeinde“, so der Untertitel von SCHRÖTER, Versöhner. Ähnlich haben bei WOLTER, Apostel, 551 Paulus und Gemeinde unvermittelten Anteil am Leiden Christi, aber die Gemeinde nur vermittels des Apostels Anteil am Trost Christi. Vgl. LIM, Sufferings, 34 und SCHMELLER, Brief I, 65. Bezeichnend ist, dass die erste Person Plural dabei konsequent als schriftstellerischer Plural gedeutet und so ausschließlich auf Paulus bezogen wird. Vgl. BLASS-DEBRUNNER § 453,1f zu komparativen Konjunktionen. So auch TANNEHILL, Dying, 91 mit Verweis auf BLASS-DEBRUNNER, § 252. Anders z. B. LIM, Sufferings, 34 u. 41; WOLTER, Apostel, 550–552 und SCHMELLER, Brief I, 65. GRÄßER, Brief I, 60, der sich ebenfalls gegen ein solches Verständnis abgrenzt. Dabei legt sich ein missionarisches Verständnis der Leiden Christi nahe, wie es in § 6.3.2 dargestellt wird.

118

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

Gemeinde: Im Anschluss an Einführung und Taufe in den Christusglauben und während der Abwesenheit der Apostel ist die Gemeinde darauf angewiesen, selbst in einer direkten Beziehung zu Gott zu stehen.64 Der Trost wird für Paulus zwar häufig durch Menschen vermittelt, doch müssen diese nicht unbedingt Apostel sein: In 2Kor 7,6f führt die „parakletische Kette“65 von Gott umgekehrt über die Gemeinde und Titus zu Paulus, in 1Thess 3,7 ganz ähnlich über die Gemeinde und Timotheus zu Paulus und in Phlm 7 über Philemon zu Paulus. Die Apostel haben also kein Monopol auf die Vermittlung des Gottestrostes und können anhand dessen nicht als „unentbehrliche […] Mittler im Heilsvorgang zwischen Gott und Gemeinde“66 erwiesen werden. 2. Wie kann man sich nun die Vermittlung und Wirkweise des Gottestrostes vorstellen? Einerseits ist die Paulus-Gruppe durch ihre Erfahrung von Leiden und Tröstung in die Lage versetzt, den menschlichen Trost im Sinne tröstender Worte weitergeben können. Das hat Anhalt an der Alltagsweisheit, wonach erst jemand, der bereits getröstet worden ist, auch selbst andere trösten kann.67 Andererseits wird die Paulus-Gruppe für die Gemeinde zum Anschauungsobjekt des Gottestrostes. An ihr kann sie die Wirkweise dieses Trostes beobachten. Aus dem Rettungsbericht in 1,10 erfährt die Gemeinde, dass Gott auch leidverursachende Widerfahrnisse beendet (ῥύομαι in 1,10 für die Wir-Gruppe und σωτηρία schon in 1,6 für die Gemeinde). Bereits durch die Begriffe παράκλησις und ὑπομονή legt sich ein eschatologischer Zusammenhang nahe (vgl. Röm 8,25): Der Trost Gottes steht im Zusammenhang mit dem Heil der Gemeinde, das sich bereits jetzt auswirkt.68 Der Gedanke eines exemplarischen Geretteten, der vor der Gemeinde Gott lobt und zum Hoffnungsbild für die Gemeinde insgesamt wird, ist Paulus dabei aus den Psalmen vertraut.69 Durch den gegebenen Kontext des Briefes stilisiert er die Paulus-Gruppe so, dass sie vor der Gemeinde das Lob Gottes wegen der eigenen Rettung ausführt. Damit ergibt sich ein weiterer Grund, weshalb das Proömium nicht als Eucharistie, sondern als Eulogie verfasst ist. Zusätzlich

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69

Dagegen spricht nicht, dass die Gemeinde die Apostel um Rat bittet, wie z. B. bei dem Inzestkonflikt von 1Kor 5,9ff. THOMAS, Art. παρακαλέω, 59. SCHRÖTER, Versöhner, 1f. Allerdings bezieht er sich nur auf 2Kor 2,14–7,4. Die Belege von WINDISCH, Korintherbrief, 39 zielen auf die antike Alltagsweisheit, nach der jemand nur dann anderen Gutes tun kann, wenn er selbst Gutes erfahren hat. Das wird dann auch auf den Trost bezogen. WINDISCH verweist auf Seneca, Polyb. 15,5; Helv. 1,4 und Epiktet, Diss. 3,23,8: „Kann nun jemand einen anderen fördern (ὠφελῆσαι), wenn er selbst nicht gefördert worden ist (ὠφελημένος)? Nein.“ Vgl. THRALL, Epistle I, 104 und SCHMITZ/STÄHLIN, Art. παρακαλέω, 789. Vgl. TANNEHILL, Dying, 91f. HAUCK, Art. ὑπομονή, 589f sieht für den Begriff eine „Gottesrichtung“ als Warten auf die Wiederkunft Christi. Vgl. dafür HOFIUS, Gott, 253f, der auf Ψ 9,14f; 21,23.26; 34,17f; 40,10f; 108,30 verweist.

§ 6 Einzelexegese von 2Kor 1,3–11

119

werden am Ende des Proömiums in 1,11 nach der Form der Psalmen „die Vielen“ zum Gotteslob und zur weiteren Fürbitte für die Paulus-Gruppe aufgefordert. Durch diese Aufforderung wird gleichzeitig eine Balance hergestellt: Während die Gemeinde nach 1,6 die Auswirkungen des Leidens der Paulus-Gruppe in Form des Gottestrostes empfängt, möchte die Gruppe in 1,11 die Mitwirkung der Gemeinde in Form des Gebets empfangen. So kommt ein Gewinn aus dem Leiden und seiner Überwindung für beide Gruppen in den Blick.

6.3.2

Parallele zum Leiden Christi (1,5f)

Paulus führt in 1,5 den Begriff πάθημα/πάσχω ein, der im 2. Korintherbrief nur in 1,5–7 vorkommt.70 Er bezeichnet damit zunächst in einer viel diskutierten Genitivverbindung die Leiden Christi (παθήματα τοῦ Χριστοῦ) und bezieht ihn erst in 1,6f auf die Paulus-Gruppe und die Gemeinde.71 Dabei beschreibt er kein bestimmtes Leiden, sondern bringt durch die Aussage, wonach Christi Leiden für die Paulus-Gruppe überfließen, eigene Leiderfahrungen in Zusammenhang mit dessen Leiden.72 Πάθημα/πάσχω ist also eine christologische Deutekategorie.73 Da das Verständnis der παθήματα τοῦ Χριστοῦ für die paulinischen Strategien zur Leidbewältigung relevant ist, gebe ich im Folgenden einen Überblick über die wichtigsten Deutungsmöglichkeiten.74

6.3.2.1

Deutungen von παθήματα τοῦ Χριστοῦ (1,5)

1. Der mystischen Paulus-Interpretation zufolge sind die Christusglaubenden durch mystische Gemeinschaft mit Christus verbunden.75 Daher würden dessen Leiden von ihnen real erfahren, ihre Leiden seien identisch mit sei70 71

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Vgl. dessen Verhältnis zum θλῖψις-Begriff im begriffsgeschichtlichen Teil § 4.5.1. Dabei sagt Paulus allerdings nicht, inwiefern er Christus als Leidenden sieht – die mögliche Spannweite reicht von dessen ganzem historischem Leben bis zu nur einem einzelnen Aspekt daraus. Vgl. LIM, Sufferings, 52f. In 1Kor 12,26 steht πάθημα/πάσχω von den Gliedern des Leibes Christi, in Phil 1,29; 3,10 und Röm 8,17f steht es ebenfalls in direktem Zusammenhang mit Christus. Lediglich in 1Thess 2,2 und 2,14 ist der Zusammenhang zum Leiden Christi nicht unmittelbar hergestellt. In Gal 3,4; 5,24 und Röm 7,5 steht πάθημα in der Bedeutung ‚Leidenschaft, Begierde‘. Vgl. zu πάθημα κτλ. auch § 4.5.1. Vgl. § 1.4 für eine forschungsgeschichtliche Problematisierung der Begriffe Analogie und Konformität gegenüber der Rede von einer Parallelisierung. Einen hilfreichen Überblick geben auch LIM, Sufferings, 45–50; SCHMELLER, Brief I, 64f und THRALL, Epistle I, 107–109. Vgl. für das Folgende auch den Forschungsüberblick § 1. Vgl. die einzelnen Positionen der mystischen Paulus-Exegese im Forschungsüberblick § 1.1.

120

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

nen.76 Diese Gemeinschaft, ausgedrückt durch einen sogenannten ‚mystischen Genitiv‘,77 sei dabei auf die Gemeinde als Leib Christi bezogen, in dem ein Glied mitleide, wenn ein anderes leide (1Kor 12,26).78 Von den bereits in der Forschungsgeschichte genannten Problemen einer mystischen PaulusInterpretation ist hier eines besonders hervorzuheben: Paulus schreibt zwar von einem Überfließen der Leiden Christi auf die Paulus-Gruppe und die Gemeinde, jedoch nicht von einer Identität der Leiden. 2. In einer apokalyptisch-eschatologischen Deutung werden die Leiden Christi in Zusammenhang mit den messianischen Wehen der Endzeit gebracht, wie sie z. B. in Mk 13,4ff par thematisiert sind:79 Dazu passen auch die Begriffe περισσεύω, ὑπομονή und θλῖψις κτλ., die sich ebenfalls in Texten über die Endzeit finden.80 Die Christusglaubenden hätten demnach Anteil an den Leiderfahrungen Christi, weil davon alle Menschen an der Äonenwende betroffen seien, speziell aber die Glaubenden durch ihre Ablehnung in der Welt. Allerdings fehlt ὠδίν/ὠδίνω (Geburtswehen) in 2Kor 1,3ff, was für die endzeitlichen Leiden in vielen Vergleichstexten vorkommt.81 Auch inhaltlich scheint der Zusammenhang gezwungen: Das Motiv der messianischen Leiden beinhaltet sonst nicht, dass daraus direkt etwas Positives für die Glaubenden entsteht, wie das hier durch die beschriebene Wirkung der παράκλησις der Fall ist. Die Endzeitwehen sind vielmehr notwendiges Übel und Kennzeichen des apokalyptischen Umsturzes der Weltzeiten.82 3. Einer anderen Interpretation zufolge sind die Leiden deswegen als Christi Leiden zu verstehen, weil sie „die von Christus auferlegten Leiden sind“.83 Demnach hätten sowohl Trost wie auch Leiden ihre Ursache bei Christus bzw. bei Gott. Diese Deutung stützt sich allerdings auf ein seltenes Verständnis des Genitivs als genitivus auctoris.84 Doch der Gedanke, dass Leiden – zu einem bestimmten Zweck – von Gott kommen kann, ist Paulus 76

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Vgl. in der älteren deutschen Paulus-Exegese z. B. DEISSMANN, Paulus, 126f und im englischsprachigen Raum PROUDFOOT, Imitation, 147 zu 2Kor 1,5: „The sufferings of Christ are the Christians’ sharing in the historical sufferings (or death) of Jesus.“ Vgl. zum mystischen Genitiv den Abschnitt zur mystischen Paulus-Interpretation in § 1.1. Vgl. CREMER, Leiden, 174–195 ausführlich zum Genitiv τοῦ Χριστοῦ in Kol 1,24b. Vgl. WINDISCH, Korintherbrief, 40 und FURNISH, Corinthians, 119f. Tatsächlich sind die einzig anderen Belege für πάθημα/πάσχω innerhalb der Korintherkorrespondenz in 1Kor 12,26 zu finden. Vgl. z. B. KLEINKNECHT, Gerechtfertigte, 246f und WINDISCH, Korintherbrief, 41. Vgl. aus der LXX z. B. Jes 26,17; 66,8; Jer 22,23; Hos 13,13; Mi 4,9f; Dan 12,1 und aus den zwischentestamentlichen Schriften z. B. TestLev 5,5; 31,6; PsSal 5,5; 15,1; TestSeb 9,6; TestJos 2,4. Vgl. THRALL, Epistle I, 108. Allerdings kommt ὠδίν/ὠδίνω auch in den apokalyptischen Reden der Synoptiker nicht vor. Vgl. LIM, Sufferings, 45f für dieses und weitere Argumente gegen eine apokalyptisch-eschatologische Deutung der Leiden Christi. Vgl. zu Belegen für messianische Wehen in apokalyptischer Literatur BOUSSET, Religion, 250. RISSI, Studien, 56, Hervorhebung im Original. So auch TANNEHILL, Dying, 91. Das tut THRALL, Epistle I, 107. TANNEHILL, Dying, 91 spricht von einem „genitive of source“.

§ 6 Einzelexegese von 2Kor 1,3–11

121

in 2Kor 4,10–12; 6,10; 12,1–10; 1Kor 4,9 zumindest vertraut. Das scheint hier allerdings nicht der entscheidende Aspekt zu sein. 4. In einer existentialen Interpretation können die Leiden Christi alle erdenklichen Leiden bezeichnen: „Zu παθήματα Χριστοῦ werden sie nur vermöge der Verbundenheit des Leidenden mit Christus, d. h. durch das neue Verständnis der eigenen Existenz“,85 also durch ihr Verständnis im existentialen Horizont des Christusglaubens. Die Konsequenz daraus wäre, dass auch der Trost Christi in jedem Widerfahrnis gesehen würde, wenn dieses im Horizont des Glaubens gedeutet wäre. Auch diese Interpretation ist nicht auszuschließen. M. E. ist jedoch besonders die folgende Interpretation für die Exegese von 2Kor 1,5 weiterführend. 5. Die paulinischen Leiden können deswegen als παθήματα τοῦ Χριστοῦ verstanden werden, weil sie wie dessen Leiden aus der Verkündigung des Evangeliums resultieren.86 Das passt zur generellen Verwendung des Begriffs für das Leiden aufgrund einer religiösen Überzeugung und kann mit verschiedenen Begründungsmustern verbunden werden.87 M. WOLTER hat das unter Bezugnahme auf den Begriff κοινωνός in 1,7 anhand des hellenistischen Freundschaftstopos ausgeführt.88 Demnach habe Paulus Anteil an den Leiden Christi, wie jemand am Schicksal seines Freundes.89 Die Verbindung von Paulus, Paulus-Gruppe und der Gemeinde mit Christus sei also gedacht als gemeinsame Teilhabe am Leiden aus der gleichen Ursache: Wenn Christus wegen seiner Verkündigung gelitten habe, dann verstehe Paulus seine eigenen Leiden im Kontext der missionarischen Verbreitung von dessen Verkündigung als dessen Leiden.90 Die Gemeinden wiederum hätten wegen der Annahme des Christus-Evangeliums gelitten, ohne allerdings exakt dieselben Leiden zu erleiden wie Christus oder gar seine Passion nachzuahmen.91 K. Y. LIM geht in ganz ähnlicher Weise von einer „missiologischen“92 Identität der Leiden von Christus und denen des Paulus (aber nicht

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90 91 92

BULTMANN, Brief, 29 und im Anschluss an ihn GRÄßER, Brief I, 58f. Vgl. BORMANN, Brief, 110–114, der das anhand des Unterschieds zwischen παθήματα τοῦ Χριστοῦ (2Kor 1,5) und θλίψεις τοῦ Χριστοῦ (Kol 1,24) ausführt. Der Genitiv ist für ihn genitivus qualitatis. Vgl. für die Bedeutung von πάθημα κτλ. in der jüdischen Tradition § 4.5.1. Vgl. WOLTER, Art. Leiden, 680 und DERS., Apostel, 542–549. Vgl. zu dessen Position § 1.4.1. Vgl. Lukian, Tox. 5f; 20.37 für das Leiden bis zum Tod als größtem Freundschaftserweis (κοινονέω τοῦ θανάτου, vgl. Phil 3,10). Vgl. FREDRICKSON, Paul, 178 mit weiteren Belegen aus antiken Texten. Das Fehlen antiker Belegen für die Freundschaft mit einem Toten (und Auferweckten) wird von WOLTER nicht thematisiert. STÄHLIN, Bemerkungen, 512f reflektiert das anhand von 2Kor 7,3. WOLTER, Apostel, 542–547 verweist für Belege auf HAINZ, Art. κοινωνία. Vgl. z. B. KAMLAH, Paulus, 224. Nachahmer (μίμεται) des Paulus sind in 1Thess 1,6 genannt. LIM, Sufferings, 52 verwendet den Begriff „missiological“ im Anschluss an HAFEMANN, Role, 174: „the identification of the suffering of Paul with Christ is best explained in view of the missiological (not ontological) identity between Paul’s own suffering as an apostle and the cross of Christ.“

122

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

der Gemeinde) aus, ohne dafür den Begriff der κοινωνία heranzuziehen. Der Genitiv in παθήματα τοῦ Χριστοῦ ist für ihn ein Genitiv der Beziehung.93 Diese letztgenannte Deutung der Leiden Christi erscheint am plausibelsten, ohne dass dadurch die zuvor genannten jeweils völlig auszuschließen sind. Die Leiden der Paulus-Gruppe sind von daher Christusleiden, weil sie durch die missionarische Verkündigung der Botschaft Christi begründet sind, wobei dieser selbst wegen seiner Verkündigung gelitten hat. Jedoch ist die von M. WOLTER und K. Y. LIM mit dieser missionarischen Interpretation verbundene Höherwertung der Leiden des Paulus gegenüber denen der Gemeinden als heilsvermittelnd abzulehnen.94 Das hat sich bereits bei den Erwägungen zur Vermittlung des Gottestrostes gezeigt. Im Folgenden ist nun der Gewinn für die Leidbewältigung darzustellen, der sich aus einer Parallelisierung des Leidens zum Christusgeschehen ableiten lässt.

6.3.2.2

Gemeinde und Paulus-Gruppe: Leiden als Parallele zu Christus (1,5)

Die Parallelisierung der Leiden von Paulus-Gruppe und Gemeinde mit den Leiden Christi geschieht, wie bereits bei der Analyse gezeigt worden ist, anhand von potentiellem und nicht unbedingt akutem Leiden. Ein konkretes leidverursachendes Widerfahrnis ist nicht auszumachen. Es geht um eine allgemeine Deutung des Leidens, wie es die Paulus-Gruppe immer wieder erlebt und die Gemeinde potentiell wegen der Annahme des Christusglaubens erleben kann.95 Dabei hat die Strategie der Parallelisierung zum Christusgeschehen eine doppelte Pointe. Erstens wird eine leidenssolidarische Verbindung zwischen Paulus-Gruppe und Christus sowie Gemeinde und Christus beschrieben: Weil Christus Leiden erfahren hat, bleiben einzelne Leidende darin nicht alleine. Durch die Beschreibung der Leiden von Christus, Paulus-Gruppe und Gemeinde mit demselben Begriff πάθημα κτλ. verdeutlicht Paulus, dass alle drei im Leiden verbunden sind. Das Leiden selbst ist allerdings nicht die Basis der Verbindung, sondern ein Zeichen dafür.96 93 94

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LIM, Sufferings, 52 bestimmt den Genitiv τοῦ Χριστοῦ als „genitive of relationship“. Vgl. LIM, Sufferings, 57 und WOLTER, Apostel, 551f. Gegen eine kategoriale Verschiedenheit der Leiden des Paulus und der Gemeinde votieren z. B. TANNEHILL, Dying, 98 und BETZ, Concept, 334: Beider Leiden sind möglicherweise quantitativ aber nicht qualitativ unterschieden. Für die Gemeinde sind Verfolgung und Anfeindungen aus dem Umfeld anhand von außerbiblischen Quellen nicht nachweisbar und aufgrund der sozialen Lage in Korinth unwahrscheinlich. Vgl. § 5.1. Vgl. z. B. SCHRAGE, Leid, 156 mit Verweis auf die ‚Gemeinschaft der Leiden‘ in Phil 3,10 und im Anschluss an BULTMANN, Theologie, 352, der diese im Glauben begründet sieht. Für ihn ist das Leiden allerdings nicht auf solches beschränkt, das den Christusglaubenden durch ihr Bekenntnis

§ 6 Einzelexegese von 2Kor 1,3–11

123

Zweitens werden die Leiden der Paulus-Gruppe (1,5) und der Gemeinde (1,7b) durch die Parallelisierung auch im Christusgeschehen verortet. Dazu zieht Paulus dieses als knappes Schema von Tod/Leiden und Auferweckung heran:97 So kann er von Christus formulieren, dass dieser nicht nur gelitten (1,5) und schließlich den Tod erfahren habe, sondern auch von Gott auferweckt worden sei (2Kor 1,9b;98 vgl. 1Thess 1,10 und 2Kor 4,10f.14). Die Auferweckung wird zum Erweis dafür, dass Gott Christus weder im Leiden noch im Tod verlassen hat (vgl. οὐκ ἐγκαταλείπω in 2Kor 4,9). Die Parallele zum Christusgeschehen besagt demnach: Wie Christus im Leiden nicht von Gott verlassen war, so sind auch leidende Christusglaubende darin nicht von Gott verlassen.99 So eröffnet Paulus mit der Parallelität zum leidenden Christus die Perspektive auf eine Parallelität zum auferweckten Christus und damit die Hoffnung auf ein Ende des leidverursachenden Widerfahrnisses: Denn im Christusgeschehen folgt nach der Erfahrung des Leidens die Auferweckung durch Gott. Diese Auferweckung bringt Paulus in 1,9b.10 in Zusammenhang mit der Rettung aus der Bedrängnis in Asien. Damit schließt er zurück von der Macht Gottes zur Auferweckung der Toten auf die Macht Gottes zum Beenden leidverursachender Widerfahrnisse bereits vor der eschatologischen Auferweckung der Toten.100 Der Begriff des Todes wird also vor dem antiken Verständnishintergrund doppeldeutig gebraucht als tatsächlicher Tod und in übertragener Bedeutung für eine schwere Not.101 Die Rettung daraus wird nach 1,11 zum Anlass des Dankes, der neue Werke Gottes evozieren soll.102

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100 101

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entstehe. Vielmehr sei jegliches Leiden gemeint, da Paulus mit seiner Krankheit in 2Kor 12,7–10 ein Leiden thematisiere, das keine Konsequenz der Mission sei. Vgl. LIM, Sufferings, 36, der in seiner Untersuchung der Erzähldynamik des 2. Korintherbriefs den Begriff „story of Jesus“ in ähnlicher Bedeutung verwendet wie ich ‚Christusgeschehen‘. Paulus spricht in 2Kor 1,9 zwar nicht von der Auferweckung Jesu, sondern von Gott, der die Toten auferweckt. Doch einerseits ist in die allgemeine Auferweckung der Toten Christus mit einbezogen. Andererseits legt sich der Bezug auf Christus durch die starke Ähnlichkeit des Textes zu 4,7–15 nahe. Vgl. 2Kor 4,9, wo die Nicht-Verlassenheit der Wir-Gruppe in einem antithetischen Peristasenkatalog der Erfahrung von Verfolgung gegenübersteht. Das gilt selbst, wenn sich Leidende von Gott verlassen fühlen wie Christus am Kreuz (vgl. Mt 27,46; Mk 15,34 im Zitat von Ψ 21,2). Durch die Auferweckung zeigt sich, dass der Anschein der Gottverlassenheit Christi trügt. Vgl. WOLTER, Apostel, 549. Vgl. z. B. Ψ 114,8 sowie HAFEMANN, Art. Suffering, 919; THRALL, Epistle I, 119; WOLFF, Brief, 27; WINDISCH, Korintherbrief, 47 und SCHWEITZER, Mystik, 141 u. 146f. Vgl. ARZT-GRABNER, Korinther, 203 für Papyrusbelege des Verständnisses des Todes als Not. Vgl. 2Kor 11,23. Vgl. WINDISCH, Korintherbrief, 50.

124

6.3.3

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

Paulus-Gruppe: Positive Wirkung von Leiden als Grund von Gottvertrauen (1,9)

Nachdem Paulus in 1,3–7 den Zusammenhang von allgemeinen und potentiellen Leiderfahrungen mit dem Trost Gottes dargelegt hat, benennt er mit der Bedrängnis in Asien (1,8f) eine konkrete Leiderfahrung. Aufgrund der verwendeten und bei Paulus sonst seltenen Begriffe wird ihre Schwere und Bedeutung für die Paulus-Gruppe betont. Dafür kann er als Bewältigungsstrategie durch einen Finalsatz in 1,9b eine weitere positive Wirkung angeben: Das Leiden ist der Gruppe widerfahren, damit (ἵνα) sie nicht auf sich selbst, sondern auf Gott vertraut. Mit dieser Strategie greift Paulus auf ein alttestamentliches Motiv zurück, demzufolge das Vertrauen auf Gottes Hilfe als richtiger Weg in Kontrast zum fehlgeleiteten Vertrauen auf Menschen steht.103 In knapper Form kommt dies z. B. in Ψ 117,8f zum Ausdruck, auf den Paulus in 2Kor 6,9 rekurriert: „Es ist besser, auf den Herren zu vertrauen (πεποιθέναι) als auf Menschen“ (vgl. Ψ 77,5–8). Auch militärische Unterlegenheit im Krieg wird damit erklärt, dass sich Israel auf Pferde (Jes 31,1), Bauwerke (Jer 31,7), den König von Syrien (2Chr 16,7f) oder generell Fürsten und Menschensöhne (Ψ 145,3) statt auf Gott verlassen hat (vgl. Jes 17,1–8; Ez 16,15). Diese Strategie kommt mehrmals vor.104 Die Wir-Gruppe grenzt sich damit wahrscheinlich einerseits von Gegnern in Korinth ab, denen sie vorwirft, sich durch ihren glanzvollen Auftritt und ihre Empfehlungsbriefe mehr auf sich selbst als auf Gott zu verlassen (vgl. 2Kor 3,1f). Andererseits wird im Duktus der paulinischen Rechtfertigungslehre betont, dass man aus eigener Kraft nichts zur Rettung tun, sondern sich nur auf Gott verlassen kann (vgl. Röm 1,16f; 3,28; Gal 2,16).105 Das Vertrauen wird mit der Macht Gottes zur Auferweckung der Toten begründet, was in der folgenden Strategie noch näher in den Blick kommt.

6.3.4

Paulus-Gruppe: Beendung von Leiden durch Gott (1,10)

In 1,10 beschreibt Paulus die Rettungserfahrung der Wir-Gruppe in Asien. Dazu verwendet er 3mal den Begriff ῥύομαι (herausreißen, retten), den er noch an vier weiteren Stellen außerhalb des 2. Korintherbriefs verwendet.106 103 104

105

106

Vgl. a. a. O., 47 mit Belegstellen. Ohne terminologische Parallele verwendet Paulus die gleiche Strategie in 2Kor 4,7–15 im Kontext des Schatzes in Tongefäßen sowie in 12,1–10 in Bezug auf den Stachel im Fleisch. Vgl. BAUMEISTER, Anfänge, 170f; GRÄßER, Brief, 63; PRATSCHER, Bewältigung, 79 und WOLTER, Art. Leiden, 682. BULTMANN, Brief, 29 sieht ebenfalls diese Parallele, bezieht sie allerdings durch exemplarische Interpretation der 1. Person Plural auf alle „mit Christus Verbundenen.“ Im übrigen NT kommt der Begriff an zehn weiteren Sellen vor: Mt 6,13; 27,43 (im Vater Unser und als Schmähruf an Christus am Kreuz); Lk 1,74; 11,4 (Lobgesang des Zacharias in Bezug auf

§ 6 Einzelexegese von 2Kor 1,3–11

125

In 1Thess 1,10 beschreibt er die Rettung der Glaubenden vor Gottes Zorn durch den vom Himmel wiederkehrenden Gottessohn Jesus. In Röm 11,26 steht er in einem Zitat aus Jes 59,20 parallel zu σῴζω für die eschatologische Rettung Israels. An beiden Stellen nimmt Paulus apokalyptische Motive auf. In Röm 7,24 steht er im Kontext der Sündenmacht als Frage, wer „aus diesem Leib des Todes“ retten könne. In Röm 15,30f bittet Paulus die Gemeinde um ihre Gebete, damit er „von den Ungläubigen in Judäa“ errettet werde. Aus diesen Stellen wird deutlich, dass der Begriff für Paulus eine apokalyptische Konnotation haben kann, aber nicht muss. Subjekt sind dabei nicht Menschen, sondern Gott. Mit der Verwendung stellt er sich in die Tradition der LXX, in der das Verb weitaus häufiger vorkommt als im NT. Es übersetzt häufig das hebräische ‫נצל‬, das seltener mit σῴζω wiedergegeben ist.107 Dabei steht es oft im Zusammenhang eines Gotteshandelns:108 In konkreter Not erwarten betende Menschen oder das ganze Volk von Gott ihre Rettung.109 Die Basis für diese Hoffnung ist oft die Exodus-Erfahrung (vgl. Ri 6,8f), in der die Rettung ebenfalls mit ῥύομαι beschrieben werden kann (z. B. Ex 12,27; 14,30). Wie die Tröstung Gottes kann auch die Rettung Gottes durch Personen vermittelt werden, wie z. B. die Richter, König David, die Propheten oder militärischer Beistand. Dabei ist an den genannten Stellen ein Ende des leidverursachenden Widerfahrnisses gemeint und nicht ausschließlich eine endzeitliche Rettung, ohne dass sich beides gegenseitig ausschließen muss. Für die Untersuchung von 2Kor 1,3–11 ist aus dem Dargestellten besonders das Folgende relevant: Mit dem Begriff ῥύομαι ist traditionell das rettende Eingreifen Gottes verbunden, das ein leidverursachendes Widerfahrnis beendet. Wie auch der Gottestrost kann diese Rettung direkt oder durch Vermittlung geschehen. Die Bedeutung der Standhaftigkeit oder Bewährung im Leiden oder die Deutung des Leidens, bei der wie im Falle des Gottestrostes auch das ursächliche Widerfahrnis bestehen bleiben kann, ist nicht im Blick.110

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Feinde bzw. Variante zur Angleichung des Vater Unsers an Mt); 2Thess 3,2 (Gebetsanliegen, von bösen Menschen gerettet zu werden); 2Tim 3,11; 4,17.18 (Gott hat Paulus aus Verfolgung gerettet) und 2Petr 2,7.9 (Gott, der die Frommen und exemplarisch den Lot gerettet hat). Vgl. KASCH, Art. ῥύομαι, 999f: Der Begriff ῥύομαι kommt in der LXX 141mal vor und übersetzt 90mal ‫נצל‬, meistens im hifil. Der Begriff σῴζω steht nur 23mal für ‫נצל‬, ist insgesamt aber häufiger. Dies gilt für die Mehrzahl der Belege, wenngleich z. B. Mose (Ex 2,17.19) und David (2Sam 19,10) konkrete Rettungstaten vollbringen. Im Enneateuch wird der Begriff also nicht exklusiv für ein Gotteshandeln gebraucht. Vgl. für die Hoffnung Einzelner auf göttliche Rettung z. B. 2Sam 22,18; Jes 49,26; Ψ 17,1; 33,5.18; 53,9; 56,5; 71,12 u.ö.; Sir 40,24; Dan 3,88, für das ganze Volk z. B. Ri 6,9; 8,34, 9,17; Esr 8,31; Est 10,3f; 3Makk 6,11; Jes 48,20. Vgl. BORMANN, Erfahrung, 202f. Er hält fest, dass keine menschliche Leistung von Bewährung wie etwa in der Stoa gemeint sein könne: In der Todesnähe könne nur noch Gott handeln.

126

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

Nach dem bisher Gesagten ist Folgendes festzuhalten. Der Apostel macht in 1,10 bei der Bedrängnis in Asien durch die Verwendung des Verbs ῥύομαι klar, dass die Rettung der Paulus-Gruppe als Beendung des leidverursachenden Widerfahrnisses durch Gott verstanden ist.111 Begründet liegt dies in der Macht Gottes, die Toten aufzuerwecken (vgl. Röm 4,17.24; 10,9). Dieser Zusammenhang von Totenauferweckung Gottes und Rettung in Not findet sich z. B. in Jes 25,8–12. Während die Not der Paulus-Gruppe mit dem auch übertragen für eine schwere Not gebrauchten Begriff θάνατος beschrieben ist, verwendet Paulus für die Erwähnung der Totenauferweckung in 2Kor 1,9 den Begriff νεκρός.112 Gott hat demnach die Fähigkeit, sowohl die physisch Toten aufzuwecken als auch Menschen aus schweren Nöten zu retten. Die im Urchristentum und bei Paulus häufig erwähnte Totenauferweckung speist sich dabei aus zahlreichen Beispielen aus der proto-apokalyptischen und der apokalyptischen Literatur.113 Die Genese der Leidbewältigungsstrategie muss man sich wahrscheinlich als ex eventu vorstellen. Die Apostel sind völlig unerwartet gerettet worden und haben diese Rettung als Eingreifen Gottes erfahren oder gedeutet. Weitere Details zur Bedrängnis in Asien und der Rettung daraus berichtet der Apostel nicht, sodass nur Hypothesen möglich sind.114 Entscheidend ist jedoch, dass durch die einzigartige Rettungserfahrung nach 1,10 die Hoffnung begründet ist, dass eine Rettung auch in Zukunft wieder geschehen kann. Die Details der Rettung sind daher für Paulus nicht relevant.115 Denn nachdem sich das erste ῥύομαι im Aorist auf die Rettung aus der konkreten Erfahrung in Asien bezieht, schließt er zweimal das Verb im Futur an: als Gewissheit direkt mit καί an den Aorist (‚so sicher, wie er uns errettet hat, wird er uns

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114

115

Vgl. KASCH, Art. ῥύομαι, 999f für den Bezug dieser Rettungstat zur Exodus-Tradition. Für eine schwere Not durch Feinde steht θάνατος κτλ. z. B. in Ψ 43,23; 55,14; 114,8; Röm 8,36. Vgl. WINDISCH, Korintherbrief, 47f; BULTMANN, Art. θάνατος, 22 und § 6.3.3. Vgl. z. B. BOUSSET, Religion, 269–274, demzufolge der Auferstehungsglaube im 1. Jh. präsent, aber Streitthema war (vgl. Mk 12,18–27par). Aus der apokalyptischen Literatur verweist er für die Kenntnis der Auferstehung z. B. auf 4Esr 7,32f; 3Bar 50,2; 51,1ff; 52,3; 85,12–15; 1Hen 51,1–3; 45,1–3; 61,5. In der LXX ist z. B. Ez 37,1–14; Jes 25,8f; Dan 12,2; PsSal 3,11f zu nennen. Vgl. BEKER, Paul, 152 mit Verweis auf weitere apokalyptische Vorstellungen bei Paulus, z. B. in 1Thess 1,9f; 4,13–18; Phil 3,20f; 1Kor 15,20–28; 2Kor 5,17; Gal 6,15 und Röm 4,17. Einen knappen Überblick über apokalyptische Motive bei Paulus bietet z. B. FREY, Prägung, 64f. STANDHARTINGER, Welt, 150 vermutet eine unerwartete Entlassung der Paulus-Gruppe aus dem Gefängnis, die durch eine in der Antike belegbare Amnestie bei Regierungsantritt eines neuen Kaisers begründet wird. Ähnlich vermutet ARZT-GRABNER, Korinther, 212, dass Paulus „Opfer einer illegalen Aktion örtlicher Behörden“ in Ephesus gewesen sei und erst „nach Intervention einer höhergestellten Persönlichkeit“ wieder frei gekommen sei. Vgl. BULTMANN, Brief, 33f: „Die Umstände der Errettung interessieren nicht; und es ist grundsätzlich gleichgültig, wieweit dabei Vorsicht und Klugheit oder günstige Zufälle mitgewirkt haben.“ Für Paulus „ist die Rettung Gottes Geschenk“ (34). Vgl. GRÄßER, Brief I, 64 und ZEILINGER, Krieg I, 181.

§ 6 Einzelexegese von 2Kor 1,3–11

127

erretten‘) und als Ausdruck der Hoffnung auf Gottes zukünftig rettendes Handeln (‚auf ihn hoffen wir, er errettet uns auch in Zukunft‘).116 Mit dieser Beschreibung konkreter Rettung wird der Bedeutungsaspekt konkreter Rettungserfahrung bzw. -hoffnung von παράκλησις/παρακαλέω unterstrichen, der in 1,3–7 ausgeführt worden ist. Die Wirkung des Trostes wird also von der ὑπομονή in Leiderfahrungen für die Gemeinde (1,4–7) ausgeweitet zur Perspektive auf ein Ende des leidverursachenden Widerfahrnisses für die Paulus-Gruppe (1,10).

6.4

Zwischenfazit

Im untersuchten Proömium des 2. Korintherbriefs ist für die Gemeinde nur im ersten Teil (1,3–7) von potentiellem Leiden die Rede. Dagegen wird für die Paulus-Gruppe in einer knappen Notiz (1,8–11) eine real erlebte, konkrete Bedrängnis in der römischen Provinz Asien beschrieben. Diese Bedrängnis ist nicht mit letzter Sicherheit zu bestimmen, bezieht sich jedoch auf eine Erfahrung, die aus Handlungen anderer Menschen auf der somatisch-physischen Ebene resultiert, eventuell eine Gefangenschaft. Für das Leiden in beiden Teilen gilt, dass sein Ursprung außerhalb des Beziehungsraums von Gemeinde und Aposteln liegt. Auf der Textebene lassen sich im ersten Teil Leidbewältigungsstrategien für Gemeinde und die Paulus-Gruppe entwickeln, im zweiten Teil ausschließlich für die Paulus-Gruppe. Auffällig ist dabei, dass in 1,3–7 ein christologischer Gottesbezug gegeben ist, während in 1,8–11 keine explizit christologischen Bezüge für die Leidensdeutung herangezogen werden. Für die Gemeinde rekurriert der Apostel in einer ersten Strategie auf den von Gott gegebenen Trost (1,4–7). Dieser bewirkt die zum Aushalten der Leiderfahrungen nötige Standhaftigkeit (ὑπομονή). Zweitens wird dem Leiden für die Paulus-Gruppe im Rahmen des Gottestrostes eine positive Wirkung zugeordnet, insofern es durch den eigenen Trostempfang im Leiden die Weitergabe des Trostes ermöglicht. Leiden und Trostempfang kommen also der Gemeinde zugute. Das leidverursachende Widerfahrnis bleibt dabei jeweils bestehen (1,4–7). Anhand der Bedrängnis in Asien wird eine weitere positive Wirkung des Leidens der Apostel aufgezeigt. Es soll dazu führen, dass sie nicht auf sich selbst vertrauen, sondern auf Gott (1,9).

116

Die textkritische Variante, das mittlere ῥύσεται vom Futur ins Präsens ῥύεται zu setzen, hätte zwar eine logische Zeitenfolge von Aorist über Präsens zum Futur im Hoffnungs-Modus zur Folge, ist aber schon mit WINDISCH, Korintherbrief, 48 wahrscheinlich spätere Korrektur.

128

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

Drittens parallelisiert Paulus für Gemeinde und Apostel-Gruppe anhand des Begriffs παθήματα τοῦ Χριστοῦ die jeweils erfahrenen Leiden mit dem Christusgeschehen (1,5f). Dabei sind diese schon aufgrund der sonstigen Verwendung des Begriffs πάθημα κτλ. wahrscheinlich als Leiden wegen des Christusglaubens verstanden. Dadurch wird einerseits betont, dass Christusglaubende auch im Leiden nicht von Gott getrennt sind. Andererseits werden dadurch auch die Hoffnung auf eschatologische Auferweckung und die Bewahrung bzw. Rettung Gottes in konkreten Leidsituationen ausgedrückt. Viertens kann der Gottestrost in der paulinischen Interpretation das Ende eines leidverursachenden Widerfahrnisses bewirken (1,10). Das wird in Verbindung mit den Begriffen ῥύομαι und σωτηρία deutlich. Damit stellt sich Paulus in die jüdische Tradition der Rettungsbeschreibungen der LXX und eröffnet gleichzeitig einen apokalyptischen Horizont für die Leiderfahrung. Dabei handelt es sich dennoch nicht um eine Strategie zur Beendung von Leiden, da Paulus hier eine bereits (unverhofft) beendete Leidenssituation rückwirkend deutet. Aus dieser Interpretation ergibt sich für Paulus die Hoffnung, dass Gott auch zukünftig Leiden beenden wird.

§7 Einzelexegese von 2Kor 1,23–2,11 § 7 Einzelexegese von 2Kor 1,23–2,11

Nach dem Proömium wird der θλῖψις-Begriff erst wieder in 2Kor 2,4 verwendet. Der hier zu untersuchende Textabschnitt 1,23–2,11 steht dabei im größeren Kontext von 2Kor 1,15–2,131 bzw. 1,12–2,132, in dem Paulus seine geänderten Reisepläne erklärt. Die Vehemenz, mit der er darin die Absage seines Besuchs erklärt, zeigt, dass hier seine Glaubwürdigkeit als Apostel auf dem Spiel steht (vgl. 1,15–18; 7,14).

7.1 7.1.1

Kontext Abgrenzung und Gliederung des Abschnitts

Eine große Forschungsmehrheit sieht 2Kor 1,23 als Anfang eines neuen Textabschnitts an.3 Das legt sich schon wegen des betonten ἐγώ zu Beginn des Verses nahe.4 Einige sehen dann allerdings eine Zäsur bereits nach 2,25 oder 2,4.6 Während diese kleineren Einschnitte ihre Berechtigung haben, ist für die hier verfolgte Fragestellung nach der paulinischen Leidinterpretation der Zusammenhang bis 2,11 entscheidend.7 Für diesen Zusammenhang spricht einerseits das Leitwort λύπη/λυπέω, das über die kleineren Zäsuren hinaus in 2,5.7 verwendet wird. Für die vorgenommene Abgrenzung von 1,23–2,11 spricht andererseits die Berufung des Paulus auf Christi Angesicht in 2,10f, die die Anrufung Gottes als Zeugen in 1,23 wieder aufnimmt. Die ersten und letzten beiden Verse haben einleitenden bzw. abschließenden Charakter. Auffallend ist entgegen dem Proömium, dass Paulus im Mittelteil (2,1–10) in der ersten Person Singular schreibt. Dadurch ist dieser Abschnitt verbunden, während der Wechsel von Singular und Plural in 1,24 durch den Plural von 2,11 wieder aufgegriffen wird.8 Der Abschluss mit 2,11 wird durch 1 2

3 4 5 6

7 8

So z. B. SCHMELLER, Brief und MARTIN, Corinthians. So z. B. BULTMANN, Brief; FURNISH, Corinthians; HARRIS, Corinthians; THRALL, Epistle und WOLFF, Brief. M. W. sieht nur THRALL, Epistle I, 163ff die Abschnitte 2Kor 1,12–24 und 2,1–11 als Einheit an. Vgl. z. B. WOLFF, Korintherbrief, 39. So z. B. FURNISH, Corinthians, 126ff; SCHMELLER, Brief I, 92f und BRENDLE, Prozeß, 125ff. So z. B. HARRIS, Epistle, 211; WINDISCH, Korintherbrief, 74; BULTMANN, Brief, 47ff; WOLFF, Brief, 38ff und GRÄßER, Brief I, 84ff. MARTIN, Corinthians, 30ff und ZEILINGER, Krieg I, 203ff grenzen 2Kor 1,23–2,11 ab. Eine enge Verbindung von 2Kor 2,1–11 betonen WOLFF, Brief, 41 und SCHMELLER, Brief I, 125.

130

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

einen Neueinsatz in 2,12 mit dem Reisebericht nach Troas sowie der Suche nach Titus in 2,13 klar markiert. Aus dem Gesagten legt sich eine Untergliederung des Abschnitts in drei Teile nahe: In 1,23f wird der Übergang von der Thematisierung der geänderten Reisepläne geschaffen und das Stichwort χαρά eingebracht. Mit 2,1–4 erfolgt die Begründung der Besuchsabsage anhand des Stichworts λύπη, unter Berücksichtigung der Befindlichkeiten von Paulus und Gemeinde.9 Der Begriff bedeutet hier auch, dass Paulus die Gemeinde weder durch Besuchsabsage noch durch seinen ‚Tränenbrief‘ verletzen oder unglücklich machen wollte. Der dritte Teil 2,5–11 schließlich erwähnt erstmals die konfliktauslösende Einzelperson. Paulus fordert die Gemeinde zu Wohlwollen und Liebe gegen den Bestraften auf. Auf den vorausgesetzten Konflikt ist nun näher einzugehen.

7.1.2

Der Konflikt zwischen Paulus, Gemeinde und Einzelperson (2Kor 2,1–11; 7,5–16)

Für die hier verfolgte Fragestellung ist es hilfreich, sich den in 2Kor 2,1–11 vorausgesetzten Ablauf der Ereignisse zu vergegenwärtigen.10 Bei Paulus und der Gemeinde ist das Thema offenbar so präsent, dass kein detaillierter Bericht nötig ist. Das ist für antike Briefe nicht ungewöhnlich, da Details zu einem vergangenen Konflikt häufig ausgespart werden, um diesen nicht erneut zu entfachen.11 Einiges kann man dem Text jedoch unter Einbeziehung von 7,5–16 entnehmen. Denn neben inhaltlichen Parallelen ist dort genau wie hier eine auffällige Häufung von λύπη/λυπέω zu finden.12 Das ist einer der Gründe, weshalb 7,5–16 für G. BORNKAMM direkt an 1,1–2,13 anschließen und den ‚Versöhnungsbrief‘ bilden.13 Von einem einzigen Konflikt geht man auch wegen der jeweils ähnlich geschilderten Konfliktstruktur aus. In beiden Abschnitten spielt eine Einzelperson eine Rolle (2,5f.7f; 7,12), die den

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10 11

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13

Die Begründung von SCHMELLER, Brief I, 125 für die Zäsur nach 2Kor 2,2 anhand einer Bedeutungsverschiebung von λύπη/λυπέω ab 2,3 erscheint mir wenig überzeugend. Vgl. für eine Einordnung des Konflikts in die Ereignisse um die Abfassung des Briefs § 5.2.2. WELBORN, Identification, 147–151 zufolge ist Aussparen und bewusstes ‚Vergessen‘ der Details geradezu Kennzeichen antiker Versöhnungsliteratur und -kultur. Er verweist z. B. auf Plutarch, Praec. ger. rei publ. 814b und den therapeutischen Briefstil bei Pseudo-Libanius 66. Als Unterstützung dieser Interpretation verwirft SCHMELLER, Brief I, 132f die Erklärungen der vagen Angaben durch a) redaktionelle Löschung von Details, b) eine von Paulus bewusst typisierende Erörterung, um den Fall „allgemein-christlich“ relevant zu machen und c) die Distanzierung des Paulus vom Gegner durch das Verschweigen von dessen Namen. In 2Kor 2,1–11 kommt λύπη 3mal und λυπέω 5mal vor. In 7,5–16 kommt λύπη 2mal und λυπέω 6mal vor. Im 2. Korintherbrief ist der Begriff nur je ein weiteres Mal in 6,10 bzw. 9,7 belegt. Vgl. die Darstellung der Teilungshypothese BORNKAMMs in § 5.2.1.2.

§ 7 Einzelexegese von 2Kor 1,23–2,11

131

Paulus ungerecht behandelt hat (2,5; 7,12), wodurch in paulinischer Sicht die Gemeinde einen Fehler begangen hat (2,3; 7,11), durch seine Reaktion in Form des ‚Tränenbriefs‘ selbst traurig wurde (2,2.4; 7,8f) und sich durch ihr darauffolgendes Handeln in den Augen des Paulus rehabilitiert hat (2,9f; 7,7.11). Entscheidend ist für den Apostel die Thematisierung der gefährdeten Gemeinschaft mit der Gemeinde. Nach dem Gründungsaufenthalt in Korinth bereist Paulus demnach die Gemeinde ein zweites Mal für einen Zwischenbesuch (vgl. πάλιν in 2,1 und der Plan eines dritten Kommens in 12,14; 13,1) und gerät dabei mit einem einzelnen Gemeindeglied aneinander.14 Die Einzelperson ist nicht näher zu identifizieren.15 Meistens wird angenommen, dass es sich bei dem Angriff um eine Beleidigung handelt, die die Autorität des Paulus als Apostel der Gemeinde untergräbt.16 Es ist zu vermuten, dass dabei die Gemeinde unschlüssig gewesen ist, ob sie sich auf die Seite des Paulus stellen soll. Daraufhin reist dieser überstürzt ab. Das beschriebene Gefühl von Bedrängnis, Herzensenge (συνοχή καρδίας), Tränen (δάκρυον) und Trauer (λύπη) in 2,4 zeigt, dass die Angelegenheit für Paulus ernst ist. Nach 2,2f befürchtet er, dass sein geplanter Besuch in dieser Gemütslage zu noch mehr Verletzungen für alle Beteiligten führen könnte. Daher beschließt er, nicht wie geplant die Gemeinde zu besuchen (1,23; 2,1– 3), sondern ihr stattdessen zu schreiben (2,4.9).17 Dieser ‚Tränenbrief‘ hat

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15

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17

Die Annahme, dass die Einzelperson von außerhalb der Gemeinde stamme, ist wenig überzeugend und wird von den meisten verworfen. V. a. die vorausgesetzte Dauerhaftigkeit der Strafe in 2Kor 2,6f spricht gegen eine Person, die möglicherweise nur kurz in Korinth gewesen ist. Vgl. HARRIS, Epistle, 224; GRÄßER Brief I, 90 und SCHMELLER, Brief I, 134. Zu Recht verweist WINDISCH, Korintherbrief, 85 darauf, dass gängige Interpretationen voraussetzen, dass der ἀδικηθείς in 7,12 Paulus sein muss. M. W. ist WELBORN, End, 381 u.ö. der einzige, der in seiner umfangreichen soziologisch angelegten Untersuchung unter Einbezug antiker Briefkonventionen und archäologischer Hinweise in Korinth erschließt, dass es sich bei der Einzelperson um den Gastgeber des Paulus in Korinth handele. Dieser wiederum sei der in 1Kor 1,14 und Röm 16,23 erwähnte Gaius. Das Ergebnis ist hypothetisch. Die bis ins 20. Jh. einschlägige Identifikation mit dem Inzest-Schuldigen aus 1Kor 5,5 ist nicht mehr haltbar. Vgl. FURNISH, Corinthians, 163–166; THRALL, Offender, 66f und SCHMELLER, Brief I, 133. Eine interessante Einzelmeinung sei hier genannt: THRALL, Offender, 74 vermutet, dass Paulus von einem Gemeindeglied Geld gestohlen wurde, das von den Korinthern für die Jerusalem-Kollekte bestimmt gewesen ist. Der Diebstahl sei als Veruntreuung des Paulus interpretiert worden. Diese Deutung sei v. a. dem Begriff ἀδικέω in 7,12 angemessen, bleibe aber hypothetisch, wie THRALL selbst einräumt. Trotzdem passt es zu dieser Hypothese, dass auch πλεονεκτέω als Satanswerk in 2,11 einen Zusammenhang zu materiellem Übervorteilen hat. Vgl. ARZT-GRABNER, Korinther, 248f. BECKER, Paulus, 20 macht deutlich, dass die Annahme eines ‚Tränen-Briefs‘ an dieser Stelle von der Interpretation des Aorists ἔγραψα abhängt: Handelt es sich um einen epistolographischen Aorist, der sich auf das Abfassen des vorliegenden Briefes bezieht, ist die Annahme eines früheren Briefes obsolet. Handelt es sich jedoch um einen echten Aorist, bezieht sich dieser auf einen anderen Brief. M. E. handelt es sich um einen echten Aorist. Vgl. BLASS-DEBRUNNER, § 334,2. Die Annahme eines ‚Tränenbriefs‘ wird durch 2Kor 7,8 gestützt.

132

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

Paulus zufolge in Korinth hohe Wellen geschlagen, hat die ganze Gemeinde traurig gemacht (2,5; 7,7–11) und führt zu einer nicht näher beschriebenen Bestrafung (ἐπιτιμία, im NT nur hier, vgl. SapSal 3,10) der Einzelperson (2,6f). Da für Paulus diese Strafe nun ausreichend ist (ἱκανόν) und er die Gemeinde zum Beenden der Strafe sowie zu Vergebung/wohlwollendem Verhalten (χαρίζομαι)18 auffordert, ist eine einmalige Ermahnung unwahrscheinlich.19 Es könnte sich vielmehr um einen Ausschluss der Einzelperson aus der Gemeinde bzw. von einzelnen Gemeindeaktivitäten wie der Versammlung oder dem Abendmahl handeln.20 Da die Strafe in 2,6 „von den meisten“ (ὑπὸ τῶν πλειόνων) auferlegt wird, ist von einer Mehrheit oder einem Mehrheitsbeschluss der Gemeinde auszugehen.21 Daraus folgt umgekehrt, dass eine Minderheit eine härtere/mildere/keine Strafe fordert oder sich gar nicht äußert. Paulus genügt jedoch die entscheidungslenkende Mehrheit, um die ganze Gemeinde als ihm zugetan darzustellen: Er bescheinigt ihr Gehorsam und Bewährung (2,9) sowie Fleiß, Eifer etc. für den Apostel (7,11f).22 Zu dieser Darstellung ist zu ergänzen, dass Paulus sich hier scheinbar für den ‚Tränenbrief‘ rechtfertigt oder entschuldigt. Etwas zurückhaltend räumt er ein, den Brief zumindest zeitweise bereut zu haben (2,4; 7,8). Zudem betont er, die verursachte Trauer habe nur kurz gedauert (7,8f) und guten Absichten gedient (2,4.9; 7,9–12). Es ist offen, ob das Motiv der Liebe bei der Abfassung tatsächlich leitend war oder ob Paulus das erst rückblickend hervorhebt.23 Die ungewöhnlich ausführliche Beschreibung des Leidens als ‚un18

19 20

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22

23

ARZT-GRABNER, Korinther, 243f zeigt den Begriff χαρίζομαι in intransitiver Verwendung (vgl. 2Kor 2,7) in Papyri mit antiken Empfehlungsschreiben, in denen die Aufforderung ergeht, den Überbringenden „Wohlwollen zu zeigen“. Vgl. für diese Bedeutung WGPU 2, 720f, wonach der Begriff nur an einer Stelle in einem gerichtlichen Prozess gebraucht ist. Eine forensisch-juristische Bedeutung ist also nicht pauschal anzunehmen. Für ARZT-GRABNER, Korinther, 243 legt sich bei transitivem Gebrauch des Verbs (vgl. 2Kor 2,10) von der Grundbedeutung ‚schenken, gewähren‘ her die Übersetzung ‚vergeben‘ nahe, die allerdings außer in 2Kor 12,13 und deuteropaulinisch in Kol 2,13; 3,13; Eph 4,32 nicht belegt ist. Vgl. BAUER, 1749 und LIDDELL-SCOTT, 1978. So aber GRÄßER, Brief I, 92. Vgl. SCHMELLER, Brief I, 135 und WINDISCH, Korintherbrief, 88. Diese Strafe setzt allerdings eine Gemeindeversammlung nach einer Gemeindeordnung voraus, die erst deuteropaulinisch belegt ist. Für WINDISCH (a. a. O., 86) ist πλειόνες „technischer Ausdruck für die bei einer Abstimmung herauskommende Majorität“. Er schließt dies aus Analogien zu einem möglichen Gemeindeausschluss in 1Kor 5,11 und dem (deuteropaulinischen) 2Thess 3,14. Vgl. FURNISH, Corinthians, 156. WGPU 2, 315 belegt in den Papyri die Bedeutung „Mehrzahl der Leute“, aber keinen festgelegten Gebrauch für Versammlungs- oder politische Mehrheiten. BULTMANN, Brief, 52; MARTIN, Corinthians, 37 und THRALL, Epistle I, 175f gehen von einer informellen Mehrheit der Gemeinde aus. WOLFF, Brief, 44 betont zu Recht, dass sich οἱ πλειόνες nicht wie οἱ πολλοί auf alle Gemeindeglieder bezieht. Vgl. zur Stelle SCHMELLER, Brief I, 138f. WINDISCH, Korintherbrief, 89f sieht zutreffend, dass Paulus mit dem Gehorsam eigentlich eine Umkehr der Gemeinde meint, was im Zusammenhang zur „gottgemäßen Trauer zum Zweck der Umkehr“ in 2Kor 7,9–11 steht. SCHMELLER, Brief I, 131 geht von mehreren Motiven bei der Abfassung aus, von denen die Liebe für Paulus das wichtigste sei. Für WINDISCH, Korintherbrief, 82f wollte Paulus die Gemeinde trau-

§ 7 Einzelexegese von 2Kor 1,23–2,11

133

ter starker Bedrängnis und Herzensenge‘ und ‚unter vielen Tränen‘ (2,4) erfüllt den rhetorisch-epistolographischen Zweck, Nähe zwischen Verfasser und Adressaten herzustellen.24

7.2

Analyse des geschilderten Leidens

Im vorliegenden Abschnitt kommt das Substantiv θλῖψις nur einmal vor (2,4). Die dominierenden Begriffe sind dagegen λυπέω (5mal) und λύπη (3mal), die Paulus im Proömium nicht verwendet. Nach der gerade erfolgten Kontexteinbettung zeigt also bereits die Begriffsverwendung, dass hier eine andere Situation im Blick ist als noch im Proömium.

7.2.1

Betroffene

Durch die Komplexität des dargestellten Konflikts, auf den sich 2Kor 1,23– 2,11 bezieht, sind drei verschiedene Personen oder Personengruppen als Betroffene des Leidens zu berücksichtigen: Paulus, die korinthische Gemeinde und das einzelne Gemeindeglied. Jedoch wird das Leiden aller drei Betroffenen auch mit dem Begriff λύπη/λυπέω beschrieben. 1. Paulus schreibt hier anders als in 1,3–11 bis auf 1,24 und 2,11 in der ersten Person Singular. Nach der beschriebenen Rekonstruktion des Konflikts hat ihn ein Gemeindeglied während des Zwischenbesuchs traurig gemacht (λύπη in 2,5) und ihm Unrecht (ἀδικέω in 7,12) zugefügt. 2. Durch den ‚Tränenbrief‘ und wahrscheinlich auch den abgesagten Besuch in Korinth ist die Gemeinde von Paulus traurig gemacht worden (2,1.4). 3. Durch die erfolgte Bestrafung der Einzelperson ist auch für sie Leid entstanden. Die paulinische Befürchtung in 2,7, die Einzelperson könne an übergroßer Trauer ertrinken (τῇ περισσοτέρᾳ λύπῃ καταποθῇ), benennt diese Auswirkung. Die Traurigkeit ist also bereits als gesteigert vorgestellt. Um zu verhindern, dass diese für den Einzelnen unerträglich wird, gibt Paulus der Gemeinde entsprechende Anweisungen.

24

rig machen, versteht das aber nur als Zwischenstation auf dem Weg der Liebe. Für THRALL, Epistle I, 170 sieht Paulus erst rückwirkend die Liebe als stärkstes Motiv des ‚Tränenbriefs‘ an. Vgl. BECKER, Paulus, 23 unter Verweis auf das Tränen-Motiv bei Cicero. WELBORN, Paul, 562– 564 zeigt z. B. an Epiktet, Diss. 2,22,6f und Cicero, Tusc. 4,6,14, dass das Zugeständnis eigener λύπη ungewöhnlich und dort Kennzeichen eines Narren ist. WELBORN, Paul 554 nimmt allerdings wie VEGGE, Corinthians, 80 anhand antiker Versöhnungsbriefe und dem therapeutischen Briefstil bei Pseudo-Libanius 19 an, dass die Beschreibung der Versöhnung diese erst erreichen möchte. Kritik an den Textgrundlagen dafür äußern FREDRICKSON, Paul, 176f und ARZT-GRABNER, Korinther, 188f.

134

7.2.2

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

Betroffenheitsebene

Paulus beschreibt in 2Kor 2,4 seinen Zustand während der Abfassung des ‚Tränenbriefs‘ als in „viel Bedrängnis und Beklemmung des Herzens“ und „durch viele Tränen“. Da der Begriff θλῖψις in diesem Textabschnitt nur hier vorkommt, bezieht sich Paulus wahrscheinlich nicht auf eine weitere Situation äußerlicher Bedrängnis wie etwa in 2Kor 1,8.25 Vielmehr geht es um die ihm während des Zwischenbesuchs entstandene λύπη, wobei schon der Begriff selbst auf die sozial-psychische Ebene verweist.26 Durch θλῖψις wird damit kein zusätzliches leidverursachendes Widerfahrnis über λύπη sowie die paulinischen Hapaxlegomena συνοχὴ (καρδίας) und δάκρυον hinaus benannt.27 Vielmehr wird wahrscheinlich die metaphorische Beschreibung des Leidens als ‚Druck, Enge, Bedrängnis‘ für die somatisch-physische Ebene fortgesetzt, die auf der primär betroffenen psychischen Ebene bereits durch die Enge des Herzens im gleichen Bildfeld ausgesagt ist. Für die Gemeinde ist durch den Bezug von λυπέω in 2,1.4f das Leiden ebenfalls auf der sozial-psychischen Ebene verortet. Das Leiden des Einzelnen ist auf die Gemeindestrafe zurückzuführen. Es ist oben deutlich geworden, dass es sich dabei wahrscheinlich um einen Gemeindeausschluss und keine körperliche Bestrafung handelt, die daher primär die sozial-psychische Ebene betrifft.

7.2.3

Leidursachen

Alle Leiderfahrungen gehen auf Handlungen zurück. Nach der Darstellung war es jedoch nicht die paulinische Absicht, den Korinthern Leid zuzufügen. Folgt man dieser Erklärung, die jedoch auch von epistolographischen und argumentativen Motiven geleitet sein kann, wäre die Situation ein Beispiel dafür, dass Leiden auch unabsichtlich bewirkt werden kann.28 25 26

27

28

So auch WINDISCH, Korintherbrief, 82; BULTMANN, Brief, 50 und THRALL, Epistle I, 170. Vgl. die Gegenüberstellung von θλῖψις und λύπη κτλ. in § 4.5.2. BECKER, Paulus, 17 fragt aus epistolographischer Perspektive, ob aus den Versen überhaupt etwas über die Verfassung des Paulus erschlossen werden kann oder ob sie rein rhetorische Funktion haben. Vgl. WELBORN, Paul, 564–569. Er hält es gerade vor einem möglichen stoischen Hintergrund der höhergestellten Gemeindeglieder für überraschend, dass Paulus so offen über sein Leiden und das Leiden der Gemeinde als λύπη schreibt, obwohl das für den Stoiker verpönt ist. Ziel sei eine Verunsicherung der stoisch Gebildeten, um sie für das paulinische Konzept einer gottgewollten λύπη nach 2Kor 7,5–16 zu gewinnen. Der Begriff συνοχή kommt im NT nur hier und in Lk 21,25 vor. Dort steht er eindeutig im Zusammenhang der Angst bei endzeitlichen Ereignissen. GRÄßER, Brief I, 89 weist darauf hin, dass θλῖψις und συνοχή auch in der LXX gemeinsam auftreten, z. B. in Ψ 24,17. SCHMELLER, Brief I, 131 geht von verschiedenen Motiven bei der Abfassung des ‚Tränenbriefs‘ aus, wobei erst rückwirkend für Paulus die Liebe als das stärkste erscheint. WINDISCH, Korinther-

§ 7 Einzelexegese von 2Kor 1,23–2,11

7.2.4

135

Leidverantwortliche

Im Zusammenhang mit dem leidverursachenden Vorfall ist ein Bezug der Gemeinde zu Gegnern von außerhalb möglich.29 Doch sind diese in 1,23ff nicht mehr im Blick. Daher sind die leidverursachenden Widerfahrnisse in erster Linie innerhalb des Beziehungsraums von Gemeinde und Apostel zu verorten. Damit ist für den paulinischen Umgang mit dem Leiden ein spezieller Fall beschrieben. Denn im Proömium und auch an den noch zu behandelnden Stellen thematisiert Paulus fast ausschließlich Leiderfahrungen, die von außerhalb kommen. Hier tritt er jedoch selbst als Verursacher des Leidens der Gemeinde und indirekt auch der Einzelperson auf. Denn in der paulinischen Darstellung verletzt erstens der Einzelne sowohl Paulus wie auch die Gemeinde (2,5). Zweitens gibt Paulus zu, selbst auch der Gemeinde Traurigkeit verursacht zu haben (2,2.4).30 Drittens resultiert das Leiden des Einzelnen (in paulinischer Darstellung) aus der Bestrafung durch die Gemeinde.

7.3

Strategien zum Umgang mit Leiderfahrungen

Die Konstellation des Konflikts mit den drei beteiligten Parteien führt dazu, dass Paulus auch Strategien zur Leidvermeidung bzw. -beendung sucht, die im Anschluss an die Leidbewältigungsstrategien dargestellt werden. Der Apostel möchte also nicht nur vorhandenes Leiden deuten und bewältigen. Für die im Folgenden darzustellenden Strategien fällt auf, dass der konfliktauslösende Einzelne hier nicht im Blick ist. Er kommt lediglich als Ziel der Vergebung und des wohlwollenden Verhaltens von Gemeinde und Apostel vor.

29

30

brief, 82f hält es unter Verweis auf 2Kor 7,9 für wahrscheinlich, dass Paulus der Gemeinde wirklich Leiden zufügen wollte. Allerdings sei das nur eine Station auf dem Weg der Umkehr. Im Beispiel für den therapeutischen Briefstil bei Pseudo-Libanius 66 heißt es: „In addition to making the statements that I did, I went on (to put them) into action, for I most certainly did not think, that they would ever cause you sorrow [λυπηθήσεσθαι]“ (Übersetzung A.J. Malherbe). Vgl. WINDISCH, Korintherbrief, 82. SCHMELLER, Brief I, 134 schließt aus einem Bezug des in 2Kor 1,23–2,11 thematisierten Vorfalls, dass 2Kor 1–7 den gleichen Konflikt zum Thema haben wie 10–13. Die Formulierung „der von mir traurig Gemachte“ (ὁ λυπούμενος ἐξ ἐμοῦ) in 2Kor 2,2 bezieht sich nicht auf die Einzelperson, sondern wie in 2,5 auf die gesamte Gemeinde. So z. B. auch WINDISCH, Korintherbrief, 79 und THRALL, Epistle I, 165f gegen.

136

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

7.3.1

Strategien zur Bewältigung von Leiderfahrungen

7.3.1.1

Paulus: Positive Wirkung von Leiden als Erweis der Gemeinschaft von Apostel und Gemeinde (2,1–5)

Im vorliegenden Abschnitt wird ein Wechsel-Verhältnis zwischen Gemeinde und Apostel-Gruppe in Bezug auf Freude (χαρά/χαίρω, εὐφραίνω) und Trauer (λύπη/λυπέω) erklärt.31 Bereits in 1,24 werden zwar die Apostel als ‚Mitarbeiter an der Freude‘ der Gemeinde (συνεργοὶ τῆς χαρᾶς) bezeichnet.32 Aber trotz der Gehorsamsforderung in 2,9 lehnen sie ab, Herren über den Glauben der Gemeinde zu sein.33 Gleichzeitig wird in 1,24 deutlich, dass Freude und Glauben zusammenhängen: Die Freude kommt aus dem Glauben.34 Paulus bestätigt hier den Korintherinnen und Korinthern ihren Glaubensstand. Allerdings scheint die Mitarbeit der Apostel an der Freude vorauszusetzen, dass diese der Gemeinde zurzeit fehlt. Die Freude ist dabei mehr als eine bloße Befindlichkeit, da sie einerseits eschatologische Züge trägt und nicht nur von Menschen, sondern von Gottes Geist gewirkt ist (vgl. Gal 5,22; Röm 14,17; 15,13).35 Andererseits kann sie durch menschliche Handlungen wie eine Beleidigung oder einen Besuch in Traurigkeit (vgl. 2Kor 2,2f) bedroht werden. Sie steht häufig im Miteinander und Gegenüber zu Trauer (vgl. 6,10) und Bedrängnis (vgl. 1Thess 1,6; 2Kor 7,4; 8,2 und ferner Röm 12,12).36 Dies kommt besonders im Philipperbrief zum Ausdruck,

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35

36

Im 2. Korintherbrief verwendet Paulus εὐφραίνω nur hier. In der LXX ist es über 350mal belegt, im NT dagegen nur 14mal überwiegend im Zusammenhang mit LXX-Zitaten. Das trifft für die einzigen anderen paulinischen Belege zu: In Gal 4,27 zitiert Paulus aus Jes 54,1, in Röm 15,10 aus Dtn 32,43. Beiden Zitaten ist ihr eschatologischer Zusammenhang gemeinsam. Ganz anders stellt sich der Befund dar, den ARZT-GRABNER, Korinther, 235f aus den Papyri erhebt. Dort ist der εὐφραίνω-Begriff für sehr konkrete innerweltliche Dinge verwendet, wie die Freude über gute Bewirtung und den Besuch eines Freundes. Es bleibt offen, weshalb Paulus hier nicht wie im Folgenden und in 2Kor 7,5–16 das ihm geläufigere χαρά κτλ. verwendet. Die einschlägigen Kommentare schweigen sich dazu aus. Vgl. WINDISCH, Korintherbrief, 77–79; BULTMANN, Brief, 49 und SCHMELLER, Brief I, 120–123. Für die Interpretation der Stelle scheint der Wechsel der Begrifflichkeit keine Relevanz zu haben. Mit SCHMELLER (a. a. O., 120) bedeutet der Begriff συνεργοί, dass es in Bezug auf die Freude zwischen Paulus, seinen Mitarbeitenden und der Gemeinde keine hierarchische Abstufung gibt. Dagegen arbeiten für THRALL, Epistle 161f Paulus und seine Mitarbeitenden gemeinsam an der Freude der Gemeinde. Die Gemeinde wäre demnach das Objekt, an dem die Freude gewirkt wird. Nach WINDISCH, Korintherbrief, 89 habe Paulus in 2Kor 1,23ff das „Autoritäts- und Gehorsamsprinzip“ zugunsten der Selbstbestimmung der Gemeinde zurückgestellt. Vgl. SCHMELLER, Brief I, 120 mit Verweis auf BULTMANN, Brief, 48: „χαρά ist der notwendig aus der πίστις fließende Glaubensstand, die Freude, in der sich die πίστις aktualisiert.“ STANDHARTINGER, Welt, 162 belegt die Freude als Gottes Gabe bei Philo, legat. 3,219; Abr. 202– 205 und spec. 2,53–55. Ihr zufolge habe die Freude eine „transzendente Dimension“ (163) und sei im Kaiserkult „Zeichen realisierter Eschatologie“. CONZELMANN, Art. χαίρω, zeigt den eschatologischen Bezug der Freude im Mysterienkult des Osiris (352f), im AT (353f) und in Qumran (354). Vgl. BEYREUTHER u. a., Art. χαίρω, 540.

§ 7 Einzelexegese von 2Kor 1,23–2,11

137

der als Gefangenschafts-Brief oft von Bedrängnis handelt, aber die meisten Belege für χαίρω κτλ. enthält (vgl. Phil 1,18; 2,17). In 2Kor 2,2f wird deutlich, dass die zunächst einlinig scheinende Freude der Apostel hin zur Gemeinde auch in umgekehrter Richtung verläuft: Paulus erwartet, dass er von der Gemeinde erfreut wird (vgl. 1Thess 3,9; Phil 2,2; 4,1; Röm 16,19).37 Gleichzeitig wird auch für die Traurigkeit ein Wechselverhältnis konstatiert: Nach 2,1f kann sie von Paulus auf die korinthische Gemeinde übergehen, indem er sie (unbeabsichtigt) traurig macht. Dann kann ihm wiederum nach 2,2f auch die Gemeinde keine Freude bereiten, obwohl das ihre Aufgabe wäre. Freude kann demnach, trotz des in 1,24 für die Gemeinde konstatierten Glaubensstandes, durch Traurigkeit gehindert werden. Doch sind Freude und Traurigkeit nicht nur durch bewusste Handlungen vermittelbar. Vielmehr scheint Paulus davon auszugehen, dass die Gemeinde auch unvermittelt Anteil an Freude (2,3) und Traurigkeit (2,5) des Apostels hat. Dieser Gedanke, nach dem die Traurigkeit einer Person direkt auch eine andere betrifft, findet sich in der allgemeingriechischen Literatur zur Freundschaftsthematik: Das Leiden einer Person trifft – in der genannten Definition des Mitleidens – deren Freundinnen und Freunde.38 Die Begründung für einen Anteil an den Emotionen des Apostels kann auch, allerdings fast ohne terminologische Parallele, über die in 1Kor 12 an der Metapher des Leibes dargestellte Ekklesiologie erfolgen: „Und sei es, dass ein Glied leidet, (so) leiden alle Glieder mit (συμπάσχω); sei es, dass ein Glied verherrlicht wird, (so) freuen sich alle Glieder mit (συγχαίρω)“ (12,26). Unabhängig von den möglichen Begründungszusammenhängen ist jedoch im Blick auf die Leidbeendigungsstrategien die Richtung der paulinischen Aussagen deutlich. Dem Leiden wird am Beispiel des konkreten Konflikts insofern eine positive Wirkung zugeschrieben, als darin die enge Verbindung – nach 1,6: das Gemeinschafts-Verhältnis – zwischen Apostel und Gemeinde deutlich wird. Diese Deutung wird noch dadurch erweitert, dass Traurigkeit hier in engem Zusammenhang zur Freude steht. Die konkrete Gemeinschaft und wechselseitige Abhängigkeit in Bezug auf die Traurigkeit wird also in den weiteren Kontext der Gemeinschaft von Apostel und Gemeinde gestellt. Durch die komplexe Argumentation ist die Zuschreibung einer positiven 37 38

Ähnlich ist die Gemeinde nach 2Kor 1,14; Phil 2,16; 1Thess 2,19 Grund des Ruhmes der Apostel. WELBORN, Paul, 552–559 sieht im ‚Versöhnungsbrief‘ 2Kor 1,1–2,13; 7,5–16 alle Charakteristika des therapeutischen Briefs aus dem Handbuch der Brieftypen von Pseudo-Libanius 19. Mindestens für den vorliegenden Abschnitt 2,1–5 trifft dies zu. Im Trostbrief nach Pseudo-Demetrius 5 wird noch deutlicher, dass das Leiden einer Person auch dessen Freund/Freundin trifft: „When I heard of the terrible things that you met at the hands of thankless fate, I felt the deepest grief (ἤλγησα), considering that what had happened had not happened to you more than to me (οὐ σοὶ μᾶλλον ἤ ἐμοὶ συμβεβηκέναι τὸ γεγονός)“ (Übersetzung A.J. Malherbe). FREDRICKSON, Paul, 178 verweist auf Aristoteles, EN 9,4,1; Plutarch, Amic. mult. 96a.b und Lukian, Tox. 7 u. 46.

138

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

Wirkung an das Leiden nicht auf der Textebene nachweisbar, obwohl in 2,1– 5 drei relevante und mit ἵνα eingeleitete Finalsätze darauf hinweisen. Diese beziehen sich jedoch auf das Schreiben bzw. Nicht-Schreiben des ‚Tränenbriefs‘, um die Gemeinde nicht traurig zu machen und sie die Liebe des Apostels erkennen zu lassen. Erst durch die Deutung dieser Finalsätze auf der Ebene der Pragmatik erweist sich die von Paulus intendierte Wirkungszuschreibung: Leiden wirkt sich dahingehend positiv aus, dass es die Gemeinschaft von Paulus und korinthischer Gemeinde zeigt. 7.3.1.2

Gemeinde: Positive Wirkung von Leiden als Bewährung des Gehorsams (2,9)

In 2Kor 2,9 beschreibt Paulus den ‚Tränenbrief‘ als Bewährungsprobe (δοκιμή) für den Gehorsam der Gemeinde. Das Begriffsfeld δόκιμος κτλ. wird in der LXX und im hellenistischen Judentum oft als Leidensdeutung verwendet, bei der meistens Gott durch Leiden prüft (δοκιμάζω), um dadurch die Bewährung von Menschen zu erkennen.39 Dieses Prüfen in Bezug „auf Echtheit und Unechtheit“40 liegt auch dem seltenen Gebrauch des Substantivs δόκιμος in der LXX mit Ursprung im Bildfeld der Edelmetallprüfung zugrunde (vgl. z. B. Gen 23,16; 1Kön 10,18). Bereits dort können jedoch selten auch Menschen prüfen: So wird Jeremia von Gott als menschlicher Prüfer des Volkes eingesetzt (Jer 6,27ff).41 Bei Paulus dagegen ist Gott nur selten der Prüfende, wie z. B. in 1Thess 2,4 für die Paulus-Gruppe (vgl. 2Kor 10,18). Sonst sind hauptsächlich die Gemeinden Subjekt von δοκιμάζω und sollen sich selbst, Handlungsoptionen oder Personen prüfen.42 Auch Paulus prüft die Gemeinde in Bezug auf ihre Liebe (2Kor 8,8) und Mitarbeitende auf ihre Vertrauenswürdigkeit (2Kor 8,22). Wer oder was geprüft ist, hat sich dadurch als positiv erwiesen. Das erst bei Paulus belegte Substantiv δοκιμή ist an der vorliegenden Stelle ähnlich wie in 2Kor 9,13 und Phil 2,22 (vgl. δόκιμος in Röm 14,18) zu verstehen, wo sich Menschen durch ihr Tun, Kollektenbeteiligung und Dienst am Evangelium, als bewährt/geprüft erweisen.43 39

40 41 42

43

Vgl. SPICQ, Art. δοκιμάζω κτλ., 354f mit Verweis z. B. auf Philo, Mos. 1,263.306; 2,177; Josephus, AJ 1,233; 4,295; 3,15; Ap. 2,42 sowie Ψ 65,10; Sir 31,10; SapSal 2,19; 2Makk 1,34. Selten können Menschen Gott prüfen: Ψ 94,9; SapSal 1,3. Vgl. BACHMANN, Art. δόκιμος, 1785. Vgl. § 12.3.1 in der Einzelexegese von 2Kor 8,1–15. BACHMANN, Art. δόκιμος, 1785. Vgl. GRUNDMANN, Art. δόκιμος, 258 und BACHMANN, Art. δόκιμος, 1785f. Vgl. 1Kor 11,28; 2Kor 13,5; Gal 6,4; Röm 14,22 für die Selbstprüfung, 1Thess 5,21; Phil 1,10; Röm 2,18; 12,2 für das Prüfen von Handlungsoptionen und 1Kor 16,3 für die Prüfung von Personen. Der Begriff δοκιμή ist noch in 2Kor 13,3 belegt, wo die Gemeinde demnach einen Beweis dafür sucht, dass Christus durch Paulus redet. Außerdem ist in 2Kor 8,2 von Bewährung in der Bedrängnis die Rede, was an den Kettenschluss von Röm 5,3–5 erinnert, wo die Bedrängnis zu Geduld, Bewährung und Hoffnung führt. Vgl. die Einzelexegese von 2Kor 8,1–15 in § 12.3.1.

§ 7 Einzelexegese von 2Kor 1,23–2,11

139

Worin dieses Handeln besteht, das Paulus als Prüfung/Bewährung der Gemeinde erkennen will, schließt er im Nebensatz mit εἰ an: Der ‚Tränenbrief‘ habe der Prüfung gedient, ob die Gemeinde gehorsam (ὑπήκοος) sei. Dabei ist durch das εἰς πάντα (im Hinblick auf alle Dinge) nicht deutlich, worin dieser Gehorsam besteht. Der einzige andere Beleg für das Adjektiv ὑπήκοος bei Paulus bezieht sich auf Christi Gehorsam (Phil 2,8) gegen Gott,44 während der einzige weitere neutestamentliche Beleg in Apg 7,39 auf den verweigerten Gehorsam der Israeliten gegen Moses als Gottes Gesandtem zielt. Die paulinischen Belege für das Substantiv ὑπακοή und das Verb ὑπακούω zeigen ebenfalls zwei Richtungen des Gehorsams einerseits gegenüber Gott oder Christus und andererseits gegenüber seinen Gesandten.45 Vorbild des Gehorsams ist für Paulus oft Christus selbst (vgl. Phil 2,8; Röm 5,19; 2Kor 10,5).46 In 2Kor 7,15 zeigt sich der Gehorsam der Gemeinde in der positiven Aufnahme des Titus als eines Gesandten Christi. Bewährung und Gehorsam der Gemeinde bestehen demnach für Paulus darin, den Gehorsam gegenüber Gott auch gegenüber dem Apostel zu zeigen.47 Wahrscheinlich hat er von der Gemeinde im ‚Tränenbrief‘ gefordert, sich auf seine Seite zu stellen, was nicht unbedingt eine Strafforderung bedeuten muss. Doch die Bestrafung der Einzelperson erfüllt seine Forderung, sodass er die Gemeinde nun als bewährt und gehorsam anerkennt. Durch die Verbindung des Gemeinde-Leidens mit der Bewährung ihres Glaubensgehorsams ergibt sich die positive Wirkung ihres Leids. Sie habe dieses der paulinischen Darstellung zufolge nicht ohne Grund erfahren. Vielmehr schreibt er diesem die Wirkung zu, dass sich dadurch der Gehorsam gegenüber Gott und dessen Apostel, die Bewährung sowie letztlich der Glaube der korinthischen Gemeinde zeigen. Dabei ist bemerkenswert, dass Paulus eine Leidbewältigungsstrategie für ein von ihm selbst ausgelöstes Leiden gibt.

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45

46 47

Das Objekt des Gehorsams ist in Phil 2,8 offen, jedoch ist Gott als Zielpunkt wahrscheinlich. So z. B. HAWTHORNE, Philippians, 89; REUMANN, Philippians, 353 und WITHERINGTON III, Letter, 149. Für WALTER, Brief, 60 zielt dagegen der Vers primär auf die Menschwerdung Christi, die in Unterwerfung/Gehorsam gegenüber dem Tod besteht. Der Gehorsam gegen Gott, Christus und Evangelium ist etwa in Röm 6,16f.22; 10,16 explizit thematisiert und in Röm 1,5; 15,18; 16,19.26; 2Kor 10,5f ohne explizite Nennung naheliegend. In 2Kor 10,5f; Phil 2,12; Phlm 21 liegt trotz fehlender Angabe jeweils der Kontext den Gehorsam gegenüber Paulus und seinen Mitarbeitenden nahe. Vgl. HARRIS, Epistle, 231. Vgl. MUNDLE, Art. ὑπακούω, 992. Deuteropaulinisch ist auch Hebr 5,8 zu nennen. Vgl. KITTEL, Art. ἀκούω, 225; THRALL, Epistle I, 179 und GRÄßER, Brief I, 94. Nach WINDISCH, Korintherbrief, 89 hat Paulus dieses „Autoritäts- und Gehorsamsprinzip“ seit 2Kor 1,24 zugunsten der Eigenständigkeit der Gemeinde zurückgestellt. Vgl. SCHMELLER, Brief I, 139.

140

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

7.3.2

Strategien zur Beendung und Vermeidung von Leiderfahrungen

7.3.2.1

Paulus: Ausweichen vor dem Leiden (2,1–4)

Paulus macht bei seinem Zwischenbesuch in Korinth eine Leiderfahrung, was aus dem πάλιν (wiederum) in 2Kor 2,1 zu erschließen ist: Wenn er nicht „wiederum in Trauer zu euch kommen“ möchte, beschreibt dies wahrscheinlich den Zustand bei seinem letzten Besuch. Dann erklärt Paulus, dass er sich gegen einen weiteren Besuch und für die Abfassung des ‚Tränenbriefs‘ entschieden habe. Die Gemeinde soll ihm das nicht zum Vorwurf machen, sondern beides als Teil seiner Leidvermeidungsstrategie zu ihren Gunsten erkennen. Denn tatsächlich befürchtet Paulus in 2,2, dass bei einem Besuch in Korinth ihr und nicht ihm selbst Trauer entstehen würde: „Denn wenn ich euch traurig mache …“48 Das lässt darauf schließen, dass er die Gemeinde im Falle der persönlichen Begegnung noch strenger hätte zurechtweisen müssen, als er dies schriftlich getan hat (1,23; vgl. 13,2). Da er in 2,3f in der Vergangenheit schreibt, scheint seine Leiderfahrung zur Zeit der Abfassung von 1,23–2,11 beendet zu sein. Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass er – wie oben dargestellt – Gehorsam und Bewährung der Gemeinde erkennen konnte. Aus dem in 2,5 verwendeten Perfekt wird deutlich, dass die von der Einzelperson verursachte Trauer zwar offenbar noch weiter wirkt. Das damit verbundene Leiden ist für Paulus jedoch Vergangenheit. Insofern erweist er hier seine Strategie als erfolgreich. Als handlungsleitendes Motiv für die Leidvermeidung zugunsten der Gemeinde nennt er in 2,4 seine auf Freude zielende Liebe, die diese durch seinen Brief erkennen solle.49 Da er entgegen seiner betonten Absicht den Christusglaubenden in Korinth doch Trauer bereitet hat, ist es notwendig, diese Liebesmotivation bei der Leidvermeidung so stark zu betonen.50 Damit soll der mögliche falsche Schluss vermieden werden, Paulus handle aus egoistischen Motiven und wolle durch den ‚Tränenbrief‘ sein eigenes Leiden auf Kosten anderer beenden.51 Doch da in der Sicht des Apostels sein eigenes Freud und Leid mit der Gemeinde eng verbunden sind (2,2f), geschieht die Leidüberwindung des Apostels zugunsten der Gemeinde. Überwindet dieser sein Leid, dient das der Freude und im konkreten Fall auch der Leidvermei48 49 50

51

Dass der ‚Tränenbrief‘ für Paulus selbst zur Leidbeendung dient, wird allenfalls angedeutet. Ἀγάπη ist durch die ungewöhnliche Voranstellung betont. Vgl. SCHMELLER, Brief I, 131. Der Gedanke, dass die Trauer als ἡ κατὰ θεὸν λύπη etwas Gutes für die Gemeinde bewirken kann und Paulus daher das Traurig Machen nicht bereut, findet sich erst in 2Kor 7,5–16. Vgl. WINDISCH, Korintherbrief, 79, der zunächst von scheinbar egoistischen Gründen spricht, jedoch entgegen der Interpretation von MARTIN, Corinthians, 35 die christliche Liebe als das zentrale Motiv für alles Handeln des Apostels ansieht. So auch BULTMANN, Brief, 49f.

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141

dung für jene. Durch den betonten Gegensatz von Trauer und Freude entsteht der Eindruck, dass das eine die Wirkung des anderen verhindern kann. Insofern ist die Wiederherstellung der Freude auch in 7,5ff ein zentrales Anliegen des Apostels. Denn wenn Apostel und Gemeinde gemeinsam Freude haben, wird eschatologische Freude spürbar. Die Leidvermeidungsstrategie macht Paulus also an sich selbst deutlich. Die Wirkung zielt jedoch auf die Vermeidung von (noch mehr) eigenem Leiden (2,1.3) und von (noch mehr) Leiden der Gemeinde (2,2.4).

7.3.2.2

Paulus und Gemeinde: Wohlwollen, Vergebung und Trost motiviert durch Liebe (2,6–8)

In 2Kor 2,5–7 kommt mit τις und ὁ τοιοῦτος die Einzelperson näher in den Blick, die Paulus traurig gemacht hat. In 2,5.7 wird deutlich, dass im Laufe der Krise Paulus selbst, die Gemeinde und schließlich die Einzelperson zu leiden haben und sich das Leiden gegenseitig zufügen. Nach dem Gehorsamserweis der Gemeinde ihm gegenüber durch die Bestrafung des Einzelnen schlägt er nun einen versöhnlichen Kurs ein: Die Strafe des Einzelnen sei ausreichend (ἱκανός) und dieser nun in Gefahr, in seiner Trauer in Folge der Strafe zu ertrinken. Das ist so interpretiert worden, dass Paulus einen Selbstmord befürchtet.52 Entscheidend ist, dass er beim Andauern der Bestrafung eine Verschlimmerung des Leidens für möglich hält. Deswegen sei es nun an der Zeit, dem Einzelnen gegenüber Wohlwollen/Vergebung (χαρίζομαι, 2,7.10), Trost (παρακαλέω, 2,7) und Liebe zu erweisen (ἀγάπη, 2,8). Die Bedeutung dieser drei Aspekte ist nun kurz zu entfalten. Der generelle Gebrauch von χαρίζομαι bei Paulus zeigt, dass bei der Vergebung oder dem geforderten Wohlwollen das Gnadengeschenk Gottes (χάρις) mitschwingt.53 Paulus erwähnt zwar nicht, dass die Beleidigung der Einzelperson sich auch gegen Gott gerichtet habe und verweist auch nicht explizit auf Christus und seinen Tod zur Vergebung der Sünden als Vorbild für die christliche Vergebung.54 Doch ist die Gnade Gottes nach 2,10 durch die Ver-

52 53

54

Vgl. THRALL, Epistle I, 177. Das Verb χαρίζομαι kommt im NT nur überschaubare 23mal vor, davon 11mal bei Paulus. Er bezieht es meistens auf die Gnade Gottes bzw. seine Gnadengeschenke. Z. B. in Gal 3,18 bezeichnet er damit das göttliche Geschenk des Gesetzes, in Phil 1,29 das Geschenk des Leidens mit Christus, in Phil 2,9 das Geschenk des „Namens über alle Namen“ an Christus und in Röm 8,32 das göttliche Geschenk seines Sohnes. Nach 1Kor 2,12 bewirkt erst der Geist Gottes die Einsicht in das von Gott Geschenkte. Nur in 2Kor 2,7.10; 12,13 kann es die Bedeutung von ‚Vergeben‘ annehmen. Vgl. EßER, Art. χάρις, 823 sowie § 1.2. Das sieht WINDISCH, Korintherbrief, 91.

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Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

gebung „vor dem Angesicht Christi“ (ἐν προσώπῳ Χριστοῦ) in den zwischenmenschlichen Vorfall einbezogen.55 Mit dem Appell zu Vergebung/Wohlwollen geht die Aufforderung zum Ermahnen bzw. Trösten einher. Damit verbunden ist wahrscheinlich besonders die Wiederaufnahme der Kommunikation vonseiten der Gemeinde gemeint. Dies ist insofern zentral, weil ohne diese Zuwendung die Einzelperson zum passiven Objekt der Vergebung gemacht würde. In der Kommunikation wird sie jedoch wieder in die Gemeinde integriert. Die Liebe ist wie bereits in 2,4 für den ‚Tränenbrief‘ das zentrale Handlungsmotiv für den Umgang mit dem Einzelnen. Danach soll nun auch die korinthische Gemeinde handeln und „Liebe beschließen im Hinblick auf ihn“ (2,8; κυρῶσαι εἰς αὐτὸν ἀγάπην). Die Vereinbarkeit des Liebesbegriffs mit dem formellen Begriff κυρόω ist dabei auf verschiedene Weisen denkbar. H. WINDISCH interpretiert ihn als erster als terminus technicus für einen (Gemeinde-)Beschluss: Paulus würde demnach die Gemeinde bitten, den ursprünglichen Mehrheitsbeschluss zur Bestrafung der Einzelperson durch einen weiteren von Liebe geleiteten Beschluss aufzuheben.56 Die Hauptbedeutung für κυρόω in den Papyri-Funden steht allerdings im Zusammenhang mit Auktionen, in denen der Begriff bedeutet, dass jemand den Zuschlag erhält, also rechtskräftig neuer Eigentümer der versteigerten Sache wird.57 Im vorliegenden Kontext könnte Paulus demnach darum bitten, in Bezug auf den Einzelnen der Liebe (als handlungsleitendem Motiv) den Zuschlag zu erteilen. In beiden Bedeutungen wird die grundsätzliche Aussageintention deutlich: An die Stelle des Strafens (2,6) soll nun ein von Liebe geleitetes Vorgehen treten. Die Liebe bildet den Hintergrund und das intrinsische Motiv für die faktische Leidvermeidung in Bezug auf die Einzelperson. Die ἀγάπη ist für Paulus nach 2Kor 13,11.13 eine Eigenschaft Gottes oder charakterisiert eine Tat oder ‚Haltung‘ Gottes (vgl. Gal 2,20; 5,20; Röm 5,5.8). Der korinthischen Gemeinde ist das paulinische Liebesverständnis besonders 55 56

57

Vgl. GRÄßER, Brief I, 95. Vgl. WINDISCH, Korintherbrief 89; GRÄßER, Brief I, 93f und WOLFF, Brief, 45. Zur Frage einer möglichen beschlussfassenden Gemeindeversammlung in Korinth anhand des Begriffs πλειόνες vgl. § 1.2. Dagegen möchte SCHMELLER, Brief I, 138 die Spannung zwischen κυρόω und ἀγάπη aufrechterhalten. Vgl. MARTIN, Corinthians, 38. Der einzig andere Beleg für κυρόω bei Paulus in Gal 3,15 bezeichnet ein Testament, das rechtskräftig/gültig ist. Vgl. WGPU 1, 855f, der für κυρόω neben der erwähnten Bedeutung noch ‚bestätigen, bekräftigen; in Erfüllung gehen lassen (bei Orakeln)‘ nennt. Diese letzte Bedeutung stellt auch ARZT-GRABNER, Korinther, 245f in den Vordergrund und paraphrasiert das Anliegen des Paulus als Aufforderung an die Gemeinde, „dem einen Mitglied in verbindlicher Weise ihre Liebe zukommen“ (247) zu lassen. Der entsprechende Papyrusfund stammt allerdings erst aus dem 6. Jh. Für die Bedeutung als ‚rechtskräftig machen‘ im Sinne von Gal 3,15.17 spricht sich BEHM, Art. κυρόω, 1098f aus. Er weist mit LIDDELL-SCOTT, 1014 darauf hin, dass κυρόω im Medium nur bei Platon, Grg. 451 belegt ist, wo es parallel zu διαπράσσω steht, was LIDDELL-SCOTT, 408f mit „accomplish, bring about“ übersetzen.

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durch die intensive Behandlung in 1Kor 13 vertraut. Dort wird die Liebe höher gewichtet als Glaube und Hoffnung (13,13; vgl. Gal 5,6). Ihr Gebrauch als Handlungsmaßstab ist der Gemeinde auch aus 1Kor 14,1; 16,14 bekannt und für Paulus typisch.58 Dabei haben Liebe und Wohlwollen/Vergebung ihr erstes Vorbild in Gott, im konkreten Zusammenhang jedoch im Verhalten des Paulus (2Kor 2,4.10).59 Die Orientierung von Paulus und Gemeinde am Vorbild der Liebe soll also (weiteres) Leid für die Einzelperson vermeiden und das gegenwärtige beenden. Über deren Sicht des Vorfalls und subjektives Empfinden schweigt Paulus.

7.3.2.3

Paulus und Gemeinde: Wohlwollen, Vergebung und Trost motiviert durch Satansabwehr (2,10f)

Im letzten Vers des Abschnitts bringt Paulus einen neuen Aspekt für seine Aufforderung zur Vergebung: „… damit wir nicht vom Satan überlistet/übervorteilt werden“ (ἵνα μὴ πλεονεκτηθῶμεν ὑπὸ τοῦ σατανᾶ).60 Damit greift er auf eine Figur aus einem mythologischen Weltbild zurück.61 Wie er sich das Überlisten des Satans genau vorstellt, ist nicht abschließend zu klären. Durch den auffälligen Wechsel der Erzählperspektive in den Plural in 2,11 wird deutlich, dass die Einwirkung des Satans sich auf Paulus und die Gemeinde bezieht. Es ist von einer kommunikativen Pluralbedeutung auszugehen. Das Verb πλεονεκτέω (übervorteilen, überlisten) bezeichnet „das Übergreifen über ein zugewiesenes Maß oder über Ordnungen, die das menschliche 58

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Vgl. 2Kor 11,11; 12,15; 1Thess 3,12; 4,9; 5,13; Gal 5,14; Phil 2,2; Röm 13,8f. Wie bereits der Gehorsam kann sich die Liebe auch auf Gott als Ziel richten, so 1Kor 2,9; 8,3. Die paulinischen Äußerungen zur Vergebung stehen in 2,10 in einer gewissen Spannung zueinander: Diese ist als noch ausstehend und als bereits geschehen dargestellt. WINDISCH, Korintherbrief, 90 sieht 2Kor 2,10 als Selbstkorrektur des Paulus an. Für MARTIN, Corinthians, 38 bindet Paulus seine Vergebung an diejenige der Gemeinde. Die Spannung ist m. E. nicht aufzulösen. Der Begriff ‚Satan‘ kommt bei Paulus außer in 2Kor 2,11 noch an sechs weiteren Stellen vor: In 1Thess 2,18 verhindert Satan eine Reise des Apostels. In 1Kor 5,5 empfiehlt Paulus, einen des Inzest Schuldigen dem Satan zu übergeben. In 1Kor 7,5 steht Satan für die Versuchung von Eheleuten, wenn sie auf gemeinsame Sexualität verzichten. In Röm 16,20 ist die baldige Vernichtung des Satans angekündigt. In 2Kor 11,14 steht das Täuschen des Satans, der sich als Engel des Lichts ausgibt, in Zusammenhang mit Falschaposteln. In 2Kor 12,7 ist von einem Engel des Satans die Rede, der für den Stachel im Fleisch des Paulus verantwortlich ist. Statt Satan verwendet Paulus auch die Begriffe Versucher (1Thess 3,5), Herrscher dieser Welt (1Kor 2,6.8), Verderber (1Kor 10,10), Gott dieses Äons (2Kor 4,4) und Beliar (2Kor 6,15, wahrscheinlich nicht genuin paulinisch). Im Vergleich zu den häufigen Belegen in den Evangelien (19mal, διάβολος 15mal) und der Offenbarung (8mal, διάβολος 5mal) spielt der Satan bei Paulus nur eine untergeordnete Rolle. Vgl. für den Satans-Mythos und seine Entstehung z. B. die apokalyptisch geprägten Schriften: Sach 3,1–3; das Buch der Wächter (1Hen 6–25) und die Tierapokalypse (1Hen 88–91), Jub 10,8– 12; 17,16–18 sowie VitAd 12–16. Für JOHNSON, Satan Talk, 154 haben Erwähnungen Satans keine Relevanz für die Kosmologie, sondern rein soziale Funktion. Ähnlich BAUMBACH, Funktion, 30.

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Zusammenleben regieren.“62 Das Begriffsfeld πλεονεξία κτλ. ist Teil des hellenistisch-römischen Moraldiskurses:63 Dort ist Habgier durchweg negativ beschrieben als Ursache allen Übels und als ‚ohne Aufhören immer mehr Wollen‘.64 Als ähnlich negativ und widergöttlich versteht die LXX in den seltenen Belegen die πλεονεξία z. B. in Jes 28,8; Jer 22,12; Ez 22,27; 2Makk 4,50; Ψ 118,36. Im NT begegnet das Begriffsfeld fast ausschließlich bei Paulus, z. B. in Lasterkatalogen wie Röm 1,29; 1Kor 5,10f; 6,10f. Von sich selbst betont Paulus speziell in 2Kor 7,2; 12,17f, dass er die Gemeinde gerade nicht übervorteilt. Zwei Bezugsgrößen des Übervorteilens durch den Satan sind prinzipiell denkbar: Entweder greift er auf die Einzelperson über oder durch Schädigung der Gemeinschaft zwischen Paulus und der Gemeinde auf viele oder alle Gemeindeglieder.65 Die Bedeutung ist dadurch charakterisiert, dass der Satan damit auf eine Gruppe zugreift, die ihm nicht zusteht, weil sie zu Gott gehört. Mit der Forschungsmehrheit ist eher an die Gefährdung der ganzen Gemeinde zu denken, da die bereits angesprochene erste Verwendung des Plurals seit 2Kor 1,24 als kommunikativer Plural der Verbindung von Paulus und Gemeinde dient. Das ist ein Hinweis darauf, dass es hier nicht nur um die Einzelperson geht.66 Die Gefährdung der Gemeinde durch den Satan aus paulinischer Sicht ist in mindestens zwei Weisen denkbar. Zum einen ist eine Satanisierung der Gegner des Paulus zu erwägen:67 Auch in 2Kor 11,14f bringt Paulus seine Gegner mit dem Satan in Verbindung, da diese die Gemeinde von seinem Evangelium abbringen können.68 Dafür spricht auch die Nähe der Begriffe ‚Christus‘ und ‚Satan‘ in 2Kor 2,10f, die auf zwei widerstreitende Interessen hindeuten: Diese können mit Paulus und seinen Gegnern identifiziert werden.69 Zum anderen kann Paulus „die Eigendynamik des Gruppenverhaltens, 62 63 64

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GRÄßER, Brief I, 97. Das Verb kommt im NT nur in 2Kor 2,11; 7,2; 12,17.18; 1Thess 4,6 vor. Vgl. FINKENRATH/NIEBUHR, Art. πλεονεξία, 133. Vgl. den Verweis auf Dio Chrysostomus 17,6 und Plutarch, Cupid. divit. 524e bei FINKENRATH/ NIEBUHR, Art. πλεονεξία, 133. Vgl. für diese Alternativen z. B. SCHMELLER, Brief I, 140; BULTMANN, Brief, 54 und THRALL, Epistle I, 181. WINDISCH, Korintherbrief, 91 erwähnt nur die zweite Möglichkeit. Dieser Bezug zu einem Beziehungsraum, in den jemand eindringt, um sich meist materielle Vorteile zu verschaffen, ist nach ARZT-GRABNER, Korinther, 248f auch in vielen Papyri-Funden belegt. Dabei sind es häufig Eingeheiratete oder entfernte Verwandte, die in eine Hausgemeinschaft kommen und sich auf illegitime Weise bereichern. SCHMELLER, Brief I, 140f geht davon aus, dass im ganzen 2. Korintherbrief immer die gleichen Gegner im Hintergrund stehen. Diese wären hier thematisiert. Das Motiv vom Satan, der sich als Engel des Lichts verkleidet, ist auch in VitAd 9,1 belegt. Diese Täuschungskompetenz des Satans überträgt Paulus auch auf dessen Diener. Insofern zielt 2Kor 11,14f darauf, dass die anderen Verkündiger in der Gemeinde vorgeben das wahre Evangelium zu verkündigen, aber tatsächlich dem Satan zuarbeiten und die Gemeinde verführen. Vgl. GRÄßER, Brief I, 146 und JOHNSON, Satan Talk, 153. Vgl. HARRIS, Epistle, 233; WEHR, Funktion, 217 und JOHNSON, Satan Talk, 153.

§ 7 Einzelexegese von 2Kor 1,23–2,11

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das den christlichen Maßstab der Liebe aus dem Blick verloren hat“70 im Sinn haben. Dabei könnte sich die Minderheit der Gemeinde, die bei der Rede von einer Gemeindemehrheit vorausgesetzt ist, bei anhaltender Strafe vergrößern oder von der Gemeinde distanzieren.71 Die Gemeinde könnte sich spalten und somit zumindest zum Teil vom paulinischen Christusglauben abwenden. Der mythologisch gefasste Hinweis auf eine gemeinsame äußere Bedrohung kann hilfreich sein, um im Inneren wieder zusammenzuhalten. Die Leidvermeidung durch die Forderung nach Vergebung, Wohlwollen und Trost ist also in diesem Gedankengang wiederum in einem konkreten Kontext verortet. Auf dem Spiel steht die Einheit der Gemeinde und damit für Paulus auch deren mögliche Entfremdung von seinem Evangelium, was er durch den Rückgriff auf die Satansfigur ausdrückt.

7.4

Zwischenfazit

Die Leiderfahrungen im vorliegenden Text entstehen anders als in 2Kor 1,3– 11 aus dem konfliktbehafteten Miteinander von Paulus (Singular!), Gemeinde und einem Einzelnen aus der Gemeinde. Alle drei haben einander Trauer (λύπη) verursacht. Gemeint sind verbale Angriffe, Verleumdung oder Beleidigung bzw. das Verhängen einer Strafe – wahrscheinlich eines Gemeindeausschlusses – durch die Gemeinde. Die Differenz zur Lebensgefahr in 1,8ff erscheint groß. Jedoch braucht es aus Sicht des Paulus auch im vorliegenden Text Strategien, um das Erfahrene zu deuten und zu bewältigen. Wichtig ist dabei zu sehen, dass die Darstellung aus Sicht des Paulus geschieht. Ob auch die Gemeinde oder die Einzelperson einen Bedarf an Leidbewältigung gesehen haben, muss offen bleiben. Nach dem Gesagten handelt es sich für alle Betroffenen um Handlungen innerhalb des Gefüges von Apostel und Gemeinde, die sich primär auf der sozial-psychischen Ebene auswirken. Die Beteiligten sind klar zu benennen, auch wenn sich heutige Lesende mehr Informationen über den Einzelnen und den Vorfall wünschen würden: Paulus und Gemeinde sind mit den Details vertraut. Paulus formuliert zwei Leidbewältigungsstrategien, die beide dem Leiden eine positive Wirkung zuschreiben. In einer ersten Strategie besteht dieser Effekt für Paulus im Verweis auf den Begriff der Freude darin, dass das Leiden die Gemeinschaft mit der Gemeinde zeigt. Denn durch Anspielungen auf das antike Freundschaftsmotiv und die von ihm in 1Kor 12,26 gebrauchte 70 71

WEHR, Funktion, 210. Vgl. BULTMANN, Brief, 54f. Vgl. THRALL, Epistle I, 181 und VEGGE, Corinthians, 79.

146

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

Metapher von der Gemeinde als Leib verdeutlicht er, dass Apostel und Gemeinde das Freud und Leid des jeweils anderen teilen. Die Leidsituation wird dafür zum konkreten Beispiel. Die zweite Strategie zielt auf das Leiden der Gemeinde. Das durch den ‚Tränenbrief‘ entstandene Leiden dient in der nachträglichen Darstellung dazu, Bewährung und Gehorsam der Gemeinde zu erkennen. Dieser Gehorsam richtet sich zwar in erster Linie auf Gott, zeigt sich jedoch am Verhalten gegenüber dem Apostel als Gottes Gesandtem. Aufgrund der genannten Konstellation entwickelt Paulus auch Strategien zur Vermeidung und Beendung von Leiden. Die Leidvermeidung besteht für die Gemeinde zuerst darin, dass Paulus den direkten persönlichen Kontakt mit ihr bzw. der Einzelperson vermeidet und durch den ‚Tränenbrief‘ ersetzt. Das zielt der Darstellung nach nicht auf die Vermeidung von eigenem Leiden, sondern von Leiden für die Gemeinde. Paulus erklärt also nachträglich sein Handeln. Darüber hinaus nennt er für sich selbst und die Gemeinde das Ausüben von Vergebung, Wohlwollen und Trost als Mittel zur Leidbeendung. Beides wird auf zwei verschiedene Weisen motiviert. Das ist zuerst die Liebe als Maßstab allen Handelns. Paulus übt sie gegenüber der Gemeinde und diese soll sie der Einzelperson erweisen. Das ist zweitens die mythologisch formulierte Motivation, durch die Vermeidung von Leiden einen möglichen Satansangriff abzuwenden. Dieser könnte aus der Verweigerung von Vergebung, Wohlwollen und Trost möglicherweise einen Vorteil ziehen, der in der Spaltung der Gemeinde und der damit verbundenen Abkehr zumindest eines Teils der Gemeinde vom Christusglauben paulinischer Prägung bestehen könnte.

§8 Einzelexegese von 2Kor 4,7–15 § 8 Einzelexegese von 2Kor 4,7–15

8.1

Kontext und Abgrenzung

Der nun zu behandelnde Textabschnitt steht in einem neuen Kontext, der nach einem weiten Konsens in der Exegese 2Kor 2,14–7,4 umspannt. In der Hypothese G. BORNKAMMs wird er als ‚erste Apologie‘ bezeichnet und als Teil eines eigenständigen Briefs verstanden, der noch vor dem Konflikt um den Zwischenbesuch verfasst wäre. Darin beschreibt und verteidigt Paulus seinen Aposteldienst. Auch bei der Annahme der Einheitlichkeit des kanonischen Briefes gilt dieser Abschnitt weithin als größere zusammenhängende Einheit. Ab 3,1 rückt das Leitwort διακονία κτλ. in den Fokus der Betrachtung. Paulus kennzeichnet das Apostolat als Dienst aus dem Geist (3,6–8), zur Gerechtigkeit und Herrlichkeit (3,9) und schließlich als begründet aus der erfahrenen Barmherzigkeit (4,1).1 Bei der Beschreibung der Herrlichkeit des Dienstes werden die Gemeinden als Empfehlungsschreiben der Apostel dargestellt (3,1–3), die Gottgegebenheit des Dienstes festgehalten (3,4–6) und ein Vergleich mit Mose gezogen (3,7–18). Sie erreicht ihren vorläufigen Höhepunkt und Abschluss in 4,1–6. Darin erklärt Paulus in 4,5 – vielleicht gegen anderslautende Vorwürfe aus der Gemeinde oder als Spitze gegen fremde Missionare –, dass allein Christus der Gegenstand apostolischer Verkündigung ist und die Apostel „Knechte der Gemeinde wegen Jesus“ (vgl. 1,24) sind. Mit 4,6 beschreibt er die Beauftragung der Apostel unmittelbar durch Gott in Verbindung mit Christus:2 „Der [Gott] hat in unseren Herzen geleuchtet zur Erleuchtung der Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes im Angesicht Christi.“ Dabei nimmt er mit zahlreichen Stichworten Bezug auf Gen 1,2f und evtl. Jes 9,1.3 Es bestehen viele Verbindungen zu griechischen Tex-

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2

3

Vgl. CHOI, Peristasenkataloge, 103. Nach dem hier untersuchten Textabschnitt erfolgt in 2Kor 5,18 die Charakterisierung der διακονία als Dienst der Versöhnung. Z. B. WOLFF, Brief, 87 und MARTIN, Corinthians, 80 beziehen 2Kor 4,6 auf eine Christophanie des Paulus bei seiner Bekehrung. Das setzt allerdings die Interpretation als schriftstellerischen Plural voraus, was nach THRALL, Epistle I, 316 in 4,6 zumindest in Spannung steht zum Plural von Possessivpronomen (‚unseren‘) und Substantiv (‚Herzen‘). Vgl. z. B. SCHMELLER, Brief I, 247 und GRÄßER, Brief I, 157f sowie für eine Festlegung auf den Bezug ausschließlich zu Gen 1,2f z. B. THRALL, Epistle I, 315.

148

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

ten unterschiedlicher Provenienz, ohne dass eine literarische Abhängigkeit besteht.4 Thematisch und sprachlich beginnt mit 4,7–5,10 ein größerer neuer Zusammenhang, in dem Paulus der glanzvollen Seite des Aposteldienstes eine leidvolle gegenüberstellt. Die Beschreibung dieser Seite des Aposteldienstes in christologisch geprägten Gegenüberstellungen von Leben und Tod nach 4,7–15 wird in 4,16–18 fortgesetzt durch die Gegensätze von äußerem und innerem Menschen sowie Sichtbarem und Unsichtbarem. Mit 5,1–10 wendet Paulus seine Betrachtung durch weitere Gegensätze (Haus- und Kleidungsmetaphorik) eher hin zu einer futurischen Eschatologie und beendet seine Ausführungen zu Leiderfahrungen im Aposteldienst vorläufig. Die Bedeutung der Zäsur zwischen diesen drei Teilen wird unterschiedlich bewertet, sodass manche Forschungsbeiträge entweder 4,7–15 und 4,16–18 zusammenziehen oder ihre Untersuchungen auf 4,7–12 beschränken.5 Für die hier verfolgte Fragestellung ist eine separate Betrachtung von 4,7–15 und 4,16–18 aus Gründen der Übersichtlichkeit und Differenziertheit weiterführend. Für eine Nicht-Behandlung von 5,1–10 spricht, dass darin der θλῖψις-Begriff nicht vorkommt. Die Ausführungen zeigen, dass Paulus die Strategien zum Umgang mit Leiderfahrungen in einem spezifischen Kontext verwendet. Die Beschreibung der leidvollen Seite des Aposteldienstes trifft ab 4,7 schroff auf die zuvor ausführliche Darstellung von dessen glanzvoller Seite. Der Apostel schafft damit gewissermaßen eine Balance, die eine Verwurzelung in der Verkündigung des leidenden irdischen Jesus und des verherrlichten Auferweckten hat. Eventuell liegt darin eine Spitze gegen andere Missionare, die das Leiden des Gekreuzigten weniger betonen. In 4,7 setzt Paulus mit dem Bild des in Tongefäßen verborgenen Schatzes neu ein, bringt einen kurzen Peristasenkatalog in 4,8f und bezeichnet in 4,10–12 die Apostel mehrfach als dem Tod übergeben.6 Anhand eines Psalmzitats in 4,13 bringt Paulus Glauben und Aposteldienst in einen Zusammenhang und zieht diese Linie bis zur Auferweckung von Christus, Aposteln und Gemeinde aus, um Dank und Herrlichkeit Gottes zu vermehren. Auffällig sind dabei die immer wieder beobachteten Berührungspunkte zum Pro4

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6

Vgl. SCHMELLER, Brief I, 247. Er nennt einen Bezug der Licht- bzw. Erleuchtungsmetaphorik z. B. zu Philo, Abr. 70; somn. 1,72.165; mut. 6, zu Texten aus Qumran, aber auch zu außerjüdischen Texten wie Lukian, Nigr. 4 in Anspielung auf Platons Höhlengleichnis in Platon, R. 514–518. Eine Abgrenzung von 2Kor 4,7–15 vertreten z. B. SCHMELLER, Brief I, 250ff; GRÄßER, Brief I, 160ff; THRALL, Epistle I, 320ff und WOLFF, Korintherbrief, 88ff. Den engen Zusammenhang von 4,7–18 als geschlossene Einheit behandeln z. B. WINDISCH, Korintherbrief, 141ff; BULTMANN, Brief, 112ff; MARTIN, Corinthians, 81ff und ROETZEL, Dying, 12–14. Die Zusammengehörigkeit der kleinen Abschnitte ist unbestritten, lediglich die Bewertung der Zäsuren fällt unterschiedlich aus. SCHMELLER, Brief I, 251 und CHOI, Peristasenkataloge, 103 sehen in 2Kor 4,7 den Neueinsatz wie schon in 3,4.12 und 4,1 durch eine „Habe-Formel“ ἔχω markiert.

§ 8 Einzelexegese von 2Kor 4,7–15

149

ömium (1,3–11).7 Soweit diese die Thematisierung und Bewältigung des Leidens betreffen, werden sie in der Untersuchung berücksichtigt.

8.2

Analyse des geschilderten Leidens

Im vorliegenden Abschnitt kommt das Verb θλίβω als Partizip passiv in 4,8 einmal vor, um den Peristasenkatalog einzuleiten. Weitere Beschreibungen des Leidens über den Katalog hinaus entstammen den semantischen Feldern ‚Tod‘ (θάνατος, θνήτος, νέκρωσις), und ‚Leben‘ (ζωή/ζάω). Besonders innerhalb des Peristasenkatalogs kommen weitere Begriffe bei der Ausführung zum Leiden vor. Vor der Leidanalyse ist kurz auf die besondere Form des Peristasenkatalogs einzugehen.

Exkurs: Peristasenkataloge Der Begriff Peristase (περίστασις) hat in hellenistischer Zeit eine doppelte Bedeutung entwickelt:8 Er bezeichnet sowohl ‚allgemeine Umstände‘ wie auch spezielle ‚negative Umstände, Gefahr, Schwierigkeiten‘.9 Seit R. BULTMANN bezeichnet man als ‚Peristasenkatalog‘ eine Aufzählung „von verschiedenen Fügungen des Geschicks“, in denen sich eine Person „als Überwinder rühmt.“10 Durch unterschiedliche Stilmittel ist diese Aufzählung dabei meistens in variierendem Maße kunstvoll ausgestaltet.11 In der Exegese haben sich als Kanon paulinischer Peristasenkataloge folgende Texte mit leicht variierender Abgrenzung etabliert: 1Kor 4,6–13; 2Kor 4,7–15; 6,3–10; 11,21b–30; 12,9b–10 und Röm 8,31–39.12 Außerdem wird teilweise Phil 4,10–13 dazu gezählt.13 Die traditionsgeschichtliche Herkunft

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10 11

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13

Vgl. die Einzelexegese zu 2Kor 1,3–11 in § 6.1. Vgl. CHOI, Peristasenkataloge, 105–107; GRÄßER, Schatz, 313; SCHRÖTER, Apostolat, 681; LAMBRECHT, Paul, 63 und LIM, Sufferings, 99f. Vgl. für einen Forschungsüberblick zu Peristasenkatalogen z. B. CHOI, Peristasenkataloge, 15–42 und etwas knapper WILLERT, Catalogues, 219–225. Vgl. FITZGERALD, Cracks, 34. Er zeichnet die Entwicklung des Begriffs auf den Seiten 33–46 in dessen quellensprachlichen Gebrauch nach und zeigt dabei v. a. den Zusammenhang zum stoischen Weisen, der sich in Leiden als idealer Philosoph profiliert. Vgl. auch CHOI, Peristasenkataloge, 11–13. BULTMANN, Stil, 19. Vgl. a. a. O., 71. Vgl. für eine Auflistung von „Kennzeichen des Sprachstils“ z. B. ZMIJEWSKI, Stil, 319f. Er nennt z. B. einen gedrängten und nominalen Stil, asyndetische Reihungen, ausweitende Formeln (z. B. πᾶς, πολύς, τίς, ἀεί), Antithetik (z. B. ἀλλ’οὐκ, δέ, καὶ μή), Wir-Stil, Vierer- und Dreier-Schemata, Steigerungen und weitere rhetorische Stilmittel. Diese Aufzählung bietet CHOI, Peristasenkataloge, 1. Die Abgrenzung der Texte wird teilweise leicht variiert, wie z. B. bei SCHRAGE, Leid, 141 und SCHIEFER FERRARI, Sprache, 2. So a. a. O., 150–164, bes. 163f. Vgl. EBNER, Leidenslisten, 331ff und WILLERT, Catalogues, 217.

150

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

der paulinischen Kataloge ist lange diskutiert worden. Ist diese in der griechischen Philosophie14 oder in der jüdischen Tradition15 zu suchen? Inzwischen setzt sich die Einsicht durch, dass die Frage nicht zugunsten einer Seite zu entscheiden ist. Denn zum einen können auch jüdische Kataloge bereits stoisch beeinflusst sein und zum anderen kennt Paulus wahrscheinlich Kataloge beiderlei Herkunft.16 Das zeigt sich neben inhaltlichen Parallelen anhand der paulinischen Verwendung eines bestimmten Peristasen-Vokabulars, das in beiden Traditionsbereichen zu finden ist.17 Die doppelte traditionsgeschichtliche Herkunft ist plausibel, da einerseits Paulus hellenistischer Jude war und er es andererseits gerade in Korinth mit vorwiegend hellenistisch und höchstens vereinzelt mit jüdisch sozialisierten Gemeindegliedern zu tun hatte. Eine weitere Forschungsfrage richtet sich darauf, ob die geschilderten Leiden als passiv erlitten oder aktiv gestaltet vorzustellen sind. Die Mehrheit geht inzwischen davon aus, dass die Peristasenkataloge eine aktive Konnotation haben.18 Denn das Ziel besonders der stoischen Kataloge ist der Erweis des idealen Weisen, dessen Kraftquelle und optimaler Charakter sich im Leiden zeigt. Ihn soll das Leiden daher nicht beeinträchtigen und nur seinen Körper, nicht aber seine Seele betreffen. Daher sind oft Tugendkataloge im Umfeld der Leidenslisten verortet oder mit ihnen verwoben (vgl. 2Kor 6,3– 10), um den Zusammenhang zum aktiven Bestehen der Peristasen zu zeigen.19 Allerdings haben die Kataloge auch eine passive Bedeutungsfacette, die sich in 2Kor 4,8f anhand der ausschließlich grammatisch passiven Formen ersehen lässt.20 Die Schmerzen werden gerade dadurch als Leiden erfahren, dass sie ungefragt über die Betroffenen kommen. Die Apostel haben dabei subjektiv nicht die Möglichkeit, sich dem Leiden durch Aufgabe ihres Dienstes zu entziehen: Nach 1Kor 9,16 sieht Paulus sich unter einem Zwang zur Verkündigung.

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Daraus werden v. a. Texte von Epiktet genannt, z. B. Diss. 1,11,33; 1,18,22; 2,19,24, aber auch andere, wie z. B. Plutarch, Stoic. abs. 1057d.e und Seneca, Epist. 41,4. Vgl. die frühen Forschungsbeiträge zu Peristasenkatalogen von R. BULTMANN, A. BONHÖFFER und A. FRIDRICHSEN sowie aus den 1970er/80er Jahren J. ZMIJEWSKI, Stil und J.T. FITZGERALD, Cracks. Aus dem frühjüdischen Kontext werden z. B. genannt: TestJos 1,4–7; 2Hen 66,6. Vgl. z. B. KLEINKNECHT, Gerechtfertigte, 258. Vgl. für dieses Fazit z. B. HODGSON, Paul, 60, den EBNER, Leidenslisten, 6 u. 14 als Vorbild seiner Untersuchung nennt. Vgl. CHOI, Peristasenkataloge, 41f und WILLERT, Catalogues, 225. Belege für Peristasenkataloge in Papyrusbriefen gibt es laut ARZT-GRABNER, Korinther, 301 bisher nicht. Vgl. CHOI, Peristasenkataloge, 13f für eine tabellarische Übersicht solcher terminologischen Überschneidungen paulinischer Kataloge mit „peristasenartigen“ Texten aus LXX und Stoa. So z. B. a. a. O., 257–259 unter Verweis auf SCHRAGE, Leid, 154–156. Vgl. auch BERGER, Formen, 286f und BULTMANN, Stil, 19 u. 71 unter Hinweis auf Röm 8,37 als Schluss des Peristasenkatalogs von Röm 8,35f: „Aber in allen diesen Dingen überwinden wir völlig!“ Vgl. z. B. BERGER, Formen, 286f. Vgl. für die Betonung einer passiven neben der aktiven Bedeutung auch V. LIPS, Leiden, 119f.

§ 8 Einzelexegese von 2Kor 4,7–15

151

Die Katalogform der Aufzählung suggeriert die Vollständigkeit, also eine Begegnung mit jedem erdenklichen Leiden.21 Die „verborgene Kraftquelle“,22 die sich im Leiden zeigt und mit deren Hilfe das Leiden zu überstehen ist, kann verschiedener Art sein: Eine Rückführung auf göttliche Kraft oder die menschliche Tugendhaftigkeit ist in profangriechischen, jüdischen und in christlichen Texten möglich.23 Durch die Stilisierung der Texte ist es jeweils schwer auszumachen, inwieweit konkrete leidverursachende Widerfahrnisse hinter den Schilderungen der Kataloge stehen. Oftmals ist von potentiellem und nicht tatsächlich aktuellem Leid die Rede (vgl. Röm 8,35; Epiktet, Diss. 4,7,13). Die Funktion der Peristasenkataloge ist in ihrem jeweiligen Kontext zu analysieren.

8.2.1

Betroffene

Paulus schreibt im vorliegenden Abschnitt durchgängig in der ersten Person Plural. Durch das Gegenüber zur Gemeinde in der zweiten Person Plural (4,12.14.15) ist wenig Spielraum für ein kommunikatives ‚Wir‘ gelassen, das die Gemeinde direkt mit einbezöge. Daraus folgt, dass sich das Leiden hier auf die apostolische „Mehrzahl von Berufsgenossen“24 bezieht.

8.2.2

Betroffenheitsebene

Das Leiden im vorliegenden Abschnitt wird zuerst durch die später näher zu untersuchende Metapher vom Schatz in Tongefäßen angesprochen (4,7). Konkreter wird es jedoch durch die antithetische Reihe des Peristasenkata21 22 23

24

Vgl. WOLTER, Brief I, 549. BERGER, Formen, 287. BERGER (ebd.) wendet sich ausdrücklich gegen die von SCHRAGE, Leid (vgl. auch BAUMEISTER, Anfänge, 167) eröffnete Alternative, die Befähigung zur Leidüberwindung durch Gott sei genuin christlich und die Überwindung durch menschliche innere Kraft sei ausschließlich pagan belegt. Diese vermeintliche Alternative findet sich auch schon bei BULTMANN, Stil, 80: Ihm zufolge wird die Leidüberwindung in der griechischen Philosophie „mittels einer Gedanken- (und Willens-)operation des Menschen vollzogen; bei Paulus durch eine Tat Gottes in der Geschichte.“ Doch die Stoiker können ihre Standhaftigkeit im Leiden auf Gott zurückführen. Vgl. z. B. die Überlieferung des Zeus-Hymnus des Kleantes bei Epiktet, Ench. 53 und dessen Fortführung in Diss. 4,4,34: „Führe mich aber, o Zeus, und du mich Pepromene! Willst du, dass ich nach Rom gehe? – Dann nach Rom! – Nach Gyara? – Dann nach Gyara! – Ins Gefängnis? – Dann ins Gefängnis!“ WINDISCH, Korintherbrief, 141. RISSI, Studien, 46f sieht den Schatz in ‚Tongefäßen‘ ebenfalls als Hinweis auf alle Apostel, reduziert jedoch „die Beschreibung der eigenen lebensgeschichtlichen Situation in 4,8ff“ ohne Begründung auf Paulus alleine. Ähnlich VOGEL, Commentatio, 42f. ZMIJEWSKI, Stil, 309 Anm. 551 hält sowohl den Bezug auf Paulus allein oder eine Gruppe für möglich, ähnlich LAMBRECHT, Paul, 50.

152

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

logs in 4,8f beschrieben, auf den sich wiederum auch die Todesaussagen in 4,10–12 zurück beziehen. Für die Beschreibung ist dabei jeweils das vordere Partizip der vier Antithesen entscheidend, da die Erfahrungen der Hinterglieder verneint werden und der Paulus-Gruppe gerade nicht widerfahren. In 4,8 beginnt die erste Antithese überschriftartig mit dem Partizip θλιβόμενος, was von der Geschichte des Begriffs her tendenziell für eine Verortung auf der somatisch-physischen Ebene spricht. Das nächste Vorderglied ἀπορέω (ratlos, in Schwierigkeiten sein) könnte auch auf die sozial-psychische Ebene gerichtet sein.25 Der Kontext von 4,7–15 und im Falle der ursprünglichen Zusammengehörigkeit von 2Kor 1–9 auch der Bezug zu 2Kor 1,8 legen jedoch auch hier die Verortung auf der physischen Ebene nahe. Möglicherweise ist die Betroffenheit im Sinne von Ratlosigkeit zusätzlich mitzudenken.26 Deutlicher auf die somatisch-physische Ebene sind die Vorderglieder der beiden folgenden Antithesen διώκω (verfolgen) und καταβάλλω (niederwerfen) bezogen.27 Gerade der letzte Begriff ist in seiner Bedeutung umstritten und kann sowohl dem allgemeinen Kontext des Ringkampfs, als auch der militärischen Sprache entstammen.28 Unabhängig von der konkreten traditionsgeschichtlichen Zuordnung verweist er auf Leiden der somatisch-physischen Ebene.

8.2.3

Leidursachen

Das Partizip von θλίβω am Beginn des kurzen Peristasenkatalogs weist anhand der bisherigen Verwendung im 2. Korintherbrief auf Handlungen hin. Der Begriff ἀπορέω bezeichnet in Gal 4,20 die Schwierigkeiten, vor die ihn die galatische Gemeinde durch ihre mögliche Zuwendung zu anderen Missionaren stellt (vgl. Gal 4,17f). Das legt einen Bezug zu Handlungen nahe.29 Die beiden letzten Begriffe διώκω und καταβάλλω beziehen sich nach dem oben Gesagten wahrscheinlich auf Handlungen.

25 26

27 28 29

Vgl. EBNER, Leidenslisten, 207f mit Verweis auf z. B. Gal 4,20; Mk 6,20 und Lk 24,4. Vgl. CHOI, Peristasenkataloge, 117f. BAUER, 195 verzeichnet als ursprüngliche Bedeutung „Mangel leiden“, dann aber „in Ungewißheit, ratlos, in Verlegenheit sein“. LIDDELL-SCOTT, 214 leiten aus der Ursprungsbedeutung „without means or resource“ alle anderen Bedeutungen ab, von denen hier besonders „to be at a loss, be in doubt, be puzzled“ zu nennen ist. Vgl. zum Begriff διώκω auch den Abschnitt in der Begriffsgeschichte § 4.5.5. Vgl. § 8.3.2.1. Vgl. CHOI, Peristasenkataloge, 117f. BAUER, 195 verzeichnet als ursprüngliche Bedeutung „Mangel leiden“, dann aber „in Ungewißheit, ratlos, in Verlegenheit sein“. LIDDELL-SCOTT, 214 leiten aus der Ursprungsbedeutung „without means or resource“ alle anderen Bedeutungen ab, von denen hier besonders „to be at a loss, be in doubt, be puzzled“ zu nennen ist.

§ 8 Einzelexegese von 2Kor 4,7–15

8.2.4

153

Leidverantwortliche

Paulus beschreibt hier Leiden, das der Wir-Gruppe von außerhalb des Beziehungsraumes von Apostel und Gemeinde zugefügt worden ist – und wahrscheinlich immer wieder zugefügt wird. Das wird einerseits deutlich, weil keine Verursachenden für das Leiden genannt werden. Andererseits kommt die Ihr-Gruppe als Bezeichnung der Gemeinde in 4,10.12 nicht als Verursachende des Leidens in den Blick, sondern wie in 1,6 nur als Zielpunkt der positiven Wirkung des Leidens der Paulus-Gruppe.

8.3

Leidbewältigungsstrategien für die Paulus-Gruppe

Die im Folgenden darzustellenden Strategien zur Leidbewältigung beziehen sich sämtlich auf das Leiden der Paulus-Gruppe. Dabei ist zu beachten, dass trotz des Bezugs auf Leiden im Aposteldienst die Verbindung zum Leiden von Christusglaubenden insgesamt nie aufgegeben wird.30 Der von Paulus geschilderte Umgang mit dem Leiden kann als Vorbild für Christusglaubende im Leiden gelten. Das legt sich durch den Wechsel zum allgemeinen Plural in 2Kor 5,10 nahe, wie auch durch die erwähnte Ähnlichkeit zum Proömium, in dem ebenfalls das Leiden von Paulus und Gemeinde thematisiert ist.

8.3.1

Positive Wirkung des Leidens als Hinweis auf die Kraft Gottes (4,7)

Um die anhand von 2Kor 4,7 beschriebene Strategie zur Leidbewältigung darstellen zu können, ist eine Klärung der Metapher vom Schatz in Tongefäßen notwendig. Denn das Bild ist trotz verschiedener Vorläufer nicht in der von Paulus verwendeten Weise belegt, sondern der Apostel verknüpft hier zwei in der Antike bekannte Motive miteinander.31 Das paulinische Hapaxlegomenon θησαυρός bezeichnet in anderen Texten entweder einen materiellen Schatz oder im übertragenen Sinne einen Schatz der Erkenntnis oder im Himmel.32 An der vorliegenden Stelle hängt die Be30 31

32

Vgl. LAMBRECHT, Nekrōsis, 331f und DERS., Paul, 63f. Vgl. für eine ausführliche Untersuchung des Bildes: CHOI, Peristasenkataloge, 107–114 und SCHMELLER, Brief I, 254 mit Verweis auf Epiktet, Diss. 3,9,18. Nach KLEINKNECHT, Gerechtfertigte, 257 ist die Verknüpfung vorbereitet in SapSal 7,1.12–14; 4Esr 4,11 (unvergänglich Göttliches in vergänglichem Menschen) und 7,88f. Vgl. BAUER, 734f. Einen Schatz im eigentlichen materiellen Sinne bezeichnen Mt 6,19–21; 13,44; Lk 12,34; Hebr 11,26, im übertragenen Sinn einen Schatz im Himmel Mt 6,20; Lk 12,33; Mt 19,21;

154

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

deutung der Schatzmetaphorik am Bezug des nachgestellten Demonstrativpronomens τοῦτον.33 Bezieht man es auf den direkten Kontext, dann wäre der Schatz mit 2Kor 4,6 als „Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes auf dem Angesicht Christi“ zu bestimmen. Wahrscheinlicher ist jedoch der Bezug auf den weiteren Kontext ab 3,4, womit der Dienst des Apostels insgesamt gemeint ist, den Paulus seit jener Stelle verteidigt. Dabei kann ein Rückgriff auf das Demonstrativpronomen in 4,1 vorliegen: τὴν διακονίαν ταύτην.34 Textpragmatisch hat das Bild vom Schatz in Tongefäßen die Funktion, von der bis dahin beschriebenen Herrlichkeit des Dienstes auf dessen leidvolle Seite überzuleiten. Das Tongefäß (ὀστράκινος σκεῦος) ist in der Antike geläufig als Metapher für den Menschen an sich. In der LXX kann Gott als Schöpfer mit dem Bild des Töpfers verbunden werden, der die Menschen wie Tongefäße herstellt.35 Der Mensch wird damit als zerbrechlich und im Gegensatz zu Gott als schwach beschrieben. Gleiches ist in der griechischen und hellenistischen Literatur belegt. Nach der dort gebräuchlichen dualistischen Anthropologie besagt die Metapher häufig, dass die Seele im zerbrechlichen Leib beheimatet ist.36 Außerdem wird in einer Beschreibung des Sokrates gezeigt, dass sich im Inneren einer hässlichen Person etwas Gottgleiches verbergen kann.37 Interpretationen, nach denen Paulus hier Bezug zu einer gnostischen

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36

37

Mk 10,21; Lk 18,2. TestAss 1,9 kennt das Herz als Schatzkammer von nicht weltlichen Dingen. Kol 2,3 nennt Christus als den, in „dem alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis verborgen“ sind. Vgl. SCHMELLER, Brief I, 255, der anführt, in LXX und frühjüdischen Schriften seien oft Weisheit oder Erkenntnis als Schatz bezeichnet: Spr 2,4; Sir 1,25; 20,30; Bar 3,15; 3Bar 44,14 sowie Platon, Phlb. 15d; Xenophon, Mem. 1,6,15 und Philo, cher. 48; congr. 127. Vgl. für einen Überblick der Deutungsmöglichkeiten des Motives θεσαυρός und des Bezugs von „τοῦτον“ SCHMELLER, Brief I, 254f. Vgl. BYRNES, Conformation, 48. Für den Bezug zum apostolischen Dienst verweist SCHMELLER, Brief I, 154 auf BULTMANN, Brief 114; KLEINKNECHT, Gerechtfertigte, 272; KRUG, Kraft, 201 und WOLFF, Brief, 91. Vgl. CHOI, Peristasenkataloge, 110 und SCHMELLER, Brief I, 255f. Der Mensch als zerbrechliches Gefäß (σκεῦος, ἀγγεῖον oder lat. vas) ist in Ψ 31,13 und Jer 22,28 belegt, Gott als Töpfer, der den Mensch aus Ton herstellt in Gen 2,7; Jes 64,7f; 29,16; Jer 18,1–6; Klgl 4,2. WINDISCH, Korintherbrief, 143 weist darauf hin, dass irdene Gefäße in der Tora oft Tempelgefäße sind: Lev 6,28; 11,33; 14,50. In Lev 14,5; Num 5,17 werden die Synonyme ἄγγος/ἀγγεῖον ὀστράκινον verwendet. Diese müssen rein sein, sonst werden sie verworfen und zerschlagen. Gleiches gilt nach SAVAGE, Power, 165 für qumranische Texte, wie z. B. 1QS 11,22; 1QH 9,21f; 12,29 u.ö. Griechisch-römische Parallelen für den Leib als zerbrechliches Gefäß der Seele sind nach WINDISCH, Korintherbrief, 142 z. B. Cicero, Tusc. 1,22,52; Corp. Herm. 10,17; Philo, migr. 193; det. 170; somn. 1,26; Seneca, Marc. 11,3. Vgl. SCHMELLER, Brief I, 255f. Vgl. Platon, Smp. 215b.c. Darauf verweist BETZ, Concept, 334. Vgl. MARTIN, Corinthians, 85 für den Hinweis auf den babylonischen Talmud, Traktat Taanith 7a.b: Wie sich Getränke „nur in den einfachsten Gefäßen erhalten, so erhält sich die Gesetzeslehre nur bei dem, der demütig ist.“ Weiter ruft eine Königstochter über einen hässlichen Rabbi aus: „Ei, herrliche Weisheit in abscheulichem Gefäss [sic]“, worauf dieser sie anspricht als: „Ei, Tochter dessen, der Wein in Erdgefäßen verwahrt“ (Übersetzung L. Goldschmidt). Danach wird gesagt, dass Wein in Silber- und Goldgefäßen verdirbt.

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Anthropologie der Gegner nimmt38 oder auf Ringkämpfer anspielt, die durch das Einreiben mit Öl und Staub wie Tongefäße aussehen,39 haben sich nicht plausibel machen lassen. In 1Thess 4,4 bezeichnet σκεῦος wahrscheinlich den eigenen Leib, während der Begriff in 1Petr 3,7 – ergänzt durch γυναικός – den Leib von Frauen bezeichnet.40 Im Diskurs von Gottes Ratschluss in Röm 9,21–23 sind ganze Personengruppen Gefäße des Heils oder des Zorns. Dabei greift Paulus zur Beschreibung der Souveränität Gottes auf das Töpfer-Bild zurück.41 Ähnlichkeiten bestehen zu Apg 9,15, wo Paulus als auserwähltes Gefäß (σκεῦος ἐκλογῆς) bezeichnet wird. In allen genannten Belegen steht σκεῦος also für Personen, sodass Paulus den Begriff wie die übrige antike griechische Literatur verwendet. Durch den Zusatz ὀστράκινος (irden, aus Ton gemacht) wird das Gefäß weiter charakterisiert als zerbrechlich (Jes 30,14; Jer 19,11; Klgl 4,2), entbehrlich (Lev 11,33) und nachpaulinsch sogar unehrenhaft (ἀτιμία, 2Tim 2,20).42 Aus diesen Erwägungen ist also zu schließen, dass das Bild vom Schatz in Tongefäßen sich auf den Aposteldienst in den Aposteln bezieht. Als das Entscheidende wird also der Dienst selbst dargestellt, während die Apostel als Tongefäße zerbrechlich und sogar entbehrlich sind. Diese Zerbrechlichkeit macht sie anfällig für leidverursachende Widerfahrnisse, die ihnen in ihrem Dienst begegnen. Interpretiert man die pluralische Formulierung als echten Plural und bezieht diesen auf die gesamte Paulus-Gruppe, dann ist hier wahrscheinlich nicht die paulinische Krankheit oder Gebrechlichkeit gemeint, sondern die Erfahrung von Verfolgung, Anfeindung und Strapazen im apostolischen Dienst.43 Ein Bezug auf die Vergänglichkeit des Menschen ist bei Berücksichtigung des Kontextes nur denkbar als Voraussetzung für die ab 4,8f geschilderten Erfahrungen des Leidens.44 Das Bild des Schatzes in Tongefäßen lässt sich also im Duktus des Gesamt38 39 40 41

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So SCHMITHALS, Gnosis, 150–152 und kritisch dazu CHOI, Peristasenkataloge, 110. So SPICQ, L’image, 216f und kritisch dazu SAVAGE, Power, 165. Vgl. ELLIOT, Peter, 578f für beide Stellen und MÜLLER, Brief, 172 für 1Thess 4,4. Vgl. Apk 2,27, wo das Gefäß-Bild im Zusammenhang der Vernichtung von Fremdvölkern steht. Dass auch Gefäße aus anderem Material in die Metaphorik einbezogen werden können, zeigen z. B. 2Tim 2,20f (goldene, silberne, hölzerne und irdene Gefäße) sowie Plutarch, Caes. 48,4. Vgl. GRÄßER, Brief I, 162 für die Hinweise auf die Zerbrechlichkeit und u. a. WINDISCH, Korintherbrief, 142 und HARRIS, Epistle, 340 für den Hinweis auf die Entbehrlichkeit. In Lev 11,33 heißt es in den Reinheitsgesetzen über verunreinigte Gefäße, dass sie mit Wasser auszuwaschen seien, während ein verunreinigtes Tongefäße zu zerbrechen sei. Alle genannten Stellen aus der LXX verwenden den Begriff ἄγγος/ἀγγεῖον. Gegen KLAUCK, 2. Korintherbrief, 45 für den die Metapher mit Verweis auf Gen 2,7; Jes 64,7 und Seneca, Marc. 11,3 ein „Hinweis auf die Hinfälligkeit des Menschen“ ist. Vgl. GRÄßER, Schatz, 307. Vgl. KRUG, Kraft, 52–56 in seiner Untersuchung des Begriffs ἀσθένεια κτλ. Die Selbstbezeichnung als Tongefäß wäre dann wie die Schwachheit die Bedingung der Möglichkeit von Leiden.

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Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

briefes weiterdenken. Da Paulus sich gegen Fremdapostel mit Empfehlungsbriefen abgrenzt, könnte er diese hier implizit als edle Gefäße darstellen (vgl. 3,2f).45 Im Vergleich stellt sich für die korinthische Gemeinde die Frage, warum die Paulus-Gruppe von Leiden gezeichnet ist, wenn sie gleichzeitig behauptet, dass ihr Dienst mit überschwänglicher Herrlichkeit verbunden sei (3,7–11). Durch das Bild vom Schatz in Tongefäßen ordnet Paulus den in 4,8f beschriebenen Leiden eine positive Wirkung zu und verweist die Gemeinde auf eine nicht unmittelbar einsichtige Tiefenbedeutung. Das Ziel dieser Wirkung wird durch den mit ἵνα eingeleiteten Nebensatz explizit ausgeführt. Die in der Paulus-Gruppe wirksame Kraft (δύναμις) im Aposteldienst soll als Kraft Gottes erwiesen werden.46 Die Zusammengehörigkeit von Kraft zu Gott ist dabei antikes Gemeinwissen.47 Weder andere noch die Paulus-Gruppe selbst sollen sie fälschlicherweise für ihre eigene halten, also das Gefäß mit dem Inhalt verwechseln. Diese Verwechslungsgefahr wird durch das Leiden der Apostel ausgeschlossen – denn wäre die Kraft ihre eigene, dann wären sie nicht dem Leiden ausgesetzt. Das erinnert an 1,8–10, wo das Leiden der Paulus-Gruppe eine ganz ähnliche Wirkung erzielt, da es zu Vertrauen auf Gott statt auf die eigene Kraft führen soll.48 Das Handeln Gottes an den Schwachen hat dabei zahlreiche Vorbilder in der jüdischen Tradition.49 Das göttliche Handeln durch schwache Menschen erinnert an ausgewählte Einzelne aus der jüdischen Tradition wie z. B. die Propheten, Moses, Gideon oder David.50 Aus dieser Strategie zur Leidbewältigung kann jedoch nicht auf die Notwendigkeit des apostolischen Leidens geschlossen werden.51 Vielmehr zeigt sich anhand der Metapher vom Schatz in Tongefäßen die Möglichkeit des Leidens, der im Falle der Aktualisierung durch die genannte Leidbewälti45

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Vgl. die paulinischen Verweise auf diese Fremdapostel z. B. in 2Kor 2,17; 10,12ff; 11,5–15. Diese beeindrucken die Korinther durch Beweise ihrer Kraft. Vgl. z. B. GRÄßER, Brief I, 162f und LAMBRECHT, Paul, 59, der Funktionalisierungen („function“) des Leidens nennt. Vgl. auch 2Kor 1,9, wo Paulus eine ähnliche positive Wirkungszuschreibung in anderen Worten vornimmt und 3,5, wo die Apostel nicht aus sich selbst heraus zum Dienst geeignet sind (ἱκανός), sondern die Eignung (ἡ ἱκανότης) von Gott kommt. Vgl. den Ausblick auf 2Kor 10–13 bes. in § 13.2. KRUG, Kraft, 40f hält in seiner begriffsgeschichtlichen Darstellung des Begriffs fest, dass es für antikes Denken selbstverständlich ist, dass „Dynamis bei der göttlichen Instanz in einer besonderen Intensität vorhanden“ sein muss. Das Verhältnis von göttlicher δύναμις und menschlicher ἀσθένεια ist auch in 2Kor 12,9f; 13,4f Thema. Vgl. § 6.3.3. Vgl. KLEINKNECHT, Gerechtfertigte, 299. Er bezeichnet das Handeln Gottes in Stärke an den Schwachen als zentralen Bestandteil der Tradition vom leidenden Gerechten: Ψ 6,2f; 30,10f.16–22; 58,10f; 62,3f. Dabei stünden häufig menschliche ἀσθένεια und θλῖψις den göttlichen ἔλεος, χάρις, δύναμις, δικαιοσύνη und σωτηρία gegenüber. Vgl. LIM, Suffering, 103. Die Deutungen gehen auseinander: Z. B. THRALL, Epistle I, 324f und GRÄßER, Schatz, 307 halten das Leiden des Apostels für notwendig, während z. B. THEOBALD, Gnade, 213 und SCHMELLER, Brief I, 256 nicht davon ausgehen, dass „Gottes Kraft nur in menschlicher Schwäche wirksam werden könnte“ (Hervorhebung im Original).

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157

gungsstrategie begegnet wird. Dabei werden die leidverursachenden Widerfahrnisse nicht beendet, sondern bleiben bestehen. Ganz ähnlich wie in 2Kor 1,9 scheint ein Zusammenhang zur paulinischen Rechtfertigungstheologie naheliegend: Auch dort ist es entscheidend, dass sich Menschen auf das Handeln Gottes verlassen müssen, ohne selbst etwas beitragen zu können.52 Während die Metapher für Paulus leidbewältigenden Charakter hat, richtet sie sich im Zuge der Erklärung und Verteidigung seines Apostolats als apologetisches Element an die Gemeinde und gegen die Gegner.

8.3.2

Peristasenkatalog (4,8f)

In 2Kor 4,8f verwendet Paulus einen antithetischen Peristasenkatalog, um das Leiden zu schildern, das den Aposteln in ihrem Dienst widerfährt. Dieser Katalog ist als Konkretisierung der Metapher vom ‚Schatz in Tongefäßen‘ zu verstehen.53 Die Antithesen haben die rhetorische Form der correctio nach dem Schema: X, aber nicht Y.54 Dabei ist vorausgesetzt, dass Y eine Steigerung von X ist (schlimm, aber nicht schlimmer). Auf 4,8f angewandt hat das zu der Auslegung geführt, dass Paulus zwar Leiden erfahre, aber doch vor „dem Äußersten, dem Würgen und dem Tode“55 bewahrt bliebe. Dagegen regt sich Widerspruch:56 Erstens wäre das spätere Martyrium des Paulus ein Gegenbeweis für eine so verstandene Hoffnung auf Rettung. Zweitens wäre es christologisch problematisch, dass nach 4,10–11a das Leben Jesu an der PaulusGruppe offenbart wird, wenn der Peristasenkatalog lediglich eine Rettung vor dem Äußersten bezeichnet. Die in Christus offenbarte Kraft wäre begrenzt, wenn sie sich nicht schon im Leiden selbst, sondern erst in der Bewahrung zeigen würde.57 Das wäre eine für Paulus ungewöhnliche räumliche und zeitliche Einschränkung: Die Kraft Christi wäre demnach nicht am Ort des Leidens (sondern außerhalb) und zur Zeit des Leidens (sondern danach) wirksam. Drittens hat es in der Auslegung immer wieder Schwierigkeiten bereitet, dass nicht alle Verben den gleichen Motiv-Hintergrund haben.58 Denn nicht alle Vorder- und Hinterglieder der Antithesen sind semantisch 52 53 54 55 56 57

58

Vgl. § 6.3.3 und die dortigen Belege aus der Sekundärliteratur. Vgl. z. B. RISSI, Studien, 47. Vgl. z. B. EBNER, Leidenslisten, 213f; SCHMELLER, Brief I, 257 und HOTZE, Paradoxien, 269f. WINDISCH, Korintherbrief, 143. So aber z. B. auch KLEINKNECHT, Gerechtfertigte, 259. Vgl. BULTMANN, Brief, 116f; HOTZE, Paradoxien, 269f und SCHRÖTER, Apostolat, 684–689. BULTMANN, Brief, 116: „Jesus fand doch auch angesichts des Kreuzes nicht einen Ausweg!“ Darauf verweist auch SCHRÖTER, Apostolat, 684. Vgl. THEOBALD, Gnade, 215. EBNER, Leidenslisten, 208f mit Verweis auf SPICQ, L‘image, der alle Verben im Bereich des Ringkampfes verorten möchte, und KLEINKNECHT, Gerechtfertigte, der durchweg das Motiv des leidenden Gerechten sieht.

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Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

unterscheidbar und überhaupt besteht nicht in allen vier Fällen das gleiche Verhältnis zwischen den Gegensatzpaaren. Die Antithesen sind also nur der rhetorischen Form nach, nicht aber ihrem semantischen Gehalt nach antithetisch.59 Dieser Befund macht einen genaueren Blick auf die einzelnen Antithesen des Katalogs nötig.

8.3.2.1

Die Glieder der Antithesen

In der ersten Antithese sind die passiven Partizipien θλιβόμενοι und στενοχωρούμενοι gegenübergestellt. In 2Kor 6,4; Röm 2,9 und 8,35 verwendet Paulus beide Verben zusammen ohne erkennbaren Unterschied. Wie die begriffsgeschichtliche Gegenüberstellung in § 4.5.4 gezeigt hat, begegnen beide Begriffe auch in der LXX und in profangriechischer Literatur als Paar. Die Verben sind den dort dargestellten Einsichten zufolge synonym gebraucht und die Bedeutung ist paradox zu verstehen als X, aber nicht X. Bei der zweiten Antithese liegt von der Simplex-Form ἀπορέομαι zum Kompositum ἐξαπορέομαι lexikalisch eine Steigerung vor, die häufig wiedergegeben wird durch ‚als Ratlose, aber nicht Verzweifelte‘.60 Es ist auffällig, dass Paulus in 2Kor 1,8 berichtet, das hier verneinte ἐξαπορέομαι in seiner Bedrängnis in Asien doch erlebt zu haben.61 Geht man von der Einheitlichkeit des 2. Korintherbriefs aus, könnte Paulus in 2Kor 4,8f seine in 1,8 geschilderte Bedrängnis in Asien womöglich rückblickend nicht mehr als Situation des ἐξαπορέομαι ansehen. 4,8 wäre die nachträgliche Deutung seiner Erfahrung: Er dachte zwar in der akuten Situation, er müsse völlig verzweifeln, doch die Rettung durch Gott in 1,8–11 erwies das Gegenteil (4,8: οὐκ ἐξαπορέομαι). Folgt man der Teilungshypothese nach G. BORNKAMM ist der Widerspruch chronologisch lösbar: Erst nach der Abfassung der ‚ersten Apologie‘ (2,14–7,4) hätte Paulus die Bedrängnis in Asien erlebt und bei der späteren Abfassung des ‚Versöhnungsbriefs‘ (1,1–2,13; 7,5–16) entgegen früherer Erwartung als tatsächlich erlebte völlige Verzweiflung beschrieben. Für beide möglichen Erklärungen ist innerhalb der hier verfolgten Fragestellung entscheidend, dass eine lexikalische Steigerung zwischen Vorder59

60 61

Eine stoische Parallele mit ‚echten‘ Antithesen ist z. B. Epiktet, Diss. 2,19,24: „Zeigt mir jemanden, der krank ist und dabei glücklich, gefährdet und dabei glücklich, sterbend und dabei glücklich, verbannt und dabei glücklich, in schlechtem Ruf und dabei glücklich.“ So z. B. HOTZE, Paradoxien, 258. Das hat bereits WINDISCH, Korintherbrief, 143 durch zwei verschiedene Blickwinkel zu lösen versucht: In 2Kor 1,8ff sei das ἐξαπορέομαι „subjektive“ Einschätzung des Paulus in der konkreten Notlage. Die Aussage in 4,8 gelte jedoch „objektiv“ und in diesem Sinne auch für 1,8ff. BULTMANN, Brief, 116f löst den Widerspruch unter Einbezug von theologischer und empirischer Ebene.

§ 8 Einzelexegese von 2Kor 4,7–15

159

und Hinterglied vorliegt.62 Vergleicht man die jeweils einzige andere paulinische Belegstelle für die Begriffe, so lässt sich auch semantisch eine Unterscheidung ausmachen. Denn in Gal 4,20 verwendet Paulus den Begriff ἀπορέω für seine Verzweiflung an der galatischen Gemeinde, während in 1,8 ἐξαπορέω eine Lebensgefahr beschreibt. Insofern kann zwischen Vorderund Hinterglied von einer Steigerung ausgegangen werden.63 So lässt sich die zweite Antithese wie folgt schematisieren: X, aber nicht schlimmeres X. Die letzten beiden Antithesen enthalten jeweils Begriffe, deren Verhältnis zueinander nicht eindeutig ist. Im Vorderglied stehen mit διώκω (verfolgen) und καταβάλλω (niederwerfen) zwei Begriffe, denen auf empirischer Ebene eindeutige Erfahrungen physischer Aggression zugewiesen werden können. Dabei wird der Hintergrund von καταβάλλω verschieden beurteilt und sowohl auf den Kontext des Ringkampfs wie auch auf einen militärischen Zusammenhang zurückgeführt.64 Beide Fälle verweisen auf die somatisch-physischen Ebene. Im jeweiligen Hinterglied der dritten und vierten Antithese stehen mit ἐγκαταλείπω (verlassen) und ἀπόλλυμι (zugrunde gehen, umkommen) Begriffe, die keine Synonyme, Antonyme oder Steigerungen ihrer jeweiligen Vorderglieder sind. Vielmehr werden sie sonst zur theologischen Deutung von Erfahrungen verwendet.65 Hätte Paulus eine Rettung vor äußerster Gefahr beschreiben wollen, wäre als Steigerung zu διώκω z. B. der Begriff θανατόω (töten) zu erwarten. Der Begriff ἐγκαταλείπω dagegen steht z. B. in Dtn 4,31; Jes 41,17; Ψ 15,10; 21,2; 37,22 in Zusammenhang mit der nicht ausbleibenden Hilfe Gottes, in TestJos 2,4 in einem Peristasenkatalog und in Mt 27,46 als Ausruf Jesu am Kreuz.66 Es liegt also nahe, dass Paulus hier statt

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65 66

Auch wenn laut ARZT-GRABNER, Korinther, 304f in den Papyri kein semantischer Unterschied zwischen ἀπορέω und ἐξαπορέω festzustellen ist, weist doch der paulinische Befund in eine andere Richtung. Paulus nutze das Mittel der lexikalischen Steigerung wie auch in 1Kor 13,12 von γινώσκω zu ἐπιγινώσκω. Vgl. auch CHOI, Peristasenkataloge, 118, die auf Paronomasien z. B. in 2Kor 1,13; 6,10; 7,10; 10,12 und bei Philo, somn. 1,60 und Abr. 232 hinweist. Vgl. EBNER, Leidenslisten, 211; CHOI, Peristasenkataloge, 117f und SCHRÖTER, Apostolat, 686. Vgl. für die Deutung im Zusammenhang des Ringkampfs als zu Boden Werfen des Gegners z. B. WINDISCH, Korintherbrief, 144 mit Verweis auf z. B. Plutarch, Sept. sap. conv. 638d; Diogenes Laertius 6,2,62 und für den militärischen Zusammenhang 2Kön 19,7; Jer 19,7; Ez 23,25; 1Makk 4,33. Vgl. für einen Überblick EBNER, Leidenslisten, 205–209. Vgl. ARZT-GRABNER, Korinther, 306 für Papyri-Belege, in denen καταβάλλω eine Prügelattacke als kriminellen Akt bezeichnet. Vgl. EBNER, Leidenslisten, 211f und SCHRÖTER, Apostolat, 687f. Vgl. auch HAFEMANN, Corinthians, 184 der mit Verweis auf SAVAGE, Power, 169 weitere Stellen anführt. In Dtn 31,17 zürnt Gott am Tag des Herrn und wird in diesem Zusammenhang sein Volk verlassen (καταλείπω) und sein Angesicht abwenden. In den Papyri ist laut ARZT-GRABNER, Korinther, 305 die Verwendung allgemeiner, sodass es das Verlassen eines Arbeitsplatzes, eines Stücks Land, einer Tätigkeit etc. bezeichnen kann. FITZGERALD, Paul, 338f nennt Belege im Freundschaftskontext, wo z. B. in Cicero, Lael. 7,23 ein Freund den anderen nicht verlässt.

160

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

einer faktischen Beurteilung des Leidens der Apostel-Gruppe ein bereits eingeführtes Bild der Hoffnung auf Gottes rettendes Eingreifen aufgreift. Gleiches gilt für den Begriff ἀπόλλυμι. Diesen gebraucht Paulus sonst nicht im Zusammenhang mit somatisch-physischem Leiden, sondern für die eschatologische Verlorenheit der Ungläubigen (2Kor 2,15; 4,3, vgl. Dtn 4,26). Die Verben beider Hinterglieder stehen im Partizip Passiv und haben Gott als logisches Subjekt. Dagegen sind für die Leiderfahrungen der Vorderglieder menschliche Subjekte anzunehmen, da sie auch sonst nicht für Gott gebraucht werden. Es ergibt sich das Schema: X durch Menschen, aber nicht Y durch Gott.

8.3.2.2

Bewahrung in Peristasen

Aus den Klärungen zum Verständnis von Form und Inhalt des Peristasenkatalogs in 4,8f ergibt sich für die Leidbewältigung Folgendes: Zunächst sind die Vorder- und Hinterglieder als gleichzeitig beschrieben. Es gibt kein Nacheinander von Leiden und Rettung. Überhaupt thematisiert Paulus hier kein mögliches Ende der leidverursachenden Widerfahrnisse, sondern sie bleiben bestehen. Das wird deutlich anhand des räumlichen ἐν πάντι in 4,8, der zeitlichen Entgrenzung πάντοτε/ἀεί in 4,9f sowie des iterativen Aspekts der Partizipien.67 Paulus geht es darum, die göttliche Wirkung gerade im Leiden zu beschreiben, genau wie bereits in 4,7 der Schatz nicht die Tongefäße überwindet, sondern gerade darin zu finden ist.68 Die im Hintergrund stehende Leidbewältigungsstrategie wird erst auf einer anderen Ebene verständlich. In oberflächlicher Betrachtung sind – wie im Falle des Tongefäßes – nur die Leiden der Apostel wahrnehmbar. Im Horizont des Christusglaubens erschließt sich jedoch für die Wir-Gruppe die eigene Bewahrung als Wirkung der in 4,7 beschriebenen Gotteskraft nicht außerhalb des Leidens sondern darin. Die Bewahrung durch Gott ist in den Hintergliedern dargestellt und auf der Ebene des Christusglaubens verortet. Die Wirkung Gottes besteht darin, dass sich das kontinuierliche Leiden der Apostel gemäß den Vordergliedern nicht – wie es zu erwarten wäre – in der Wirkung der Hinterglieder fortsetzt. Dabei kann nicht trennscharf zwischen den Alternativen äußere vs. innere Perspektive69 oder menschliche vs. göttli-

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Vgl. GRÄßER, Brief I, 165. Vgl. a. a. O., 164: Paulus beschreibt die Wirkung der göttlichen Gnade gerade im Leiden. Vgl. für eine innere und äußere Ebene im Peristasenkatalog KRUG, Kraft, 212–214 und ähnlich schon WINDISCH, Korintherbrief, 142f.

§ 8 Einzelexegese von 2Kor 4,7–15

161

che Perspektive70 unterschieden werden. Die Bedrängnis führt in 4,8f wider Erwarten nicht zu Beengtsein, die Ratlosigkeit nicht zu Verzweiflung, die Verfolgung nicht zu Gottverlassenheit und das Niederwerfen nicht zum eschatologischen Verlorengehen. Damit ist die Bewahrung Gottes in verschiedenen Akzentuierungen beschrieben, die Paulus wahrscheinlich aus vergangenen Erfahrungen heraus ex eventu formuliert (vgl. 1Kor 10,13) und von daher verallgemeinert. Obwohl die Aufhebung des Leidens in der dritten Antithese zumindest erhofft werden kann, richtet sich der Katalog gerade auf das nicht beendete Leiden.71 Es wird dadurch nicht verharmlost.72 Vielmehr wird ihm ausschließlich in der inneren/göttlichen Perspektive sein Charakter als leidvolles Widerfahrnis genommen. Darin liegt ein Bezug zur Gabe der Standhaftigkeit an die Gemeinde in 2Kor 1,6. Das wird in 4,10–12 christologisch begründet.

8.3.3

Parallelisierung zu Sterben und Leben Jesu (4,10f)

Paulus verwendet den untersuchten Peristasenkatalog von 2Kor 4,8f nicht isoliert, sondern im konkreten Zusammenhang zu 4,10f, wobei beide Abschnitte jeweils zum gegenseitigen Verständnis beitragen. Denn liest man die Antithesen unter Berücksichtigung von 4,10f, dann wird eine Verbindung der im Leiden bewahrten Apostel mit der Christologie deutlich: Paulus stellt eine Parallele her zwischen dem Leiden der Apostel und dem Sterben Jesu. Diese geht weiter als bei der Parallele zu den Leiden Christi in 1,5. Die Parallelisierung von Aposteln und Jesus wird über das Sterben Jesu hinaus auf das Leben Jesu ausgedehnt. Das wird durch den fast identischen Aufbau von 4,10f noch unterstützt, wie die folgende Tabelle zeigt.73

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Vgl. für eine göttliche und menschliche Perspektive im Peristasenkatalog HOTZE, Paradoxien, 269–271; EBNER, Leidenslisten, 232; SCHRÖTER, Apostolat, 688 und BULTMANN, Brief, 117. Nach KRUG, Kraft, 215f weist der Hintergrund von ἐγκαταλείπω aus der LXX auf die konkrete Hilfe Gottes hin. Dagegen ist es für HAFEMANN, Corinthians, 183f in diesem Äon vor der Zeitenwende gerade „endurance in the midst of adversity, not immediate, miraculous deliverance from it, that reveals most profoundly the power of God.“ Das ἐν πάντι spricht gegen die Verharmlosung bei BULTMANN, Brief, 116: „[I]n allem Schlimmen geht es uns letztlich und eigentlich nicht schlimm.“ Nein! Das Leiden bleibt schmerzvoll. Vgl. HOTZE, Paradoxien, 271–273.

162

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

Tod – Jesus Tod – Apostel Leben – Jesus Leben – Apostel

4,10 παντότε τὴν νέκρωσιν τοῦ Ἰησοῦ ἐν τῷ σώματι περιφέροντες, ἵνα καὶ ἡ ζωὴ τοῦ Ἰησοῦ ἐν τῷ σώματι ἡμῶν φανερωθῇ.

4,11 ἀεὶ γὰρ ἡμεῖς οἱ ζῶντες εἰς θάνατον παραδιδόμεθα διὰ Ἰησοῦν, ἵνα καὶ ἡ ζωὴ τοῦ Ἰησοῦ φανερωθῇ ἐν τῇ θνητῇ σαρκὶ ἡμῶν.74

In 4,10a und 11a ist jeweils der Todesaspekt Jesu parallel in den Aposteln zu finden. In 4,10b und 11b ist – angeschlossen durch finalen Bezug zur jeweils ersten Vershälfte – das Leben Jesu auch in den Aposteln verortet. In 4,11 ist der Aspekt des Todes Jesu durch die Qualifizierung der Hingabe der Lebenden in den Tod als „wegen Jesus“ nachgestellt. Dies stört allerdings nur die Strukturgleichheit der beiden Verse, nicht deren Aussage. Denn in beiden Versen fällt auf, dass bei der Parallelisierung des Schicksals von Aposteln und Jesus die Abfolge von Tod und Leben nicht temporal oder kausal begründet, sondern final beschrieben ist. Dem als Tod Jesu gedeuteten Leiden der Apostel wird durch ἵνα die positive Wirkung zugeordnet, an deren Leib/ Fleisch auch das Leben Jesu offenbar werden zu lassen. Die Parallelisierung und die Zuordnung einer positiven Wirkung sind also miteinander verbunden.75 Die Reihenfolge von zuerst Tod und dann Leben Jesu weist darauf hin, dass der historische Tod als Kulmination des jesuanischen Leidens gemeint ist. Dafür spricht auch der sonst selten ohne Christus- oder weitere Titel verwendete Jesus-Name. Daraus folgt, dass anschließend von Jesu Auferweckungs- und nicht von seinem irdischen Leben die Rede ist. Das bedeutet für das Leiden der Apostel-Gruppe Folgendes: In Parallelität zu Jesus bleibt für sie das Leiden faktisch bestehen, im extremsten Fall sogar bis zum Tod. Allerdings kommt bereits im Leiden der Apostel das Auferweckungs-Leben Jesu zur Geltung.76 Denn trotz der Betonung der irdischen und

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75 76

Eine ähnliche Stelle ist Gal 6,17, wo Paulus von sich sagt, er trage die Malzeichen Jesu an seinem Leib (ἐγὼ γὰρ τὰ στίγματα τοῦ Ἰησοὺ ἐν τῷ σώματι μου βαστάζω). Vgl. LAMBRECHT, Paul, 56; CHOI, Peristasenkataloge, 124 und TANNEHILL, Dying, 84 Anm. 2. Die Verherrlichung Christi am Leib des Paulus in Tod oder Leben ist auch in Phil 1,20 thematisiert. Vgl. SCHMELLER, Brief I, 262. Dazu passt die Beobachtung von FITZGERALD, Cracks, 178f, wonach sich durch die Begriffe νέκρωσις und περιφέρω (statt βαστάζω) möglicherweise zwei Motive verbinden: Denn einerseits liegt eine Verbindung nahe zu νεκροφόρος, was in der Antike einen Sargträger bezeichnet. Andererseits ist anhand des Partizips θριαμβεύοντι in 2Kor 2,14 ein Rückbezug möglich auf den Triumphzug Gottes, bei dem an allen Orten die Erkenntnis Gottes/Christi offenbart wird (φανερόω). Damit wären Leichenzug und Triumphzug miteinander verbunden. FITZGERALD,

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163

leidenden Seite Jesu anhand des von Paulus hier auffallend häufig gebrauchten Jesus-Namens kann der Leidende nicht getrennt vom Auferweckten gesehen werden.77 Was für Jesus als zeitlich aufeinanderfolgend dargestellt ist, fällt für die Wir-Gruppe simultan in ihrem Dienst zusammen. So erfahren die Apostel an sich Tod (Leiderfahrung) und „eigentliches“78 Leben (Glaubensperspektive) gleichzeitig. Die Erfahrung von Leben ist dabei dreifach zu denken: mit Blick auf den vorangegangenen Peristasenkatalog als Bewahrung im Leiden, in Bezug zu 2Kor 1,8–11 als einzelne Erfahrungen der Beendung leidverursachender Widerfahrnisse und schließlich anhand von 4,14 auch als Hoffnung auf eschatologische Auferweckung vom physischen Tod.79 Das Andauern des Leidens wird dabei u. a. durch die Zeitadverbien παντότε und ἀεί sowie den Begriff νέκρωσις als ‚Prozess des Sterbens‘ betont.80 In 4,14 wird die Parallele von Apostel- und Jesus-Schicksal explizit auf die Auferweckung beider zugespitzt. Als Nachtrag zum Peristasenkatalog aus 4,8f gibt Paulus damit eine christologische Begründung für die in den Antithesen erfahrene Gleichzeitigkeit von Leiden und Gottesbewahrung. Er interpretiert die jeweiligen Vorderglieder als νέκρωσις Ἰησοῦ und die Hinterglieder als ζωὴ Ἰησοῦ.81 Ohne diese christologische Fundierung wäre die Gleichzeitigkeit von Leiden und Bewahrung kaum begründet. Dabei ist zu bemerken, dass Paulus hier das Christusgeschehen auf die genannten beiden Aspekte zuspitzt.82 Er kennt zwar weitere Details, wie die Präexistenz und Selbsterniedrigung des Gottessohnes (vgl. 2Kor 8,9; Phil 2,5–11), doch werden diese von ihm nicht im Kontext der Leidbewältigung eingesetzt. Hier genügen ihm der Tod und das Leben Jesu, die miteinander final verbunden sind. Die Wirksamkeit dieses Geschehens ist

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81 82

Cracks, 179 Anm. 171 verweist für Parallelen auf Seneca, Marc. 3,1 und Plutarch, Phil. 21,2. Die Schwierigkeit der Interpretation von θριαμβεύοντι thematisiert SCHMELLER, Brief I, 154–161. Das zeigt sich auch an der Verwendung des Jesus- statt des Christus-Namens in 2Kor 4,14, wenn vom auferweckten Herrn Jesus die Rede ist. Vgl. LAMBRECHT, Nekrōsis, 313f; GRÄßER, Schatz, 307. Sechs von neun paulinischen Belegen für Ἰησοῦς finden sich im 2. Korintherbrief. Dass der Jesus-Name als Hinweis auf die Kreuzestheologie eine Spitze gegen die Paulus-Gegner ist, wie ECKERT, Mensch, 65 meint, ist plausibel, aber nicht nachweisbar. BULTMANN, Art. ζάω, 862. Vgl. für jeweils einzelne dieser Aspekte GRÄßER, Brief I, 167; HOTZE, Paradoxien, 275 sowie KRUG, Kraft, 296f anhand von 2Kor 13,3f. Einige Textzeugen, als ältestes P46, lesen εἰ statt ἀεί. Für die Interpretation von νέκρωσις vgl. WINDISCH, Korintherbrief, 144; LAMBRECHT, Nekrōsis, 309 und SCHMELLER, Brief I, 263. Dagegen ist für GÜTTGEMANNS, Apostel, 116 die νέκρωσις unter Verweis auf Röm 4,19 „ein ‚christologischer‘ Zustand“. Vgl. STEUBING, Begriff, 33. Der Versuch einer Verbindung von Prozess und Zustand bei CHOI, Peristasenkataloge, 123 kann nicht überzeugen. Die νέκρωσις als Sterbeprozess in biologischer und medizinischer Perspektive belegt FITZGERALD, Cracks, 177f in zahlreichen antiken Quellen. Vgl. GRÄßER, Brief I, 166. Der Verweis auf die „story of Jesus“ ist für LIM, Sufferings, 107f durch den Jesus-Namen gegeben.

164

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

jedoch nicht auf die Apostel beschränkt, sondern bezieht auch die Gemeinde ein, wie im folgenden Abschnitt zu zeigen ist.

8.3.4

Positive Wirkung des Leidens zugunsten von Gemeinde und Gottes Herrlichkeit (4,12–15)

Paulus benennt in 2Kor 4,12 eine konkrete Zielrichtung des apostolischen Leidens. Denn nachdem in 4,10f von Tod und Leben bei Jesus und den Aposteln die Rede war, wird das Geschehen durch den Einsatz mit ὥστε als Basis für eine überraschende Schlussfolgerung dargestellt:83 Neben den Aposteln wird nun die Gemeinde (ὑμῖν) einbezogen, während der Jesus-Name nicht mehr explizit vorkommt. Tod und Leben werden nicht wie in 4,10f an beiden beteiligten Personengruppen sichtbar, sondern sind unter ihnen aufgeteilt: Der Tod (oder Todesnöte) zeigt sich bei den Aposteln und das Leben an der Gemeinde.84 Im Unterschied zu 4,10f suggeriert dabei keine finale Verbindung zwischen beidem, dass das Leiden der Apostel stellvertretenden Charakter hätte.85 Vielmehr ist in 4,12 durch die Gemeinde das Ziel der zuvor beschriebenen Offenbarung am Leib der Apostel in den Blick gekommen. Das Gotteshandeln im Christusgeschehen bildet den Ausgangspunkt, von dem aus das Leben zunächst im Apostel und schließlich an der Gemeinde gewirkt wird. Dabei kann das ἐνεργέομαι entweder medial oder als passivum divinum aufgefasst werden. Die verbreitete mediale Übersetzung („der Tod wirkt in uns“) setzt die Vorstellung einer Eigenmächtigkeit des Todes voraus.86 Da in 4,14 Gott den Tod durch Leben bzw. Auferweckung begrenzen kann, ist bei einem medialen Verständnis von ἐνεργέομαι Gott implizit zulassend verantwortlich für das apostolische Leiden. Bei einer Übersetzung als passivum divinum würde Paulus Gott explizit als Urheber von Tod und Leben bezeichnen („der Tod wird (von Gott) in uns gewirkt“).87 In beiden Fäl-

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Vgl. THRALL, Epistle I, 337 und FURNISH, Corinthians, 257. Anders BAUMERT, Sterben, 81–83, der 2Kor 4,12 zu 4,13–15 zieht. SCHMELLER, Brief I, 264 weist darauf hin, dass bereits in 2Kor 1,6a die Gemeinde explizit Anteil am Trost, nicht aber an der Bedrängnis hat. Explizit gegen ein stellvertretendes Leiden des Apostels für die Gemeinde an dieser Stelle spricht sich auch SCHMELLER (a. a. O., 265) aus. Anders GRÄßER, Brief I, 170. Vgl. für eine mediale Übersetzung von ἐνεργέομαι z. B. die Luther- und Einheits-Übersetzung, GRÄßER, Brief I, 160; BULTMANN, Brief, 113 und HARRIS, Epistle, 349f, der ohne weitere Begründung ein Passiv für unwahrscheinlich hält. Vgl. für eine Übersetzung von ἐνεργέομαι als passivum divinum z. B. KRAFTCHICK, Death, 175f; BAUMERT, Sterben, 72f und FURNISH, Corinthians, 252 u. 257.

§ 8 Einzelexegese von 2Kor 4,7–15

165

len versteht Paulus Gott als Verursacher des Leidens und gleichzeitig als Retter daraus. Damit steht er in der Tradition vieler Texte der LXX.88 In 4,13 macht Paulus anhand eines Zitats aus Ψ 115,1 die Mission als Bezugsrahmen seiner Ausführungen deutlich, wo ebenfalls von starker Erniedrigung der Beterin oder des Beters die Rede ist. Nimmt man 115,2 hinzu, kann sich das gegen mögliche Gegner und falsche Vorwürfe richten: „Alle Menschen sind Lügner!“. In 2Kor 4,14 wird durch den Bezug der Rettung zur eschatologischen Auferweckung von Jesus, Aposteln und Gemeinde („uns mit euch“) die Bewahrung in den Peristasen und das Erwirken des Lebens explizit mit Gottes Auferweckungskraft verbunden.89 Das erinnert wiederum an das Proömium, in dem die Rettung aus der Bedrängnis in Asien durch Gott geschildert wird, der Tote auferweckt (vgl. 1,9). In 4,15 führt Paulus die positive Wirkung der Leiderfahrung über das Erreichen von Leben für die Gemeinde hinaus: Das ganze bis dahin beschriebene Geschehen (τὰ γὰρ πάντα) zielt zuerst auf die Gemeinde (δι’ὑμᾶς), dient aber schlussendlich der Verherrlichung Gottes.90 Das wird durch Leiden und Erfolg im Aposteldienst erreicht: Denn die Verherrlichung Gottes wird nach 4,15 noch verstärkt, je mehr Menschen die Paulus-Gruppe erreicht und zur Danksagung an Gott gewinnen kann.91 Die Apostel leiden insofern für die Gemeinden, als sie den Verkündigungsdienst auf sich nehmen, um den Christusglauben – zur Verherrlichung Gottes – nach Korinth zu bringen. Darin besteht die apostolische „Pro-Existenz“.92 Entscheidend ist daran, dass diese positive Wirkung des apostolischen Leidens nicht der Wir-Gruppe selbst zugutekommt, sondern dass sich deren Leiden positiv für die Gemeinde auswirkt. Dabei ist keine soteriologische Stellvertretung im Blick, wie das deuteropaulinisch in Kol 1,24 der Fall ist. Vielmehr bezieht sich das ‚Leiden für‘ auf Strapazen, Anfeindungen und Verfolgungen der Apostel wegen ihres Dienstes.93

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Vgl. für Gott als Verursacher von Tod und Leben, Leid und Errettung daraus z. B. in Ψ 65,11f; 70,20f; Ri 10,7–16; Neh 9,27 und Jes 45,7. Dabei verweist der Begriff παραστῆσαι wahrscheinlich nicht auf eine Auferweckung zum Gericht, da im Vergleich zu 2Kor 5,10 „vor dem Richterstuhl“ fehlt und in 11,2 der Begriff παραστῆσαι in der Brautmetapher verwendet wird. Nach ARZT-GRABNER, Korinther, 309 ist der Begriff zwar forensischer terminus technicus, wird aber nicht nur im Zusammenhang mit dem Gericht gebraucht. Er nennt aus den Papyrus-Funden z. B. Belege, in denen παραστῆσαι für die Vorführung der Jungen vor einem Gremium für die Aufnahme in das antike Gymnasium verwendet wird. Vgl. LAMBRECHT, Paul, 59; BULTMANN, Brief, 125 und SCHMELLER, Brief I, 269. Darin liegt wieder eine Parallele zum in 4,13 zitierten Ψ 115. Denn auch hier läuft das Leiden des Einzelnen aufgrund seines Redens in 115,8–10 auf das Lob Gottes zu. Vgl. auch 2Kor 1,11 A. a. O., 254. Vgl. GRÄßER, Schatz, 306. LAMBRECHT, Nekrōsis, 329 und DERS., Paul, 59 nennt das den missionarischen Aspekt des apostolischen Leidens. Vgl. z. B. SCHRAGE, Leid, 158; HOTZE, Paradoxien, 283; CHOI, Peristasenkataloge, 269 und SCHMELLER, Brief I, 265.

166

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

8.4

Zwischenfazit

Im untersuchten Abschnitt thematisiert Paulus ausschließlich Leiderfahrungen der apostolischen Wir-Gruppe. Diese führt er innerhalb eines antithetischen Peristasenkatalogs auf Handlungen zurück, die von Dritten verursacht sind. Dabei ist in erster Linie an Handlungen auf der somatisch-physischen Ebene gedacht, lediglich der Begriff ἀπορέομαι kann auch auf die sozial-psychische Ebene verweisen. Obwohl für die Gemeinde zwar vor dem Hintergrund der Situation im antiken Korinth nicht von somatisch-physischem Leiden auszugehen ist, passt dessen Thematisierung in den Duktus von 2Kor 2,14–7,4.94 Darin wehrt Paulus sich gegen Angriffe von Fremd-Missionierenden und möglicherweise Kritikerinnen und Kritikern aus der Gemeinde, die Anstoß nehmen an dem von der paulinischen Wir-Gruppe erfahrenen Leiden. Das Thema des ganzen Abschnitts ist die göttliche δύναμις, die sich für Paulus entgegen anderslautender Vorwürfe auch im Leiden zeigt. Dabei haben sich verschiedene Bezüge und Parallelen zum bereits untersuchten Proömium 1,3–11 gezeigt. Paulus greift für die Strategien zur Leidbewältigung nach dem Bild vom Schatz in Tongefäßen in 4,7 auf den antithetischen Peristasenkatalog von 4,8f zurück und legt sich damit nicht auf einen einzigen Traditionshintergrund fest. In 4,10–15 stellt er in auffallender Dichte die Beziehung von Tod und Leben Jesu zur Wir-Gruppe dar. Dabei entwickelt er die folgenden Strategien zur Leidbewältigung. Erstens ordnet er auch hier dem Leiden positive Wirkungen zu. Anhand des Bildes vom Schatz in Tongefäßen schreibt er den Leiderfahrungen der Wir-Gruppe eine Wirkung zu. Demnach wird durch sie die im Aposteldienst aufscheinende δύναμις auf Gott zurückgeführt, um nicht fälschlicherweise den Aposteln zugerechnet zu werden. Ein Bezug zur entsprechenden Strategie aus 2Kor 1,9 legt sich nahe. In 4,12–15 bringt Paulus als Ziel des apostolischen Dienstes und damit auch der Leiden die Gemeinde ins Spiel. Das Leiden erwirkt nach der paulinischen Darstellung für die Gemeinde Leben. Dabei geht es wiederum nicht um eine soteriologisch wirksame Stellvertretungsleistung wie im deuteropaulinischen Kol 1,24, sondern um die Verkündigung des Christusglaubens. Innerhalb dieser entstehen der Paulus-Gruppe ihre Leiden, die also um der Gemeinde willen geschehen. Das kann treffend als apostolische „Pro-Existenz“95 beschrieben werden. Im abschließenden Vers des Abschnitts in 2Kor 4,15 werden diese apostolischen Leiden rückge-

94 95

Vgl. § 5.1. SCHMELLER, Brief I, 254 und GRÄßER, Schatz, 306.

§ 8 Einzelexegese von 2Kor 4,7–15

167

bunden an das Ziel der Mission: die Vergrößerung des Dankes zur Ehre Gottes. Anhand des Peristasenkatalogs (4,8f) zeigt Paulus eine zweite Strategie auf. Darin sind alle verwendeten Partizipien präsentisch und damit durativ zu interpretieren. Ein Ende der leidverursachenden Widerfahrnisse ist also nicht im Blick. Entscheidend ist die Bewahrung gerade in der Erfahrung des Leidens, die allerdings nur aus der Perspektive des Christusglaubens und nicht von außen wahrnehmbar ist. Sie zeigt sich daran, dass die zu erwartende Auswirkung der Vorderglieder der Antithesen in Form der Hinterglieder verneint ist. Dabei bezieht sich diese ausbleibende Wirkung der Hinterglieder auf die innere Glaubensebene, sodass damit die Kontinuität und möglicherweise sogar Intensitätssteigerung des Leidens nicht ausgeschlossen ist: Gottes Kraft wirkt und bewahrt im Leiden. Die dritte Strategie besteht wiederum wie in 1,5f des Proömiums in einer Parallelisierung des Schicksals der Apostel mit demjenigen Jesu (4,10f). Das Christusgeschehen wird darin in zwei Phasen als Tod (νέκρωσις, θάνατος) und Leben (ζωή) beschrieben, wobei das Leben als positive Wirkung des Todes dargestellt ist. Die Bewältigungsstrategie besteht darin, dass die Apostel-Gruppe das Nacheinander von Tod und Auferstehungsleben Jesu an sich selbst als Gleichzeitigkeit erlebt. Damit gibt es die Hoffnung auf einzelne Rettungserlebnisse (vgl. 1,8–11), die zuvor thematisierte Bewahrung im Leiden sowie die eschatologische Auferweckung vom Tod. Für die PaulusGruppe verbindet sich damit die positive Wirkung, dass durch den Tod auch das Leben an ihr offenbart wird und damit das Leiden wie in 4,12–15 der Verkündigung und also der Gemeinde sowie letztlich der Verherrlichung Gottes dient.

§9 Einzelexegese von 2Kor 4,16–18 § 9 Einzelexegese von 2Kor 4,16–18

9.1

Kontext und Abgrenzung

Der Abschnitt 2Kor 4,16–18 steht im gleichen Makrozusammenhang wie 4,7–15, in dem Paulus sein Verständnis des Aposteldienstes verteidigt.1 Darin bilden 4,7–5,10 einen größeren Sinnzusammenhang, was durch die durchgehende antithetische Darstellung der Gedanken deutlich wird. Weiterhin gibt es wie bereits in 4,7ff Ähnlichkeiten zu 1,8–11 des Proömiums. Während die Abgrenzung von 4,16–18 fast unstrittig ist,2 wird jedoch der Bezug diskutiert: Teils wird das Textstück zu 4,7–15,3 teils zu 5,1–104 gerechnet. Denn 4,16–18 greift beispielsweise auf die Stichworte ὑπερβολή (4,7) und θλῖψις κτλ. (4,8) zurück. Inhaltlich stellt es mit seiner kontrastierenden Darstellung eine Wiederaufnahme des Schatzes in Tongefäßen (4,7) und eine weitere Illustration des Gegensatzes von Leben und Tod Jesu am Leib des Apostels (4,10f) dar. Allerdings werden mit βάρος/βαρέω (5,4) und κατεργάζω (5,5) bereits Stichworte aus 5,1–10 vorweggenommen. Dort setzt sich die Struktur fort, z. B. mit den Gegensätzen von irdischer Wohnung und Gebäude von Gott, Bekleidung und Entkleidung, Leben im Bereich des Sichtbaren und des Glaubens.5 Dabei wird auf antikes Material verschiedener Herkunft zurückgegriffen.6 Es ist jedoch nicht zu übersehen, dass wesentlich mehr Stichwortverbindungen zwischen 4,7–15 und 5,1–10 bestehen als jeweils zwischen ihnen und dem Mittelstück 4,16–18.7 Besonders auffällig ist dabei die Nicht-Erwähnung 1 2

3

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5

6

7

Vgl. § 8.1 zur Kontexteinbindung in der Einzelexegese von 2Kor 4,7–15 M. W. zählen nur FURNISH, Corinthians, 288f und COLLANGE, Enigmes, 170ff 2Kor 5,1 zu 4,16– 18. Vgl. zur Abgrenzung von 2Kor 4,7–18 z. B. FURNISH, Corinthians, 288ff und GRÄßER, Brief I, 174ff. Vgl. zur Abgrenzung von 2Kor 4,16–5,10 z. B. die Kommentare von BULTMANN, Brief, 112ff und MARTIN, Corinthians, 81ff, aber auch die meisten Untersuchungen zu 4,16–18, wie z. B. HECKEL, Mensch; LINDGÅRD, Line; ECKERT, Mensch und AUNE, Duality. Vgl. HECKEL, Mensch, 107 zur Gegenüberstellung von sieben „dualen Bildkomplexen“ in 2Kor 4,16–5,10. BOUSSET, Religion, 277 verweist für die Metaphorik von den himmlischen Kleidern auf 1Hen 62,14f und 2Hen 22,8ff. Daran lässt sich zeigen, dass Paulus auf verschiedene Traditionen rekurriert, da die Gewandmetaphorik in der Antike im Kontext des Sterbens weit verbreitet ist. Z. B. SCHMELLER, Brief I, 291f zeigt sie bei Platon, Grg. 523f; Seneca, Marc. 25; Epist. 92,13; 102,25; Epiktet, Diss. 1,25,20f und Philo, virt. 76. Stichwortverbindungen zwischen 2Kor 4,7–15 und 5,1–10 sind zu beobachten im semantischen Feld „Gott“ durch θεός (4,7.15; 5,1.5) und κύριος (4,14; 5,6.8), im Feld „Tod und Leben“ durch

§ 9 Einzelexegese von 2Kor 4,16–18

169

von Gott oder Christus in 4,16–18 im Gegensatz zu den Nachbar-Abschnitten.8 Außerdem werden die paulinischen Hapaxlegomena ἀνακαινόω (erneuern), διαφθείρω (vernichten, verfallen) und ἐλαφρός (leicht, unbeständig) sowie das in der Koine nur hier vorkommende παραυτίκα (gegenwärtig) gebraucht. Schon dadurch setzt sich 4,16–18 von den umliegenden Versen ab. Daher wird es oft als eigenständiges „Gelenkstück“9 zwischen zwei Abschnitten verstanden. Die auffällige Darstellung in Gegensätzen erreicht in 4,16–18 die größte Dichte: äußerer/innerer Mensch (4,16), vergängliche Leichtigkeit der Bedrängnisse und ewiges Gewicht der Herrlichkeit (4,17) sowie sichtbares Vergängliches und unsichtbares Ewiges (4,18). Inhaltlich wird die Brücke geschlagen zwischen dem Tod während des Lebens aus 4,7–15 und dem stärker futurisch-eschatologischen Leben nach dem Tod in 5,1–10.10 Die Gliederung ist durch die zusammengehörigen Gegensatzpaare vorgegeben. Manchmal werden 4,17f enger aneinandergerückt, da in 4,17 ein grammatischer Neueinsatz auszumachen ist und außerdem das Adjektiv αἰώνιος (bleibend, ewig) beide Verse verbindet. Der Abschnitt endet in 4,18b mit einer Sentenz.11

9.2

Analyse des geschilderten Leidens

Die Leiderfahrung in den vorliegenden Versen wird auf zweierlei Weise beschrieben: Zum einen wird in 2Kor 4,17 der θλῖψις-Begriff als Gegensatz zur δόξα auf die erste Person Plural bezogen. Zum anderen schreibt Paulus bereits in 4,16 vom Vernichtet Werden des äußeren Menschen, was sich wie das Bild vom Tongefäß aus 4,7 auf Leiderfahrungen beziehen kann.12

8

9

10 11 12

θνήτος (4,11; 5,4) und ζωή (4,10.11.12; 5,4), im Feld „Leib und Geist“ durch σῶμα (4,10; 5,8) und πνεῦμα (4,12; 5,5) sowie durch die Begriffe φανερόω (5,10; 4,10) und πίστις (5,7; 4,12). Die größere Zahl an Stichwortverbindung alleine ist allerdings nicht aussagekräftig, hängt sie doch stark mit der unterschiedlichen Länge der Abschnitte 4,7–15 und 5,1–10 gegenüber 4,16–18 zusammen. THEOBALD, Gnade, 225f erklärt dies damit, dass 2Kor 4,16–18 den vorigen Abschnitt 4,7–15 rekapituliere und auf ein allgemeineres Fazit bringt, das gleichzeitig 5,1–10 vorbereitet. SCHMELLER, Brief I, 271f. Vgl. z. B. HARRIS, Epistle, 357; THRALL, Epistle I, 320ff; WAN, Power, 76ff und WINDISCH, Korintherbrief, 141ff. Vgl. HARRIS, Epistle, 357 und THEOBALD, Gnade 225. Vgl. SCHMELLER, Brief I, 271. Vgl. § 9.3.1 für eine Darstellung der Metapher.

170

9.2.1

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

Betroffene

Die meisten Untersuchungen dieser Stelle gehen davon aus, dass die erste Person Plural in 2Kor 4,16–18 den Apostel selbst bezeichnet.13 Das lässt sich allerdings nur durch den Zusammenhang mit den apostolischen Erfahrungen in 4,7–15 ableiten. Die beschriebene Erfahrung der Erneuerung im Leiden und das im Vergleich zur bleibenden Herrlichkeit als leicht empfundene Gewicht der Bedrängnis knüpfen an Aussagen an, wie z. B. 2Kor 5,17 und Röm 8,18ff. Man kann hier neben der formalen auch von einer inhaltlichen Übergangs-Funktion von 2Kor 4,16–18 sprechen: Der eindeutige Bezug des Plurals zur Paulus-Gruppe von 4,7–15 wird aufgeweicht und für die Bedeutung eines allgemeinen Plurals geöffnet.14

9.2.2

Betroffenheitsebene

In 2Kor 4,16 spricht der Apostel metaphorisch von der Vernichtung des äußeren Menschen. Es wird diskutiert, ob Paulus dabei die Verfolgungserfahrung aus dem vorangehenden Abschnitt 4,7–15 aufgreift oder ob er, wie der Kontext des nachfolgenden Abschnitts 5,1–10 nahelegt, auf die Vergänglichkeit des Menschen allgemein rekurriert. In beiden Fällen legt sich jedoch primär der Bezug zur somatisch-physischen Ebene nahe, wenn auch die Bedeutung der Metapher später noch genauer zu untersuchen ist.15

9.2.3

Leidursachen

Für die Kategorisierung der hier bezeichneten Leiderfahrungen ist eine genauere Betrachtung zumindest des paulinischen Hapaxlegomenon διαφθείρω (zerstören, zugrunde gehen, moralisch verderben) notwendig.16 Die Wortgruppe φθείρω κτλ. nutzt Paulus gehäuft in 1Kor 15 im Zusammenhang eschatologischer Vergänglichkeit, um den Gegensatz zum Unvergänglichen (ἀφθαρσία) darzustellen, was für die Frage der Kategorie der Leiderfahrung nicht 13

14

15 16

Vgl. ECKERT, Mensch, 77; GRÄßER, Brief I, 177f; HARRIS, Epistle, 358f; THRALL, Epistle I, 347 u. 350; MARTIN, Corinthians, 91; BEHM, Art. ἔσω, 696 und MARKSCHIES, Metapher, 3. Vgl. THEOBALD, Gnade, 227; SCHMELLER, Brief I, 273 u. 277; WALTER, Art. ἔσω, 163f. BULTMANN, Brief, 131 differenziert zwischen 2Kor 4,16, was sich auf den Apostel beziehe, und 4,17f, was allgemein christlich gemeint sei. Ich sehe keinen Anhaltspunkt für eine solche Bedeutungsvariation. Dagegen bezeichnet für LINDGÅRD, Line, 123–125 die erste Person Plural nur Paulus selbst ohne Auswirkungen oder Implikationen für die Gemeinde. Vgl. § 9.3.1. Für BULTMANN, Brief, 127 steht der ἔξω ἄνθρωπος für die vergängliche σάρξ. Die Wortgruppe φθείρω κτλ. ist im NT 47mal belegt, knapp die Hälfte der Belege steht bei Paulus.

§ 9 Einzelexegese von 2Kor 4,16–18

171

weiterführend ist.17 Ansonsten bezieht Paulus den Begriff nicht auf physische Vernichtung, sondern oft auf moralisches Verderben und Fehlleiten (vgl. 1Kor 3,17; 15,33; 2Kor 7,2; 11,3). Außerhalb der paulinischen Literatur kommt der Begriff διαφθείρω selten vor. Er bezeichnet die Vernichtung von Dingen, nämlich Schiffen (Apk 8,9) und eines nicht-himmlischen Schatzes durch Motten (Lk 12,33). Nur in Apk 11,18 werden Menschen zur Zeit des Zorns von Gott vernichtet, weil sie ihrerseits die Erde vernichtet haben. Innerhalb eines deuteropaulinischen Lasterkatalogs ist in 1Tim 6,5 an fehlgeleitete Menschen zu denken. In der LXX übersetzt διαφθείρω meistens die hebräische Wurzel ‫ שׁחת‬und hat dadurch ebenfalls ein großes Bedeutungsspektrum, z. B. das Töten von Menschen in 2Sam 24,16, das Vernichten einer Stadt in 1Sam 23,10 oder das Verwüsten eines Landes in 1Chr 20,1.18 Hier werden dem Begriff eher Handlungen und seltener Ereignisse zugeordnet. In der profangriechischen Literatur ist διαφθείρω sowohl für Handlungen wie das Töten von Menschen,19 wie auch für Ereignisse wie Krankheit, Schiffbruch und den allmählichen Verfall von Gebäuden belegt.20 Mit der Untersuchung des Wortes διαφθείρω ist also keine eindeutige Zuordnung zu einer Ursachenkategorie möglich. Im direkten Kontext ergeben sich jedoch Hinweise. Der folgende Vers 2Kor 4,17 beschreibt das Leiden als das ‚gegenwärtige Leichte der Bedrängnis‘. Der θλῖψις-Begriff verweist in den meisten Fällen und bereits kurz zuvor in 4,8 auf eine Bedrängnis durch Handlungen. Abgesehen von der Wortbedeutung wird damit sowohl auf den Peristasenkatalog von 4,8f als auch auf den gesamten Kontext von 4,7–15 hingewiesen, in dem es um die Leiderfahrungen des Apostels wegen seines Dienstes geht.21 In diesem Gesamtduktus legt es sich nahe, dass Paulus in 4,16–18 zwar allgemein formuliert, jedoch

17

18

19 20 21

Der Begriff φθείρω κτλ. kommt in den von apokalyptischer Sprache geprägten Stellen 1Kor 15,42.50.52–54 für den Auferstehungsleib im Gegensatz zum Vergänglichen vor. Vgl. für eine Untersuchung dazu HENGEL, Paulus, 359–372. In Röm 1,23 ist die Unvergänglichkeit ein Attribut Gottes und in Röm 2,7 wird sie mit den positiv konnotierten Begriffen δόξα und τίμη parallelisiert. Für den Gegensatz von ἄφθαρτον und φθάρτον in hellenistischer Literatur, v. a. in Bezug auf die Gottheit verweist HARDER, Art. φθείρω, 97 z. B. auf Plutarch, Stoic. abs. 1051f; Philo, aet. 124. Vgl. für weitere Belege HARDER, Art. φθείρω, 100 und identisch MERKEL, Art. φθείρω, 1735. Demnach wird ‫ שׁחת‬in der LXX 91mal mit φθείρω κτλ. wiedergegeben, davon 51mal mit διαφθείρω. Vgl. nach HARDER, Art. φθείρω, 95 z. B. Thukydides 3,66,2; 4,124,3; Lukian, DDeor. 13,2. Vgl. HARDER, Art. φθείρω, 95 mit Verweis auf z. B. Thukydides 2,49,6. In Ψ 15,10 sind διαφθόρα (vgl. 2Kor 4,16) sowie das Verb ἐγκαταλείπω, das von Paulus nur in 2Kor 4,9 und Röm 9,29 gebraucht wird, verbunden: ὅτι οὐκ ἐγκαταλείψεις τὴν ψυχὴν μου εἰς ᾅδην οὐδὲ δώσεις τὸν ὅσιόν σου ἰδεῖν διαφθορᾶν (Denn du überlässt mich nicht dem Tod und deinen Heiligen gibst du nicht hin, dass er das Verderben sieht). Das ist ein weiteres Indiz für die enge Verbindung von 2Kor 4,7–15 und 4,16–18 und damit für die Interpretation der Leiderfahrung im Zusammenhang zur Aposteltätigkeit.

172

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

wie bereits in 4,7–15 Leiderfahrungen aus Handlungen im Kontext des Aposteldienstes im Hintergrund stehen.22

9.2.4

Leidverantwortliche

Durch die sehr offene Formulierung ist gerade mit Blick auf den Konflikt zwischen Paulus und der korinthischen Gemeinde (vgl. 2Kor 2,1–11; 7,5–16) ein Bezug auf diese als Auslöserin des Leidens möglich. Allerdings ist wieder der Bezug zu 4,7–15 zu berücksichtigen: Die Verse 4,12.15 enthalten bereits Aussagen zur ‚Für-Existenz‘ der Paulus-Gruppe, der zufolge die Gemeinde von den apostolischen Leiden profitiert. Es mag in diesen Versen noch denkbar erscheinen, dass sich sogar die von der Gemeinde dem Apostel verursachten Leiderfahrungen zu deren Vorteil auswirken können. Bezieht man jedoch den Peristasenkatalog 4,8f ein, dann ist mit großer Wahrscheinlichkeit auszuschließen, dass diese Erfahrungen auf Handlungen von innerhalb der Gemeinde rückführbar sind. Insofern stammen wahrscheinlich auch die hier thematisierten Leiderfahrungen von außerhalb der Gemeinde.

9.3

Leidbewältigungsstrategien für die Paulus-Gruppe

Ähnlich wie in 2Kor 4,7–15 beziehen sich die im Folgenden darzustellenden Strategien zur Leidbewältigung auf das Leiden der Wir-Gruppe. Allerdings legt sich wegen der Offenheit der Formulierungen eine allgemeine Deutung des Plurals nahe, die alle Christusglaubenden einschließen kann.

9.3.1

Leidbewältigung mit der Metapher vom ‚inneren‘ und ‚äußeren Menschen‘ (4,16)

In 2Kor 4,16 differenziert Paulus zwischen dem vernichteten ‚äußeren Menschen‘ und einem tagtäglich erneuerten ‚inneren Menschen‘. Vom ‚äußeren Menschen‘ ist sonst bei Paulus nicht die Rede.23 Er nutzt jedoch den Begriff 22

23

So z. B. auch JEWETT, Terms, 398f; ECKERT, Mensch, 77; HARRIS, Epistle, 358f; MARKSCHIES, Metapher, 3; THEOBALD, Gnade, 227; THRALL, Epistle I, 347 u. 350 und BULTMANN, Theologie, 202, der auch 2Kor 5,1–10 als „Not und Leiden“ versteht. Für eine Interpretation der Leiderfahrung als Vergänglichkeit optieren z. B. AUNE, Duality, 221; MARTIN, Corinthians, 91; BEHM, Art. ἔξω, 572f und PEPPERMÜLLER, ἔξω, 31f. An jedwedes Leiden, also an apostolische Bedrängnisse, Krankheit, Vergänglichkeit etc., denkt v. a. SCHMELLER, Brief I, 273 u. 277. Die einzig anderen paulinischen Belege für ἔξω dienen zur sozialen Abgrenzung der Gemeinde bzw. Christusglaubenden von den Menschen, die außerhalb davon stehen: Vgl. 1Kor 5,12f im Ge-

§ 9 Einzelexegese von 2Kor 4,16–18

173

des ‚inneren Menschen‘ auch in Röm 7,22, während dieser sonst nur noch nachpaulinisch in Eph 3,16 vorkommt.24 Um die Bedeutung der Metapher für die Leidbewältigung erschließen zu können, ist zunächst auf ihre Herkunft einzugehen.

9.3.1.1

Das ‚Woher‘ der Metapher

Zunächst ist festzuhalten, dass Paulus mit 2Kor 4,16 in der griechischen Literatur wahrscheinlich der erste ist, der in exakt dieser Formulierung eine Gegenüberstellung von ὁ ἔξω ἡμῶν ἄνθρωπος und ὁ ἔσω ἡμῶν (ergänze: ἄνθρωπος) vornimmt.25 Der Begriff des ‚inneren Menschen‘ ist allerdings bereits bei Platon, R. 589a belegt, der ihn in seiner Beschreibung des menschlichen Innenlebens verwendet.26 Dessen mythologische Anthropologie verläuft in Analogie zu seiner Gliederung des Staates und spricht von einem Widerstreit im Menschen zwischen einem Löwen, einem vielköpfigen Tier und eben einem Menschen, der im Menschen ist (τοῦ ἀνθρώπου ὁ ἐντὸς ἄνθρωπος). Diese Mythologie der Psyche wird bei Platon an anderer Stelle gedeutet, indem die drei inneren Teile des Menschen als „denkfähig-vernünftig“27 (λογιστικόν, innerer Mensch), „muthaft-wollend“ (θυμοειδές, Löwe) und „triebhaft-begehrend“ (ἐπιθυμητικόν, vielköpfiges Tier) dargestellt werden. Der innere Mensch soll über die beiden anderen Teile herrschen. Für die Exegese stellt sich die Frage, wie und in welcher Form diese Metapher von Platon zu Paulus gelangen konnte.28 Obwohl auch Philo vom ‚Menschen im Menschen‘ oder vom ‚wahren Menschen‘ schreibt, konnte eine

24

25 26

27

28

genüber zu ἔσω, 1Thess 4,12 und deuteropaulinisch Kol 4,5. Vgl. 2Kor 7,5 für eine ähnliche Verwendung von ἔξωθεν und ἔσωθεν. Eph 3,13–19 nimmt den Begriff des ‚inneren Menschen‘ auf. In Eph 3,13 besteht eine begriffliche Berührung zu 2Kor 4,16–18, wenn der pseudepigraphe Paulus davon spricht, dass die Gemeinde nicht verzagen solle (ἐγκακέω) aufgrund seiner Bedrängnisse (θλῖψις), die sich doch für sie als Herrlichkeit (δόξα) auswirkten. Hier ist auf die ‚Für-Existenz‘ des Apostels angespielt, wie sie in 2Kor 1,3–7 und 4,10–12 ausgedrückt ist. In Eph 3,16 bittet ‚Paulus‘ für die Gemeinde Gott um Stärkung für den ‚inneren Menschen‘ (εἰς τὸν ἔσω ἄνθρωπον). 3,17 führt die Bitte dahingehend weiter, dass Christus durch den Glauben in den Herzen der Menschen wohnen solle. Von Eph 3,13ff her erklären sich einige Versuche zur Präzisierung der Rede vom ‚inneren Menschen‘ in 2Kor 4,16. Vgl. MARKSCHIES, Art. Mensch, 279 und SCHMELLER, Brief I, 273. So z. B. MARKSCHIES, Metapher, 2–5; HECKEL, Mensch, 10–88; AUNE, Duality, 220f; BURKERT, Plato, 59 und fast alle exegetischen Kommentare zur Stelle. Parallelen in der LXX gibt es nicht. Die Übersetzungen stammen von HECKEL, Mensch, 19, der sich hier auf Platon, R. 435a bezieht. Vgl. BURKERT, Plato, 77. Einen Forschungsüberblick zu dieser Frage bieten JEWETT, Terms, 391–395; HECKEL, Mensch, 4– 9 und der neuere Aufsatz von BETZ, Concept, 317–324.

174

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

Traditionslinie über Philo zu Paulus nicht überzeugend nachgewiesen werden.29 Da Rede vom ‚inneren Menschen‘ an unterschiedlichen Stellen vorkommt, ohne dass eine paulinische Abhängigkeit von einer schriftlichen Quelle nachweisbar wäre, bewegt sich Paulus dabei wahrscheinlich in verschiedenen Traditionen.30 Daraus kann mit CH. MARKSCHIES geschlossen werden, dass zwischen einer „Vorstellung“ vom ‚inneren Menschen‘ und dem „Begriff“31 dafür zu unterscheiden ist. Paulus greift demnach auf eine in der Antike verbreitete anthropologische Vorstellung zurück, die zwischen einem äußeren/sichtbaren und einem inneren/unsichtbaren Teil des Menschen unterscheidet. Dabei wird das Innere des Menschen fast durchweg als der wichtigere oder eigentliche Teil dem äußeren überlegen angesehen.32 Diese Vorstellung beschreibt Paulus nach CH. MARKSCHIES „ad hoc“33 mit einem neuen Begriff, der erst bei den Kirchenvätern (von Paulus her) und im Neuplatonismus (von Platon her) zu einem terminus technicus wird.34 Für eine solche Unterscheidung von Vorstellung und Begriff im Anschluss an CH. MARKSCHIES spricht, dass Paulus weder im Kontext von 2Kor 4,16 noch bei der zweiten Verwendung der Metapher in Röm 7,22 einen Erklärungsbedarf sieht. Er hält sie „entweder für bekannt oder doch für aus sich heraus verstehbar“.35 Dafür spricht weiterhin, dass Paulus an beiden genann-

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Vgl. die Hinweise bei MARKSCHIES, Metapher, 7 auf ἄνθρωπος ἐν ἀνθρώπῳ (Philo, congr. 97), πρὸς ἀληθείαν ἄνθρωπος (fug. 71; spec. 1,103), ἀληθινὸς ἄνθρωπος (fug. 131) usw. Vgl. für den Versuch einer traditionsgeschichtlichen Linie von Platon zu Paulus v. a. DUCHROW, Christenheit, 59–136 und die Kritik daran bei HECKEL, Mensch, 5f sowie MARKSCHIES, Art. Mensch, 279. Vgl. für eine ausführliche Liste von Belegstellen z. B. WINDISCH, Korintherbrief, 152f; SCHMELLER, Brief I, 273–275 und GRÄßER, Brief I, 177f sowie die Untersuchung von HECKEL, Mensch, 75–87. S.u. für konkrete antike Belege. Vgl. MARKSCHIES, Metapher, 4 und DERS., Art. Mensch, 279. Vgl. JEWETT, Terms, 397; HECKEL, Mensch, 88 und BURKERT, Plato, 71, der bereits vorplatonisch den Gedanken eines transzendenten Persönlichkeitskerns im nur verhüllenden Leib zeigt und dafür z. B. auf Empedokles B,126; Demokrit B,37.57.187 u.ö. verweist. Vgl. auch JEREMIAS, Art. ἄνθρωπος, 366 unter Verweis z. B. auf Corp Herm 1,15; 1,21; 13,7. Für die Stoa vgl. BONHÖFFER, Neues Testament, 115–117. Auch bei Philo, congr. 97 ist die Höherwertung des ‚inneren Menschen‘ belegt. MARKSCHIES, Art. Mensch, 279 und DERS., Metapher, 4: „Weil die Vorstellung vom ‚inneren Menschen‘ terminologisch (und wohl auch begrifflich) nicht eindeutig festgelegt war, handelt es sich vielleicht gar nicht um eine in Korinth aufgeschnappte Wendung, sondern um eine ad hoc vorgenommene paulinische Wortprägung“ (Hervorhebungen im Original). Damit ist auch die Frage von AUNE, Duality, 222f und BETZ, Concept, 319 u. 340 geklärt, ob Paulus Platons Werk gekannt haben muss, um die erstmals bei Platon schriftlich nachweisbare Formulierung annähernd zu übernehmen: Er muss nicht! Vgl. AUNE, Duality, 221; ECKERT, Mensch, 67 und LINDGÅRD, Line, 119 (ohne expliziten Beleg) im Anschluss an MARKSCHIES, Metapher, 7. Vgl. für den ‚inneren Menschen‘ bei den Kirchenvätern z. B. Clemens Alexandrinus, Paed. 3,1,2; Origenes, Hom. Gen. 1,13 u.ö. und im Neuplatonismus z. B. Plotin, Enn. 5,1,10. MARKSCHIES, Metapher, 2. Vgl. JEWETT, Terms, 397.

§ 9 Einzelexegese von 2Kor 4,16–18

175

ten Stellen den Begriff in jeweils unterschiedlicher Weise füllt.36 Begriff und Vorstellung sind in diesem Fall nicht unlöslich aneinander gekoppelt, sondern werden aus dem Kontext verständlich.37 Es ist also zu klären, wie Paulus die Metapher vom ‚inneren‘ und ‚äußeren‘ Menschen im konkreten Kontext versteht und für die Leidbewältigung fruchtbar macht. 9.3.1.2

Erneuerung des inneren Menschen im Leiden

1. Die pointierte Gegenüberstellung von innerem und äußerem Menschen setzt – wie oben erwähnt – die Gegensätze aus 2Kor 4,7–15 fort. Der ‚äußere Mensch‘ ist also wahrscheinlich in Bezug auf die zuvor geschilderten Apostelleiden zu verstehen, die Paulus widerfahren und verweist auf die leibliche und geistige Existenz des Menschen, die für Leiden anfällig ist. Das ist in der Forschung relativ unstrittig.38 Paulus übernimmt dabei aus der antiken Vorstellungswelt die verbreitete Hochschätzung des Inneren/Unsichtbaren (vgl. 4,17). Für den konkreten Bezug des ‚inneren Menschen‘ sind dabei diverse Alternativen vorgeschlagen worden:39 so z. B. das durch Geisteinwohnung verwandelte Ich (CH. MARKSCHIES mit R. BULTMANN),40 das durch Geisteinwohnung verwandelte Herz (M. THEOBALD und R. JEWETT),41 die Vernunft (K. TH. HECKEL)42 oder der im Menschen wohnende Christus bzw. Geist (E. GRÄßER mit E. KÄSEMANN).43 36

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In Röm 7,22 kann unter dem ‚inneren Menschen‘ mit BULTMANN, Theologie, 204 „das eigentliche Ich des Menschen im Gegensatz zu dem der Macht der Sünde verfallenen Ich“ oder mit BEHM, Art. ἔσω, 696 „die geistige Seite am Menschen, den Menschen selbst, sofern er Bewußtsein hat, denkt, will und fühlt“ (Hervorhebung im Original) verstanden werden. Ähnlich BETZ, Concept, 336f. Dagegen sehen AUNE, Duality, 221 und ECKERT, Mensch, 68 bei der Verwendung des Begriffs in Röm 7,22 eine größere Nähe zu einem hellenistischen Dualismus als in 2Kor 4. Vgl. den Hinweis von LINDGÅRD, Line, 116f auf „den verborgenen Menschen des Herzens“ in 1Petr 3,4. In diesem Interpretationsrahmen ist es für die konkrete Auslegung nicht entscheidend, ob Paulus die Vorstellungen (nicht den konkreten Begriff) von seinen Gegnern in Korinth aufnimmt Vgl. z. B. JEWETT, Terms, 398–400, der von gnostischen Gegnern ausgeht und HECKEL, Mensch, 124– 144, der eine mittelplatonisch beeinflusste Gegnergruppe in Korinth annimmt. Zur Problematik der Bestimmung von Gegnern des Paulus äußert sich HECKEL, Mensch, 126–136. Nach BETZ, Concept, 340 könnte die Metapher auch von Mitarbeitenden des Paulus eingebracht worden sein. Das kritisiert LINDGÅRD, Line, 110 wenig überzeugend. Vgl. z. B. JEWETT, Terms, 396 u. 399; AUNE, Duality, 221; ECKERT, Mensch, 70 und FURNISH, Corinthians, 289. Vgl. JEWETT, Terms, 397 für weitere Alternativen aus der älteren Forschung. Vgl. BULTMANN, Theologie, 204, der zwar in Röm 7,22 mit dem Begriff die Vernunft gemeint sieht, aber für 2Kor 4,16 davon ausgeht, dass er „das durch das πνεῦμα verwandelte Ich“ bezeichnet, das „Subjekt-Ich“ oder das „eigentliche Ich“. Dem folgt MARKSCHIES, Metapher, 3. Vgl. JEWETT, Terms, 397. THEOBALD, Gnade, 228 präzisiert, dass nicht die „Innenseite“ des Menschen, „sondern sein vom πνεῦμα neugeschaffenes und bewohntes ‚Herz‘“ gemeint sei. Diese Interpretation greift wahrscheinlich auf Eph 3,16f zurück. Vgl. BEST, Ephesians, 341. Vgl. HECKEL, Mensch, 146. Vgl. GRÄßER, Brief I, 178 im Anschluss an KÄSEMANN, Leib, 122. WINDISCH, Korintherbrief, 152 versteht unter dem ‚inneren Menschen‘ ganz ähnlich eine „Bezeichnung eines Wesens, das eigentlich den in uns Gestalt und Leben gewinnenden Jesus bezeichnet (Gal 2,20; 4,19).“

176

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

2. Entscheidend ist für die Interpretation, dass Paulus nicht die mit dem Bild verbundene dualistische Anthropologie aus seiner Umwelt teilt.44 Denn zum einen wird bei Paulus keine Leibfeindlichkeit sichtbar. Die explizite Verneinung des ἐγκακέω (verzagen, müde werden) ist vielmehr ein Hinweis darauf, dass offenbar die Vernichtung des ‚äußeren Menschen‘ eigentlich ein Grund zum Verzagen wäre. Es findet auch keine Funktionalisierung der Vernichtung zum Erreichen der Erneuerung statt, beide stehen parataktisch nebeneinander.45 Zum anderen ist auch der ‚innere Mensch‘ von äußeren Einwirkungen betroffen, da er sonst nicht der Erneuerung bedürftig wäre. Eine Auflösung der Metapher durch eine Verlagerung von Vernichtung und Erneuerung auf zwei Ebenen im Menschen scheidet demnach als Deutungsmöglichkeit aus: Das von außen kommende Leiden, wenn auch für den ‚inneren Menschen‘ nicht als Vernichtung beschrieben, betrifft den ganzen Menschen.46 Lediglich die Erneuerung ist auf den ‚inneren Menschen‘ konzentriert.47 3. Die Leidbewältigungsstrategie von 4,16 besteht auch nicht darin, dass Leiden und Erneuerung chronologisch gestaffelt werden:48 Ein zeitliches Nacheinander lässt sich nicht nachweisen: Die Zeitangabe „Tag für Tag“49 für die Erneuerung verweist nicht auf die Zukunft, sondern beginnt in der Gegenwart und setzt sich kontinuierlich fort. Auch die Formulierung beider Verben im Präsens legt eine Verortung von Vernichtung und Erneuerung auf der gleichen Zeitstufe nahe.50 Damit setzt sich das Verständnis aus 4,7–15 fort, wo auch kein Gegenüber von gegenwärtigem Leiden und erst zukünftiger Rettung angedeutet ist. Auch für 4,17f werde ich noch zeigen, dass nicht von einem apokalyptisch zu verstehenden Dualismus zwischen Jetzt und

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Vgl. GRÄßER, Brief I, 178. Dagegen z. B. THRALL, Epistle I, 347–351, die unter den von ihren aufgezählten Alternativen die Auslegung mit dualistischer Implikation für angemessen hält. Die Formulierung ἀλλά – ἀλλά wird auch in 2Kor 7,5 verwendet. Sie kann als Steigerung verstanden werden, sodass 4,16 etwa wie folgt zu übersetzen wäre: „Darum werden wir nicht nachlässig, sondern wenn auch unser äußerer Mensch vernichtet wird, wird aber (doch) unser innerer Tag um Tag erneuert.“ Demnach wäre die Erneuerung größer gedacht als die Vernichtung. THEOBALD, Gnade, 228 betont den allumfassenden Charakter des inneren und äußeren Aspekts des Menschen mit Verweis auf das ἐν πάντι von 2Kor 4,8. Ähnlich auch THRALL, Epistle I, 349– 351 und HARRIS, Epistle, 360. Nach BETZ, Concept, 334 verhalten sich beide Seiten des Menschen wie die beiden Seiten derselben Medaille. Nach HECKEL, Mensch, 146 wendet Paulus sich gegen einen „anthropologischen Superlativ“ des ‚inneren Menschen‘ bei Platon. Die Lösung des Widerspruchs von Leiden und gleichzeitiger Rettung durch Verlagerung auf zwei anthropologische Ebenen beschreibt KRUG, Kraft, 74f als das „lokale Modell“. Das scheidet hier aus. Diesen Ansatz weist KRUG (a. a. O., 73f) als das „chronologische Modell“ in der Antike nach. FURNISH, Corinthians, 262 weist darauf hin, dass die Formulierung ἡμέρᾳ καὶ ἡμέρᾳ zwar oft als Hebraismus verstanden wird, jedoch in der LXX nicht belegt ist. Vgl. SCHMELLER, Brief I, 275f und HARRIS, Epistle, 359.

§ 9 Einzelexegese von 2Kor 4,16–18

177

Dann die Rede ist.51 Wie ist aber die Spannung aufzulösen und wie sieht die hier gegebene Leidbewältigungsstrategie aus? 4. Paulus erkennt durch die Rede vom ‚äußeren Menschen‘ die Realität und den Schmerz des Leidens an. Beides wird nicht durch eine Abwertung des Äußeren marginalisiert. Die Differenzierung der beiden anthropologischen Orte erlaubt es jedoch, dass Leiderfahrungen nicht die ganze Wirklichkeit bestimmen: Denn der ‚äußere Mensch‘ wird zwar von Leiderfahrungen – auf der sozial-psychischen und der somatisch-physischen Ebene – vernichtet (διαφθείρω). Aber gleichzeitig besteht darin für den ‚inneren Menschen‘ die Perspektive einer kontinuierlichen Erneuerung. Diese muss und kann er nicht durch Eigenleistung erreichen, sondern sie wird von außerhalb seiner selbst durch die Kraft Gottes bewirkt: Ἀνακαινοῦται ist als passivum divinum zu verstehen.52 Die Erneuerung des Menschen leistet also nicht eine Person selbst.53 Genauso ist auch in den Antithesen von 4,8f der Bewahrungsaspekt im Leiden in den Hintergliedern der Antithesen ausgedrückt und nicht auf die Aktivität der Paulus-Gruppe zurückgeführt. Der ‚innere Mensch‘ ist kein Ort eigener Verdienste, sondern die Erfahrung der Kraft Gottes in Tongefäßen (4,7) oder von Leben und Tod Jesu (4,10f) in der Perspektive der Christusglaubenden.54 Die Vernichtung des ‚äußeren‘ und Erneuerung des ‚inneren Menschen‘ geschehen gleichzeitig. Das ist durch die Anbindung an 4,7–15 christologisch zugespitzt: Die widersprüchlichen Erfahrungen von Vernichtung und Erneuerung werden als Sterben und Leben Christi im jeweiligen Leben der Christus-Glaubenden gedeutet.55 Insofern bekommt diese Strategie auch einen eschatologischen Zug, der jedoch nicht die Gegenwart der Erneuerung erset51

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Nach SCHRAGE, Leid, 174 korrigiert Paulus in 2Kor 4,16 mit der präsentischen Eschatologie einen zu zukunftslastigen, apokalyptisch geprägten Glauben. Gleichzeitig wende er sich mit der futurischen Eschatologie in 4,17f gegen einen zu gegenwartsbezogenen, enthusiastisch Glauben. Vgl. a. a. O., 150. ECKERT, Mensch, 72f verweist zu Recht auf das Motiv der Neuschöpfung und Verwandlung in 2Kor 3,4–18; 1Kor 15; Phil 3,28; Röm 8,11.23; im Kontext der Taufe auf 1Kor 6,11; Röm 6,1–11; Gal 3,26–28 und schließlich 2Kor 5,17. Auch das κατεργάζομαι in 4,17 zeigt keine eigene Aktivität beim Herrlichkeitserwerb, da das nicht selbst zu beeinflussende und zudem als leicht und gegenwärtig qualifizierte Leiden hier Subjekt ist. Eine mediale Übersetzung von ἀνακαινοῦται ist möglich, aber nicht wahrscheinlich. Eine dann reflexive Bedeutung „sich erneuern“ mit dem Ziel sittlicher Besserung wäre schwer in den Kontext einzuordnen. Wahrscheinlicher ist die passive Bedeutung in Aufnahme der Hinterglieder des Peristasenkatalogs von 2Kor 4,8f. Das Verb ἀνακαινόω wie auch das Substantiv ἀνακαίνωσις sind erst seit Paulus und danach besonders bei den Kirchenvätern belegt. Begriffsgeschichtlich lässt sich also wenig zur Klärung beitragen. Paulus verwendet sonst nur das Substantiv in Röm 12,2. Im übrigen NT kommt der Begriff nur deuteropaulinisch in Kol 3,10 und Tit 3,5 vor. Vgl. BETZ, Concept, 333 und MARKSCHIES, Metapher, 2. Vgl. THEOBALD, Gnade, 229 und BETZ, Concept, 333, demzufolge sich der christliche Glaube dadurch auszeichnet, die Erneuerungskraft als von Gott und nicht aus dem Menschen kommend zu erkennen. Daraus schließt er: „[T]he contradictions of human existence are not removed from the life of the Christian, but their presence is to be understood as concomitant manifestations of the death and life of Christ.“

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Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

zen will.56 Das „Tag für Tag“ kann als Entsprechung zu πάντοτε und ἀεί aus 4,10f verstanden werden: Die zeitliche „Entgrenzung“ ist von der Seite der Leiden in 4,7–12 „auf die Seite der Herrlichkeit“57 und Erneuerung gerückt. Dem im Präsens formulierten und damit durativ gedachten Zugrundegehen steht eine ebenso permanent vorgestellte Erneuerung des ‚inneren Menschen‘ gegenüber. Zwar nicht wegen, aber in der Leiderfahrung wirkt Gott die Erneuerung. Damit ist auch in dieser Leidbewältigungsstrategie nicht angedeutet, dass die leidverursachenden Widerfahrnisse beendet werden.58 Auch die Erneuerung muss nicht äußerlich sichtbar werden. Sie ist vielmehr als Bewahrung durch Gott im Leiden zu verstehen wie auch schon im Peristasenkatalog von 4,8f. Diese ist der Grund dafür, dass die Paulus-Gruppe nicht verzagt. Zugänglich ist diese Erfahrung der Bewahrung den Christusglaubenden auf einer anderen als der oberflächlich wahrnehmbaren Ebene.59 Darauf verweist auch 4,17f, was nun näher zu untersuchen ist.

9.3.2

Positive Wirkung des Leidens als Schaffen von Herrlichkeit (4,17f)

Mit 2Kor 4,17 schiebt Paulus einen Vers ein, der nicht so stark wie die umliegenden von philosophischen Denkansätzen geprägt ist.60 Näher sind hier Parallelen zur frühjüdischen Vorstellung vom Märtyrer-Lohn, die eine kausale Verbindung zwischen Leid und Lohn herstellen:61 Das Ertragen von Leiden in verschiedener Form kann demnach unterschiedliche, positiv konnotierte Dinge für die ehemals Leidenden bewirken, z. B. „Unvergänglichkeit in lange währendem Leben“ (4Makk 17,12), „Siegespreis der Tugend“ und 56

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Vgl. GRÄßER, Brief I, 177, der die Christusglaubenden in 2Kor 4,16 einer „anthropologische[n] Lage zwischen den Zeiten“ sieht. Vgl. BULTMANN, Brief, 128; MARTIN, Corinthians, 92 und SCHRAGE, Leid, 151 bestimmen den Gegensatz von ‚äußerem‘ und ‚innerem Menschen‘ nicht anthropologisch, sondern sehen darin die Differenz „von altem und neuem Äon, deren Schnittpunkt die Existenz der Christen bildet.“ THRALL, Epistle I, 350f kritisiert neben anderen eine solche eschatologische Deutung. THEOBALD, Gnade, 227. Vgl. z. B. SAVAGE, Power, 183: Für die äußerlich Betrachtenden ist eine Erneuerung nicht wahrnehmbar. Zurecht weist SAVAGE auf die Stoßrichtung gegen die Gegner des Paulus hin: „His critics fail to see this increasing weight of glory because it is accumulating in his heart (v. 6), a place hidden to their externally-minded outlook.“ Vgl. für den Hinweis auf eine Glaubensebene z. B. SCHMELLER, Brief I, 275f und GRÄßER, Brief I, 177f sowie das Transzendenz-Modell bei KRUG, Kraft, 78–86. Dieser beschränkt seine Untersuchung allerdings im Kontext von 2Kor 4,7–5,10 auf den Abschnitt 4,7–12, sodass er sein Modell nicht an 4,16–18 expliziert. Vgl. WINDISCH, Korintherbrief, 154f und SCHMELLER, Brief I, 278f. Sie verweisen auf Analogien zur Beziehung von Leiden und Herrlichkeit aufeinander bei Plutarch, Cons. App. 117e; Epiktet, Diss. 1,9,17 und für die Belohnung von Märtyrern auf Seneca, Tranq. 16,4. Vgl. SCHMELLER, Brief I, 278 mit entsprechenden Belegstellen

§ 9 Einzelexegese von 2Kor 4,16–18

179

„bei Gott sein“ (4Makk 9,8), „einen (Sieges-)Kranz in großer Herrlichkeit“ (3Bar 15,8) oder „Herrlichkeit“ und „das große Licht“ (3Bar 48,49f). In der LXX scheint die engste Verbindung zu SapSal 3,5 zu bestehen: „Und nachdem sie eine kleine Weile gezüchtigt worden sind, wird ihnen Großes getan werden …“ (καὶ ὀλίγα παιδευθέντες μεγάλα εὐεργετηθήσονται).62 Dabei kann ein ähnlich apologetischer Zusammenhang angenommen werden wie in 2Kor 4,16–18, da sich auch hier Vorwürfe auf das Äußere richten (vgl. SapSal 3,2.4).63 Die genannten Stellen gehen von einer erst eschatologischzukünftigen oder apokalyptischen Überwindung des Leidens aus.64 In Röm 8,18 thematisiert Paulus selbst ganz ähnlich das Gegenüber von jetzigem Leiden (τὰ παθήματα τοῦ νῦν καιροῦ) und kommender, also apokalyptisch ausstehender Herrlichkeit (τὴν μέλλουσαν δόξαν). Mit den genannten Stellen hat die paulinische Aussage in 2Kor 4,17 gemein, dass dem Leiden sein sinnloser Charakter anders als in 4,16 durch die Zuordnung einer positiven Wirkung für die Leidenden genommen wird. Jedoch bestehen besonders zwei Unterschiede: Erstens ist hier nicht davon die Rede, dass die gegenwärtige Bedrängnis (z. B. als Strafe oder Prüfung wie in SapSal 3,5f) von Gott käme. Zweitens nimmt Paulus zwar offenbar mit dem Gegenüber von Bedrängnis und Herrlichkeit ein verbreitetes Konzept auf, variiert es aber in der Zeitstruktur und durchbricht damit die apokalyptische Spannung zwischen gegenwärtigem und erst zukünftigem Äon.65 Der Gegensatz ist hier nicht – wie häufig in apokalyptischen Texten – als zeitliches Nacheinander gedacht (erst Leiden, dann Herrlichkeit), sondern als bereits gleichzeitig erfahrbar. Während jedoch die Bedrängnis gegenwärtig (παραυτίκα) ist, also in der Gegenwart beginnt und darin wieder endet, wird dadurch eine Herrlichkeit hervorgebracht (κατεργάζομαι), die von der Gegenwart kontinuierlich bis in die Zukunft – ohne Ende (αἰώνιον) – hineinreicht.66 Dadurch wird eine Spannung aufgebaut:67 Die Herrlichkeit als posi62

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Der übrige Vers SapSal 3,5 liefert die Begründung des Leidens: „…, denn Gott hat sie versucht und sie für seiner würdig befunden“ (ὅτι ὁ θεὸς ἐπείρασεν αὐτοὺς καὶ εὗρεν αὐτοὺς ἀξίους ἑαυτοῦ). Die vorausgesetzte Anthropologie unterscheidet sich jedoch von der in 2Kor 4,16–18. In SapSal 3,1 heißt es: „Aber die Seelen der Gerechten sind in Gottes Hand und kein Schmerz wird sie berühren.“ Hier sind Leib und Seele strikt getrennt, die Seele ist nicht vom Leiden betroffen. Anders 2Kor 4,16. Vgl. z. B. KLEINKNECHT, Gerechtfertigte, 261 für den Hinweis auf 3Bar 32,5f; 68,25f; 48,50; 51,12 und 52,5 für die Zukünftigkeit der Leidüberwindung. Vgl. dagegen KLEINKNECHT, Gerechtfertigte, 261. Vgl. für die Zwei-Äonen-Lehre in der Apokalyptik z. B. BOUSSET, Religion, 243–245, der u. a. auf 1Hen 16,1; 18,16; 21,46; 2Hen 61,2; 65,8; 65,10; Jub 1,29 und AssMos 1,18; 12,4 verweist. Paulus kann dabei ähnlich wie im Falle des oben thematisierten ‚inneren Menschen‘ auf ein Konzept zurückgreifen, das weit verbreitet aber nicht gänzlich festgelegt ist. Daher modifiziert er es inhaltlich in seinem Sinne. LIDDELL-SCOTT, 45 übersetzt αἰώνιος mit „lasting for an age, perpetual, eternal“, BAUER, 54f mit „ewig“ in den Konnotationen „ohne Anfang … ohne Anfang u. Ende … ohne Ende“ (Hervorhebung im Original). Der Gedanke ist mit anderen Begriffen bereits in 2Kor 3,11 ausgeführt, wenn

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Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

tive Auswirkung des Leidens ist bereits mitten darin erfahrbar.68 Neben dem verwendeten Leidbegriff πάθημα in Röm 8,18 ist diese Zeitstruktur der zentrale Unterschied zur vorliegenden Stelle: Dort wird die Herrlichkeit eindeutig erst zukünftig erwartet und nicht bereits gegenwärtig vorausgesetzt.69 Die Auflösung der Spannung von Leiden und Herrlichkeit durch zeitliches Nacheinander greift nicht für 2Kor 4,17f. Betrachtet man 2Kor 4,16–18 als Weiterführung von 4,7–15, so wird hier die christologisch geprägte Zeitstruktur aufgenommen: In 4,10f erfahren die Paulus-Gruppe und in 4,12 die Gemeinde das Leben Jesu schon während des Leidens und nicht erst danach. Also ist es naheliegend, dass die in 4,16 thematisierte ewig bleibende Herrlichkeit mit dem Leben Jesu verbunden ist.70 Das deckt sich mit den anderen Stellen, an denen Paulus von der Herrlichkeit spricht: In den meisten Fällen ist sie entweder direkt in einer Genitivverbindung an Gott oder Christus geknüpft oder wird ihm als ‚Doxologie‘ zugesprochen.71 Allerdings ist es auffällig, dass in 4,16–18 weder Gott noch Christus explizit genannt sind und der christologische Bezug nur über die Rückbindung an 4,7–15 implizit gegeben ist. Die Leiderfahrung der Wir-Gruppe wird in Spannung zum ewigen, bleibenden Gewicht der Herrlichkeit als vergänglich und leicht dargestellt.72 Diese Aussage wäre missverstanden, wenn sie als Verharmlosung von Leiderfahrungen interpretiert würde. Vielmehr wird durch die bereits von Paulus geschilderten Leiderfahrungen deutlich, dass er gerade nicht das Leiden als klein darstellen möchte. Das wird auch klar durch die Ähnlichkeit zu 2Kor 1,3–11, wo ebenfalls die Begriffe βάρος73 und καθ’ὑπερβολήν (im Übermaß) vorkommen. Dort beschreiben diese nämlich die Leiderfahrung, was der häufigen Verwendung von βάρος für den drückenden und belastenden As-

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Paulus in Bezug auf die Herrlichkeit des mosaischen und des apostolischen Amtes das erste als „das Vergehende“ (τὸ καταργούμενον) und das zweite als „das Bleibende“ (τὸ μένον) beschreibt. SAVAGE, Power, 184 löst die Spannung nur scheinbar, wenn er feststellt: „glory really does come to expression through affliction.“ Ähnlich auch LINDGÅRD, Line, 126. THRALL, Epistle I, 354 denkt an die Auferstehung nach dem physischen Tod des Menschen, die noch aussteht. Das entspricht nicht der Zeitstruktur von 2Kor 4,17. So z. B. SCHMELLER, Brief I, 279; GRÄßER, Brief I, 179 und THEOBALD, Gnade, 231. Auch der Folgevers Röm 8,19 macht deutlich, dass die Erwartung auf die Zukunft gerichtet und noch nicht realisiert ist. Vgl. JEWETT, Romans, 508–511. Vgl. BULTMANN, Brief, 129 für Parallelen aus der Gnosis dafür, dass „sich die eschatologische Neuwerdung schon in der Gegenwart vollzieht“ IgnEph 19,21f; 20,1. SCHMELLER, Brief I, 274, Anm. 620 weist darauf hin, dass die gnostischen Texte allerdings nachpaulinisch sind. Vgl. 1Thess 2,12; Gal 1,5; Phil 1,11; 2,11; 3,21; 4,19f; Röm 5,2; 6,4; 11,36; 15,7; 16,27; 2Kor 4,6.15; 8,18.23. In 2Kor 3,4–18 geht es um die δόξα des Dienstes, die jedoch in 3,18 in der δόξα Gottes kulminiert. MARTIN, Corinthians, 95 bezieht die Aussage in 2Kor 4,17 auf Paulus alleine und bezeichnet sie als „one of his greatest understatements!“ Ggf. kann Paulus mit diesem Begriff auf das hebräische ‫ כבד‬mit den Bedeutungen ‚Gewicht‘ und ‚Herrlichkeit‘ anspielen. So z. B. WINDISCH, Korintherbrief, 155 und THRALL, Epistle I, 354.

§ 9 Einzelexegese von 2Kor 4,16–18

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pekt verschiedenartigen Leidens entspricht.74 Durch die Zuordnung der Begriffe zur Herrlichkeit wird in 4,17f gerade der großen Bedrängnis aus 1,3ff eine ‚maßlos überbietende‘ (καθ’ὑπερβολήν εἰς ὑπερβολήν) Herrlichkeit gegenübergestellt.75 Die Herrlichkeit ist außerdem mit der in 4,16 beschriebenen Erfahrung verknüpft, dass der ‚innere Mensch‘ tagtäglich erneuert wird. In beiden Versen wird kein konkretes Ende der leidverursachenden Widerfahrnisse ausgesagt, aber mitten in ihnen die Erfahrung von Erneuerung oder ewiger Herrlichkeit als bestehende Spannung dargelegt. Durch die Beschreibung des Leidens mit dem neutestamentlichen Hapaxlegomenon παραυτίκα (augenblicklich, gegenwärtig) ist jedoch dessen Endlichkeit angesprochen. Wenn nun die Leiderfahrung eine bereits jetzt anbrechende Herrlichkeit erzeugt, bleibt die Frage, wie man diese wahrnehmen kann und wie der Widerspruch zwischen gleichzeitigem Leiden und Herrlichkeit zu erklären ist. Dazu äußert sich Paulus in 4,18 mit der Unterscheidung zwischen dem Unsichtbaren, auf das die Christus-Glaubenden (‚Wir‘) achten, im Gegensatz zum Sichtbaren. Der genitivus absolutus μὴ σκοπούντων ἡμῶν zu Beginn von 4,18 ist am ehesten modal oder relativ zu verstehen: „wenn/die wir nicht schauen auf …“ Damit soll die Art des Blicks auf die Wirklichkeit ausgedrückt werden.76 Die Bedrängnis ist genauso real und sichtbar wie die Leiden des ‚äußeren Menschen‘ und die in 4,7–12 beschriebenen Apostelleiden. Doch sie wird von Christusglaubenden aus einer anderen Perspektive wahrgenommen, die nicht auf die sichtbaren vergänglichen und damit weniger relevanten Dinge achtet, sondern auf die ewigen unsichtbaren.77 Gleiches konnte bereits oben für die Vorderglieder der Antithesen aus 4,8f, für den Tod Jesu am Leib der Apostel (4,10–12) und für den ‚äußeren Menschen‘ (4,16) festgestellt werden. Traditionsgeschichtlich sind für den Gedanken der Hochschätzung der unsichtbaren ewigen Dinge wie bereits in 4,16 für den ‚inneren Menschen‘ Rückgriffe auf ein breites Spektrum antiker Texte mög74

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Vgl. SCHRENK, Art. βάρος, 552 mit Verweis z. B. auf Aristoteles, HA 603b und Philo, Mos. 1,14.39. Gemeinsam mit ἐλαφρός kommt βάρος vorpaulinisch selten vor. Vgl. Platon, Lg. 625d für kretische Fuß-Kämpfer, die leichte Waffen bevorzugen und schwere Ausrüstung vermeiden. Für den übertragenen Gebrauch von ἐλαφρός verweisen LIDDELL-SCOTT, 530 z. B. auf Homer, Il. 2,287, wonach der Kampf der Trojaner leichter würde, wenn Hektor den Achill töten könnte. Z. B. BULTMANN, Brief, 131; FURNISH, Corinthians, 290f und THEOBALD, Gnade, 231f gehen daher nicht davon aus, dass Paulus hier einen Lohn-Gedanken aus der apokalyptischen Literatur übernimmt. Vgl. aber dagegen SCHMELLER, Brief I, 278f; WINDISCH, Korintherbrief, 155 und LINDGÅRD, Line, 124: Der Lohngedanke ist an dieser Stelle präsent, wenn auch nicht im Fokus. Vgl. THEOBALD, Gnade, 232 und GRÄßER, Brief I, 179, der auf BLASS-DEBRUNNER, § 423,5 verweist. Gegen z. B. SCHMELLER, Brief I, 279, der die kausale Auflösung für die angemessenste hält. M. E. würde eine kausale Auflösung eine Eigeninitiative implizieren, die der in 2Kor 4,16 von außen kommenden und im passivum divinum zugesprochenen täglichen Erneuerung widerspräche. Für HARRIS, Epistle, 363 erscheint die Bedrängnis „sub specie aeternitatis“ als leicht: „The eye of faith creates a new perspective.“ Es besteht eine gewisse Spannung zu 2Kor 10,7: „Seht auf das, was offensichtlich ist!“ Vgl. LINDGÅRD, Line, 129.

182

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

lich.78 Im Kontext der Apostolats-Verteidigung kann Paulus damit seine Gegner kritisieren, weil sie sichtbare Herrlichkeitserweise fordern.79 Paulus schlägt also als Strategie zur Leidbewältigung vor, die Leiderfahrungen im Zusammenhang mit einer viel größeren Herrlichkeit zu betrachten, die durch diese erwirkt wird: Die vergängliche Leichtigkeit der Bedrängnis ist dabei das Subjekt für κατεράζω. Dadurch wird dem Leiden bereits auf der Textebene eine positive Wirkung zugeordnet, sodass es nicht sinnlos bleibt. Die erwirkte Herrlichkeit ist nicht erst nach dem physischen Tod oder einem noch ausstehenden Äonen-Umbruch erfahrbar, sondern auf unsichtbare Weise bereits jetzt und hier. Nur unter Einbezug dieser (unverhältnismäßig überschwänglichen) Herrlichkeit erscheint die Leiderfahrung verhältnismäßig gering und zeitlich begrenzt. Sie ist den Christusglaubenden zugänglich, die nicht (nur) auf die sichtbaren Dinge (τὰ βλεπόμενα) achten, sondern auch auf die unsichtbaren bzw. ewigen/bleibenden (τὰ μὴ βλεπόμενα αἰώνια). So ist die Spannung zwischen gleichzeitigem Leiden und Herrlichkeit wie bereits in 4,16 durch den Einbezug einer transzendenten Perspektive erklärbar.80

9.4

Zwischenfazit

Der Abschnitt 2Kor 4,16–18 fügt sich in seiner antithetisch formulierten Struktur fast nahtlos an 4,7–15 an und bereitet 5,1–10 vor. Er kann als Fortsetzung und verallgemeinernde Zusammenfassung des vorangehenden Abschnitts verstanden werden. Dementsprechend sind auch Leiderfahrung und Leidbewältigungsstrategien zwischen 4,16–18 und 4,7–15 ähnlich. Paulus behandelt hier Leiderfahrungen, die der Wir-Gruppe als Handlungen auf der somatisch-physischen Ebene aufgrund ihrer Aposteltätigkeit von außerhalb der Gemeinde widerfahren. Der Abschnitt ist jedoch offen für eine allgemeine Plural-Deutung, die alle Christusglaubenden einschließt.

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GRÄßER, Brief I, 180 verweist für den Gedanken der Hochschätzung des nicht Sichtbaren u. a. auf Platon, Phdr. 79a; Philo, conf. 171f; opif. 16. Vgl. HECKEL, Mensch, 108 für den Verweis auf Platons Höhlengleichnis in R. 514–518. WINDISCH, Korintherbrief, 156 will die Wahrnehmung des Unsichtbaren als „Gabe des Propheten, des Apokalyptikers und des Märtyrers“ deuten und verweist auf Num 24,3ff.15ff; Hebr 11,26; Apg 7,55f; aber auch Seneca, Epist. 58,27. Gegen eine solche Interpretation des Achtens auf das Unsichtbare als „Seherblick“ wendet sich BULTMANN, Brief, 131. Gegen GRÄßER, Brief I, 180, der die „polemische Deutung“ nicht für ausreichend zur Erklärung der Stelle hält. M. E. ist es genau umgekehrt: Eine Deutung mit Bezug auf neuplatonische Gedanken, wie er sie angemessener Weise vorschlägt, reicht alleine nicht zur Erhellung der Stelle aus. Vgl. wie unter § 9.3.1.2 für den Hinweis auf eine Glaubensebene z. B. SCHMELLER, Brief I, 275f und GRÄßER, Brief I, 177f sowie das ‚Transzendenz-Modell‘ bei KRUG, Kraft, 78–86.

§ 9 Einzelexegese von 2Kor 4,16–18

183

Mit der Rede von der Vernichtung des ‚äußeren‘ und der Erneuerung des ‚inneren Menschen‘ greift er wahrscheinlich auf eine antike Vorstellung zurück, ohne dabei in nachweisbarer Abhängigkeit zu einer bestimmten Vorlage zu stehen. Der ‚äußere Mensch‘ ist für ihn nicht Teil eines Leib-SeeleDualismus, sondern der sichtbare Ort, an dem das Leiden somatisch-physisch und sozial-psychisch erkennbar wird. Auf der inneren Ebene geschieht dagegen die tägliche Erneuerung durch Gott mitten im Leiden, was kein Ende der leidverursachenden Widerfahrnisse bedeutet. Vielmehr geht es ähnlich wie in 4,8f und 1,4–7 um Bewahrung oder Standhaftigkeit im Leiden, die in Gott begründet, aber äußerlich nicht unbedingt sichtbar ist. Für die Christusglaubenden ist diese Gotteswirkung jedoch erfahrbar, weil sie auf das Unsichtbare schauen. Die zweite Strategie zur Leidbewältigung in 4,17f greift ganz ähnlich auf die in der Antike verbreitete Unterscheidung zwischen einer sichtbaren und einer höher geschätzten unsichtbaren Ebene zurück. Denn wie bereits in 4,16 ist an ein gleichzeitiges Gegenüber von Leiden und Herrlichkeit gedacht. Diese Spannung ist durch den Einbezug der unsichtbaren Ebene des Christusglaubens erklärt. In 4,17f wird allerdings dem als bloß gegenwärtig gekennzeichneten Leiden die positive Wirkung zugeschrieben, das Ziel einer ebenfalls bereits gegenwärtigen, aber ewig-unvergänglichen Herrlichkeit zu erreichen. Es ist dabei nicht an eine Mitwirkung des Einzelnen gedacht, der etwa durch den Versuch der Vermehrung eigenen Leidens die Herrlichkeit vergrößern könnte. Denn erstens steht die Herrlichkeit nicht in einem quantifizierbaren Verhältnis zum Leiden, sondern wird in pleonastischem Stil als unverhältnismäßige Überbietung des Leidens beschrieben. Zweitens wird durch die Rückbindung an 4,16 klar, dass die Bewirkung kein Automatismus ist, sondern auf Gott zurückgeführt wird. Das Übermaß an Herrlichkeit wird dabei eschatologisch (Bezug zu 5,1–10), aber auch bereits gegenwärtig sichtbar.

§ 10 Einzelexegese von 2Kor 6,3–13 und 7,2–4 § 10 Einzelexegese von 2Kor 6,3–13 und 7,2–4

10.1 Kontext 10.1.1

Abgrenzung, Kontext und Gliederung der Perikope

Im Kontext von 4,7–15.16–18 wurde bereits dargelegt, dass Paulus in 3,1–4,6 zuerst die positive Seite des Dienstes mit dessen Herrlichkeit darstellt, während er in 4,7–5,10 die ambivalente Seite mit den Leiderfahrungen einbezieht. Eine ähnliche Struktur lässt sich auch für 5,11–6,10 beobachten.1 Denn 5,11–6,2 zeigt unter dem Stichwort der Versöhnung (5,18–20) die glanzvolle Seite des Dienstes und die Apostel als von Gott eingesetzte Diener (5,10; 6,1).2 Die Beschreibung zielt in 6,1f durch ein Zitat aus Jes 49,8 und dessen Zuspitzung auf die Gegenwart darauf, dass der angekündigte Tag des Heils herbei gekommen sei. Damit wird das Versöhnungsgeschehen als Erfüllung der Prophezeiung Deutero-Jesajas dargestellt: „Siehe, jetzt ist willkommene Zeit, siehe jetzt ist der Tag der Rettung“ (2Kor 6,2).3 Diese präsentische Eschatologie begründet für die Paulus-Gruppe die Ernsthaftigkeit der Verkündigung auch im Leiden. Sie dient aber auch der Motivation der Gemeinde zur schnellen Solidarisierung mit der Paulus-Gruppe (6,11–13; 7,2–4). In Aufnahme von 2Kor 4,7ff erfolgt in 6,3–10 mit dem Stilmittel des Peristasenkatalogs die Darstellung der ambivalenten Seite des Aposteldienstes. Die Erfahrung des Leidens wird dabei als dauerhafter Erweis der Apostel als Diener Gottes verstanden, da diese bei der Dienstausübung durch nichts einen Anstoß geben (6,3f). Die spannungsreiche Gegenüberstellung der Herrlichkeit des Dienstes gegenüber seiner Niedrigkeit (oder Ambivalenz) findet sich also hier in 2Kor 5,11–6,2 vs. 6,3–10 ebenso wie zuvor in 3,1–4,6 vs. 4,7–5,10. Die inhaltliche Zäsur nach 6,2 ist weitgehend unumstritten. 6,1f kann als Überleitung zum Peristasenkatalog 6,3–10 verstanden werden, der im Fokus der Untersuchung stehen wird.4 Für eine Zäsur nach 6,2 spricht auch, dass 1 2

3

4

Vgl. SCHMELLER, Brief I, 342. HARRIS, Epistle, 469 geht davon aus, dass das Stichwort der Versöhnung (v. a. 2Kor 5,19) im Kontext des Konflikts zwischen Gemeinde und Aposteln auch unterschwellig an die Versöhnungsbereitschaft der Gemeinde appelliert. FITZGERALD, Cracks, 185 weist anhand von Dio Chrysostomos 38 darauf hin, dass auch im paganen Umfeld die Sorge um die richtige Zeit für Wort und Tat verbreitet war. Vgl. zur Abgrenzung des Zusammenhangs von 2Kor 6,3–10 z. B. GRÄßER, Brief I, 228ff; WINDISCH, Korintherbrief, 199ff; BULTMANN, Brief, 164ff; FITZGERALD, Cracks, 180ff und SCHIEFER

§ 10 Einzelexegese von 2Kor 6,3–13 und 7,2–4

185

nur in der Rahmung des Katalogs in 6,1f und 6,11–13 mit 7,2–4 die Gemeinde direkt angesprochen wird.5 Ab 6,11 beginnt ein Rückblick auf das bereits Gesagte, der sich unter Auslassung des wahrscheinlich unpaulinischen Textstücks 6,14–7,1 bis 7,4 erstreckt.6 Dadurch wird die Selbstempfehlung des Peristasenkatalogs in eine Aufforderung an die Gemeinde überführt, sich für die Paulus-Gruppe zu öffnen. Aus diesen überleitenden Versen sind besonders 7,3f mit der Rede vom Mitsterben und -leben für die Frage nach dem Leiden relevant. Daher werde ich über den Peristasenkatalog hinaus auch 6,11–13 und 7,2–4 mit einbeziehen.7 Die Zuordnung von 7,4 ist umstritten. Bei G. BORNKAMM bildet dieser Vers den Abschluss der ‚ersten Apologie‘ (2,14–7,4) und ist in Bezug auf die vorangehenden Verse zu verstehen.8 Einige Forschungspositionen sehen jedoch 7,4 bereits als Einsatz eines neuen Briefabschnitts9 oder eigenständigen Briefteils,10 sodass der Vers auf die Folgeverse zu beziehen wäre. Als Argumente für die Zusammengehörigkeit von 7,4 mit den Folgeversen werden v. a. Stichwortverbindungen genannt, sodass V.P. FURNISH den Vers 7,4 als „topic sentence“11 für 7,5ff bezeichnet. Obwohl diese Stichwortverbindungen auffällig sind, ist eine solche Verortung von 7,4 nicht plausibel. Denn 6,11–13 und 7,2–4 gehören so eng zusammen, dass davon nicht ohne weiteres der letzte Vers abgetrennt werden kann: Das πλατύνω (breit machen, erweitern) aus 6,1.13 ist fast synonym zu χωρέω (Raum geben, Platz machen) in 7,2 und es besteht eine Stichwortverbindung zu καρδία in 6,11.12.13 und 7,2.12 7,4 wechselt wie bereits 7,3 zwischen erster Person Singular und Plural

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FERRARI, Sprache, 218ff. V. a. SCHMELLER, Brief I, 306ff; KLEINKNECHT, Gerechtfertigte, 255ff und HAFEMANN, Suffering, 76ff grenzen 2Kor 6,1–10 ab. THRALL, Epistle I, 400ff und MARTIN, Corinthians, 159ff fassen 2Kor 6,1–13 zusammen. Das ἰδού in 6,9 ist mehr formelhaft zu verstehen denn als wirkliche Anrede der Gemeinde. Vgl. zur unpaulinischen Herkunft die exegetischen Vorbemerkungen in § 5.2.1.1. Den Zusammenhang von 2Kor 6,3–7,4 (ohne 6,14–7,1) untersucht z. B. WÜNSCH, Brief, 279ff. Vgl. BORNKAMM, Vorgeschichte, 177f und im Anschluss an ihn z. B. GRÄßER, Brief I, 29–35. Für BULTMANN, Probleme, 307 Anm. 17 liegt eine Zäsur ebenfalls nach 2Kor 7,4, woran sich ihm zufolge allerdings ursprünglich 2Kor 10–13 anschlossen und gemeinsam einen Zwischenbrief bildeten. So z. B. FURNISH, Corinthians, 391, der von einem eigenständigen Brief 2Kor 1–9 ausgeht, und WÜNSCH, Brief, 70–75, der die Einheitlichkeit des 2. Korintherbriefs vertritt. So z. B. LINDEMANN, Kirche, 152; WOLFF, Brief, 144f; BAUMERT, Rücken, 9 sowie HOTZE, Paradoxien, 165, der dies nicht als Argument gegen die BORNKAMM’sche Teilungshypothese sieht. FURNISH, Corinthians, 393. Gründe dagegen benennt SCHMELLER, Brief I, 384. Die Stichwortverbindungen von 7,4 zum Folgenden sind θλῖψις (7,5), παρακάκλησις/παρακαλέω (7,6f), χαρά (7,7.9.16) und καύχησις (7,14). In 2Kor 6,12 kommt aus dem semantischen Feld räumlicher Beschreibungen zweimal der Begriff στενοχωρέω vor, der mit der Abstraktbildung στενοχωρία sonst von Paulus häufig in übertragenem Sinn zur Beschreibung von Leiden verwendet wird: Vgl. 2Kor 4,8; 6,4; 12,10 und Röm 2,9; 8,35. Vgl. für weitere Anknüpfungspunkte von 2Kor 7,2–4 an 6,11–13 z. B. SCHMELLER, Brief I, 383f; GRÄßER, Brief I, 266 und WINDISCH, Korintherbrief, 220.

186

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

und greift inhaltlich durch παρρησία (Offenheit, Freimütigkeit) auf den Aspekt des offenen Redens aus 6,11 zurück.13 Insofern sind bezüglich der Stellung von 7,4 zwei Alternativen plausibel: Erstens ist bei der Annahme einer Zusammensetzung des Briefes aus mehreren Fragmenten eine redaktionsgeschichtliche Nahtstelle nur nach 7,4 wahrscheinlich (und nicht nach 7,2 oder 7,3).14 Zweitens ist die Annahme der Einheit zumindest bis zum Ende von 2Kor 7 möglich. Die Auswirkungen der Entscheidung werden unten in § 10.3.5.3 thematisiert.

10.1.2

Peristasenkatalog von 6,4b–10

Die unter § 8.2 genannten Beobachtungen für Peristasenkataloge gelten auch in 2Kor 6,4–10. Anders als 4,8f ist 6,4–10 jedoch nicht durchgehend antithetisch aufgebaut, sondern in seiner Struktur vielfältiger. Zunächst werden 18 Glieder mit der Präposition ἐν aufgezählt (6,4a–7a). In 6,7b ragen „die Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken“ als komplexes, mit διά eingeleitetes Aufzählungsglied heraus. Darauf folgen zwei Antithesen mit der Struktur διά … καί … (6,8a.b) sowie schließlich sieben Antithesen mit ὡς … καί/δέ (6,8c–10).15 Die sechs abschließenden Antithesen ab 6,9 sind dadurch verbunden, dass sie mit Ausnahme von πτωχοί (6,10b) Partizipien auflisten und nicht wie alle vorigen Glieder Substantive. Inhaltlich kann man weiter untergliedern. Nach der Nennung von ἐν ὑπομονή (in Standhaftigkeit/Geduld) folgen neun Peristasen (6,4b–5) und acht Glieder, die oft als „Tugendkatalog“16 bezeichnet werden (6,6–7a). Aufgrund der Verschiedenheit der aufgezählten Glieder kann man mit H.-M. WÜNSCH präziser von einer „Charismentafel“17 sprechen, da die aufgezählten Glieder als gottgegeben und nicht alltäglich dargestellt sind.18 Das hat zu der begründeten Vermutung geführt, dass der Begriff der Standhaftigkeit, der inhaltlich der Charismentafel zuzuordnen wäre, nach vorne gezogen ist. Durch diese überschriftartige Voranstellung präsentiert sich der Katalog als

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Vgl. THRALL, Epistle I, 484. BULTMANN, Brief, 56 u. 180 sieht in den Stichwort-Verknüpfungen von 7,5 zu 7,4 einen Hinweis auf „den Verstand der Redaktion“. Für Hinweise und Untersuchungen zur reichen rhetorischen Ausschmückung des Katalogs vgl. z. B. SCHMELLER, Brief I, 345f und SCHIEFER FERRARI, Sprache, 220–224. Vgl. CHOI, Peristasenkataloge, 155 und EBNER, Leidenslisten, 269. SCHMELLER, Brief I, 343 und GRÄßER, Brief I, 244 gehen von einem Katalog von „Tugenden und Kräften“ aus. WÜNSCH, Brief, 281. Vgl. schon EBNER, Leidenslisten, 281 und ähnlich BULTMANN, Brief, 170 sowie KRUG, Kraft, 227. Damit wären die Apostel der Beweis, dass sie in Bezug zu 2Kor 6,1 die Gnade nicht umsonst empfangen haben, sondern diese sich bei ihnen auswirkt. Vgl. § 10.3.2.

§ 10 Einzelexegese von 2Kor 6,3–13 und 7,2–4

187

Erläuterung und Ausführung der Standhaftigkeit.19 Unter Berücksichtigung der Häufigkeit von Dreier-Reihen und deren Vielfachen in Peristasenkatalog ist folgende Struktur erkennbar:20 – 9 Peristasen – 9 Charismen, wobei die ὑπομονή vorgezogen ist – Metapher der „Waffen der Gerechtigkeit“ als Scharnier21 – 9 Antithesen von Peristasen und positivem Gegenüber Als Parallelen zu 2Kor 6,4ff werden aus dem frühjüdischen Bereich besonders 2Hen 66,6 (Mischung von Peristasen und Tugenden) und TestJos 1,3– 2,7 (Antithesen) genannt.22 Aus dem paganen bzw. stoischen Bereich gibt es Berührungspunkte besonders zu Dio Chrysostomus 8,15f und zu Listen von Widrigkeiten, die auf den stoischen Weisen keinen Einfluss haben sollen und daher Adiaphora genannt werden.23 Eine ausschließliche Zuordnung von 6,3ff in eine der beiden Traditionslinien ist m. E. nicht möglich und weiterführend.24 Vielmehr ist eine Rezeption beider Traditionslinien wahrscheinlich.

10.2 Analyse des geschilderten Leidens Wie bereits für 2Kor 4,8f ist auch für den vorliegenden Peristasenkatalog grundsätzlich festzuhalten, dass die genannten Erfahrungen für die PaulusGruppe denkbar sind, auch wenn sie das einschlägige Vokabular antiker Peristasenkatalogen aufnehmen. Jedoch verortet Paulus die Leiderfahrungen nicht in konkreten Situationen, sodass über die näheren Umstände, Orte und Situationen, nichts zu erfahren ist. Wie in 4,8f steht der Begriff θλῖψις an der Spitze einer Leidensliste und ist wie alle weiteren Begriffe hier ausschließlich auf die Paulus-Gruppe bezogen.

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23

24

So z. B. auch SCHMELLER, Brief I, 344; ZMIJEWSKI, Stil, 311 und CHOI, Peristasenkataloge, 151f. Vgl. den Hinweis auf die Häufung von Dreier- und Vierer-Reihen in Peristasenkatalogen bei ZMIJEWSKI, Stil, 319f. Über die folgende Gliederung besteht ein Forschungskonsens. Auch EBNER, Leidenslisten, 259f sieht die ‚Waffen der Gerechtigkeit‘ als Scharnierstück. So z. B. KLEINKNECHT, Gerechtfertigte, 264. Die Datierung der Paralleltexte ist jedoch umstritten und könnte nachpaulinisch sein. Vgl. BÖTRICH, Henochbuch, 812f und THRALL, Epistle I, 457. Vgl. für solche Adiaphora-Listen Epiktet, Diss. 2,1,35f; 3,20,12f; 3,24,110–114 bei SCHMELLER, Brief I, 341f und für weitere Belege EBNER, Leidenslisten, 301–303. Gegen den Zusammenhang mit Adiaphora-Listen argumentiert KRUG, Kraft, 244f. KLEINKNECHT, Gerechtfertigte, 264f und GRÄßER, Brief I, 250f betonen die größere Nähe zu frühjüdischen Texten, während z. B. SCHMELLER, Brief I, 341f und EBNER, Leidenslisten, 292 u.ö. die Parallelität zu paganen griechischen Vorbildern betonen.

188

10.2.1

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

Betroffene

Subjekt von 2Kor 6,3–13 und 7,2–4 ist ausschließlich eine erste Person Plural. Dass Paulus damit ein ‚Wir‘ meint, wird deutlich aus dem Einschub 6,9b „ἰδοὺ ζῶμεν“ (siehe, wir leben!) und dem direkten Kontext 6,1f und 6,11–13; 7,2–4, in dem zahlreiche Verben in der ersten Person Plural konjugiert sind. Durch den starken Kontrast von ‚Wir‘ und ‚Ihr‘ ab 5,11 ist es unwahrscheinlich, dass Paulus die Peristasen auch auf die Gemeinde bezieht. Es ist ein echter Plural anzunehmen.25 Ab 7,3f allerdings wechselt Paulus wie in 6,13 zur ersten Person Singular, die jedoch in beiden Versen sofort wieder durchbrochen ist.26 Das direkte Miteinander beider Numeri lässt darauf schließen, dass der einzelne Schreiber über das die Apostel-Gruppe betreffende reflektiert. Für die hier verfolgte Fragestellung nach dem Leiden ist Folgendes entscheidend: Sowohl das in 7,3 möglicherweise auf Leiden verweisende Mitsterben und Mitleben der Gemeinde wie auch die in 7,4 erwähnte Bedrängnis sind auf die erste Person Plural bezogen.27 Insofern ist auch hier die Paulus-Gruppe und nicht Paulus alleine vom geschilderten Leiden betroffen.

10.2.2

Betroffenheitsebene

Die beschriebenen Leiderfahrungen treffen die Paulus-Gruppe sowohl auf somatisch-physischer wie auch auf sozial-psychischer Ebene. Zur ersten sind die einleitenden drei Leidbeschreibungen Bedrängnis, Not und Angst (θλῖψις, ἀνάγκη, στενοχωρία) in 2Kor 6,4 zu rechnen, besonders aber die folgenden sechs konkreteren Begriffe in 6,5: Schläge, Gefängnisse, Aufstände, Mühen, Schlaflosigkeit und Hungern (πληγή, φυλακή, ἀκαταστασία,28 κόπος, ἀγρυπνία, νηστεία). Dass sie sich primär auf die somatisch-physische Ebene 25

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Vgl. BULTMANN, Brief, 171, der der Auffassung ist, Paulus konkretisiere hier an seiner Person, was für alle Apostel gelte. Dem schließt sich SCHIEFER FERRARI, Sprache, 218f u. 234 an. Vgl. jedoch die Forschungsmehrheit, die teils unkommentiert von einem Bezug auf den Apostel alleine ausgeht. So z. B. CHOI, Peristasenkataloge, 141; DE OLIVEIRA, Diakonie, 396ff; EBNER, Leidenslisten, 243ff und HAFEMANN, Suffering, 76ff. Nach MURPHY-O’CONNOR, Co-Authorship, 573 handelt es sich in 2Kor 7,3–12 um einen ‚WirAbschnitt‘. Vgl. zur Kritik daran VERHOEF, Senders, 423f u.ö. sowie § 5.3. Vgl. FURNISH, Corinthians, 367: „The plural hearts […] makes it clear that Paul includes his associates in the reference“ (Hervorhebung im Original). Der Begriff ἀκαταστασία bezeichnet nach BAUER, 57 „Unruhe, Unordnung, unordentliche Zustände, öffentliche Aufstände“. Manchmal wird als Möglichkeit ein Bezug zu ‚inneren Unruhen‘ erwogen, wie z. B. bei CHOI, Peristasenkataloge, 154, die eine Verbindung zu 2Kor 1,8f und 7,5 herstellt. Vgl. als Möglichkeit auch WOLFF, Brief, 139. Im Kontext kommen mit SCHMELLER, Brief I, 352 „nur weitere konkrete, von außen kommende Gefährdungen“ infrage. So die mehrheitliche Interpretation, wie z. B. bei WINDISCH, Korintherbrief, 205 und SCHIEFER FERRARI, Sprache, 227.

§ 10 Einzelexegese von 2Kor 6,3–13 und 7,2–4

189

beziehen, ist bereits ohne die Analyse im folgenden Abschnitt deutlich. Auf der sozial-psychischen Ebene sind z. B. die in 6,8f beschriebenen Leiderfahrungen von Unehre, übler Nachrede und der Bezeichnung als Verführer (δόξα, δυσφημία, πλάνοι) zu verorten, sofern sie sich auf Leiderfahrungen beziehen.

10.2.3

Leidursachen

Die erste Trias der Leidbegriffe θλῖψις, ἀνάγκη, στενοχωρία bleibt allgemein und beschreibt keine konkrete Situation, sondern generelle Leiderfahrungen der Paulus-Gruppe im Aposteldienst. Man kann Verfolgungs- oder Anfeindungssituationen, also Handlungen, vermuten.29 Die zweite Begriffs-Trias konkretisiert die Leiderfahrungen. Schläge (πληγή) sind bei Paulus nur noch im Peristasenkatalog von 11,23 genannt, wo sie in 11,24f konkretisiert werden als das Erhalten (λαμβάνω) der jüdische Synagogenstrafe von „40 weniger einem“ und der wahrscheinlich römischen Geißelung mit einem Stock (ῥαβδίζω).30 Das Erleiden von Schlägen wird häufig genannt und ist auf Handlungen zurückzuführen.31 Das Leiden in Gefängnissen (φυλακή) ist bei Paulus ebenfalls nur hier und in 11,23 belegt. Von paulinischer Gefangenschaft gemeinsam mit Schlägen ist auch in Apg 16,23ff die Rede.32 Paulus selbst schreibt in Phil 1,7 von seinen Fesseln (δεσμός), womit er eine Gefangenschaft bezeichnet. Auch diese Erfahrung ist auf Handlungen zurückzuführen. Der im NT seltene Begriff ἀκαταστασία steht bei Paulus zwar auch für Aufruhr in den Gemeinden (vgl. 1Kor 14,33; 2Kor 12,20), doch weist der vorliegende Kontext der Begriffstrias auf Konflikte mit außergemeindlichen Instanzen hin (vgl. Lk 21,9). Hier sind also äußere Anlässe für Leiderfahrungen genannt, die wiederum aus Handlungen resultieren. Die dritte Trias fokussiert mit der Nennung von Mühen, Schlaflosigkeit und Hunger (κόπος, ἀγρυπνία, νηστεία) auf die konkrete Apostel-Tätigkeit und 29

30

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32

Vgl. für beide Begriffe § 4.5.3 und 4.5.4. Sie kommen laut CHOI, Peristasenkataloge, 153 auch in apokalyptischen Texten vor, was hier eher ein Nebenaspekt sein dürfte. Vgl. dazu z. B. CHOI, Peristasenkataloge, 197–212, die in 2Kor 11,24 drei Strafverfahren erkennt: die jüdische Synagogenstrafe, die römische Geißelung und die Steinigung als Lynchjustiz. Sie diskutiert auch die anhand der römischen Bestrafung aufgeworfene Frage, ob Paulus das römische Bürgerrecht hatte, das ihn vor einer solchen Strafe hätte schützen sollen. Vgl. a. a. O., 153f mit Verweise auf Philo, Flacc. 75, wo berichtet wird, wie Flaccus jüdische Gefangene mit der Geißel misshandeln lässt (αἰκίζω μάστιξιν), was auch mit πληγή bezeichnet wird. Im NT ist der Begriff noch in Lk 10,30; 12,47–49 (mit δέρω, verprügeln, schlagen) und in einer ggf. nicht historischen Erzählung in Apg 16,23.33 als Obrigkeitsstrafe gegen Paulus und Silas belegt. Die 16 Belege in der Offenbarung bezeichnen nur 3mal Schläge als tödliche Wunden (Apk 13,3.12.14) und ansonsten Straf-Plagen von Gott und Engeln (z. B. 9,18.20; 11,6; 16,9.21). In den Evangelien und der Apostelgeschichte ist der Begriff φυλακή häufig belegt und dient manchmal auch als Zeitangabe. Vgl. Mt 14,25: „zur Zeit der vierten Nachtwache“.

190

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

ist der Auflistung in 2Kor 11,27 ähnlich. Der Begriff κόπος bezeichnet einerseits die Arbeit, mit der Paulus den Lebensunterhalt verdient, um den Gemeinden nicht zur Last zu fallen (vgl. 1Kor 4,12; 9,12.15; 2Kor 11,9.10), andererseits aber auch seine Verkündigungstätigkeit (2Kor 10,15).33 Ἀγρυπνία bezeichnet Schlaflosigkeit, die verursacht sein kann durch Sorge um die Gemeinden (vgl. 2Kor 11,27f) oder die Arbeit für das eigene Auskommen (vgl. 1Thess 2,9; 1Kor 4,12). Der Begriff νηστεία ist selten im NT und wird sonst für religiöses Fasten gebraucht.34 Paulus unterscheidet ihn in 2Kor 11,27 von λίμος, was auch in Röm 8,35 eindeutig für das unfreiwillige Leiden unter Hunger steht. In weiteren Peristasenkatalogen kann Paulus das auch mit πεινάω (hungern) benennen (1Kor 4,11; Phil 4,12). In 2Kor 6,5 wird durch die Begriffswahl die Freiwilligkeit unterstrichen. Damit mischen sich in dieser Trias aktiv übernommene und passiv erlittene Aspekte des Aposteldienstes.35 Mühen und Hunger können so auf den Unterhaltsverzicht der Apostel verweisen (vgl. 1Kor 9,17f; 2Kor 2,17; 12,7–10),36 während auch die Schlaflosigkeit hier nicht mit Reisegefahren verbunden ist (anders in 2Kor 11,25), sondern mit dem Aposteldienst. Insofern verweisen alle drei Begriffe wahrscheinlich auf Handlungen und bereiten die folgende ‚Charismentafel‘ vor. Die nach dieser Trias folgenden weitgehend synonymen Begriffe ἀτιμία (Schande) und δυσφημία (schlechter Ruf) aus 6,8a.b verweisen auf den antiken Diskurs um kynisch-stoische Philosophen.37 Denn unter den als Adiaphora bezeichneten Widerfahrnissen, die den idealen Weisen nicht betreffen sollen, befindet sich auch die öffentliche Reputation. Dabei bildeten sich im Laufe der Zeit Kompromisse heraus, um den Auftrag der Vermittlung der gottgegebenen Philosophie nicht zu gefährden (vgl. 6,3).38 Beide Begriffe verweisen wiederum auf Handlungen gegen die Apostel. Sachlich gehören auch die Antithesen in 6,8c.9b zusammen. Der Begriff 33 34

35

36 37 38

Vgl. CHOI, Peristasenkataloge, 154. Gut bezeugt ist der Begriff νηστεία nur in 2Kor 6,5; 11,27; Lk 2,37 und Apg 14,23. Als Lesart steht er in 1Kor 7,5; Mt 17,21; Mk 9,29. Vgl. SCHMELLER, Brief I, 352. Z. B. CHOI, Peristasenkataloge, 155 und HARRIS, Epistle, 473 („selfimposed hardships“) betonen den aktiven und freiwilligen Charakter der übernommenen Leiden. GRÄßER, Brief I, 243f und WINDISCH, Korintherbrief, 205 heben eher die „notgedrungene Entbehrung“ hervor. Die Freiwilligkeit ist zumindest dadurch eingeschränkt, dass Paulus an anderen Stellen seinen Zwang zur Verkündigung betont (vgl. 1Kor 9,16f; Gal 1,15f) und sich dementsprechend als Knecht Christi bezeichnet (vgl. 2Kor 4,5; Phil 1,1; Röm 1,1). FITZGERALD, Cracks, 190 stellt eine Parallele zu dem Kyniker Diogenes her, der laut Epiktet, Diss. 3,24,64 ebenfalls als διάκονος alle erdenklichen Mühen (πόνος) und Leiden (ταλαιπωρία) auf sich nahm. Vgl. Epiktet, Diss. 3,22,21–23, wo der Kyniker als Bote (ἄγγελος) des Zeus leidensbereit sein muss. So z. B. GRÄßER, Brief I, 243 mit Verweis auf BULTMANN, Brief, 172 Vgl. SCHMELLER, Brief I, 355f; EBNER, Leidenslisten, 305–308 und FITZGERALD, Cracks, 189f. Von dem Kyniker Diogenes bezeugt Dio Chrysostomus 9,7, dass ihm die Meinung der Öffentlichkeit völlig gleichgültig gewesen sei. Der späte Stoiker Cicero, Off. 1,28,99 kritisiert eine solche Haltung als Disziplinlosigkeit. Epiktet, Diss. 4,8,31–35 lässt den Kyniker im Auftrag des Zeus als gutes Beispiel für sein Publikum auftreten. Dazu gehört auch, sich regelmäßig zu baden (4,11,14).

§ 10 Einzelexegese von 2Kor 6,3–13 und 7,2–4

191

πλάνοι (Verführer, Betrüger) kann im Kontext der Polemik gegen die als betrügerisch und nicht wahrhaftig eingeschätzte Sophistik auftauchen, steht in der LXX im Zusammenhang der Verführung zum Götzendienst (z. B. Dtn 13,6; 2Kön 21,9) und dient in Mt 27,63 als posthume Bezeichnung Jesu durch die Hohepriester und Pharisäer.39 Paulus weist in 1Thess 2,3 die Absicht der Irreführung von sich. Mit dem Betrugsvorwurf ist das nicht Anerkannt Werden (ἀγνοούμενοι) der Apostel durch Menschen verbunden, dem das Erkannt Werden (ἐπιγινωσκόμεοι) entweder nur „bei (loyalen) Christen und/ oder bei Gott“40 gegenübergestellt wird. Vor dem Hintergrund stoischer Parallelen liegt der Bedeutungsschwerpunkt wahrscheinlich auf der Bekanntheit bei Gott.41 Beide Aspekte widerfahren den Aposteln also durch Handlungen von außen. Die Antithesen in 6,9b.c haben fast wörtlichen Bezug zu Ψ 117,17f: „Ich werde nicht sterben, sondern leben. Der Herr hat mich stark gezüchtigt und mich dem Tod nicht übergeben“ (οὐκ ἀποθανοῦμαι ἀλλὰ ζήσομαι, παιδεύων ἐπαίδευσέν με ὁ κύριος καὶ τῷ θανάτῳ οὐ παρέδωκέν με). Der Psalm handelt von äußeren Bedrängnissen des Betenden (117,5), aus denen Gott errettet.42 Insofern ist es wahrscheinlich, dass sich das Sterben und das Erziehen/Züchtigen im Aposteldienst auf Handlungen durch gewaltbereite Gegner sowie obrigkeitliche Maßnahmen gegen die Apostel beziehen.43 Das Psalmzitat ist bereits eine Deutung. Die λύπη (Trauer) in 2Kor 6,10a ist nicht genauer zuzuordnen. Aufgrund der sonstigen paulinischen Verwendung ist die Traurigkeit aufgrund von Handlungen anderer wahrscheinlicher als aufgrund von Ereignissen.44 39

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Vgl. EBNER, Leidenslisten, 315 z. B. mit Verweis auf Dio Chrysostomus 32,10f. Im jüdischen Kontext sind in VitAd 12–16 die Verführungskünste des Teufels zu nennen, auf die 1Tim 2,13–15 anspielt. In 1Joh 4,6 werden der Geist der Wahrheit (ἀλήθεια) und des Irrtums (πλάνη) gegenübergestellt. KRUG, Kraft, 247f leitet unter Verweis auf BRAUN, Art. πλανάω, 230 das Substantiv πλάνος vom passiven Verb πλανάομαι (= „irregehen“) ab. Zur knappen Kritik daran vgl. SCHMELLER, Brief I, 359 Anm. 320. Vgl. SCHMELLER, Brief I, 357. Ausschließlich an das Verkennen/Anerkennen durch Menschen denkt z. B. GRÄßER, Brief I, 248. Vgl. SCHMELLER, Brief I, 357; FITZGERALD, Cracks, 196f und WINDISCH, Korintherbrief, 208, die beispielsweise auf Porphyrius, Marc. 13 verweisen: „Ein weiser Mensch aber, wenigen bekannt, wenn du willst, auch bei allen unbekannt (ἀγνοούμενος), wird von Gott erkannt (γινώσκεται ὑπὸ θεοῦ).“ (Übersetzung, W. Pötscher). Ähnlich nimmt SCHIEFER FERRARI, Sprache, 229 die fehlende Anerkennung des Paulus in der Gesellschaft und im Konfliktfall bei seinen Gemeinden an. Auch die Begriffe πλατυσμός (Ψ 117,5) und ἀνοίγω (117,19) aus 2Kor 6,11 stehen in Ψ 117,5.19. Für weitere Bezüge vgl. § 10.3.3 und 10.3.4. CHOI, Peristasenkataloge, 167 nimmt im Psalm ohne Begründung eine Rettung aus Krankheit an. Überzeugender im Blick auf die in Ψ 117,6ff häufig genannten menschlichen Verursacher erscheint eine Deutung auf Rettung von Feinden, wie sie z. B. TANNEHILL, Dying, 197 und SCHMELLER, Brief I, 358 vorschlagen. Vgl. z. B. CHOI, Peristasenkataloge, 167f und SCHIEFER FERRARI, Sprache, 229. Die meisten paulinischen Belege für λύπη in 2Kor 2,1–5; 7,8–11 beziehen sich auf Handlungen (vgl. Röm 14,15). Außerhalb des 2. Korintherbriefs nennt Paulus auch Ereignisse als Traueranlass, wie z. B. den Tod (1Thess 4,13) oder möglichen Tod (Phil 2,27) von nahestehenden Menschen.

192

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

Auch die Bezeichnung als Arme (πτωχοί) und Nichts-Habende (μηδὲν ἔχοντες) in 6,10 verweist wahrscheinlich auf Leiderfahrungen, da sich beide zumindest auch auf ökonomische und nicht nur spirituelle Armut beziehen können.45 In das Schema von Handlung und Ereignis lassen sie sich kaum einordnen. Sie wären lediglich auf Handlungen zurückzuführen, wenn die Apostel etwa im Zuge von Anfeindungen oder Inhaftierung ihrer Habe beraubt worden wären. Das muss hier offen bleiben. Insgesamt ergibt sich also innerhalb des Katalogs wie in den anderen bereits untersuchten Stellen ein Schwerpunkt auf solchen Leiderfahrungen, die den Aposteln wahrscheinlich durch Handlungen entstehen. Lediglich die letzten beiden Antithesen mit ihrem Bezug auf Armut sind nicht eindeutig zu einer der beiden Ursachenkategorien zuzuordnen: In den Kategorien von Handlung und Ereignis lässt sich einerseits Armut, die durch gesellschaftsbedingte Strukturen verursacht ist, kaum einordnen. Andererseits bedingt der Peristasenkatalog, dass einfach keine ausreichenden Informationen für eine definitive Einordnung vorliegen.

10.2.4

Leidverantwortliche

Im Katalog sind Leiden genannt, die sowohl außerhalb wie auch innerhalb des Beziehungsraums von Gemeinde und Aposteln zu verorten sind. Besonders deutlich wird die Lokalisierung als von außerhalb in der zweiten Begriffstrias des Katalogs (6,5) als Schläge, Gefängnisse und Verfolgungen. Im Zusammenhang mit der korinthischen, aber auch mit anderen Gemeinden stehen weitere Widerfahrnisse, wie z. B. Mühen, Schlaflosigkeit und Hunger in 2Kor 6,5. Beides kann sich auch überlappen bzw. kaum zu unterscheiden sein, wie im Fall des Verführungsvorwurfs und des nicht Anerkennens in 6,8f.

45

Vgl. z. B. SCHMELLER, Brief I, 359; CHOI, Peristasenkataloge, 170f und WOLFF, Brief, 143. Für den besonderen Stellenwert und die Funktion der Armut in der kynisch-stoischen Tradition wird häufig auf ein Zitat des Pseudo-Krates, Ep. 7 verwiesen, wobei die Formulierung nah an 2Kor 6,10c ist: „ἔχοντες μηδὲν πάντ’ἔχομεν.“ Vgl. z. B. MEALAND, Nothing, 278 und DE OLIVEIRA, Diakonie, 417.

§ 10 Einzelexegese von 2Kor 6,3–13 und 7,2–4

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10.3 Leidbewältigungsstrategien für die Paulus-Gruppe 10.3.1

Positive Wirkung des Leidens zur Empfehlung als Diener Gottes (6,3.4a)

In 2Kor 6,3.4a betont Paulus negativ, niemandem einen Anstoß (προσκοπή) geben zu wollen, damit der Dienst nicht verunglimpft werde (μωμάομαι).46 Positiv schreibt er, dass der Anstoß vermieden werden solle, damit sich die Wir-Gruppe vor der in 6,1f.11f angesprochenen Gemeinde als Diener Gottes empfehlen könne (συνίστημι). Das ἐν πάντι in 6,4 ist dabei zeitlich (‚immer‘) und räumlich (‚überall‘) entgrenzend.47 1. Die Frage nach der Bedeutung des ‚Anstoßes‘ (προσκοπή, Hapaxlegomenon in NT und LXX) kann durch begriffsgeschichtliche Überlegungen erhellt werden. Paulus gebraucht sonst das verwandte πρόσκομμα (vgl. Röm 14,13.20; 1Kor 8,9; 2Kor 11,29). Dies wiederum dient auch in der LXX zur Beschreibung eines Anstoßes, der häufig in Form der Anbetung fremder Götter die Abwendung vom Glauben und damit das Heraustreten aus dem Heil bewirken kann (vgl. Ex 23,33; 34,11f; Jer 3,3; Spr 4,19).48 In der stoischkynischen Literatur ist durch προσκοπῆς δίδωμι die Befürchtung ausgesprochen, bei den Zuhörenden dadurch anstößig zu sein, dass das Verhalten der eigenen Lehre widerspricht:49 Der Philosoph soll mit seinem Verhalten der lebende Beweis für die Richtigkeit seiner Lehre sein. M. EBNER nennt dies die „Tatzeugenkonzeption“50 und unterscheidet darin drei verschiedene Bezugsrichtungen, die hier auch für Paulus gelten:51 i) In Bezug auf das Publikum, hier die angesprochenen Leserinnen und Leser, solle die Glaubwürdigkeit der Person(en) hergestellt werden. ii) In Bezug auf mögliche Gegner, die in 6,4 durch das ‚sich Empfehlen‘ impliziert sind (vgl. 3,1–3; 5,12), soll eine Abgrenzung deutlich werden: Deren Lebensweise stimme nicht mit ihrer Lehre

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Das Verb kommt im NT nur noch in 2Kor 8,20 für die Evangeliums-Verkündigung vor. In der LXX steht es nur in Spr 9,7 (als Parallelismus zu ἀτιμία λαμβάνω) und SapSal 10,14 (von der als Lüge erwiesenen Beschuldigung gegen einen Gerechten). Vgl. WINDISCH, Korintherbrief, 203. CHOI, Peristasenkataloge, 150 verweist auf ebenfalls entgrenzende Begriffe in 2Kor 4,8.10.11. STÄHLIN, Art. προσκόπτω, 748 weist darauf hin, dass πρόσκομμα wie σκάνδαλον (vgl. Hos 4,17) selbst zum Begriff für ‚Götze‘ werden kann. Auch die Frommen können für die Gottlosen zum Anstoß werden (vgl. Sir 39,24), während Gott selbst vor dem Anstoß bewahren kann (vgl. Jes 9,14; Sir 34,16). In 1Kor 1,23 wird πρόσκομμα parallel zu μωρία (Torheit) steht. Vgl. CHOI, Peristasenkatalog, 149; ZEILINGER, Krieg II, 357 sowie EBNER, Leidenslisten, 243–256, für den Paulus hier das kynisch-stoische Modell eines „Tatzeugen“ aufgreift. Belegt ist diese Vorstellung z. B. bei Epiktet, Diss. 1,29,55f; 3,22,46–49; Diogenes Laertius 6,71; Seneca, Epist. 20,9. EBNER, Leidenslisten, 245. Vgl. für das Folgende und die Quellen-Verweise EBNER, Leidenslisten, 245–252. Eine Zusammenfassung bietet SCHMELLER, Brief I, 349f. Beide gehen von einem schriftstellerischen Plural aus, der sich auf Paulus alleine bezieht. Vgl. ähnlich auch FITZGERALD, Cracks, 189f.

194

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

überein.52 iii) In Bezug auf Gott soll die eigene Autorität als von diesem gegeben ausgewiesen werden.53 Denn könnte nachgewiesen werden, dass Leben, Dienst und Verkündigung der Apostel nicht konform wären, so würde dadurch der Dienst insgesamt Schaden nehmen (vgl. 6,3b). 2. Paulus charakterisiert in 6,4 den nachfolgenden Katalog als Selbstempfehlung, die die Paulus-Gruppe als Diener Gottes ausweist.54 Das führt zur Frage, weshalb er eine Selbstempfehlung abgibt, obwohl er das in 2Kor 3,1; 5,12; 10,12.18a ausdrücklich kritisiert.55 Womöglich bewertet er je nach Kontext den Selbstruhm unterschiedlich. Dies wird besonders in 10,18b deutlich, wo der positive Schlüssel für die Empfehlung genannt wird: Entscheidend ist, „wen der Herr empfiehlt“ (ὅν ὁ κύριος συνίστησιν). In 3,1 hat die Selbstempfehlung der Gegner negativen Charakter, weil sie lediglich aus Worten bzw. Briefen besteht, die die Paulus-Gruppe scheinbar nicht vorzuweisen hat. Daher ist es nachvollziehbar, dass Paulus als Selbst-Empfehlung nach 4,2; 6,4 und 7,11 nur Taten gelten lässt.56 Für den speziellen Kontext bedeutet dies, dass Paulus durch den Katalog insgesamt die Apostel-Gruppe als wahre Gottesdiener und ihre Verkündigung (evtl. im Gegensatz zu der seiner Gegner) als wahr erweisen möchte.57 Paulus setzt also eine bereits häufig angewandte Leidbewältigungsstrategie erneut ein: die Zuordnung einer positiven Wirkung zum Leiden. Der Zielpunkt dieser Wirkung wird mit der finalen Konstruktion ἵνα bereits in 6,3.4a als Vorzeichen für den ganzen Peristasenkatalog deutlich. Die Leiderfahrungen (und die Charismen) wirken sich also als „‚Testfälle‘ der Glaubwürdigkeit des Paulus“58 positiv aus, an denen sich für die Gemeinde die Authentizität des paulinischen Dienstes zeigt. 52 53

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Vgl. Epiktet, Diss. 1,29,55f; 3,22,93; 4,1,142. Dies wird nach EBNER, Leidenslisten, 247f durch religiöse Termini erreicht, die die Beziehung zur Gottheit erklären: Der Philosoph ist von ihr berufen (καλέω, z. B. Epiktet, Diss. 1,29,46.49; 2,1,39; 3,22,59), von ihr gesandt (ἀποστέλλω, z. B. Diss. 1,24,6; 3,22,23.46; 4,8,31), folgt ihr nach (ἀκολουθέω, z. B. Diss. 1,6,15; 1,30,4; 3,20,13) usw. Vgl. bereits vor dem Katalog 2Kor 5,20 und 6,1. Vgl. z. B. CHOI, Peristasenkataloge, 172 und ZMIJEWSKI, Stil, 310f, der sich damit gegen die z. B. von FITZGERALD, Cracks, 188 vertretene Position abgrenzt, der Katalog sei möglicherweise paränetisch zu verstehen. Vgl. z. B. THRALL, Epistle I, 456. CHOI, Peristasenkataloge, 141–143 beobachtet, dass Paulus an den genannten Stellen συνίστημι mit vorangestelltem ἑαυτούς negativ gebraucht, das Verb jedoch in 2Kor 4,2; 6,4; 7,11 mit nachgestelltem ἑαυτούς positiv konnotiert. Daraus leitet sie eine Regel der paulinischen Verwendung von συνίστημι ab. Nach ZEILINGER, Krieg II, 360 liegt durch die Voranstellung des ἑαυτούς der Schwerpunkt auf dem „Selbst“, was als Selbstruhm abgewertet sei. Vgl. WOLFF, Brief, 139. CHOI, Peristasenkatalog, 143 sieht den positiven Akzent der Selbstempfehlung „nur im Sinne des Empfohlen-Seins“. HARRIS, Epistle, 470 schließt sich an die Unterscheidung von FITZGERALD, Cracks, 107–114 an, der in der stoischen Literatur zwei Typen von Selbstempfehlung findet: Legitim sei der nicht-offensive Typ, der zur Ehre Gottes führt, während der offensive Typ, der die eigene Person in den Vordergrund stelle, zu verwerfen sei. Vgl. SCHMELLER, Brief I, 349 und GRÄßER, Brief, 240. Ebd.

§ 10 Einzelexegese von 2Kor 6,3–13 und 7,2–4

10.3.2

195

Gott gibt Standhaftigkeit und Charismen im Leiden (6,4b.6.7)

Nach der Erläuterung der Aussageabsicht des Katalogs nennt Paulus als erstes Glied der Aufzählung ἐν ὑπομονῇ πολλῇ. Schon grammatisch liegt durch die Formulierung im Singular entgegen der folgenden Pluralaufzählungen bereits der genannte Bezug zur Charismen-Tafel ab 2Kor 6,6 nahe. Gleichzeitig wird die Standhaftigkeit durch ihre Voranstellung zum „Oberbegriff“59 des gesamten Abschnitts 6,4–10: Das Folgende dient der Erläuterung und inhaltlichen Ausführung dessen, worin die Standhaftigkeit praktisch erkennbar wird.60 Besonders im kynisch-stoischen Kontext steht der Begriff für die Fähigkeit des Weisen, einer „Dauerbelastung durch Peristasen“61 standzuhalten. Das ist auch hier vordergründig, obwohl Paulus die jüdische Bedeutung des eschatologisch gerichteten ‚Ausharrens‘ kennt (vgl. 2Kor 1,3–7; Röm 5,3– 5).62 Es ist die Standhaftigkeit in den nachfolgend beschriebenen Leiden, die die Paulus-Gruppe in Analogie zum stoischen Weisen als Gottes Diener erweist. Für Paulus ist es entscheidend, dass die Standhaftigkeit mit allen anderen in 6,6f genannten Charismen letztlich der Kraft Gottes entspringt.63 Das wird auch daran deutlich, dass die einzelnen Begriffe bei Paulus jeweils starke Beziehungen zu Gott und Christus aufweisen. Das beginnt mit der Tugend der ἁγνότης (Lauterkeit, Aufrichtigkeit), die Paulus nur noch in 11,3 auf Christus bezogen verwendet. Die γνῶσις ist bereits in 4,6 als „Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes im Angesicht Christi“ auf Gott bezogen und von diesem gegeben. Die beiden Begriffe μακροθυμία (Langmut) und χρηστότης (Güte) sind in der LXX und auch bei Paulus in Röm 2,4 als Eigenschaften Gottes, in 1Kor 13,4 als Eigenschaften der Liebe und in Gal 5,22 als Früchte des Geistes dargestellt.64 Damit ist der fließende Übergang geschaffen von den eingliedrigen Tugenden zu den zweigliedrigen „Kräften“,65 die noch stärker mit Gott 59 60 61

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A. a. O., 242 [Hervorhebung im Original]. So z. B. EBNER, Leidenslisten, 283; SCHMELLER, Brief I, 242 und SCHIEFER FERRARI, Sprache, 225. EBNER, Leidenslisten, 286, der als Belege z. B. Seneca, Tranq. 8,1, Epist. 80,3 und Epiktet, Diss. 2,16,38; 3,8,2f nennt. HAUCK, Art. ὑπομένω, 586 verweist darüber hinaus auf Seneca, Epist. 67,10 und Epiktet, Diss. 1,2,25; 2,2,13. Vgl. die Einzelexegese von 2Kor 1,3–11 in § 6.3.1.2, wo die Standhaftigkeit im Zusammenhang mit dem Trost Gottes thematisiert ist. SCHIEFER FERRARI, Sprache, 225 und CHOI, Peristasenkataloge, 151f rücken die Zielgerichtetheit des Wartens als Hoffnung auf ein Ende des Leidens in den Vordergrund. EBNER, Leidenslisten, 285f verweist auf Aristoteles, EN 3,8,13, bei dem die Hoffnung sogar im Gegensatz zu ὑπομονή und ἀνδρεῖα (Tugend) steht. So auch SCHIEFER FERRARI, Sprache, 227 und SCHMELLER, Brief I, 352. Die Langmut Gottes wird z. B. in Ex 34,6; SapSal 15,1ff; Nah 1,2ff; Jo 2,13 erwähnt, die Güte Gottes u. a. in Ψ 24,7; 67,11; 118,65; 144,7; PsSal 5,13f und in 10,1f für die Erziehung Gottes. Von einer Liste von Tugenden und Kräften sprechen u. a. SCHMELLER, Brief I, 352; SCHIEFER FERRARI, Sprache, 227 und DE OLIVEIRA, Diakonie, 296.

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Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

in Verbindung stehen. Dies beginnt mit πνεῦμα ἅγιος (Heiliger Geist)66 und ἀγάπη ἀνυποκρίτη (ungeheuchelte Liebe). Die Liebe steht vielfach mit Gott in Verbindung, besonders ist sie jedoch für Paulus mit dessen Geist verbunden.67 Auch der λόγος ἀληθείας (Wort/Sache der Wahrheit) schillert zwischen der Wahrhaftigkeit, die die Paulus-Gruppe in ihrer Verkündigung an den Tag legt, und dem Bezug Gottes zur Wahrheit, auf dem die Verkündigung basiert.68 Die Abhängigkeit von Gott und die Fundierung des Apostolats auf ihm werden im letzten Glied explizit gemacht: ἐν δυνάμει θεοῦ (in der Kraft Gottes). Die herausgehobene Stellung am Ende zeigt einerseits, dass die bisherige Liste darauf hinzielt und andererseits, dass man diese zutreffend als Charismentafel bezeichnen kann:69 Sie ist auf die Kraft Gottes bezogen und hat den Ursprung in ihr (ἐν).70 Damit wird deutlich, dass auch die Fähigkeit zum Aposteldienst insgesamt nicht auf eigenes Vermögen der Apostel, sondern auf Gott zurückgeführt wird.71 Mit J. KRUG kann die sich anschließende Waffenmetaphorik (vgl. 1Thes 5,8; Röm 13,12 und deuteropaulinisch in Eph 6,14–17) als konkrete Ausführung der Kraft Gottes verstanden werden. Anhand von Belegen z. B. aus Jes 59,16f und SapSal 5,16–20 wird plausibel, dass Paulus die Apostel in der Kraft Gottes stehend als durchsetzungsfähige Missionarinnen und Missionare bezeichnet, geschickt zu Verteidigung (mit der linken Hand) und Angriff (mit der rechten Hand).72 Als Leidbewältigungsstrategie lässt sich also festhalten: Zum Aushalten in Leiderfahrungen ist die Standhaftigkeit nötig. Diese führt Paulus auf den Heiligen Geist und Gottes Kraft zurück, womit das faktische Durchhalten auf die Unterstützung Gottes hinweist. Ein Ende des Leidens ist hier nicht the-

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Gegen einen Bezug auf den menschlichen Geist argumentiert CHOI, Peristasenkataloge, 158 und verweist z. B. auf die paulinische Verwendung in 1Thess 1,5; 1Kor 12,3; Röm 9,1; 14,17; 15,16. Vgl. den Hinweis auf 1Kor 4,21; 2Kor 13,13; Gal 5,22; Phil 2,1; Röm 5,5; 15,30 bei CHOI, Peristasenkataloge, 159. In Röm 15,30 ist die Liebe vom Geist gegeben. Vgl. die göttliche Offenbarung der Wahrheit (2Kor 4,2,) die Wahrheit Christi in Paulus (2Kor 11,2), die Wahrheit Gottes (Röm 15,8) und die Wahrheit des Evangeliums (Gal 2,5.14). Entscheidend ist auch die Wahrhaftigkeit von Menschen (2Kor 7,14; 12,6). Vgl. z. B. KRUG, Kraft, 237; SCHMELLER, Brief I, 352f und THRALL, Epistle I, 460. Anders BULTMANN, Brief, 173, für den der Heilige Geist hier nicht wie in Gal 5,22f Quelle der Tugenden ist. Vgl. zur lokalen Bedeutung des ἐν z. B. STANDHARTINGER, Studien, 185f und KRUG, Kraft, 229f. Vgl. CHOI, Peristasenkataloge, 155. Vgl. KRUG, Kraft, 237–241, der zunächst die hier instrumentale Bedeutung des διά bei der Waffen-Metapher von den übrigen modal zu verstehenden Aufzählungsgliedern mit διά abgrenzt. Anhand der positiven Auswirkungen, die Paulus dem Leiden bereits in 2Kor 1,3–11 zuschreiben konnte, zeigt er, dass der Apostel die Peristasen nicht als zu bekämpfende Feinde darstellt. Damit richtet sich KRUG explizit gegen EBNER, Leidenslisten, 263–269, der von einem rein stoischen Traditionshintergrund an dieser Stelle ausgeht. Dessen Belege zum Bezug der Waffenmetaphorik auf die Tugendhaftigkeit in Stoa (vgl. Seneca, Epist. 59,7) und hellenistischem Judentum (4Makk 11,22; Philo, Abr. 234; LA 3,14; somn. 1,255) sind dennoch als Hintergrund erhellend.

§ 10 Einzelexegese von 2Kor 6,3–13 und 7,2–4

197

matisiert. Vielmehr wird es als dauerhafter Zustand charakterisiert, in dem die Verkündigung geschieht.73

10.3.3

Gottesbewahrung als Leben im Sterben (6,9b)

Für die Frage nach Leidbewältigungsstrategien sind die Antithesen ab 2Kor 6,9b am meisten relevant, die ich ab hier in den Blick nehme.74 Die Gegenüberstellung von ‚sterbend‘ (ἀποθνῄσκοντες), also in Todesnot befindlich,75 und ‚wir leben‘ (ζῶμεν) ist unter den Antithesen formal herausgehoben: Einerseits ist das Hinterglied ein finites Verb (und kein Partizip) und andererseits ist dieses durch die deiktische Partikel ἰδού (Sieh/Schau doch!) betont. Mit TH. SCHMELLER können zwei Deutungsweisen der vorliegenden Antithese unterschieden werden, die nicht völlig zu trennen sind. Einerseits werde hier auf eine „menschliche Erfahrung (überraschendes Überleben der Leiden)“76 verwiesen. Andererseits könne Paulus auch eine christologische Deutung der Erfahrungen der Paulus-Gruppe geben „(Durchleben der Leiden als Aufweis des Sterbens und Lebens Jesu)“.77 Für die zweite Deutung wird eine Rückbindung an den christologisch geprägten Abschnitt 2Kor 4,7– 12 angeführt. Darüber hinaus verweist die Partikel ἰδού für TH. SCHMELLER 73

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Ähnlich bezieht z. B. KRUG, Kraft, 244–246 die beiden chiastischen Antithesen mit διά in 2Kor 6,8a.b auf die dauerhaft widersprüchlich beurteilte Reputation der Paulus-Gruppe. Das gelte auch für die ersten beiden mit ὡς eingeleiteten Antithesen in 2Kor 6,8c.9a. Denn Irren (πλάνοι, vgl. zur Bedeutung § 10.1.2) und wahrhaftig Sein (ἀληθεῖς, vgl. 6,7a) charakterisierten nach KRUG, Kraft, 245–250 ebenso die apostolische Erfahrung wie das Verkannt und Anerkannt Werden (ἀγνοούμενοι und ἐπιγινωσκόμενοι). Mit dieser faktischen Darstellung ist also keine Strategie zur Leidbewältigung gegeben, weswegen die entsprechenden Antithesen nicht gesondert untersucht werden. Anders z. B. EBNER, Leidenslisten, 303–311 und SCHIEFER FERRARI, Sprache, 228. Die Antithesen in 2Kor 6,8–10 sind in der bisherigen Forschung v. a. in zwei Richtungen ausgelegt worden. Als genereller hermeneutischer Schlüssel ist erstens z. B. von EBNER, Leidenslisten, 321 ein Gegensatz zwischen „‚Schein‘ und ‚Sein‘“ angenommen worden. Vgl. FITZGERALD, Cracks, 195 und WINDISCH, Korintherbrief, 207 Die negativen Glieder wären demnach die Außensicht der Gegner oder der Gemeinde auf Paulus, die in den positiven Gliedern korrigiert werde. Kritik daran äußern WÜNSCH, Brief, 286 und KRUG, Kraft, 246f. Zweitens wird eine Deutung vertreten, nach der jeweils beide Glieder als „Koexistenz von Gegensätzen“ (CHOI, Peristasenkataloge, 173), wahrnehmbar auf verschiedenen Ebenen, zu verstehen sind. Vgl. SCHIEFER FERRARI, Sprache, 228 und KRUG, Kraft, 157f. Damit wird der Zusammenhang zu den Antithesen in 2Kor 4,8f und zum Gegensatz von Innerem/Unsichtbarem und Äußerem/Sichtbarem in 4,16–18 erklärt. Die jeweilige Beziehung von Vorder- und Hinterglied der Antithesen wird in der Untersuchung im Einzelnen diskutiert. Die Bedeutung des semantischen Felds ‚Tod‘ für schwere Not findet sich in 2Kor 1,9; 4,11f. SCHMELLER, Brief I, 357f. Für diese Deutung verweist er z. B. auf WINDISCH, Korintherbrief, 208; KRUG, Kraft, 251 und HARRIS, Corinthians, 481. SCHMELLER, Brief I, 358, Hervorhebung von EW. So z. B. BULTMANN, Brief, 175 und GRÄßER, Brief I, 248. Diese Deutung vertritt auch ROETZEL, Dying, 17, der das allerdings wenig überzeugend an der Reihenfolge von zuerst genanntem Sterben und dann Leben festmacht. Das ist m. E. erst in 2Kor 7,3 nachweisbar, wo Paulus die Verben ‚sterben‘ und ‚leben‘ mit dem Präfix συν- versieht. Vgl. unten § 10.3.7.

198

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

zurück auf deren vorige Verwendung in 5,17 und wäre damit in theologischer Deutung des ζῶμεν eine Variation der „Neuschöpfung in Christus“.78 Stärker wiegt als Deutungshintergrund die bereits genannte fast wörtliche Parallele zu Ψ 117,17: „Ich werde nicht sterben, sondern leben“ (οὐκ ἀποθανοῦμαι ἀλλὰ ζήσομαι). Mit TH. SCHMELLER verweist diese Parallele auf die Erfahrung des überraschenden Überlebens, da der Psalm von Bedrängnis durch Feinde und Gegner handelt (vgl. Ψ 117,10–13).79 Wie bereits in den Einzelexegesen von 2Kor 1,3ff und 4,7ff deutlich wurde, kann Paulus mit dem Begriff des Sterbens auch Situationen von Todesgefahr bezeichnen. Das kommt im Psalm zum Ausdruck. Dabei ist allerdings zu beachten, dass der oder die Betende dort das Überleben in den verschiedenartig beschriebenen Feindbedrohungen nicht einem Zufall oder eigener Stärke zuschreibt. Vielmehr wird durchweg deutlich, dass hinter dem Überleben und der erfolgreichen Feindesabwehr immer Gottes Eingreifen gesehen wird (vgl. Ψ 117,6f.10–12). Die genannten Merkmale des Psalms werden von Paulus aufgegriffen, aber einer entscheidenden Änderung unterzogen. Denn neben der von Paulus verwendeten ersten Person Plural gibt es einen Tempus-Unterschied: Verneintes Sterben und erhofftes Leben stehen im Psalm im Futur und werden damit als noch ausstehend vorgestellt, während sie bei Paulus ins Präsens (Partizip bzw. Indikativ) rücken und damit als gegenwärtig und untereinander gleichzeitig vorgestellt sind. Den an der Paulus-Gruppe immer wieder erkennbaren Erfahrungen des Sterbens, also der Todesgefahr, stehen überraschende (ἰδού) Erfahrungen des (Über-)Lebens gegenüber, die Paulus auf Gott zurückführt.80 Dabei ist im Unterschied zu überstandenen und vergangenen Anfeindungen in Ψ 117,10–13 deutlich, dass nicht an ein Ende der leidverursachenden Widerfahrnisse gedacht ist. Vielmehr wird die PaulusGruppe in ihren Todesnöten bewahrt, obwohl das Leiden andauert. Damit gibt Paulus zwar eine theologische Deutung, jedoch ist diese nicht so explizit christologisch rückgebunden, wie das im Kontext von 2Kor 4,7–15 der Fall ist. Das Psalmzitat greift auf die Bewahrung oder Rettung durch Gott vor dem Hintergrund jüdischer Texte zurück. Ohne Zweifel ist das Christus-

78

79 80

Vgl. SCHMELLER, Brief I, 358. Allerdings liegt ein Rückverweis auf 2Kor 6,2 näher, in dem Paulus 2mal das ἰδού verwendet. Für GRÄßER, Brief I, 248 und HOTZE, Paradoxien, 296 signalisiert das ἰδού den „‚Sprung‘ in die andere Perspektive“, also die christologische Deutung. Das scheint mir eine Überinterpretation der Partikel. Vgl. SCHMELLER, Brief I, 358 und KRUG, Kraft, 251. Vgl. für die Kennzeichnung des Lebens als überraschend durch die Partikel ἰδού zur Stelle BAUER, 754: „Auch gänzl. Unerwartetes und doch“ (Hervorhebung im Original).

§ 10 Einzelexegese von 2Kor 6,3–13 und 7,2–4

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Geschehen für Paulus vorausgesetzt. Jedoch macht er es an dieser Stelle nicht zur Basis der Leidbewältigungsstrategie.81

10.3.4

Positive Wirkung des Leidens als Zeichen besonderen Gottesbezugs (6,9c)

In der Reihe der Antithesen von 2Kor 6,8–10 stellt Paulus in 6,9c das ‚gezüchtigt Werden‘ (ὡς παιδευόμενοι)82 dem ‚nicht getötet Werden‘ (καὶ μὴ θανατούμενοι) gegenüber. Der Kontrast ist hier anders als bei den übrigen Gegenüberstellungen durch die Verneinungspartikel μή hergestellt. Formal liegt also wie bei den Antithesen von 2Kor 4,8f eine correctio (X, aber nicht Y) vor.83 Bei beiden passiven Partizipien legt sich wegen des Rückbezugs auf Ψ 117,18 Gott als logisches Subjekt nahe:84 „Der Herr hat mich stark gezüchtigt und mich dem Tod nicht übergeben“ (παιδεύων ἐπαίδευσέν με ὁ κύριος καὶ τῷ θανάτῳ οὐ παρέδωκέν με). Das hinter dieser Deutung als göttliche Züchtigung stehende erfahrene Leiden ist allerdings durch Menschen verursacht, wie aus den übrigen Versen des Psalms klar wird (v. a. Ψ 117,5.10–14). Menschen verursachen auch das Leiden der Apostel.85 Der Begriff παιδεύω ist Teil einer frühjüdischen Tradition. Das erfahrene Leiden wird wie im genannten Psalm auch in weisheitlichen Schriften auf Gottes Wirken zurückgeführt (vgl. Spr 3,11f; SapSal 3,5f).86 Das Hinterglied der Antithese aus 2Kor 6,9c (μὴ θανατούμενοι) erklärt sich im Anschluss daran: Gott züchtigt/straft zwar sein Volk oder die Gerechten. Aber für die makkabäischen Leidenstexte steht fest: „Die Strafen (τιμωρίας) dienen nicht zur Vernichtung, sondern zur Erziehung (πρὸς παιδείαν) unseres Volkes“ (2Makk 6,12 vgl. 7,33; 4Makk 10,10). Dieses göttliche Erziehen geschieht in 81

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HOTZE, Paradoxien, 299 sieht die fehlende christologische Rückbindung im Peristasenkatalog im apologetischen Kontext begründet. Außerhalb von NT und LXX ist ‚züchtigen, strafen‘ für παιδεύω nicht belegt. Vgl. BERTRAM, Art. παιδεύω, 620f. Diese Bedeutung wird in der parallelen Stellung zu μαστιγόω (auspeitschen, schlagen) in Spr 3,12 expliziert. Vgl. SCHMELLER, Brief I, 358. Auch die apokalyptisch geprägten Verse 1Kor 7,29–31 haben die Struktur „ὡς–μή“. Hier steht jeweils derselbe Begriff als Vorderglied und verneintes Hinterglied. Das ist trotz unterschiedlicher Deutungsmodelle für die Antithesen insgesamt weitgehend Forschungskonsens. Vgl. z. B. GRÄßER, Brief I, 248f; FITZGERALD, Cracks, 197; SCHMELLER, Brief I, 358; THRALL, Epistle I, 466; WINDISCH, Korintherbrief, 208 uvm. Anders z. B. WOLFF, Brief, 142 jedoch ohne Begründung und diesen wörtlich zitierend CHOI, Peristasenkataloge, 168. Vgl. HARRIS, Epistle, 482: „Those who carry out the punishment and yet do not kill Paul are humans, but their actions fulfill a divine purpose.“ Vgl. dazu z. B. GRÄßER, Brief I, 248f; SCHMELLER, Brief I, 358 und HARRIS, Epistle, 482. Vgl. für den Gedanken bereits die prophetischen Belege, nach denen Gott als Strafe z. B. Fremdvölker gegen Israel schickt ohne den παιδεία-Begriff z. B. 2Kön 19,4 (=Jes 37,4); Jer 35,13f und mit dem παιδεία-Begriff z. B. Hos 10,10. Vgl. BERTRAM, Art. παιδεύω, 623 und FÜRST/WIBBING, Art. παιδεύω, 410.

200

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

2Makk 10,4 trotz dem damit verbundenen Leiden „mit Güte“ (μετὰ ἐπιεικείας). In weisheitlichen Schriften wird die Erziehung für den weisen Gerechten ebenso als positive Erziehung gesehen (vgl. Sir 4,17; 23,2). Dagegen erhalten Sünder oder Fremdvölker zwar zunächst keine Strafe von Gott, werden jedoch letztendlich vernichtet und gehen verloren (vgl. SapSal 3,9–12; 12,22; PsSal 13,7–12; 2Makk 6,12–16). Dieser Erziehungs-Gedanke findet sich bei Paulus bereits in 1Kor 11,32, der einzigen anderen Stelle, an der er das Verb παιδεύω gebraucht:87 „Als Verurteilte (κρινόμενοι) werden wir von Gott gezüchtigt, damit wir nicht mit der Welt verdammt werden (κατακριθῶμεν).“ Durch den verneinten Finalsatz wird der Züchtigung Gottes eine positive Wirkung zugeordnet. Die Verurteilung durch Gott ist parallel zur ausbleibenden Tötung in 2Kor 6,9c zu sehen.88 Dem Leiden wird also anhand des παιδεία-Motivs eine positive Wirkung zugeschrieben. Es zeigt, dass die Paulus-Gruppe in einem besonderen Gottesverhältnis und direkt unter Gottes Einfluss steht, da sie zum Gottes-Volk oder den weisen Gerechten zählt, die im Gegensatz zur verdammungswürdigen ‚Welt‘ stehen.89 Der mögliche Schluss vom Leiden der Paulus-Gruppe auf deren Gottesferne oder Verworfenheit wird damit gerade umgekehrt.90 Auf der Textebene ist der finale Bezug zwischen dem Leiden und seiner Wirkung durch den überschriftartigen Vers 6,3 und die finale Formulierung in der genannten einzigen weiteren paulinischen Verwendung von παιδεύω in 1Kor 11,32 nahegelegt.91

10.3.5

Freude im Leiden (6,10a)

Im vorliegenden Abschnitt stellt Paulus an zwei Stellen den Begriff der Freude dem semantischen Feld des Leidens gegenüber. In 2Kor 6,10a schreibt Paulus, dass die Paulus-Gruppe Traurigkeit habe (λυπούμενοι), sich dabei aber gleichzeitig freue (ἀεὶ δὲ χαίροντες). Schon in 1,23–2,11 sind λύπη 87 88

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Das Abstraktum παιδεία kommt bei Paulus nicht vor, das Substantiv παιδευτής nur in Röm 2,20. Die Rückführung von Leiderfahrungen auf Gott wird auch in der Einleitung des Peristasenkatalogs in 1Kor 4,9 explizit gemacht: „Denn ich meine, Gott hat uns Apostel als das Letzte dargestellt …“ Vgl. HECKEL, Kraft, 82f. Vgl. den Ausblick § 13.3.2.2 zur ähnlich gelagerten Leidbewältigungsstrategie in 2Kor 12,1–10. Möglicherweise geht mit dieser Leidbewältigungsstrategie auch eine polemische Spitze gegen Gegner einher, die keine Leiderfahrung, sondern Empfehlungsbriefe vorzuweisen haben. Sie wären demnach nicht von Gott gezüchtigt und entweder in der Rolle von ‚Werkzeugen Gottes‘ oder von Gottesfernen und Sündern. Dieser Umkehrschluss aus Spr 3,11 wird explizit in Hebr 12,4–11 gezogen. Vgl. 12,8: „Wenn ihr aber ohne Züchtigung seid, an der doch alle Anteil bekommen haben, dann seid ihr Bastarde und keine [echten] Kinder.“

§ 10 Einzelexegese von 2Kor 6,3–13 und 7,2–4

201

und χαρά gemeinsam erwähnt, aber nicht ausdrücklich aufeinander bezogen. Weiterhin wird in 7,4 die Freude der Bedrängnis gegenübergestellt: „ich fließe über vor Freude in aller unserer Bedrängnis“ (ὑπερπερισσεύομαι τῇ χαρᾷ ἐπὶ πάσῃ τῇ θλίψει ἡμῶν). Daher ist für die Untersuchung kurz auf die paulinische Verwendung von χαρά einzugehen. Die Freude ist bei Paulus bestimmt durch den Bezug zum Glauben (Phil 1,25), zum Geist (Gal 5,22), zur Hoffnung (Röm 12,12) und zum Reich Gottes (Röm 14,17). Sie ist also oft mehr als „profane Stimmung“.92 Zusammenhänge zum Erleben des eschatologischen Heils legen sich aus der LXX nahe (Ψ 13,7; 126,5f; Jes 9,2; 12,6 u.ö.) und finden sich auch bei Paulus (z. B. Röm 12,12; 14,17), der dies auf die Gegenwart bezieht.93 Als Gründe der Freude können besonders Handlungen von Menschen (z. B. 1Thess 3,9; 1Kor 16,17; Phlm 7) und selten explizit Gott (Röm 15,13) genannt werden. Häufig haben die Apostel die Gemeinden als Siegespreis (1Thess 2,19; Phil 4,1) und Grund zur Freude vorzuweisen. Daher fordern sie die Gemeinden zur Freude auf.94 Ein Bezug der apostolischen Freude zur korinthischen Gemeinde ist für alle Belege im 2. Korintherbrief gegeben, wobei die meisten im Rahmen des Konflikts mit der Gemeinde stehen (8mal in 2Kor 1,23ff und 7,5ff).95 Das passt zum Schwerpunkt der paulinischen Begriffsverwendung, die im Philipperbrief liegt, in dem Paulus als Gefangener erwartungsgemäß kaum Grund zur Freude haben sollte (vgl. Phil 1,18). Für diesen Gedanken greift er möglicherweise auf eine Tradition der Freude in widrigen Umständen – in 2Kor 6,9 beschrieben als λυπέομαι – zurück. Diese ist im Folgenden kurz darzustellen.

10.3.5.1 Traditionsgeschichtliche Überlegungen zur ‚Freude im Leid‘ Freude und Trauer können auch außerhalb von NT und LXX gegenübergestellt werden. Philo kennt den Kontrast z. B. bei der Geburt von Kindern, die der Weise in Freude und nicht trauernd erlebt.96 Die Unvereinbarkeit des 92 93

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96

CONZELMANN, Art. χαίρω, 359. Für ihn ist Freude nie profane Stimmung. Vgl. a. a. O., 354 für diese und mehr Belege. Allerdings kommt in den meisten Stellen nicht χαρά κτλ., sondern ἀγαλλιάω und εὐφραίνω vor. Vgl. a. a. O., χαίρω, 360. Für den Bezug von χαρά κτλ. auf Gemeinden vgl. noch 1Thess 1,6; 2,19; 3,9; 5,16; 2Kor 2,3; 7,7.16; Phil 4,1.4 und Röm 16,19. Insgesamt verwendet Paulus das Substantiv 20mal, das einfache Verb 27mal und das Kompositum συγχαίρω 4mal. Schwerpunkt des Vorkommens ist der Philipperbrief mit 16 Belegen. Auch in den übrigen Paulus-Briefen beziehen sich die meisten Belege auf Gemeinden. Im 2. Korintherbrief kommt die Freude sonst noch in 1,15 als Textvariante sowie in 8,2 und 13,9.11 vor. Vgl. Philo, LA 3,217 in Auslegung von Gen 17,15. In mut. 163 bestimmt er als Gegensatzpaar Trauer (λύπη) und Freude (χαρά) sowie die Furcht (φόβος) als Trauer vor der Trauer und die Hoffnung (ἐλπίς) als Freude vor der Freude. Vgl. CHOI, Peristasenkataloge, 169.

202

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

Gegensatzes von Freude und Leiden wird bei Epiktet deutlich: Eine Verletzung könne kein Grund zur Freude sein.97 W. NAUCK hat ausgehend von neutestamentlichen Texten die Tradition von der Freude im Leiden untersucht.98 In 3Bar 48,48–50; 52,5–7; 54,16–18, dessen Entstehung allerdings deutlich nach Paulus vermutet wird, erkennt er eine „Parallele zur urchristlichen Verfolgungstradition“,99 woraus er auf eine mündliche Vorstufe zurückschließt. Seine Erkenntnisse sind von H. MILLAUER für eine Untersuchung des Leidens im 1. Petrusbrief aufgenommen und weiter differenziert worden.100 Er unterscheidet drei Ausformungen der Tradition, von denen die ersten beiden in Judentum und Urchristentum, die dritte fast nur im Urchristentum zu finden sei. 1. Die Freude nach dem Leiden sei in Texten im und nach dem Exil nachweisbar. Dabei werde nach der gegenwärtigen Leidenszeit eine kommende Freudenzeit erwartet. Die Freude gelte also nicht dem Leiden selbst, sondern bereits während des Leidens der zukünftig erhofften Freude(nszeit). H. MILLAUER belegt das für das AT (Ψ 125,5f; Jes 35,10; 51,11; 61,7) sowie für die zwischentestamentliche Zeit in weisheitlicher und apokalyptischer Literatur.101 Hier ordnet er 1Petr 1,6; 4,13b und Joh 16,20–22 ein. 2. Anhand von Ψ 15,9f identifiziert H. MILLAUER eine Freude trotz des Leidens. Zu diesem Vorstellungskreis gehöre der Gedanke, dass die Freude bereits vor dem Leiden vorhanden sei und der Glaubende darin geprüft/ versucht (πειρασμός-Motiv) und bewährt (δοκιμή-Motiv) werde.102 Dazu kann man m. E. auch das Motiv der Erziehung/Züchtigung (παιδεῖα) durch Gott zählen.103 Auch hier wird nicht das Leiden zum Gegenstand der Freude, sondern das daraus erkennbare Handeln Gottes. 97

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Vgl. Epiktet, Ench. 31,3f: „Es ist nun unmöglich für jemanden, der denkt er sei verletzt, sich zu freuen über das, von dem er meint, das es (ihn) verletzt; ebenso ist es auch unmöglich, sich zu freuen über die Verletzung selbst“ (ἀμήχανον οὖν βλάπτεσθαί τινα οἰόμενον χαίρειν τῷ δοκοῦντι βλάπτειν, ὥσπερ καὶ τὸ αὐτῇ τῇ βλάβῃ χαίρειν ἀδύνατον). Die Lösung ist für den Stoiker Epiktet, dass der Weise nur äußerlich und nicht wirklich verletzt werden kann. Vgl. auch den Gegensatz von Freude und Trauer in Epiktet, Diss. 1,9,7; 3,11,2 nach SCHIEFER FERRARI, Sprache, 229. Vgl. NAUCK, Freude, 69–72, der in seiner Untersuchung zunächst unter Berücksichtigung weiterer Stellen nachweist, dass Jak 1,2.12 und 1Petr 1,6; 4,13ff auf die gleiche urchristliche und nicht jesuanische Tradition zurückgehen wie Mt 5,11f und Lk 6,22f. Ebd. KLIJN, Baruch-Apokalypse, 112 spricht davon, dass die Schrift Material aus der Zeit der Tempelzerstörung im Jahr 70 enthält. Berührungen zum NT und besonders zum Römer- und den Korintherbriefen führt er „auf das gemeinsame apokalyptische ‚Klima‘“ zurück, in dem das Urchristentum und die syrische Baruch-Apokalypse verortet sind. Vgl. für das Folgende MILLAUER, Leiden, 167–179. Vor ihm hat bereits RUPPERT, Gerechte I, 176– 179 die Ergebnisse NAUCKs kritisch gewürdigt. Er bezieht sich für die zwischentestamentliche Zeit auf Tob 13,15.17f, für zahlreiche Texte aus Qumran (z. B. auf 1QM 12,13ff; 13,12f; 17,6–9) und für die Apokalyptik auf 4Esr 3,30; 7,12.131; 14,15; 3Bar 13,9f; 15,7f; 48,31.50. MILLAUER, Leiden, 169 nennt als Belege aus der apokalyptischen Literatur 4Esr 7,89f.98f; 3Bar 48,48–50; 52,6f; 54,16–18. Man könnte 1Hen 104,1–5 ergänzen. Vgl. auch RUPPERT, Gerechte I, 178. Vgl. § 10.3.4 mit den entsprechenden Stellenangaben.

§ 10 Einzelexegese von 2Kor 6,3–13 und 7,2–4

203

3. Die Freude über das Leiden sei H. MILLAUER zufolge ein besonderes Merkmal des Urchristentums. Dabei werde das Leiden selbst zum Gegenstand der Freude. Er zeigt das spezifisch Urchristliche an Apg 5,40f, wofür er keine jüdische Parallele findet:104 Die Apostel gehen nach ihrer Entlassung aus Haft und Folter mit Freude (χαίροντες) weg, „weil sie würdig erachtet waren (κατηξιώθησαν), wegen seines Namens verachtet zu werden (ἀτιμασθῆναι).“ In die Erfahrung der Verachtung ist auch die körperliche Geißelung (δέρω) der Apostel eingeschlossen, die Anlass zur Freude gibt.105 Neben den von W. NAUCK bereits untersuchten Stellen verweist H. MILLAUER auf 1Petr 4,13a, wo die Gemeinschaft mit den Leiden Christi gegenwärtig Grund der Freude sei.106 Nach meinem Dafürhalten handelt es sich bei diesem letzten Vorstellungskreis um eine christologisch zugespitzte Variante der bereits beschriebenen Freude trotz des Leidens. Denn Grund der Freude in 1Petr 4,13a ist nicht das Leiden selbst, sondern die Christusnähe darin, weshalb sich die Christusglaubenden nur insoweit (καθό) freuen sollen, wie sie Gemeinschaft mit den Leiden Christi haben. Vor dem Hintergrund dieser traditionsgeschichtlichen Ausführungen sind nun die paulinischen Aussagen zur ‚Freude im Leiden‘ in 2Kor 6,10a zu untersuchen.

10.3.5.2 Gottesbewahrung im Leiden anhand der ‚Freude in Trauer‘ Im Blick auf die hier behandelte Antithese 2Kor 6,10a kann bereits aus der Formulierung eine Zuordnung zur Freude trotz Leiden begründet werden: Denn erstens wird das Hinterglied χαίροντες mit der Partikel δέ eingeleitet. Durch deren adversative Bedeutung kommt das Leiden nicht als Begründung der Freude (über das Leiden) in Frage. Zweitens ist durch die Partizipien keine zeitliche Reihenfolge angedeutet, mit der man die Freude nach dem Leiden verorten könnte. Vielmehr wird durch die gleiche Konjugation der durative und gleichzeitige Aspekt deutlich. Das temporale Adverb ἀεί betont in Bezug auf das Freuen noch zusätzlich, dass die Apostel sich im Trauern wirklich immer freuen.107 Neben dem Ausschlussverfahren legt sich drittens eine Interpretation als Freude trotz des Leidens auch nahe, weil die vorhergehende Antithese (gezüchtigt, aber nicht getötet werden) ebenso zu diesem 104

105 106 107

Vgl. MILLAUER, Leiden, 173–175. Im Judentum werde zwar „der Sühnebedeutung des Leidens ein positiver Sinn beigemessen, so daß es der Fromme schätzt und für notwendig erachtet, doch als Kennzeichen dieser Weltzeit steht es im Gegensatz zur Zeit der zukünftigen Freude und Herrlichkeit. Freude und Leiden stehen also antithetisch gegenüber“ (175). Vgl. PESCH, Apostelgeschichte, 221. Vgl. MILLAUER, Leiden, 181–184. Vgl. BAUER, 35f.

204

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

Traditionskreis gehört. Aufgrund des eschatologischen Bezugs von χαρά κτλ. und aufgrund des nach 2Kor 6,2 gegenwärtigen Tags des Heils ist es naheliegend, dass die Paulus-Gruppe sich freut, weil sie bereits im Leiden das Heil erfährt.108 Der häufige paulinische Bezug der Freude auf die Gemeinden sowie der oft mit dem Begriff λύπη/λυπέω beschriebene Konflikt mit der Gemeinde in 2Kor 1,23ff und 7,5ff legen es nahe, dass Paulus sich hier verallgemeinernd darauf bezieht.109 Die gleichzeitig erfahrene Freude als angebrochene eschatologische Heilszeit verweist auf die Bewahrung der Paulus-Gruppe in ihrem konkreten Leiden. Die leidverursachenden Widerfahrnisse, hier anhand des Begriffs wahrscheinlich auf der sozial-psychischen Ebene verortet, dauern dabei an. Durch den Christusglauben erfahren die Apostel jedoch darin, dass Trauer nicht die ganze Wirklichkeit bestimmt.110 Das ist eine Facette der von Gott gegebenen Standhaftigkeit (ὑπομονή), die in 6,3 den Peristasenkatalog überschreibt. Details über diese Bewahrungs- bzw. Freuden-Erfahrung sind der knappen Formulierung nicht zu entnehmen. Wie bereits bei den vorhergehenden Antithesen ist ein christologischer Bezug für Paulus naheliegend, aber nicht explizit ausgeführt. Eine Andeutung könnte der bei Jesaja prophezeite Tag des Heils sein, der für Paulus nach 6,2 bereits zur Gegenwart geworden ist.

10.3.6

Positive Wirkung des Leidens für andere (6,10b)

In der vorletzten Antithese weist Paulus auf eine positive Wirkung der Armut der Apostel-Gruppe hin, die möglicherweise als Leiden gedeutet wurde: „als Arme, die aber viele reich machen“ (ὡς πτωχοὶ πολλοὺς δὲ πλουτίζοντες). In der Forschung wird dabei die Bedeutungsebene des ersten Begriffs unterschiedlich interpretiert: Ist er auf die materielle Ebene bezogen oder in übertragenem Sinne gemeint? Diese Frage stellt sich für das Hinterglied πλουτίζω nicht, da eine Vermehrung des Reichtums der Gemeinden durch die paulinische Mission kaum anzunehmen ist.111 Sehr wahrscheinlich bezeichnet πτωχοί die tatsächliche, materielle Armut 108

109 110

111

Vgl. CONZELMANN, Art. χαίρω, 360: „Intendiert ist, daß diese Freude nicht bloße Vor-Freude ist. Sie ist die Bezogenheit auf die Zukunft, die in der Gegenwart als Freude erfahren wird.“ So auch die vorsichtige Einschätzung bei SCHIEFER FERRARI, Sprache, 230. Anders KRUG, Kraft, 251 für den hier ein Sachverhalt beschrieben ist, der „zutrifft und tatsächlich erfahrbar war“. Er übersieht den traditionsgeschichtlichen Zusammenhang der Freude. Nur so ist seine Äußerung zu erklären: „Auch seine [des Paulus, EW] Gefühlswelt hat offensichtlich Teil an der widersprüchlichen Existenz des Apostels.“ Dagegen z. B. GRÄßER, Brief I, 249 mit CONZELMANN, Art. χαίρω, 359 über die Freude bei Paulus: „Nie handelt es sich um profane Stimmung.“ Vgl. KRUG, Kraft, 252. Auch die paulinische Kollekte führte kaum zu Reichtum der Urgemeinde.

§ 10 Einzelexegese von 2Kor 6,3–13 und 7,2–4

205

der Paulus-Gruppe:112 Die Apostel erleiden wegen ihres Verkündigungsdienstes Armut, was aber die korinthische und alle Gemeinden (πολλούς) in Bezug auf den Christusglauben durch die Annahme des Evangeliums reich macht.113 Es werden hier also zwei Ebenen miteinander vermischt, wie auch in der Kollektenaufforderung in 2Kor 8,9: Dort beschreibt Paulus das Christusgeschehen metaphorisch in den Kategorien arm und reich, womit er die korinthische Gemeinde zu materieller Spende für die Armen in Jerusalem motivieren möchte.114 Mit dieser Antithese ist exemplarisch die positive Wirkung des apostolischen Leidens ausgesagt: Es geschieht im Rahmen der Verkündigung zugunsten der Menschen in den Gemeinden, die dadurch vom Christusglauben erfahren sowie Heil und Rettung erhalten können. Diese Rettung ist als Reichtum verstanden, der in 2Kor 8,9 christologisch gedeutet ist. Das Entscheidende gegenüber anderen Stellen ist, dass die positive Wirkung des Leidens nicht der leidenden Gruppe zukommt. Vielmehr erfährt die PaulusGruppe Leiden in Form von Armut, während die Wirkung in Form von Heils-Reichtum der Gemeinde zukommt. Dieser Gedanke ist bereits in 2Kor 1,6 durch das Kontrastpaar θλῖψις vs. παράκλησις und in 4,12 durch θάνατος vs. ζωή ausgeführt und wurde dort als apostolische „Pro-Existenz“115 bezeichnet. Es kann dabei kaum von einer soteriologischen Leistung des Paulus alleine gesprochen werden, da der verwendete Plural und der Kontext vielmehr auf die Missionstätigkeit der Paulus-Gruppe verweisen, die den Gemeinden zugutekommt.116

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So z. B. HARRIS, Epistle, 484; EBNER, Leidenslisten, 318–320 und THRALL, Epistle I, 467. Dagegen hält KRUG, Kraft, 251–253 eine rein übertragene Bedeutung des πτωχοί für angemessen, was SCHMELLER, Brief I, 359 Anm. 320 überzeugend kritisiert. GRÄßER, Brief I, 249 bezieht die Armut des Paulus über materielle Entbehrung hinaus im übertragenen Sinne auf Leiderfahrungen insgesamt. Vgl. § 12.1.2 für eine Auslegung von 2Kor 8,9. SCHMELLER, Brief I, 254. Er gebraucht den Begriff im Zusammenhang von 2Kor 4,7–15. Vgl. EBNER, Leidenslisten, 121 und GRÄßER, Brief I, 169f. Für die vorliegende Antithese beschreibt KRUG, Kraft, 253 die gleiche Beobachtung als „individuell[e]“ und „kollektive Funktion für die Gemeinde“. Für die letzte Antithese in 2Kor 6,10c „als nichts Habende und doch alles Besitzende“ ist bereits in § 10.2.3, Anm. 825 auf die Nähe zur Formulierung von Pseudo-Krates, Ep. 7 und den damit verbundenen kynisch-stoischen Hintergrund verwiesen worden. SCHMELLER, Brief I, 359 Anm. 323 nennt weitere Vergleichstexte. Mit diesem und mit GRÄßER, Brief I, 249f verstehe ich die Antithese hier nicht als Leidbewältigungsstrategie, sondern als Zusammenfassung und Abschluss des ganzen Katalogs. SCHMELLER, Brief I, 359f hält anhand des Verbs ἔχω, was bereits in den „HabeFormeln“ von 3,4 (Gottvertrauen); 3,12 (Hoffnung); 4,1 (Dienst); 4,7 (Schatz in Tongefäßen), 4,13 (Geist des Glaubens) und 5,1 (Bau von Gott) genannt ist, für Paulus fest: „Nicht der Rückbezug auf sich selbst, sondern die Ausrichtung auf Gott ist für ihn ‚alles‘.“ Ähnlich stellt KRUG, Kraft, 254 fest, dass Paulus das „Alles-Haben“ darauf beziehe, „was ihm an ‚Tugenden‘ dank göttlicher Gabe zukommt.“

206

10.3.7

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

Paulus-Gruppe und Gemeinde: Mitsterben und Mitleben (7,3)

In 2Kor 7,3 erklärt Paulus, die Gemeinde sei „in unseren Herzen, um mitzusterben und mitzuleben“ (εἰς τὸ συναποθανεῖν καὶ συζῆν). Die Deutung dieser Aussage ist umstritten und bedarf genauerer Betrachtung, bevor ihr Gehalt als Leidbewältigungsstrategie analysiert werden kann.

10.3.7.1 Bedeutung des Mitsterbens und Mitlebens Die Formulierung stammt zweifelsohne aus dem Kontext von Freundschaft, Liebe und Treue, wie entsprechende Belege aus dem Profangriechischen zeigen.117 Darin erschöpft sich allerdings bereits der Forschungskonsens. In der Hauptsache gibt es zwei Interpretationen, die im Detail andere Akzente setzen: Entweder nutzt Paulus die Formulierung im profangriechischen Sinn von Freundschaft und Treue, um die tiefe Verbundenheit zwischen WirGruppe und den Korinthern im Leben und Sterben, also: ‚durch dick und dünn‘, auszudrücken.118 Oder Paulus trägt eine christologische Bedeutung in die vorgegebene Formulierung ein und drückt die Verbundenheit zu den Korinthern durch die gemeinsame Teilhabe am Leben und Sterben Christi aus.119 Die Deutung hängt von der Beantwortung der folgenden, ineinander greifenden Einzelfragen ab.120 1. Was ist implizites Subjekt und Objekt der beiden Infinitive? Nach der ersten Möglichkeit wäre als Subjekt der Infinitive das ‚Ihr‘ aus dem direkten Kontext gemeint (ἐστε), wobei das Präfix συν- den Bezug auf die Paulus-Gruppe ausdrücken würde. Die Bedeutung wäre also leicht paraphrasiert wie folgt zu verstehen: ‚Ihr seid in unseren Herzen, damit ihr mit (uns) lebt und sterbt.‘121 Diese Übersetzung lässt grammatisch keinen Spielraum für einen christologischen Bezug und unterstützt daher eine Deutung ausschließlich mit Hilfe des Freundschafts-Topos. Ein christologischer Bezug 117

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119

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Vgl. LAMBRECHT, Die Together, 585f, aber auch die Kommentarliteratur wie z. B. HARRIS, Epistle, 519; BULTMANN, Brief, 179; FURNISH, Corinthians, 370f; VEGGE, Corinthians, 193f; WOLFF, Brief, 154 uvm. Als Beleg aus der LXX wird v. a. 2Sam 15,21 genannt. Vgl. für eine Vielzahl von Belegen, die das Mitsterben thematisieren STÄHLIN, Bemerkungen, 508–511. So z. B. HARRIS, Epistle, 519; BULTMANN, Brief, 179; FURNISH, Corinthians, 370f; MARTIN, Corinthians, 219 und WOLFF, Brief, 154. So z. B. WINDISCH, Korintherbrief, 222f; GRÄßER, Brief I, 267; TANNEHILL, Dying, 93; LAMBRECHT, Die Together, 585 und STÄHLIN, Bemerkungen, 521 u.ö. Vgl. für eine Übersicht über die relevanten Fragen zur Stelle LAMBRECHT, Die Together, 573f. So auch STÄHLIN, Bemerkungen, 508; SCHMELLER, Brief I, 383; GRÄßER, Brief I, 266 und KLAUCK, 2. Korintherbrief, 63.

§ 10 Einzelexegese von 2Kor 6,3–13 und 7,2–4

207

wäre lediglich möglich (Gemeinde stirbt/lebt mit Paulus-Gruppe und Christus), aber nicht wahrscheinlich. Die Gemeinde wäre Subjekt (‚ihr lebt und sterbt …‘), die Paulus-Gruppe Objekt (‚… mit uns‘). Die zweite Möglichkeit schließt aus dem Plural des vorangehenden ὅτιSatzes („in unseren Herzen“) auf einen kommunikativen Plural als Subjekt der Infinitive. Die Bedeutung wäre dann etwa wie folgt zu verstehen: ‚… damit wir (alle) mit NN leben und sterben.‘122 Diese Übersetzung zielt durch den offen bleibenden Bezug des συν- auf die Ergänzung ‚mit Christus‘. Obwohl Christus im direkten Kontext nicht genannt ist, liegt das insofern nahe, weil sich eine ähnliche Verbindung bereits in 2Kor 4,14 findet:123 Dort schreibt Paulus, dass die Paulus-Gruppe mit der Gemeinde gemeinsam mit Jesus (σὺν Ἰησοῦ) auferweckt wird. Außerdem bezieht sich der einzige andere Beleg für συζάω im Tauf-Kontext von Röm 6,8 explizit auf ein Mitsterben mit Christus.124 Insofern legt sich diese zweite Bedeutung nahe, wodurch der christologische Bezug mit der Freundschaftsthematik verbunden ist. 2. Wie ist die kontraintuitive Reihenfolge der Infinitive – zuerst das Mitsterben und dann das Mitleben – zu erklären? Erstens ist die Reihenfolge im Griechischen nicht so ungewöhnlich, wie es zunächst scheint. Denn sie findet sich auch an anderen Stellen im Kontext von Liebe oder Verpflichtung. In 2Sam 15,21 leistet Ittai einen Treueschwur gegenüber König David, womit er ihm folgen will, „sowohl wenn es zum Tod ist, als auch wenn es zum Leben ist“ (καὶ ἐὰν εἰς θάνατον καὶ ἐὰν εἰς ζωήν).125 In der Tragödie entscheidet sich Elektra, mit ihrem Bruder zu sterben und zu leben: „Mit dir (zu sein) wähle ich, sowohl zum Sterben, als auch zum Leben“ (σὺν σοὶ καὶ θανεῖν αἱρήσομαι καὶ ζῆν).126 Paulus hat also nicht unbedingt eine ihm vorgegebene Reihenfolge umgekehrt. Zweitens finden sich in der paulinischen Verwendung weiterer συν-Aussagen Parallelen, bei denen der Apostel das Sterben vor dem Leben nennt.127 Generell stellt Paulus im christologischen Zusammenhang oft das Negative

122 123 124

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126

127

In diesem Sinne auch LAMBRECHT, Die Together, 573 und HARRIS, Epistle, 518. So z. B. STÄHLIN, Bemerkungen, 521; GRÄßER, Brief I, 267 und TANNEHILL, Dying, 93. Vgl. das Begrabensein „mit ihm“ (συνθάπτομαι αὐτῷ) in Röm 6,4 und v. a. Röm 6,8: ἀποθνῄσκω σὺν Χριστῷ und συζάω αὐτῷ, was noch näher ausgeführt wird. Darauf verweisen z. B. SCHMELLER, Brief I, 386; BULTMANN, Brief, 179f und LAMBRECHT, Die Together, 581f. Die Reihenfolge von Tod und Leben findet sich bereits im hebräischen Text. Das Argument von HARRIS, Epistle, 519, für Paulus stehe im 2. Korintherbrief seine Sterblichkeit im Vordergrund und er stelle daher das Mitsterben voran, ist allenfalls ein Randargument. Euripides, Or. 307f. Darauf verweisen z. B. THRALL, Epistle I, 483 und LAMBRECHT, Die Together, 581. Diverse Belege unter verschiedenen Vergleichspunkten nennt STÄHLIN, Bemerkungen, 508– 511. Vgl. a. a. O., 516. Συναποθνῄσκω kommt im NT noch in der deuteropaulinischen Stelle 2Tim 2,11 und aus dem Mund des Petrus vor der Verhaftung Jesu in Mk 14,31 vor.

208

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

und zu Überwindende dem Positiven und Anzustrebenden voran.128 Die größte Nähe zum vorliegenden Text hat dabei die bereits erwähnte Stelle Röm 6,8: „Wenn wir aber gestorben sind mit Christus, glauben wir, dass wir auch mit ihm leben werden“ (εἰ δὲ ἀπεθάνομεν σὺν Χριστῷ, πιστεύομεν ὅτι καὶ συζήσομεν αὐτῷ). Hier ist die Wortwahl fast identisch und die Reihenfolge im Kontext der Taufe begründet. Die genannten Belege sind ein Indiz für eine christologische Deutung der Formulierung. 3. Wie sind Sterben und Leben in der Formulierung zu verstehen? Die Bedeutung der Aussagen zu Sterben und Leben im vorliegenden Kontext hängt auch von der Interpretation der Tempuswahl ab. Paulus formuliert das Mitsterben durch einen Infinitiv Aorist und das Mitleben als Infinitiv Präsens. Im Koine-Griechisch treten die Aspekt-Bedeutungen von Infinitiven zwar zurück, aber dennoch liegt bei der direkten Parallelstellung zweier Infinitive in unterschiedlichen Tempora eine bewusste Bedeutungsunterscheidung nahe.129 Der Aorist kann eine punktuelle oder iterative Bedeutung haben, während das Präsens eher einen durativen Aspekt transportiert. Bei der Entscheidung für eine Deutung im Kontext von Freundschaft oder Christologie hilft das nur bedingt weiter. Im Freundschaftskontext könnte damit die Hoffnung auf kontinuierliches Leben und nur vereinzeltes Leiden ausgedrückt sein. Im christologischen Zusammenhang sind zwei Interpretationen denkbar: a) Das Mitsterben kann auf viele punktuelle Leidenserfahrungen bezogen sein, während das Mitleben sich auf das Leben mit Christus bezieht, was im Gegensatz zum Mitsterben dauerhaft gedacht ist.130 b) Das Mitsterben kann sich auch auf den einmaligen physischen Tod der Christusglaubenden beziehen, während das Mitleben sich auf das eschatologische Leben danach bezöge.131 4. Ergebnis An der vorliegenden Stelle kann man von einem bewussten doppelten Bezug ausgehen, den Paulus einträgt. Der Aspekt der Freundschafts-Verbindung von Apostel-Gruppe und Gemeinde ist genauso präsent, wie der Bezug beider auf das Sterben und Leben Christi. Eine Entscheidung zugunsten einer 128

129 130 131

Paulus stellt συμπάσχω vor συνδοξάζω in Röm 8,17, συμπάσχω vor δοξάζω in 1Kor 12,26, ἀσθενέω ἐν αὐτῷ vor ζάω σὺν αὐτῷ in 2Kor 13,4 und καθεύδω (entschlafen) vor ζάω σὺν αὐτῷ in 1Thess 5,10 (vgl. Röm 8,32; Phil 1,23; 3,10f; ferner Kol 2,13; 3,3). Vgl. STÄHLIN, Bemerkungen, 519 und LAMBRECHT, Die Together, 584 u. 587. Vgl. STÄHLIN, Bemerkungen, 519. Vgl. LAMBRECHT, Die Together, 585f. In der Deutungs-Typologie zur Stelle von HARRIS, Epistle, 518 würde STÄHLIN die christologische Sicht und LAMBRECHT die eschatologische Sicht vertreten. Darüber hinaus identifiziert HARRIS eine anthropologische Deutung, nach der das gegenwärtige (durative) physische Leben und der zukünftige (punktuelle) physische Tod gemeint sind.

§ 10 Einzelexegese von 2Kor 6,3–13 und 7,2–4

209

dieser Optionen wäre eine Einschränkung des intendierten Bedeutungsspektrums. Inhaltlich ließe sich 7,3b also folgendermaßen paraphrasieren: ‚Ich habe schon gesagt, dass ihr in unseren Herzen seid, damit wir, Apostel und Gemeinde, mit Christus leben und sterben, also Leidens- und Rettungserfahrungen mit ihm machen.‘ 10.3.7.2 Die leidbewältigende Wirkung der Rede vom Mitsterben und Mitleben Die Rede vom gemeinsamen Mitsterben und Mitleben hat großes Potential als Leidbewältigungsstrategie. Schon ohne den christologischen Aspekt wird dadurch betont, dass sowohl die Gemeinde als auch die paulinische WirGruppe in keiner Situation alleine, sondern immer im Herzen der jeweils anderen sind. Dies gilt genauso für eine Zeit des Leidens, womit eine Strategie gegen dessen Isolationscharakter gegeben ist. Das wird durch die christologische Erweiterung noch ausgedehnt: Die Gemeinde ist über die PaulusGruppe hinaus auch mit Christus verbunden. Die Verbundenheit zwischen Aposteln und Gemeinde wird so durch die Christusgemeinschaft beider begründet:132 Apostel und Gemeinde sind erst miteinander verbunden, weil beide mit Christus verbunden sind. Die Formulierung hat also gemeinschaftsstiftenden Charakter gegen und durch die Leiderfahrung. Der zweite christologische Aspekt ist von noch größerer Bedeutung: Paulus nimmt hier wie bereits in 2Kor 1,5.7 und 4,10f eine Parallelisierung des Christusschicksals zum Ergehen der Christusglaubenden vor. Darin drückt sich die bei Paulus im Kontext von Leiderfahrungen häufig gebrauchte Darstellung des Schicksals Christi als Sterben/Leiden und danach Auferweckung/ Leben aus: Während die Christusglaubenden also als Mitsterbende Leiden erfahren, steht das Mitleben als erhofftes Ende des Leidens noch aus. Dieses Mitleben geschieht im Leben vor dem Tod. Mitgedacht ist auch die eschatologische Totenauferweckung.

10.3.8

Gottesbewahrung im Leiden anhand der ‚Freude in Bedrängnis‘ (7,4)

Am Ende des zu untersuchenden Abschnitts verwendet Paulus unter Wechsel von erster Person Singular und Plural das bereits in § 10.3.5 behandelte Motiv der Freude im Leiden mit dem Begriff θλῖψις: „Ich fließe über vor 132

Das entspricht dem Charakter der κοινωνία, die in 2Kor 1,3–11 genannt ist: Gemeinschaft durch gemeinsame Teilhabe an etwas. Vgl. die Ausführungen zur κοινωνία bei der Analyse von 2Kor 1,3–11 sowie die entsprechenden Stellen bei WOLTER, Apostel sowie HAINZ, Art. κοινωνία.

210

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

Freude in all unserer Bedrängnis“ (ὑπερπερισσεύομαι τῇ χαρᾷ ἐπὶ πάσῃ τῇ θλίψει ἡμῶν, vgl. 1Thess 1,6; 2Kor 8,2; Röm 5,3–5). Für die Frage nach der Leidbewältigungsstrategie ist wieder zu klären, in welcher Weise Freude und Leiden aufeinander bezogen sind. Das hängt stark am Verständnis der Präposition ἐπί. Häufig bezeichnet sie mit dem Dativ im NT speziell im Zusammenhang mit Affekten einen Grund.133 Damit wäre die Bedrängnis der Gegenstand der Freude und die Aussageintention, dass Paulus überfließe „vor Freude über all unsere Bedrängnis.“ Wahrscheinlicher ist hier jedoch eine temporale Deutung, nach der Paulus deutlich macht, dass er überfließt „vor Freude in/während all unserer Bedrängnis“.134 So reduziert Paulus schon grammatikalisch den Stellenwert der Leiderfahrung, indem sie lediglich als Zeit erwähnt wird, zu der die Objekte παράκλησις und χαρά auftreten.135 Das hat Anhalt an der wortgleichen Formulierung in 2Kor 1,4, in der der Trost Gottes an der Paulus-Gruppe in all ihrer Bedrängnis geschieht. Zwischen den beiden Traditionsausformungen der Freude trotz des Leids und nach dem Leid ist grammatisch nicht zu unterschieden. Eine Festlegung ist allerdings auf inhaltlicher Ebene möglich: Denn eine futurische Komponente der Aussage, wie sie für die Freude nach dem Leid zu erwarten wäre, fehlt völlig. Von einem eschatologischen Lohn wie in der jüdischen Apokalyptik ist hier nicht die Rede.136 Stattdessen formuliert Paulus im Präsens. Erklärt man die Redaktionsgeschichte des 2. Korintherbriefs mit G. BORNKAMM und legt damit 7,4 als letzten Vers der ‚Apologie‘ aus, dann ist die Begründung für die Freude trotz des Leidens vor der Aussage zur Freude zu suchen. Dafür kann die direkt voranstehende Formulierung „Ich bin erfüllt (worden) mit Trost“ (πεπλήρομαι τῇ παρακλήσει) herangezogen werden. Diese kann entweder als Folge verstanden werden, wobei der Trost die Freude trotz des Leidens begründet. Oder Paulus bezieht hier auch Trost und Freude auf die Bedrängnis: Beides wäre dann in und trotz der Bedrängnis erfahrbar. In dieser zweiten Deutung ist ähnlich wie in 6,10a die Freude ein Indiz für die Bewahrung Gottes, die die Paulus-Gruppe im Leiden erfährt und die hier noch durch den Trost konkretisiert ist.137 Insofern besteht die 133

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136 137

Vgl. BLASS-DEBRUNNER §235,2; BAUER, 581f u. 1743 und HOFFMANN/V. SIEBENTHAL, Grammatik, 271. Ἐπί mit Dativ gibt auch in 2Kor 7,13 und Phlm 7 den Grund der Freude an. Vgl. 1Thess 3,7 und Röm 16,19. Vgl. BAUER, 581 u. 583. So optieren fast alle Kommentare zur Stelle. Nur HARRIS, Epistle, 521 hält die kausale Deutung für eine mögliche Interpretation. Auch HARRIS bezieht sowohl πεπλήρομαι τῇ παρακλήσει als auch ὑπερπερισσεύομαι τῇ χαρᾷ auf die Bedrängnis (a. a. O., 521). Vgl. BAUMEISTER, Anfänge, 157–161. Diese Auslegung ändert sich, wenn man 2Kor 7,4 innerhalb einer Zweiteilungs- bzw. Einheitlichkeitshypothese auf 7,5ff bezieht. Dann würde Paulus in 7,4 seine Bedrängnis nennen, sie in 7,5 differenzieren und in 7,6f eine konkrete Wirkung des Gottestrostes darin beschreiben. Die Tröstung und Nachrichten des Titus könnten den Trost und die Freude des Paulus erklären, die in 7,4

§ 10 Einzelexegese von 2Kor 6,3–13 und 7,2–4

211

Leidbewältigungsstrategie darin, dass die Paulus-Gruppe trotz des Leidens voller Freude ist. Denn rückblickend erkennen die Apostel, dass sie im Leiden von Gott, genauer: von Gottes Trost, bewahrt sind.

10.4 Zwischenfazit Der Abschnitt 2Kor 6,3–13 und 7,2–4 ist innerhalb der Apologie von 2,14– 7,4 verortet, was seine primäre Intention vorgibt: Der Peristasenkatalog soll dazu beitragen, die Paulus-Gruppe als vorbildliche Apostel zu empfehlen, während die Schlussverse 6,11–13 und 7,2–4 ein Appell zur Versöhnung der Gemeinde mit ihren Aposteln sind. Im Peristasenkatalog bringt Paulus Elemente aus der jüdischen und besonders der stoischen Tradition zusammen. Die damit thematisierten Leiderfahrungen betreffen ausschließlich die Paulus-Gruppe, während nur in den anschließenden Versen bei 7,3 mögliches Leiden der Gemeinde erwähnt ist. Für die zahlreichen leidverursachenden Widerfahrnisse ist die Betroffenheitsebene nur teilweise zu klären. Insgesamt stellt Paulus Leiderfahrungen auf sozial-psychischer und somatisch-physischer Ebene direkt nebeneinander. In Bezug auf die Ursachen dominieren wie bisher Handlungen. Lediglich die Ursachen für die genannte Armut (6,10) sind nicht eindeutig zuzuordnen. Auch die Verantwortlichkeit für Leiderfahrungen der Apostel-Gruppe ist nicht immer klar abzugrenzen. Meistens sind wahrscheinlich Dritte von außen im Blick, wobei gerade die Antithesen in 6,8.9a auf der sozial-psychischen Ebene zumindest auch auf Konflikte mit Gemeinden anspielen können. Durch die verschiedenen Facetten des Peristasenkatalogs kommt in diesem Textabschnitt eine Vielzahl von Leidbewältigungsstrategien zum Tragen: Erstens ordnet Paulus dem Leiden der Apostel-Gruppe als Bewältigungsstrategie an drei Punkten eine positive Wirkung zu. Bereits in der Vorschau auf den Katalog nennt Paulus in 6,4 den positiven Effekt des Leidens, dass sich dadurch die Apostel als Diener Gottes empfehlen können. Dabei ist an einen Bezug zur stoischen Tradition der Bewährung des Weisen im Leiden zu denken. Dann greift Paulus in 6,9c auf das weisheitliche Motiv der Erziehung/Züchtigung Gottes als Zeichen besonderer Gottesnähe zurück. Schließlich beschreibt er in 6,10b, dass das Leiden der Apostelgruppe eine positive Wirkung entfaltet, die den Gemeinden zugutekommt. Damit sind vermutlich nur angedeutet wären. Das ist jedoch von daher wenig plausibel, weil Paulus in 7,4 und im Peristasenkatalog nicht darauf hinweist, dass die Bedrängnis der Paulus-Gruppe enden könnte. Das wäre aber genau die in 7,5f beschriebene Wirkung. Damit ist kein literarkritisches Argument gewonnen: Selbst wenn keine Nahtstelle nach 7,4 vorliegt, ist dennoch ein Bezug dieses Verses nach vorne wahrscheinlicher als zu 7,5ff.

212

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

wie in 1,4–6 und 4,10.12 die Leiden der Missionsarbeit mit der Metaphorik des Reich-Machens beschrieben. Zweitens beschreibt Paulus, dass die Apostel-Gruppe von Gott in ihrem Leiden die Fähigkeit zum Durchhalten bekommt. Das geschieht genauso durch die Standhaftigkeit (ὑπομονή), die in 1,6 für die Gemeinde genannt ist, wie durch die anderen Charismen, die in 6,6f aufgezählt sind. Alle diese Eigenschaften werden retrospektiv auf Gott bezogen, der damit überhaupt erst die Voraussetzung dafür schafft, dass sich die Apostel-Gruppe bewähren kann. Eng damit verbunden ist drittens die Leidbewältigungsstrategie, gemäß der Paulus die Apostel-Gruppe als in der Leiderfahrung bewahrt ansieht. Dies drückt er zum einen wie in 4,8f innerhalb der Antithesen des Katalogs durch die Rede vom Leben während des Sterbens aus (6,9b). Dafür greift er zum anderen auf das Motiv der Freude im Leiden zurück, die in der Erfahrung der Bewahrung im Leiden gründen kann (6,10a). In den Versen nach dem Katalog verbindet er das mit dem Trost Gottes, der die Freude begründet, die präziser als Freude trotz des Leidens charakterisiert ist (7,4). Mit dem Wirken des Trostes ist dabei nicht wie in 1,3–11 das Ende leidverursachender Widerfahrnisse verbunden. Viertens schließlich verbindet Paulus durch den Ausdruck des Mitsterbens und Mitlebens ein antikes Motiv aus dem Freundschaftskontext mit der Christologie. Er stellt dadurch in 7,3 in anderer Formulierung aber inhaltlich ähnlich zu 1,5.7 und 4,10f eine Parallele zwischen Christusgeschehen und Ergehen der Christusglaubenden her: Aus dem gemeinsamen Leiden mit Christus erwächst einerseits die Hoffnung und Perspektive auf ein Ende einzelner Leiderfahrungen. Andererseits wird dadurch die Gemeinschaft von Gemeinde, Aposteln und Christus gezeigt, die dem isolierenden Charakter des Leidens entgegenwirkt.

§ 11 Einzelexegese von 2Kor 7,5–16 § 11 Einzelexegese von 2Kor 7,5–16

11.1 Kontext und Abgrenzung Über die Abgrenzung des vorliegenden Textabschnitts gibt es keinen Forschungskonsens, da diese mit der Beurteilung der viel diskutierten Redaktionsgeschichte des 2. Korintherbriefs zusammenhängt. Bei der Behandlung des Abschnitts 2Kor 6,3–7,4 habe ich dargelegt, dass eine Zäsur nach 7,4 und ein Neueinsatz in 7,5 plausibel erscheint.1 In G BORNKAMMs Hypothese schließt der hier zu untersuchende Abschnitt 7,5–16 den ‚Versöhnungsbrief‘ aus 1,1–2,13 ab.2 Dafür sprechen die Fortsetzung des Reiseberichts sowie die Rolle des Titus in 2,12f und in 7,5–7.13b–16. Außerdem nimmt Paulus ab 7,8 mit dem Leitwort λύπη/λυπέω den Konflikt von 1,23ff auf. Unabhängig von der redaktionsgeschichtlichen Beurteilung des Gesamtbriefes geht die Forschungsmehrheit davon aus, dass es sich in 1,23ff und 7,5ff „um dieselbe Angelegenheit und offenbar um dasselbe Stadium derselben“3 handelt. Es kommen aber jeweils andere Aspekte in den Blick. Besonders die Einzelperson, die nach 2,5–8 der Anlass für den Gesamtkonflikt zwischen Paulus und Gemeinde ist, wird im vorliegenden Abschnitt nur am Rande thematisiert: In der einzigen Erwähnung des Unrechttäters (ἀδικήσας) in 7,12 betont Paulus, dass er den ‚Tränenbrief‘ gerade nicht dessentwegen oder wegen sich selbst als unter dessen Tat leidend (ἀδικηθείς) verfasst habe.4 Vielmehr rückt noch mehr als in 2,5ff die Gemeinde in den Fokus, über deren Reaktion Paulus von Titus informiert wird (7,7).

1 2 3

4

Vgl. § 10.1.1 und 10.3.5.3. Vgl. die Darstellung der Hypothese BORNKAMMs in § 5.2.1.2. WINDISCH, Korintherbrief, 224. Vgl. z. B. HARRIS, Epistle, 545 und § 7.1.2 bei der Einzeluntersuchung von 2Kor 1,23ff für weitere Argumente dafür, dass beide Stellen denselben Konflikt thematisieren. Nur wenige Forschungsbeiträge verorten 2Kor 2,1ff und 7,5ff in zwei verschiedenen Briefteilen, womit dann zwar noch derselbe Konflikt gemeint sein kann, jedoch in unterschiedlichen Stadien. Vgl. die Hypothesen von LINDEMANN, Kirche, 152f („Tränenbrief“ in 2Kor 1,3–2,11 und „Versöhnungsbrief“ in 2,12f; 7,4–16) und BECKER, Schreiben, 96–99 („Tränenbrief“ in 2Kor 1,1–7,4 und ein weiterer Brief in 7,5–16). Das setzt voraus, dass man in 2Kor 7,12 den Übeltäter (ἀδικήσας) mit dem Einzelnen aus 2Kor 2,6 (λυπήσας) identifiziert und Paulus mit demjenigen gleichsetzt, dem Unrecht geschehen ist (ἀδικηθείς). Das ist fast Konsens in der Forschung. Vgl. z. B. GRÄßER, Brief I, 276; BULTMANN, Brief, 62; FURNISH, Corinthians, 396 und MARTIN, Corinthians, 238. Gegen eine solche Identifikation richten sich WINDISCH, Korintherbrief, 238; THRALL, Epistle I, 68 und DIES., Offender, 74f.

214

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

11.2 Analyse des geschilderten Leidens Der Begriff θλίβω kommt nur zu Beginn des Abschnitts in 2Kor 7,5 einmal vor und ist auf die Paulus-Gruppe bezogen. Zur Beschreibung von Leiden ist ab 7,8 λύπη/λυπέω dominant.

11.2.1

Betroffene

In 2Kor 7,5–7 ist von einer Bedrängnis der Paulus-Gruppe die Rede. Ab 7,8 kommt dagegen hauptsächlich die Gemeinde in den Blick, die traurig gemacht wurde (λύπη/λυπέω). Dass Titus durch die Gemeinde getröstet wurde (παρακαλέω, 7,7) und diese ihn hat ausruhen lassen (ἀναπαύω, 7,13), kann auf ursprüngliches Leiden des Titus hinweisen.5 Jedoch geht Paulus darauf nicht ein, sondern thematisiert Titus hauptsächlich als Überbringer des Trostes und in seiner Beziehung zur Gemeinde.

11.2.2

Betroffenheitsebene

Paulus formuliert in 2Kor 7,5 eine dichotomische Differenzierung seiner Leiderfahrung. Er unterscheidet hier nach dem Ursprung des Bedrängt-Werdens (θλίβομαι) entweder von außerhalb (ἔξωθεν) oder von innerhalb (ἔσωθεν).6 Das kann entweder auf die eigene Gruppe (soziologisch) oder auf die eigene Person (anthropologisch) bezogen sein. Wäre das Aussageziel hier eine soziologische Verortung der Leidverantwortlichen als außerhalb oder innerhalb der Gemeinde stehend, dann wären die Begriffe ἔξω (außen) und ἔσω (innen) zu erwarten.7 Der sonstige Gebrauch von ἔξωθεν/ἔσωθεν im NT verweist auf eine Verortung der Bedrängnis in Bezug auf die Person des Apostels bzw. der Apostel.8 Paulus differenziert also zwischen einer Bedräng5

6

7

8

Die Verwendung des Begriffs in 1Kor 16,18 und Phlm 7.20 weist ebenfalls nicht auf Leiden hin. Vgl. ARZT-GRABNER, Philemon, 197f. Das Begriffspaar ἔσωθεν/ἔξωθεν bezeichnet eher den Ursprung von etwas (von innen heraus/von außen her), während bei einer Angabe des Ortes ἔσω/ἔξω (innen/außen) zu erwarten wäre. Vgl. BAUER, 565f u. 636. Vgl. BEHM, Art. ἔξω, 572f. Als soziologische Differenzierung zwischen der eigenen und der fremden Gruppe stehen ἔξω/ἔσω gemeinsam in 1Thess 4,12 und 1Kor 5,12, außerpaulinisch ähnlich auch Kol 4,5 und Mk 4,11. Der Begriff ἔσω alleine verweist hauptsächlich auf das Menscheninnere (2Kor 4,16; Röm 7,22 und deuteropaulinisch Eph 3,16). Das anthropologische Gegenüber von ἔσωθεν/ἔξωθεν kommt außer 2Kor 4,16 und 7,5 auch in metaphorischer Verwendung bei der Pharisäer- und Schriftgelehrtenpolemik Jesu in Mt 23,25– 28parr sowie weiterhin in Mt 7,15 als Warnung vor Falschpropheten vor. 1Petr 3,3 kontrastiert das Äußere zum „verborgenen Menschen des Herzens“, während nur in 1Tim 3,7 ἔξωθεν synonym zu ἔξω ein soziales Gegenüber bezeichnet. Die Belege in Apk 4,8; 5,1; 11,2 und 14,20 nutzen

§ 11 Einzelexegese von 2Kor 7,5–16

215

nis, die aus seinem Inneren kommt und einer, die von außen – nicht unbedingt von außerhalb der Gemeinde – kommt. Mit den von innen kommenden Ängsten (φόβοι) bezieht sich Paulus wahrscheinlich auf die Wartezeit bis zum Eintreffen des Titus und damit von Nachrichten aus der Gemeinde (vgl. die „Sorge um die Gemeinden“ in 11,28).9 Insofern ist hier eine Leiderfahrung auf sozial-psychischer Ebene anzunehmen.10 Die von außen kommenden Kämpfe (μάχαι) können dagegen als Kontrast auf die somatisch-physische Ebene hinweisen. Denn der Begriff μάχη ist zwar neben der Bedeutung physischer, kriegerischer und kämpferischer Auseinandersetzungen offen für Streitigkeiten, Wortgefechte und Anfeindungen allgemein.11 Es ergibt sich jedoch unter Berücksichtigung des verwandten Begriffs μάχαιρα (Schwert, Gewalt) und der Gegenüberstellung zu den Ängsten die Tendenz zur Deutung auf physische Auseinandersetzungen.12 Solche Leiderfahrungen auf der somatisch-physischen Ebene, die in Makedonien lokalisiert sind, sind in Briefen an makedonische Gemeinden vor und nach dem vorliegenden Textstück belegt (vgl. 1Thess 2,1ff; Phil 1,27ff). Sicher ist die Bedeutung von Kämpfen mit somatisch-physischer Bedrohung oder Gewaltanwendung jedoch nicht. Die Leiderfahrung der Gemeinde verortet Paulus durch den λύπη-Begriff mehrfach auf der sozial-psychischen Ebene.

11.2.3

Leidursachen

Die Leiderfahrungen der Paulus-Gruppe beschreibt der Apostel in 7,5 als ἐν παντὶ θλιβόμενοι (in allen Dingen/jeder Hinsicht Bedrängte), was er wie oben

9 10

11

12

den Begriff wörtlich zu einer lokalen Verortung. Eine anthropologische und explizit keine soziologische Deutung vertritt m. W. nur HARRIS, Epistle, 527. Vgl. z. B. WINDISCH, Korintherbrief, 227 und BULTMANN, Brief, 56. Den Begriff σάρξ verwendet Paulus dabei als neutralen Begriff und bezeichnet damit sich selbst, ggf. unter Verweis auf seine Verwundbarkeit. Vgl. z. B. BULTMANN, Brief, 56. Im NT kommt das Substantiv μάχη noch in 2Tim 2,23; Tit 3,9 und Jak 4,1 vor sowie das Verb μάχομαι in Joh 6,52; Apg 7,26; 2Tim 2,24 und Jak 4,2. FELDMEIER, Art. μάχη, 1107. „Das Bedeutungsspektrum reicht von der Schlägerei über die Auseinandersetzung in der Gemeinde bis zum innerseelischen Konflikt.“ In der LXX wird der Begriff vorwiegend für physischen Streit und Kampf im Sinne von militärischen Auseinandersetzungen gebraucht (vgl. Jos 4,13; Ri 11,25 u.ö.) und bezeichnet erst im weisheitlichen Kontext den möglichst zu vermeidenden Streit zwischen Menschen insgesamt. BAUERNFEIND, Art. μάχομαι, 533 nennt als Beispiele Gen 45,24; Spr 15,18; 17,1.14.19; 25,8f; 26,20f; 30,32f; Sir 6,9; 8,16; 27,14f; 28,8.10f; 31,26. So z. B. auch WINDISCH, Korintherbrief, 227, der eine Verfolgung des Paulus in Makedonien und eine Anspielung auf Dtn 32,25 für möglich hält. Ähnlich auch GRÄßER, Brief I, 272, der allerdings eine Verfolgungserfahrung der Paulus-Gruppe für unwahrscheinlich hält, aber 2Kor 7,5 in Bezug zur Bedrängnis von 1,8 versteht. Auf der sozial-psychischen Ebene verortet FURNISH, Corinthians, 386 die Kämpfe als „quarrels“.

216

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

dargestellt differenziert. Dabei verweisen beide Richtungen des Bedrängt Seins auf leidverursachende Widerfahrnisse, die aus Handlungen resultieren. Das ist für die Kämpfe ‚von außen‘, selbst wenn man sie auf die sozial-psychische Ebene beziehen wollte, unmittelbar einsichtig. Das gilt jedoch auch für die Ängste ‚von innen‘, die sich hier auf das Verhalten der Gemeinde und die von ihnen gewählten Handlungsoptionen beziehen. Die Leiderfahrung der Gemeinde, in 7,8–13a bezeichnet als λύπη/λυπέω, bezieht sich auf das Verhalten des Paulus und auf den von ihm verfassten ‚Tränenbrief‘. Also werden auch die für die Gemeinde leidverursachenden Widerfahrnisse auf Handlungen zurückgeführt.

11.2.4

Leidverantwortliche

Die als ‚von innen Ängste‘ beschriebene Leiderfahrung auf der sozial-psychischen Ebene ist von der korinthischen Gemeinde verantwortet, mit der Paulus oder die Paulus-Gruppe im Konfliktlösungsprozess steht. Dagegen deutet die Formulierung ‚von außen Kämpfe‘ auf Auseinandersetzungen vor Ort, also in Makedonien, hin. Die Leiderfahrungen der Paulus-Gruppe sind daher teils innerhalb der Gemeinde-Apostel-Beziehung und teils außerhalb von dieser verortet.13 Die Leiderfahrung der Gemeinde entsteht aus dem Konflikt mit Paulus und genauer aus dem von ihm abgefassten ‚Tränenbrief‘. Auch hier ist der Konflikt also nicht von außen herangetragen, sondern innerhalb der Beziehung zwischen Apostel und Gemeinde verortet.

11.3 Strategien zur Bewältigung von Leiderfahrungen 11.3.1

Paulus-Gruppe: Beendung von Leiden durch Gottes Trost (7,5–7.13)

Um die Strategie zur Leidbewältigung in 2Kor 7,5–7 zu skizzieren ist es weiterführend, sich zunächst den geschilderten Ablauf zu vergegenwärtigen. Nachdem Paulus den ‚Tränenbrief‘ (vermutlich durch Titus) losgeschickt hat, beginnt für ihn und die übrigen Mitglieder der Paulus-Gruppe einerseits ein banges Warten auf die Rückkehr des Mitarbeiters (φόβοι, 7,5). Andererseits kommen nach der Reise über Troas nach Makedonien (2,12f) weitere Auseinandersetzungen dazu, die nicht im Zusammenhang mit der Gemeinde 13

So explizit auch WOLFF, Brief, 157.

§ 11 Einzelexegese von 2Kor 7,5–16

217

stehen (μάχαι, 7,5). Dann erhält die Paulus-Gruppe (endlich) Trost in dieser Bedrängnis: Denn zum einen kehrt Titus überhaupt zurück (7,6) und zum anderen bringt er gute Nachrichten mit. Er hat in/von der Gemeinde Trost erfahren durch deren Einsatz für Paulus (7,7: ὑπὲρ ἐμοῦ!) und Freude über die eigene Erquickung (7,13b). Diese bestand in seiner positiven Aufnahme durch die Gemeinde, die deren Gehorsam – gegenüber Gott und seinem Gesandten – zeigte (7,15).14 Mit der adversativen Einleitung ἀλλά in 7,6 stellt Paulus der zuvor geschilderten Bedrängnis den Trost gegenüber. Dadurch wird deutlich, dass zumindest die Ängste (7,6) als gemeindebezogener Teil der Bedrängnis beendet sind. Da das leidverursachende Widerfahrnis in der Befürchtung eines ungünstigen Verhaltens der Gemeinde und im schlimmsten Fall einer Trennung von der Paulus-Gruppe bestand, wird auch inhaltlich im Folgenden deutlich, dass und warum dieses Leiden tatsächlich beendet ist. Denn die Gemeinde legt der berichteten Erzählung des Titus zufolge Verlangen, Wehklagen und Eifer für Paulus (alleine) an den Tag (7,7; vgl. 7,11). Für ein Ende des leidverursachenden Widerfahrnisses sprechen auch die Anspielungen des Paulus besonders durch die Begriffe ταπεινός und παράκλησις/παρακαλέω in 7,6. Am deutlichsten ist ein Bezug zu Jes 49,13: „Gott hat sich seines Volkes erbarmt (ἐλεέω) und die Niedrigen (ταπεινοί) seines Volkes getröstet (παρακαλέω).“15 Diese Aussage wird dort als Grund für Jubel dargestellt, da Gefangene und im Dunkeln Wandelnde von Gott ans Licht geführt werden. Das Ende des leidverursachenden Widerfahrnisses drückt sich positiv gewendet in Gehorsam und Eifer der Gemeinde für die Paulus-Gruppe aus und wird von Paulus theologisch „als göttliche Rettungstat“16 in Form von Gottestrost gedeutet. Die Wirkung des Trostes bezieht sich dabei vorwiegend auf die Paulus-Gruppe (7,6.13), dann jedoch auch auf Titus (7,7). Ursprung der παράκλησις ist dabei für Paulus immer Gott, was er in 7,6 ähnlich wie im

14

15

16

Von Titus, seinen Erlebnissen in der Gemeinde und der Interaktion mit Paulus bzw. PaulusGruppe ist in 2Kor 7,5–7 und dann wieder ab 7,13b–16 die Rede. Das Mittelstück 7,8–13a stellt einen Exkurs dar, in dem Paulus die Wirkung des ‚Tränenbriefs‘ auf die Gemeinde theologisch deutet. Vgl. für eine solche Aufteilung z. B. auch WINDISCH, Korintherbrief, 229ff und GRÄßER, Brief I, 273ff. Den Bezug zu Jes 49,13 nennen die meisten Kommentare. Es lassen sich weitere (hypothetische) Verbindungen des paulinischen Selbstverständnisses zu diesem Jesaja-Kapitel zeigen: In 49,4 steht die Befürchtung, dass sich der Gottesbote vergeblich müht (κενῶς κοπιάζω, vgl. Gal 2,2; 2Kor 6,1), während er in Jes 49,5f als vom Mutterleib an berufen (vgl. Gal 1,15f) und als Licht der Heiden (vgl. Gal 1,15f; 2,7; 2Kor 4,6) dargestellt wird. Neben diesen Bezügen wird v. a. anhand des Begriffs ταπεινός auf weitere Anknüpfungen verwiesen. Z. B. nennt WINDISCH, Korintherbrief, 227 noch Ψ118,50 und GRÄßER, Brief I, 273 zudem Ψ 112,6 und Hi 5,11. Vgl. KLEINKNECHT, Gerechtfertigte, 250. Für KAPLAN, Grief, 439 besteht eine enge Verbindung des ganzen 2. Korintherbriefs zu Deutero-Jesaja und Klageliedern, die über bloße Zitate oder motivische Bezüge hinausgehe. GRÄßER, Brief I, 237.

218

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

Proömium (1,3f) ausdrückt. Während sich der Gottestrost in 1,4 explizit auf die Paulus-Gruppe richtet (ὁ παρακαλῶν ἡμᾶς), zielt dieser in der vorliegenden Stelle auf die Niedrigen, mit denen sich die Paulus-Gruppe identifiziert. Paulus führt also rückblickend das Ende des leidverursachenden Widerfahrnisses nicht auf menschliche Handlungen oder kontingente Ereignisse zurück, sondern auf Gott. Das instrumental verstandene ἐν als Angabe des Trostinhalts bezieht sich auf die Ankunft des Titus und auf dessen Tröstung in der Gemeinde. Der Gottestrost wirkt sich also vermittelt über Gemeinde und den Boten Titus auf Paulus hin aus (7,7).17 Das ist gegenüber 1,4.6 insofern bemerkenswert, als dort die Paulus-Gruppe selbst als Mittler und die Gemeinde als Adressatin des Trostes benannt ist. In 7,5–7 ist die PaulusGruppe jedoch ganz ähnlich wie in der Situation von 1Thess 3,1–10 als Adressatin des Trostes vorgestellt: Dort kehrt Timotheus mit Nachrichten aus der schwierigen Lage der Gemeinde zu Paulus zurück und wird für diesen zum Trostmittler.18 Die „parakletische Kette“19 ist also dort und in 2Kor 7,6– 7 umgekehrt dargestellt wie im Proömium in 1,3f.6.20 Zusammengefasst besteht der leidbewältigende Charakter dieser Strategie wie im Proömium darin, dass sie rückblickend das Ende leidverursachender Widerfahrnisse auf Gottes Trost zurückführt. Während jedoch in 1,8–11 die Art und Weise des Trostwirkens nicht thematisiert ist, werden in 7,5–7 eindeutig menschliche Handlungen als Trostvermittlung angesehen: Die Umkehr der Gemeinde zur Paulus-Gruppe bzw. zu Paulus wird als gottverursacht interpretiert. Das bezieht sich hier anders als im Proömium auf die sozial-psychische Ebene. Die äußere Facette der Bedrängnis in 7,5 kann nicht einfach unter das beendende Wirken des Gottestrostes subsumiert werden. Sie gerät jedoch ähnlich wie die Bedrängnis in 2,4 bei den folgenden Ausführungen aus dem Fokus der Betrachtung.21 Da Paulus hier rückblickend das 17

18 19 20

21

In 2Kor 7,13 wird für Paulus der von Titus übermittelte Trost überboten durch dessen Freude, die aus dem Ausruhen/Erquicken seines Geistes (ἀναπέπαυται τὸ πνεῦμα αὐτοῦ) bei der korinthischen Gemeinde resultiert. WINDISCH, Korintherbrief, 239 und WOLFF, Korintherbrief, 160 schließen aus dieser Formulierung, dass Titus ähnlich unruhig wie Paulus nach Korinth gereist sei. Den Begriff ἀναπαύω verwendet Paulus auch in 1Kor 16,18; Phlm 7.20 als Erquickung, die durch Menschen bewirkt wird. Nach HENSEL/KREUZER, Art. ἀνάπαυσις, 1502f verweist er in der LXX in verschiedener Weise auf das Handeln Gottes: Z. B. kann Gottes Geist auf ausgewählten Menschen ruhen (Num 11,25; Jes 11,2) und Gott den Menschen Ruhe i.S.v. politischem Frieden geben (1Chr 22,9.18). Wie der Trost ist also auch die Ruhe des Titus wahrscheinlich als gottgegeben und durch die korinthische Gemeinde vermittelt gedacht. Vgl. TANNEHILL, Dying, 92f und VEGGE, Corinthians, 106–113. THOMAS, Art. παρακαλέω, 59. Vgl. BRENDLE, Prozeß, 227 und GRÄßER, Brief I, 273. Das ist ein starkes Indiz gegen Positionen, die Paulus als notwendigen Vermittler zwischen Gott und Gemeinde sowie als heilsnotwendig für die Gemeinde ansehen. Vgl. z. B. GÜTTGEMANNS, Apostel; WOLTER, Apostel und LIM, Sufferings. Die Angewiesenheit der Apostel auf die Gemeinden thematisiert Paulus knapp in 1Thess 2,19f. Vgl. auch die in 2Kor 2,4 von Paulus gegebene Beschreibung seiner Situation „in viel Bedrängnis und Herzensenge.“ Diese wird ebenfalls nicht wieder aufgegriffen.

§ 11 Einzelexegese von 2Kor 7,5–16

219

Ende eines leidverursachenden Widerfahrnisses auf Gottes Wirken zurückführt, ist anzunehmen, dass er dieses Wirken auch in gegenwärtigem und zukünftigem Leiden für erfahrbar hält.

11.3.2

Gemeinde: Leiden hat positive Wirkung der μετάνοια (7,8–13a)

In 2Kor 7,8 verwendet Paulus erstmals im vorliegenden Abschnitt die Begriffe λύπη/λυπέω, die nach den Beobachtungen aus § 4.5.2. am angemessensten als Traurigkeit und traurig/unglücklich machen zu verstehen sind und sich auf die sozial-psychische Ebene beziehen. Damit thematisiert er bis 7,13a den ‚Tränenbrief‘ und dessen Wirkung auf die Gemeinde. Er mindert dabei rhetorisch seine Beteiligung an der Leiderfahrung der Gemeinde kontinuierlich ab. Zuerst ist er selbst noch Subjekt von λυπέω, dann wechselt das Subjekt noch im gleichen Vers zum Brief als Leidursache. Ab 7,9 wird der Verursacher der λύπη völlig ausgeblendet und durch das Verb im Passiv der Fokus völlig auf die Betroffenen verschoben. Damit wird der Blick der Gemeinde zunehmend vom Ausgangspunkt der λύπη weg auf deren noch näher zu untersuchenden Zielpunkt gelenkt. Weiter beschreibt Paulus die λύπη mehrfach positiv als ‚gottgemäß‘ (κατὰ θεόν in 7,9.10.11). Diesen Ausdruck gebraucht er auch in Röm 8,27, wo vom Geist gesagt wird, dass er gottgemäß für die Heiligen eintrete.22 Entscheidend ist dabei, dass eine Sache oder Handlung Gott (und seinem Willen) entspricht, aber nicht unbedingt von ihm verursacht sein muss.23 Der gottgemäßen Trauer steht diejenige der Welt gegenüber (ἡ τοῦ κόσμου λύπη in 7,10), die den Tod bewirkt, der als Gegenstück zum eschatologischen Heil gedacht und damit negativ konnotiert ist.24 Es ist jedoch nicht gesagt, dass die Leid22

23

24

WINDISCH, Korintherbrief, 230 verweist noch auf Philo, fug. 76: Wenn ein Mensch unwillentlich zu einer Übertretung hingewendet werde, sei es angemessen zu sagen, dass ihm dies gottgemäß widerfahre (κατὰ θεὸν συμβῆναι τὴν τροπήν). Die Bezeichnung als gottgemäß gilt jedoch für eine willentliche Hinwendung zur Übertretung als unangemessen (ὅπερ οὐ θέμις τῷ ἑκουσίως ἁμαρτόντι). BULTMANN, Brief, 59 hält die λύπη für nicht gottgewirkt, sondern neben Röm 8,27 mit Verweis auf Gal 1,4 für „Gottes Willen entsprechend“ (κατὰ τὸ θέλημα τοῦ θεοῦ). Vgl. HARRIS, Epistle, 537. WINDISCH, Korintherbrief, 231 hält die λύπη für „von Gott geleitet“. Für BAUER, 826 verweist κατά mit Akkusativ hier auf eine Instanz, „nach deren Willen, Wohlgefallen od. Art etwas geschieht“ KÜHNER/GERTH, Grammatik II,1, 478 notiert unter der kausalen Bedeutung von κατά mit Akkusativ „die Angabe der Gemässheit, die als ein Entlang gedacht wird, so dass das Subjekt einem Gegenstande folgt od. nachgeht (secundum)“ (Hervorhebungen im Original). Es verwundert nicht, dass Paulus in diesem versöhnlichen Schreiben rückblickend betont, er habe der Gemeinde nicht absichtlich Schmerz bereiten wollen. Ob das bei der Abfassung des ‚Tränenbriefs‘ nicht doch seine Absicht gewesen ist, bleibt zumindest offen. Vgl. GRÄßER, Brief I, 274f. Eine ähnliche Unterscheidung präsentiert Paulus bereits im ethischen Kontext von 1Kor 7,32–35, wo er die Ledigen als sich um die Dinge des Herrn (τὰ τοῦ κυρίου)

220

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

erfahrung damit auf Gott oder ein bewusstes Handeln des Apostels zurückgeführt wird: Denn Paulus räumt in der etwas umständlichen Formulierung von 7,8 ein, dass es ihm zunächst leidgetan habe (μετεμελόμην), die Gemeinde traurig gemacht zu haben. Erst später, wahrscheinlich durch die Rückkehr des Titus mit den guten Neuigkeiten veranlasst, erkennt er eine positive Wirkung seines Handelns, über die er sich nun freut. Darauf kann er zuvor gehofft haben. Aber erst im Nachhinein findet und betont er das Positive in der Trauer der Gemeinde. So schreibt Paulus der Leiderfahrung als Bewältigungsstrategie eine positive Wirkung zu.25 Sie besteht darin, dass die gottgemäße Trauer die μετάνοια (Umkehr, Reue, Sinneswandel) bewirkt.26 Dabei kann ein Rückgriff auf Vorbilder aus der jüdischen und profangriechischen Umwelt vorliegen, in denen die μετάνοια selbst als gottgemäß oder göttlichen Ursprungs bekannt ist.27 Auf der Textebene wird die positive Wirkung in 7,9 durch die Zielrichtung des Traurig Machens „hin zur Umkehr“ (εἰς μετάνοιαν) und die Bezeichnung der Umkehr als gottgemäß verdeutlicht. In 7,10 beschreibt Paulus das mithilfe des Verbs ἐργάζομαι, dessen Subjekt die Trauer ist: Sie bewirkt

25 26

27

kümmernd charakterisiert und die Verheirateten als geteilten Herzens und sich auch um die Dinge der Welt (τὰ τοῦ κόσμου) sorgend. So auch GRÄßER, Brief I, 275 und ähnlich schon BULTMANN, Brief, 60. Der Begriff μετάνοια ist traditionsgeschichtlich umstritten. Für STANDHARTINGER, Frauenbild, 190 Anm. 544 lautet die zentrale Forschungsfrage: Ist seine jüdisch-christliche Bedeutung im profanen Griechisch angelegt (so zuletzt THYEN, Versuch, 110) oder hat sie sich separat herausgebildet (so BEHM, Art. μετανοέω, 976 und GOETZMANN, Art. μετανοέω, 234)? Innerhalb der LXX ist eine Bedeutungsänderung festzustellen: Ursprünglich übersetzte μετανοέω das hebräische ‫נחם‬: „sich etwas leid sein lassen“ (vgl. 1Sam 15,29; Jer 18,8; Jo 2,13f; Am 7,3.6; Jer 8,6; 31,19), was im vorliegenden Text 2Kor 7,8ff als μεταμέλομαι vorkommt. Nach GOETZMANN, Art. μετανοέω, 234 übernimmt μετανοέω in den späten weisheitlichen Schriften und v. a. in TestXII zunehmend die Bedeutung von ἐπιστρέφω als völlige Umkehr und Sinneswandel (z. B. SapSal 11,23; 12,10.19; Sir 17,24; 48,15; TestGad 5,7; 6,3.6; 7,5; TestJos 6,6 u.ö.). Das wurde in den prophetischen Schriften noch mit ‫ שׁוב‬bezeichnet (vgl. Hos 6,1–6; Jes 30,15 u.ö.). Damit wird μετανοέω für THYEN, Versuch, 110 in der Zeit der hellenistischen Synagogen „zum technischen Bekehrungsterminus“. So erkläre sich die Verwendung im NT. Hauptsächlich kommt μετάνοια κτλ. im Kontext der Taufe bei den Synoptikern vor und bezeichnet dort v. a. aus dem Munde Jesu und des Täufers die initiierende Lebenswende und Bekehrung zum Christusglauben (vgl. Mk 1,4par; Mt 3,2.8par). Im Urchristentum ist der Begriff für THYEN, Versuch, 112 deswegen selten, weil er „in seiner Umgebung derart besetzt ist“. Paulus verwendet μετάνοια κτλ. 5mal. In Röm 2,4.5 bezeichnet er damit eine völlige Umkehr (vgl. SapSal 11,23). MERKLEIN, Art. μετάνοια, 1029: „Die abgeschwächte Bedeutung von Reue bzw. Sinnesänderung (innerhalb des christl. Lebens) liegt 2Kor 7,9.10; 12,21 vor.“ WINDISCH, Korintherbrief, 231f verweist einerseits auf TestGad 5,7: „die Gott gemäße wahre Umkehr/Reue“ (ἡ κατὰ θεὸν ἀληθὴς μετάνοια). Andererseits nennt er 4Makk 15,2f, wo ein Gegensatz dargestellt wird zwischen einem „tyrannengemäßen Versprechen“ (κατὰ τὴν τοῦ τυράννου ὑπόσχεσιν) und der Liebe zur „rettenden Gottesfurcht, die Gott gemäß zum ewigen Leben“ (τὴν εὐσέβειαν … τὴν σῴζουσαν εἰς αἰωνίαν ζωὴν κατὰ θεόν). Für den Zusammenhang von angemessener Trauer und Heil verweist er z. B. auf Ceb. Tab. 11 und Plutarch, Tranq. an. 476f; Soll. an. 961d. In Ceb. Tab. 10; 23; 26 ist die Λύπη personifiziert. STANDHARTINGER, Frauenbild, 189f weist darauf hin, dass in JosAs 15,7 die Μετάνοια hypostasiert ist. Vgl. GRÄßER, Brief I, 275, der für den „heilsamen Schmerz der Reue“ noch Philo, LA 3,211 und spec. 1,314 nennt.

§ 11 Einzelexegese von 2Kor 7,5–16

221

Umkehr.28 Dabei wird die Umkehr auch als heilsrelevant beschrieben (εἰς σωτηρίαν in 7,10). Das erinnert an den erzielten Gehorsam der Gemeinde nach 2,9, der auch in 7,15 konstatiert wird.29 Diese Zuordnung einer positiven Wirkung wird in 7,11 noch weiter geführt, indem die Traurigkeit eine Liste unterschiedlicher Aspekte erwirkt (κατεργάζομαι), anhand derer die Umkehr deutlich wird.30 Ohne die Liste im Einzelnen durchzugehen lässt sich sagen, dass sie auf die in juristischer Sprache gefasste Feststellung zuläuft, die Gemeinde habe sich im vorliegenden Konflikt als rein und unschuldig erwiesen.31 Sie wendet sich wieder der Paulus-Gruppe und damit aus deren Sicht dem Heil zu. Entscheidend ist dabei, dass nicht Gott, sondern immer λύπη/λυπέω Subjekt der positiven Wirkung des Leidens ist. Die Trauer muss also nicht von Gott hervorgerufen sein, um die positive Wirkung zum Heil (7,10) zu erzielen.

11.4 Zwischenfazit Mit 2Kor 7,5–16 endet ein großer Abschnitt des 2. Korintherbriefs. Unabhängig von der literarkritischen Beurteilung des Briefes ist es plausibel, dass hier der Konflikt zwischen Paulus und Gemeinde aus 1,23ff wieder aufgenommen wird. Insofern sind hier wie dort Leiderfahrungen der PaulusGruppe als Ängste und der Gemeinde als Traurigkeit thematisiert, die auf gegenseitig verursachte Handlungen zurückzuführen und auf der sozial-psychischen Ebene verortet sind. Für die Paulus-Gruppe besteht darüber hinaus die Bedrängnis noch aus äußeren Auseinandersetzungen (μάχαι), die sich auch auf die somatisch-physische Ebene beziehen und außerhalb des Gemeindekonflikts in Makedonien verortet werden können. Das spielt jedoch im weiteren Textverlauf keine Rolle mehr. Die Differenzierung in zwei Seiten des Bedrängt Werdens (θλίβομαι) zeigt erneut, dass durch das breite Bedeutungsspektrum des θλῖψις-Begriffs im jeweiligen Kontext eine Erläuterung nötig ist. Die konfliktauslösende Einzelperson wird nur noch am Rande erwähnt (7,12) und ebenfalls nicht weiter thematisiert. Im Verlauf des Texts schildert Paulus zwei Strategien zur Leidbewältigung. 28

29 30

31

Die Eigenaktivität der λύπη erinnert an die o.g. Personifizierung oder Hypostasierung der μετάνοια. Vgl. § 7.3.1.2 bei der Exegese von 2Kor 1,23ff. Die sieben Punkte umfassende Aufzählung in 2Kor 7,11 sieht auch WINDISCH, Korintherbrief, 234 als Erläuterung der μετάνοια an. So BULTMANN, Brief, 61 und GRÄßER, Brief I, 276 zeigen, dass ἐκδίκησις, ἀπολογία, ἁγνός und πρᾶγμα rechtliche Termini sind und Paulus demnach den Konflikt als eine rechtliche Angelegenheit thematisiert. Die Begriffe ἐπιπόθησις (Verlangen, Sehnsucht) und ζῆλος (Eifer) werden bereits zuvor in 2Kor 7,7 im Bericht des Titus über die Gemeinde als Grund der paulinischen Freude erwähnt.

222

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

Die erste bezieht er in 7,5–7.13 auf die Paulus-Gruppe. Demnach deutet er rückblickend die Ankunft des Titus mit der Nachricht von der Umkehr der Gemeinde zur Paulus-Gruppe als Vermittlung von Gottestrost in einer „parakletische[n] Kette“.32 Die Formulierungen erinnern stark an das Proömium 1,3–7. Dort fließt der Gottestrost allerdings durch Paulus zur Gemeinde hin, hier jedoch durch die Gemeinde zu Paulus als Ziel des Trostes. Ein ähnliches Schema zur Leidbewältigung verwendet Paulus in 1Thess 3,1–10. Aus der Erfahrung, dass Gott ein leidverursachendes Widerfahrnis auf sozial-psychischer Ebene beendet hat, ergibt sich jeweils die unausgesprochene Hoffnung, dass dies in Zukunft wieder geschehen kann. Das als ‚Auseinandersetzungen von außen‘ bezeichnete Leiden auf der somatisch-physischen Ebene bleibt hier wahrscheinlich bestehen. Die zweite Strategie zur Leidbewältigung richtet sich auf die Gemeinde. Dem als λύπη beschriebenen Leiden schreibt Paulus rückblickend eine positive Wirkung zu, die sich für die Gemeinde als Umkehr und Heil auswirkt (7,9f). Die konkreten Auswirkungen beschreibt er mit teils rechtlich geprägten Begriffen (7,11), die sich auf das nun positiv bewertete Verhalten der Gemeinde im konkreten Konfliktfall beziehen. Dabei kann die Trauer der Gemeinde zwar als gottgemäß beschrieben werden. Aber Gott wird von Paulus nicht als Verursacher dargestellt.

32

THOMAS, Art. παρακαλέω, 59. Vgl. BRENDLE, Prozeß, 227 und GRÄßER, Brief I, 273.

§ 12 Einzelexegese von 2Kor 8,1–15 § 12 Einzelexegese von 2Kor 8,1–15

12.1 Kontext Im Folgenden ist der neue Kontext zu bedenken, der in 2Kor 8 mit der Kollekte gegeben ist. In einem zweiten Schritt ist auf die christologische Spenden-Motivation in 8,9 einzugehen, auch wenn diese nicht explizit mit dem Leiden verbunden ist. Jedoch kann sie den Hintergrund für Leidbewältigungsstrategien an anderen Stellen erhellen (vgl. 2Kor 1,5.7; 4,10f; 7,3).

12.1.1

Abgrenzung und Gliederung

Ab 2Kor 8,1 widmet sich Paulus der Kollekte. Obwohl der Neueinsatz unstrittig ist, wird die Stellung des Kapitels insgesamt unterschiedlich bewertet. In der Hypothese G. BORNKAMMs gilt 2Kor 8 als eigenständige Kollektenaufforderung mit Empfehlungsschreiben für Titus.1 Dieser soll als „Kollektenkommisar“2 der Paulus-Gruppe (8,6) mit mindestens einem weiteren Mitarbeiter die Kollekte in Korinth sammeln (8,16ff). Das zweite Kollektenkapitel 2Kor 9 ist G. BORNKAMM zufolge ebenfalls selbstständig. Anhand von 9,2 argumentiert er, dass das Schreiben „wahrscheinlich für die übrigen Gemeinden in Achaia bestimmt“3 war. Andere Positionen nennt R. BIERINGER in seinem Forschungsüberblick.4 Entscheidend ist für die hier verfolgte Fragestellung, dass die Auslegung wegen der deutlichen Zäsur vor 2Kor 8,1 nicht ohne weiteres direkte Bezüge zu den vorangehenden Kapiteln voraussetzen 1

2 3

4

Vgl. BORNKAMM, Vorgeschichte, 186f, der 2Kor 8 entweder als Anhang zum ‚Versöhnungsbrief‘ oder als späteres eigenständiges Kollektenschreiben und Empfehlungsschreiben für Titus interpretiert. Sein Schüler GEORGI, Gegner, 28 und DERS., Armen, 56 spricht sich für die zweite Möglichkeit aus. A. a. O., 42. BORNKAMM, Vorgeschichte, 187. In diesem zweiten Kollektenkapitel ist in 2Kor 9,7 ein Beleg für λύπη, der allerdings nicht im Zusammenhang paulinischer Leidbewältigung steht. Vgl. BIERINGER, Teilungshypothesen, 100f: Erstens könnte 2Kor 8 selbstständig gewesen sein und 2Kor 9 ursprünglich als Teil des ‚Versöhnungsbriefs‘ an 7,16 angeschlossen haben. Zweitens könnten 2Kor 8 und 9 jeweils Teil selbstständiger Briefe gewesen sein. Drittens könnten sowohl 2Kor 8 und 9 ursprünglich nicht selbstständig gewesen sein, sondern Teil eines Briefes 2Kor 1–9 oder 1–13. Im Sinne dieser dritten Möglichkeit ist für FURNISH, Corinthians, 29ff der Beginn von 2Kor 8,1 mit den Worten γνωρίζω δὲ ὑμῖν, ἀδελφοί (Wir berichten euch aber, liebe Brüder …) ein Indiz für die Zusammengehörigkeit mit dem Voranstehenden. Denn in 1Kor 15,1 leite die wortgleiche Formulierung einen neuen Abschnitt, aber keinen eigenständigen Brief ein (vgl. 1Kor 12,3; Gal 1,11).

224

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

kann. Aufgrund des nur in 8,2.13 vorkommenden θλῖψις-Begriffs werde ich meine Untersuchung auf den Abschnitt 8,1–15 beschränken. Ab 8,16 beginnt ein zweiter Teil des Kapitels, der auf die „verwaltungstechnischen“5 Aspekte der Kollekte zielt. Die paulinische Kollekte ist Gegenstand zahlreicher Forschungsbeiträge, die hier nicht im Detail nachzuzeichnen sind.6 Sie ist unter Verwendung verschiedener Ausdrücke in Gal 2,10, 1Kor 16,1–4; Röm 15,25–31 und am weitaus umfangreichsten in 2Kor 8 und 9 thematisiert.7 Im vorliegenden Abschnitt wird die Kollekte mit den Begriffen διακονία und κοινωνία (8,4) und am häufigsten mit χάρις (8,4.6.7) bezeichnet. Paulus möchte damit die korinthische Gemeinde für die Kollekte motivieren.8 Unter Berücksichtigung von 8,10f ist es wahrscheinlich, dass die Kollekte schon im Vorjahr begonnen hatte, durch den Konflikt unterbrochen wurde und nun weitergeführt werden soll.9

5

6

7

8

9

LINDEMANN, Hilfe, 206. Ein Einschnitt nach 2Kor 8,15 ist in der Forschung Konsens. Vgl. z. B. den Untertitel von BETZ, Corinthians zu 2Kor 8 und 9: „A Commentary on Two Administrative Letters of the Apostle Paul“ sowie GRÄßER, Brief II, 21, der in 8,16ff einen „Geschäftsbericht“ sieht. Vgl. für einen knappen und informativen Überblick zur Frage nach der Intention und dem Hintergrund der paulinischen Kollekte z. B. THRALL, Epistle II, 511–515. Sie nennt neben der weitgehend unumstrittenen Hauptintention der Kollekte als karitative Sammlung für tatsächlich Arme vier weitere Positionen: a) Forderung der Urgemeinde in Analogie zur jüdischen Tempelsteuer (HOLL, Kirchenbegriff); b) eschatologische Relevanz, die auf die Überbringung nach Jerusalem als Erfüllung der Völkerwallfahrt zielt (MUNCK, Paulus; GEORGI, Armen); c) Aufnahme der jüdischen Almosentradition von Gottesfürchtigen für Israel (BERGER, Almosen; KIM, Kollekte) oder d) Bewirkung der Einheit des Heiden- und Juden-Christentums (NICKLE, Collection). THRALL spricht sich wie LINDEMANN, Hilfe, 199 neben der tatsächlichen Armensammlung für d) aus. ARZT-GRABNER, Korinther, 394–410 untersucht die paulinische Kollekte im Kontext papyrologischer Funde vergleichend zu Geldsammlungen antiker Vereine. Weitere Forschungsfragen neben dem Ziel der Kollekte betreffen u. a. die Frage nach dem Erfolg/Misserfolg und nach den Empfangenden. Z. B. HARRIS, Epistle, 554 bietet eine Übersicht der von Paulus gebrauchten Wendungen und Begriffe für die Kollekte. Dazu zählen λογεία, εὐλογία, χάρις, κοινωνία und λειτουργία. Vgl. auch GEORGI, Armen, 58f Anm. 215a. Die Frage nach der Verbindung der verschiedenen Stellen untereinander zur Kollekte behandelt auch THRALL, Epistle II, 504–506. Nach WINDISCH, Korintherbrief, 243 hat das Kapitel daher den Charakter eines Geschäftsbriefs. Dazu passt die Beobachtung z. B. von ARZT-GRABNER, Korinther, 412–414, dass in 2Kor 8 zahlreiche Termini aus dem Rechts- und Geschäftsbereich vorkommen. Er nennt z. B. κατὰ δύναμιν, μαρτυρέω und κοινωνία in 8,3f. GEORGI, Armen, 59 weist darauf hin, dass 2Kor 8 jedoch nicht in dem knappen und präzisen Stil von Geschäftsbriefen formuliert ist, sondern vielmehr verschachtelt und sprunghaft. Vgl. ARZT-GRABNER, Korinther, 393.

§ 12 Einzelexegese von 2Kor 8,1–15

12.1.2

225

Christusgeschehen im Kontext von Kollekte und Leidbewältigung

Zur Steigerung der korinthischen Spendenbereitschaft wählt Paulus verschiedene Strategien, von denen neben dem Vorbildcharakter der makedonischen Gemeinden (8,2–6.8) für die Frage nach dem Leiden besonders die christologisch begründete Motivation (8,9) relevant ist.10 Das dabei von Paulus genannte Christusgeschehen ist der Gemeinde bereits bekannt (γινώσκετε γάρ). Die vorangehenden Bezeichnungen der Kollekte als Gnade (χάρις) in 8,4.6.7 sind gerahmt von den parallel formulierten Aussagen zur „Gnade Gottes“ in 8,1 und zur „Gnade unseres Herrn Jesus Christus“ in 8,9.11 So sind Gottesgnade, Christusgnade und ‚Kollektengnade‘ miteinander verbunden. Das Christusgeschehen wird hier in Anlehnung an 8,2 metaphorisch mit den wirtschaftlichen Begriffen von Armut und Reichtum beschrieben. Thema ist nicht die etwaige Armut des historischen Jesus, sondern eine theologische Deutung seiner Menschwerdung.12 Christus, vor seiner Inkarnation als reich vorgestellt (πλούσιος ὤν),13 wurde arm (ἐπτώχευσεν) wegen der Gemeinde (δι’ὑμᾶς), damit diese durch seine Armut reich würde (πλουτήσητε). Die Armut ist dabei zu verstehen als das vorausgesetzte Leiden des Menschen generell im Vergleich zum Reichtum des Seins bei Gott. Die (überraschende) positive Wirkung von Armut zugunsten der Gemeinde ist auf der Textebene durch die finale Konstruktion mit ἵνα verdeutlicht. Das Prinzip von „Zugewinn durch Hingabe“14 verdeutlicht die Gnade Gottes. Dabei ist mit dem Reichtum nicht nur die materielle Ebene angesprochen, sondern hauptsächlich ein umfassenderer Zustand allgemeinen Wohlergehens.15 An dieser Stelle ist zwar nicht von konkreten Leiderfahrungen und deren Bewältigung die Rede. Dennoch kann das Christusgeschehen in der Darstellung von 8,9 den Hintergrund für andere Leidbewältigungsstrategien bilden, die eine positive Wirkung des Leidens beschreiben. In 6,10 wird mit identischen Begriffen die Armut zugunsten des Reichtums anderer von der PaulusGruppe ausgesagt.16 In 1,6 und ähnlich in 4,10–12 wird ebenfalls durch finale Konstruktionen der positive Effekt des Leidens der Paulus-Gruppe für die Gemeinden ausgedrückt. Unterschiede des Christus-Leidens in 8,9 zum Lei10

11 12 13

14 15

16

Vgl. für „[d]rei Motivationen zur Kollekte“ allein in 2Kor 8,7–9 KIM, Kollekte, 22–29: die Gnade Gottes, das Vorbild der Korinther und die „Selbsthingabe unseres Herrn Jesus Christus“ (28). Vgl. für den Zusammenhang von 2Kor 8,1.9 z. B. KIM, Kollekte, 28. Vgl. KIM, Kollekte, 29 mit Verweis auf WINDISCH, Korintherbrief, 252 und GEORGI, Armen, 61. Ähnlichkeiten zur Präexistenzvorstellung im Christus-Hymnus Phil 2,6–11 werden oft gesehen. Vgl. z. B. GRÄßER, Brief II, 30, der in der vorliegenden Stelle eine Auslegung von Phil 2,6f sieht. A. a. O., 25. So F. WINTER zum Begriff πλουτέω anhand der wenigen Belege in den Alltagspapyri im Zusammenhang von 1Kor 4,8 in ARZT-GRABNER u. a., Korinther, 173. Vgl. die Exegese von 2Kor 6,10b in § 10.3.6.

226

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

den anderer Menschen liegen jedoch darin, dass hier ein freiwilliges Armwerden vorzuliegen scheint. Das ist für Paulus bzw. die Paulus-Gruppe in den genannten Stellen nicht der Fall. Die christologische Kollekten-Motivation ist von Paulus nicht explizit als Aufforderung zur Nachahmung gekennzeichnet.17 Die Intention des Paulus ist nicht, dass die Gemeinde wie Christus spenden soll, sondern dass sie sich wegen dessen Großzügigkeit ebenso an der Kollekte beteiligen soll. Die aus dieser Darstellung resultierende Möglichkeit eines Missverständnisses, nach dem die Gemeinde bis zur eigenen Armut spenden müsste, thematisiert Paulus in 8,12–15.

12.2 Analyse des geschilderten Leidens Im vorliegenden Textabschnitt verwendet Paulus nur wenige Begriffe zur Beschreibung von Leiden. Neben den beiden Belegen für θλῖψις in 2Kor 8,2.13 weist nur der Armutsbegriff (πτωχεία/πτωχεύω) in 8,2.9 auf mögliches Leiden hin.

12.2.1

Betroffene

In 2Kor 8,2 trifft Paulus durch den θλῖψις-Begriff eine Aussage über die Gemeinden in Makedonien, deren Bedrängnis offenbar schon zurückliegt. Zum ersten Mal im 2. Korintherbrief thematisiert er damit das Leiden von weiteren Gemeinden außer der adressierten. In 8,13 ist – zum ersten Mal anhand des θλῖψις-Begriffs – von einer Bedrängnis der korinthischen Gemeinde die Rede. Jedoch dient hier die Bedrängnis-Aussage dazu, das rechte Maß der Kollekte zu verdeutlichen, sodass den Gebenden keine Bedrängnis entstehen soll. Es ist also von einer potentiellen und nicht von einer tatsächlich aktuellen Leiderfahrung die Rede.18

17

18

Vgl. GEORGI, Armen, 61. GRÄßER, Brief II, 31 schließt daraus, dass Paulus aufgrund der Einzigartigkeit von Christi Menschwerdung, kulminierend im Kreuzestod, keine Nachahmung durch die Gemeinde anstrebe, sondern Nachfolge. Der Nachfolge-Begriff (ἀκολουθέω) kommt bei Paulus allerdings nicht vor. Vgl. im begriffsgeschichtlichen Teil § 4.2.2.3 für die Bezeichnung potentiellen Leidens durch den θλῖψις-Begriff v. a. in der weisheitlichen Tradition. In 2Kor 1,6f ist potentielles Leiden der Gemeinde anhand des Begriffs πάθημα angesprochen. Vgl. § 6.2.1.

§ 12 Einzelexegese von 2Kor 8,1–15

12.2.2

227

Betroffenheitsebene

Die in 2Kor 8,2 erwähnte Bedrängnis der makedonischen Gemeinden ist lediglich eine Randnotiz, deren Erwähnung zudem nicht der Bewältigung von Leiden dient, sondern der Motivation zu großzügigem Spenden in Korinth. Das hat zu verschiedenen Interpretationen geführt. H. WINDISCH und im Anschluss an ihn D. GEORGI identifizieren die Bedrängnis der Gemeinden anhand der Ortsangabe mit der Bedrängnis des Paulus oder der PaulusGruppe in Makedonien in 7,5.19 Durch die Auslegung der dort beschriebenen von außen kommenden Auseinandersetzungen (μάχαι) als ‚Zank, Hader‘ kommen sie zu dem Schluss, dass sich sowohl Paulus (7,5) wie auch die Gemeinden in Makedonien (8,2) einer von Fremdmissionaren verbreiteten „Häresie“ 20 gegenüber sahen. In dieser hätten sich die Gemeinden durch ihre Rückwendung zu Paulus bewährt. Demnach wäre die Leiderfahrung – wenn man dann überhaupt von einer solchen sprechen könnte – auf der sozialpsychischen Ebene verortet. Dagegen wendet sich eine zweite Interpretation, die gegenwärtig in der Mehrheit zu sein scheint. Sie verweist darauf, dass Bedrängnisse der makedonischen Gemeinden in Form von Verfolgung und Anfeindung andernorts häufig belegt und daher auch hier nicht unwahrscheinlich sind (vgl. z. B. 1Thess 2,1ff und Phil 1,27ff).21 Wenn man von einem Zusammenhang zu 7,5 ausgeht (der allerdings keineswegs zwingend ist), kann diese Interpretation auch anhand des Begriffs μάχαι gestützt werden.22 Leiderfahrungen der makedonischen Gemeinde auf der somatisch-physischen Ebene sind hier also ebenso möglich. Zu dieser zweiten Position gibt es eine plausible Ergänzung, die auch von H.-D. BETZ und R. PH. MARTIN angedeutet wird. Beide sehen einen Zusammenhang zwischen der Bedrängnis (θλῖψις) und der im gleichen Vers beschriebenen Armut (πτωχεία) der makedonischen Gemeinden.23 Dieser Zusammenhang wird durch die begriffsgeschichtlichen Beobachtungen zu θλῖψις κτλ. gestützt, die zwar selten, aber in ganz unterschiedlichen Hinter19

20 21

22

23

Vgl. WINDISCH, Korintherbrief, 244 und GEORGI, Armen, 52. So auch FURNISH, Corinthians, 413, der sich aber der These der beiden Genannten ansonsten nicht anschließt. Vgl. § 11.2.2. GEORGI, Armen, 52. Z. B. HARRIS, Epistle, 561 und GRÄßER, Brief II, 24f wenden sich ausdrücklich gegen die HäresieHypothese. Vgl. § 11.2.2 zur Exegese von 2Kor 7,5ff mit dem Begriff μάχη und möglichen Bedrängnissen makedonischer Gemeinden. Es ist umstritten, inwieweit die Angaben der Apostelgeschichte darüber hinaus historisch verwertbare Angaben liefern. Z. B. THRALL, Epistle II, 522 verweist auf Apg 16,11–17,15. Vgl. § 11.2.2 bei der Analyse der Leiderfahrung in 2Kor 7,5–16. Gegen einen Zusammenhang von 2Kor 7,5 und 8,2 spricht sich z. B. HARRIS, Epistle, 561 aus. MARTIN, Corinthians, 253 und die Aussage von BETZ, Corinthians, 43: „Whatever the affliction of the Macedonians may have been, their ‚abysmal poverty‘ (ἡ κατὰ βάθους πτωχεία) was a part of it.“

228

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

gründen einen Zusammenhang zu materieller Armut gezeigt haben.24 Als Beispiel aus dem NT sei Apk 2,9 genannt, wo Bedrängnis und Armut gemeinsam genannt und dem Reichtum gegenübergestellt werden: „Ich kenne deine Bedrängnis und Armut, aber reich bist du“ (οἶδά σου τὴν θλῖψιν καὶ τὴν πτωχείαν, ἀλλὰ πλούσιος εἶ). Dazu kommt der Kontext der Kollektenaufforderung: Als Vorbild für großzügige Spendenbereitschaft sind die Makedonierinnen und Makedonier primär deswegen geeignet, weil sie trotz ihrer Armut viel gespendet haben und weniger, weil sie eine Verfolgung überstanden haben.25 Nimmt man diese Hinweise zusammen, so ist es wahrscheinlich, dass Paulus an eine Bedrängnis der makedonischen Gemeinden denkt, die zu deren Armut geführt hat.26 Für sie ist also an eine Betroffenheit auf zwei Ebenen zu denken: Einerseits hat Armut eine sozial-psychische Komponente, die mit „Ausgrenzung, Entmündigung, Entrechtung“27 zusammenhängt. Andererseits sind auch somatisch-physische Auswirkungen denkbar, die durch armutsbedingte Entbehrungen und Mangel hervorgerufen sind. Für die korinthische Gemeinde gilt in 2Kor 8,13 das Gleiche: Der θλῖψιςBegriff bezeichnet hier einen zu vermeidenden Zustand, der durch die übermäßige Beteiligung an der Kollekte als „Schmälerung des Existenzminimums“28 eintreten könnte. Insofern ist zwar die gleiche Art von Leiden gemeint wie in Makedonien, doch bleibt sie für die korinthische Gemeinde eine bloß potentielle Erfahrung. 24

25

26

27

28

Vgl. § 4.2.2.1 für die Verwendung von θλῖψις als ökonomische Bedrängnis in erzählenden Texten der LXX.. Außerbiblisch sind besonders Dionysius v. Halicarnassus 8,73,5 und Plutarch, Reg. imp. apophth. 177d zu nennen (vgl. § 4.1.2), in der jüdischen Tradition besonders die Rechtstexte Ex 22,21; 23,9; Dtn 23,17 (vgl. § 4.2.2.1) und im übrigen NT Jak 1,27; 1Tim 5,10; Apk 2,9 (vgl. § 4.4.4 und 4.4.5). Auch in den Pseudepigraphen werden Bedrängnis und Armut verbunden. Bei TestIss 3,8 stehen Arme und Bedrängte parataktisch nebeneinander. Dazu wird die Spendenbereitschaft ähnlich wie in 2Kor 8,2 mit dem Begriff der Aufrichtigkeit/Großzügigkeit bezeichnet: „Denn jedem Armen und jedem Bedrängten brachte ich die guten Dinge der Erde dar mit aufrichtigem Herzen“ (παντὶ γὰρ πένητι καὶ παντὶ θλιβομένῳ παρεῖχον τῆς γῆς τὰ ἀγαθὰ ἐν ἁπλότητι καρδίας). Dabei ist der Begriff πένης als Synonym von πτώχος zu verstehen (vgl. Ψ 106,41). Zudem wäre für die korinthische Gemeinde der Hinweis auf eine verfolgte Gemeinde nicht unbedingt ein Ansporn, da sie Verfolgung und Anfeindung nicht aus eigenem Erleben kennen. Vgl. zur Situation der Gemeinde im antiken Korinth § 5.1.2. Dass θλῖψις nur in 2Kor 8,2.13 hier im Singular und ohne Artikel verwendet wird, kann ein weiteres Indiz dafür sein, dass seine Bedeutung sich von der in den bisherigen Einzelexegesen unterscheidet. Der Verweis auf Livius 45,29f, demzufolge die römische Unterdrückungspolitik nach der Einnahme von Makedonien eine generelle Armut der Provinz verursacht habe (PLUMMER, Epistle, 233), und die Vermutung genereller Armut der Bauern in Achaia anhand von Anth. pal. 6,40 (BETZ, Corinthians, 50 Anm. 87) sind überzeugend kritisiert worden. Vgl. THRALL, Epistle II, 522f und FURNISH, Corinthians, 413. Die wichtigsten Gegenargumente sind erstens die zeitliche Differenz zwischen der Beschreibung des Livius (um 168 v. Chr.) und dem paulinischen Wirken sowie zweitens die Feststellung, dass die ersten Christusglaubenden vorwiegend in Städten lebten. KLINGER, Art. Armut I, 779. Vgl. GRÄßER, Brief II, 24f. Im Falle der πτωχοί kann man nach STEGEMANN, Art. Armut III, 780 von der „elende[n] Lebenslage absolut armer Menschen“ ausgehen. GRÄßER, Brief II, 34. Für HARRIS, Epistle, 589 übersetzt θλῖψις hier als „economic hardship“.

§ 12 Einzelexegese von 2Kor 8,1–15

12.2.3

229

Leidursachen

Bei der Armut an sich stößt – wie bereits in 2Kor 6,10 für die Paulus-Gruppe – die Kategorisierung der Leiderfahrungen nach Handlungen und Ereignissen an ihre Grenzen. Nach dem oben Gesagten könnte die Bedrängnis als Ursache für die Armut angesehen werden. In Apg 7,11 wird durch den θλῖψις-Begriff zwar einmal eine Hungersnot (λίμος) beschrieben, wie sie nach Apg 11,28–30 zum Anlass einer ersten Kollekte für Jerusalem wird. Doch deutet im vorliegenden Kontext nichts auf ein solches oder ein ähnliches Ereignis hin, was zu Bedrängnis und Armut führen könnte. Insofern könnte die Armut der makedonischen Gemeinden eher auf Handlungen von Menschen ihrer Umgebung zurückgeführt werden. Doch nachweisbar ist das nicht. Denn es ist nicht auszuschließen, dass die Armut der makedonischen Gemeinden bereits vor ihrer Konversion bestand und sich somit einer Zuordnung entzieht. Im Falle der korinthischen Gemeinden wäre eine potentielle ökonomische Bedrängnis auf ihre eigenen Handlungen zurückzuführen.

12.2.4

Leidverantwortliche

Die zur Armut führende Bedrängnis der makedonischen Gemeinden kann nach dem bisher Gesagten auf Handlungen von außerhalb des Beziehungsraums von Gemeinden und Aposteln zurückgeführt werden. Anders wäre dies bei der potentiellen Bedrängnis der korinthischen Gemeinde. Die Christusglaubenden dort wären selbst verantwortlich für die Bedrängnis.

12.3 Strategien zum Umgang mit Leiderfahrungen von Gemeinden 12.3.1

Strategie zur Leidbewältigung: Positive Wirkung des Leidens als Bewährung (8,1f)

Zur Klärung der vorliegenden Leidbewältigungsstrategie ist zunächst der Bezug des Verbs περισσεύω (überfließen, überreich vorhanden sein) und damit die Syntax von 2Kor 8,2 zu beachten. Das Subjekt umfasst aufgrund der syntaktischen Stellung die beiden mit parataktischem καί verbundenen Nominalphrasen „der Überschwang ihrer Freude und ihre abgrundtiefe Armut“.29 Daher gibt der Beginn des Verses den Raum an, in dem das restliche 29

Darüber besteht gegenwärtig fast ein Forschungskonsens. So z. B. GRÄßER, Brief II, 22 und HAREpistle, 561. Gegen die Möglichkeit der Ergänzung eines ἐστίν oder ἦν spricht sich schon

RIS,

230

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

Geschehen des Verses verortet ist. Das grammatische Verhältnis zwischen Bewährung und Bedrängnis ist durch den Genitiv θλίψεως zu verstehen als genitivus subjectivus: „in großer Bewährung, die durch Bedrängnis entsteht“.30 Damit wird der Leiderfahrung bereits grammatisch eine positive Wirkung zugeordnet. Das Motiv der Freude im Leiden spielt in 8,1f im Gegensatz zu 6,10 und 7,4, allenfalls eine untergeordnete Rolle, da die Bedrängnis syntaktisch vorangestellt und die Freude stattdessen der Armut gegenübergestellt ist.31 Die Leidbewältigungsstrategie ist primär im Begriff der Bewährung (δοκιμή) zu suchen.32 Diese geschieht für die makedonischen Gemeinden im Leiden, das als materielle Bedrängnis gedacht und möglicherweise durch die feindliche Umwelt hervorgerufen ist.33 Dies wird hier zwar als Spenden-Motivation angeführt, kann jedoch gleichzeitig rückblickend als Leidbewältigungsstrategie verstanden werden. Ähnlich hat Paulus in 2Kor 2,9 sein Motiv bei der Abfassung des ‚Tränenbriefs‘ beschrieben, mit dem er die Bewährung der Gemeinde habe erkennen wollen, die sich in konkretem Gehorsam geäußert habe.34 Dort wird wie am Beispiel des Timotheus in Phil 2,22 deutlich, dass sich Bewährung durch ein konkretes Verhalten oder Handeln zeigt (vgl. 2Kor 9,13; 13,3).35 Diese Bewährung wird bereits in der LXX als Strategie zur Leidbewältigung häufig verwendet.36 Im Falle der Makedonierinnen und Makedonier zeigt sie sich in ihrer mit großer Freude angebotenen Spenden-

30

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33

34 35 36

WINDISCH, Korintherbrief, 244 aus. Vgl. THRALL, Epistle II, 522, Anm. 92. Der erste Satzteil vor dem parataktisch verstandenen καί wäre dann als Nominalsatz zu verstehen und lautet z. B. in der Luther-Übersetzung: „Denn ihre Freude war überschwänglich, als sie durch viel Bedrängnis bewährt wurden | und obwohl sie sehr arm sind …“ Dagegen sprechen „Stil und Wortstellung“ (WINDISCH, Korintherbrief, 244), während ein Verb im Singular (ἐπερίσσευσεν) nach einem zusammengesetzten Subjekt nicht problematisch ist (vgl. THRALL, Epistle II, 522). Die Übersetzung des Genitivs θλίψεως als genitivus subjectivus vertreten v. a. HARRIS, Epistle, 561 und MARTIN, Corinthians, 248 im Gegenüber zur Interpretation als epexegetischem Genitiv z. B. bei WINDISCH, Korintherbrief 244 („Bewährung, die in Bedrängnis besteht“). In 2Kor 6,10; 7,4, aber auch in 1Petr 1,6; 4,13 und Jak 1,2, die für das Motiv von Freude im Leiden herangezogen werden, sind Freude (χαρά/χαίρω, ἀγαλλιάω) und Leid (als θλῖψις/θλίβω, λύπη/λυπέω, πειρασμός, πάθημα) jeweils eindeutig aufeinander bezogen. Die in 2Kor 8,2 vorliegenden Gegensätze werden dagegen unterschiedlich bewertet. Der von mir beschriebene Gegensatz von Bewährung/Bedrängnis und Armut/Freude wird auch gesehen von ZEILINGER, Krieg II, 263f und der Zürcher-Übersetzung. Anders z. B. GRÄßER, Brief II, 24 und BETZ, Corinthians, 43. Das Motiv der Bewährung (δοκίμιον) in Versuchung (πειρασμός) ist in Jak 1,2 und 1Petr 1,6 mit dem der Freude im Leiden verbunden. Nach RUPPERT, Gerechte I, 178 gehört der VersuchungsGedanke jedoch nicht zum Motiv der Freude im Leiden. In der These von GEORGI, Armen, 52, nach der die Bedrängnis wie oben erwähnt aus einer eingedrungenen Irrlehre besteht, wäre in 2Kor 8,1f nicht von Leiden die Rede. Vgl. § 7.3.1.2 bei der Einzelexegese von 2Kor 1,23ff. Vgl. GRÄßER, Brief II, 64 zu 2Kor 9,13 mit Verweis auf SCHUNACK, Art. δοκιμάζω, 826. Vgl. bereits § 7.3.1.2 sowie GRUNDMANN, Art. δόκιμος, 258. In der LXX wird nicht der erst bei Paulus belegte Begriff δοκιμή verwendet, sondern das häufige Verb δοκιμάζω (prüfen, ausweisen, bewähren). Vgl. z. B. Jer 9,6; 11,20; 14,19; Ψ 16,3; 65,10; SapSal 11,10. Meistens ist Gott der Prüfer, in Jer 6,27ff wird Jeremia als Prüfer von Gott eingesetzt. Vgl. BACHMANN, Art. δόκιμος, 1785f.

§ 12 Einzelexegese von 2Kor 8,1–15

231

bereitschaft (8,4), die vor dem Hintergrund ihrer materiellen Bedrängnis noch höher zu bewerten und als Überfließen bezeichnet ist. Bei der Beschreibung in 8,2 ist allerdings der Zusammenhang zu 8,1 zu beachten.37 Das bis 8,5 beschriebene Überfließen der Spannung zwischen Freude und Armut in einen Reichtum an ‚Selbstlosigkeit/Großzügigkeit‘ (ἁπλότης)38 ist als Wirkung der Gottesgnade dargestellt.39 Ohne hier auf die zahlreichen paulinischen Belege für den Begriff χάρις κτλ. einzugehen, kann das Wirken der Gottesgnade in 8,1 im Zusammenhang mit der Gnade Jesu Christi in 8,9 verstanden werden.40 Dort ist von Christi Armwerdung die Rede, die zugunsten des Reichtums der Gemeinden geschehen ist. Die Gnade Gottes und Christi beschreibt also ein Wirken Gottes, das sich positiv für die Menschen auswirkt. Dieses Gotteswirken ermöglicht zwar erst moralisch positives Handeln, fordert dieses aber zugleich auch (vgl. 2Kor 6,1).41 Als Beispiel für das Gnadenhandeln Gottes ist im 2. Korintherbrief der Aposteldienst genannt (2Kor 1,12.15), während die Gnade des Herrn ebenfalls im Kontext der Leidbewältigung belegt ist (2Kor 12,9). Als Strategie zur Leidbewältigung lässt sich also zusammenfassend festhalten, dass Paulus der Bedrängnis hier besonders die positive Wirkung zuschreibt, dass darin die Bewährung der Leidenden geschieht. Diese äußert sich in einem konkret zu beobachtenden großzügigen und anhand der äußeren Umstände von Armut und Bedrängnis überraschenden Spendenhandeln. Dieses wiederum wird sowohl auf die Großzügigkeit der makedonischen Gemeinden als auch auf die Wirkung der Gnade Gottes zurückgeführt. Dabei ist nicht davon die Rede, dass die leidverursachenden Widerfahrnisse in Makedonien bereits vorüber wären.42 37

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42

Vgl. BULTMANN, Brief, 255 und GRÄßER, Brief II, 23. Das ὅτι zu Beginn von 2Kor 8,2 zeigt, dass der Vers entweder die den Gemeinden in Makedonien gegebene Gnade Gottes näher erläutert (so z. B. HARRIS, Epistle, 561 und WOLFF, Brief, 167) oder das Verb γνωρίζω (so z. B. THRALL, Epistle II, 521f) oder beides (so z. B. WINDISCH, Korintherbrief, 244). Inhaltlich ist der Unterschied gering und v. a. der Bezug von 8,2 auf 8,1 festzuhalten. Eine überzeugende Ableitung der Bedeutung von ἁπλότης aus ‚Einfachheit, Lauterkeit etc.‘ hin zu ‚Großzügigkeit‘ im vorliegenden Kontext führt THRALL, Epistle II, 523f durch. Mit KRUG, Kraft, 115f u.ö. kann man davon sprechen, dass die Gegensätze nur unter Einbezug einer transzendenten Ebene verständlich sind und insofern eine „revelatorische Erkenntnis“ dieser Ebene – hier: der Gnade Gottes – provozieren. In 2Kor 8,4.6.7 ist dagegen der Begriff χάρις nicht auf das Gnadengeschenk Gottes, sondern die Kollekte bzw. den Dienst bezogen. Vgl. GRÄßER, Brief II, 25 und in der Einzelexegese von 2Kor 1,23ff den Abschnitt § 7.3.2.2 für die paulinische Verwendung von χαρίζομαι. CONZELMANN, Art. χάρις, 386 thematisiert die Wirkung der Gnade als „Macht der Gnade“ und nennt als geschichtliche Manifestationen die Kirche (Phil 1,7) und die Kollekte. Gnade „ermöglicht Freigiebigkeit (2 K 8, 1, vgl. 9, 8), ihr Ziel ist jedes gute Werk (2 K 9, 8). Sie wird zur Forderung (2 K 6, 1; Gl 5, 4ff), und zwar so, daß sie die Leistung ermöglicht“ (Hervorhebung im Original). Vgl. THRALL, Epistle II, 522. Nach HARRIS, Epistle, 561 zielt der Begriff δοκιμή auf den Prozess der Bewährung, die also gemeinsam mit der Bedrängnis als anhaltend vorgestellt wäre. Genau entgegengesetzt urteilt BETZ, Corinthians, 43.

232

12.3.2

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

Strategie zur Leidvermeidung: Spende in verkraftbarer Höhe (8,13)

In 2Kor 8,13 stellt Paulus dar, dass er mit seinem Motivationsschreiben nicht etwa die Korintherinnen und Korinther in (materielle) Bedrängnis (θλῖψις) bringen möchte, während andere Ruhe/Erleichterung (ἄνεσις)43 haben. In diesem Sinne könnte die christologische Motivation aus 8,9 sonst möglicherweise missverstanden werden. Es handelt sich also nicht um eine Leidbewältigungsstrategie, sondern um eine Strategie zur Vermeidung einer potentiellen Leiderfahrung in Form von Armut mit den genannten Konsequenzen für die korinthische Gemeinde. Paulus greift dabei mit dem Begriff ἰσότης (Gleichheit) in 8,12.14 auf einen wichtigen „Terminus der hellenistischen Philosophie“44 zurück, der im NT nur noch deuteropaulinisch in Kol 4,1 zur Gleichbehandlung von Sklaven vorkommt. Es ist wahrscheinlich, dass er sich damit auf ein politisches und ethisches Motiv bezieht, demzufolge die Gleichheit ein anzustrebendes Ziel ist.45 Mit einem entsprechenden Handeln wird das Gegenteil der ἰσότης, nämlich die von Paulus häufig kritisierte πλεονεξία („das Immer-mehr-haben-wollen“)46 als handlungsleitend ausgeschlossen.47 Vielmehr führt Paulus in 2Kor 8,15 das Zitat aus Ex 16,18 an, das 43

44

45

46 47

Vgl. z. B. HARRIS, Epistle, 589 zum Begriff ἄνεσις, den Paulus sonst nur in 2Kor 2,13 und 7,5 verwendet. ARZT-GRABNER, Korinther, 252 weist in den Papyri den Begriff in vielfältigen Kontexten nach: „was also einem Menschen ‚Erleichterung‘ verschafft, ist vollkommen situationsunabhängig“. WINDISCH, Korintherbrief, 253. Vgl. GRÄßER, Brief II, 34 und HARRIS, Epistle, 589f, der mit STÄHLIN, Art. ἴσος, 346f auf die Personifikation der ἰσότης bei Euripides, Ph. 536 verweist. Vgl. STÄHLIN, Art. ἴσος, 346f, auf den auch THRALL, Epistle II, 540 verweist. Er nennt z. B. für den politischen Bereich Aristoteles, Pol. 2,2; 3,6; Philo, rer. 162 und lateinisch (aequalitas) Cicero, leg. 1,18,48. Im Bereich der Freundschaft sind ἰσότης und ὁμοιότης (Ähnlichkeit, Übereinstimmung) entscheidende Grundpfeiler, vgl. Aristoteles, EN 8,10; Pol. 3,16 und Diogenes Laertius 8,33. Das wird durch den Papyrus-Befund gestützt, wie er bei ARZT-GRABNER, Korinther, 420 dargestellt ist. Die These von GEORGI, Armen, 62–66 dagegen, demzufolge Paulus und die große Abhandlung zur ἰσότης bei Philo, rer. 141–206 „aus einer gemeinsamen Tradition, die Ex. 16, 18 mit dem ἰσότης-Motiv zusammengebracht hatte“ (63) stamme, hat sich nicht durchsetzen können. Vgl. z. B. LINDEMANN, Hilfe, 214f sowie den Verweis auf THEOBALD, Gnade, 540 bei THRALL, Epistle II, 539f. STÄHLIN, Art. ἴσος, 347. Die Begründung für die Gleichheits-Maxime ist umstritten. Im ersten Teil von 2Kor 8,13 wird impliziert, dass die korinthische Gemeinde reicher ist als die Jerusalemer Urgemeinde und dieser daher materiell helfen kann. Schwierig ist jedoch der Gedanke der Umkehrung im zweiten Teil. Ist daran gedacht, dass der Ausgleich durch eine spirituelle Gegenleistung geschieht? Dagegen spricht, dass eine solche Interpretation sich ausschließlich auf den später verfassten Text Röm 15,27 stützt (vgl. kritisch GRÄßER, Brief II, 36 und THRALL, Epistle II, 542.). Oder wird suggeriert, dass tatsächlich eines Tages die Jerusalemer Gemeinde reich und die korinthische Gemeinde arm sein könnte? Dagegen ließe sich einwenden, dass das Geschehen als Gleichzeitigkeit formuliert ist, sodass ein als zukünftig gedachter Austausch in umgekehrter Richtung nicht angelegt ist (vgl. GRÄßER, Brief II, 35). HARRIS, Epistle, 591 fügt daher in seiner Übersetzung die zeitliche Ergänzung „so that some day …“ ein. Aus der Formulierung ἐν τῷ νῦν καιρῷ in 2Kor 8,14 folgert KIM, Kollekte, 39 einen Bezug zur messianischen Endzeit, in der der Güterausgleich und so die ἰσότης zwischen Jerusalem und Korinth geschehe. Dadurch werde mit der idealisiert vorgestellten

§ 12 Einzelexegese von 2Kor 8,1–15

233

am biblischen Gottesvolk als Idealzustand deutlich macht, wie zumindest im Falle des Manna alle gleichviel und genug zum Leben hatten.

12.4 Zwischenfazit Der untersuchte Textabschnitt steht als Kollektenaufforderung in einem gänzlich anderen Kontext als die bisherigen Texte. Darin erhält die seltene Bedeutung des θλῖψις-Begriffs besondere Relevanz, der zufolge er eine materielle Bedrängnis bezeichnet und in die Nähe von Armut (πτωχεία) rückt. Vor der Leidanalyse ist kurz die christologische Spenden-Motivation des Paulus in 2Kor 8,9 angesprochen worden. Durch die metaphorische Beschreibung des Christusgeschehens als Armwerdung zugunsten des Reichtums der korinthischen Gemeinde wird die positive Wirkung des Leidens Christi für die Christusglaubenden illustriert. Dieser Gedanke kann bei der Zuordnung einer positiven Wirkung zu einer Leiderfahrung an anderen Stellen im Hintergrund stehen. Bei der Leidanalyse hat sich gezeigt, dass Paulus in 8,2 erstmals ohne die Nennung eigenen Leidens von der Bedrängnis der Gemeinden spricht. Ebenso singulär ist bisher der Verweis auf andere Gemeinden als die korinthische. Das Leiden ist dabei für die Makedonierinnen und Makedonier in Form von Armut durch Bedrängnis sowohl auf der sozial-psychischen, wie auch auf der somatisch-physischen Ebene zu verorten. Als Ursache sind Handlungen aus der andersgläubigen Umwelt wahrscheinlich, was durch Belege in anderen Briefen gestützt wird (Phil 1,28–30; 1Thess 1,6; 2,14; 3,3f). Also sind die Verantwortlichen außerhalb des Beziehungsraumes von Gemeinde und Aposteln verortet. Für die Christusglaubenden in Korinth wird in 2Kor 8,13f ein bloß potentielles Leiden thematisiert, das durch eigene Handlungen verursacht wird, falls die Gemeinde bis zur eigenen Armut spendet. Die Gemeinden Makedoniens werden von Paulus primär als Vorbild der Spendenbereitschaft genannt. Doch die von ihm angeführte Bewährung der makedonischen Christusglaubenden in Bedrängnis dient im Rückgriff auf Texte der LXX auch als Strategie zur Leidbewältigung (z. B. Jer 9,6; Ψ 16,3; SapSal 11,10). Dem Leiden wird dabei die positive Wirkung zugeschrieben, die Bewährung der Christusglaubenden zu zeigen. Diese wird sowohl auf das Handeln der makedonischen Gemeinde in Form der überfließenden Spen-

Gleichheit die Gleichwertigkeit von Juden und Heiden angestrebt. Den ähnlichen Vorschlag von MARTIN, Corinthians, 267–269 kritisiert bereits THRALL, Epistle II, 542.

234

Teil II: Untersuchung der Leidbewältigung anhand des θλῖψις-Begriffs

denbereitschaft als auch auf die Wirkung der Gnade Gottes zurückgeführt (2Kor 8,1f). Diese positive Leidensauswirkung in Form von Bewährung ist bereits innerhalb von 1,23ff in 2,9 für die korinthische Gemeinde genannt und bezieht sich dort auf ihren Gehorsam gegen Gott und Apostel. Darüber hinaus wird für potentielles Leiden der Korintherinnen und Korinther erstmals seit dem genannten Abschnitt 1,23ff eine Strategie zur Leidvermeidung genannt. Diese besteht darin, nicht bis zur völligen Armut zu spenden, sondern unter Rückgriff auf das Motiv der ἰσότης (Gleichheit) in einer Weise, die allen Beteiligten ausreichend Ressourcen gewährt.

Teil III Exegetischer Ausblick auf 2Kor 10–13 Teil III: Exegetischer Ausblick auf 2Kor 10–13

§ 13 Leidbewältigung in 2Kor 10–13 § 13 Leidbewältigung in 2Kor 10–13 Der für die Untersuchung verwendete Begriff θλῖψις κτλ. kommt in 2Kor 8,13 zum letzten Mal innerhalb des 2. Korintherbriefs vor. Dennoch ist auch in 2Kor 10–13 von Leiderfahrungen die Rede, was bereits formal durch die Peristasenkataloge in 11,23ff und 12,10 ersichtlich ist. Daher werde ich nun einen kurzen exegetischen Ausblick auf 2Kor 10–13 geben, obwohl dieser Teil über den Schwerpunkt der Untersuchung hinausreicht.1 Aufgrund der guten Forschungslage zu diesen Kapiteln ist für die relevanten Texte jeweils eine knappe Analyse ausreichend.2 Anders als in 2Kor 1–8 ist hier für die Frage nach dem Leiden besonders U. HECKELs Beitrag zur paulinischen Argumentationsstrategie in 2Kor 10–13 weiterführend. Er zielt damit auf eine Auslegung von 2Kor 12,1–10, in die er das Leiden explizit einbezieht. Ich werde mich daher häufig auf seine Ergebnisse beziehen und diese entsprechend meiner Fragestellung und meines methodischen Zugangs einordnen.

13.1 Situation und Thema Wie § 5.2.1 gezeigt hat, sind die Kapitel 2Kor 10–13 gemeinhin als Einheit anerkannt. Umstritten ist lediglich, ob sie einen eigenen Brief bilden, der möglicherweise mit dem in 2Kor 2,3f und 7,8f.12 genannten ‚Tränenbrief‘ identisch ist, oder ob sie Teil des als einheitlich verstandenen 2. Korintherbriefs sind. 1

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2Kor 9 fließt nicht in die kommende Betrachtung ein, da dort weder der θλῖψις-Begriff noch andere Thematisierungen des Leidens vorkommen. Über die bisher besonders bei den Peristasenkatalogen verwendete Literatur hinaus sind allgemein zu 2Kor 10–13 die rhetorischen Analysen von ZMIJEWSKI, Stil und SUNDERMANN, Apostel zu nennen.

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Paulus steht in diesen Kapiteln vor der Aufgabe, „sich gerade in seiner Schwachheit als legitimer Apostel zu erweisen“.3 Er möchte also seine Schwachheit in ein positives Verhältnis zur erwarteten Kraft der Apostelzeichen bringen, wie 13,3a zeigt: „Denn ihr sucht ja einen Beweis dafür, dass Christus in mir spricht.“ Die Schwachheit nämlich kann zumindest in Teilen der Weisheitstradition als negativ und als Zeichen für Gottlosigkeit verstanden werden (vgl. SapSal 2,11; PsSal 27,27f; Ψ 17,33.37).4 Sie wurde ihm wahrscheinlich von der Gemeinde und besonders von Gegnern vorgeworfen, auf deren Aussagen Paulus sich häufig bezieht (vgl. 10,12; 11,5.12–15.22f; 12,11 u.ö.).5 In diesem Kontext sind die Äußerungen zu Leiden und Leidbewältigung verortet.

13.2 Ἀσθένεια κτλ. als Leitbegriff für Leidensschilderungen Da der θλῖψις-Begriff nicht mehr vorkommt, stellt sich die Frage nach einem anderen Begriff, anhand dessen das Leiden in 10–13 untersucht werden kann. Mit 14 Belegen wird in Kapitel 10–13 häufig der Begriff ἀσθένεια κτλ. verwendet, der in 1–8 gar nicht vorkommt.6 Es ist auffallend, dass Paulus ihn auch über den 2. Korintherbrief hinaus fast nie gemeinsam mit θλῖψις κτλ. verwendet.7 Diese Beobachtung kann ein Indiz dafür sein, dass beide als „Oberbegriff“8 verwendet werden können. Eine Skizze des Bedeutungsspektrums von ἀσθένεια κτλ. kann sich neben den einschlägigen Artikeln in Begriffslexika auf einige Untersuchungen beziehen, die sich bereits dem Begriff selbst oder in seinem Verhältnis zum

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HECKEL, Kraft, 219. Vgl. HECKEL, Kraft, 219, der die apostolische Vollmacht des Paulus durch 2Kor 10,10 (Schwachheit seiner Person) und 12,7 (Krankheit) für die Gegner infrage gestellt sieht. Dazu verweist er auch auf Lk 4,23, wo Jesus das Spottwort zitiert: „Arzt, heile dich selbst!“ 2Kor 10–13 ist die Hauptgrundlage für Versuche, die Identität der korinthischen Gegner zu rekonstruieren. Vgl. für Belege z. B. SCHMELLER, Korintherbrief, 191 und BIERINGER, Gegner, 185–192 sowie § 5.2.1.2. Inwieweit Rückschlüsse auf deren Identität möglich sind, wird z. B. von BIERINGER, Gegner, 189f und PRATSCHER, Gegner, 260 hinterfragt. Z. B. STÄHLIN, Art. ἀσθενής, 490 geht davon aus, dass die häufige Verwendung von ἀσθένεια κτλ. in 2Kor 10–13 anzeigt, dass Paulus hier ein Schlagwort der „Gegengruppe“ aufgenommen hat. Im 1. Korintherbrief steht ein vereinzelter Beleg für θλῖψις (1Kor 7,28) 15 Belegen für ἀσθένεια κτλ. gegenüber. Die Belege für ἀσθένεια κτλ. kommen gehäuft in der Diskussion um Starke und Schwache in der Gemeinde vor (8,7.9.10.11.12). Die übrigen Belege stehen in 1,25.27; 2,3; 4,10; 9,22 (3mal); 11,30; 12,22 und 15,43. Im 1. Thessalonicherbrief kommt ἀσθένεια κτλ. nur in 1Thess 5,14 vor, θλῖψις κτλ. dagegen in 1,6; 3,3.4.7. Im Galaterbrief kommt nur ἀσθένεια κτλ. in Gal 4,9.13 vor. Für den Philipperbrief ist ἀσθένεια κτλ. in Phil 2,26f belegt, θλῖψις κτλ. in 1,17; 4,14. Lediglich im Römerbrief kommen beide in Röm 5,1–11 in einem gemeinsamen Zusammenhang vor. Sonst steht ἀσθένεια κτλ. noch in Röm 4,19; 6,19; 8,3.26; 14,1.2.21, θλῖψις κτλ. in Röm 2,9; 8,35; 12,12. HECKEL, Kraft, 223. Er sieht ἀσθένεια κτλ. teilweise in der Bedeutung eines solchen Oberbegriffs.

§ 13 Leidbewältigung in 2Kor 10–13

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δύναμις-Begriff gewidmet haben.9 An der Begriffsbildung aus σθένος und αPrivativum zeigt sich bereits seine Bedeutung als Gegenüber zum semantischen Feld von ‚Stärke, Kraft und Macht‘.10 Mit J. KRUG sind zwei Bedeutungsrichtungen sind zu unterscheiden: Die erste Bedeutung bezieht sich auf allgemeine Schwachheit, die eine grundlegende menschliche „Kraftlosigkeit, Schwäche, Schwachheit“11 bezeichnet. Mit dieser anthropologischen Bedeutung wird der Mensch in jüdischen, christlichen und auch in profangriechischen Texten durch allgemeine Schwachheit charakterisiert.12 Wo Kraft bei einem Menschen vorgefunden wird (ἰσχύς, δύναμις, σθένος κτλ.), so steht das im Gegensatz zum Erwartbaren. Diese Kraft kann auf Gott zurückgeführt werden und markiert den Unterschied zum Menschen (vgl. SapSal 13,17; TestJos 2,5; Ri 16,7).13 Auch im NT außerhalb von Paulus ist z. B. in Mk 14,38par die allgemeine Schwachheit des Fleisches festgehalten. Die zweite Bedeutung von ἀσθένεια κτλ. ist die konkrete Schwachheit.14 Diese bezeichnet einzelne ‚Schwachheiten‘, von denen konkrete Personen auf somatisch-physischer und sozial-psychischer Ebene getroffen werden.15 Darunter fallen häufig die körperliche Schwäche als Krankheit,16 aber auch sittlich-moralische Schwäche, die sich besonders in den Prophetenbüchern als gegenwärtiger oder zukünftiger Abfall von Gott äußert.17 In diesem Zusam9

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Vgl. BLACK, Paul, der in seiner Untersuchung alle paulinischen (und deuteropaulinischen) Belege für ἀσθένεια κτλ. untersucht, allerdings kaum Rückschlüsse auf die Leidbewältigung zieht. Vgl. auch den entsprechenden ausführlichen begriffsgeschichtlichen Teil in der Untersuchung von KRUG, Kraft, 51–69, der den Begriff in die paulinische Leidinterpretation einordnet. Vgl. die Darstellung im Forschungsüberblick § 1.5. Schließlich geht auch HECKEL, Kraft, 223–225 in seiner Untersuchung des Verhältnisses von Kraft und Schwachheit in 2Kor 10–13 auf den Begriff ein. Vgl. KRUG, Kraft, 51. LIDDELL-SCOTT, 1595 übersetzt σθένος u. a. als „strength, power, force“. LINK/HECKEL, Art. ἀσθένεια, 119, Hervorhebung im Original. KRUG, Kraft, 52 spricht von allgemeiner Schwachheit als „conditio humana“. Ähnlich bezeichnet BLACK, Paul, 228 das als anthropologisches Thema des Begriffs. LINK/HECKEL, Art. ἀσθένεια, 1200 sehen die Schwachheit als Wesensmerkmal des Menschen. Vgl. STÄHLIN, Art. ἀσθενής, 489f und ZMIJEWSKI, Art. ἀσθενής, 409. Vgl. KRUG, Kraft, 52–56. Im profangriechischen Bereich findet er Belege bereits bei Platon, Plt. 274b; Lg. 854a, die Mehrzahl jedoch ab dem 1. Jh. v. Chr. z. B. bei Dio Chrysostomos 26,59; Plutarch, Cam. 6,6; Tim. 14,2 u.ö. Für die LXX nennt er Hi 37,7 und den Bericht von Simsons Stärke gegenüber allgemeiner menschlicher Schwäche Ri 16,7.11.13.17. Bei Philo, Deus 80 ist KRUG zufolge die allgemeine Schwäche auf die gesamte Schöpfung ausgeweitet. KRUG, Kraft, 56 verweist zusätzlich auf Philo, virt. 165, der dort ein Zitat aus Dtn 8,18 abwandelt. KRUG, Kraft, 56–59 nennt sie „spezielle Astheneia“ (56). Die übrigen einschlägigen Artikel folgen dem der Sache nach, kennzeichnen jedoch die Unterscheidung kaum so deutlich. A. a. O., 58f bezeichnet KRUG beide Ebenen als „physikalische[r] Einflüsse“ und „schädigende[s] Sozialverhalten“. Unter dem ersten Aspekt nennt er naturwissenschaftliche Beobachtungen zu starken/schwachen Pflanzen (Theophrast, CP 4,1) und Mischungen (Aristoteles, Pr. 907b). Z. B. bei Herodot 4,135, seltener in LXX, z. B. Dan 8,27, aber gegen die Einschätzung von LINK/HECKEL, Art. ἀσθένεια, 1199 m. E. auch Ψ 6,3; 30,11; 87,10 und 108,24 sowie für das hellenistische Judentum Josephus, BJ 1,76; AJ 15,359. Vgl. für die profangriechische Literatur z. B. Thukydides 2,61,2 und Epiktet, Diss. 1,8,8. Für die Schwachheit als Abfall von Gott in LXX vgl. Hos 4,5; 5,5; Jer 6,21; 18,15; Nah 2,6; 3,3 und Zeph 1,3.

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menhang wird deutlich, warum ἀσθένεια κτλ. in der LXX mit 37 Belegen am häufigsten die hebräische Wurzel ‫ כּשׁל‬übersetzt, die im qal „straucheln, stolpern, stürzen“18 bedeutet. Das Schwache gilt als bevorzugter Ort des göttlichen Handelns. Das zeigt sich in der allgemeingriechischen Literatur, wo spezielle Gottesgaben an konkrete körperliche Defizite geknüpft sind, wie auch in der LXX beispielsweise bei der zunächst unfruchtbaren Hanna (1Sam 2,1–6).19 In wenigen Fällen kann ἀσθένεια auch materielle Armut bezeichnen.20 Im NT kommt der Schwachheits-Begriff 89mal vor und bezieht sich fast zur Hälfte auf Krankheiten, meistens in den Evangelien und der Apostelgeschichte.21 Bei Paulus (43mal) bezeichnet er außerhalb von 2Kor 10–13 nur in 1Kor 11,30; Phil 2,26f und evtl. Gal 4,13 Kranke/Krankheiten (deuteropaulinisch: 1Tim 5,23; 2Tim 4,20; Jak 5,14). Daraus lässt sich folgern, Paulus habe „eine eigenständige ‚Theologie‘ der Schwachheit“22 entwickelt, in der die Unterscheidung von konkreter und allgemeiner Schwachheit unscharf werde.23 Besonders im Römerbrief identifiziert er die allgemeine Schwachheit mit der menschlichen Sündhaftigkeit (Röm 5,6.8; 6,19; 8,3; nachpaulinisch: Hebr 4,15; 5,3; 7,27f). Während die Sünde allerdings schon überwunden ist, ist die Schwachheit noch in der Gegenwart wirksam (vgl. Röm 6,17–23). Die Schwachheit ist außerdem oft auf Einzelne bezogen, die in ihrem Glauben und ihrem Gewissen schwächer sind als ‚die Starken‘ (vgl. 1Thess 5,14; 1Kor 8,7–12; 9,22; Röm 14,1f; 15,1). Diese paränetischen Gedanken führt Paulus aus der Perspektive eines Starken aus.24 Die Belege aus 2Kor 10–13 werde ich jeweils in ihrem Kontext untersuchen. Dabei verwende ich ἀσθένεια κτλ. wie zuvor den θλῖψις-Begriff als Indikator für Thematisierungen von Leiden. Die Umstände des Leidens und die Strategien zu dessen Bewältigung sind anhand dessen im Kontext zu analysieren.25 18

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GESENIUS, 577. Vgl. KRUG, Kraft, 51f und LINK/HECKEL, Art. ἀσθένεια, 1199. Diese Bedeutung liegt auch Ψ 9,4; 26,2; 106,12; Hi 4,4 zugrunde, wo Feinde durch Gottes Eingreifen zu Fall kommen. Daher erklären sich für STÄHLIN, Art. ἀσθενής, 489 und KRUG, Schwachheit, 52 die textkritischen Varianten in Röm 14,21, wo eine Reihe von Zeugen den Begriff προσκόπτω um σκανδαλίζω und ἀσθενέω ergänzt. Der semantische Zusammenhang besteht also bis in neutestamentliche Zeit. KRUG, Kraft, 65–68 weist darauf hin, dass z. B. bei Platon, Ti. 71e die göttliche Sehergabe an Blindheit geknüpft sei. Vgl. Herodot 2,88; Aristophanes, Pax 636; in der LXX Spr 22,22f und im NT Apg 20,35. Vgl. KRUG, Kraft, 57 und ZMIJEWSKI, Art. ἀσθενής, 410. Außerhalb der paulinischen und deuteropaulinischen Schriften steht der Begriff zur Bezeichnung von Krankheiten z. B. in Mt 8,17 (synonym zu νόσος); 10,8; 25,36.19; Mk 6,56; Lk 4,40; 5,15; 8,2; 9,2; Joh 4,46; 5,3.5.7; 6,2; Apg 4,9; 5,15f; 9,37. ZMIJEWSKI, Art. ἀσθενής, 412. Vgl. für die folgenden Ausführungen zu ἀσθένεια bei Paulus auch HECKEL, Kraft, 223f. Vgl. KRUG, Kraft, 58. Der vereinzelte Beleg für ἀσθένεια κτλ. in 2Kor 10,10 wird nicht gesondert thematisiert.

§ 13 Leidbewältigung in 2Kor 10–13

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13.3 Ausgewählte Textpassagen zum Leiden 13.3.1

Leiden und seine Bewältigung im Kontext von 11,23b–33

Der Begriff ἀσθένεια erscheint prominent in der sog. Narrenrede. Daher wird diese als Kontext zunächst kurz thematisiert, bevor sich wie in der Untersuchung von 2Kor 1–8 die Analyse des Leidens und die Darstellung der Leidbewältigungsstrategien anschließen. In 2Kor 11,1 lenkt Paulus die bisherige Argumentation durch das Stichwort ἀφροσύνη (Torheit, Dummheit) in eine neue Richtung,26 die nach scharfer Gegnerpolemik (11,12–15) auf die Einleitung der sogenannten ‚Narrenrede‘ im engeren Sinn zuläuft (11,16–21). Er macht deutlich, dass er zwar nicht für unvernünftig gehalten werden möchte, aber nun einen Rollenwechsel vornimmt und als Narr spricht (vgl. 11,16–20.21b.23). Das gipfelt in 11,21a in die – als Narr ausgesagte – Selbstbezeichnung des Paulus als schwach.27 Diese wird in 11,29.30 in einem Resümee des Peristasenkatalogs von 11,21b–30 wieder aufgegriffen. In der Forschung sind verschiedene traditionsgeschichtliche Bezüge für 11,23–30 diskutiert worden. U. HECKEL hat gezeigt, dass Paulus hier nur an einzelnen Punkten ironisch formuliert und damit das Gegenteil des Gesagten meint.28 Der Katalog ab 11,21b sei jedoch insgesamt als Parodie zu interpretieren, verstanden als „verspottende, verzerrende oder übertreibende Nachahmung […] unter Beibehaltung der äußeren Form, doch mit anderem, nicht dazu passendem Inhalt.“29 Paulus führe den Wettstreit mit den prahlenden Gegnern ad absurdum, indem er die Form antiker Ruhmeskataloge beibehalte, sie aber mit Erweisen seiner Schwachheit füllt.30 Als Vorbild solcher antiker Ruhmeskataloge sind häufig die Rechenschaftsberichte der römischen Kaiser gesehen worden, die darin in erster Person Singular katalogartig

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Vgl. auch die Antithese im Peristasenkatalog von 1Kor 4,10: „Wir sind Dummköpfe (μωρός) durch Christus, ihr aber seid vernünftig (φρόνιμος) in Christus.“ Damit ist in 2Kor 11,21a der zweite Beleg für ἀσθένεια κτλ. im 2. Korintherbrief. Hier ist es eine – als Narr getätigte –Selbstaussage, während Paulus in 10,10 einen Vorwurf zitiert: Seine Briefe seien zwar schwergewichtig und stark, aber seine Rede, wenn er vor Ort sei, sei schwach (ἀσθενής). Die Definition von Ironie als Bezeichnung des Gegenteils des Gesagten ist in der Antike bei Pseudo-Demetrius 20 und Pseudo-Libanius 9 zu finden. Nach HECKEL, Kraft, 21 bediene sich Ironie „zum Spott der gegnerischen Wertmaßstäbe“. Vgl. die Bezeichnung Überapostel (2Kor 11,5; 12,11). WILPERT, Sachwörterbuch, 585, zitiert bei HECKEL, Kraft, 22. So HECKEL, Kraft, 22 und CHOI, Peristasenkataloge, 181f. Vgl. SUNDERMANN, Apostel, 143 und EBNER, Leidenslisten, 131, der von einer „Antiliste“ spricht und davon ausgeht, dass sich hier Peristasenkatalog und numerische Tatenliste überlagern. Gegen eine Deutung als Parodie wendet sich GRÄßER, Brief II, 164 mit Bezug auf THRALL, Epistle II, 757f. Deren Einwand, Paulus meine es ernst, widerspricht der Parodiestil allerdings nicht.

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ihre Taten für den Staat aufzählen.31 Die Torheit der Schwachheitsrede zeigt sich auch vor dem Hintergrund der jüdischen Weisheits-Tradition, in der Unverständige und vom Glauben abfallende Menschen auch innerhalb des eigenen Volks als Toren bezeichnet werden.32 Beide Bezüge stärken die Interpretation als Parodie. Zumindest für Teile des Katalogs ist auch die Einsicht M. EBNERs weiterführend, wonach Paulus sich darin vor dem Hintergrund antiker Redewettstreite gegenüber einer Gegnergruppe als strapazierfähigere und besser geeignete Leitungsperson darstellen möchte.33 Ziel sei der Erweis, wer der bessere „Diener Christi“ (11,23) ist (vgl. 6,3f).34 Für die Analyse des Leidens in 2Kor 11,21–33 ist also festzuhalten, dass wegen des möglicherweise angewendeten Stilmittels der Parodie nicht alle geschilderten Erfahrungen des Paulus wörtlich zu nehmen sind. Das gilt zusätzlich zum hohen Reflexions- und Abstraktionsgrad, der auch in den bereits untersuchten Katalogen zu beachten war.35 Während also konkrete historische Begebenheiten nicht unbedingt daraus zu erschließen sind, zeigt der Katalog die paulinische Perspektive auf das Leiden sowie Strategien zu seiner Bewältigung.

13.3.1.1 Analyse des geschilderten Leidens Nach einem viergliedrigen Vergleich des Paulus mit den Gegnern beginnt der eigentliche autobiographische Peristasenkatalog erst in 11,24f. Dort werden die Leidensaussagen durch Nennung von Zahlen illustriert. In 11,26 folgt 31

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Vgl. FRIDRICHSEN, Stil, 25–29 und DERS., Peristasenkatalog, 78–82 mit Verweis auf orientalische Königschroniken. Die Kritik daran bei FITZGERALD, Cracks, 19–21 und CHOI, Peristasenkataloge, 22 richtet sich auf formale Unterschiede, hebt aber die Relevanz der griechisch-römischen Vorbilder gerade hervor. Vgl. besonders die Res Gestae von Kaiser Augustus aus dem Jahr 14 n. Chr. (Res gest. divi Aug. 1–4). Dazu z. B. auch EBNER, Leidenslisten, 122–128, der außerdem anhand des Begriffs πόνος (Mühen) als Parallele zum paulinischen κόπος einen Bezug zur Herakles-Tradition herstellt: Paulus parallelisiere sich zur Herakles-Figur, die in der kynisch-stoischen Literatur sehr verbreitet und daher in Korinth wahrscheinlich bekannt gewesen sei (a. a. O., 161–172). Vgl. HECKEL, Kraft, 195 und WINDISCH, Korintherbrief 318 mit Verweis auf Ψ 93,8; 91,7; Spr 19,3; Hi 2,10; TestHi 26,6. Selten werden die Gottlosen und Feinde des Volkes als Toren bezeichnet (Pred 7,25; Ψ 73,18.22). Mit dem Bezug auf die jüdische Weisheitstradition zeigt HECKEL, Kraft, 20f, dass eine paulinische Aufnahme der Komiker-Rolle aus der griechischen Komödie unwahrscheinlich ist. So aber z. B. WINDISCH, Korintherbrief, 316 und GRÄßER, Brief II, 151f. Z. B. HEZSER, Fool’s Speech, 226–228 sieht den Hintergrund der Rede sowohl im jüdischen wie auch im griechisch-römischen Kontext. EBNER, Leidenslisten, 97–108 legt den Agon als antike Gattung dar, deren Strukturen Paulus auf die ‚Narrenrede‘ übertrage. A. a. O., 121 führt er den Peristasenkatalog in Arrian, An. 7,9,8–7,10,3 an, in dem Alexander d. Gr. viele Gefahren und Strapazen zum Wohl seiner Soldaten auf sich nimmt. Vgl. dazu EBNER, Leidenslisten, 107 u. 141–144. Er nennt als Vergleichstexte Epiktet, Diss. 3,22,95; Plutarch, Sert. 13,2; Phil. 3,3f; Lukian, Rh.Pr. 9 uvm. Vgl. den Hinweis innerhalb des Exkurses zu Peristasenkatalogen in § 8.2.

§ 13 Leidbewältigung in 2Kor 10–13

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eine explizite Auflistung von acht Reisegefahren des Apostels (ὁδοιπορία), die jeweils eingeleitet sind durch ἐν κινδύνοις (in Gefahren). Die Gefahr durch falsche Brüder kann dabei eine polemische Spitze gegen die Gegner in Korinth sein.36 11,27f bietet eine weitere Auflistung von Mühen des Apostels, die mit der Nennung der Sorge (μέριμνα) um die Gemeinden endet. In 11,30 fasst Paulus die geschilderten Leiden und Mühen zusammen als Ausweis seiner Schwachheit, wobei ἀσθένεια als Oberbegriff dient.37 Danach hängt er in 11,32f den knappen Bericht seiner Flucht aus Damaskus an.38 Im Unterschied zu den bisherigen Peristasenkatalogen fallen besonders folgende Aspekte auf: Formulierung in der ersten Person Singular, keine paradoxen Antithesen und zahlreiche adverbiale Zusätze zur Steigerung des außerordentlichen Charakters der Erfahrungen.39 Die Leiderfahrungen können folgendermaßen analysiert werden. a) Betroffene: Das geschilderte Leiden betrifft hier eindeutig Paulus. Dabei bleibt unbenommen, dass z. B. von dem geschilderten Schiffbruch (11,25) sicher noch andere Personen betroffen sind (vgl. Apg 27), die aber hier nicht Gegenstand der paulinischen Reflexion zum Leiden sind.40 b) Betroffenheitsebene: In Bezug auf die von den leidverursachenden Widerfahrnissen betroffene Ebene zeigt sich ein weit gefasstes Bild. Schläge, Gefängnisse, Schiffbruch usw. sind primär auf der somatisch-physischen Ebene zu verorten. Mit der Sorge um die Gemeinden und der Erwähnung der ‚Falschbrüder‘ ist jedoch bei anderen Erfahrungen auch primär die sozialpsychische Ebene betroffen. c) Leidursachen: Viele der hier nicht im Einzelnen zu untersuchenden Begriffe bleiben in Bezug auf ihre Ursache unbestimmt.41 Andere jedoch sind eindeutig zuzuordnen. Auf bewusste Handlungen sind die in 11,24.25a genannten Strafen der jüdischen Geißelung und römischen Prügelstrafe zu-

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So auch GRÄßER, Brief II, 163. 2Kor 11,30 ist m. E. zu übersetzen als: „Wenn es nötig ist, sich zu rühmen, rühme ich die Dinge/Aspekte meiner Schwachheit.“ Das bezieht sich auf die zuvor dargestellte Liste. Vgl. HECKEL, Kraft, 33 u. 223 für ἀσθένεια als Oberbegriff in 11,30. Vgl. HECKEL, Kraft, 307, der darin ein Spiel des Paulus mit den Erwartungen der Korinther sieht: Wie dieser im Katalog 11,21b–30 statt zu erwartender Missionsleistungen seine Leiderfahrungen als Ruhmestaten aufzähle, schließe er daran keine Einzelheiten seines Offenbarungserlebnisses in Damaskus an, was ihm aus Sicht der Korinther zum Ruhm gereicht hätte, sondern Details über eine „abenteuerliche Flucht“ aus der Stadt seiner Berufung. Vgl. z. B. GRÄßER, Brief II, 165f. Die Verwendung der ersten Person Singular passt sich auch dem Kontext von 2Kor 10–13 an, in dem diese Erzählperspektive dominiert. Die Formulierung eines Mehr an Leiden, was ein Leiden der Gegner impliziert, kann der Redeweise in parodierender Form zugeschrieben werden. Doch wenn die Gegner als wandernde Apostel vorzustellen wären, würden zumindest die Reisegefahren ebenfalls auf sie zutreffen. Vgl. § 10.2.3 für Analysen der Begriffe κόπος, ἀγρυπνία und νηστεία im Peristasenkatalog von 2Kor 6,3–10. Eine detaillierte Analyse aller Glieder des Peristasenkatalogs bieten CHOI, Peristasenkataloge, 195–221 und SCHIEFER FERRARI, Sprache, 248–254.

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rückzuführen;42 genauso die Reisegefahren in Gestalt von Räubern, Volksgenossen und ‚Heiden‘. Auch die Sorge um die Gemeinden in 11,28 resultiert aus Handlungen, nämlich durch Streit in/mit der Gemeinde oder gegnerischen Missionaren. Während die leidverursachenden Widerfahrnisse aus Handlungen in 2Kor 1–8 die Regel sind, werden hier explizit Leiden aus Ereignissen genannt und nicht bloß angedeutet.43 Darunter fallen der Schiffbruch mit anschließender Seenot (11,25), die Reisegefahren zu Land: die Gefahr durch Flüsse,44 in menschenleerer Gegend und wieder auf dem Meer (11,26).45 d) Verortung der Verantwortlichen: Auch bei den Verantwortlichen für die leidverursachenden Widerfahrnisse ergibt sich ein differenziertes Bild. Paulus zielt in erster Linie auf Leiderfahrungen, die von außerhalb der Gemeinde kommen. In 11,28f ist jedoch durch die Nennung der Falschbrüder sowie der Sorgen um die Gemeinden auch der Beziehungsraum von Gemeinde und Apostel als Entstehungsort von Leiden im Blick.46

13.3.1.2 Strategien zur Leidbewältigung: Positive Wirkung des Leidens Gegenüber der Vielfalt von Leidbewältigungsstrategien im Kontext der Peristasenkataloge von 2Kor 4,8f und 6,3ff ist Paulus hier zurückhaltend. Er beschreibt kein göttliches Eingreifen, thematisiert kein mögliches Ende der leidverursachenden Widerfahrnisse und führt auch das Überleben der genannten Peristasen nicht explizit auf Gott zurück. Überhaupt fällt auf, dass Gott nicht explizit zur Deutung herangezogen wird, sondern in 11,31 als Vater Jesu Christi ähnlich wie in 2,10 nur als Wahrheitszeuge genannt ist.47 Die Leidbewältigungsstrategien liegen daher nicht in einzelnen Versen, sondern in der Interpretation des Textes als Ganzer, in dem Paulus seinem Leiden eine positive Wirkung zuschreibt. 42 43

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Vgl. CHOI, Peristasenkataloge, 197–212 für die drei Bestrafungsarten in 2Kor 11,24f. Eine Vermischung von Ereignissen und Handlungen als Ursache leidverursachender Widerfahrnisse sieht auch SCHIEFER FERRARI, Sprache, 345. Die Gefahr ist vermutlich so zu verstehen, dass einerseits Brücken in der Antike nicht selbstverständlich waren und andererseits jahreszeitlich bedingt Hochwasser drohte. Vgl. GRÄßER, Brief II, 168f und CHOI, Peristasenkataloge, 215. Die überraschende erneute Erwähnung des Meeres deutet EBNER, Leidenslisten, 140f so, dass Paulus damit auf die größte der Gefahren in 11,25 zurückverweist. Er nimmt einen sich steigernden Aufbau an, weswegen die Nennung der Falschbrüder nach der Meeresgefahr unterstreicht, für wie gefährlich er sie hält. Eine ironische Bedeutung ist m. E. an dieser Stelle nicht auszuschließen. Vgl. zur entsprechenden Deutung von 2Kor 11,28f EBNER, Leidenslisten, 144–148, der die genannten Peristasen als „ekklesiale“ (148) versteht. LIM, Sufferings, 179f erklärt im Rahmen seines Interpretationsmodells v. a. die paulinischen Narben durch Auspeitschung, Geißelung und Steinigung im Vergleich zu 2Kor 4,10 und Gal 6,17 als Explikation der „story of Jesus“ am Leib des Paulus. Vgl. ähnlich GRÄßER, Brief II, 164.

§ 13 Leidbewältigung in 2Kor 10–13

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1. Erweis als idealer Gemeindeleiter: Die überstandenen Leiden stellen Paulus in eine Reihe mit idealen kynisch-stoischen Führungspersonen. Statt beeindruckender Apostel- und Wunderzeichen zeigt Paulus hier anhand der leidverursachenden Widerfahrnisse seine Duldungsfähigkeit. Darin überbietet er die Gegner in Sachen Leidensfähigkeit, die er in 11,28f positiv auf die Gemeinde ausrichtet: Ihr gilt seine Sorge.48 Dabei greift er implizit die bereits in 1,6; 4,12 und 6,10 gesehene positive Wirkung des Leidens auf, wonach es die „Pro-Existenz“49 des Apostels erweist. In 11,23ff wird durch den Bezug auf Reisegefahren und Mühen noch klarer, dass dieses Leiden keine heilschaffende Wirkung für die Gemeinde hat. Vielmehr erlebt der Apostel es als notwendige Bedingung für die Möglichkeit, den Gemeinden das Evangelium verkünden zu können (vgl. 10,14–16).50 2. Erweis als wahrer Diener Christi: Wichtiger ist der zweite Aspekt, der bereits in 11,23 – wenn auch als Narr gesprochen – genannt wird: „Sie sind Diener Christi? Ich noch vielmehr (ὑπὲρ ἐγώ)!“ Das im Katalog ausgeführte Leiden unter dem Oberbegriff ἀσθένεια κτλ. hat die positive Wirkung, dass es Paulus in die Nähe Christi rückt, der ebenfalls eng mit der Schwachheit verbunden ist (vgl. 12,9; 13,3f). Im Leiden zeigt sich der wahre Diener Christi, der das wahre Evangelium Gottes (11,7) und Christi (vgl. 10,14; 11,4) verkündigt. Abschließend ist zu erwähnen, dass Paulus in der biographischen Schilderung der Damaskus-Flucht (11,32f) eine Leidvermeidungsstrategie nennt. Flucht wird hier als probates Mittel gekennzeichnet, um der Verhaftung als einem potentiell leidverursachenden Widerfahrnis zu entkommen, das aus Handlungen durch Personen verursacht wäre.51 Dadurch entsteht ein Widerspruch zum Erweis der Duldungsfähigkeit des Apostels aus 11,23–28. Jedoch wird gleichzeitig deutlich, dass das Leiden keinen Selbstzweck hat. Die Leidvermeidung ist legitim, wenn so der Aposteldienst gefördert wird.52

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Vgl. a. a. O., 171f, der 2Kor 11,29 auf die Sorge des Paulus für seine Gemeindeglieder bezieht: Paulus stehe „in leidvollen Flammen“, weil er den Glaubenden helfen wolle. Diese Empathie sei „‚Manifestation‘ der ‚Kraft in Schwachheit‘“ (172). Vgl. WINDISCH, Korintherbrief, 363, SCHMELLER, Brief I, 254 und EBNER, Leidenslisten, 121. Für LIM, Sufferings, 172–182 und SCHIEFER FERRARI, Sprache, 245 zielt die paulinische Narrenrede nicht auf Überbietung der Gegner, sondern auf Abgrenzung von ihnen, was inhaltlich nichts ändert. Apg 9,23f spricht bei der kurzen Anekdote von einer Tötungsabsicht der Juden. Einen Vergleich beider Versionen in Apg 9,23–25 und 2Kor 11,32f bietet z. B. WINDISCH, Korintherbrief, 363f. HARRIS, Epistle, 820; THRALL, Epistle II, 764 und LIM, Sufferings, 181f sehen die Anekdote als demütigendes Beispiel der Feigheit in der Liste der Schwachheiten. Ähnlich WELBORN, Runaway, 52–56, der die Narrenrede im Kontext der antiken Komödie und Paulus in der Standardrolle des fliehenden Sklaven sieht. Bereits HEINRICI, Brief, 382f wendet ein, dass der Begriff ἀσθένεια gerade in 2Kor 11,32f nicht vorkommt. Ähnlich argumentiert SUNDERMANN, Apostel, 152–155.

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13.3.2

Teil III: Exegetischer Ausblick auf 2Kor 10–13

Leiden und seine Bewältigung im Kontext von 2Kor 12,1–10

Der Abschnitt 2Kor 12,1–10 kann als zweiter Teil der Narrenrede betrachtet werden.53 Die Verse haben in der Forschung eine ausführliche Diskussion erfahren, die hier nicht aufgearbeitet werden soll.54 Dabei sind die Himmelsreise (12,2–4) und die Erzählung eines erbetenen Heilungswunders (12,7–9) als Schwerpunkte herausgegriffen worden. Forschungsthemen sind u. a. der Vergleich zu ähnlichen Berichten in der jüdischen und griechisch-römischen Literatur55 und der (bislang vergebliche) Versuch einer Verortung der Himmelsreise in der paulinischen Biographie.56 Während im vorangehenden Abschnitt das Stichwort ἀφρωσύνη κτλ. gehäuft auftaucht, spricht Paulus in 2Kor 12,1–10 nicht mehr als Narr (12,6). Daher ist anzunehmen, dass die Schilderungen nicht als Parodie zu verstehen sind.57 Vielmehr kündigt er mit 12,1 nun ein ‚echtes‘ Prahlen an, auch wenn das nichts nütze. Von ekstatischen Erlebnissen berichte er nur, weil er sich damit auf das Erwartungsniveau von Gegnern und Gemeinde einlasse (vgl. 12,11–13).58 Tatsächlich dient der Bericht der Himmelsreise in 12,2–4 als Einleitung der nun folgenden erneuten Thematisierung der konkreten paulinischen Schwachheit (12,7–10). Auch die Reflexion der Schwachheit knüpft an eine ekstatische Erfahrung als Audition an. Inhaltlich dürfte sie die Erwartungen

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Die Gliederung schließt sich an die von WINDISCH, Korintherbrief und ARZT-GRABNER, Korinther an, ähnlich SCHMELLER, Brief II, 280 und HECKEL, Kraft. Andere Gliederungen sehen einen Einschnitt nach der Narrenrede erst mit 2Kor 12,19 gegeben, wie z. B. BULTMANN, Brief; SUNDERMANN, Apostel und GRÄßER, Brief II. Die textkritischen Probleme in 2Kor 12,1 erklärt ZMIJEWSKI, Stil, 323f als „bewußte Textgestaltung“. Einen Eindruck in die Breite der Forschungsliteratur zu 2Kor 12,1–10 vermittelt das Verzeichnis bei SCHMELLER, Brief II, 270–275. Vgl. für die Nennung von Himmelsreisen und Heilungswundern in der jüdischen sowie der griechisch-römischen Literatur z. B. SCHMELLER, Brief II, 277. Die Forschung thematisiert auch auch, warum Paulus die Himmelsreise in der dritten Person schildert und ob es sich um eine leibliche oder seelische Himmelsreise handelt. Vergleichbare Schilderungen finden sich sowohl in der jüdischen (z. B. 2Hen 3,1 und TestAbr 8,2f B) als auch in der griechisch-römischen Literatur (z. B. Platon, R. 614b–621b und Plutarch, Ser. Num. Vind. 563d–568a). Paulus kann also auf verschiedene Traditionshintergründe zurückgreifen. Vgl. die Überblicke u. a. bei HEININGER, Paulus, 250; GRÄßER, Brief II, 185 und FURNISH, Corinthians, 525. Der Versuch von MORRAY-JONES, Ascent, 282–284, die in 2Kor 12,2–4 beschriebene Himmelsreise mit dem ekstatischen Erlebnis (γενέσθαι με ἐν ἐκστάσει) aus Apg 22,17–22 zu identifizieren, hat sich als nicht haltbar erwiesen. Vgl. SCHMELLER, Brief II, 284f. Einen Überblick über verschiedene diskutierte Identifikationen bietet z. B. HARRIS, Epistle, 836f. Ein Verständnis von 2Kor 12,1–10 als Parodie, die die ‚Narrenrede‘ fortführt hat BETZ, Apostel, 93 vorgelegt. Das ist in der Forschungsdiskussion weithin diskutiert und z. B. von LITWA, Ascent, 254 als Parodie einer mosaischen Himmelsreise weitergeführt worden. Mit guten Gründen wird eine Interpretation als Parodie von SCHMELLER, Brief II, 286 abgelehnt, während z. B. HEININGER, Paulus, 253 die Klärung der Frage von der brieflichen Intention her versucht, mit der Paulus die Himmelsreise erwähnt. Vgl. GRÄßER, Brief II, 180f und THRALL, Epistle II, 772f.

§ 13 Leidbewältigung in 2Kor 10–13

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der Leserinnen und Leser genauso enttäuscht haben wie der Peristasenkatalog in 11,23ff, da beide gerade nicht die erwarteten Ruhmestaten beinhalten.59 Insgesamt richtet sich der Abschnitt gegen den Vorwurf, der aus 2Kor 10,7– 11 zu erschließen ist: Paulus gehöre nicht zu Christus.60

13.3.2.1 Analyse des geschilderten Leidens Paulus knüpft mit den Begriffen ὀπτασία, ἀποκάλυψις und ἁρπάζω an das Vokabular mystischer und apokalyptischer Texte an.61 Dabei ist durch den parallelen Aufbau von 2Kor 12,2 zu 3f deutlich, dass es sich bei der Schilderung um ein und nicht zwei Erlebnisse handelt.62 In dem Abschnitt spricht Paulus an zwei Stellen von Leiden, was jeweils bei der Analyse zu berücksichtigen ist: 12,7 und 12,10. a) Betroffene: Nach dem Beginn mit der ersten Person Singular in 12,1 formuliert Paulus in 12,2–5 distanzierend in der dritten Person Singular. Das kann als „rein rhetorische Distanznahme“,63 als Verwendung eines typischen Merkmals für Visionsberichte64 oder im Rückgriff auf 12,1 als Ausdruck paulinischer Bescheidenheit gedeutet werden.65 Unabhängig von der konkreten Interpretation in 12,2–5 sind die ab 12,7 berichteten Leiderfahrungen in der Perspektive der ersten Person auf Paulus alleine bezogen. 59

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So auch z. B. SCHMELLER, Brief II, 291 und HEININGER, Paulus, 248. In 1Kor 14,18f erweist sich Paulus ebenfalls als den Korintherinnen und Korinthern überlegener Ekstatiker, schränkt aber gleichzeitig den Stellenwert dieser Geistbegabung massiv ein. Vgl. HECKEL, Kraft, 55. Vgl. GRÄßER, Brief II, 205. Gegen SCHMELLER, Brief II, 308, demzufolge Paulus zumindest zur Zeit der Bitte die Schwachheit als „Gottesferne“ deutet. Der Begriff ὀπτασία ist bei Paulus nur hier belegt, ἀποκάλυψις nur in 2Kor 12,1.7 im Plural, sonst als Offenbarungserlebnis im Singular noch in 1Kor 2,10; 14,6.26.30; Gal 1,12.16; 2,2. Der Begriff ἁρπάζω wird von Paulus nur noch in dem apokalyptischen Stück 1Thess 4,17 verwendet. Vgl. Apk 12,5; Apg 8,39. FURNISH, Corinthians, 525, zeigt die Verbindung zu apokalyptischen Entrückungen anhand des Vorkommens von ἁρπάζω in verschiedenen Entrückungsberichten: SapSal 4,11; 1Hen 39,3f; 52,1f; 2Hen 7,1; 8,1; ApkMos 37,3; Philo, spec. 3,1f; cont. 12, aber auch bei Lukian, Philops. 3. Vgl. zur Himmelsreise insgesamt HECKEL, Kraft, 60–62 sowie WINDISCH, Korintherbrief, 371–380. Das Paradies ist demnach im dritten Himmel verortet. Vgl. HECKEL, Kraft, 57f sowie WINDISCH, Korintherbrief, 371 der das mit einer Gegenüberstellung beider Teile des Entrückungsberichts zeigt. GRÄßER, Brief II, 183f. HECKEL, Kraft, 55f geht von einer Distanzierung zum Sich-Rühmen aus, weil dieses weder zur Entkräftung des Schwachheitsvorwurfs (2Kor 10,10) noch zur Erbauung der Gemeinde (10,8; 12,19; 13,10) beitrage. Die Distanzierung wird durch den zeitlichen Abstand von 14 Jahren verstärkt. So BULTMANN, Brief, 221 unter Bezug auf KÄSEMANN, Legitimität, 64 und mit Vergleichstexten aus der frühen griechischen Literatur. Die Perspektive der dritten Person betont demnach die Passivität im ekstatischen Geschehen. Vgl. WINDISCH, Korintherbrief, 370; KÄSEMANN, Legitimität, 67; MORRAY-JONES, Ascent, 271f und HECKEL, Kraft, 58f. Paulus wolle sich durch das Erlebnis nicht gegenüber anderen Christusglaubenden hervortun. Vgl. für weitere Deutungen SCHMELLER, Brief II, 282–284; GRÄßER, Brief II, 183f sowie HECKEL, Kraft, 58f.

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Teil III: Exegetischer Ausblick auf 2Kor 10–13

b) Betroffenheitsebene: Die Frage, auf welcher Ebene er in 12,7 primär vom Leiden betroffen ist, hängt von der Deutung des σκόλοψ τῇ σαρκί (Pfahl bzw. Dorn/Splitter/Stachel im Fleisch) und der erklärenden Apposition ἄγγελος σατανᾶ, ἵνα με κολαφίζῃ (ein Engel Satans, damit er mich schlägt) ab.66 Es hat viele Versuche gegeben, die hinter diesen Bildern stehende Erfahrung zu identifizieren.67 Der Bezug auf eine Krankheit des Paulus ist inzwischen weit verbreitet, da mit dem ἀσθένεια-Begriff auch in 1Kor 11,30 und Phil 2,26f wahrscheinlich Krankheiten bezeichnet werden.68 Die genaue Krankheit ist für die hier verfolgte Fragestellung nicht entscheidend.69 Da der Paulus-Text einem brieflich-literarischen Genre angehört und die Intention des Autors nicht in einer medizinischen Anamnese der Symptome mit dem Ziel einer Krankheits-Diagnose besteht, wäre die Erhebung eines detaillierten Krankehitsbildes methodisch fragwürdig.70 Jedoch lässt sich das in 2Kor 12,7 beschriebene Leiden zumindest auf der somatisch-physischen Ebene verorten, obwohl es nur in der direkten Deutung thematisiert ist. In 12,10 wird durch die allgemeinen Begriffe des Peristasenkatalogs „Schwachheiten, Misshandlungen, Nöte, Verfolgungen, Beklemmung“ (ἀσθένεια, ὕβρις, ἀνάγκη, διωγμός, στενοχωρία) sowohl ein Bezug zur somatisch-physischen Ebene als auch zur sozial-psychischen Ebene hergestellt.71 c) Leidursachen: Die Interpretation des Dorns im Fleisch als Krankheit legt das damit verbundene Leiden in 12,7 auf die Kategorie eines nicht men66

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Nach SCHMELLER, Brief II, 305–207 kann zunächst für σκόλοψ die nur außerhalb der LXX begegnende Bedeutung ‚Pfahl‘ „als Teil eines Walls oder als Hinrichtungsinstrument“ (305f) ausgeschlossen werden zugunsten der in der LXX belegten Bedeutung ‚Dorn/Splitter/Stachel‘. Die Wendung τῇ σαρκί kann metonymisch auf „die Existenz im Fleisch“ (306), dann auf Gegner oder Verfolger bezogen, oder wahrscheinlicher wörtlich auf den Körper bezogen werden als körperliche Krankheit. Vgl. z. B. SCHMELLER, Brief II, 305–307 und THRALL, Epistle, 809–818 für einen Überblick. So z. B. THRALL, Epistle II, 818; WEHR, Funktion, 212 und WINDISCH, Korintherbrief, 385–388. Als weitere Interpretationen wurde erstens das Leiden psychologisch gedeutet, z. B. als fleischliche Anfechtung oder den Kummer über nicht konversionswillige jüdische Gefolgsleute (vgl. Röm 9,1–5). Zweitens wurde es auf Gegner des Paulus speziell in Korinth gedeutet, wobei die ursprüngliche Bedeutung des hebräischen ‫ שׂטן‬als ‚Widersacher‘ eingesetzt wird (vgl. 1Kön 5,18; Num 22,22). Vgl. THRALL, Epistle II, 809–818; HARRIS, Epistle, 858; HECKEL, Kraft, 81 und DERS., Dorn, 65–92. Schließlich wird der Engel Satans selten auch als tatsächliches Zwischenwesen gedeutet, z. B. von MORRAY-JONES, Ascent, 276f. Meistens geht man heute von Kopfschmerzen aus, die ggf. als bohrend (σκόλοψ), pochend (κολαφίζω, wobei auch die allgemeine Bedeutung: ‚misshandeln‘ vorliegen kann) und wegen der Präsensform als andauernd beschrieben sind. Vgl. SCHMELLER, Brief II, 307 und für eine detailliertere Übersicht verschiedener Deutungen im Zusammanhang mit Gal 4,13f z. B. HECKEL, Dorn. V. BENDEMANN, Körperkonzeptionen, 188 warnt vor einer Verbindung von 2Kor 12,7–9 und Gal 4,13f, die sich erst als Zirkelschluss durch die Vermutung einer Krankheit an beiden Stellen ergebe. Vgl. zum methodisch problematischen Vorgehen vieler Exegesen in der Frage der Krankheit des Paulus V. BENDEMANN, Körperkonzeptionen, 186–188. ARZT-GRABNER, Korinther, 513f hält zu 2Kor 12,10 fest, dass sich ὕβρις in den Papyri eher auf die sozial-psychische Ebene bezieht. Für διωγμός weist er auch den Bezug zur „Treibjagd“ auf Beduinen nach. Vgl. für ἀνάγκη, διωγμός und στενοχωρία § 4.5.3–4.5.5.

§ 13 Leidbewältigung in 2Kor 10–13

247

schenverursachten Ereignisses fest. Anders ist der kurze Peristasenkatalog von 12,10 zu bewerten: Zumindest die Begriffe ὕβρις und διωγμός weisen eindeutig auf einen Hintergrund aus Handlungen hin, während die übrigen Begriffe weitere Interpretationen zulassen.72 d) Leidverantwortliche: Für das Ereignis der Krankheit kann die Frage nach Verantwortlichen nicht sinnvoll beantwortet werden. Eine mögliche mythologisch begründete Rückführung auf Satan oder Gott gehört zu den Strategien der Leidbewältigung. Die als Schwachheiten in 12,10 aufgelisteten Leiden verweisen wahrscheinlich wie im Peristasenkatalog von 4,8f auf eine Verantwortlichkeit außerhalb der Beziehung von Gemeinde und Apostel.73

13.3.2.2 Strategien zur Leidbewältigung Wie bereits in 2Kor 11,23ff ordnet Paulus auch hier dem Leiden positive Wirkungen zu. 1. Bewahrung vor Überheblichkeit: Die erste Strategie wird von Paulus in 12,7 zweimal mit identischer Formulierung ausgedrückt.74 Final bestimmt hat der Dorn im Fleisch die positive Wirkung, dass Paulus sich nicht überhebe (ἵνα μὴ ὑπεραίρομαι), wozu das Übermaß seiner Offenbarungserlebnisse sonst möglicherweise führen könnte.75 Die Formulierungen im Präsens sind durativ zu interpretieren und deuten damit evtl. auf eine chronische und jedenfalls nicht einmalige Krankheit hin.76 Wie die Krankheit so könnten auch die Offenbarungen als kontinuierlich verstanden sein, sodass Paulus ein dauerhaftes Korrektiv benötigt. Enge Parallelen bestehen zu 2Kor 1,8 und 4,7: An allen drei Stellen wird durch eine Formulierung mit ἵνα μὴ unterstrichen, dass Leiden vor dem Vertrauen auf eigene Vorzüge bewahren soll: in 1,8 vor Vertrauen auf sich selbst, in 4,7 vor dem Missverständnis, die Kraft käme aus sich selbst.77 Neben dem unterschiedlichen Bezug – dort PaulusGruppe, hier Paulus alleine – bestehen auch inhaltlich Unterschiede: In 1,8 und 4,7 ist die Formulierung der Wirkung nicht nur negativ („damit 72

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In dieser Reihe könnte speziell in Verbindung mit στενοχωρία wie bereits in 2Kor 4,8; 6,4 auch θλῖψις auftauchen. Vgl. für die Bedeutung von ἀνάγκη § 4.5.3. Eine Anspielung auf Sorgen um die Gemeinden wie in 2Kor 11,28 ist nicht anzunehmen, weil sie erstens nicht explizit thematisiert ist, zweitens bereits im Peristasenkatalog kurz vorher erwähnt ist und drittens für die knappe Auflistung im Vergleich zu 2Kor 4,8f untypisch wäre. ZMIJEWSKI, Stil, 366 erklärt die Struktur des Verses als chiastische Anordnung der rahmenden positiv konnotierten Verben: μὴ ὑπεραίρομαι – ἐδόθη – κολαφίζῃ – μὴ ὑπεραίρομαι. Vgl. HECKEL, Kraft, 82f; GRÄßER, Brief II, 197 und WINDISCH, Korintherbrief, 382 u. 385 mit Verweis auf motivische Übereinstimmungen bei Philo, somn. 1,130f zu Jakobs Kampf am Jabbok. Vgl. GRÄßER, Brief II, 198 und HECKEL, Kraft, 80. Anders ZEILINGER, Krieg I, 109f mit dem richtigen Hinweis, dass für Paulus nicht die Art der Krankheit, sondern die Deutung entscheidend sei. Leiden als göttliche Erziehung kennen auch 2Makk 6,16; Ψ 117,17f; Spr 3,11f; SapSal 3,5f.

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Teil III: Exegetischer Ausblick auf 2Kor 10–13

nicht …“), sondern auch positiv ausgedrückt, da das Leiden zu Vertrauen auf Gott und den Erweis der Kraft als von Gott bewirken soll. Diese positive Formulierung fehlt in 12,7. 2. Schwachheit zeigt positives Christusverhältnis: Obwohl ein Ereignis keine Bestimmung von Verursachenden zulässt, benennt Paulus dennoch zunächst die mythologische Figur eines Satansengels als Ursache.78 Bereits davor drückt er mit dem Verb ἐδόθη im passivum divinum aus, dass er seine Krankheit womöglich für gottgegeben hält.79 Damit werden einem Sachverhalt zwei Verursachende zugeschrieben: Die mythologische Vorstellung, dass der Satan Krankheiten bewirkt, ist für die neutestamentliche Zeit geläufig (vgl. Hi 1,10–12; 2,3–7; Lk 13,10–17).80 Da die Wirkung des Satansengels jedoch als Apposition an das passivum divinum ἐδόθη angefügt ist, wird das Schlagen des Satansengels der Gotteswirkung des Dorns im Fleisch untergeordnet.81 Die Leiderfahrung wird also auf ein Wirken Gottes zurückgeführt, wie es auch in 2Kor 4,10; 6,10 durch passiva divina der Fall war.82 Daraus erklärt sich die Bitte in 12,8, Gott möge von Paulus ablassen.83 Die gottgegebene Krankheit kann in einen Zusammenhang zum weisheitlichen Verständnis der Erziehung Gottes gebracht werden (vgl. 6,9).84 Sie ist demnach gerade kein Zeichen von Gottesferne oder Gottlosigkeit, wie das von der korinthischen Gemeinde im Rahmen eines verbreiteten SchuldDenkens gemutmaßt worden sein könnte:85 „Denn wen der Herr liebt, den

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Vgl. KLAUCK, 2. Korintherbrief, 93; HECKEL, Kraft, 79 und ZMIJEWSKI, Stil, 370–372. Vgl. GRÄßER, Brief II, 197; ZMIJEWSKI, Stil, 368; HECKEL, Kraft, 78f und DERS., Dorn, 70, wonach Satan hier nicht Gegenspieler Gottes ist, sondern „Erfüllungsgehilfe im Dienst göttlicher Absichten“. Vgl. GRÄßER, Brief II, 198 und THRALL, Epistle II, 807f. So auch SCHMELLER, Brief II, 305 und GRÄßER, Brief II, 198. Vgl. HECKEL, Kraft, 82 mit Verweis auf Hi 2,6f und TestHi 20. Vgl. SCHMELLER, Brief II, 307: Satan oder sein Engel kann „im Auftrag Gottes für Krankheiten verantwortlich sein“. HARRIS, Epistle, 856 spricht sich gegen eine doppelte Urheberschaft der Leiderfahrung aus. Er sieht Gott als Urheber des Dorns, den jedoch der Satan benutze. M. E. bittet Paulus, dass Gott als Leidverursacher von ihm weiche. Als Subjekt von ἀποστῇ ἀπ’ἐμοῦ den Satansengel oder den Dorn im Fleisch anzunehmen, den der Herr von ihm nehmen solle, ist grammatisch nicht naheliegend. Vgl. für ἀφίστημι bereits das Ablassen des Satans nach Lk 4,13. In Hi 7,16 bittet Hiob Gott, dass er von ihm weiche (ἀφίστημι, vgl. ähnlich 9,34 mit dem Begriff ἀπαλάσσω). Der Begriff ἀπόστα begegnet ferner in Hi 14,6 und als Wunsch der Gottlosen in 21,14. In Ψ 21,12; 34,22; 37,22 begegnet die Bitte, Gott möge gerade nicht vom Betenden weichen. Vgl. HECKEL, Kraft, 82f und ZMIJEWSKI, Stil, 373 sowie § 10.3.4 zu 2Kor 6,9 mit Belegen zur Verwendung von παιδεύω κτλ. in der jüdischen Tradition. HECKEL, Kraft, 83 weist auf solche Vorwürfe aus der Gemeinde in 2Kor 1,12.17; 10,2 hin. In Joh 9,2 kritisiere Jesus dieses Denken, was von Paulus selbst in 1Kor 11,30ff verwendet werde. WICHMANN, Leidenstheologie, 9 erkennt eine Wandlung im jüdischen Leidensverständnis von einem Zeichen der Verworfenheit hin zu einer Interpretation als „Zeichen der Annahme durch Gott“.

§ 13 Leidbewältigung in 2Kor 10–13

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züchtigt/erzieht er“ (Spr 3,11f; vgl. SapSal 3,5f).86 Diese positive Beziehung von Paulus zu Christus wird nochmals in 12,8f verdeutlicht, wo Paulus von einer Gebetserhörung berichtet. Obwohl sein Wunsch nach einem Ende des Leidens nicht erfüllt wird, erhält er doch eine Antwort. 3. Erweis der Schwachheit als Ort der Christuskraft: In 12,9 wird zum ersten Mal seit der Nennung des Schwachheitsvorwurfs in 10,10 der δύναμις-Begriff verwendet.87 Zunächst ist die Antwort des Herrn ein „verdecktes Nein“88 auf die Frage, ob Christus den Dorn entfernen könne. Die Aussage „Meine Gnade genügt dir“ verweist Paulus allerdings nicht nach kynisch-stoischem Vorbild zurück auf seine eigene Kraft, wie dies das Verb ἀρκέω (ausreichen, genügen) suggerieren kann.89 Vielmehr konstatiert sie „ohne Einschränkung das Genügen und Ausreichen der göttlichen Gnade“.90 Der stoischen Anthropologie zufolge müsste man durch die gottgegebene Kraft eigentlich in der Lage sein, Erfahrungen von Schwachheit durch Vernunft und Übung in der Philosophie abzuwenden.91 Für Paulus dagegen ist die Schwachheit der real erlebte Zustand des Menschen, der sich Leiden und Tod ausgeliefert sieht. In diesem Zustand wirkt Christus. Das Leiden unter der Schwachheit hat also die positive Wirkung, dass darin Kraft und Gnade Christi vollendet werden können (ἐπιτελέω).92 Die persönliche Konsequenz dieser offenbarten Einsicht drückt Paulus in einer finalen Wendung dadurch aus, dass er sich in seinen Schwachheiten rühmt, damit (ἵνα) die Kraft Christi in ihm wohne (ἐπισκηνόω). So erklärt sich das Bejahen (εὐδοκέω) der Schwachheiten des Peristasenkatalogs in 12,10, was schließlich in die paradoxe Schlussaussage mündet: „Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.“93 Das ist begründet in der offenbarten Erkenntnis, der zufolge das Leiden die positive Wirkung hat, den Raum für die Kraft und Gnade Christi zu schaffen. Ähnlich sind bereits in 4,7 als Schatz in Tongefäßen die Apostel als fragiler Raum für den Aposteldienst 86

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Nebenbei beinhaltet dies eine polemische Spitze gegen Gegner, die wie die Fremdvölker in der jüdischen Tradition kein Leiden von Gott empfangen, dafür aber eschatologisch verloren gehen. Vgl. SapSal 3,9–12; 12,22; PsSal 13,7–12; 2Makk 6,12–16 und § 10.3.4 zu 2Kor 6,9. Vgl. HECKEL, Kraft, 91 in seiner ausführlichen Untersuchung des Herrenworts (86–95). GRÄßER, Brief II, 202, Hervorhebung im Original. Vgl. HECKEL, Kraft, 88. Vgl. GRÄßER, Brief II, 202 mit Verweis auf das hier nicht gemeinte stoische Autarkie-Ideal z. B. bei Epiktet, Diss. 1,1,4–7; Seneca, Epist. 41,4f; 78,16.20. Dagegen verweist er auf PsSal 16,11f. HECKEL, Kraft, 88, Hervorhebung im Original. Vgl. HARRIS, Epistle, 861f. Vgl. BULTMANN, Brief, 228 und HECKEL, Kraft, 280, der dazu neben den Stellen von GRÄßER auch auf Peristasenkataloge bei Epiktet, Diss. 2,19,24 und Seneca, Epist. 30,1.3 verweist. Vgl. die Stellenangaben bei HECKEL, Kraft, 93f für den Begriff τελέω im Kontext der Erfüllung des Willens Gottes bei Gebeten, Orakeln, Drohungen und Schriftweissagungen. Vgl. z. B. CHOI, Peristasenkataloge, 236 für den Gedanken, dass das Herrenwort für Paulus eine Umwertung der eigenen Schwachheit bewirkt. HECKEL, Kraft, 108f widerlegt die Auslegung des εὐδοκέω im Zusammenhang mit der Freude im Leiden. Dazu zeigt er anhand der LXX „Wohlgefallen haben“ (108) als angemessene Übersetzung und weist nach, dass die Auslegung als „Verbum der Freude“ erstmals bei den Kirchenvätern auftritt.

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Teil III: Exegetischer Ausblick auf 2Kor 10–13

dargestellt worden. Die eigene Kraft des Paulus spielt dabei keine Rolle. Die Pointe liegt gerade darin, dass sich die Kraft Christi paradoxerweise als Leiden und im Leiden erweist.

13.3.3

2Kor 13,1–10

Nach einem Rückblick auf die Narrenrede in 12,11–13 geht Paulus zu einer Vorschau auf seinen dritten Besuch in der Gemeinde über (12,14–21). In 13,1 setzt er damit wieder neu an. Er wolle bei einem nächsten Kommen – falls nötig – die Gemeinde nicht schonen, sondern sich durch hartes Durchgreifen als stark erweisen. Damit könnte er zeigen, dass Christus mit der Kraft Gottes durch die Paulus-Gruppe spreche (13,1–4). Danach fordert er die Gemeinde zur Selbstprüfung auf, ob sie das von der Paulus-Gruppe initiierte Wirken Jesu Christi an sich erkenne. Das zielt auf Einsicht und Verhaltensänderung, sodass die Paulus-Gruppe ihre Vollmacht nicht zur Bestrafung nutzen muss (13,5–10). Im vorliegenden Abschnitt kommt zwar der Begriff ἀσθένεια κτλ. vor, bezeichnet aber keine konkreten Leiderfahrungen. Vielmehr erläutert Paulus damit in 13,3f und 13,9 das Verhältnis von Kraft und Schwachheit in christologischer Zuspitzung. Statt einer Leidanalyse werde ich daher an beiden Stellen untersuchen, inwiefern Paulus durch die Erläuterung des Christusund Gottesbezugs zur Kraft/Schwachheit die theologische Begründung für Leidbewältigungsstrategien an anderer Stelle legt.

13.3.3.1 Begründung der Leidens-Parallele zum Christusgeschehen (13,3f) In 13,3a thematisiert Paulus einen von der korinthischen Gemeinde erlebten Widerspruch: Wenn doch Christus unter ihnen stark ist (δυνατεῖ ἐν ὑμῖν), wie kann er dann in einem als schwach erlebten Apostel sprechen (vgl. 10,10)? Das verweist wahrscheinlich auf Gegner, die nicht einen schwachen, sondern einen starken Christus mit Wundertaten verkündigen.94 Also erwartet die Gemeinde einen Beweis dafür, dass überhaupt Christus in Paulus spricht (vgl. 10,18). Diesen Beweis führt Paulus nun durch und erklärt so die widersprüchlichen Pointen aus 12,9.10.95 In 13,3b.4 wechselt die Erzählperspektive in die erste Person Plural. Durch parallel gegliederte Sätze stellt Paulus das ebenso parallele Ergehen von 94

95

HECKEL, Kraft, 121 verweist auf die Forderung nach Apostelzeichen und Wundertaten in 2Kor 12,12. Vgl. HECKEL, Kraft, 141.

§ 13 Leidbewältigung in 2Kor 10–13

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Christus und Paulus-Gruppe dar: Für Christus gilt erstens, dass er in Bezug auf die Gemeinde nicht schwach ist, sondern stark (13,3b) und dass er zweitens in der Vergangenheit gekreuzigt worden ist aus Schwachheit, aber in der Gegenwart aus der Kraft Gottes lebt (13,4a). Die Aussagen für die paulinische Wir-Gruppe sind demgegenüber genau um eine Zeitstufe versetzt: Die Paulus-Gruppe ist gegenwärtig schwach in Christus, wird aber zukünftig aus der Kraft Gottes mit ihm leben (13,4b). Das illustriert die folgende mit geringfügigen Änderungen von U. HECKEL übernommene Tabelle.96 Vergangenheit (Aorist) 13,3b Christus 13,4a Christus 13,4b PaulusGruppe

ἐσταυρώθη ἐξ ἀσθενείας

Gegenwart (Präsens)

Zukunft (Futur)

εἰς ὑμᾶς οὐκ ασθενεῖ, ἀλλὰ δυνατεῖ ἐν ὑμῖν ἀλλὰ ζῇ ἐκ δυνάμεως θεοῦ ἀσθενοῦμεν ἐν αὐτῷ ἀλλὰ ζήσομεν σὺν αὐτῷ ἐκ δυνάμεως θεοῦ εἰς ὑμᾶς

Mit HECKEL ist das Futur ζήσομεν so zu erklären, dass es sich einerseits auf die eschatologische Zukunft und Totenauferweckung bezieht, andererseits aber wegen des Kontexts der Besuchsankündigung und anhand des Gemeindebezugs des εἰς ὑμᾶς (in Bezug auf euch) auch auf die Gegenwart.97 Durch die Zeitstufen wird erstens deutlich, dass die Kreuzigung Christi ein punktuelles Ereignis der Vergangenheit ist, aber sein Leben präsentisch durativ unabgeschlossen gedacht wird. Zweitens sind Tod und Auferweckung in seinem Fall bereits realisiert und dem parallelen Geschehen an den Christusglaubenden zeitlich vorgeordnet (vgl. 1Kor 15,20). Drittens wird die Parallele zu Christus im Plural zwar anhand der paulinischen Wir-Gruppe erläutert, jedoch als möglicherweise allgemeiner Plural auf alle Christusglaubenden bezogen.98 Diese Ausführungen in 13,4 leisten einen Beitrag zum Verständnis der Begründung des parallelen Ergehens von Christus und Glaubenden im Leiden. 96

97 98

Vgl. HECKEL, Kraft, 139. LIM, Sufferings, 191 übersieht in seiner ähnlichen Darstellung, dass die erste ἀσθένεια-Aussage für Christus in Bezug auf die Gemeinde verneint ist. Vgl. HECKEL, Kraft, 133 u. 137f. KRUG, Kraft, 296f verwirft einen eschatologischen Bezug. Vgl. § 5.3 zum allgemeinen Plural sowie GRÄßER, Brief II, 254 und HECKEL, Kraft, 132, für die sich der Bezug auf alle Christusglaubenden in 2Kor 13,3f auch am Schwachheitsbegriff zeigt. Ein kommunikativer Plural ist aufgrund des direkten Gegenübers zur Gemeinde unwahrscheinlich.

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Teil III: Exegetischer Ausblick auf 2Kor 10–13

Erstens liegt die Parallele zwischen Christus und Wir-Gruppe bereits auf der Ebene der ἀσθένεια als anthropologischer Grundvoraussetzung: für Christus als Grund seiner Kreuzigung, für Paulus als gegenwärtiger Zustand des Seins in Christus.99 Christus war demnach vor seiner Auferweckung genauso von Schwachheit bestimmt wie die Wir-Gruppe. Darin liegt die Bedingung der Möglichkeit einer Parallelität zwischen Christus und Christusglaubenden. Denn die Schwachheit ist hier in einem doppelten Sinn zu verstehen, wie das auch für die Kraft- und Lebensaussage gilt: Schwachheit begründet zunächst anthropologisch die „Todesohnmacht“,100 also Sterblichkeit, was mit der eschatologischen Seite des ζήσομαι in 13,4 korrespondiert. Eingeschlossen sind aber auch konkrete Todeserfahrungen wie etwa in 2Kor 1,8; 4,11f; 6,9 und 11,23b. Allgemeiner sind auch die Schwachheiten in 11,23ff und 12,7.10 im näheren Kontext eingeschlossen sowie die Leiderfahrungen unter dem Oberbegriff der θλῖψις in den untersuchten Stellen von 2Kor 1–8.101 Zweitens sind für Christus und die Wir-Gruppe sowohl die erfahrene Kraft als auch das Leben ausschließlich aus der Kraft Gottes begründet (ἐκ δυνάμεως θεοῦ). Wie der Trost in einer „parakletischen Kette“102 in 1,3–7 und 7,5–7 so werden auch hier Leben und Kraft von Christus und WirGruppe in einer „Kausal- und Wirkungskette“103 allein auf Gottes Handeln zurückgeführt (vgl. 2Kor 4,7.14; 1Kor 6,14; Röm 8,11). Durch den allgemeinen Plural in 13,4b sind, wie bereits erwähnt, alle Christusglaubenden in dieses Geschehen einbezogen.104

13.3.3.2 Reflexion der positiven Wirkung des Christusgeschehens (13,3f.9) In der Darstellung von 13,3f wirken sich das Christusgeschehen und das Leiden der Apostel-Gruppe positiv für die Gemeinde aus: Christi Stärke und verneinte Schwäche geschehen ἐν ὑμῖν und εἰς ὑμᾶς, wie auch Schwachsein und Leben des Paulus εἰς ὑμᾶς geschehen. U. HECKEL betont zu Recht, dass

99

100 101

102 103 104

Vgl. für eine kausale Deutung des Gekreuzigt Werdens aus Schwachheit (ἐξ ἀσθένειας) HECKEL, Kraft, 124f mit Verweis auf die entsprechenden Artikel bei BAUER, 231 u. 474 sowie GRÄßER, Brief II, 252f gegen BULTMANN, Brief, 245. HECKEL, Kraft, 132. Vgl. HECKEL, Kraft, 132. Für THRALL, Epistle II, 884f sind hier aufgrund ihres Verständnisses des ζήσομεν nur die konkreten Leiderfahrungen, nicht aber die anthropologische Schwachheit und deren eschatologische Überwindung thematisiert. THOMAS, Art. παρακαλέω, 59. HECKEL, Kraft, 140. Vgl. GRÄßER, Brief II, 252. Die in der Exegese genannten Begründungen der Parallele zwischen Christus und Glaubenden durch mystische Gemeinschaft, Taufe, Glauben oder einer Verbindung daraus greifen also zu kurz.

§ 13 Leidbewältigung in 2Kor 10–13

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hier zwar nicht von einer Stellvertretung Christi gesprochen werden kann.105 Doch diese positive Wirkung von Christus und Apostel („Pro-Existenz“)106 wird durch 13,9 gestärkt, da Paulus eine Veränderung der Pointe des Peristasenkatalogs in 12,10 vornimmt: 12,10: ὅταν γὰρ ἀσθενῶ, τότε δυνατὸς εἰμι. 13,9: (χαίρομεν γὰρ) ὅταν ἡμεῖς ἀσθενῶμεν, ὑμεῖς δὲ δυνατοὶ ἦτε.107 Während die aus dem Schwachsein abgeleitete Christus-Kraft nach 12,9f für Paulus wirksam ist, wirkt sich die Schwachheit der Paulus-Gruppe in 13,9 als Kraft für die Gemeinde aus. Paulus bezieht also in 13,9 seine in 12,10 für sich selbst gegebene Interpretation des Herrenworts von 12,9 auf die Gemeinde. Damit macht er gegen anderslautende Vorwürfe deutlich, dass seine Schwachheit nicht nur christologisch begründet und christusgemäß ist, sondern als Raum für die Kraft Gottes der Gemeinde zugutekommt. Die Kraft der Gemeinde, die nach 13,9b in der Vervollkommnung (ihres Glaubens) besteht, ist auch Gegenstand des dort genannten Gebets der Paulus-Gruppe. Damit wird die Parallele zwischen Christus und Paulus-Gruppe über Schwachheit und Krafterfahrung hinaus ausgeweitet auf den dritten Aspekt der positiven Wirkung des Geschehens: Wie sich das Christusgeschehen in Bezug auf die Gemeinde ereignet (εἰς ὑμᾶς in 13,3b), so kommt auch dessen Parallele an der Apostelgruppe der Gemeinde zugute (εἰς ὑμᾶς in 13,4b). Bereits bei der Darstellung der Leidbewältigungsstrategie in 2Kor 4,10f hat sich gezeigt, dass die Parallelisierung zum Christusgeschehen für Paulus eng mit der positiven Wirkung des Leidens verbunden ist. Denn das Christusgeschehen selbst reicht über die beiden Phasen von Leiden und Auferweckung – in verschiedener Terminologie – hinaus.108 Seine positive Wirkung ist damit als dritter Aspekt untrennbar verbunden.

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Vgl. HECKEL, Kraft, 126f, der aber den Stellvertretungsaspekt an anderen Stellen wie z. B. 1Thess 5,10; 1Kor 8,11; 15,3; 2Kor 5,14f.21; Gal 2,20; 3,13; Röm 5,6.8; 8,32; 14,15 gegeben sieht. In 2Kor 13,4 bleibt er außen vor, da es eben nicht heißt, Christus werde gekreuzigt ἐξ ἀσθενείας ἡμῶν. SCHMELLER, Brief I, 254. Dieser Aspekt der positiven Wirkung des apostolischen Leidens für die Gemeinden ist auch in 1Kor 4,10 und 2Kor 11,7 anhand des ἀσθένεια-Begriffs angesprochen. Vgl. die sehr ähnliche Formulierung in den Antithesen von 1Kor 4,10: ἡμεῖς ἀσθενεῖς, ὑμεῖς δὲ ἰσχυροί. Der Zusammenhang zum Thema von 2Kor 10–13 ist auch durch die Gegenüberstellung ‚wir Narren durch Christus, ihr aber vernünftig in Christus‘ gegeben. Vgl. KRUG, Kraft, 300–305 u. 313. Auch HECKEL, Kraft, 124f u.ö. spricht vom Christusgeschehen, ohne zu erklären, was dieses seiner Interpretation nach für Paulus beinhaltet. Seinen Ausführungen ist jedoch zu entnehmen, dass er von zwei Phasen ausgeht. LIM, Sufferings, 192 betont einen funktionalen Aspekt des Leidens Christi und des Paulus und weist darauf hin, dass dieser über das Leiden auf der somatischen Ebene hinausgeht und mit der Kreuzigung auch soziale Demütigung, also die sozial-psychische Ebene beinhalte. Vgl. die Auswertung der Leidbewältigungsstrategien in § 15.2.1.

254

Teil III: Exegetischer Ausblick auf 2Kor 10–13

13.4 Zwischenfazit Die Skizze des Bedeutungsspektrums von ἀσθένεια κτλ. in § 13.2 hat bereits einige Charakteristika des Begriffs gezeigt, die sich in der Betrachtung der ausgewählten Texte von 2Kor 10–13 bestätigt haben. Dabei wird der Schwachheitsbegriff in den beiden Facetten einer anthropologischen Grundverfassung und einer Bezeichnung für konkrete Leiderfahrungen verwendet. Durch diese Bedeutungsbreite verwendet Paulus ihn abseits von konkretem Leiden auch für die Reflexion von Leiden und Kraft in ihrem Verhältnis zu Christus und Gott. Das semantische Gegenüber zur Kraft (δύναμις κτλ.) ist dabei von großer Bedeutung: Die Spitzenaussagen zur Schwachheit in 12,7.9 und 13,3f.9 profilieren sich gerade durch ihr Gegenüber zur Kraft oder durch ihre Verteilung von Kraft und Schwachheit auf unterschiedliche Bezugsgrößen. Wie in der jüdischen Tradition liegt für Paulus der Ursprung der Kraft nicht im Menschen, sondern bei Gott (2Kor 4,7; vgl. Hebr 5,2; 7,28). Damit hängt zusammen, dass Gottes Wirken im Schwachen erkennbar wird, was sich besonders in Christus zeigt: Er ist schwach (2Kor 13,4) und erhält Leben nur aus der Kraft Gottes (vgl. 1Kor 15,43). In den Texten aus 2Kor 10–13 wird anhand des ἀσθένεια-Begriffs fast ausschließlich Paulus alleine als leidend beschrieben. Bei der theologischen Reflexion der Schwachheit in 13,3f.9 jedoch wird eine Wir-Gruppe einbezogen, die durch einen allgemeinen Plural offen für den Bezug auf alle Christusglaubenden sein kann. Die meisten geschilderten konkreten Leiderfahrungen beziehen sich dabei primär auf die somatisch-physische Ebene. Im Peristasenkatalog von 11,23ff kommen dabei menschliche Handlungen genauso in den Blick wie Ereignisse, die keine menschliche Ursache haben. Als Höhepunkt der Schilderung paulinischer Schwachheit wird in 12,7–9 das Ereignis der paulinischen Krankheit reflektiert, während der knappe Peristasenkatalog in 12,10 aus Handlungen resultiert. Bei der Lokalisierung der Leidverantwortlichen ergibt sich in 2Kor 10–13 ein Schwerpunkt bei Dritten von außerhalb. Lediglich am Rande wird die Sorge um die Gemeinden in 11,28 wie in 2,1–11 und 7,5–11 als Leiden thematisiert. Paulus greift für Leidbewältigungsstrategien wie bereits in den untersuchten Texten aus 2Kor 1–8 auf verschiedene Traditionen und Motive zurück. Im Peristasenkatalog von 11,23ff legen sich starke Bezüge zu profangriechischen Texten nahe (Katalogstil, Ruhmeslisten, Parodie), während 12,1–10 mehr jüdisches Material beinhaltet (apokalyptische und mystische Vision/Audition, mythologische Figuren Satan und Satansengel). Damit spricht Paulus sowohl jüdische als auch ausschließlich hellenistisch-römisch geprägte Gemeindeglieder an.

§ 13 Leidbewältigung in 2Kor 10–13

255

In Bezug auf das Spektrum verwendeter Strategien zur Leidbewältigung ist zu beobachten, dass Paulus hier im Gegensatz zu 2Kor 1–8 dem Leiden in 10–13 ausschließlich positive Wirkweisen zuschreibt.109 Diese haben Ähnlichkeiten zu den in Kapitel 1–8 gefundenen: Der Katalog von 11,23ff erinnert über begriffliche Parallelen hinaus an 6,3ff, da auch dort das Leiden die positive Wirkung haben soll, die vorbildliche Führungsperson für die Gemeinde aufzuzeigen. In 6,4 erweist sich dabei die Paulus-Gruppe als „Diener Gottes“, während sich in 11,23 wiederum christologisch zugespitzt Paulus als „Diener Christi“ bewährt. Die positive Wirkung des Leidens als Schutz vor paulinischer Überheblichkeit (12,7) und als Ort der Kraft-Wirkung Christi (12,9) erinnern stark an 1,9 und 4,7. Dort liegt die positive Wirkung darin, dass die Paulus-Gruppe auf Gott statt auf sich selbst vertraut (1,9) und dass die an ihr demonstrierte Kraft aus Gott und nicht von Menschen komme (4,7). Auch der Gedanke des Leidens vor dem Hintergrund der göttlichen Erziehung als Ausweis eines positiven Christusverhältnisses in 12,7 ist ohne expliziten Christusbezug bereits in 6,9 als Leidbewältigungsstrategie verwendet. Die Leidensreflexionen von 13,3f.9 bilden eine Grundlage für andere Strategien, die mit einer positiven Wirkungszuschreibung oder einer Parallelisierung von Leidenden zum Christusgeschehen zusammenhängen. An dem kurzen Ausblick auf 2Kor 10–13 wird deutlich, dass diese Kapitel gegenüber 1–8 keine grundsätzlich neuen Strategien zur Leidbewältigung enthalten. Auch die Beendung von leidverursachenden Widerfahrnissen durch Gott wird thematisiert, bleibt allerdings in 12,8 im Gegensatz zu 1,8– 10 und 7,5–7 aus. Gleiches gilt für das Vorkommen von Strategien zur Leidvermeidung in beiden Abschnitten (2,1ff; 8,13; 11,32f). Für die Beurteilung der Redaktionsgeschichte des 2. Korintherbriefes ist also festzuhalten, dass Paulus gegenüber der korinthischen Gemeinde in Bezug auf die mögliche Bewältigung von Leiden eine kohärente Position vertreten hat. Das ist unabhängig davon, ob er diese in einem oder mehreren Briefen nach Korinth geschickt hat. Je nachdem, ob im Fall einer ursprünglichen Zweiteilung des 2. Korintherbriefs die Kapitel 10–13 als ‚Tränenbrief‘ zeitlich vor oder nach 1–8 eingeordnet werden, kann man von einer Ausweitung oder Eingrenzung der von Paulus verwendeten Strategien in der Korrespondenz nach dem 1. Korintherbrief sprechen.

109

Die genannten Beobachtungen aus der Leidanalyse unterstreichen genauso die Zäsur zwischen 2Kor 1–8 und 10–13 wie auch die Reduktion auf eine Leidbewältigungsstrategie. Sollten beide Teile nacheinander entstanden sein, wäre eine Verengung oder eine Ausweitung des Spektrums verwendeter Leidbewältigungsstrategien zu erkennen. Jedoch können diese Beobachtungen höchstens als Indizien für redaktionsgeschichtliche Hypothesen herangezogen werden.

Teil IV Zusammenfassende Auswertung und Ertrag Teil IV: Zusammenfassende Auswertung und Ertrag

Vor der Auswertung möchte ich noch einmal das bisherige Vorgehen in Erinnerung rufen. Die Untersuchung des Umgangs mit dem Leiden im 2. Korintherbrief erfolgte ausgehend von den in § 1.6.1 festgestellten Desiderata der bisherigen Forschung. Diese bestehen methodisch besonders in einem ungeklärten Verständnis von Leiden, einer wenig transparenten Auswahl der untersuchten Stellen und der Vernachlässigung exegetischer Themen des Briefes. Inhaltlich wurde bisher kaum überzeugend dargelegt, welche Arten von Leiden Paulus jeweils erwähnt, wie sich dessen Deutungen zueinander verhalten und wie der Stellenwert des Leidens von Apostel und Gemeinde zu bewerten ist. Daraus resultierten die in § 1.6.2 genannten Leitfragen. Diese zielten erstens auf die Art des thematisierten Leidens und zweitens auf die paulinischen Strategien zu dessen Bewältigung. Drittens sollte erörtert werden, ob ein einziges paulinisches Modell zur Leidbewältigung nachzuweisen ist, wie das fast alle im Forschungsüberblick dargestellten Arbeiten versucht haben. Viertens war zu klären, ob Paulus die genannten Strategien zur Leidbewältigung im Hinblick darauf auswählt, welcher Art das im konkreten Textabschnitt thematisierte Leiden ist oder wer jeweils davon betroffen ist. Dabei lag fünftens besonderes Augenmerk darauf, ob von einer besonderen Bedeutung des paulinischen Leidens gegenüber dem Leiden der Gemeinde gesprochen werden kann, wie das auch in neueren Forschungsbeiträgen getan wird.1 Daraus ergab sich das folgende Vorgehen. Zunächst wurde für die Untersuchung ein phänomenbezogenes Verständnis des Leidens zugrunde gelegt. Dementsprechend verstandene Erfahrungen von Leiden und Strategien zu seiner Bewältigung sind in Einzelexegesen untersucht worden. Für eine transparente Auswahl der zu behandelnden Textpassagen wurde dieser systematisch-theologisch reflektierte Zugang über das Leidensverständnis mit einer begriffsgeschichtlichen Herangehensweise verbunden. Dazu wurden die Textpassagen anhand der Belege des bei Paulus wichtigen und zuvor eingehend untersuchten Begriffs θλῖψις κτλ. (Druck, Bedrängnis) festgelegt. Bei der Exegese wurden die historische Situation der korinthischen Ge1

Vgl. die in § 1.4.1 und 1.4.2 dargestellten Beiträge von M. WOLTER und K. Y. LIM, aber auch den traditionsgeschichtlichen Zugang von J. KRUG in § 1.5.

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Teil IV: Zusammenfassende Auswertung und Ertrag

meinde sowie der literarkritische und redaktionsgeschichtliche Forschungsstand zum 2. Korintherbrief einbezogen. Die Untersuchung des Leidens in den Einzelexegesen erfolgte außerdem unter Berücksichtigung möglicher Traditionsrückgriffe und Parallelen in den anderen Paulus-Briefen. Danach wurden die Strategien zur Leidbewältigung in den Texten dargelegt. Da dem Vorkommen des θλῖψις-Begriffs entsprechend eine Konzentration auf Texte aus 2Kor 1–8 erfolgte, wurde im Anschluss noch ein kurzer exegetischer Ausblick auf die Leidensthematik in den bereits häufig untersuchten Kapiteln 2Kor 10–13 gegeben. Dieser erfolgte anhand des Begriffs ἀσθένεια κτλ. (Schwachheit, Krankheit), wobei auf die Ergebnisse der günstigen Forschungslage zurückgegriffen werden konnte.

§ 14 Auswertung der angewandten Methodik § 14 Auswertung der angewandten Methodik

Vor der inhaltlichen Auswertung des Vorgehens soll zunächst die Anwendung des gewählten Zugangs mittels des phänomenbezogenen Leidverständnisses und ausgewählter Begriffe reflektiert werden. Einige Ergebnisse werden hier bereits einfließen.

14.1 Phänomenbezogenes Verständnis des Leidens Das phänomenbezogene Verständnis des Leidens, das zu Beginn der Arbeit im Anschluss an die gegenwärtige dogmatische und religionsphilosophische Diskussion dargestellt wurde, kann in nuce wie folgt beschrieben werden:1 Leiden ist das Erleben eines schmerzhaften Widerfahrnisses als sinnlos und jedes verständliche Maß übersteigend. Das ist nur aus der Perspektive der Leidenden selbst zu bestimmen. Denn die Leidenden erleben sich dabei überwiegend als passiv und sind zunächst handlungs- und deutungsunfähig. Wenn das leidverursachende Widerfahrnis nicht vermieden oder beendet werden kann, fordert es zu einer Interpretation heraus, um es bewältigen und in bisherige oder neu zu erschließende Deutungshorizonte integrieren zu können. Strategien zu so verstandener Leidbewältigung können zwar den Leidenden von außen angeboten oder mit ihnen erarbeitet werden, wobei sich aber subjektiv und im Einzelfall entscheidet, ob die Leidbewältigung tatsächlich gelingt.2 Erstens hat sich dieses phänomenbezogene Verständnis des Leidens für die Untersuchung bewährt, da sie ermöglicht hat, die Schilderungen von Leiden in den untersuchten Texten differenziert zu betrachten. So konnte in vielen Fällen nicht nur gezeigt werden, wer jeweils von den leidverursachenden Widerfahrnissen betroffen und wer dafür verantwortlich ist, sondern auch, ob diese die Betroffenen primär auf der somatisch-physischen oder der sozial-psychischen Ebene treffen. Dabei konnte auch für Paulus an der Einsicht festgehalten werden, dass Leidende immer auf beiden Ebenen betroffen sind, was aber eine Verortung der primären Einwirkungsebene nicht ausschließt, 1 2

Vgl. § 2 zum hier zugrundegelegten Verständnis von Leiden und dem Umgang damit. Vgl. DALFERTH, Leiden, 97–99, der darauf hinweist, dass es „auch ein nicht zu rechtfertigendes Zuviel des Leidens“ (Hervorhebung im Original) gibt, aus dem nichts zu lernen sei oder dem keine Funktion zugeordnet werden könne.

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Teil IV: Zusammenfassende Auswertung und Ertrag

von der aus das Leiden auf den ganzen Menschen übergreift. Weiterhin konnten die Leidursachen im Hinblick darauf untersucht werden, ob sie aus menschenverantworteten Handlungen oder aus nicht menschenverursachten Ereignissen entstanden sind. Allerdings wurde bei der Analyse auch deutlich, dass die Differenzierung nicht immer durchführbar ist. Einerseits sind im Falle der anthropologischen Verortung des Leidens häufig beide Ebenen miteinander verwoben und kaum sinnvoll zu trennen. Andererseits ist gerade im Fall der Armut, die in 2Kor 6,10 und 8,2 als mögliche Leidursache thematisiert wird, eine Zuordnung zur Verursachung durch Handlungen oder Ereignisse schwer möglich. Das liegt sowohl in den spärlichen Informationen des Kontexts als auch im Phänomen der Armut selbst begründet, die durch gesellschaftliche Strukturen, Naturereignisse und viele andere Elemente verursacht sein kann. Zweitens habe ich durch das zugrunde gelegte Verständnis des Leidens transparent gemacht, wie Leiden und Strategien zu seiner Bewältigung in meiner Untersuchung verstanden werden. Damit haben sich unter Einbeziehung hermeneutischer Reflexionen an den Paulus-Texten aussagekräftige Ergebnisse erzielen lassen, die in der Auswertung unter § 15 dargestellt werden.3 Von den untersuchten Texten her ist jedoch ein weiterer Aspekt kritisch anzufragen. Da in diesem phänomenbezogenen Verständnis der sozial isolierende Charakter des Leidens eine Rolle spielt, könnte es in 2Kor 1–8 fast keine Leidensphänomene im engeren Sinn geben:4 In den meisten Fällen wird entweder eine paulinische Gruppe in der ersten Person Plural genannt oder seltener die angeschriebene Gemeinde als Gruppe angesprochen. Von einem durch Leiden möglicherweise isolierten Einzelnen ist für Paulus in 2Kor 2,1–4; 11,23ff; 12,7–10 sowie für ein Gemeindeglied in 2,6f die Rede. An den übrigen Stellen ist eine durch das Leiden begründete Vereinzelung und Abschottung bereits durch die Ansprache als Gruppe durchbrochen. Dagegen erscheint es plausibel, dass auch eine Gruppe von Personen sowohl auf der physisch-somatischen wie auch auf der sozial-psychischen Ebene Leiden erfahren kann: Man denke nur an eine Familie, die einen Angehörigen verloren hat und durch das erlebte Leid von der übrigen Gesellschaft in sich isoliert ist. Dass der Einbezug in eine Gruppe bei der Findung von Leidbewältigungsstrategien hilfreich sein kann, bleibt davon unberührt. Die Erzählperspektive der ersten Person Plural könnte bereits als Leidbewältigungsstrategie verstanden werden, da Paulus sich dadurch literarisch einer Gruppe zuordnet. Das bleibt jedoch im Blick auf die Texte hypothetisch.

3 4

Vgl. die hermeneutischen Vorüberlegungen zum Vorgehen der Untersuchung in § 3. Vgl. für den isolierenden Charakter des Leidens z. B. DALFERTH, Leiden, 125f; SÖLLE, Leiden, 89 und EICHER, Leiden, 451.

§ 14 Auswertung der angewandten Methodik

261

14.2 Bedeutung von θλῖψις und ἀσθένεια κτλ. für die Leidinterpretation Für eine Untersuchung von Leiden im 2. Korintherbrief haben sich aufgrund ihres etwa gleich häufigen Vorkommens besonders zwei Begriffe nahegelegt: θλῖψις und ἀσθένεια κτλ.5 Da der zweite bereits häufig Gegenstand von Forschungsbeiträgen gewesen ist, habe ich zur Identifizierung relevanter Stellen für die Untersuchung zunächst den Begriff θλῖψις κτλ. gewählt. Dieser ist bisher noch kaum erforscht. Von seiner wörtlichen Bedeutung her beschreibt er in naturwissenschaftlichen und medizinischen Texten das Leiden bildlich als Druck oder Quetschung, während er in seiner übertragenen Bedeutung häufig im militärischen Bereich die Bedrängnis wie in einem Kampf bezeichnet. Ausgehend von diesen beiden Verwendungskontexten bezeichnet θλῖψις κτλ. bereits in profangriechischen und jüdischen Texten Widerfahrnisse. Diese werden damit als Bedrängnisse beschrieben und das dadurch verursachte Leiden als drückend oder pressend. Der begriffsgeschichtliche Überblick hat gezeigt, dass sich die Bedrängnis meistens auf die somatischphysische Ebene bezieht. Bei dem Stoiker Epiktet konnte im begriffsgeschichtlichen Teil nachgewiesen werden, dass der Begriff bereits in der Antike für ähnliche Differenzierungen des Leidensphänomens verwendet werden kann, wie sie in meiner Untersuchung vorgenommen werden.6 Innerhalb der jüdischen Tradition ist θλῖψις κτλ. sowohl in erzählenden Texten zu finden wie auch in der Prophetie, der Weisheit, der Apokalyptik und den Psalmen. In den außerpaulinischen Texten des NT war die vielfache Verwendung in apokalyptisch geprägten Textstücken auffällig. Dieser spezielle Verwendungskontext war für die untersuchten Paulus-Texte nicht gleichermaßen häufig. Θλῖψις κτλ. hat sich insofern als weiterführender Leitbegriff für die Untersuchung erwiesen, als er semantisch nicht auf ein konkretes leidverursachendes Widerfahrnis festgelegt ist, sondern die näheren Umstände des Leidens offen lassen kann. Diese werden erst durch begleitende Begriffe und den Kontext verdeutlicht. Insofern fungiert θλῖψις κτλ. als transparentes Auswahlkriterium für die einzubeziehenden Textpassagen im 2. Korintherbrief, an denen Paulus das Leiden und seine Bewältigung thematisiert. Dabei ist wichtig zu betonen, dass nicht nur das Leiden untersucht wurde, das mit dem Begriff θλῖψις κτλ. beschrieben wird. Vielmehr wurden anhand des Begriffs die entsprechenden Stellen ausgewählt, an denen die paulinische Leid-

5

6

Auch der Begriff λύπη/λυπέω kommt häufig vor. Vgl. § 4.5.2 für eine nähere Betrachtung eine Begründung, weshalb er nicht als Leitbegriff fungiert. Vgl. § 4.1.3 zur Rolle von θλῖψις κτλ. bei Epiktet.

262

Teil IV: Zusammenfassende Auswertung und Ertrag

interpretation auch unter Berücksichtigung weiterer Begriffe untersucht wird. Das Verb θλίβω drückt im 2. Korintherbrief niemals aktive Handlungen aus und das Substantiv θλῖψις wird nie so dargestellt, dass die Bedrängnis von Apostel oder Gemeinde ausgeht. Das entspricht dem begriffsgeschichtlichen Befund: Auch in der LXX sind Gottesvolk und exemplarische Einzelne immer passiv davon betroffen und verursachen die Bedrängnis nie selbst. Eine positiv gewertete Bedrängnis, die sich gegen die Feinde/Gegner richtet, wie sie z. B. in Jes 63 vorkommt, wird bei Paulus nicht erwähnt.7 Der Begriff ist im 2. Korintherbrief mit Ausnahme der beispielhaft genannten bedrängten makedonischen Gemeinden (8,2) und die sich durch ein zu großes Spendenaufkommen potentiell selbst bedrängende korinthische Gemeinde (8,13) immer auf Paulus oder die Paulus-Gruppe bezogen. Darüber hinaus werden die paulinischen Leiderfahrungen mit einer Vielzahl an konkreten Begriffen wie Schläge, Gefängnisse, Schlaflosigkeit in 6,5 und Verfolgung in 4,9 (vgl. 11,24–27) thematisiert. Sie können aber auch allgemeiner beschrieben werden als Leiden (1,5–7), Bedrücken (1,8) und Beklemmung (6,4, vgl. 12,10). Diese Begriffsvielfalt kann als Entsprechung zum Phänomenbezug des Leidens gesehen werden, nach der dieses jeweils subjektiv ist und situativ vielfältige Ausprägungen hat. Das paulinische Leiden ist also terminologisch hervorgehoben, da leidverursachende Widerfahrnisse für die Gemeinde vorzugsweise als Trauer (1,23ff; 7,5ff) und Leiden (1,3–7) beschrieben sind. Für den exegetischen Ausblick auf 2Kor 10–13 habe ich den bereits vielfach erforschten Begriff ἀσθένεια κτλ. gewählt, da er einerseits die Schwachheit als anthropologisches Kennzeichen des Menschen ausdrückt und andererseits für konkrete Schwachheiten im Sinne von Krankheiten, Eigenschaftsschwächen oder Leidenserfahrungen stehen kann. Paulus beschreibt für sich selbst konkrete Schwachheiten im dargelegten Sinne des Begriffs. Das betrifft die Bewertung seines Auftretens vor der Gemeinde (2Kor 10,10; 11,21a; 13,9; vgl. 1Kor 2,3) und seine Leiden im Aposteldienst, die in den Peristasenkatalogen ausgeführt werden (2Kor 12,10a; vgl. 1Kor 4,10). Dadurch ergibt sich eine Verbindung zwischen θλῖψις und ἀσθένεια κτλ. Beide sind durch ihren Bezug zum Leiden als negativ und nicht wünschenswert charakterisiert, werden aber im 2. Korintherbrief sowohl für Paulus als auch für die Paulus-Gruppe konstatiert. Von Christus wird demgegenüber nie eine Bedrängnis ausgesagt, die Schwachheit allerdings schon (2Kor 13,4; vgl. 1Kor 1,25).8 Auf die Gemeinde sind beide Begriffe kaum bezogen. 7

8

Vgl. für den Zusammenhang von θλῖψις κτλ. mit Feinden § 4.6. Der Begriff kann in der LXX synonym für Feinde gebraucht werden als ‚die Bedrängenden‘. So in Jes 63,9 und häufig in den Psalmen, wie Ψ 3,2; 12,5; 22,5; 80,15; 142,12. Vgl. § 4.2.2.4. Von Bedrängnissen Christi (θλίψεις τοῦ Χριστοῦ) ist erst deuteropaulinisch in Kol 1,24 die Rede.

§ 14 Auswertung der angewandten Methodik

263

In ihren semantischen Bedeutungsgehalten unterscheiden sich Schwachheit und Bedrängnis deutlich voneinander: Während sich die Bedrängnis als von außen einwirkendes, leidverursachendes Widerfahrnis zeigt, beschreibt die allgemeine Bedeutung des ἀσθένεια-Begriffs eine Schwachheit, die essentiell zum Menschen gehört. Letztere bezeichnet die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass Widerfahrnisse für eine Person zum Leiden werden können. Diese anthropologische Bedeutung findet sich nicht im θλῖψις-Begriff. Beide können jedoch eine konkrete Leiderfahrung bezeichnen, wobei θλῖψις sich meistens auf Handlungen im Kontext von Kampf und Verfolgung bezieht, während die ἀσθένεια für das konkrete Ereignis einer Krankheit verwendet werden kann. Bei Paulus und speziell in 2Kor 10–13 kommt ἀσθένεια allerdings im Gegensatz zu den Evangelien und der Apostelgeschichte weit häufiger zur Bezeichnung einzelner leidvoller Widerfahrnisse oder als Oberbegriff für das Leiden vor. Beides ist auch für den θλῖψις-Begriff möglich, wobei dieser sich bei Paulus mehr auf konkrete leidverursachende Widerfahrnisse bezieht. In dieser Funktion ist beiden Begriffen gemein, dass ihre genauere Bedeutung durch andere Begriffe präzisiert werden muss. Das zeigt sich auch bei der paulinischen Verwendung in Peristasenkatalogen, wo jeweils nur ein Begriff vorkommt. Für die Untersuchung der Leidensthematik bei Paulus hat die Betrachtung der beiden Begriffe sich also ergiebig gezeigt: Je nach Kontext verwendet der Apostel einen der beiden. Daher ist für ein Bild des paulinischen Umgangs mit Leiden im kanonischen 2. Korintherbrief der bisher in der Forschung nicht erfolgte ausführliche Einbezug des θλῖψις-Begriffs erhellend, der von mir mit einem Rückgriff auf die bereits in der Exegese vorliegenden Einsichten für den ἀσθένεια-Begriff verbunden wurde. Die damit erzielten Ergebnisse werden im Folgenden ausgewertet.

§ 15 Auswertung der exegetischen Ergebnisse § 15 Auswertung der exegetischen Ergebnisse

Die zu Beginn der Arbeit formulierten Leitfragen für die Untersuchung geben die Gliederung für die folgende Auswertung der Ergebnisse vor und werden daher am Anfang der jeweiligen Abschnitte kurz genannt.

15.1 Thematisiertes Leiden In der Fragestellung der Untersuchung wurde zunächst nach der Art des von Paulus geschilderten Leidens gefragt, was nach den genannten Analyseschritten zu den im Folgenden darzustellenden Ergebnissen geführt hat.1

15.1.1

Betroffene

1. In 2Kor 1–8 ist in der überwiegenden Zahl der Fälle die erste Person Plural vom Leiden betroffen, was in 10–13 die Ausnahme darstellt (13,3f.9). Da es kaum Hinweise auf einen schriftstellerischen Plural gibt, bin ich davon ausgegangen, dass dieser als echter Plural auf eine Paulus-Gruppe zu beziehen ist. Diese umfasst nicht unbedingt nur Mitautoren oder Mitabsender, sondern steht für eine Mitarbeitenden-Gruppe mit nicht näher präzisierten Mitgliedern.2 Vereinzelt sind eine kommunikative (2,11) und eine allgemeine (4,16–18; 13,3f) Pluralbedeutung anzunehmen, womit jeweils auch die Gemeinde und alle Christusglaubenden einbezogen sind. 2. Innerhalb von 2Kor 1–8 formuliert Paulus lediglich in 2,1–11 konsequent in der ersten Person Singular und bezieht in 2,4 den Begriff θλῖψις auf sich selbst. In 7,5–16 wechseln sich Singular und Plural ab, obwohl auch dort der θλῖψις-Begriff auf eine Wir-Gruppe bezogen ist. Es ist sicherlich kein Zufall, dass die Abweichung von einer konsequenten ersten Person Plural in den beiden Passagen stattfindet, in denen der konkrete Konflikt zwischen Gemeinde und Apostel thematisiert ist. Das spricht dafür, dass Paulus an den übrigen Stellen seine Erfahrungen in einer Gruppe von Mitarbeitenden macht, aber im Fall des konkreten Konflikts konkret persönlich betroffen ist. 1 2

Vgl. § 2.2 zur Erklärung der hier angewendeten Differenzierung bei der Leidbetrachtung. Dazu gehören über die im 2. Korintherbrief genannten Timotheus und Titus hinaus sicherlich weitere Personen. Vgl. zur Frage nach der ersten Person Plural bei Paulus § 5.3.

§ 15 Auswertung der exegetischen Ergebnisse

265

In 2Kor 10–13 ist die auf Paulus selbst bezogene Formulierung in der ersten Person Singular dagegen die Regel. 3. Wo das Leiden nicht in der ersten Person Singular oder Plural formuliert wird, ist die Gemeinde in 1,3ff; 1,23ff; 7,5ff als leidend beschrieben, wobei das Leiden im Fall von 8,13 als potentielle ökonomische Bedrängnis gekennzeichnet ist. Nur in 2Kor 10–13 ist die Gemeinde nicht als leidende im Blick. Eine Besonderheit findet sich in 8,2. Dort wird in singulärer Weise mit der Bedrängnis der makedonischen Gemeinden eine weitere Gemeinde wegen ihrer vorbildlichen Spendenbereitschaft thematisiert. 4. Im Zusammenhang des Konflikts mit der Gemeinde ist in 2,2.6f auch der auslösende Unrechttäter als leidend geschildert. Dieser spielt jedoch für die Strategien zur Leidbewältigung keine weitere Rolle. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass im 2. Korintherbrief zu großen Teilen das Leiden von Paulus-Gruppe und Paulus reflektiert wird. Doch auch die Gemeinde kommt in den Blick: Der θλῖψις-Begriff wird in 2Kor 1–8 immerhin einmal auf die makedonischen Gemeinden (8,2) und einmal auf die korinthische Gemeinde (8,13) bezogen. Außerdem wird das Leiden der Gemeinde anhand der Begriffe πάθημα/πάσχω und λύπη/λυπέω besonders in 1,3–7; 1,23ff und 7,5ff zum Gegenstand der paulinischen Reflexion. Es bleibt also festzuhalten, dass entgegen einiger Forschungsmeinungen Paulus nicht nur eigenes Leiden thematisiert.3 Nur in 2Kor 10–13 wird das Leiden der Gemeinde nicht zum Thema, während Paulus und selten die Paulus-Gruppe als Leidende Gegenstand der Reflexion sind.

15.1.2

Betroffenheitsebene

Nach der von mir zugrunde gelegten phänomenbezogenen Betrachtung von Leiden ist dieses ganzheitlich zu verstehen. Es kann aber dennoch daraufhin untersucht werden, ob es einer Person zuerst auf somatisch-physischer oder sozial-psychischer Ebene widerfährt.4 Die Analyse dieser Ebene ist in einigen der untersuchten Textpassagen schwierig, weil dort außer den Leitbegriffen kaum Präzisierungen vorgenommen werden (z. B. 2Kor 1,3–7; 7,5). Aufgrund des Bedeutungsspektrums der verwendeten Begriffe θλῖψις und ἀσθένεια κτλ. sind in solchen Fällen Widerfahrnisse auf der somatisch-physischen Ebene wahrscheinlich. Auf der somatisch-physischen Ebene vom Leiden betroffen sind in 2Kor 1– 8 primär (1,3–11; 4,7–15.16–18; 6,3–13 und 7,2–4) und in 10–13 ausschließ3

4

In diese Richtung argumentieren besonders ältere Forschungsbeiträge wie GÜTTGEMANNS, Apostel, 323–328 und WINDISCH, Christus, der die Gemeinde kaum in den Blick nimmt. Vgl. § 2.2.1 zur Differenzierung der anthropologischen Ebene des Leidens.

266

Teil IV: Zusammenfassende Auswertung und Ertrag

lich (11,23–33; 12,7–10) die Paulus-Gruppe oder Paulus alleine. Ein Zusammenhang zu Widerfahrnissen auf der sozial-psychischen Ebene muss und kann allerdings gerade in den Peristasenkatalogen nicht ausgeschlossen werden. Gleiches gilt für die in 8,2 knapp erwähnten makedonischen Gemeinden. Ein expliziter Bezug des Leidens zur sozial-psychischen Ebene wird für die Person des Paulus in 2Kor 1–8 im Konflikt mit der Gemeinde durch Begriffe wie Traurigkeit (λύπη/λυπέω, in 2,1–5.7; 7,7–12), Herzensenge (συνοχὴ καρδίας, in 2,4) und Unrecht erleiden (ἀδικέω, in 7,12) thematisiert. Gleiches gilt an beiden Stellen für die Gemeinde sowie für den konfliktauslösenden Einzelnen: Das jeweils thematisierte und realisierte Leiden bleibt auf der sozial-psychischen Ebene. Eine Thematisierung von Leiden auf der somatisch-physischen Ebene ginge wahrscheinlich an der Lebenswelt der korinthischen Gemeinde vorbei, die der historischen Situation Korinths zufolge nicht unter sozialen Anfeindungen oder Verfolgungen wegen ihres Glaubens zu leiden hatte.5 Für 2Kor 10–13 spielt explizit auf der sozial-psychischen Ebene zu verortendes Leiden keine Rolle.

15.1.3

Leidursachen

Der Befund bei der Ursache von Leiden in 2Kor 1–8 ist weitgehend einheitlich: Paulus führt diese im Kontext des Begriffs θλῖψις κτλ. auf Handlungen zurück, die (oft nicht näher genannte) Verantwortliche haben. Das deckt sich mit der begriffsgeschichtlich gezeigten Bedeutung außerhalb der paulinischen Texte. Ausnahme ist die ambivalente Thematisierung der Armut und des Nichts-Habens in 2Kor 6,10 im Kontext des Peristasenkatalogs. Diesbezüglich ist der Schwerpunkt in 10–13 deutlich verschoben: Im Peristasenkatalog von 11,23ff werden etwa zu gleichen Teilen auch Ereignisse und in 12,7–10 überwiegend Ereignisse thematisiert, für die niemand als verantwortlich gelten kann.

15.1.4

Leidverantwortliche

Für 2Kor 1–8 ist in Bezug auf die Paulus-Gruppe deutlich geworden, dass ihr Leiden auf der somatisch-physischen Ebene auf Dritte zurückgeführt wird. 5

Vgl. die Darstellung Korinths zu paulinischer Zeit in § 5.1. Davon bleibt unbenommen, dass selbstverständlich auch die Frauen und Männer in Korinth mit Leiden aus Ereignissen zu tun hatten, die sich sowohl auf der psychischen wie auch auf der physischen Ebene auswirken konnten. Das ist jedoch nicht das Thema des 2. Korintherbriefs. Vgl. aber 1Kor 11,30.

§ 15 Auswertung der exegetischen Ergebnisse

267

Diese können kaum präziser denn als Gegner der paulinischen Mission oder als Ausführende einer obrigkeitlichen Verfolgung bestimmt werden. Meistens sind beide nicht klar zu unterscheiden. Das gleichzeitige Leiden von Paulus selbst und der Gemeinde ist fast ausschließlich auf der sozial-psychischen Ebene verortet und wird gegenseitig verursacht. Die leidverursachenden Handlungen werden im Rahmen eines Konflikts auf Paulus alleine (2Kor 2,4; 7,8 im Singular), eine Einzelperson (2,2b.5; 7,12) und die Gemeinde (2,3.9) zurückgeführt. Das bedeutet, dass realisiertes und nicht bloß potentielles, der Gemeinde von Dritten zugefügtes Leiden im 2. Korintherbrief nicht thematisiert wird.6 Die Urhebenden des Leidens der makedonischen Gemeinden, also wahrscheinlich jener in Philippi und Thessaloniki, sind in der kurzen Notiz von 2Kor 8,2 kaum näher einzugrenzen. Eine Verfolgungserfahrung als Grund ihrer Armut ist unter Bezug auf die entsprechenden paulinischen Briefe möglich aber nicht letztendlich beweisbar.7 In 2Kor 10–13 liegt der Schwerpunkt des Paulus betreffenden Leidens bei Dritten von außerhalb. Lediglich die in 11,28 genannte Sorge um die Gemeinden bezieht sich wie sein Leiden in 1,23ff und 7,5–11 auf das Verhältnis von Apostel und Gemeinde. Die Besonderheit einer bereits deutenden Rückführung eines leidverursachenden Ereignisses auf Gott in 12,7 findet sich für Handlungen auch in 4,11f und 6,10.

15.1.5

Fazit

Das von Paulus im 2. Korintherbrief thematisierte Leiden ist vielfältig und kann nicht auf Verfolgungserfahrungen beschränkt werden. Vielmehr leidet der Apostel auch unter Konflikten mit der Gemeinde sowie auf der Ereignisebene besonders an seiner Krankheit, die er auf einen Satansengel und auf Gott zurückführt. Darüber hinaus kommt zumindest in 2Kor 1,23ff und 7,5ff auch das Leiden der Gemeinde in Korinth auf der sozial-psychischen Ebene im Konflikt mit dem Apostel bzw. den Aposteln zur Sprache. Auch dieses wird Gegenstand der Reflexion. Gleiches gilt in knapper Andeutung auch für die in 8,2 genannte, möglicherweise ökonomisch verstandene Bedrängnis der 6

7

Potentielles Leiden für die korinthische Gemeinde liegt in 2Kor 1,6f vor: Der Apostel bezieht die Angeschriebenen durch den im Proömium stark christologisch geprägten Begriff πάθημα/πάσχω in die Christusbeziehung mit ein. Belege für solch potentielles Leiden finden sich anhand des Begriffs der θλῖψις in weisheitlichen Schriften zum Beispiel als Bewährung und Test für eine Freundschaft. Vgl. Sir 6,8.10; 22,23; 37,4 sowie § 4.2.2.3 dieser Untersuchung. Vgl. für die Beschreibung des Leidens der Gemeinden in Philippi und Thessaloniki mit dem Begriff θλῖψις κτλ. z. B. 1Thess 1,6 in ähnlicher Formulierung wie 2Kor 8,2, darüber hinaus 1Thess 3,3.4.7 und Phil 1,17; 4,14. Vgl. für weitere Leiderfahrungen der Gemeinden z. B. anhand von πάθημα κτλ. Phil 1,29; 3,10 sowie 1Thess 2,2 mit Bezug auf Misshandlungen der PaulusGruppe in Philippi.

268

Teil IV: Zusammenfassende Auswertung und Ertrag

makedonischen Gemeinden, die für die korinthische Gemeinde 8,13 zufolge zu vermeiden ist. Die somatisch-physische Ebene ist für das Leiden der Gemeinde ausgespart, was durch deren sozialgeschichtliche Situation in Korinth plausibilisiert werden kann: Aus den literarischen und archäologischen Quellen lassen sich keine Verfolgungs- und Anfeindungssituationen belegen oder wahrscheinlich machen. Es ist auffallend, dass in 2Kor 1–8 für die Person des Paulus alleine nur Leiden auf der sozial-psychischen Ebene thematisiert ist, während die somatisch-physische Leidensebene dort der Paulus-Gruppe vorbehalten ist. Das ändert sich in den Kapiteln 10–13, wo sämtliche Leiderfahrungen in Bezug auf die Person des Paulus alleine beschrieben sind. Daraus kann möglicherweise geschlossen werden, dass für Paulus in Bezug auf die Ursache und die primär betroffene Ebene kein genereller Unterschied zwischen Widerfahrnissen für sich alleine und für die Paulus-Gruppe besteht. Davon bleibt anhand des jeweils verwendeten Numerus unbenommen, dass das Krankheitsereignis (12,7–9) und schwerpunktmäßig auch der Konflikt mit Gemeinde und Einzelperson (2,1–11; 7,5ff) ihn alleine betreffen und ihn anders als an den übrigen Stellen aus der Apostel-Gruppe hervorheben.

15.2 Strategien zur Bewältigung von Leiderfahrungen Die zweite Leitfrage der Untersuchung richtete sich auf die in den PaulusTexten zu findenden Strategien zur Leidbewältigung. Bei der Darstellung werde ich auf die bereits im Zwischenfazit der jeweiligen Einzelexegesen vorgenommene Sortierung zurückgreifen, aus denen sich vier Leidbewältigungsstrategien ergeben, die Paulus in unterschiedlichen Varianten verwendet.

15.2.1

Parallelisierung zu Leiden und Auferweckung Christi

Die Parallele zu Christi Leiden und Auferweckung ist in der Exegese oft als Hauptstrategie zur Leidbewältigung dargestellt worden und hat sich auch in meiner Untersuchung von 2Kor 1–8 als wichtige Strategie erwiesen. Sie kommt jedoch nur in 2Kor 1,5.7; 4,10f und 7,3 explizit vor. Die Grundidee ist dabei die Vorstellung eines parallelen Ergehens von Christusglaubenden und Christus selbst. Das eigene Leiden wird als Parallele zu Christi Leiden angesehen. Von Christus schreibt Paulus in verschiedenen Begrifflichkeiten, dass auf sein Leiden die Auferweckung folgte (2Kor 4,10–14; 13,3f; vgl. Phil 2,8f; Röm 6,4). Deshalb wird aus der als Leidbeendung verstandenen Auferwe-

§ 15 Auswertung der exegetischen Ergebnisse

269

ckung Jesu Christi der Schluss gezogen, dass parallel zum Schicksal Christi auch das eigene Leiden enden wird. Auf der Textebene wird die Parallele auf unterschiedliche Weise dargestellt: In 2Kor 1,5.7 wird sie durch ein Entsprechungsschema als κάθως/ὡς – οὕτως ausgedrückt. In 1,5 heißt es: „Wie die Leiden Christi für uns überfließen, so fließt wegen Christus auch unser Trost über“ und in 1,7: „… denn wie ihr Teilhaber an den Leiden seid, so auch am Trost.“8 In 4,10f ist die Formulierung wie bei der Funktionalisierung final mit ἵνα konstruiert. Der Unterschied ist jedoch, dass hier die Paulus-Gruppe Anteil an zwei entgegengesetzten Phasen des Christus bekommt:9 Nach 4,10 führt die Teilhabe am Sterben Jesu zur Hoffnung auf Teilhabe am Leben Jesu, während in 4,11 ganz ähnlich die Übergabe in den Tod um Jesu willen die Hoffnung auf die Erfahrung des Lebens Jesu begründet. In der kurzen Formel von 7,3 schließlich ist der Gedanke durch das präpositionale Präfix συν- ausgedrückt: Mit-sterben führt zu Mit-leben (mit Christus). Die für die Leidensseite von Christus und den Glaubenden verwendeten Begriffe variieren also genauso wie diejenigen für die Leidbeendungsseite: Auf der einen Seite kommen θλῖψις, πάθημα, νέκρωσις, θάνατος und συναποθνῄσκω zu stehen, auf der anderen παράκλησις, ζωή und συζάω. Der leidbewältigende Charakter dieser Strategie ist dabei doppelt pointiert. Durch die Parallele der Leidensseite wird erstens eine Gemeinschaft hergestellt, die dem potentiell isolierenden Charakter des Leidens entgegenwirkt, wenn man nach dem oben Gesagten von der Isolation einer Gruppe ausgehen kann:10 Im Leiden sind Leidende und Paulus-Gruppe mit Christus verbunden. Zweitens ist durch die Parallele der Leidüberwindungsseite die Hoffnung auf das Ende des Leidens im Zuge der eschatologischen Totenauferweckung begründet (1,9f). Wie besonders 1,8 zeigt, ist dabei auch die Möglichkeit eines Endes von leidverursachenden Widerfahrnissen bereits in diesem Leben oder – in apokalyptischer Redeweise – in diesem Äon gegeben. Das wird in 1,8–10 durch die konkrete Rettungserfahrung des Paulus in Asien verdeutlicht. Wie bereits im Forschungsüberblick dargestellt, ist der Aspekt der Parallelität zwischen dem Ergehen von Christus und Glaubenden häufig beachtet und unterschiedlich interpretiert worden.11 Dazu sind hier zwei Dinge anzumerken. Erstens kann diese Strategie in 2Kor 1–8 schon aufgrund ihres nur vereinzelten Vorkommens kaum in dieser Form als zugrundeliegendes Mo8

9 10 11

Diese Entsprechung von ὣσπερ – οὕτως wird auch in 1Kor 15,22 gebraucht, um die Parallele zum Sterben in Adam und dem lebendig Gemacht Werden in Christus zu beschreiben. Zwei Phasen in der Christologie in Bezug auf das Leiden thematisiert auch KRUG, Kraft, 295–298. Vgl. die formulierten Anfragen an den Isolationscharakter des Leidens in § 14.1. Vgl. besonders § 1.1 und 1.4 des Forschungsüberblicks.

270

Teil IV: Zusammenfassende Auswertung und Ertrag

dell für die gesamte paulinische Leidinterpretation herangezogen werden. Zweitens ist in der Forschung kontrovers diskutiert worden, wie die Parallele zu denken ist (z. B. als mystische Gemeinschaft, christologische Epiphanie, apostolische Mission) und wie sie zustande kommt (z. B. durch Glaube oder Taufe). In 2Kor 1–8 begründet Paulus die Parallele zwischen Christus und Christusglaubenden kaum. Er wendet sie zwar auch im Rahmen der Verkündigung des Christusglaubens an, reduziert sie jedoch nicht darauf. Im Kontext des Leidens wird die Parallele weder durch das Leiden selbst, noch durch Glauben oder Taufe konstituiert (wie in der mystischen Paulus-Interpretation angenommen). Nur das Handeln Gottes am Menschen begründet die Verbindung von Glaubenden und Christus: Bereits in 2Kor 1,3f wird deutlich, dass das Trosthandeln nur vom „Vater der Barmherzigkeiten und Gott allen Trostes“ ausgehen kann (vgl. 7,6f). Im Ausblick auf 2Kor 13,3f hat sich anhand des Gegenübers von Schwachheit und Kraft (ἀσθένεια – δύναμις) dieser Gedanke bestärken lassen. Dort ist die Parallele der Christusglaubenden zu Christus vor seiner Auferweckung einerseits durch die anthropologische Grundverfasstheit der Schwachheit gegeben, die auf alle Menschen zutrifft. Andererseits ist das gegenwärtige und zukünftige Leben einzig und allein aus der Kraft Gottes (ἐκ δυνάμεως θεοῦ) begründet. Nur das Handeln Gottes in Kraft kann also 13,3f zufolge das parallele Ergehen von Christus und Christusglaubenden erklären.

15.2.2

Positive Wirkung des Leidens

Die von Paulus am häufigsten verwendete und variierte Strategie zur Leidbewältigung kann als Zuschreibung einer positiven Wirkung an das Leiden verstanden werden. Sie ist in allen untersuchten Texten und für alle jeweils Betroffenen nachweisbar.12 In 2Kor 10–13 ist sie die einzige angewendete Strategie.13 Diese positive Wirkung des Leidens wird in den meisten Fällen bereits auf der Textebene expliziert, indem dort eine finale Relation zwischen dem Leiden und seiner positiven Wirkung ausgedrückt wird: – durch einen Final-Satz mit ἵνα oder εἰς τό in 1,4.9; 2,9; 4,10.11.15; 6,3; 12,7.9 12

13

Die Strategie der Zuschreibung einer positiven Wirkung an das Leiden kommt in verschiedenen Facetten 11mal in 2Kor 1–8 und 5mal in 2Kor 10–13 vor. Der Nachweis dieser Leidbewältigungsstrategie in allen untersuchten Teilen kann jedoch nicht als Beweis für die ursprüngliche Einheitlichkeit des 2. Korintherbriefs herangezogen werden: Wenn diese Leidbewältigungsstrategie von Paulus so häufig verwendet wird, kann dies entweder in einem einheitlichen Brief oder genauso auch in zwei, drei oder mehreren eigenständigen Briefen der Fall sein. Ein Argument wäre erst dann zu gewinnen, wenn diese Leidbewältigungsstrategie in den anderen paulinischen Briefen nicht oder deutlich seltener belegt wäre.

§ 15 Auswertung der exegetischen Ergebnisse

271

– durch die Präposition ὑπέρ in 1,6 und διά in 4,15 – durch das Verb (κατ-)ἐργάζομαι in 4,17; 7,10f14 Die zugeschriebenen positiven Wirkungen sind vielfältig. Das als θλῖψις κτλ. beschriebene Leiden führt nach 2Kor 1,6 zu Trost und Heil, nach 4,17f zu Herrlichkeit und nach 8,1f zu Bewährung. Mit λύπη bezeichnetes Leiden erweist die Gemeinschaft zwischen Apostel und Gemeinde (2,1–5), zeigt die Bewährung im Glaubensgehorsam (2,9; 8,2) und führt zu Umkehr/Reue (7,8–13a). Das als θάνατος bezeichnete Leiden zielt auf Gott- statt Selbstvertrauen (1,9) und die Bewirkung von Leben (4,12). Ganz ähnlich erweist das in der Selbstbezeichnung als Tongefäß beschriebene Leiden die Kraft als von Gott statt aus der Paulus-Gruppe kommend (4,7). Der Dorn im Fleisch wirkt vergleichbar als Schutz vor paulinischer ‚Überheblichkeit‘ (12,7). Die in 6,3 formulierte positive Wirkung des Leidens, wonach die Paulus-Gruppe als Diener Gottes empfohlen werden soll, zielt auf die Wirkung der gesamten positiven und negativen Aufzählungen des Katalogs von 6,4–10 (vgl. 11.23– 33). Für die genannten Wirkungen kann eine weitere Unterscheidung getroffen werden: Meistens fallen das Leiden und dessen positive Wirkung in einer Person(engruppe) zusammen. In einigen Fällen treten jedoch beide auseinander: Jemand leidet, woraus eine positive Wirkung für andere entsteht. Das gilt nur für das Leiden der paulinischen Wir-Gruppe, insofern es auf der somatisch-physischen Ebene verortetet ist. Dieses wirkt sich dann positiv für die Gemeinde aus: in 1,6 als Trost, in 4,12.15 als Leben und in 6,10 als Reichtum. Dabei ist wahrscheinlich nicht an ein soteriologisch stellvertretend wirksames Leiden der Apostel-Gruppe gedacht, wie das deuteropaulinisch in Kol 1,24 für den Apostel ausgesagt sein könnte. Vielmehr ist dadurch die konkrete Missionstätigkeit thematisiert, worin die damit verbundenen Mühen, die ertragenen Anfeindungen und Entbehrungen in Form des Erstkontakts mit dem Christusglauben den Gemeinden zugutekommen. Darüber hinaus lässt sich anhand von 2Kor 1–8 auch eine Aussage zur Proportionalität von Leiden zu seiner positiven Wirkung treffen. 2Kor 4,17 kann als Beispiel dafür dienen, dass für Paulus zwischen einer Leiderfahrung 14

Die Ausnahmen in 2Kor 6,10 und 8,2 sind leicht zuzuordnen. In 6,10 ist die Wirkung durch das Verb πλουτίζω gegeben, das als πλοῦτον κατεργάζω paraphrasiert werden kann. Für 8,2 ist die Zuordnung der positiven Wirkung inhaltlich deutlich. Auf der Textebene legt sie sich über den Begriff δοκιμή von Röm 5,3f her zumindest nahe: Dort steht der Begriff θλῖψις am Anfang eines Kettenschlusses, demzufolge er über die Zwischenbegriffe ὑπομονή und δοκιμή die Hoffnung bewirkt (κατεργάζω). Die positive Wirkung des von Gott bewirkten παιδεύω in 2Kor 6,9 kann auf der Textebene in ihrem finalen Sinn auf die Zuordnung in 6,3 rückbezogen werden: Die Mitglieder der Paulus-Gruppe werden unter Anspielung auf Ψ 117,17f und das παιδεία-Motiv in der Weisheits-Tradition als weise Gerechte erwiesen, damit (ἵνα in 2Kor 6,3) der Dienst nicht verlästert wird. In 11,23b–33 legt sich die positive Wirkung nur inhaltlich und von der Form des Peristasenkatalogs her nahe.

272

Teil IV: Zusammenfassende Auswertung und Ertrag

und ihrer jeweils zugeordneten Funktion keine quantifizierbare Beziehung besteht.15 Die positive Wirkung des Leidens – in 4,17 beschrieben als „in übermäßigem Maß ein ewiges Gewicht von Herrlichkeit“ – übertrifft nach paulinischer Darstellung die Schwere der Leiderfahrung in unbeschreiblicher Weise. Dafür spricht auch die hyperbolische Sprache, die an vielen weiteren Stellen bei der Beschreibung von Leiden und seiner Überwindung vorkommt (vgl. 1,8; 4,7; 7,4.13; 8,2).16 Bei der positiven Wirkung des Leidens ist Gott in 2Kor 1–8 nicht als Verursacher des Leidens thematisiert, wenn dieser Gedanke auch durch passiva divina in 4,10 und 6,10 implizit mitgedacht sein kann. Die Frage nach dem Woher des Leidens spielt hier nur eine untergeordnete Rolle und wird nicht explizit behandelt.17 Das gilt auch für 12,7, wo einem Satansengel und implizit auch Gott eine Verursacher-Rolle für die paulinische Krankheit zugeschrieben wird. Das Ziel der positiven Wirkung des Leidens ist auch in diesem wie in den anderen Fällen die Klärung eines möglichen Wozu. Denn sie kann zwar nicht das leidverursachende Widerfahrnis beenden, ihm aber durch eine Sinnzuschreibung seinen leidvollen Charakter nehmen. Der traditionsgeschichtliche Hintergrund der Variationen dieser Strategie wurde bereits in den Einzeluntersuchungen aufgezeigt. Dabei wurden Anklänge sowohl an apokalyptische (z. B. 4,16–18) und seltener an weisheitliche (z. B. 6,10) Motive aus der jüdischen Tradition, aber auch an stoisches Gedankengut (z. B. 4,8f; 6,3–10; 11,23–33) belegt.18 Auch das in der Antike allgemein verbreitete Konzept einer Höherschätzung des Inneren/Unsichtbaren gegenüber dem Äußeren/Sichtbaren ist nachweisbar (z. B. 4,16–18). Ein Bezug zu Sünde oder eigener Schuld am Leiden, wie er in erzählenden und prophetischen Texten der LXX häufig begegnet, wird von Paulus nicht hergestellt.19 15

16

17

18

19

Mehr Leiden führt also nicht zwangsläufig zu einem Mehr an positiver Wirkung. Vgl. die Strafe für die Einzelperson in 2Kor 2,5–11. Paulus ist der Meinung, die erfolgte Bestrafung sei ausreichend und nun zu beenden. Diese hyperbolischen Formulierungen sind für LIM, Sufferings, 34f ein Schlüsselmotiv bei der paulinischen Beschreibung des Leidens. Er weist v. a. auf den gehäuften Gebrauch von περισσεύω bei Paulus (24mal von 35 Belegen im NT) und speziell im 2. Korintherbrief hin (10mal). Gerade dieser Begriff wird von KLEINKNECHT, Gerechtfertigte, 246 der apokalyptischen Redeweise zugeordnet. Im Rahmen von weisheitlichen und prophetischen Texten der LXX wird die Rückführung auf Gott dagegen häufig explizit thematisiert. Vgl. § 4.2.2. Auch Paulus kennt sie, wie z. B. der Rückgriff auf die Deutung von Leiden als Erziehung Gottes in 2Kor 6,9 und ähnlich auch 12,7–9 zeigt. Einen Großteil der Motive erklärt KLEINKNECHT, Gerechtfertigte, im Rahmen der Tradition des leidenden Gerechten. Die Abgrenzung des Motivs ist jedoch m. E. problematisch, vgl. § 1.3.1. Insofern lässt sich zumindest festhalten, dass viele der im Rahmen dieser Leidbewältigungsstrategie verwendeten Motive Bezug auf alttestamentliche Leidensdeutungen nehmen. Vgl. VOUGA, Krankheit, 15f zeigt auch für 1Kor 11,28–32, dass bei Paulus kein direkter Zusammenhang zwischen der Sünde einer Einzelperson und deren Krankheit oder Tod besteht: „Die Ursache liegt nicht beim Einzelnen, sondern beim System, das die gesamte Gemeinde bildet“ (16).

§ 15 Auswertung der exegetischen Ergebnisse

15.2.3

273

In Gott begründete Standhaftigkeit und Bewahrung im Leiden

In den beiden ersten Leidbewältigungsstrategien ist jeweils ein leidverursachendes Widerfahrnis vorausgesetzt, wobei mit der Parallelisierung seine Beendung erhofft wird, während es im Falle der positiven Wirkung zunächst bestehen bleiben kann. Es ändert sich dadurch jeweils die Perspektive auf das erfahrene Leiden. In der jetzt zu beschreibenden Strategie bleibt das leidverursachende Widerfahrnis zwar ebenfalls bestehen, aber die Kraft zu dessen Ertragen wird als gottgegeben vorgestellt. Das wird auf verschiedene Weise ausgedrückt. An zwei Stellen ist dafür der Begriff der ὑπομονή gewählt, der im Kontrast zur griechischen Philosophie für Paulus seinen Ursprung in Gottes Trost (2Kor 1,6) oder Geist (6,4.6) hat.20 Im Peristasenkatalog von 4,8f macht Paulus unter Bezugnahme auf den Leitsatz vom Schatz in Tongefäßen (4,7) deutlich, dass die Bewahrung durch Gott auch im Leiden gegeben ist und sich als wirksam erweist (vgl. 1Kor 10,13). Dass diese Bewahrung nicht durch Dritte von außen empirisch feststellbar sein muss, wird in 2Kor 4,16–18 ausgeführt: Äußerlich betrachtet kann auch an Christusglaubenden21 deren Vernichtet Werden (διαφθείρομαι) als dauerhaftes Leiden beobachtet werden. Die Bewahrung Gottes ist dagegen Paulus zufolge unsichtbar (μὴ βλεπόμενον) und nur wahrnehmbar als kontinuierliche innerliche Erneuerung (ὁ ἔσω ἡμῶν ἀνακαινoῦται ἡμέρᾳ καὶ ἡμέρᾳ). Ganz ähnlich heißt es auch im Peristasenkatalog von 6,9, dass sich im kontinuierlichen Sterben – zu verstehen als andauerndes Leiden – überraschend das Leben zeigt. Im gleichen Kontext greift Paulus zweimal auf das Motiv der Freude im Leiden zurück (6,10: λυπέω/χαίρω; 7,4: θλῖψις/χαρά): Als Freude trotz des Leidens ist sie Ausdruck der Erfahrung von Bewahrung im Leiden. Die Stärkung und Bewahrung im Leiden implizieren setzen außerdem voraus, dass Gottes Kraft (auch) im Leiden und an Leidenden wirkt, wie das Bild vom Schatz in Tongefäßen aus 4,7 zeigt. Auch im Leiden lässt Gott die Paulus-Gruppe nach 4,9 nicht im Stich (οὐκ ἐγκαταλειπόμενοι) und nicht zugrunde gehen (οὐκ ἀπολλύμενοι). Die Begründung ist durch die Auferweckung Jesu gegeben, in der sich das Handeln Gottes im Leiden exemplarisch zeigt (vgl. 4,10f.14). In dieser Erfahrung liegt der Grund für die in 6,10 und 7,4 geäußerte Freude der Paulus-Gruppe, die sich trotz des Leidens einstellt.22 20

21

22

Vgl. z. B. Aristoteles, EN 1117a–b, wo die ὑπομονή der Tapferkeit (ἀνδρεία) des eigenen Charakters zugeordnet und hochgeschätzt wird als die Gabe, das Schmerzvolle (τὰ λυπηρά) auszuhalten. Vgl. HAUCK, Art. ὑπομένω, 586. Die erste Person Plural hat in 2Kor 4,16–18 die Bedeutung eines allgemeinen Plurals. Vgl. die Einzeluntersuchung in § 9.2.1. Vgl. HECKEL, Kraft, 208f, der anhand von Ψ 5,12 und Sir 24,1.2.4.8 in Zusammenhang mit dem paulinischen Rühmen das Leiden als Grund zur Freude erkennt, weil sich darin Gottes Gnade erweise.

274

Teil IV: Zusammenfassende Auswertung und Ertrag

Die Genese dieser Leidbewältigungsstrategie hat man sich wahrscheinlich ex eventu vorzustellen: Paulus bzw. die Paulus-Gruppe haben erlebt, dass sie nach eigenem Ermessen an den jeweiligen leidverursachenden Widerfahrnissen zugrunde gehen müssten. Dabei machen die Apostel jedoch die Erfahrung, dass das Leiden zwar nicht endet, sie allerdings entgegen eigener Erwartung weiterleben und -verkündigen können, was sie der Stärkung und Bewahrung Gottes zuschreiben. Konkreter werden die Auswirkungen dieser Bewahrung in 2Kor 1–8 kaum beschrieben.

15.2.4

Beendung des Leidens durch Gottes Trost

In allen bisher geschilderten Leidbewältigungsstrategien wird davon ausgegangen, dass das leidverursachende Widerfahrnis bestehen bleibt. Die nun zu schildernde Strategie geht jedoch davon aus, dass das leidverursachende Widerfahrnis bereits beendet ist und nachträglich gedeutet wird. Paulus greift darauf innerhalb von 2Kor 1–8 nur an zwei Stellen zurück. In 1,8–10 ist die Rede von einer Bedrängnis (θλῖψις) der Paulus-Gruppe in Asien, womöglich eine Gefangenschaft. Diese wird metaphorisch als Tod bzw. Todesurteil bezeichnet, aus dem Gott die Paulus-Gruppe gerettet hat. Diese Rettung wird dabei als Konkretisierung des zuvor in 1,3–7 beschriebenen Trostes (παράκλησις) dargestellt. Die zweite Stelle, an der diese Strategie eingesetzt wird, ist 7,5–7.13. Hier ist davon die Rede, dass die Paulus-Gruppe – dieses Mal in Makedonien – äußerlich und innerlich bedrängt sei (θλιβόμενοι). Das bezieht sich wahrscheinlich einerseits auf konkrete, nicht unbedingt mit physischer Gewalt verbundene, Auseinandersetzungen vor Ort und andererseits auf die Sorge um die Gemeinde im konkreten Konflikt. Die Ankunft des Titus und sein Bericht aus der Gemeinde, die sich nach Paulus (Singular in 7,7!) sehnt und offenbar auf seine Seite stellt, verwandelt die Bedrängnis der Paulus-Gruppe in Freude (χαίρω). Dieses Geschehen wird in ganz ähnlicher Terminologie wie in 1,3–11 auf den „Gott allen Trostes“ (θεὸς πάσης παρακλήσεως) zurückgeführt, der dadurch Paulus als einen Niedrigen (ταπεινός) tröstet.23 Es ist wichtig zu beachten, dass es sich trotz des beendeten Leidens an beiden Stellen nicht um Strategien zur Leidbeendung oder -vermeidung handelt. Der zentrale Unterschied besteht darin, dass diese ein Handeln der Betroffenen voraussetzen, das aus sich heraus zum Ende des leidverursachenden Widerfahrnisses führt (vgl. 2,1–4.6–8.11; 8,13f). An beiden geschilderten Stellen jedoch wird einerseits das jeweilige Leiden im Rückblick skizziert und 23

Mögliche Bezüge bestehen auch zu Jes 49,13 und Ψ 118,50.

§ 15 Auswertung der exegetischen Ergebnisse

275

von dessen Ende berichtet. Andererseits sind im leidbeendenden oder -vermeidenden Handeln zwar Personen involviert, jedoch werden Ursprung und Wirkung der Leidbeendung auf Gottes Handeln – genauer: Gottes Trost – zurückgeführt. Die Genese der Strategie kann man sich daher so vorstellen wie die der vorigen: Die Paulus-Gruppe blickt auf Situationen zurück, in denen sie sich in leidverursachenden Bedrängnissen befunden hat. Deren Beendigung schreibt sie dem tröstenden Handeln Gottes zu, unabhängig davon, wie das Leiden konkret beendet worden ist.24 Insofern hat die Strategie Anhalt an einer konkreten Erfahrung in der Vergangenheit. Aus dieser ergibt sich die Hoffnung auch auf zukünftiges rettendes Gotteshandeln (1,10). Das beendete leidverursachende Widerfahrnis ist dabei in 1,8–10 auf der somatisch-physischen und in 7,5–7.13 auf der sozial-psychischen Ebene zu verorten. Das Gotteshandeln kann also in der paulinischen Darstellung leidverursachende Widerfahrnisse auf beiden Ebenen beenden. Der traditionsgeschichtliche Hintergrund ist an beiden Stellen vielfältig. Zum einen gibt es für den leidbeendenden Trost Gottes viele Bezüge zu alttestamentlichen Texten, insbesondere zu Deutero-Jesaja und verschiedenen Psalmen.25 Spezieller zeigen sich hier durch den Verweis auf den totenerweckenden Gott in 2Kor 1,9 Verbindungen aber auch Unterschiede zu einem apokalyptischen Denkhintergrund. Entscheidend ist, dass Paulus das christologisch bestimmte rettende Handeln Gottes bereits vor der apokalyptischeschatologischen Totenauferweckung verortet. Gerade die Wirklichkeit der Totenauferweckung durch Gott ist die Basis für die bereits erfahrene Rettung der Paulus-Gruppe (vgl. 1Kor 15,12ff). Sie begründet nach 2Kor 1,10 die Hoffnung auf weitere Erfahrungen göttlicher Leidbeendigung noch vor dem Anbruch des Eschatons. Dass die Beendung leidverursachender Widerfahrnisse durch Gott trotz entsprechender Bitten ausbleiben kann, zeigt sich für die Person des Paulus in 12,7f anhand des nicht weggenommenen Dorns im Fleisch. Diesem wird jedoch in der Audition von 12,9 eine positive Wirkung zugeschrieben.

24 25

Vgl. BULTMANN, Brief, 33f und GRÄßER, Brief I, 64 zu 2Kor 1,8–10. Vgl. die Einzeluntersuchung von 2Kor 1,3–11, speziell § 6.3.1. KLEINKNECHT, Gerechtfertigte, 243–250 thematisiert ebenfalls beide Texte gemeinsam. In beiden Texten zeigt er das Motiv des leidenden Gerechten. Allerdings sieht er nicht die Besonderheit im Vergleich zu anderen Leidbewältigungsstrategien.

276

15.2.5

Teil IV: Zusammenfassende Auswertung und Ertrag

Fazit

Im 2. Korintherbrief zeigen sich die vier dargestellten Strategien zur Leidbewältigung, die Paulus im jeweiligen Kontext variiert. Das trägt einem Verständnis des Leidens Rechnung, das die Subjektivität von Leiderfahrungen für die jeweils Betroffenen betont. Denn der Erfolg von Leidbewältigungsstrategien ist abhängig von den Leidenden und nicht pauschal vorherzusagen. Insofern ist es ein Vorteil, wenn Paulus verschiedene Strategien und damit ein Spektrum an Deutungs- und Bewältigungsangeboten anbietet, das sich wahrscheinlich aus seinen eigenen Erfahrungen oder denen der PaulusGruppe speist. Daran können Einzelne an unterschiedlichen Stellen anknüpfen. Könnte er dagegen nur eine einzige Leidbewältigungsstrategie in seine Verkündigung integrieren, dann bestünde die Gefahr, dass mit deren Ablehnung auch die Position des gesamten Christusglaubens bei den Leidenden geschwächt oder der Glaube abgelehnt würde.

15.3 Frage nach einem zugrundeliegenden Leidbewältigungsmodell Die dritte Leitfrage der Untersuchung richtete sich darauf, ob für Paulus ein einziges zugrundeliegendes Modell der Leidinterpretation nachweisbar ist, wie verschiedene Forschungsbeiträge das versucht haben. Nach den dargestellten vier Leidbewältigungsstrategien muss diese Frage daraufhin abgeschwächt werden, ob es zwischen den verwendeten Leidbewältigungsstrategien verbindende Elemente gibt.26 Dazu möchte ich in einem ersten Schritt Verbindungen jeweils zwischen den ersten beiden und den letzten beiden der vier genannten Strategien aufzeigen, sodass sich zwei Gruppen ergeben. Erst danach wird überprüft, ob es einen theologischen Grundgedanken gibt, der allen paulinischen Leidbewältigungsstrategien zugrunde liegen könnte.

15.3.1

Zwei Gruppen von Strategien zur Leidbewältigung

15.3.1.1 Verbindung von Parallelisierung zum Christusgeschehen und der positiven Wirkung des Leidens Die beiden Leidbewältigungsstrategien, die von der Parallelisierung zu Leiden und Auferweckung Christi sowie von einer positiven Wirkung des Lei26

Die in § 1.3 des Forschungsüberblicks dargestellten Untersuchungen von KLEINKNECHT und SMITH verbinden in ganz ähnlicher Weise verschiedene Leidbewältigungsstrategien untereinander durch das Motiv des leidenden Gerechten.

§ 15 Auswertung der exegetischen Ergebnisse

277

dens ausgehen, sind untereinander eng verbunden. Zuerst möchte ich diese inhaltliche Nähe an einigen Punkten verdeutlichen, bevor ich eine mögliche theologische Begründung dafür aufzeige. 1. Beide Strategien verbindet zunächst, dass sie im Gegensatz zu den anderen auf alle im 2. Korintherbrief genannten vom Leiden Betroffenen angewendet werden. Außerdem sind sie nicht zeitlich gebunden an die Anwendung in einer konkreten Leiderfahrung, die möglicherweise bereits vergangen ist. Vielmehr können sie zur Bewältigung von zurückliegendem, gegenwärtigem und zukünftigem Leiden eingesetzt werden. Das liegt auch daran, dass beiden Strategien keine konkrete einzelne oder wiederholte Erfahrung von Gottes Eingreifen zugrunde liegen muss. Das leidverursachende Widerfahrnis behält jeweils seine schmerzhafte Auswirkung auf physischsomatischer und/oder sozial-psychischer Ebene, verliert aber durch seine Parallelisierung zu Christi Leiden und Auferweckung oder die Zuschreibung einer positiven Wirkung seinen Charakter als sinnlos. Paulus setzt also mit beiden Gruppen bei den Leidenden selbst an: Durch die Strategien zur Leidbewältigung eröffnet er die Möglichkeit, die subjektive Wahrnehmung des entsprechenden Widerfahrnisses zu verändern, ohne dass von außen eine Veränderung der Situation feststellbar sein müsste.27 Beide Strategien dieser Gruppe werden unabhängig von konkreten Leid- und Leidbewältigungserfahrungen durch eine theologische Deutung im Rahmen des Christusglaubens entwickelt. Das passt zu dem Befund, dass Paulus diese Gruppe in einem Brief an die korinthische Gemeinde verwendet, da diese sich wahrscheinlich zur Zeit der Abfassung keinem besonderen Druck aus ihrer andersgläubigen Umwelt ausgesetzt sieht.28 2. Nach diesen Gemeinsamkeiten in Bezug auf die Ausführung beider Strategien zur Leidbewältigung gibt es auch verbindende Elemente in Bezug auf die theologische Begründung. Den Ansatzpunkt dazu bietet das Verständnis des Christusgeschehens, wie es Paulus im 2. Korintherbrief darlegt.29 Denn wie anhand der Parallelisierung zu Leiden und Auferweckung Christi bereits geschildert worden ist, gehören für Paulus im Kontext des Leidens dazu zunächst zwei Aspekte, die er mit verschiedenen Begriffen beschreibt: ein negativ leidvoller (πάθημα, νέκρωσις, θάνατος, συναποθνῄσκω) und ein positiv 27

28

29

Unter Aufnahme der „kognitiven Dissonanztheorie“ aus der Sozialpsychologie hat THEIßEN, Aspekte, 41f dies als die Reduktion von „kognitiver Dissonanz“ durch eine Uminterpretation des Erlebten beschrieben. An anderen Stellen, z. B. DERS., Bibel, 200, bezeichnet er diese Uminterpretation auch als „kognitive Umstrukturierung“. Vgl. § 5.1 zur Stadt Korinth und der dortigen paulinischen Gemeinde. Anders scheint die Situation für die makedonischen Gemeinden in Philippi oder Thessaloniki der Fall gewesen zu sein. Ganz ähnlich geht auch LIM, Sufferings, 35f von der zentralen Bedeutung des Christusgeschehens für die paulinische Leidensdeutung aus. Allerdings ist bei ihm nicht klar, welche Aspekte dieser „story of Jesus“ Paulus überhaupt zugrunde legt und welche er im Kontext der Leidbewältigung aktiviert. Vgl. die Darstellung von LIMs Position in § 1.4.2.

278

Teil IV: Zusammenfassende Auswertung und Ertrag

leidüberwindender (παράκλησις, ζωή, συζάω) Aspekt.30 Doch an einigen Stellen zeigt sich, dass sich das Christusgeschehen damit für Paulus nicht erschöpft, sondern dass darin noch ein dritter Aspekt enthalten ist. Den beiden Aspekten des Christusgeschehens ist nämlich unbedingt eine positive Wirkung zugeordnet, die beide verbindet.31 Diese besteht entweder darin, dass die eine Seite die andere bewirkt: Leiden bewirkt Trost (1,6), Tod bewirkt Leben (4,10f) usw. Oder beide Aspekte geschehen zugunsten der Gemeinde, die aus dem Leiden/Tod der paulinischen Wir-Gruppe selbst Trost und Rettung (1,5) oder Leben (4,12) erhält.32 Der Aspekt der positiven Wirkung gehört demnach für Paulus elementar zum Christusgeschehen. Das zeigt sich auch im Kontext der Leidbewältigung in der Kollektenaufforderung anhand von wirtschaftlich-materiellen Begriffen in 8,9: „Unser Herr Jesus Christus ist euretwegen (δι’ ὑμᾶς) arm geworden (πτωχεύω), damit ihr durch seine Armut reich würdet (πλουτέω).“33 Auch in 4,10f kommen bereits auf unterschiedliche Weise beide Aspekte für Christus und Paulus zusammen, während in 13,3f der Zusammenhang unabhängig von konkreten Leiderfahrungen anhand des ἀσθένεια-Begriffs reflektiert wird. Eine Einschränkung ist dabei allerdings gegeben: Im Christusgeschehen richtet sich nach paulinischer Darstellung die positive Wirkung von Leiden und Auferweckung Christi auf andere, zu deren Gunsten es geschieht.34 Dies gilt bei der positiven Wirkung als Leidbewältigungsstrategie nur an manchen Stellen für das Leiden der Paulus-Gruppe (vgl. 1,6; 4,12.15; 6,10), das sich positiv für die Gemeinden auswirkt. In den meisten anderen Fällen zeigt sich in den untersuchten Texten die Funktion des Leidens am Leidenden selbst. Entscheidend ist jedoch, dass sich beide Gruppen von Leidbewältigungsstrategien nicht nur aufgrund inhaltlicher Gemeinsamkeiten einander zuordnen

30

31

32

33

34

Vgl. KRUG, Kraft, 294–98. Die meisten Untersuchungen zur Leidinterpretation bei Paulus bleiben bei der „zweiphasigen Anlage“ (296) der paulinischen Christologie mit Leiden und Leben stehen, wobei beide Phasen entweder im Leben des Paulus (WOLTER, Apostel, 549 u.ö.) oder aller Christusglaubenden (z. B. BETZ, Concept, 334) zusammenfallen. Das Christusgeschehen kann für Paulus noch andere Aspekte umfassen, wie z. B. die Präexistenz nach 2Kor 8,9 oder Phil 2,6. Diese Aspekte des Christusgeschehens spielen jedoch für die paulinische Leidbewältigung im 2. Korintherbrief nur eine untergeordnete Rolle. Vgl. WINDISCH, Paulus, 251, für den das allerdings vom Leiden Christi und vom Leiden des Paulus gilt. Für SCHMELLER, Brief I, 254 stellt Paulus mit diesem Aspekt der „Pro-Existenz“ einen Bezug zur Leidensexistenz Christi her. Vgl. GRÄßER, Brief I, 169f. Über 2Kor 1–8 hinaus wird dieser ‚Für-Aspekt‘ des Christusgeschehens auch an anderen Stellen ausgedrückt. Vgl. 1Kor 8,11: der Bruder, „für den Christus gestorben ist“ (δι’ὅν Χριστὸς ἀπέθανεν) bzw. Röm 14,15: jener, „für den Christus gestorben ist“ (ὑπὲρ οὗ Χριστὸς ἀπέθανεν); 2Kor 11,24: Dies ist mein Leib „für euch“ (ὑπὲρ ὑμῶν) und die wiederholten ὑπερ-Formulierungen in Röm 5,6–8. Erst Hebr 5,3 legt den Gedanken nahe, dass die Funktion des Todes Christi auch Christus selbst zugutekommen kann: „Und wegen dieser [der Schwachheit] ist es nötig, wie für das Volk, so auch für sich selbst für die Sünden zu opfern.“

§ 15 Auswertung der exegetischen Ergebnisse

279

lassen, sondern auch durch die Fundierung in der paulinischen Darstellung des Christusgeschehens mit den genannten drei Aspekten.

15.3.1.2 Gotteswirkung im Leiden In der zweiten Gruppe sind die beiden Leidbewältigungsstrategien der Erfahrung von Standhaftigkeit und Bewahrung im Leiden sowie der Beendung des Leidens verbunden. Die Verbindung ist erstens durch den Anwendungsbereich gegeben, da beide meistens exemplarisch auf die erste Person Plural bezogen sind. Nur in 1,6 wird die Gabe der Standhaftigkeit ausgehend von und verbunden mit Bedrängnis- und Trosterfahrungen der Paulus-Gruppe auf die Adressatinnen und Adressaten übertragen. Diese Zurückhaltung passt zur Einsicht, dass Leiden und seine Bewältigung subjektiv erfahren werden: Die Erfahrung von Bewahrung, Standhaftigkeit und dem in seltenen Fällen erfahrenen Ende des Leidens wird von Paulus nicht für seine Gemeinden vorausgesetzt, was dem erwähnten sozialgeschichtlichen Befund für die Gemeinde in Korinth Rechnung trägt.35 Die hier thematisierten Leidbewältigungsstrategien beziehen sich nahezu ausschließlich auf Leiden, das in Handlungen anderer Menschen begründet liegt und den korinthischen Christusglaubenden wahrscheinlich nicht widerfahren ist.36 Im Falle des Ereignisses der paulinischen Krankheit in 12,7–9 wird die Beendung des leidverursachenden Widerfahrnisses zwar erbeten, bleibt aber aus. Beide Leidbewältigungsstrategien sind zweitens gegenüber der zuvor beschriebenen Gruppe dadurch verbunden, dass sie nach außen sichtbare Phänomene auf Gott zurückführen: die Tatsache, dass leidverursachende Widerfahrnisse beendet wurden (1,8–10; 7,5–7.13) oder dass die Gruppe möglicherweise entgegen eigener Erwartung Leiden überstanden hat oder darin nicht verzweifelt ist (4,8f.16; 6,4b; 6,6f.10; 7,4; 8,1f). Beides ist anders als die Strategien der vorigen Gruppe auch von Dritten wahrnehmbar und ohne Bezug auf den Christusglauben anderweitig erklärbar. Doch für die Paulus-Gruppe zeigt sich darin das Handeln Gottes, das entweder das Leiden beendet hat oder die Leidenden in verschiedener Weise darin nicht umkommen ließ.37 Daraus resultiert die Hoffnung, dass Gott auch in zukünfti35 36

37

Vgl. für einen Überblick über die Situation der paulinischen Gemeinde im antiken Korinth § 5.1. Zwar können die Menschen in Korinth Leiden erfahren haben, das besonders aus Ereignissen wie Krankheiten und Todesfällen resultierte (vgl. 1Kor 11,30). Doch ist das in 2Kor 1–8 nicht im Blick: Eine mögliche Ausnahme bildet die im Peristasenkatalog 2Kor 6,10 erwähnte Armut der Paulus-Gruppe, die im Kontext auf Handlungen oder Ereignisse zurückgeführt werden kann. Vgl. BULTMANN, Brief, 29 zu 2Kor 1,5: „Es braucht also dem mit Christus Verbundenen nichts neues und anderes [sic] zu passieren als allen anderen Menschen. Aber er erlebt und versteht alles neu und existiert so als καινὴ κτίσις (5,17) [neue Schöpfung, EW].“

280

Teil IV: Zusammenfassende Auswertung und Ertrag

gem Leiden wirksam wird als der, „auf den wir hoffen, dass er uns auch weiter erretten wird“ (1,10).

15.3.2

Grundgedanke der paulinischen Leidbewältigung: Gott im Leiden

Nach dem bis hierher Dargestellten ist es zwar nicht möglich, ein einziges Modell zu rekonstruieren, auf das die paulinische Leidinterpretation zurückzuführen wäre.38 Selbst die in der bisherigen Forschung häufig als Analogie oder Konformität vertretene Parallelisierung der Leidenden zum Christusgeschehen umfasst nur eine der beiden Gruppen von Leidbewältigungsstrategien.39 Jedoch gibt es besonders zwei Aspekte, die in allen Strategien vorkommen: Erstens scheint Paulus die Erfahrung gemacht zu haben, dass das Leiden wie selbstverständlich zum Leben (der Christusglaubenden) gehört:40 Er nennt zwar in den untersuchten Texten zahlreiche Varianten der einzelnen Strategien zur Bewältigung, geht aber nur vereinzelt davon aus, dass Gott ein leidverursachendes Widerfahrnis beendet (vgl. 2Kor 1,8–10; 7,5–7.13). Das bleibt also die Ausnahme, wie sich anhand von 2Kor 12,7–9 zeigt. Dagegen besteht die Regel darin, dass auch Christusglaubende immer wieder auf leidverursachende Widerfahrnisse treffen, die sie deuten und bewältigen müssen. Das gilt für die Paulus-Gruppe und die makedonischen Gemeinden in Thessaloniki und Philippi besonders, da diese speziell wegen ihres Glaubens Leiden ertragen müssen.41 Aus dem Christusgeschehen lässt sich für Paulus allerdings nicht nur eine Deutung des Leidens oder die Hoffnung auf Bewahrung und Rettung in einzelnen Leidsituationen ableiten. Vielmehr zielt es unter Einbezug apokalyptischer Elemente z. B. in 2Kor 1,10 und 4,16–18 auch auf die eschatologische Auferweckung der Leidenden und damit ein Ende des Leidens. Zweitens ist auffallend und nur auf den ersten Blick selbstverständlich, dass für Paulus die Leidbewältigung immer mit Gott oder mit Christus verbunden ist. An allen behandelten Stellen, in denen Leiden und Strategien zu seiner 38 39 40

41

Vgl. § 1.5.1 des Forschungsüberblicks. Vgl. oben § 15.2.1 sowie § 1.1 und 1.4 des Forschungsüberblicks. Vgl. für diese Einsicht anhand des Begriffs θλῖψις SCHLIER, Art. θλίβω, 142f und meine begriffsgeschichtlichen Überlegungen v. a. in § 4.2.2.4 zu den Psalmen. Dafür sprechen auch paulinische Aussagen wie 2Kor 5,4 und Röm 8,18–23. Der Gedanke, dass das Leiden unvermeidlich ist, zählt in ganz unterschiedlicher Ausprägung zum apokalyptischen Gemeingut der Zwei-Äonen-Lehre, z. B. 4Esr 4,26f; 7,11–16, wie auch zur stoischen Philosophie, z. B. in der Lehre von den Außendingen, von denen sich allerdings der Weise nicht beeinflussen lassen soll, vgl. Epiktet, Diss. 3,10,16; 3,13,8–10. Vgl. z. B. 1Thess 1,6; 3,3ff und Phil 1,29; 3,10 sowie WOLTER, Apostel, 535f.

§ 15 Auswertung der exegetischen Ergebnisse

281

Bewältigung vorkommen, wird in unterschiedlicher Deutlichkeit ein Bezug zu Gott oder Christus hergestellt.42 In einem literarischen Brief, der sich fast durchgängig auf Gott oder Christus bezieht, vermag dies zunächst kaum zu überraschen. Dass Paulus jedoch weder Christus als Leidenden noch Gott als dessen Vater aus der Leidensthematik heraushält, ist auffallend. Die Bewältigung des Sinnlosen geschieht also bei Paulus nicht trotz des Christusglaubens (durch den in der Theodizee-Debatte oftmals das Leiden erst als Anfrage an das Gottesbild deutlich wird), sondern gerade durch ihn. Strategien zur Leidbewältigung werden entwickelt unter Einbeziehung „einer transzendenten Wirklichkeit“43 oder durch einen „Umweg über Gott“.44 Für Paulus wird der Einbezug Gottes bei der Thematisierung des Leidens im 2. Korintherbrief nicht zum Problem, wie das in der Theodizee-Debatte seit der Neuzeit der Fall ist. Vielmehr bilden der Gottesbezug und speziell der Christusglaube die notwendige Basis für die paulinischen Strategien zur Leidbewältigung. So lässt sich am Ende zur paulinischen Leidensdeutung nicht mehr, aber eben auch nicht weniger festhalten, als dass der für Paulus vorausgesetzte Bezug Gottes zur Wirklichkeit auch im Leiden nicht aufgegeben wird, sondern gerade auch dort gilt.45 Dies wird besonders deutlich in den Strategien der ersten beiden Gruppen: Darin findet die Leidbewältigung nicht nur unter Rückbezug auf den Leid überwindenden Gott statt, sondern auf seinen Sohn Jesus Christus, der selbst Leiden am eigenen Leib erfahren hat.

15.4 Zusammenhang von Leidbewältigungsstrategie und konkretem Leid Ausgehend von der vierten Leitfrage ist nun darauf einzugehen, inwieweit Paulus eine Beziehung herstellt zwischen dem jeweils thematisierten Leiden und der entsprechend verwendeten Leidbewältigungsstrategie. Dahinter steht 42

43 44 45

In 2Kor 1,3–11 wird Gott als Urheber des Trostes beschrieben, den Christus weiter vermittelt. In 2,10 wird deutlich, dass auch der Konflikt zwischen Paulus und Gemeinde vor Christus geschieht. In 4,7–16 ist das Leiden und Leben Jesu Christi explizit die Begründung der antithetischen Formulierungen. Im Kontext des Katalogs von 6,3ff wird Gott in 6,4 als Träger des als wahrhaftig zu erweisenden Dienstes genannt, während in 6,6 einmalig auch der Heilige Geist erwähnt ist. In 7,5ff wird Gott wiederum als Ursprung des Trostes genannt, während in 8,1 auf die Gnade Gottes und in 8,9 auf die Gnade Jesu Christi Bezug genommen wird. In 11,23 werden die Apostel als Diener Christi bezeichnet, während in der Schwurformel von 11,30 Gott als Wahrheitszeuge angerufen wird. In 12,7–10 rühmt sich Paulus der Schwachheiten, weil wegen dieser der Herr in ihm wohnt. In 13,3f ist die Schwachheit Christi der Zustand, in dem dieser gekreuzigt und die PaulusGruppe in ihm ist. KRUG, Kraft, 84.98. Vgl. die Darstellung der Position im Forschungsüberblick § 1.5. DALFERTH, Umwege, 119 u.ö. und § 2.3.1 der Vorbemerkungen zum Verständnis von Leiden. Das bedeutet nicht, dass Paulus Gott als leidend beschreibt. Das gilt nur für Christus, der z. B. mit Leiden (2Kor 1,5), Tod (4,10) oder Schwachheit und Kreuz (13,3f) verbunden wird.

282

Teil IV: Zusammenfassende Auswertung und Ertrag

die Überlegung, ob das Leiden mit seinen unterschiedlichen Betroffenen, Betroffenheitsebenen, Ursachen und Verantwortlichen auch eine situationsspezifische paulinische Herangehensweise mit sich bringt. In Blick auf die Ursachenkategorie des jeweiligen Leidens kann eine Entsprechung der jeweiligen Strategie zur Ursache der Leiderfahrung anhand von 2Kor 1–8 nicht belegt werden. Denn nahezu alles dort thematisierte Leiden ist durch Handlungen verursacht. In 2Kor 10–13 ist für als leidverursachende Widerfahrnisse thematisierte Handlungen und für die dort häufigeren Ereignisse gleichermaßen eine Konzentration auf die Zuschreibung positiver Wirkung zu beobachten.46 Insofern scheint Paulus für die Leidbewältigungsstrategien in Hinblick auf die Leidursache keinen Unterschied zu machen. In Bezug auf die Berücksichtigung der Betroffenheitsebene bei der Leidbewältigung sind nur begrenzte Aussagen möglich. Denn nur in 2,1–11 und 7,5–16 ist eine Verortung konsequent auf der sozial-psychischen Ebene möglich. Dies deckt sich mit Beobachtungen zu den Verantwortlichen für das Leiden. Innerhalb von 2Kor 1–8 kommt ebenfalls nur an diesen beiden Stellen das leidverursachende Widerfahrnis nicht von Dritten, sondern von innerhalb des Beziehungsraums aus Paulus-Gruppe und Gemeinde. In beiden Fällen zeigt sich eine Reduktion der angewandten Leidbewältigungsstrategien: Nur die positive Wirkungszuschreibung (in 2,5.9; 7,8–13a) sowie die Beendung des Leids durch Gottes Trost (in 7,5–7.13) werden hier von Paulus eingesetzt. In den meisten anderen Fällen sind die beiden Ebenen nicht mit Bestimmtheit zu unterscheiden. Anders stellt sich das für die Rolle der vom Leiden Betroffenen dar.

15.4.1

Berücksichtigung der Betroffenen bei den angewendeten Strategien

1. Die Parallelisierung zum Christusgeschehen, formuliert als Leiden, Sterben und Misterben gegenüber dem Trost, Leben und Mitleben, ist an allen drei Belegstellen auf die paulinische Wir-Gruppe ausgerichtet (2Kor 1,5.7; 4,10f; 7,3) und wird von dort ausgehend in 1,7 und 7,3 auf die Gemeinde übertragen. In 1,7 geschieht das durch die Parallele zu den von der Paulus-Gruppe erfahrenen Leiden, in 7,3 durch das Präfix συν- als Bezug der Paulus-Gruppe auf Christus und auf die Gemeinde. Dieser Befund kann in Entsprechung zum vorigen Abschnitt so gedeutet werden, dass sich hier der Weg der pauli46

Vgl. zu möglichen Implikationen für die Redaktionsgeschichte das Zwischenfazit des exegetischen Ausblicks auf 2Kor 10–13 in § 13.4.

§ 15 Auswertung der exegetischen Ergebnisse

283

nischen Verkündigung nachzeichnen lässt: Zeitlich zuerst kommt die Parallelisierung von Christi Leiden und Auferweckung zur Paulus-Gruppe zustande, da diese zum Zeitpunkt der Verkündigung an die Gemeinde bereits den Christusglauben angenommen hat. Durch die Annahme der Verkündigung gilt die Parallelisierung danach auch für die Gemeinden. Dann besteht aber keine Abhängigkeit mehr von der Paulus-Gruppe, sondern vielmehr eine Gemeinschaft mit ihr und mit Christus (vgl. 1,7). 2. Konkrete Ausformungen der Strategie einer positiven Wirkungszuschreibung an das Leiden werden auf alle im 2. Korintherbrief vom Leiden Betroffenen angewendet: auf Paulus selbst, die Paulus-Gruppe, die korinthische Gemeinde und die in 2Kor 8,2 einmalig erwähnten makedonischen Gemeinden.47 Anders stellt sich das nur in den Fällen dar, in denen zwar eine Person/Gruppe leidet, aber sich an einer anderen die positive Wirkung realisiert: Diese Art der Funktionalisierung wird in 2Kor 1–8 und 10–13 ausschließlich auf die Paulus-Gruppe (nicht auf Paulus alleine) angewendet. In 1,6 führt die Bedrängnis der Paulus-Gruppe zum Trost für die Gemeinde, in 4,12 die Erfahrung des Todes zur Lebens-Erfahrung für die Gemeinde und in 6,10c die Erfahrung des Armseins zum Reichtum für Viele, was sich über die korinthische Gemeinde hinaus auf alle paulinischen Gemeinden beziehen dürfte. In 13,4 wirkt sich die Schwachheit der Paulus-Gruppe vermittelt über das Leben aus der Gotteskraft für die Gemeinde aus. In 13,9 ist eine Bewirkung von Kraft für die Gemeinde durch die Schwachheit der Paulus-Gruppe angelegt. Diese Art des Leidens zugunsten einer anderen Person(engruppe) ist bereits als apostolische „Pro-Existenz“48 bezeichnet worden. Dieser Befund erklärt, weshalb das paulinische Leiden in einigen Forschungsbeiträgen als soteriologisch wirksam für die Gemeinden angesehen wird,49 obwohl ein solcher Gedanke erst in der Interpretation der deuteropaulinischen Stelle Kol 1,24 belegt sein könnte. Doch die Heils-Vermittlung der Paulus-Gruppe geschieht durch die Verkündigungstätigkeit:50 Da diese vielen Menschen zu einem Erstkontakt mit dem Christusglauben verhilft, vermittelt sie den Gemeinden das Evangelium. Ihr Leiden wirkt sich insofern 47

48

49 50

Eine Ausnahme bildet der in 2Kor 2,1–10 und 7,12 erwähnte Einzelne, für den Paulus keine Strategie zur Leidbewältigung darlegt. SCHMELLER, Brief I, 254. Der Gedanke findet sich auch in Röm 5,7f von der positiven Wirkung des Todes Christi. Diesem Modell entsprechend nimmt EBNER, Leidenslisten, 121 als Hintergrund für 2Kor 11,23ff einen Peristasenkatalog an, wie er bei Arrian, An. 7,9,8–7,10,3 genannt ist. Darin erträgt der Feldherr Alexander der Große viele Gefahren und Strapazen zum Wohl seiner Soldaten. Vgl. im Forschungsüberblick z. B. § 1.1 und 1.2 und die Einzelexegesen zu 2Kor 1,3ff und 4,7ff. Vgl. für solch ein missionarisches Verständnis allerdings mit der Annahme soteriologischer Wirksamkeit der paulinischen Leiden für die Gemeinden z. B. LIM, Sufferings, 121 und WOLTER, Art. Leiden, 682. Für BULTMANN, Begriff, 19 wird Paulus „für die Hörer zum Christus“, weil er ihnen predigt. Vgl. GRÄßER, Brief II, 255.

284

Teil IV: Zusammenfassende Auswertung und Ertrag

für die Gemeinden aus, als sie es im Rahmen der Mission auf sich nehmen und es mit der Verkündigung verbinden (z. B. 1Kor 2,1–5; 2Kor 4,10–12; Gal 3,1–5), um den Christusglauben überhaupt erst zu verkündigen. Man kann also eher von einer missionarischen als von einer soteriologischen Wirksamkeit des Leidens der Paulus-Gruppe sprechen, da sich Paulus bereits in 1Kor 1,13 gegen eine heilschaffende Wirkung des eigenen Leidens ausspricht. Dies wird noch unterstützt, wenn man den von Paulus an den genannten Stellen 2Kor 1,6; 4,12 und 6,10 verwendeten Plural ernst nimmt und nicht pauschal als schriftstellerischen Plural und damit als erste Person Singular interpretiert.51 Durch die Verwendung des Plurals wird der vermeintlich einzigartig hohe Stellenwert der Person des Paulus bereits relativiert und auf die Paulus-Gruppe ausgeweitet. 3. Für die Strategie der von Gott gegebenen Standhaftigkeit und Bewahrung im Leiden fällt auf, dass sie in der überwiegenden Zahl der Fälle ausschließlich von der Wir-Gruppe ausgesagt wird (vgl. 2Kor 4,8f; 4,16; 6,4b.6– 7.9b). Lediglich in 1,6 wird die mit dem Trost Gottes verbundene ὑπομονή auf die Gemeinde bezogen. Die paulinische Zurückhaltung bei der Übertragung dieser Gruppe von Leidbewältigungsstrategien auf die Gemeinde ist möglicherweise zweifach begründet: Einerseits kann sie der Tatsache geschuldet sein, dass die Paulus-Gruppe die zugrundeliegenden leidverursachenden Widerfahrnisse anhand von Verfolgungen durch Dritte macht, die für die Gemeinde in Korinth unwahrscheinlich sind.52 Andererseits gewinnt die Leidbewältigung durch Bewahrung und Stärkung von Gott nur anhand eigener Erfahrungen Plausibilität. Die Paulus-Gruppe kann hier also von eigenen Erfahrungen der Bewahrung und Stärkung im Leiden berichten und so der Gemeinde eine Möglichkeit eröffnen, ohne für sie diese Erfahrung vorauszusetzen. 4. Wie bereits in den vorangegangenen Leidbewältigungsstrategien ist auch die Deutung vergangenen Leidens als von Gott beendet in 2Kor 1,10 und 7,5–7.13 nur auf die Paulus-Gruppe bzw. in 7,7 auf Paulus alleine bezogen – ein expliziter Bezug auf die Gemeinde fehlt. Eine Erklärung dafür kann auch hier darin liegen, dass diese Strategie ebenfalls stark erfahrungsverwurzelt ist: In einer Situation bedrängenden Leidens macht die Paulus-Gruppe oder Paulus selbst die Erfahrung, dass das leidverursachende Widerfahrnis endet. Im Rahmen des Christusglaubens wird diese Beendung ursächlich Gott zugeschrieben.53 Diese Erfahrung kann aus dem eigenen Erleben plausibel wer51 52 53

Vgl. zur Forschungsdiskussion um die erste Person Plural bei Paulus § 5.3. Vgl. zur Situation der Stadt Korinth und der dortigen Gemeinde § 5.1. Vgl. das bereits bei der Einzelexegese von 2Kor 1,3–11 in § 6.3.4 genannte Zitat von BULTMANN, Brief, 33f: „Die Umstände der Errettung interessieren nicht; und es ist grundsätzlich gleichgültig, wieweit dabei Vorsicht und Klugheit oder günstige Zufälle mitgewirkt (34) haben. Für den, der

§ 15 Auswertung der exegetischen Ergebnisse

285

den, muss aber für andere nicht einsichtig sein. Daher kann sie ebenfalls nur als exemplarische Möglichkeit eröffnet, jedoch nicht direkt auf andere übertragen werden. Durch die Schilderung und Deutung von Leiden anhand der Paulus-Gruppe wird der korinthischen Gemeinde diese Strategie der Leidbewältigung als mögliche Strategie angeboten.

15.4.2

Fazit

Die Frage, ob Paulus die Leidbewältigungsstrategien je nach den Betroffenen unterscheidet, kann also überwiegend positiv beantwortet werden: Die ersten beiden Strategien der positiven Wirkungszuschreibung sowie der Parallelisierung zu Leiden und Auferweckung Christi wendet er auf alle im 2. Korintherbrief Betroffenen an (Gemeinde, Paulus-Gruppe und Paulus alleine). Dies ist eines der Argumente dafür, beide Strategien als eine Gruppe zusammenzufassen. Im Gegensatz dazu stehen die beiden zum Schluss genannten Strategien, die sich in der Gruppe der ‚Gotteswirkung im Leiden‘ zusammenfassen lassen. Diese werden anders als die anderen fast ausschließlich auf die PaulusGruppe angewendet.54 Mögliche Erklärungen dafür sind zum einen, dass diese beiden Strategien an Erfahrungen der Wir-Gruppe rückgebunden sind. Diese Erfahrungen von sozialer Anfeindung und obrigkeitlicher Verfolgung können – wie bereits erwähnt – für die Lesenden des Briefes in Korinth nicht vorausgesetzt werden. Zum anderen kann in Bezug auf die Erfahrung der Gotteswirkung im Leiden nur subjektiv und als Möglichkeit berichtet werden. Im konkret erfahrenen Leiden hat die Paulus-Gruppe Standhaftigkeit, Bewahrung oder das (überraschende) Ende des leidverursachenden Widerfahrnisses erlebt und jeweils auf Gott zurückgeführt. Das kann nur aus eigener Sicht als wahr erlebt und für wahr gehalten werden, aber nicht von der Paulus-Gruppe für die Gemeinde vorausgesetzt werden. In Bezug auf die anderen Faktoren des Leidens lässt sich dagegen kaum eine Abhängigkeit von den jeweiligen Leidbewältigungsstrategien feststellen. Innerhalb von 2Kor 1–8 ist lediglich in 2,1–11 und 7,5–16 im Rahmen des Konflikts zwischen Apostel und Gemeinde von Paulus im Singular die Rede. Das Leiden ist eindeutig auf der sozial-psychischen Ebene zu bestimmen und die Verantwortlichen innerhalb des Beziehungsraums zu verorten. An beiden Stellen verwendet Paulus als Leidbewältigungsstrategie fast ausschließlich die

54

das Leiden auf sich genommen und sein Leben Gott preisgegeben hat, ist die Rettung Gottes Geschenk.“ Ähnlich auch WINDISCH, Korintherbrief, 227. Einzige Ausnahme bildet die in 2Kor 1,6 ausschließlich für die Gemeinde ausgesagte ὑπομονή im Leiden, die eine Auswirkung von Gottes Trost ist.

286

Teil IV: Zusammenfassende Auswertung und Ertrag

Zuschreibung einer positiven Wirkung. Aus dieser nur seltenen Korrelation zwischen dem Leiden und den angewendeten Strategien kann der Schluss gezogen werden, dass für Paulus die Art des Leidens bei seiner Bewältigung eine geringe Rolle spielt. Entscheidend ist vielmehr, wer jeweils davon betroffen ist.

15.5 Stellenwert des apostolischen Leidens Die letzte der Leitfragen der Untersuchung galt dem Stellenwert des Leidens von Paulus und ist bereits in anderen Zusammenhängen angesprochen worden. Daher wird der vorliegende Abschnitt die meisten Einsichten lediglich bündeln. Zunächst ist festzuhalten, dass Paulus im 2. Korintherbrief sowohl in der ersten Person Singular von sich als auch im Plural von einer Paulus-Gruppe spricht. Das für diese Gruppe geschilderte Leiden in 2Kor 1–8 lässt sich größtenteils auf Handlungen gegen die somatisch-physische Ebene zurückführen. Nur in 2Kor 1,23ff wird für Paulus im Singular exklusiv die sozialpsychische Betroffenheitsebene thematisiert. Ebenfalls nur hier wird der θλῖψις-Begriff auf Paulus alleine angewendet (2,4), während er sonst auf die Paulus-Gruppe und nur in 8,2.13 auf Gemeinden bezogen ist.55 Das Leiden der Paulus-Gruppe wird besonders in den Peristasenkatalogen mit einer großen Zahl von Begriffen thematisiert. In 2Kor 10–13 schreibt Paulus in Bezug auf sich an den relevanten Stellen bis auf die hier entscheidenden Verse 13,3f.9 im Singular. Dort allerdings changiert der Plural hin zu einem allgemein verstandenen Plural, der alle Christusglaubenden einbeziehen kann. Der verwendete ἀσθένεια-Begriff ist dabei nirgends auf die Gemeinde bezogen. Betrachtet man 2Kor 1–8 und 10–13 gemeinsam, so lässt sich zwischen Paulus und Paulus-Gruppe nur ein kleiner Unterschied ausmachen: Im Gegensatz zur primär somatisch-physischen Betroffenheit kommt Leiden primär auf der sozial-psychischen Ebene nur im Konflikt um die Einzelperson vor und wird nur im Singular thematisiert. Im Blick auf die verwendeten Strategien zur Leidbewältigung lässt sich wiederum ein Unterschied zwischen Paulus, Paulus-Gruppe und Gemeinde ausmachen. Für Paulus alleine findet sich bei aller Unterschiedlichkeit des jeweils thematisierten Leidens im gesamten 2. Korintherbrief ausschließlich die Bewältigungsstrategie einer positiven Wirkungszuschreibung. Außerdem wendet er auch Strategien zur Beendung bzw. Vermeidung von Leiden in 55

In 2Kor 7,5ff ist keine kohärente Verwendung des Numerus ersichtlich. Der θλῖψις-Begriff ist jedoch in 7,5–7 auf die Paulus-Gruppe bezogen.

§ 15 Auswertung der exegetischen Ergebnisse

287

2,1ff und 11,32f nur auf sich im Singular an, wobei solche Strategien in 2,1ff und 8,13 ebenfalls für die Gemeinde genannt werden. Für die Paulus-Gruppe sind alle vier Leidbewältigungsstrategien in unterschiedlichen Ausformungen belegt. Bei der Gemeinde werden Strategien im Zusammenhang mit der Gotteswirkung im Leiden nur selten verwendet (vgl. 1,6). Wie bereits in § 15.4 erwähnt, lässt sich dies gut damit erklären, dass die konkrete Erfahrung der Gotteswirkung nur aus eigener Sicht als wahr erlebt und für wahr gehalten werden kann. Somit setzt Paulus sie nicht für die Gemeinde voraus, sondern berichtet ihr davon aus seiner eigenen Erfahrung bzw. derjenigen der Apostel-Gruppe. Abschließend ist also festzustellen, dass das Leiden von Paulus und PaulusGruppe in 2Kor 1–8 und 10–13 einen deutlich größeren Raum einnimmt als das der Gemeinde. Es ist demnach quantitativ, aber nicht qualitativ oder kategorial von dem der Gemeinden verschieden.56 Und zumindest in 8,2.13 kommt das Leiden der Gemeinde ohne die Nennung des Apostel-Leids vor.57 Erste Person Singular und Plural werden von Paulus dabei wie oben dargestellt unterschiedlich verwendet, ohne dass sich ein stringentes Begründungsmuster finden ließe. Hypothesen zu einer konsequenten paulinischen Verwendung von Singular und Plural aus der bisherigen Forschung können auch am Schluss der Untersuchung nicht als überzeugend angesehen werden.58 Unterscheidet man zwischen der Nennung der Person und einer Mitarbeitenden-Gruppe des Paulus, fällt in Bezug auf die Relevanz des Leidens für die Gemeinde Folgendes auf: Gerade an den Stellen, an denen dem Leiden eine positive Wirkung zugunsten der Gemeinde zugeschrieben wird, schreibt Paulus nicht im Singular (1,5; 4,10; 6,10; 13,3f). Das ist besonders für 2Kor 13,3f hervorzuheben, weil in diesem Kontext der Singular dominiert, Paulus jedoch in den entscheidenden Versen in den Plural wechselt. Das spricht gleichzeitig gegen die Annahme einer soteriologischen Wirksamkeit der paulinischen Leiden für die Gemeinden. Es spricht aber für eine Auslegung dieser „Pro-Existenz“59 in einem missionarischen Verständnis, in dem Paulus die Bedeutung der Apostel-Gruppe hervorhebt.60 Die Apostel verkündigen der korinthischen Gemeinde den Christusglauben und bringen sie 56

57

58 59 60

So auch z. B. TANNEHILL, Dying, 98 und BETZ, Concept, 334: Beider Leiden sind möglicherweise quantitativ aber nicht qualitativ unterschieden. Vgl. CHOI, Peristasenkataloge, 254 und GRÄßER, Brief I, 60. Anders z. B. WINDISCH, Korintherbrief, 238. Gegen WOLTER, Art. Leiden, 682 demzufolge das Leiden der Gemeinde nur im Kontext des Apostel-Leids thematisiert werde. Vgl. zur paulinischen Pluralverwendung § 5.3. SCHMELLER, Brief I, 254 und EBNER, Leidenslisten, 121. Mit MÜLLER, Plural, 200f kann man davon sprechen, dass Paulus hier die Bedeutung von „Teamwork“ unterstreicht.

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Teil IV: Zusammenfassende Auswertung und Ertrag

erstmals damit in Kontakt. Daraus erwächst jedoch keine dauerhafte Vorrangstellung der Apostel im soteriologischen Verhältnis zwischen Gemeinde, Christus und Gott. Die Gemeinden (1,6) und alle Christusglaubenden (13,3f) haben selbst Anteil an Leiden und Schwachheit, Trost und Kraft Christi. Paulus kann somit im Kontext von Leiden im 2. Korintherbrief nicht als notwendiger Heilsvermittler für die Gemeinden gelten. Vielmehr ist er neben möglichen anderen Aposteln aus der Wir-Gruppe ein möglicher Initiator des Christusglaubens und Gottesverhältnisses der Gemeinde.

§ 16 Ertrag: Paulus und das Leiden § 16 Ertrag: Paulus und das Leiden

Im Rückgriff auf das in der Einführung genannte Zitat aus Büchners ‚Dantons Tod‘ kann am Schluss der Untersuchung zusammenfassend festgehalten werden, dass das Leiden für Paulus kein ‚Fels des Atheismus‘ ist. Für die Korintherinnen und Korinther wird die Beobachtung des Leidens an Apostel oder Apostel-Gruppe jedoch zu einem Stein des Anstoßes, der sie zu anderen Missionaren und zum Glauben an ein anderes Evangelium treiben könnte. Daher widmet sich Paulus im 2. Korintherbrief oder dessen ursprünglichen Teilen dem Leidensthema in einer Weise, die es zu einem Baustein seiner Christusverkündigung macht. Er schreibt dabei als Leidender und an manchen Stellen für Leidende. Das ist teilweise anders in den Theodizee-Debatten seit Beginn der Neuzeit.1 Daher konnte das LEIBNIZ’sche Modell eines Überwiegens der Güter in der Schöpfung mit dem Einbruch extremen Leidens durch das Erdbeben von Lissabon 1755 nicht mehr überzeugen. Paulus bleibt dagegen auch im Leiden glaubhaft, weil er die Umgangsweisen mit dem Leiden anhand seiner eigenen Person ausführt und auf sein eigenes vielfach berichtetes Leiden beziehen kann. An einer Klärung, woher das Leiden kommt, ist Paulus dabei kaum interessiert. Er kann es zwar in einigen Fällen auf Gott als Verursacher zurückführen, wie im Beispiel der passiva divina in 2Kor 4,12.16; 6,9; 12,7. Darin erschöpft sich für ihn allerdings jeweils nicht die Leidbewältigungsstrategie. Vielmehr ist die mögliche Ursachenklärung nur ein Schritt auf dem Weg zur möglichen Leidbewältigung. Pointiert kann man festhalten, dass Paulus eher an einem möglichen ‚Wozu‘ des Leidens interessiert ist als an dem ‚Woher‘.2 Das unterscheidet ihn wiederum von vielen Beiträgen zum neuzeitlichen Theodizee-Problem, die gerade nach dem ‚Woher‘ des Leidens fragen. Für Paulus zeigt sich im Leiden erstens eine Parallele des Leidens von Christusglaubenden zum Christusgeschehen. Diese ist zwar nicht die Basis für die gegenwärtige und zukünftige Teilhabe an Christi Leiden und Auf1

2

Vgl. DALFERTH, Malum, 38–41 und FELDMEIER, Theodizee, 27. MARQUARD, Entlastungen, 14f geht davon aus, dass anhand der Lebensbedingungen zumindest der philosophisch gebildeten Minderheit gerade ab der Neuzeit eine Distanz zum Leiden möglich ist, die die Reflexion vom Leiden weg auf das Theodizeeproblem ermöglicht. Das führt die Einsicht der Leidbewältigung innerhalb des in § 2.3.1 erläuterten phänomenbezogenen Leidverständnisses weiter. Denn auch darin geschieht durch die Klärung möglicher Leidensursachen noch nicht die Leidbewältigung.

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erweckung, aber doch eine Möglichkeit des Rückschlusses darauf. Zweitens ist für Paulus gerade im Leiden die Kraft Gottes und Christi zu erfahren. Er ist dabei zurückhaltend, was Aussagen zur denkbaren Beendung des Leidens durch Gott angeht. Diese mögliche Erfahrung konstatiert er nur für sein eigenes Erleben und für das der Apostel-Gruppe, ohne es für die Gemeinden vorauszusetzen. Durch die Verbindung zu Gott und Christus im Leiden geht er jedoch auch für die Gemeinde davon aus, dass Gott sie im Leiden bewahrt und ihnen die nötige Kraft zum Durchhalten gibt. Gott ist mit seinem Trost gerade in Bedrängnis (1,6; 7,5–7.13) und Christus mit seiner Kraft in der Schwachheit (12,9f; 13,3f) gegenwärtig, was dem Leiden für Paulus seinen sinnlosen Charakter nehmen kann. Die konkreten Ausformungen der jeweiligen Strategien zur Leidbewältigung sind bei Paulus vielfältig und hängen oft an der konkreten Situation des Leidens. Er greift dafür sowohl auf Gedanken aus dem hellenistischen Allgemeinwissen zurück (Höherschätzung des Inneren, Unsichtbaren) wie auf Motive und Gedanken der kynisch-stoischen Philosophie (Peristasenkataloge) und auf die jüdische Tradition (Apokalyptik, Weisheit). Dabei scheint die Art des Leidens für die mögliche Bewältigung aus paulinischer Sicht weniger relevant zu sein als die Frage, wer davon betroffen ist. Entscheidend ist, ob etwas für eine Person oder Gruppe als sinnlos und deutungsbedürftig erscheint. Wo man jedoch selbst Einflussmöglichkeiten hat, soll Leiden möglichst vermieden oder beendet werden (2,1–4; vgl. 11,30f). Eine Sonderstellung des apostolischen Leidens als heilswirksam für die Gemeinden kann nach meiner Untersuchung nicht bestätigt werden. Zwar zeichnen sich in 2Kor 1–8 Paulus-Gruppe und in 2Kor 10–13 Paulus selbst in vielen Leidensschilderungen aufgrund des Aposteldienstes als besonders vom Leiden betroffen aus. Das ist jedoch bei näherem Hinsehen mit den Begleitumständen des missionarischen Wirkens verknüpft und nicht auf eine soteriologische Wirksamkeit ausgerichtet. Der zugrundeliegende Gedanke aller dargelegter Leidbewältigung gilt jedoch nicht exklusiv für Paulus alleine oder die Paulus-Gruppe: Gott wird immer mit den Leidenden in Verbindung gebracht.

Literatur- und Quellenverzeichnis Quellenausgaben und Übersetzungen Im Folgenden werden die wichtigsten in der Untersuchung verwendeten Quellen aufgeführt. Soweit im Text nicht anders vermerkt, sind die Übersetzungen meine eigenen. Bibeltexte und -übersetzungen Biblia Hebraica Stuttgartensia, hg. v. K. ELLINGER/W. RUDOLPH, Stuttgart 41990. Biblia Sacra, iuxta Vulgatam Versionem, hg. v. R. WEBER/R. GRYSON, Stuttgart 52007. Das Neue Testament. Griechisch und Deutsch, hg. v. B. ALAND u. a., Stuttgart 1986. Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. Mit Apokryphen, Bibeltext in der revidierten Fassung von 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, Stuttgart 1999. Die Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung, hg. im Auftrag der Bischöfe Deutschlands u. a., für die Psalmen und das Neue Testament auch im Auftrag des Rates der EKD u. a., Freiburg i. Br. u. a. 2009. Novum Testamentum Graece, hg. v. B. ALAND u. a., 28. Aufl., 2. korrigierter Druck, Stuttgart 282013. Septuaginta Editio altera, hg. v. A. RAHLFS/R. HANHART, Stuttgart 2006. Zürcher Bibel, hg. im Auftrag des Kirchenrats der Evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich, Zürich 2007. Jüdische Texte 1Hen zitiert nach: UHLIG, S., Das äthiopische Henochbuch, JSHRZ 5,6, Gütersloh 1984. 2Hen zitiert nach: BÖTRICH, Ch., Das slavische Henochbuch, JSHRZ 5,7, Gütersloh 1995. 3Bar zitiert nach: KLIJN, A.F.J., Die syrische Baruch-Apokalypse, in: JSHRZ 5,2, Gütersloh 1976, 103–191. 4Esr zitiert nach: V. TISCHENDORF, K., Apocalypses apocryphae, Leipzig 1866 (= Hildesheim 1966), 24–33. Der Babylonische Talmud, 9 Bde., hg. v. L. GOLDSCHMIDT, Leipzig/Berlin 1897–1935. JosAs zitiert nach: Joseph und Aseneth, kritisch hg. v. Ch. BURCHARD u. a., PVTG 5, Leiden/Boston (Massachusetts) 2003. Josephus Josephus, with an English Translation by H.St.J. THACKERAY, 9 Bde., London/Cambridge (Massachusetts), LCL, 1926–1965.

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Abkürzungen Allgemeine Abkürzungen und Abkürzungen von Zeitschriften, Reihen und Lexika richten sich nach: S.M. SCHWERTNER, IATG3. Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, Berlin/Boston (Massachusetts) 32014. Verweise auf die Sekundärliteratur erfolgen in der Untersuchung mit einem Kurztitel, der sich am Beginn des Haupttitels orientiert. Die Abkürzungen der biblischen, zwischentestamentlichen und apokryphen Schriften sowie der Schriften von Philo von Alexandrien und Flavius Josephus richten sich nach dem Abkürzungsverzeichnis der RGG4. Alle Stellenangaben aus dem Alten Testament beziehen sich, soweit nicht anders angegeben, auf die Septuaginta (LXX). Für die Psalmen ist das durch den griechischen Buchstaben Ψ markiert. Weitere griechische Quellen werden abgekürzt nach H.G. LIDDELL/R. SCOTT, A Greek English Lexicon, neu herausgegeben von H. S. JONES, 3 Bde., Oxford 1925–1996. Lateinische Quellen werden abgekürzt nach Thesaurus Linguae Latinae (TLL) Online , zuletzt aufgerufen am 30.05.2017. Darüber hinausgehende Abkürzungen griechischer oder lateinischer Autoren richten sich nach P. H. ALEXANDER u. a. (Hg.), The SBL Handbook of Style. For Ancient Near Eastern, Biblical, and Early Christian Studies, Peabody (Massachusetts) 1999.

Register Biblische Texte Altes Testament Genesis 35,3 68 Exodus 16,18 232

Jeremia 9,6 230, 233 19,11 155 Weisheit Salomos 3,5f 179, 199, 247, 249 11,10 230, 233

Levitikus 11,33 154f

Jesus Sirach 6,8–10 70, 267 30,23 82, 113 38,16 80

Deuteronomium 4,26 160

Baruch 4,30 113

Richter 10,14 68

Ezechiel 16,5 80

2Samuel 15,21 207 22,1 68 22,19 67f

Daniel 12,1 66, 69, 75, 120

Psalmen (Zählung nach LXX) 15,9f 102 16,3 230, 233 24,17 66, 71, 134 30,8f 66 65,11 71f 77,49 72, 74 115,1f 165 117,8f 124 117,17 191, 198 117,18 199 Sprüche 3,11 200 Klagelieder 1,3 86 4,2 154f Jesaja 30,14 155 49,8 184

Neues Testament Matthäus 7,14 61, 74 13,21 75, 85 14,9 83 18,31 83 24,3 75 24,21 75 27,46 123, 159 Markus 3,9 74, 78 4,17 75, 85f 5,24 61, 74 5,31 61,74 13,4 75 13,19 75 Lukas 8,45 61, 74, 78 21,23 75, 84, 87

316 Johannes 16,20–33 76 Apostelgeschichte 7,10 76, 78 7,11 76, 87, 229 7,39 139 9,15 155 11,19 76 14,22 76 18,1–18 99 18,2 92f, 99 18,4–8 91 19,23–40 110 20,23 77f Römer 2,9 85f, 158, 185, 236 5,3–5 138, 195, 210 5,19 139 6,8 24, 207f 7,5 80f, 119 7,22 173–175, 214 8,18 81, 179f 8,27 219 8,31–39 149 8,35 85f, 151, 158, 185, 190, 236 9,21–23 155 14,18 115, 138 15,4f 115 16,1f 90 1Korinther 4,6–13 29 4,9 121, 200 4,12 86, 190 5,9 100 6,1–6 93 7,12–16 93 7,37 84 9,16 84, 150 10,13 115f, 161, 273 10,27–29 93 12,26 23, 81, 119f, 137, 145, 208 13,1–13 143 14,1 143 14,23–25 93 16,5–7 99 16,14 143

Register 2Korinther (Stellen außerhalb der Einzelexegesen) 1,15f 100 2,8 141f 2,15 160 3,1 100, 147, 194 3,2f 156 3,4 148, 154, 205 3,7–11 156 4,1–6 147 4,3 160 4,5 147, 190 4,6 147, 154, 180, 195, 217 5,1–10 148, 168–170, 172, 182f 5,17 126, 170, 177, 198, 279 6,2 184, 198, 204 6,14–7,1 94f, 97, 99, 185 9,7 83f, 223 9,13 138, 230 10,5 139 11,14 143 12,14 100, 131 13,13 196 Galater 3,4 80f, 119 4,12–14 110 4,17f 152 4,20 152, 159 5,24 80f, 119 6,17 23f, 27, 33, 38, 162, 242 Epheser 3,16 173, 214 Philipper 1,28–30 92, 233 2,5–11 163 2,22 138, 230 2,27 83, 191 3,10 22, 32f, 38, 81, 119, 121f, 267, 280 3,12 86 Kolosser 1,24 23, 25, 31, 39, 81, 120f, 166, 262, 271, 283 4,1 232 1Thessalonicher 1,6 26, 36, 121, 136, 201, 210, 233, 236, 267, 280

317

Register 2,4 138 2,14 81, 108, 119, 233 3,1–10 218, 222 3,3f 233, 236, 267 3,7 84, 114, 118, 236, 267 4,4 155 4,13 191 5,15 86 2Thessalonicher 1,4 86 1Timotheus 6,5 171 2Timotheus 2,20 155 Philemon 7 114, 118, 201, 210, 214, 218 14 84 Hebräer 10,33 77 11,37 77 12,1 77 12,11 83 Jakobus 1,27 77f, 228 1Petrus 2,19 83 2,21–24 81 3,7 155 4,1 81 Offenbarung 1,9 77f, 115 2,9f 228 2,22 77, 79 7,14 77 11,18 171

Jüdische Texte 3Baruch 13,9f 202 15,7f 202

15,8 179 32,5f 179 44,14 154 48,20 179 48,31 202 48,49f 179 48,48–50 202 50,2 126 51,1ff 126 51,12 179 52,3 126 52,5–7 202 52,5 179 52,6 202 54,16–18 202 68,25f 179 85,12–15 126 1Henoch 6–25 143 16,1 179 18,16 179 21,46 179 22,13 78 39,3f 245 45,1–3 126 51,1–3 126 52,1f 245 61,5 126 62,14f 168 88–91 143 89,46 78 103,9 78 104,1–5 202 2Henoch 3,1 244 7,1 245 8,1 245 22,8ff 168 61,2 179 65,8 179 65,10 179 66,6 150, 187 4Esra 3,30 202 4,11 153 4,26f 280 7,11–16 280

318 7,12 202 7,32f 126 7,89f 202 7,98f 202 14,15 202 4Makkabäer 9,8 179 17,12 178 Hirt des Hermas 75, 78 Joseph und Aseneth 61, 75f, 220 Josephus AJ 61, 74, 101f, 110, 115, 138, 237 BJ 29, 62, 74, 237 Philo Abr. 80, 136, 148, 159, 196 aet. 74, 171 cher. 80, 154 conf. 182 congr. 174 det. 154 Flacc. 74, 189 fug. 174, 219 gig. 74 Jos. 74 LA 80, 196, 201, 220 legat. 91, 136 migr. 154 Mos. 74, 138, 181 mut. 148, 201 opif. 182 praem. 74 spec. 146, 174, 220, 245 somn. 148, 154, 159, 196, 247 virt. 168, 237 Qumran 1QS 66, 154 1QM 37, 95, 202 Testament des Josef 29, 76, 115, 120, 150, 159, 187, 220, 237 Leben Adams und Evas 143f, 191 Sibyllinisches Orakel 68, 75, 78

Register

Nichtjüdische/nichtchristliche Quellen Appian 90 Aristoteles EN 33, 62, 137, 195, 232, 273 HA 61, 181 Pol. 62, 232 Pr. 60–62, 237 Resp. 61 Cicero Fam. 63 Lael. 159 Tusc. 63, 133, 154 Off. 190 Dio Chrysostomos 109, 190 Diodorus Siculus 62 Diogenes Laertius 159, 193, 232 Epiktet Diss. 51, 63f, 70, 80, 82, 85, 102f, 109, 112, 115, 118, 133, 150, 153, 158, 168, 178, 187, 190, 193–195, 202, 237, 240, 249, 280 Ench. 64, 131, 202 Epikur Ep. Pythoclem 61 Fr. 44 Euripides IA 82 Or. 207 Ph. 232 Lukian Alex. 61 Nigr. 62, 148 Tox. 33, 111, 121, 137 Homer Il. 51, 181 Od. 61

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Register Pausanias 90–92 Platon Grg. 32f, 142, 168 Lg. 181 Phd. 82 Phdr. 182 Phlb. 81f, 154 R. 70, 148, 173, 244 Plotin Enn. 174 Plutarch Caes. 90, 155 Cons. App. 19, 63, 112, 178 Oth. 113 Pel. 115 Phil. 163 Reg. imp. apophth. 62, 228 Sept. sap. conv. 159 Stoic. abs. 150, 171

Theophrast Fr. 62 Xenophon Anab. 112 Mem. 154

Patristische Quellen Clemens Alexandrinus Paed. 174 IgnEph 180 Justin Dial. 91 Origenes Or. 85 Hom. Gen. 174

Polybius 62, 110, 112, 115

Griechische Begriffe Porphyrius Marc. 191 Pseudo-Demetrius 112, 137, 239 Pseudo-Krates 192, 205 Pseudo-Libanius 112, 130, 133, 135, 137, 239 Seneca De providentia 70 Epist. 37, 115, 150, 182, 193, 195f, 196, 249 Helv. 118 Marc. 112, 154f, 163, 168 Polyb. 118 Sophokles Aj. 81 Strabo 33, 90 Theokrit Idyll. 61

ἀνάγκη 41, 65, 84f, 87 Anm. 133, 188f διαφθέιρω 169, 170–172, 177, 273 διωγμός/διώκω 75f, 86, 152f, 159, 246f δόξα 169, 171 Anm. 17, 173 Anm. 24, 179f, 208 Anm. 128 δύναμις 36f, 106, 156, 166, 237, 249f, 251– 254, 270 ἐνεργέω 80, 164 ἐργάζω (κατ-) 177 Anm. 52, 179f, 221f ζωή κτλ. 167, 270 θάνατος κτλ. 74, 110f, 121 Anm. 89, 126, 159, 167, 191, 197–199, 205–208, 269, 271 κοινωνία κτλ. 33, 117, 121f, 209 Anm. 132, 224 λύπη 41 Anm. 112, 76, 79, 82–84, 131, 133–136, 145, 191, 200f, 213f, 219, 221f, 266, 271, 273 μάχη 215f, 227 μετάνοια 219f νέκρωσις 126, 162f, 167 πάθημα/πάσχω 35, 63 Anm. 17, 77, 79–83, 107f, 137, 118–122, 128, 179f, 208 Anm. 128

320 παιδεύω κτλ. 70, 179, 191, 199–202, 271 Anm. 14 παράκλησις/παρακαλέω 106, 112–114, 116–118, 127, 205, 210, 214, 217f, 274 περισσεύω (ὑπερ-) 229f, 273 Anm. 16 πλεονεξία 132 Anm. 16, 143f, 232 πλουτίζω 204, 225, 278 προσκοπή 193, 238 Anm. 18 πτωχός 204f, 225f, 228, 278 ῥύομαι 72, 110, 118, 124–128

Register σατανᾶς 95 Anm. 29, 144, 246 στενοχωρία 62 Anm. 6, 64, 85f, 158, 188f, 246f σωτηρία 72, 116, 118, 156 Anm. 49, 221 ὑπομονή 114f, 118, 127f, 186f, 195, 204, 212, 271, 273, 284 φανερόω 27f, 162 χαρά/χαίρω 76, 81–83, 136f, 200–204, 210, 230 Anm. 31, 253, 273f χάρις/χαρίζω 132, 141, 224f, 231