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German Pages 256 [257] Year 2012
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Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament Zehnte Folge Herausgegeben von Walter Dietrich Ruth Scoralick Reinhard von Bendemann Marlis Gielen Heft 18 · Der ganzen Sammlung Heft 198
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Reinhard von Bendemann Markus Tiwald (Hrsg.)
Das frühe Christentum und die Stadt
Verlag W. Kohlhammer
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NT Neues Testament an der Ruhr
Alle Rechte vorbehalten © 2012 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Umschlag: Gestaltungskonzept Peter Horlacher Gesamtherstellung: W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart Printed in Germany ISBN 978-3-17-022073-7
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Inhalt
Vorwort ...........................................................................................................
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Reinhard von Bendemann / Markus Tiwald Das frühe Christentum und die Stadt – Einleitung und Grundlegung ............
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Reinhard von Bendemann Jesus und die Stadt im Markusevangelium ....................................................
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Rainer Riesner Zwischen Tempel und Obergemach – Jerusalem als erste messianische Stadtgemeinde ...........................................
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Thomas Söding Apostel gegen Apostel. Ein Unfall im antiochenischen Großstadtverkehr (Gal 2,11–16) ...................
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Kurt Erlemann Antiochia und der Hebräerbrief – eine Milieustudie ..................................... 114 Markus Tiwald Frühchristliche Pluralität in Ephesus ............................................................. 128 Jens-Christian Maschmeier Der Glaube auf dem Marktplatz. Freiheitskämpfe in Korinth ....................... 146 Alexander Weihs „Gott liebt einen fröhlichen Geber“. Zur Strategie und Theologie paulinischer Spendenakquise in Korinth (2Kor 8–9) ..................................... 164 Jan Schäfer Vom Zentrum zum Zentrum. Die Achse der Apostelgeschichte von Jerusalem nach Rom ......................... 189 Robert Vorholt Alle Wege führen nach Rom. Die Hauptstadt im Blickfeld des Paulus ........................................................ 208
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Inhalt
Volker Rabens „Von Jerusalem und rings umher…“ (Röm 15,19). Die paulinische Missionsstrategie im Dickicht der Städte ............................. 219 Peter Wick Das Paradies in der Stadt. Das himmlische Jerusalem als Ziel der Offenbarung des Johannes .............. 238 Stellenregister (Auswahl) .............................................................................. 251 Autoren ........................................................................................................... 255
Vorwort
Der vorliegende Band fasst die Beiträge zweier Tagungen zusammen, die jeweils Anfang November 2010 und 2011 in Witten-Heven (südlich von Bochum) stattgefunden haben. Die auf der ersten Tagung neu konstituierte Arbeitsgemeinschaft von bislang etwa vierzig Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in der weiteren Ruhr-Region wird von diesem Band an unter dem Label „NTR“ (Neues Testament an der Ruhr) arbeiten. Die Megalopolis des Ruhrgebietes inspirierte als gemeinsamer Ort des Lebens, Lehrens, Lernens und Forschens auch das Thema der ersten beiden Jahrestagungen. Die Mitwirkenden an NTR haben sich vorgenommen, in den kommenden Jahren weiterhin aktuelle und theologisch wie gesellschaftlich interessante Fragen aufzugreifen und aus der Perspektive der neutestamentlichen Wissenschaft zu beleuchten. Das Projekt spiegelt insgesamt die große methodische und materiale Bandbreite von neutestamentlichen Forschungen in der weiteren Ruhr-Region. Der vorliegende Band vereint damit inhaltlich und methodisch divergierende Beiträge und Zugänge, die die Vielfalt von Forschungsinteressen und Projektschwerpunkten der Beteiligten abbilden. Bei der Vorbereitung des Bandes für den Druck haben Rosalia Holzapfel, Carolin Konze, Steffen Leibold, Charlotte Namyslo und Andreas Seifert sehr geholfen. Ihnen sei herzlich gedankt. Unser Dank gilt ferner dem Verlag Kohlhammer, hier besonders Jürgen Schneider und Florian Specker, die von Verlagsseite die Rahmenfindung für die Gesamtkonzeption von NTR tatkräftig und großzügig unterstützt und begleitet haben. Unser Dank gebührt weiter dem Herausgeberkreis von BWANT, namentlich Prof. Dr. Marlis Gielen, Prof. Dr. Ruth Scoralick sowie Prof. Dr. Walter Dietrich, für die längerfristige Aufnahme des NTR-Projektes in die Reihe BWANT und die wissenschaftliche Begleitung und Betreuung. Bochum und Essen im Januar 2012 Reinhard von Bendemann Markus Tiwald
Das frühe Christentum und die Stadt – Einleitung und Grundlegung Reinhard von Bendemann Markus Tiwald
1.
Der Mensch – Ein städtebauendes Tier?
„Es ist eine ganz entscheidende und in ihrer vollen Bedeutung nie gewürdigte Tatsache, daß alle großen Kulturen Stadtkulturen sind. Der höhere Mensch des zweiten Zeitalters ist ein städtebauendes Tier. […] Weltgeschichte ist die Geschichte des Stadtmenschen. Völker, Staaten, Politik und Religion, alle Künste, alle Wissenschaften beruhen auf einem Urphänomen menschlichen Daseins: der Stadt. […] Der Landmensch und der Stadtmensch sind verschiedene Wesen. […] Jede Frühzeit einer Kultur ist zugleich die Frühzeit eines neuen Städtewesens. […] Die neue Seele der Stadt redet eine neue Sprache, die sehr bald mit der Sprache der Kultur überhaupt gleichbedeutend wird. […] Alle echte Stilgeschichte spielt sich in Städten ab. […] Vor allen Dingen ist es ‚das Gesicht’ der Stadt, dessen Ausdruck eine Geschichte besitzt, dessen Mienenspiel beinahe die Seelengeschichte der Kultur selbst ist. […] [A]lle politische, alle Wirtschaftsgeschichte kann nur begriffen werden, wenn man die vom Lande sich mehr und mehr absondernde und das Land zuletzt völlig entwertende Stadt als das Gebilde erkennt, welches den Gang und Sinn der höheren Geschichte überhaupt bestimmt, Weltgeschichte ist Stadtgeschichte. […] Die Stadt ist Geist. Die Großstadt ist der ‚freie Geist’. […]“1 Diesen provokanten Sätzen, die Oswald Spengler in seinem schon zeitgenössisch höchst umstrittenen und vielfach missverstandenen geschichtsphilosophischen Werk „Der Untergang des Abendlandes“ nach dem Ersten Weltkrieg unter der Überschrift „Die Seele der Stadt“ formuliert hat und die in seiner Goethe und Nietzsche verpflichteten Philosophie des Schicksals zugleich auf den fatalen Umbruch zur „absoluten Stadt“ hin angelegt sind, verweisen auf das Faszinosum der Stadt. Seit je sind gerade auch Schriftsteller diesem Faszi1
Die Zitate stammen aus Spengler, Untergang, 661f., 664, 667, 669. Aktuell findet sich eine vergleichbare Hochwertung der Bedeutung der „Stadt“ bei Saunders, welcher in der Gestaltung der sogenannten „arrival city“ faktisch die Möglichkeitsbedingungen für die Zukunft der Menschheit erkennt. „What will be remembered about the twenty-first century, more than anything else except perhaps the effects of a changing climate, is the great, and final, shift of human populations out of rural, agricultural life and into cities. We will end this century as a wholly urban species“ (ders., City, 1).
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nosum erlegen, seien es die der klassischen griechischen Epoche in ihren Brechungen in Prosa und Dichtung, seien es die neu entstehenden Metropolen der hellenistisch-römischen Zeit im zeitgenössischen Epos oder auch in der Historiographie, seien es neuzeitliche Großstädte in Werken wie denen von Hugo, Baudelaire, Rimbaud, Benjamin, Joyce oder Döblin. Spenglers zugespitzte Thesen können den Blick zugleich auf Grundfragen der Stadtgeschichte der hellenistisch-römischen Zeit sowie auch der Geschichte des Frühchristentums als eines städtischen Phänomens lenken.2 Verhält es sich so, dass das frühe Christentum als eine neue religio, die im 1. und 2. Jahrhundert allmählich aus dem Judentum hervortritt, auf dem „Urphänomen“ des Daseins der Stadt gründet? Inwieweit partizipiert das frühe Christentum am Faszinosum der Stadt? Inwieweit sind die frühen Christen selbst ein innovativer Faktor städtischer Entwicklungen? Gibt es eine frühchristliche „urban revolution“3? Ausgehend von den im Anschluss an Spenglers problematisches Werk formulierten Fragen möchte die Einleitung des vorliegenden Sammelbandes den Stand der Erforschung der Stadt als Phänomen skizzieren und diesbezügliche Erträge der neutestamentlichen Wissenschaft zusammenfassen. Die Einleitung versteht sich als Folie, vor deren Hintergrund die Einzelbeiträge ihr jeweiliges Profil entwickeln können. Ausgewählte Aspekte der Rückfrage nach der „Stadt“ und den „Städten“ in hellenistisch-römischer Zeit, die einen Nährboden für die Etablierung und Ausbreitung des ältesten Christentums bieten konnten, sollen dargestellt werden. Stehen im Zentrum des vorliegenden Buches neutestamentliche Beiträge, die vorrangig die jeweilige literarische Konzeption einzelner früh2
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Die geistesgeschichtlichen und politischen Hintergründe, die sich in Spenglers Werk (1918.1922) mit Vorstellungen wie der vom „höheren Menschen“ oder der „metaphysischen Wendung zum Tod“ verbinden, können hier nicht dargestellt werden. Noch problematischer sind Spenglers Positionen zur „Mission der Deutschen“ und zum „Problem der Rasse“ (Untergang, 687). Nach Spengler mündet das Phänomen Stadt paradigmatisch in den Verlust der Subjekthaftigkeit der Menschen. Die Stadt muss am Ende zur „steinernen Masse“ erstarren, was Spengler auch durch – höchst problematische – architekturund stilgeschichtliche Beobachtungen abzustützen versuchte. Vgl. ders., a.a.O., 684: „Bedeutet die Frühzeit die Geburt der Stadt aus dem Lande, die Spätzeit den Kampf zwischen Stadt und Land, so ist Zivilisation der Sieg der Stadt, mit dem sie sich vom Boden befreit und an dem sie selbst zugrunde geht.“ Siehe zu Spenglers Geschichtsphilosophie: Swassjan, Untergang; Krebs, Endzeit. Vergleichbare kulturpessimistische Wahrnehmungsschemata wirken mindestens indirekt auch noch bei Mumford, Stadt, nach (vgl. a.a.O., 223: „Weil die Griechen ihr eigenes Werk, die Stadt, zu ihrem Gott erhoben, verloren sie die größte Gabe göttlicher Erfahrung: den Impuls und die Fähigkeit, sich über natürliche Beschränkungen zu erheben […]“; 231: „Das Stadtleben in Griechenland hatte als ein lebendiges Gespräch begonnen und war zu einem grobschlächtigen Agon oder körperlichen Kampf entartet.“ Exemplarisch zu „Roms Größe und Verfall“: a.a.O., 241– 284). Der Begriff geht in anderem Zusammenhang in der Mitte des 20. Jahrhunderts zurück auf V. Gordon Childe (ders., Planning, 3–17). „Revolution“ wird dabei verstanden als „culmination of a progressive change in the economic structure and social organisation of communities that caused, or was accompanied by, a dramatic increase in the population affected […]“ (ebd. 3). Andere sprechen vorsichtiger von „revolution“ statt von „evolution“.
Das frühe Christentum und die Stadt – Einleitung
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christlicher Texte reflektieren, so soll am Beginn der Einleitung zunächst die schwierige Frage angesprochen werden: Worüber reden wir eigentlich, wenn wir für die Zeit des ältesten Christentums und über sie hinaus nach der „Stadt“ bzw. nach „Städten“ fragen?
2.
Das Faszinosum der Stadt – Die Definitionsproblematik
In der neutestamentlichen Wissenschaft gilt es als weithin konsensfähig, dass das älteste Christentum nach den ländlich geprägten Anfängen der Jesusbewegung sich sehr bald zu einem städtischen Phänomen entwickelt hat.4 Mit diesem historischen Urteil ist zugleich auf ein erstes gravierendes Definitionsproblem verwiesen: Wie sind Anfangs- und Endpunkt dieser so postulierten Entwicklung überhaupt zu fassen, wie und unter welchen Prämissen sind „Stadt“ und „Land“ zu unterscheiden resp. zu trennen (s.o. zu Spenglers Urteil)? 4
Nach den „ländlichen“ Anfängen der Jesuszeit finden wir das frühe Christentum schon bald in den „Städten“ des römischen Imperiums (zu den Übergängen und den methodischen Fragen ihrer Beschreibung siehe v.a. die grundlegenden Arbeiten von Theißen, Studien). Beschneidungsfreie Mission ging zunächst vor allem von der Metropole Antiochia in Syrien aus, welche das paulinische Missionswerk geprägt hat. Paulus markiert in Person den Übergang des werdenden Christentums vom Land in die Stadt. Anders als Jesus war Paulus Städter, sozialisiert und kulturell geprägt in der Großstadt Tarsus. Seine Mission verlief entlang der Hauptverkehrsrouten des römischen Reiches und konzentrierte sich bis hin zur Kapitale an den städtischen Zentren der Provinzen des Imperiums. Entsprechend finden wir christliche Anfänge schon bald in Großstädten wie Philippi, Thessaloniki, Ephesos, Korinth und Alexandria. Das Christentum baute auf der Infrastruktur in den und zwischen den Städten auf. Es partizipierte am beruflichen, sozialen, kulturellen und auch religiösen Leben der Städte. Es wurde bald ein Teil der hellenistisch-römischen städtischen Kultur. Nicht erst die Zeugen der Apostelgeschichte, sondern bereits Jesus bewegt sich nach Lukas in und gewinnt hier Anschluss an dezidiert städtische Formen etwa der Architektur, der Ess- und der Bildungskultur. In der Apostelgeschichte finden wir städtisches Leben, Mietsinseln und Häuser mit eigener Dienerschaft (vgl. von Bendemann, Lukas, 659–662). Im später unter die Apostolischen Väter gereihten Diognetbrief (5,3–10) bewohnen die Christen die griechischen und die barbarischen Städte und beachten das hier jeweils geltende in vorbildlicher Weise. Die Existenz der Christen in den Städten wird in organologischer Metaphorik beschrieben. Die Christen seien über die Städte der Welt verteilt wie die Seele über den Körper (Diog 6,1). Darum werden sie von den Juden als bekämpft und von den Griechen verfolgt (5,17). In seinem berühmten Brief X 96 konstatiert auch Plinius der Jüngere die Ausbreitung der „Seuche des neuen Aberglaubens“, die schändliche superstitio, als von den Städten ausgehend (ep. X 96,9). Einen hilfreichen Überblick über das Christentum in den Städten des römischen Reiches geben Stambaugh/Balch, Umfeld, 134–162 (Literatur: 172f.). Die Bedeutung des für die frühchristlichen Kleingruppen, ferner der Vereine, Synagogen und hellenistisch-römischen philosophischen Schulströmungen wird hervorgehoben. Sodann werden Antiochia in Syrien, Ephesos und andere kleinasiatische Städte, Philippi und Thessalonich als makedonische Städte, Korinth, Rom sowie Alexandria als „wichtigste Zentren“ präsentiert.
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Der naheliegende Zugang des Neutestamentlers/der Neutestamentlerin wird der sein, dass er nach den quellsprachlichen Termini fragt: Man stößt dann in den frühchristlichen Texten auf Begriffe wie , , oder etc. Zugleich gilt die Aufmerksamkeit namentlich – auf einer Landkarte – identifizierbaren Städten und Orten. Übersehen wird dabei oft, dass im Hintergrund grundlegende Probleme der Konzeptualisierung stehen: Wie beschreibt man methodisch, was denn überhaupt eine „Stadt“ (mit ihrem Territorium!) im Unterschied zum „Umland“ bzw. „Land“ ist/sein soll? Und wie umgeht man Werturteile, die mit solchen Differenzierungen vielfach einhergehen? Bereits in der Antike begegnet die Grundauffassung, dass die Städte bzw. Prozesse der Urbanisierung Innovationen und Fortschritt repräsentieren, dagegen das „Land“ bzw. die „ländliche Lebensweise“ eher mit Stillstand und Rückständigkeit zu assoziieren sind – wo sie nicht Städter ausdrücklich als refugia schätzen. Derlei Urteile, die sich in verschiedensten Formen von der Antike bis hinein in jüngste Forschungsbeiträge zur „Stadt“ finden lassen, sind keineswegs neutral. Die Optik, mittels derer die Quellen betrachtet werden, ist häufig apriorisch stadtlastig. Diese Stadtlastigkeit der Forschung spiegelt ihrerseits die Stadtlastigkeit der Quellen und Funde. Sie ist geprägt und lässt sich imponieren von der Monumentalität städtischer Relikte, von den überkommenen Mauern, Toren, Festungen, Agorai, Theatern, Bädern und heiligen Bezirken. Historisch lässt sich dagegen in vielfacher Weise in Frage ziehen, dass in hellenistisch-römischer Zeit „Dörfer“ und „ländliche Gegenden“ weniger von innovativen Umbrüchen (wobei diese nicht eo ipso als positiv zu bewerten sind) erreicht worden seien als die „Städte“. Die in der Forschung immer noch begegnende Konstruktion einer idealtypischen Polarität von Stadt und Land sowie einer Aufteilung von „Innovation“ und „Tradition“, von kultureller Offenheit und rückständiger Geschlossenheit auf „Stadt“ und „Dorf“ resp. „Land“ verstellt den Blick auf die Regionen und Prozesse, die von der Etablierung und Ausbreitung des Frühchristentums betroffen waren. Sie verkennt die erheblichen territorialen Differenzen – Prozesse der Urbanisierung verliefen z.B. in Griechenland ganz anders als in Kleinasien, Syrien oder Nordafrika –, sie unterschätzt die Dynamik von regionalen Entwicklungen, übersieht pauschalisierend fließende Übergänge – viele antike „Großstädte“ verloren im Lauf der Geschichte Größe und Bedeutung (man vergleiche nur die Stadtgeschichte von Syrakus), während seit der Alexanderzeit viele Städte erst neu gegründet wurden und rasant anwuchsen – und sie unterschätzt die besonderen kulturellen Transformations- und Adaptionsleistungen nicht-städtischer Gebiete – z.B. im Galiläa des 1. Jahrhunderts oder auch in Kleinasien. Verkannt wird ganz grundsätzlich, dass Menschen bis zur Zeit der sogenannten industriellen Revolution vorrangig in ländlichen Siedlungsformen lebten – und nicht in Gebilden, die unter dem titulus „Stadt“ rangierten.5 5
Auch Stegemann/Stegemann, Sozialgeschichte, 231, machen gegenüber Meeks und MacMullen geltend: „Allerdings wird man die Abgrenzung gegenüber dem Land nicht zu scharf betonen dürfen. Tatsächlich waren die antiken Städte von vielen kleineren und größeren Dörfern umgeben [...] Ebenso muß vorausgesetzt werden, daß die sozialen Be-
Das frühe Christentum und die Stadt – Einleitung
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Damit ist ein erster Zugang zum Definitionsproblem der „Stadt“ gewonnen, dem die neutestamentliche Wissenschaft in historischen oder auch soziologischen Analysen nicht ausweichen kann. Das Problem ist nun freilich alles andere als leicht zu lösen.
3.
Zum Ansatz Max Webers
Die prominenteste und wirkungsgeschichtlich einflussreichste Konzeption der Stadt stammt von Max Weber. Die Stadt kann nach Weber „grundsätzlich in zweierlei Art begründet sein. Nämlich a) in dem Vorhandensein eines grundherrlichen, vor allem eines Fürstensitzes als Mittelpunkt, für dessen ökonomischen oder politischen Bedarf unter Produktionsspezialisierung gewerblich gearbeitet [wird] und Güter eingehandelt werden. [...] Das weitere Merkmal, welches hinzutreten muß, damit wir von ‚Stadt’ sprechen, ist: [b)] das Bestehen eines nicht nur gelegentlichen, sondern regelmäßigen Güteraustausches am Ort der Siedlung als ein wesentlicher Bestandteil des Erwerbs und der Bedarfsdeckung der Siedler: eines Marktes.“ „Wir wollen von ‚Stadt’ im ökonomischen Sinn erst da sprechen, wo die ortsansässige Bevölkerung einen ökonomisch wesentlichen Teil ihres Alltagsbedarfs auf dem örtlichen Markt befriedigt, und zwar zu einem wesentlichen Teil durch Erzeugnisse, welche die ortsansässige und die Bevölkerung des nächsten Umlandes für den Absatz auf dem Markt erzeugt oder sonst erworben hat.“6 In seiner 1921 postum publizierten Abhandlung „Die Stadt. Eine soziologische Untersuchung“ betont Weber u.a. die Unterscheidung von okzidentaler und orientaler Stadt. Nach Weber sind „Stadtgemeinden“ mit den Merkmalen einer Befestigung, eines Marktes, eines eigenen Gerichts und mindestens teilweise eigenem Recht, eines Verbandcharakters sowie mindestens einer teilweisen Autonomie und Autokephalie als regelmäßige Struktur nur im Westen vertreten. Viel diskutiert wurden in der Forschung die „Typen“ der Stadt, wie Weber sie unterschied, insbesondere die Kategorie der „Produzentenstadt“7 resp. „Rentnerstadt“8, wobei Weber in Rechnung bringt, dass Mischformen der „Idealtypen“ begegnen.9
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ziehungen zwischen städtischen und ländlichen Gebieten sich äußerst komplex gestalteten. Auch die neuere archäologische Erforschung der Antike kritisiert die generalisierende und vereinfachende Unterscheidung zwischen Stadt und Land“ (mit Hinweis auf Osborne). Im Brief des Clemens Romanus an die korinthische Gemeinde (1Clem 42,4) wird – anders als bei Plinius, ep. X 96 oder im Diognetbrief – die Verkündigung des Reiches Gottes durch die Apostel auf (die) Landstriche bezogen, mit angeschlossen erst an zweiter Stelle auf (die) Städte (). Weber, Wirtschaft, 727f. Vgl. zu diesem Begriff bereits Sombart, Kapitalismus, 142–154. Noch Kolb schließt hier weitreichend an Weber an (vgl. ders., Stadt, 262). Vgl. Weber, Wirtschaft, 729f. „Spezifische und zugleich vielfältig aufeinander bezogene politische, militärische, wirtschaftliche, soziale, religiöse und geographische Merkmale gehören für Weber ebenso
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Ein grundsätzliches Problem der Rezeption der Arbeiten Webers zur Stadt liegt generell darin, dass man seine Position vielfach auf die Koinzidenz von „Stadt“ und „Marktplatz“ reduziert hat. Weber wurde zum Gewährsmann v.a. für die ökonomische Definition der Stadt. Hierbei wurden seine idealtypischen Unterscheidungen oftmals simplifiziert. So spielt z.B. der Begriff der „Konsumentenstadt“ im Blick auf die antike Stadt bei Weber nicht die Rolle, die man ihm in der Forschung vielfach zumisst. Webers Positionen zur Stadt erscheinen vielmehr in ein vielschichtiges und reiches Gesamtbild eingebettet, das sich ohne Verkürzungen kaum zusammenfassen lässt. Zu berücksichtigen ist, dass Webers Sicht sich im Laufe der Zeit und verschiedener Veröffentlichungen weiter entwickelte und weiter differenzierte. Besonders kompliziert wird es, wo sich Webers Thesen zur „Stadt“ mit seiner besonderen Sicht des Judentums und der Genese des Frühchristentums verbinden.10 Als besonders kritisch muss im Rückblick seine Konstruktion des Judentums als „Pariareligion“ gelten – mit der sich im Kern Paulus auseinandergesetzt habe.11 Trotz ihrer strukturellen Vielschichtigkeit und keineswegs leichten Verständlichkeit hat Webers Position eine eminente Aufmerksamkeit erhalten und ist bis heute viel rezipiert. Sie wurde in Arbeiten wie denen von Moses Finley, der besonders die Differenzierung von Stadt und (versorgendem) Umland ins Zentrum rückte, Parkins oder Wallace-Hadrill weiterentwickelt. Nach Kolb vermag nach wie vor niemand, der sich mit der Problematik der (antiken) Stadt beschäftigt, an Weber vorbeizugehen.12 Im Bereich der neutestamentlichen
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notwendig zu diesem Bild wie die typischen inneren Strukturwandlungen von der Adelszur Bürgerpolis […]“ (Deininger, Stadt, 279). Zur religionsgeschichtlichen These Webers eines Zusammenhanges der vorderasiatischen Erlösungsreligionen mit der Entwicklung der antiken Stadtherrschaft siehe Kippenberg, Erlösungsreligionen. Weber beobachtete demnach „drei Korrelationen von Religionsgeschichte und Stadtgeschichte […]: eine Verbrüderung landbesitzender Geschlechter zu einer Kultgemeinschaft, einen religiös sanktionierten Anstaltscharakter der Stadt und eine Entpolitisierung der Bürger“ (a.a.O., 99). Nach Weber sind alle Paulusbriefe an Juden gerichtet. Zu Webers Sicht des antiken Judentums siehe Schluchter, Einleitung, 11–15, 21f., 25, 37f. Zur Kritik a.a.O., 59: „[…] [W]eder sind die Juden zu diesem Zeitpunkt ein bürgerliches Pariavolk, noch scheinen die Gläubigen das Gesetz als ‚hoffnungsloses Sklavengesetz’ empfunden zu haben […]“. Vgl. Gagers Kritik an Webers Konstruktion: „Seine Definition des antiken Judentums als einer Pariareligion ist von Anfang an fehlgeleitet. Denn die Unterbewertung des ideologischen Charakters des jüdischen Kanons wurde ihm zur Falle: Eine hochidealisierte und Sonderinteressen dienende Konstruktion verwechselte er mit den tatsächlichen sozialen und religiösen Verhältnissen […]“ (ders., Paulus, 388). Zu Fehldeutungen des paulinischen Gesetzesverständnisses bei Weber: a.a.O., 396–398. Vgl. Kolb, Stadt, 12. Kolb kritisiert allerdings Weber, u.a. im Blick auf die Unterscheidung von antiker und mittelalterlicher Stadt. Weber sei dem Missverständnis erlegen, die griechische Polis und die römische civitas mit der „Stadt“ zu verwechseln; diese seien vielmehr „Staat“ gewesen; entsprechend sei für die antike Stadt auch nicht von „Stadtbürgern“, „Stadtrecht“ etc. zu sprechen; von hier aus wird in einer primär siedlungsgeographisch orientierten Bewertung auch Webers Unterscheidung von okzidentaler und orientaler Stadt fragwürdig (a.a.O., 264). Vgl. auch die Darstellung der Position Webers bei Kippenberg, Erlösungsreligionen, 95–102.
Das frühe Christentum und die Stadt – Einleitung
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Wissenschaft lassen sich v.a. die Untersuchungen zur Sozialstruktur der frühen christlichen Gemeinden ohne die Arbeiten Max Webers nicht verstehen (siehe Punkt 5.).
4.
Ausgewählte Parameter der Beschreibung der „Stadt“ und der Interpretation des Frühchristentums als eines „städtischen“ Phänomens
Wendet man den Blick von der klassischen Position Webers auf jüngere und jüngste Beiträge der interdisziplinären Stadtforschung, so ist festzustellen: Diese ist im Blick auf globale bzw. zeit- und epochenübergreifende Definitionen deutlich zurückhaltender geworden. Zwar wird weiter auch mit Typologien gearbeitet13, doch werden diese in höherem Maß als Abstraktionen durchschaut. Die forschungsgeschichtliche Entwicklung führt von festen Definitionen der Stadt weg und hin zu mehr zeit- und lokalgebundenen bzw. kontextspezifischen Untersuchungen von Gebilden. An der Grundlagendiskussion des Phänomens der „Stadt“ beteiligen sich dabei verschiedenste Fächer und Disziplinen. Das kritische Bewusstsein ist gewachsen, dass schon für eine Ära deckungsgleiche oder -ähnliche Strukturen angesichts lokaler Besonderheiten und Differenzen kaum sicher zu postulieren sind. Beim gegenwärtigen Forschungsstand legt es sich darum nahe, in Analysen zum frühen Christentum nicht von einem vorgefassten Stadt-Konzept auszugehen – und sei dieses noch so weit begriffen14. Vielmehr ist mit flexibleren und in verschiedene disziplinäre Richtungen anschlussfähigen Parametern zu arbeiten. Die folgende Übersicht unterscheidet Grundparameter, die bei der Bestimmung des Phänomens der „Stadt“ zu beachten sind. Die Reihenfolge impliziert dabei in keiner Weise eine Hierarchie; auch ist die Unterscheidung einzelner Parametergruppen zueinander durchlässig und fließend, eines hängt jeweils sehr eng am anderen; die Differenzierungen haben lediglich einen heuristischen Wert und verweisen insgesamt auf die Multidimensionalität der Bestimmungsmöglichkeiten. 13
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Engels möchte z.B. in Aufnahme der Konzeption Webers das antike Korinth als eine „service city“ verstehen, wobei die Hafenstadt Korinth das Umland mit „Dienstleistungen“ versorge, unter die zuerst auch juridische, kulturelle und religiöse Leistungen zu rechnen seien (ders., Corinth). Nach Lang sind mindestens folgende Kriterien für eine städtische Besiedlungsform anzuführen: „ein permanent besiedelter Ort, mit geschlossener Bebauung“, „eine Bevölkerungsgröße, die die der umliegenden Orte übersteigt“, „eine nicht auf Subsistenz gründende Wirtschaftsform“, „ein Angebot an Gütern und Dienstleistungen, das über die innerörtlichen Bedürfnisse hinausgeht“, „stärkere Stratifizierung als in den umliegenden Orten“ und „für ein weiteres Umfeld gebündelte religiöse, kultische und kognitive Funktionen“. Unter weiteren möglichen Kriterien führt Lang an, dass das Verhältnis von privatem zu öffentlich genutztem Raum in der Stadt im Vergleich zu ländlichen Siedlungsräumen differieren wird (dies., Stadt, 5).
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1. Situative Parameter. Zunächst ist die geographische Situierung bestimmend. Inwieweit passt sich eine städtische Siedlung an geographische Gegebenheiten wie Ebenen, Berge oder Flussläufe an? Inwieweit ergeben sich aus geographischen Faktoren Grade der „Offenheit“ oder „Geschlossenheit“ einer städtischen Siedlung zu ihrem Umland? Bei der oben bereits angesprochenen Analyse des Stadt-Land-Differenzierungsproblems ist die jeweils konkrete Lage zu berücksichtigen. Bei einer Hafenstadt wie Korinth ist z.B. nicht in gleicher Weise von „Stadt“ und „Umland“ bzw. „Territorium“ zu sprechen wie bei einer Metropole im Landesinnern. Anders können sich die Verhältnisse auf Inseln gestalten, auch hier ist zwischen einer Situierung am Meer und im Hinterland zu unterscheiden. Von der geographischen Situierung dependent erweisen sich die Besiedlungsgeschichte und auch die spätere Ausdehnungs- und Entwicklungsgeschichte städtischer Orte. Ob sich eine Stadt als Verwaltungszentrum resp. „Metropole“ eignet, hängt auch von den geographischen Möglichkeiten der Zuwegung und Distanzüberwindung ab. Geologische Gegebenheiten entscheiden mit darüber, ob auf dem Gebiet einer Stadt agrarische Produkte zur Selbstversorgung gewonnen werden können. Von den klimatischen Konditionen kann z.B. auch das Gesundheitsversorgungssystem einer Stadt mit bestimmt werden (vgl. z.B. den Traktat „De aere aquis locis“ im Corpus Hippocraticum). „Die hellenistische Stadt gedieh an den verschiedensten Standorten, sie stand mehr in den Binnenländern als an den Küsten, sowohl auf Kuppen wie auf Hängen, in der Ebene wie an Flüssen. Ihr Hinterland ist nicht die See, der Handel über das Meer, sondern der Überlandverkehr, die Bodenwirtschaft, der Reichtum fremder Provinzen, die Idee eines einigen Weltreiches.“15 2. Politische Parameter. Die „Stadt“ erscheint in der Antike als ein „politisches“ Gebilde. Städte beschreiben in der Regel Räume, die in irgendeiner Weise Herrschaftsstrukturen implizieren (s. Punkt 7. und 8. zur „Imponierung“ von externer Macht und zu den juridischen Faktoren). Von der klassischen griechischen Polis16 her stellen sich u.a. die Fragen, ob innerhalb eines städtischen Gebietes politische Funktionsträger wählbar sind, welche Formen des politischen Mitspracherechts es weiterhin für die Bürgerschaft gibt, wie Rat, Volksversammlung und Gerichtsbarkeit gestaltet werden. In neutestamentlicher Zeit sind Städte vielfach innerhalb des Rahmens von Stämmen oder Dynasten beherrschter Reiche bzw. Königtümer zu betrachten (vgl. Mk 6,14–28; 13,8f.; vgl. auch 10,42–44; Lk 14,31f.; 19,12–27 u.a.m.). Die Abhängigkeit von einem Dynasten bzw. König wirkt sich dabei auf die politische Handlungsfähigkeit, auf die administrativen Strukturen sowie auch auf die wirtschaftlichen Möglichkeiten einer Stadt unmittelbar aus (s. Punkt 4. und 7.). Unter politischen Aspekten sind sämtliche Formen der Verwaltung, auch Institutionen wie Polizei oder Wohlfahrt und ökonomische Instrumente wie Währungen, Maßeinheiten sowie Organisation des Steuerwesens, zu diskutieren. Ob es politische Gesetzmäßigkeiten gibt, die die Entwicklung von Städten bzw. Stadtstaaten in beson15
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Egli, Geschichte, 230. Dieses generalisierende Urteil ist freilich für etliche Städte der hellenistisch-römischen Zeit mindestens zu relativieren. Siehe zu ihr Benevolo, Geschichte, 91–170.
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derer Weise kennzeichnen und sie von anderen politischen Gebilden unterscheiden, ist fraglich. Dies gilt schon innerhalb einer Epoche oder eines regionalen Raumes. Man muss sich auch hier vor Generalisierungen hüten. So ist z.B. im Blick auf die These Rostovtzeffs Vorsicht angezeigt, dass sich die Städte in hellenistisch-römischer Zeit potentiell immer schon in einer Art prärevolutionärem Stadium befunden hätten.17 3. Soziostrukturelle Parameter. Die Stadt wird in verschiedenen Beiträgen der Stadtforschung vielfach als ein eigenes und besonderes soziales Phänomen betrachtet (vgl. auch oben die Position von Spengler).18 So geht Heide Berndt in ihrer Untersuchung der Stadt von der Frage der Bearbeitung von Natur durch den Menschen aus. Die Stadt sei „weder als Chiffre für ein Ensemble architektonischer Gegebenheiten zu verstehen, noch als bloße Menschenansammlung auf begrenztem Raum“. Sie sei vielmehr zunächst als „soziales Gebilde“ zu würdigen, „in dem die menschlichen Beziehungen tiefgreifenden Veränderungen unterworfen wurden“. Die Wirkung der Stadt als einer „Übergangssituation“ sei, historisch betrachtet, eine doppelte gewesen: Sie habe „innerhalb ihres Territoriums Bedingungen“ generiert, „durch die menschliches Verhalten zivilisierte Züge annahm; und sie unterwarf das Land ihren Produktionsmethoden, wodurch sich weite Landstriche in ihrer Gestalt und ihrem Charakter änderten.“19 Demgegenüber stellen jüngere soziologische Arbeiten vielfach in Frage, dass eine theoretisch fundierte und phänomenologisch abzusichernde Grenzziehung der Stadt im Verhältnis zu anderen Siedlungs- und Sozialformen möglich sei. Nach Merzbacher/Spiegel ist es „zweifelhaft“, ob die Stadt „ein eigenständiges soziales System ist, dessen Elemente (Familien, Haushalte, Betriebe, formale und informale Organisationen aller Art) und Beziehungen gegenüber anderen sozialen Systemen räumlich abgrenzbar und auf gemeinsame Ziele und Wertvorstellungen ausgerichtet sind“.20 17
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Rostovtzeff sah in seinen Untersuchungen zur Zeit des Hellenismus insbesondere in der zunehmenden Verschuldung aller Schichten eine Ursache für die Verschärfung sozialer Spannungen. Rostovtzeffs Konzeption ist sehr stark von seiner Sicht der Verhältnisse in Sparta bestimmt gewesen. Dies betrifft schon oberflächlich das auch neuzeitlich immer wieder herangezogene Kriterium der Bevölkerungszahl bzw. Bevölkerungsdichte – ein Kriterium, das freilich für die Antike so nicht zugrunde gelegt werden darf (zu den methodischen Problemen der Schätzung von Stadtbevölkerungen in frühchristlicher Zeit vgl. vom Brocke, Thessaloniki, 71–73) und auch neuzeitlich fragil erscheint. Schon Max Weber stellt fest: „Die Größe allein kann jedenfalls nicht entscheiden“ (ders., Wirtschaft, 727). Nach Lang wird neuzeitlich z.B. in Dänemark ein Ort mit mehr als 200 Einwohnern als Stadt bezeichnet, in Japan dagegen erst bei einer Besiedlungsdichte von über 30000 Einwohnern. Einwohnerzahlen sind durch politischen Entscheid häufig willkürlich gesetzt; z.B. bestehen nordamerikanische Städte vielfach aus Konglomeraten relativ selbständiger Viertel und Distrikte. Größe und (wirtschaftliche, kulturelle, militärische etc.) „Bedeutung“ einer Stadt sind in jedem Fall zu unterscheiden (Lang, Stadt, 4). Berndt, Natur, 8f. Die Stadt sei „das Ergebnis und Sinnbild der Bearbeitung der Natur durch menschliche Arbeit“ (10). Merzbacher/Spiegel, Stadt, 238: Bei der Analyse der Stadt sei „daher nicht mehr von einem vorgegebenen sozial-räumlichen System auszugehen“; vielmehr sei „nach der
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Städte eröffnen Räume für unterschiedlichste soziale Gestalten und Interaktionsformen. Soziale Bindungen ergeben sich dabei zunächst über Familienzugehörigkeiten, ethnische Zugehörigkeiten – dies führt ggf. zurück auf die Frage der Besiedlungsgeschichte oder Hintergründe von Zuzug und Migration –, Status, Bildung, Sprache (gibt es die Situation einer Bi- oder Multilingualität innerhalb einer Stadt?) und die Beziehung zur Arbeitswelt, aber auch im Zusammenhang religiöser Praxis (Vereinswesen). In Blick auf die Sozialgeschichte des frühen Christentums wird in verschiedener Weise nach der Abgrenzung von „Schichten“ und der Differenzierung des „Status“ in den frühchristlichen Gruppen und ihrem Verhältnis zur Sozialstruktur der Mehrheitsgesellschaft und ihrer Durchlässigkeit gefragt. So wird z.B. mit einer „Identitätskrise“ der subdekurionalen Bevölkerung in den Städten gerechnet, die in der Kaiserzeit ihren angestammten Ort in den Städten verloren habe – eine Grundlage für den neuen „Identitätsgewinn“ in den sich jenseits gesellschaftlicher Statuszuweisungen definierenden frühchristlichen Kleingruppen.21 Die Frage nach sozialem „Status“, nach Zugehörigkeiten zu einem ordo und – hiervon zu unterscheiden – nach „Schichten“ markiert einen Fokus der frühchristlichen Stadtforschung (s. Punkt 5.1). Die Aspekte von Gender (welche Rollen, Berufsfelder und sozialen Aufstiegsmöglichkeiten stehen Frauen offen? etc.) und Generation (wie werden „Kindheit“ und „Jugend“ definiert, wie verteilen sich ältere und alte Menschen innerhalb einer Stadt? etc.) bedürfen eigener Analysen. 4. Ökonomische Parameter. Die zentrale Bedeutung der Stadt als Ort eines „Marktes“ verbindet sich klassisch mit der Position Max Webers (s. Punkt 3.). Häufig wird geltend gemacht, dass es Kennzeichen einer Stadt sei, agrarische Produkte und weitere Lebensmittel nicht selbst zu erzeugen, vielmehr mit denselbigen durch ein „Umland“ bzw. Handel und Warenverkehr versorgt zu werden und darüber hinausgehende (kulturelle) Güter zu erzeugen.22 Ob und inwieweit ein städtischer „Marktplatz“ in Beziehung bzw. in Differenz zu einem produzierenden und versorgenden Um- und Hinterland zu verstehen ist, bedarf freilich im Einzelfall der Prüfung. Ebenso kommt auch die Möglichkeit kleinerer wirtschaftlicher Einheiten innerhalb von Städten in Betracht, die selbst produzieren und auch konsumieren. Im Einzelnen ist bei konkreten Städten in einer konkreten Zeit nach bestehenden Handelskontakten, Provinzeigentum, Versorgung mit Lebensmitteln und weiteren Ressourcen, kursierenden Maßen und Währungen sowie insgesamt nach der Wirtschaftskraft ihrer „Bürger“ zu fragen. Dabei spielen die politischen Verhältnisse und Dependenzen sowie die administrativen Strukturen eine wesentliche Rolle, insbesondere die Frage der Steuerpflichten und der Modalitäten des fiscus. Die Beschreibung der ökonomischen
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räumlichen Organisation der einzelnen Systemelemente (bzw. Subsysteme) und -beziehungen, die in der Stadt ihren Standort haben“, zu fragen. Siehe Plümacher, Identitätsverlust. Insgesamt: Guttenberger, Status. Vgl. die Definition der Stadt bei Herzog (ders./Stambaugh, Cities, 1031): „[...] [A] city is a permanent settlement which serves as a center for a large region and whose population is engaged in activities additional to agriculture.“
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Gegebenheiten und Abläufe einer Stadt verbindet sich zugleich mit der nach sozialen Differenzen und „Schichtungen“ ihrer Bewohnerschaft. 5. Städtebauliche Parameter. Es ist zunächst die Wirtschaftskraft, es sind darüber hinaus aber auch Faktoren der politischen und administrativen Bedeutung eines „städtischen“ Ortes, welche über Möglichkeiten der baulichen Ausgestaltung entscheiden. Viele Städte des Altertums haben nicht „monumental“ begonnen. Synchron betrachtet koexistieren Bau- und Ausbaustufen hellenistischrömischer Städte. Historische Forschung steht immer wieder in der Gefahr einer retrospektiv-statischen Betrachtung städtebaulicher Gegebenheiten, die dagegen in der Regel nur als dynamische und keineswegs notwendig geordnet ablaufende Prozesse begriffen werden können. Das Rom zur Zeit des Römerbriefs des Paulus z.B. war noch nicht das monumentale Rom des 2. Jahrhunderts; vor der Zeit Neros war die Kapitale eine Stadt mit überwiegend hölzernen Bauten. Die Städte der Dekapolis wie z.B. Gerasa zeigten im 1. Jahrhundert noch keineswegs das architektonische Gesicht hellenistischer Städte, das sie erst in späterer Zeit gewannen. Viele Städte der hellenistisch-römischen Zeit, mit denen das frühe Christentum in Kontakt trat, dürften in Wirklichkeit mindestens in einigen ihrer Distrikte eher Großbaustellen geglichen haben als ‚fertigen Entitäten’.23 Hiervon sind auch städtische Sakralbauten nicht auszunehmen, die ihrerseits an den dynamischen Entwicklungen von Gründung, Aufbau, Neubau, Überbauung, Weiterentwicklung etc. partizipierten.24 Insofern ist es problematisch, wenn die Forschung (in ihrer Stadtlastigkeit s.o.) häufig die „Zeichensprache“ finaler Großbauten von Theatern, Foren, Bädern, Tempeln oder auch Verwaltungsgebäuden als Ausdruck von Urbanität in den Fokus rückt. Auch baulich und architektonisch sind die Übergänge von „Stadt“ und „Land“ nicht so klar zu definieren und führen vermeintliche Polaritäten in Sackgassen (s.o.). „Eine der wichtigsten Funktionen der Architektur war die Veranschaulichung der historischen Substanz, die das Gemeinwesen repräsentierte [...]“25 – Dieses Urteil ist nicht allein auf die monumentalen Relikte zu beziehen, die oftmals der öffentlichen Inszenierung von Macht dienten, sondern vielmehr grundsätzlich auf alle Merkmale struktureller, baulicher und architektonischer Gestaltung u.a. auch einfachster Häuser und Komplexe über Fenster, Fassaden, Eingänge bis hin zu Grünflächen und Gärten. Neben der planvoll-grundrisshaften Konzeptualisierung von Städten und ihrem „außenarchitektonischen“
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Der Blick in Werke wie das von Golvin, Metropolen, mit seinen schönen graphischen Darstellungen der antiken Großstädte wie Rhodos, Alexandria oder Rom darf den Blick für diesen Sachverhalt nicht trüben. Vgl. die Liste von Stadtgründungen in hellenistischer Zeit: Egli, Geschichte, 231–257. Zur Städtegründungspolitik Alexanders und ihrer Bewertung in der Forschung: Bengtson, Philipp, 226–228. „Was der Makedonenkönig erstrebte, war eine Urbanisierung, und zwar von Landschaften, die noch nie regelrechte Städte gekannt hatten“ (a.a.O., 227). Berndt, Natur, 61. „Towns, and settlement patterns generally, are ‚reflections in stone’ of particular established social hierarchies“ (G. Halsall, in: Christie/Loseby, Towns, 256).
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Erscheinungsbild26 sind auch Fragen der innenarchitektonischen Gestaltung und Aspekte des wohnlichen „lifestyle“ von zentraler Bedeutung. Christopher Alexander, Sara Ishikawa und Murray Silverstein zielen in ihrem Werk „A Pattern Language“ eine entsprechende Neuorientierung der Wahrnehmung von städtischen Bauten, Planung und Architektur an.27 6. Parameter des Schutzes und der Verteidigung. Die Mauern der antiken Stadt dienen zunächst dem Schutz ihrer Bewohner. „Stadt“ und „Schutzburg“ bzw. „Festung“ stehen einander sehr nahe.28 Die Frage, ob und wie und ggf. wie erfolgreich Städte an kriegerischen Aktivitäten partizipiert bzw. ihnen standgehalten haben, entscheidet ganz wesentlich über ihre wirtschaftliche Situation. Sie entscheidet zugleich über politische Handlungsmöglichkeiten und auch über das Selbstverständnis, ggf. das stärkere Zusammengehörigkeitsgefühl ihrer Bürger – auch über Differenzierungen in Status- und Schichtzugehörigkeit hinaus. Wie eine Stadt sich innerhalb eines Territoriums oder Imperiums gegebenenfalls in militärischen Konflikten verhalten und wie sie von ihnen tangiert werden wird, hängt dabei nicht zuletzt vom Grad ihrer Autonomie bzw. ihrer Einbindung und Abhängigkeit von übergeordneten Verwaltungs- oder Machtstrukturen ab (s. Punkt 7.). Wie zentral die Mauern- und Schutzfunktion der antiken Stadt ist, zeigt sich u.a. an metaphorischen Stadtkonzeptionen (Mauerkrone der Tyche; „ein feste Burg“ u.a.; zum alttestamentlichen Sprachgebrauch s. Punkt 5.2). 7. Parameter der Dependenz von supraurbanen Mächten und Strukturen. Neben den weitgehend autarken klassischen griechischer Prägung und weiteren Gestalten autonomer Stadtstaaten bzw. Städte der Antike ist in der römischen Zeit der Aspekt der politisch-militärischen Dependenz von Rom von zentraler Bedeutung.29 Im Zuge der Durchsetzung ihres Herrschaftsanspruches mittels der Städte in den Provinzen30 instrumentalisierten die Römer auch planvoll kulturelle Errungenschaften, um Bevölkerungen in ihrem Sinn zu „zivilisieren“. 26
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Zur Vorgeschichte der hellenistischen Stadt und zum milesischen Strukturplan: Mumford, Stadt, 224–237; insgesamt zur Stadtplanung in der Antike: Hotzan, Stadt, 24–29. Alexander/Ishikawa/Silverstein, Pattern, x: „[...] [T]owns and buildings will not be able to become alive, unless they are made by all the people in society, and unless these people share a common pattern language, within which to make these buildings, and unless this common pattern language is alive itself.“ Die Autoren möchten mit ihrem Werk zugleich praktische Anleitung dafür vermitteln, wie städtische „Nachbarschaften” ihre Umgebung verbessern können. Zu Festungsstädten in Israel bzw. seinem Umfeld: Uehlinger, Weltreich, 373. In der Beschreibung der urbes im römischen Imperium geht Wallace-Hadrill vor allem dem Aspekt der Imponierung von Macht zur Durchsetzung und Kontrolle römischer Herrschaft nach (ders., Elites, 241–272). „Die Poleis waren für die römische Herrschaft zentral: da Rom mit minimalem bürokratischen Aufwand herrschen wollte, war es auf einflußreiche und kooperationsbereite lokale Eliten angewiesen, die von den Städten gestellt wurden“ (Ameling, Kaiserzeit, 419). Nach Bernhardt ist die Polis „von den Römern in ihrer dominierenden Stellung anerkannt“ worden (ders., Polis, 11). „Gleichzeitig wurde ihre Stellung klarer umrissen, weil die Römer das bis dahin unterschiedliche Ausmaß des politischen Spielraums, den die
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Entsprechende Strategien römischer Urbanisierung kann man exemplarisch an den Maßnahmen des Agricola gegen Ende des zweiten Feldzugjahres in Britannien studieren, wie Tacitus (Agricola 21,1f.) sie beschreibt: „Damit sich nämlich die zerstreut lebenden Menschen durch Wohlleben an Ruhe und Muße gewöhnten, drängte er sie persönlich und half ihnen von Staats wegen, Tempel, Märkte und Häuser zu errichten […] Von jetzt an kam auch unsere Tracht in Ansehen, und häufig trug man die Toga. Allmählich verfiel man auch auf die Reize der Laster: auf Säulenhallen und Bäder und üppige Gelage […]“ (namque ut homines dispersi ac rudes eoque in bella faciles quieti et otio per voluptates adsuescerent, hortari privatim, adiuvare publice, ut templa fora domos extruerent […] inde etiam habitus nostri honor et frequens toga; paulatimque descensum ad delenimenta vitiorum, porticus et balinea et conviviorum elegantiam [...]). Auch Herodes nutzte nach Josephus die Städte, um seine Gegner zu überwachen und zu kontrollieren (ant. XV 10.366f.).
8. Juridische Parameter. Mit der Frage nach den sozialen Verhältnissen, den ökonomischen Gegebenheiten wie der politisch-militärischen Stellung (innerhalb eines übergeordneten politischen oder administrativen Gefüges) einer Stadt verbindet sich unmittelbar diejenige nach ihrer Rechtsstellung bzw. ihrer juridischen Organisation. Auch dieser Aspekt kann, wie der ökonomische, als das bestimmende Kriterium für die Definition einer „Stadt“ herangezogen werden. Nach Noethlichs wäre eine Stadt „eine Gebietskörperschaft, bestehend aus einem eng bebauten Zentrum (der eigentlichen civitas) und einem dazugehörigen territorium, auf dem dasselbe Stadtrecht gilt.“31 R. Bernhardt unterscheidet an diesem Punkt objektive Gegebenheiten auf einem städtischen Gebiet bzw. die Frage der faktischen Autonomie von der Frage des Selbstverständnisses bzw. der Handlungsziele der städtischen Eliten bzw. Bürger. „Auch dort, wo die Staatlichkeit einer Stadt juristisch nicht gegeben war, weil entweder eine andere Stadt oder ein Volk bzw. Stamm die betreffende Stadt zu absorbieren suchte, wurde die Staatlichkeit von den Bewohnern einer solchen Stadt meistens angestrebt. Bezeichnend waren ferner die republikanische Staatsform, die Wählbarkeit der Beamten und das – wie auch immer abgestufte – politische Mitspracherecht aller Bürger, welches im Rahmen der Institutionen Rat und Volksversammlung, bis zu einem gewissen Grade auch in den Gerichtshöfen, wahrgenommen wurde, und dessen wichtigster Teil [...] das aktive Wahlrecht war.“32 9. Technologische Parameter. Eng mit der wirtschaftlichen Situation, den politischen Dependenzen und Strukturen sowie auch den baulichen Parametern
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Poleis innehalten und der von einer scharfen Kontrolle durch königliche Beamte bis zu völligen Unabhängigkeit reichte, innerhalb ihrer Provinzialordnung einigermaßen einheitlich festlegten.“ (a.a.O., 11; vgl. ders., Rom, 48–62, zu den römischen Eingriffen in die inneren Verhältnisse von griechischen Städten und die Einstellung von politischen und sozialen Gruppen in ihnen gegenüber Rom). Vgl. Herzog/Stambaugh, Cities, 1045– 1048 zur in hellenistischer Zeit und ihrer Weiterentwicklung unter den Bedingungen römischer Kolonisation. Noethlichs, Städte, 117: „Das röm. Reich stellt sich also dar als flächendeckende Ansammlung einzelner Städte […], wobei nur wenige Gebiete außerhalb der Städte verbleiben […].“ Die römische Zentrale vertrete eindeutig „das Prinzip kommunaler Autonomie“. Bernhardt, Polis, 8.
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verknüpft ist der Aspekt technologischer Standards in einer Stadt. Tangiert sind hiermit nicht allein Größen wie die Lebensmittelverarbeitung, die Metallurgie, die Erzeugung von Energie, das Kommunikationswesen oder auch das Verkehrs- und Transportwesen, sondern u.a. auch der unterirdische Bereich von Städten (Kanalisation und Wasserversorgung). Unter den klassisch gewordenen Städte-Konzeptionen hat vor allem Gideon Sjoberg die besondere technische Dispositionierung der Städte in den Mittelpunkt seiner Analyse gerückt.33 10. Parameter der Bildung, Erziehung und Gesundheit. Eng mit den sozialen Merkmalen einer Stadt verwoben ist die Frage der Paideia. Wie wird Bildung in einem städtischen Gebiet erworben, wie wird sie konserviert, weitergegeben und gepflegt? Welche Schularten begegnen, wie gestaltet sich ein schulischer Bildungskanon? Welche weiteren Ausbildungsmöglichkeiten, etwa in Rhetorenoder Philosophenschulen, sind gegeben?34 Städte gelten als Orte der Bildung und entsprechenden Aufstiegsmöglichkeiten. Wenn an diesem Punkt die oben bereits angesprochene Stadt-Land-Polarität geltend gemacht wird, so betrifft dies auch das gesundheitliche Versorgungssystem. Schon in antik-medizinischen Quellen wird reflektiert, dass die therapeutischen Möglichkeiten des Arztes auf dem Land andere sind als in der Stadt. Bietet in ländlichen Regionen die Familie bzw. Dorfgemeinschaft das primäre „Gesundheitssystem“, ist darüber hinaus jeweils zu fragen, welche konkreten (auch religiösen) Instanzen in einem Krankheitsfall zu konsultieren sind, und bilden ländliche Gegenden einen weiten Wirkraum für Wanderärzte und Wunderheiler, so findet man in den Städten ausgebildete Ärzte und teilweise eine bemerkenswerte Dichte und Spezialisierung in der gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung.35 11. Religiöse Parameter. Städte beschreiben in hellenistisch-römischer Zeit eigene religiöse Räume (wobei auch hier die Opposition von Stadt und Land wiederum nicht überzustrapazieren ist). Städtische Kulte in hellenistisch-römischer Zeit knüpfen dabei vielfach in einer interpretatio Graeca sive Romana an ältere Lokalitäten, Praktiken und Mythen an und entwickeln diese weiter.36 Städte können einen eigenen Festkalender aufweisen, der sich an einer eigenen „Ära“ orientiert. Gemeinsame Regelungen bis hin zur Bestattungspraxis können tief in die Lebensabläufe von Stadtbewohnern eingreifen. Städtisch-kommerzielles Leben ist in der Regel von kultischen Belangen mit geprägt und in dieser Hinsicht sensibel. Dies gilt zumal aus der Sicht jüdischer Bevölkerungsanteile, wie man exemplarisch an der Behandlung der Frage des Verzehrs von Götzenopferfleisch in paulinischen Missionsgemeinden erkennen kann (1Kor 8–10; Röm 14f.). In städtischen Distrikten und Häusern waren Formen der religio domestica beheimatet, die häufig neben den etablierten Stadtkulten einherliefen. Versuche, 33 34 35
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Sjoberg, City. Vgl. hierzu und zu weiteren Aspekten von Bendemann, Wissenschaften, 238–241. Zur medizinischen Versorgung einer antiken Stadt vgl. das Beispiel Pompejis (hierzu Künzl, Medizin, 56–68). Vgl. pars pro toto die Entwicklungen in der Dekapolis: Hierzu Lichtenberger, Kulte.
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die „Hausreligiosität“ zu limitieren, wie sie bereits in früher griechischer Zeit begegnen, haben sich nur bedingt durchsetzen lassen.37 Inwieweit die frühen Christen in den Städten entsprechende Praktiken von heute auf morgen beendet haben oder sie ggf. nicht weiterpraktiziert haben, bleibt mangels Quellen in der Mehrzahl der Fälle für die frühe Zeit unentscheidbar. Je nach Land und Region spielt in der römisch-imperialen Zeit der Kaiserkult eine wichtige Rolle.38 Die Vielfalt kultischer Funktionsträger, Rituale, Lokalitäten, Materialitäten und Praktiken ist für jede Stadt in unterschiedlichen Zeiten je konkret zu untersuchen.39 In Hinsicht auf die Geschichte der Etablierung und Ausbreitung des Frühchristentums in den Städten sind dabei vorrangig die Ausformungen jüdischer Frömmigkeit am Ort möglichst präzise zu bestimmen. 12. Parameter der Urbanitas. Von der „Stadt“ und der Frage nach den Kriterien ihrer Definition kann sich zuletzt der Blick auf die Frage nach Prozessen der Selbstdefinition der „Städter“ richten. Insofern es sich hierbei um eine quellenbezogene Fragestellung handelt (wie konzeptualisieren Städter ihr eigenes Leben – ausweislich bestimmter Texte?), dient dieser letzte Punkt zugleich als Überleitung zur Frage nach frühchristlichen Konzeptualisierungen der Stadt. Was Spengler als das „Gesicht der Stadt“ bezeichnet hat (s. Punkt 1.), bricht sich auch in den Mentalitäten und Gefühlen ihrer Bewohnerschaft, angefangen bei der Frage, wie groß die emotionale Verbundenheit (einzelner oder bestimmter Gruppen oder einer Stadtbevölkerung insgesamt) mit ihrem Territorium, ihrer Verwaltung, ihren Funktionsträgern und ihrem politischen resp. ökonomischen oder militärischen Agieren ist. In enger Korrelation mit den religiösen Parametern spielt hier z.B. auch die Frage nach mythischer Begründung und Identifikation der Gründung einer Stadt oder ihrer Verbindung zu anderen Orten oder Ethnien eine Rolle. In enger Relation zu den ökonomischen und bildungshaften Voraussetzungen, aber auch zu den städtebaulichen Gegebenheiten, sofern sie Kommunikation eröffnen, kann Städten ein besonderer Modus des „behaviour“ zugeschrieben werden. Den städtischen „Gentleman“ kennt schon die Antike – bzw. der Städter der Antike. Dass städtischer „lifestyle“, Habitus und Bildung die fortschrittliche Alternative zu ländlicher Rückständigkeit und Unbildung bieten, ist ein fester Topos der Literatur der Kaiserzeit.40 Urbanitas schreibt man der Art zu, wie man sich kleidet, wie man speist, welche „events“ man aufsucht, mit wem man verkehrt. Grundsätzlich sind alle 37 38
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Vgl. hierzu von Bendemann/Faßbeck, Formen, 224–229. „Rom war verkörpert im Kaiser, dessen Name und Bild in den Poleis allgegenwärtig waren [...]. Poleis und Provinzen waren die wichtigsten Träger des Kaiserkultes; auf dem ‚Land’ finden sich kaum Zeugnisse für ihn“ (Ameling, Kaiserzeit, 425). Zur ‚Großstadtreligion’ in Stadtrom vgl. Rüpke, Religion, 199–226. Siehe hierzu Wallace-Hadrill, City, 244–249. Von dieser früh einsetzenden literarischentopischen Stilisierung und Zuspitzung der Opposition von „Stadt“ versus „Land“ hat sich die spätere Stadt-Forschung z.T. zu sehr leiten lassen (s.o. Punkt 2.). Auf die Spitze getrieben scheint der Ansatz bei Lee, Unruhe, 67–87, der von einer völligen Entfremdung zwischen der von Ausbeutern bewohnten Stadt und den sie hassenden Bauern ausgeht.
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kulturellen und subkulturellen Phänomene unter dem Aspekt der urbanitas zu befragen (Wohnkultur, Mode, Kosmetik, Schmuck, Essen und Trinken, Alkoholkonsum, Kioske und Straßenlokale, Feste, Schwimmen, Sport, Tanz, Spiele, Reisen, Einkaufen, Nachtleben, Tierhaltung, Musik etc.).41 Urbanitas wird auch für einen bestimmten Stil der Rede bzw. einen Umgangston in der Stadt reklamiert. Zugleich wird deutlich, dass es sich hierbei um eine Selbstkonzeptualisierung vorrangig von Oberschichtszugehörigen handelt. Im 6. Buch seiner Institutio Oratoria kommt z.B. Quintilian im Zusammenhang seiner Ausführungen über das Lachen auf die in seinen Augen sorgfältig ausgearbeitete Schrift „De urbanitate“ des Domitius Marcus zu sprechen (inst. VI 3, 102). Er zitiert dessen Definition: „Urbanitas ist die besondere (sprachliche) Leistung, die in einer kurzen sprachlichen Äußerung in gedrängter Form besteht und dazu geeignet ist, die Menschen zu erfreuen und in jede Gemütsbewegung zu versetzen, vor allem aber versteht, sich zu behaupten oder herauszufordern, wie es jeweils die Sache und Person verlangen (urbanitas est virtus quaedam in breve dictum coacta ad apta ad delectandos movendosque homines in omnem adfectum animi, maxime ideonea ad resistendum vel lacessendum, prout quaeque res ac persona desiderat; inst. VI 3, 104).“ Quintilian zitiert in diesem Zusammenhang Domitus Marcus mit seiner Definition des urbanen Menschen: „Urban ist für uns ein Mensch dann, wenn er viele treffende Bemerkungen und Antworten liefert und wenn er in Unterhaltungen, Gesellschaften und festlichen Gelagen, ebenso in öffentlichen Versammlungen, kurz an jedem Platz Lachen erregen und gefällig reden kann […]“ (urbanus homo erit, cuius multa bene dicta responsaque erunt, et qui in sermonibus, circulis, conviviis, item in contionibus, omni denique loco ridicule commodeque dicet; inst. VI 3, 105). Quintilian bringt dann im Anschluss an die Meinung des Marcus seine eigene Position zur Geltung, indem er urbanitas dort erkennt, wo „nichts Misstönendes, nichts Bäurisches, nichts Unordentliches, nichts Fremdklingendes sich im Sinn, in den Worten oder in Aussprache oder Gebärde fassen lässt […]“ (in qua nihil absonum, nihil agreste, nihil inconditum, nihil peregrinum neque sensu neque verbis neque ore gestuve possit deprendi ; inst. VI 3, 107).
5.
Ansatzpunkte neutestamentlicher Forschung
Angesichts der Multidimensionalität des Phänomens der Stadt und ihrer nach vielen Fächern und Disziplinen differenzierten Erforschung stellt sich die Frage nach einem möglichen besonderen Beitrag der neutestamentlichen Wissenschaft. Neutestamentliche Untersuchungen finden ihre Basis zunächst in einer sehr begrenzten Zahl schriftlicher Quellen des 1. und 2. Jahrhunderts, in denen die „Stadt“ resp. „Städte“ immer schon als Bestandteil literarischer Konzepte begegnen. Historische Fragen nach den städtischen Anfängen der Geschichte des Frühchristentums lassen sich in vielen Fällen kaum näher aufhellen. In den in jüngerer Zeit verstärkt vorangetriebenen Spezialuntersuchungen zu einzelnen Städten wie Antiochia, Philippi, Thessaloniki, Korinth, Ephesos, Alexandria und Rom ist vielfach ein Spannungsverhältnis zwischen der Dichte des akkumulierten historischen und archäologischen Materials auf der einen Seite und den tat41
Siehe hierzu den Überblick bei Schneider, Kulturgeschichte II, 3–221.
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sächlichen Möglichkeiten, auf der Basis der gegebenen Quellen frühchristliche Kreise in einzelnen Distrikten oder Milieus der Städte zu verorten, sie bestimmten Vereinsstrukturen zuzuweisen, ihnen bestimmte inhaltliche Positionen zuzuschreiben etc., auf der anderen Seite zu konstatieren.42 Zwei Brennpunkte der jüngeren Forschung seien einleitend kurz angesprochen.
5.1
Die Stadt im Horizont frühchristlicher Sozialgeschichte
Mit den Arbeiten von G. Theißen (besonders zur Sozialstruktur der korinthischen Gemeinde, aber auch zum Spannungsverhältnis von Stadt und Land im Palästina der Zeit Jesu43) sowie mit W.A. Meeks’ „First urban Christians“ (deutsch: „Urchristentum und Stadtkultur“, 1993) rückte die sozialgeschichtliche Bedeutung der „Stadt“ für die Genese des Frühchristentums erstmals eigenständig in den Fokus der Forschung. G. Theißen und – ihm in vielem folgend – W.A. Meeks untersuchten erstmals systematisch, wie sich das frühe Christentum in die soziale Welt der antiken Stadt einbrachte und warum es sich in ihr als attraktiv erwies.44 Da G. Theißens wichtige Arbeiten zur Soziologie der frühen Christen bekannt und oftmals dargestellt sind, beschränkt sich die Einleitung darauf, die Position von Meeks noch einmal kurz zu skizzieren. Meeks knüpfte kritisch an die „Chicago School“ an45; in der Sichtweise des frühen Christentums, besonders aber auch in der des frühen Judentums setzte Meeks sich hierbei ebenso intensiv mit Max Weber (s. Punkt 3.) auseinander.46 Die Zielsetzung lautete, die Beschreibungen der Lebenswelt der frühen Christinnen und Christen, wie sie in der neutestamentlichen Wissenschaft der 1980er Jahre weitgehend von den kanonischen Texten und theologischen Interessen in der Interpretation her angegangen wurde, gewissermaßen vom Kopf auf die Füße zu stellen. Ausgangs42
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Vgl. die Auflistung jüngster Forschungsliteratur zu den einzelnen Metropolen bei Stambaugh/Balch, Umfeld, 172f. Zu Korinth vgl. Theißen, Studien, 231–317, zu Palästina vgl. ebd. 142–159 und Theißen, Jesusbewegung, 163–186. Schluchter wählt die Arbeit von Meeks aus, um die Lücke des Fehlens einer organisationssoziologischen Analyse der paulinischen Christenheit zu schließen (ders., Einleitung, 28–35). Theißen bezeichnet die Konzeption von Meeks in seinem Nachwort als „moderaten Funktionalismus“ (in: Meeks, Urchristentum, 384: „Eine Alternative wäre ein konflikttheoretischer Ansatz, der die Konflikte zwischen menschlichen Interessen für gegeben hält, ihren sozialen Ausgleich dagegen für problematisch.“). Vgl. Meeks, Rolle, 363–385. Mit anderen (s.o. den Abschnitt zu Weber Punkt 3) kritisiert Meeks das den Arbeiten Webers zugrundeliegende Bild des antiken Judentums. Weber habe das mittelalterliche Ghetto „ins Altertum vorverlegt“ (a.a.O., 367; vgl. 374). Ähnlich habe Weber die antiken Händler- und Handwerkervereinigungen zu sehr von den mittelalterlichen Zünften her begriffen (a.a.O., 369). Anders als Weber differenziert Meeks zudem sehr viel stärker zwischen individuellen und verschiedenen Städten. Vgl. zur Auseinandersetzung mit Webers typologischem Verfahren: a.a.O., 378–380 (Weber sei in seiner Kategorienbildung von der Reformation und Nachreformation mitbestimmt).
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punkt bildete die Feststellung, dass die frühchristliche Bewegung „die fundamentalste Trennung, die durch die Gesellschaft des Römischen Reiches lief, die Trennung zwischen Landbevölkerung und Städtern, überschritten“ habe, „eine Entwicklung, die sich als äußerst bedeutsam erweisen sollte“.47 Die frühen Christen traten damit in einen Prozess der Urbanisierung ein, der spätestens mit der Alexanderzeit im Zuge der Hellenisierung der Ökumene begonnen hatte und sich in römischer Zeit konsequent fortsetzte. Im Anschluss an Rostovtzeff sei das römische Imperium in dieser Zeit im Begriff gewesen, „ein Verband von sich selbständig verwaltenden Städten zu werden“. Meeks untersuchte in einem kohärenten methodischen Horizont die Fragen von Status und Schichtzugehörigkeit in den städtischen Gruppen des paulinischen Christentums, ihr Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft sowie ihre gruppeninternen Strukturen und Mechanismen. Die sozialgeschichtliche Fragestellung führte dabei zu einem imponierenden und mehrdimensionalen Gesamtbild. Nach Meeks bildeten die frühchristlichen Gemeinden im Großen und Ganzen die soziale Schichtung der sie umgebenden Mehrheitsgesellschaft ab. Meeks ging zusätzlich davon aus, dass die frühen städtischen Christen, besonders die Gruppen, die aus der paulinischen Mission hervorgingen, vielfach – Weber folgend – Handwerker gewesen48 und in ihrer Sozialstruktur durch eine „Statusinkonsistenz“ bzw. „Statusdiskrepanz“ qualifiziert gewesen seien49. Unter die zahlreichen Verdienste der Arbeit von Meeks ist hier zu rechnen, dass die Begriffe „Klasse“, „Stand“/„ordo“ und „Status“ problematisiert bzw. geklärt werden und die Frage nach dem sozialen Niveau des frühen Christentums insgesamt als eine multidimensionale und dynamische Erscheinung beschrieben werden kann. Fraglich wurden durch die Untersuchung von Meeks u.a. ältere simplifizierende Modelle der Schichtengliederung und ihrer homogenisierenden Betrachtung in hellenistisch-römischen Städten sowie der Zuordnung der frühen Christen zu diesen.50 „Status“ ist, so arbeitet Meeks heraus, ein vieldimensionales Phänomen; zunächst sind „zugeschriebener“ und „erworbener“ Status zu unterscheiden. So wird z.B. erklärbar, dass Personen mit einem hohen sozialen Ansehen in einer städtischen Gemeinde nicht notwendig die Ressourcen besitzen oder kontrollieren. Sodann ist „Status“ in verschiedenster Hinsicht, z.B. im Blick auf Macht, Wohlstand, Besitz, ethnischen Hintergrund, Erziehung, familiäre Einbindung, religiöse Zugehörigkeit u.a., zu differenzieren.51 47 48
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Meeks, Urchristentum, 28f. Vgl. Meeks, Rolle, der die These Webers, das alte Christentum sei eine „Handwerkerreligiosität“ gewesen, zwar nicht für beweisbar, aber doch für wahrscheinlich und „nützlich“ hält (a.a.O., 368). Vgl. Meeks, Rolle, 370. Vgl. auch Alföldy, Sozialgeschichte, 124: „Die Unterschichten bestanden aus stark heterogenen Gruppen der Bevölkerungsmassen von Stadt und Land. Im Gegensatz zu den privilegierten ordines sind sie keinesfalls als Stände zu definieren.“ Vgl. den umfassenden Überblick über die Erforschung des sozialen Levels der frühen Christen bei Holmberg, Sociology, 21–76, der nicht nur die Unsicherheiten herausarbeitet, welche sich beim Rückschluss von literarischen Texten auf soziologische Hintergründe einstellen, sondern auf das Problem der in verschiedenen Forschungsarbeiten va-
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Das zweite Kapitel von Meeks’ Untersuchung, welches die Soziologie der städti52 schen Anfänge aufarbeitet, wurde von Schöllgen ausführlich diskutiert. Nach Schöllgen ist zunächst die Quellenlage im Blick auf die Sozialgeschichte der Kaiserzeit nicht einheitlich gut und belastbar; so „bleiben die Quellen für das Gros der städtischen Bevölkerung, von einzelnen Gruppen wie etwa den Soldaten oder den Angehörigen der domus Caesaris abgesehen, weit weniger ergiebig. Richtet man seinen Blick auf die kleinen frühchristlichen Gemeinden, wird die Quellenlage noch entschieden schlechter. Die sozialgeschichtlich ertragreichsten Gattungen wie Inschriften, Papyri, archäologische Überreste und historische Berichte fehlen (fast) völlig – an ihre Stelle treten Texte, deren nahezu ausschließlich theologisches, nicht historisches Interesse auch die wenigen expliziten Aussagen, die sie über die soziale Schichtung der frühchristlichen Gemeinden machen, unter Tendenzverdacht stellen.“ (71). Auch in den paulinischen Briefen und der Apostelgeschichte bleibt das „durchschnittliche Gemeindeglied“ in der Regel unerwähnt, es stehen stattdessen „vornehmlich Christen mit besonderen Gaben und Aufgaben“ im Fokus (75). Im Blick auf sozialgeschichtliche Versuche müsse insbesondere „das Konstrukt einer ‚antiken städtischen Gesellschaft’ […] trotz aller Konstanten des städtischen Lebens von vornherein mit Skepsis betrachtet werden“ (73). Die städtischen loci der paulinischen Gemeinden wiesen „in rechtlicher, kultureller und sozialer Hinsicht so große Unterschiede auf, daß sie sich kaum in ein Schema ‚antike Stadt’ pressen lassen, geschweige denn über eine mehr oder weniger identische Sozialstruktur verfügt haben“ (73). Meeks’ Vorstellungen von einer antiken Stadt bezeichnet Schöllgen als „erstaunlich anachronistisch“ (73). Dies betreffe insbesondere die Annahme, dass Handwerker und kleine Händler das Gros der städtischen Gesellschaft gebildet hätten. „Doch basierte die Wirtschaft der überwiegenden Zahl bes. der kleineren Städte der Antike weniger auf Handel und Handwerk als auf der landwirtschaftlichen Produktion ihrer Bürger, die nicht nur im bebauten Kern, sondern verstreut über das häufig recht ausgedehnte agrarisch genutzte Territorium wohnten und arbeiteten“ (73). Weiter habe Meeks die Pluriformität verschiedener möglicher Sozialstrukturen in den unterschiedlichen städtischen Missionsgebieten des Paulus unterschätzt. Gegenüber der Hochkonjunktur, der sich die Verortung des frühen Christentums im seit längerem in der neutestamentlichen Wissenschaft (nicht nur bei Meeks) erfreut, merkt Schöllgen an, dass das Haus als Ort „sozialgeschichtlich weitgehend neutral“ sei (74). Insgesamt: Die „Erkenntnis, daß ‚sozialer Status’ nicht eindimensional als Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht verstanden werden dürfe, sondern ein sehr komplexes Phänomen mit unterschiedlichen, u.U. gegenläufigen Komponenten (soziale und ethnische Herkunft, Stand, Familie, Religion, Bildung, Vermögen u.a.) darstelle, ist für sich genommen durchaus plausibel. Doch scheint es Meeks entgangen zu sein, daß diese aus der modernen Soziologie übernommene Theorie sein Vorhaben nicht etwa erleichtert, sondern nachdrücklich erschwert, wenn nicht gar unmöglich macht […]“ (78f.).
Trotz aller Fortschritte in Hinsicht auf die Erforschung der Sozialstruktur frühchristlicher Kleingruppen bleibt insbesondere die starre Stadt-Land-Diastase, wie auch Meeks sie vertritt, ein Grundproblem (s. Punkt 2.).53 Die postulierten
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riierenden und in soziologischer Hinsicht unpräzise verwendeten Terminologien verweist. Zum gesamten Problemfeld grundlegend: Guttenberger, Status. Die folgenden Zitate aus Schöllgen, Was wissen wir?, 71–82. „Die Dorfkultur war konservativ und ihr Horizont eng. Nur in den Städten konnte man die Veränderungen erleben, die auf eine einheitliche Mittelmeerkultur zuliefen. Die Menschen, die wirklich mobil waren, sei es physisch oder sozial, fand man in den Städten, im Altertum ebenso wie in der Moderne“ (Meeks, Rolle, 365). Die These, dörfliches Leben
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grundsätzlichen Spannungen zwischen Stadt und Land in ökonomischer, aber auch kulturell-religiöser Hinsicht scheinen aporetisch. So ist u.a. zu fragen, ob die „Städte“ in irgendeiner Weise mehr dafür prädestiniert waren, soziale und religiöse Konflikte hervorzurufen bzw. Statusinkonsistenzen zu überwinden (vgl. hier G. Theißens Vorschlag, den Begriff des „Liebespatriarchalismus“ von E. Troeltsch aufzunehmen54) als nichtstädtische Gebiete, oder ob sich in ihnen „Ämter“ und autoritative Funktionen in frühchristlichen Gruppen leichter ausbilden konnten als an anderen Orten. Unsicher muss auch bleiben, inwieweit bestimmte literaturgeschichtliche Weichenstellungen im ältesten Christentum in besonderer Weise mit städtischen Lokalitäten zu verknüpfen sind – so nahe liegend diese Annahme an sich erscheinen kann. Auch sozial-stratigraphische Untersuchungsschritte müssen, so hat die Diskussion gezeigt, immer bei einer konkreten Stadt zu einer konkreten Zeit ansetzen; homologisierende Modelle können der Interpretation nicht einfach überund vorgeordnet werden. Meeks’ Pionierarbeit hat insgesamt die Wahrnehmung dafür geschärft, dass sich viele Fragen der frühchristlichen Sozialgeschichte in Anbetracht mangelnder Quellen wahrscheinlich nie werden beantworten lassen. Zugleich wurde deutlich, wie sehr sozialgeschichtliche Beiträge zum Thema Stadt im ältesten Christentum von den jeweiligen methodischen Prämissen dependent sind.55
5.2
Stadtkonzeptionen und die Anfänge frühchristlicher Theologiebildung
Die neutestamentliche Wissenschaft hat es zunächst mit Texten zu tun, die ggf. auf literarische Konzeptualisierungen der „Stadt“ zu befragen sind. 1. Hierbei stellt sich zunächst die Frage nach möglichen Voraussetzungen in der biblischen Literatur des Alten Testaments sowie in frühjüdischen Quellen. In Hinsicht auf die Wahrnehmung und Wertung „der“ Stadt bzw. konkreter Städte56 bestätigt sich zunächst auch für das Alte Testament, dass Interpretationen vielfach auf bestimmten Wahrnehmungsschemata basieren, die als solche offenzulegen sind. Exemplarisch lässt sich dies an Interpretationen der sogenannten
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sei konservativ und rückständig, verrät die Perspektive des neuzeitlichen gebildeten Städters in Nordamerika. Zum Problem s.o. Punkt 2. Zum „Liebespatriarchalismus“ und dessen Rückbindung an die hellenistisch-städtische Kultur vgl. Theißen, Studien, 102 und 268. Stark, Aufstieg, setzt bei der Untersuchung von Meeks und zugleich bei A. v. Harnack an und möchte mit Methoden der Stadtsoziologie eruieren, wie und warum sich das frühe Christentum in einzelnen Städten des römischen Imperiums schneller ausbreitete als in anderen. Er wählt hierfür die 22 nach ihrer Einwohnerzahl größten Städte des Imperiums aus. Vorausgesetzt wird, dass zunehmende Größe zugleich eine Zunahme der „kritischen Masse“ bedeute, die die Grundlage für die „Entstehung von devianten Subkulturen“ bilde (a.a.O., 156). Die Arbeit weist einige Probleme auf, u.a. die These einer breiten jüdischen Mission, die der christlichen vorausgegangen sei. Vgl. insgesamt als Ausgangspunkt: Fritz, Stadt.
Das frühe Christentum und die Stadt – Einleitung
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Urgeschichte in Gen 1–11 zeigen, welche teils für das Urteil herangezogen wurde, dass Israel „offensichtlich nie ein echtes und progressives Verhältnis zur Stadt und ihrer Gesellschaft gefunden“ habe.57 Oft ist nach einer städte- und zivilisationskritischen Tendenz im Kainiten-Stammbaum von Gen 4,17–24 gefragt worden (vgl. Gen 4,17LXX: ! " ). Solche Sicht verbindet sich vielfach mit dem Postulat einer insgesamt kulturpessimistisch-deszendenten Linienführung in der Urgeschichte: Nach dem Verlust des paradiesischen Seins durchschreite die Menschheit eine Abwärtsbewegung, in welche auch das Gründen von Städten eingezeichnet sei. Mit Schüle ist hier jedoch Vorsicht angezeigt. „Der Mythos will in erster Linie erklären, warum und wie die Dinge so geworden sind, wie sie sich dem in der Gegenwart lebenden Menschen darstellen. Die Frage, ob diese Dinge gut oder schlecht sind, wird dagegen nicht in belehrendem Sinne mit ja oder nein beantwortet, sondern bleibt ambivalent.“58 Unter Hinweis auf Dtn 6,10, wonach Israel im Land als Geschenk Gottes „große und gute Städte“ vorfindet, die es nicht selbst gegründet bzw. gebaut hat ( # ! ), führt Westermann aus: „Die Gründung der ersten Stadt gehört der Urgeschichte an, Israel oder Israels Vorfahren waren nicht daran beteiligt. In die städtische Kultur ist Israel erst mit der Landnahme hineingekommen, und es wird nachdrücklich daran erinnert, daß es hier nur Erbe ist; die Städte sind für Israel Gabe des Gottes, der es aus Ägypten errettete, nicht aber eigenes Werk.“ Gemäß Dtn 1,28 und 9,1 werden die Israeliten in Anbetracht der großen Städte und himmelhohen Burgen der Kananäer mit Staunen erfüllt. Der Zusammenhang von Gen 4,1.17–24 zeigt nach Westermann zugleich, „daß Israel die Städtegründung und die städtische Kultur nicht etwa von vornherein als etwas Negatives sah […].“ Sie werde vielmehr „als ein Kulturfortschritt der Menschheitsgeschichte völlig positiv gesehen.“59 Auch Gen 11,1–9 ist kein städtekritischer Text per se. Zunächst ist festzuhalten, dass entgegen einer langen Rezeptionsgeschichte nicht der Turmbau als solcher im Fokus der Erzählung steht. Mit Uehlinger ist vielmehr festzuhalten: „Das dominierende Objekt des Bauens ist nach dem MT eine ‚Stadt’, der ‚Turm’ ist nur ein Bestandteil (wenngleich ein offenbar wichtiger) dieser ‚Stadt’.“60 Weiter liegt dem Text nicht daran, ein schuldhaftes Verhalten der Menschen im Sinne von Hybris festzustellen. Wie z.B. Seebass zeigt, geht es konkret um Babylon „als Träger einer zentralisierenden Idee für die Welt“.61 57 58 59
60 61
Wallis, Stadt, 148. Kritisch hierzu Hulst, Art. ‘ir Stadt, 271. Schüle, Urgeschichte, 103. Die Zitate aus: Westermann, Genesis, 444. Ihm folgend Seebass, Genesis, 167f.: „Der Vf. nennt Kain auch nicht den ersten Baumeister […]. Der Wortlaut besagt nur, daß Kain nach Henochs Geburt dazu überging, eine Stadt zu bauen, als sei dies nicht eine besondere Kunst“ (a.a.O., 166). Vgl. auch Hulst, Art. ‘ir Stadt, 271. Uehlinger, Weltreich, 372. Seebass, Genesis, 272. A.a.O., 274, im Anschluss an Uehlinger: „So sollte man in 11,1–9 weder einen Angriff auf Gott (Gunkel) noch auf ein Sein wie Gott (Westermann, Bost) o.ä. suchen […]“. Umstrittener ist es, wenn Seebass am Ende konstatiert, Gott strafe nach
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Im Verhältnis zu alttestamentlichen Texten ist festzuhalten, dass die prophetischen Texte, die sich kritisch zur Stadt bzw. zu sozialen Missständen in ihr verhalten, in frühchristlichen Texten keine deutliche und breite Wirkspur hinterlassen haben.62 Auszunehmen sind von dieser Beobachtung bis zu einem gewissen Grad Texte, die sich gegen Rom als Repräsentantin Babylons und gegen den Kaiserkult in den Städten richten (Apk 2,9; 3,17; 18,2.3.4.11.15.23; vgl. 1Petr). Am intensivsten schließt das frühe Christentum auch dort, wo Vorstellungen wie die der Zionstheologie neu gewertet, umgeformt (und ggf. auch bewusst ausgespart) werden, an der zentralen Stellung Jerusalems im Alten Testament und im frühen Judentum an. Die Stadt Jerusalem ist als solche, auch dort, wo sich Erwartungen an sie als eine veränderte, jenseitige resp. zukünftige und neue Größe richten, nicht austauschbar und unverwechselbar.63 Jerusalem gilt vom Alten Testament her auch den frühen Christen grundsätzlich als „die“ Stadt (vgl. 2Sam 15,25; 1Kön 8,44.48; Jer 8,16; Ez 7,23; 9,4.9; Mi 6,9 u.a.), die Sicherheit gewährt (vgl. Jes 22,8; 26,1; Ps 122,3.7) und die zu bestaunen ist (Ps 48,13f; vgl. Jes 33,18). Lobpreis und Erwartungen, die sich mit Jerusalem verbinden, werden im Alten Testament in der Zionstheologie breit ausgestaltet (vgl. z.B. Ps 48). Jerusalem, die „Stadt Gottes“ (Ps 46,5; 48,2.9), gilt als von JHWH selbst erwählt (vgl. 1Kön 8,16; 11,13.32.36; 14,21; 2Kön
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63
Gen 11 nicht, sondern beuge lediglich vor (a.a.O., 288). Der Text wird durch die jüngeren Erkenntnisse der alttestamentlichen Exegese allerdings hermeneutisch nicht einfacher. „Die theologisch vielleicht größte Herausforderung des Textes liegt in der Charakterisierung JHWHs als eines Gottes, der nach der Devise ‚teile und herrsche’ handelt“ (Schüle, Urgeschichte, 166). Die Einsicht, dass gerade in Städten lasterhaftes Leben Raum fand (Gen 19,1–29), verbindet das Alte Testament mit anderen altorientalischen Kulturen und kann auch für die hellenistisch-römische Zeit Geltung beanspruchen. Prophetische Kritik und Gerichtsansage hängen mit den sozialen Missständen eng zusammen (vgl. Jer 6,6; Ez 9,9; Mi 3,10 u.v.a.). Die stadtkritische Sicht des Amos lässt auch nach seiner Herkunft vom Land fragen (vgl. Am 4,1–3; vgl. die Stadtkritik Michas in Mi 6,9–14; aber 4,1–5; vgl. Jes 3,16–24; 5,8–25; Hab 2,12). Dort, wo religiöse Gesichtspunkte bei einer kritischen Sicht städtischen Lebens ins Spiel kommen, ist es v.a. die Überzeugung, dass nicht Menschen, sondern nur JHWH allein die Stadt schützen kann (vgl. Ps 127,1: „wenn JHWH nicht die Stadt behütet, so wacht der Hüter umsonst“; vgl. Sach 2,9). Vgl. Hos 8,14: „Israel vergisst seinen Schöpfer und baut Paläste, und Juda macht viele feste Städte; aber ich will Feuer in seine Städte senden, das soll seine Paläste verzehren.“ Vgl. auch Mi 1,5–16; 2,2.8; 3,1–3.9–12; Am 2,5; 3,11; 5,3; 6,8; Jos 13,10; Jes 17,9f. u.a. In der Prophetie werden fremde (Groß-)Städte Gegenstand der Kritik und Gerichtsandrohung. Die zerstörte stolze Stadt wird zu einem Topos (vgl. Jes 6,11; 13,19–22; 34,9–15; Jer 22,5; 49,17f.33; 50,39f.; 51,43; Zef 2,6f.13–15 u.a.). Das Buch Jona beginnt dagegen zwar mit der Beauftragung des Propheten, der „großen Stadt“ Ninive anzusagen, dass der „Lärm der Schlechtigkeit“ zu Gott gedrungen ist (Jon 1,2LXX: $ % ! & " ; vgl. nochmals 3,1). Doch am Ende muss Jona lernen, dass JHWH die „große Stadt“, in der mehr als hundertzwanzigtausend Menschen wohnen, infolge ihrer Umkehr (vgl. 3,1–10) mit Mensch und Tier verschonen wird (vgl. 4,11). Die Christen hoffen sowohl von alttestamentlichen als auch von neutestamentlichen Texten her auf ein himmlisches Jerusalem – nicht auf ein himmlisches Rom o.ä. (auch nicht auf ein himmlisches Wittenberg).
Das frühe Christentum und die Stadt – Einleitung
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21,7; 23,27; 2Chr 6,5; 12,13; 33,7; Ps 78,68; 132,13; Sach 1,17; 2,16 u.a.). Insgesamt wird vor einem entsprechenden traditionsgeschichtlichen Hintergrund verständlich, dass Jesus im Lukasevangelium dort, wo die Erzählung die Stadt erreicht – welche nach dem Wissen der Leser unterdessen 70 n. Chr. zerstört wurde – weint (vgl. Lk 19,41: " ' ). 2. Auf dem Hintergrund frühjüdischer Zeugnisse stellt sich u.a. die Frage, wie zentral die Hoffnung auf eine jenseitige Stadt, konkret die Erwartung eines eschatologischen resp. himmlischen Jerusalem im Frühchristentum ist.64 Im Einzelnen sind es, angefangen bei der Tempelweissagung Jesu, sehr verschiedene neutestamentliche Stellen, die hier zu diskutieren wären. Die Rede vom „himmlischen Gemeinwesen“ () in Phil 3,20 hängt mit politischen Vorstellungen eng zusammen, die Paulus in seinem Brief an die Gemeinde der römischen städtischen Kolonie Philippi aktiviert. Hiervon zu unterscheiden sind baumetaphorische Aussagen wie z.B. in Eph 2,19f., die nicht eo ipso mit der Erwartung einer Himmelsstadt zu verrechnen sind.65 Eine entsprechende Hoffnung ist – auf dem Hintergrund frühjüdischer Konzepte (vgl. syrBar 4,2–5; aram. Apokryphon vom himmlischen Jerusalem; or. Sib. V 247–252, 420–433; vgl. auch Gal 4,26 u.a.) – dagegen in der Apk zu erkennen, die auf die neue „heilige“ Stadt zuläuft, die himmlisch bereits bereitsteht (Apk 3,13; 11,2; 21,1– 22,5), und diese zukünftige Stadt zugleich mit dem irdischen Babylon/Rom kontrastiert, welches auf ein finales Gericht zugeht (vgl. Apk 18,10.16.19.21 u.a.).66 Zentrale Bedeutung kommt der Hoffnung auf ein überzeitliches himmlisches Vaterland ferner im Hebräerbrief zu, welche als städtische Hoffnung konzeptualisiert werden kann. Gott selbst ist nach Hebr 11,10 der Planer und Gründer der auf Grundfesten stehenden Stadt, auf die Abraham bereits wartete.67 „Abraham darf schauen, was allen Ungerechten auf dieser Welt verborgen bleibt, die Konturen humanen Lebens in Gottes Gegenwart. Eine Stadt (und nicht bukolisches Land) wird zur erhofften und in der Hoffnung gewissen, wiewohl vorläufig unsichtbaren und unerreichten Heimat, weil Humanität in der Antike als städtisches Charakteristikum“ gelte.68 3. Mit dem zuletzt genannten Zeugnis des Hebräerbriefes ist einleitend noch ein letzter wesentlicher Gesichtspunkt anzusprechen. Auch wenn die These im Kern zutrifft, dass das frühe Christentum im Vollzug seiner Entstehung und Etablierung sehr bald (mindestens auch) eine städtische religio geworden ist, so ist die „Stadt“ und ist „städtisches Leben“ in den Augen der frühen Christen in engem Anschluss an Wahrnehmungen im frühen Judentum doch zumeist ein ambivalentes Phänomen geblieben – bedingt z.T. auch durch Ausgrenzungsbzw. Stigmatisierungserfahrungen, die die Christen vielfach in den Städten 64 65 66 67
68
Siehe hierzu das gesamte Material bei Söllner, Jerusalem. Hier wird bei Theobald/Simon, Babylon, 14, zu wenig differenziert. Zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund vgl. Aune, Revelation III, 1122, 1152f. Siehe zu den frühjüdischen und ‚paganen’ Hintergründen der Konzeption: Gräßer, Hebräer, 126–130. So Karrer, Hebräer, 282. Der Hebr konzentriere „sich auf die Dynamik des Glaubenswegs zum Himmel hin“ und interessierte „sich insofern weniger als die Apk für eine irdische Relevanz der neuen Welt“ (a.a.O., 283).
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machten. Als paradigmatisch kann hier in der Sache die Konzeption des Parökentums resp. der „Fremdlingschaft“ im 1. Petrusbrief (2,11) gelten.69 Zu vergleichen ist auch der Diognetbrief, nach dem die Christen alles nur wie Fremdlinge erdulden (Diog 5,5: ""), weil sie ! (5,9), oder der Hirt des Hermas (sim. I 1–6), wo ebenfalls der Topos des Parökendaseins der Christen aufgerufen ist und es gilt: „eure Stadt ist fern von dieser Stadt“ (I 1).70 Auch über frühjüdisch-apokalyptische Vorstellungen hinaus konnte sich der Blick auf eine alternative Stadt im Himmel resp. in der Zukunft richten. In der weiteren christlichen Rezeptionsgeschichte entsprechender Erwartungen wirken dann vielfach platonische Anschauungen ein, die im frühen Judentum auch von Philo (vgl. z.B. Gig 61; Som 2.250f.) aufgenommen werden können. Platon stellt in der „Politeia“ fest, der von ihm behandelte Stadtstaat sei wohl auf Erden nicht verifizierbar. Dagegen gebe es vielleicht für den „Sehenden“ ein „Paradigma“ dieses Stadtstaates im Himmel (resp. IX 592 a.b; vgl. auch Clemens strom. IV 172,3; paed. I 45,2; III 99,1; Tertullian, cor. 13,4). So ist das Konzept der Fremdheitserfahrung in der antiken Großstadt kaum als jüdische oder frühchristliche Innovation anzusprechen. Hier wäre z.B. umfassender zu vergleichen, wie sich z.B. philosophisch Gebildete wie Seneca in Rom selbst wahrnahmen und verhielten („Hüte dich vor der Masse!“). Zuletzt ist bemerkenswert und beredt, dass eine solche Sicht, nach der die Stadt eine Welt symbolisiert, der man als Beisasse „fremd“ bleiben sollte, noch bis in jüngste Konzeptionen der Stadtforschung hineinwirken. Lewis Mumford schließt in seinem Standardwerk zur „Stadt“ seine Ausführungen zu Rom mit folgenden Sätzen: Roms Geschichte biete „uns eine Reihe von klassischen Gefahrenzeichen, die beachtet werden sollten, wenn sich das Leben in die falsche Richtung wendet. Wo immer Menschenmassen sich in erstickender Fülle ansammeln, wo immer Mieten steil ansteigen und die Wohnverhältnisse sich verschlechtern, wo immer einseitige Ausbeutung ferner Länder die Notwendigkeit aufhebt, in der Nähe für Gleichgewicht und Harmonie zu sorgen – dort kehren fast automatisch die Vorbilder römischer Bauweise wieder […]. Die Arena, die hohe Mietskaserne, die Massenschaustellungen und Ausstellungen, die Fußballspiele, die internationalen Schönheitswettbewerbe, die mittels Reklame allgegenwärtig gewordenen Entkleidungsszenen, die ständige Aufreizung der Sinne durch Sex, Alkohol und Gewalttätigkeit […]“ – dies alles sei, so Mumford, „echt römischer Stil“.71 Es gelte weiter „für die Vervielfältigung von Badeeinrichtungen, für den Riesenaufwand für breite Autostraßen und vor allem für die kollektive Konzentration der Massen auf flüchtige Eintagsvergnügungen aller Art, die mit größtem technischen Wagemut vollführt werden.“ Mumford endet mit kulturpessimistisch-prophetischen Worten: „Das sind Symptome des nahen Endes: Übersteigerungen entsittlichter Macht und Herabwürdigung des Lebens. Wenn diese Zeichen sich mehren, ist Nekropolis nahe, 69 70 71
Siehe hierzu zuletzt: Guttenberger, Passio. Vgl. hierzu die Erläuterungen bei Körtner/Leutzsch, Hirt, 467f. Mumford, Stadt, 284.
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mag auch noch kein Stein zerfallen sein; denn der Barbar hat die Stadt bereits von innen her erobert. Komm, Henker! Geier, komm!“72
6.
Vom irdischen Jerusalem zum himmlischen – Der thematische Aufbau dieses Bandes
In diese Vorüberlegungen zum städtischen Leben fügen sich die Themen des Sammelbandes ein: Es gilt, die Stadt in der Wahrnehmung der ersten Christen in ihrem Faszinosum wie auch in ihrer Zwiespältigkeit zu erfahren, die Städte als Ziel frühchristlicher Mission greifbar zu machen, sowie die Interaktionen zwischen Stadtbewohnern und frühem Christentum zu verdeutlichen. Dabei verstehen sich die Beiträge nicht nur als Einzelbetrachtungen zu unterschiedlichen Orten und unterschiedlichen Zeiten, sondern wollen in den breitgestreuten Themen gemeinsame Grundzüge des frühen Christentums in seiner Begegnung mit der Stadt aufzeigen. Gleich einem „Arpeggio“ erklingen die einzeln angerissenen Saiten zwar nacheinander und formen am Ende doch einen gemeinsamen Akkord. Im ersten Beitrag bietet Reinhard von Bendemann: Jesus und die Stadt im Markusevangelium eine Hinführung zur Konzeptualisierung von Stadt und Land im zweiten Evangelium. Dabei ist weniger die – bereits hier in der Einleitung zur Sprache gebrachte – Frage federführend, ob die Jesusbewegung nun den Städten distanziert gegenüberstand oder nicht, vielmehr rückt die narrative Inszenierung der Stadt im zweiten Evangelium in den Blick. Allerdings stellt sich auch hier die Frage, wieweit der Text des Markus als „ereignete Geschichte“ nicht nur Inszenierung, sondern reale Darstellung konkreter Gegebenheiten präsentiert – ein Ansatz, der der Gefahr eines „topologischen Doketismus“ zu wehren vermag. Denn auch Markus setzt bei seiner Leserschaft ein geschichtliches Bewusstsein voraus, dass es eine diachrone Entwicklung von den „Orten“ der frühen Jesusbewegung in Galiläa hin zu einer überwiegend städtisch geprägten christlichen Gegenwart gab. Darüber hinaus aber zeigt sich, dass die Stadt-LandDifferenzierung bei Markus in das für das zweite Evangelium so bestimmende theologische Konzept des Messiasgeheimnisses eingebunden ist: Die werden zum Inbegriff der Spannung zwischen epiphanem und verborgenem Christus, in ihnen sieht Markus einen symbolischen Raum für Innovationen. Die hingegen eröffnen den Raum für den Übergang vom Dorf zur Stadt, während die Erwähnung der Dekapolis – als jüdisch-heidnisches Mischgebiet – die universale, nicht mehr von der Unterscheidung zwischen Juden und Heiden gehemmte Christusverkündigung repräsentiert. In diesem topographischen Entwurf kann Jerusalem als eigentlicher Fluchtpunkt der markinischen Gesamterzählung beschrieben werden. So ist Jerusalem für Markus der Ort, an dem das Messiasgeheimnis im Zusammenhang von Kreuz und Auferste72
Mumford, ebd.
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hung Jesu gelöst wird. Im zweiten Evangelium muss also berücksichtigt werden, dass die topologische Entwicklung der Erzählung zutiefst im Dienste der theologischen Intention steht. Von der Darstellung Jesu im zweiten Evangelium schließt sich mit dem Beitrag von Rainer Riesner: Zwischen Tempel und Obergemach – Jerusalem als erste messianische Stadtgemeinde ein Blick auf die Jerusalemer Urgemeinde an. Nach Informationen zu Ausdehnung und Bevölkerungszahl sowie zur sozialen, religiösen und sprachlichen Zusammensetzung der Stadt wird hier das Quellenmaterial zur Jerusalemer Urgemeinde näher untersucht: Neben Erwägungen zum historischen Wert des lukanischen Doppelwerkes finden auch Zeugnisse aus den Paulusbriefen, des Josephus, Eusebius und Eutychius eine Auswertung. Aufgrund der alttestamentlichen Verheißung einer endzeitlichen Völkerwallfahrt zur Heiligen Stadt (Jes 2 und Mi 4) könne man für die galiläischen Jesusjünger zu Recht ein Verbleiben in Jerusalem annehmen (vgl. Apg 1,13f.). Neben dem Zwölferkreis und weiteren männlichen wie weiblichen Nachfolgern erwähnt die Apostelgeschichte (1,14; 12,17; vgl. 1Kor 15,6 und Gal 1,19) auch Familienangehörige Jesu als Teile dieser Gemeinde. Darüber hinaus könne man annehmen, dass sich im Jerusalemer Urchristentum der Pluralismus der frühjüdischen Gruppen widerspiegelte: Über pharisäische Konvertiten besitzen wir direkte Nachrichten (Apg 15,5). Daneben rechnet Riesner auch mit essenischen Konvertiten: Für die Verortung des Jerusalemer Urchristentums im „Obergemach“ wertet er die Traditionen der Apostelgeschichte und des Epiphanius aus und setzt sie in Relation zum viel diskutierten „Essener-Viertel“ in Jerusalem. Auch in den Spannungen zwischen „Hebräern“ und „Hellenisten“ trete die Pluriformität der ersten Christen in Jerusalem zu Tage. In der pluralen Stadt Jerusalem offenbare sich so zum ersten Mal die Pluralität des frühen Christentums – mit allen Spannungen, aber auch mit dem Willen, diese Spannungen zu überbrücken. Mit Spannungen im Urchristentum setzt sich auch Thomas Söding: Apostel gegen Apostel. Ein Unfall im antiochenischen Großstadtverkehr (Gal 2,11–16) auseinander, bezogen nicht allein auf Jerusalem, sondern vorrangig auf die frühchristliche Gemeinde in Antiochia. Diese bedeutende Stadt repräsentiert ein Zentrum der frühen Christenheit und war für längere Zeit auch die Heimatgemeinde des Paulus geworden. In Folge der auf dem Apostelkonzil getroffenen Bestimmungen kommt es hier zu einem Konflikt des Paulus nicht nur mit Kephas, sondern auch mit Barnabas und indirekt mit dem Herrenbruder Jakobus in Jerusalem. Die Apostelgeschichte verschweigt diesen Zwischenfall – doch finden wir dort die Erwähnung anderer Spannungen zwischen „Hellenisten“ und „Hebräern“ (Apg 6,1–7), zwischen „Antiochenern“ und christlich gewordenen Pharisäern (Apg 15,1–5). Historisch gesehen trifft der „antiochenische Zwischenfall“ allerdings in die Herzkammer des Christentums: die Mahlgemeinschaft zwischen Juden- und Heidenchristen, näherhin die Frage, inwieweit die Speisevorschriften bei gemeinsamen Mählern zwischen Juden- und Heidenchristen verpflichtend waren. Damit entzündet sich der Streit also nicht an der Beschneidungsfrage für Heidenchristen, die ja auf dem Apostelkonzil bereits entschieden wurde, sondern vielmehr auf der dort noch gar nicht zur Sprache gebrachten Frage der Tischgemeinschaft. Die sogenannten Jakobusklauseln bie-
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ten sich dann als Lösung in dieser Frage an. Sie wären nach Söding erst nach dem Konflikt – und nicht, wie Apg 15,20 glauben machen will, schon auf dem Apostelkonzil – als Kompromisslösung entstanden. Auch hier wird deutlich, dass die plurale Situation der Stadt nicht nur Probleme, sondern auch den Willen zu Kompromiss und Dialog entstehen ließ. In Antiochia verbleibt der Beitrag von Kurt Erlemann: Antiochia und der Hebräerbrief – eine Milieustudie. Darin wird versucht, ein mögliches Habitat für die Abfassung des Hebräerbriefes in Antiochia zu verorten. Nach einigen grundsätzlichen Fakten zum Antiochia des 1. Jh. n. Chr. beleuchtet der Beitrag die Position der „Hellenisten“, die nach Apg 11,19 auch nach Antiochia gekommen waren. Die diese Gruppierung auszeichnende Tempelkritik (Apg 6,13f.; 7,48f.) lasse sich nun auch in ähnlicher Weise im Hebräerbrief finden: Kultische Vorschriften des Judentums werden dort als obsolet betrachtet. Die Alternative, die der Hebräerbrief zur jüdischen Kultpraxis entwickelt, folge einem Schema, das auch bei Paulus, in der Paulusschule und in der johanneischen Tradition erkennbar sei: Das eigentliche und einzig soteriologisch relevante Geschehen findet schon jetzt im Himmel statt. Darüber hinaus greift der Hebräerbrief einige platonisch-philonische Denkformen auf. Dazu gehören vor allem die Unterscheidung von äußerlich und innerlich (Hebr 7,16), die Unterscheidung von vergänglich und ewig bzw. die Betonung der Ethik anstelle des Kultes (Hebr 13,15f.). Die Stoßrichtung des Hebräerbriefs gegen den sichtbaren Jerusalemer Tempelkult und die Etablierung eines unsichtbaren „Gegenkults“ am himmlischen Heiligtum, in dem der erhöhte Christus die entscheidende Rolle spielt, könne somit den Hebräerbrief als Dokument antiochenisch-„hellenistischer“ Theologie ausweisen. Als Autor komme dann ein prominenter Vertreter früher antiochenisch„hellenistischer“ Theologie in Frage. Mit dem Beitrag von Markus Tiwald: Frühchristliche Pluralität in Ephesus bleibt der Sammelband auch weiterhin der Thematik urbaner Pluralität verpflichtet – nun allerdings demonstriert am Beispiel von Ephesus. Nach einem Überblick der Forschungsbeiträge der letzten zwanzig Jahre lässt sich zwar ein regelrechter „Ephesus-Boom“ konstatieren, doch zugleich auch eine enttäuschende Disparatheit der diesbezüglichen Erträge. Dabei scheint Ephesus gerade für die Entstehung neutestamentlicher Schriften vielleicht die zentralste Stadt überhaupt gewesen zu sein: Paulus und seine Schule werden hier ebenso verortet, wie das lukanische Doppelwerk, die johanneische Schule und die Offenbarung des Johannes. Wie so unterschiedliche Kirchenbilder – man vergleiche nur die Offenbarung im Kontrast zu Apostelgeschichte und Pastoralbriefen – auf so engem Raum zur gleichen Zeit nebeneinander bestehen konnten, bleibt Gegenstand unterschiedlicher Erklärungsversuche. Tiwald setzt dabei die frühchristliche Pluralität mit der Pluriformität des Frühjudentums in Verbindung. Auch wenn in Ephesus bislang noch keine jüdische Synagoge ergraben wurde, lässt sich anhand jüdischer Einzelfunde und der literarischen Quellen bei Philon und Josephus mit einer sozial gut integrierten Diasporagemeinde rechnen. Da es in der Antike auch für das Judentum – entgegen landläufiger Sichtweise – kein allgemeines Privileg als „religio licita“ gab (der Ausdruck taucht zum ersten Mal bei Tertullian auf – und dort nicht als terminus technicus), war das Gefüge
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zwischen jüdischen Diasporagemeinden und der hellenistischen Polis immer fragil; ein gewisses Maß an Adaptation und Inkulturation galt als Gebot für alle Diasporajuden. Damit allerdings erklären sich die starken Unterschiede in frühjüdischer Literatur, wenn man etwa Philon und Josephus einerseits gegen 4Esr und 2Bar anderseits stellt. Letztere waren im vom jüdischen Krieg traumatisierten Palästina entstanden – ähnlich wie die negative Sichtweise der Römer durch den Propheten Johannes, der auch aus Palästina kam. Dieser Sichtweise stehen die sehr römerfreundlichen Texte des Philon und Josephus ebenso gegenüber wie das Ansinnen der Apostelgeschichte und des Corpus Paulinum. Damit läuft die Demarkationslinie nicht zwischen Juden und Christen, sondern zwischen liberaleren und konservativeren Gruppierungen sowohl im Judentum als auch im Christentum. In der Begegnung mit der Stadtkultur wurden diese Streitpunkte erst so richtig virulent – aber auch zum Potential, eine Einheit in der Pluralität zu suchen. Der Beitrag von Jens-Christian Maschmeier: Der Glaube auf dem Marktplatz. Freiheitskämpfe in Korinth wechselt von Ephesus nach Korinth. Auch hier haben die Christen ähnliche Schwierigkeiten wie in Ephesus zu bewältigen: Inwiefern konnten die Christusgläubigen in Korinth an den wesentlichen Lebensäußerungen städtisch-gesellschaftlichen Lebens partizipieren, inwiefern war es aufgrund ihrer neuen Identität geboten, Abstand zu wahren (1Kor 8,1–11,1)? „Freiheit“ wurde in der Antike verstanden als das Recht auf selbstbestimmtes Handeln. Diese Definition von Freiheit als Recht des Individuums auf selbstbestimmtes Handeln findet sich auch in einem Diktum Epiktets: „Frei ist, wer lebt, wie er will“ (diss. IV 1,1). In 1Kor 6,12 greift Paulus das erste Mal die in Korinth vertretene Freiheitsparole % im Rahmen seiner Mahnung, nicht mit Prostituierten zu verkehren (6,18), auf. Er relativiert diese Parole durch zwei Einschränkungen: „Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles nützt. Alles ist mir erlaubt, aber ich werde mich von nichts beherrschen lassen.“ Maschmeier vertritt die Auffassung, dass sich bei den Korinthern eine Körper-Geist-Dichotomie mit „alten Gewohnheiten“ verbunden habe: Prostitution, für die Korinth „berühmt“ war, war Teil des hellenistischen way of life und moralisch nicht negativ besetzt. Für Paulus aber stelle im Unterschied zu anderen Sünden die Identität der Christusgläubigen in Frage, weil sie aus dem Herrschaftsbereich Christi leiblich in den Herrschaftsbereich einer anderen Macht versetzte. In 1Kor 6,12–20 komme es zu einer ersten grundlegenden Korrektur des Freiheitsverständnisses der Korinther. Die Korinther haben von der materialen Reinheit aller Speisen auf die Irrelevanz des Leibes geschlossen und diese Irrelevanz nicht nur auf den Bereich des Essens bezogen, sondern sie auch auf die Sexualität übertragen: Wenn der Körper sowieso vernichtet werden wird, dann ist der Umgang mit ihm in allen Belangen beliebig. Paulus korrigiere dieses Missverständnis und betone die Bedeutung des Umgangs mit dem Leib. Hier zeige sich das kreative Potential des Apostels, der es versteht, praktische Probleme theologisch zu reflektieren und so Lösungsansätze zu entwickeln. Die Stadt mit ihrer „weltanschaulichen“ Pluralität werde zum Theologie produzierenden Ort. Mit Alexander Weihs: „Gott liebt einen fröhlichen Geber“. Zur Strategie und Theologie paulinischer Spendenakquise in Korinth (2Kor 8–9) bleibt der
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Blick weiter auf Korinth gerichtet, doch mit einer anderen methodischen Zugehensweise. Zunächst thematisiert auch Weihs die Pluralität der Stadt Korinth – hier allerdings unter den Vorzeichen von „Arm und Reich“: Wenn Paulus davon spricht, dass es in der Gemeinde von Korinth „nicht viele Weise […], nicht viele Mächtige, nicht viele Wohlgeborene“ (1Kor 1,26) gebe, so könne dies als deutlicher Fingerzeig darauf verstanden werden, dass es in der Gemeinde Mitglieder von erheblichem Bildungsniveau, höherem sozialen Prestige, politischem Einfluss und möglicherweise auch gehobener Herkunft gegeben haben muss. Dass das damit indizierte soziale Gefälle ausgerechnet im Zusammenhang mit der Feier des Herrenmahls – nämlich beim Sättigungsmahl – offenkundig wird, ist für Paulus in besonderer Weise Anlass zur Kritik (1Kor 11,17–22). Die in 2Kor 8 und 9 beworbene Geldsammlung ist allerdings nicht eine Angelegenheit zwischen Paulus und den korinthischen Christen allein, sondern gehört in den Gesamtrahmen der groß angelegten, gemeindeübergreifenden paulinischen Kollektenaktion für die Jerusalemer Urgemeinde, die das Wirken des Apostels in seinem heidenchristlichen Missionsfeld über Jahre begleitete. Paulus habe mit dem Kollektenwerk weit mehr als dessen bloße karitative Bedeutung verbunden: Abgesehen von den weitreichenden theologischen, christologischen und ekklesiologischen Implikationen, die er in seiner Sicht der Kollekte zum Ausdruck bringt, wird sich Paulus „kirchenpolitisch“ nicht zuletzt erhofft haben, dass mit der Annahme seines Kollektenwerkes in Jerusalem zugleich auch über das Gesamt seiner Mission und die damit verbundene theologische Konzeption positiv mitentschieden würde. Auch wenn es über die Aufnahme der Kollekte in Jerusalem keine gesicherten Nachrichten gibt, so weise doch die Indizienlage darauf hin, dass die Kollekte, wenn nicht abgelehnt, so doch sicherlich nicht in dem von Paulus erhofften demonstrativen Akt, sondern allenfalls zurückhaltend oder stillschweigend entgegengenommen worden sei. Der Beitrag von Jan Schäfer: Vom Zentrum zum Zentrum. Die Achse der Apostelgeschichte von Jerusalem nach Rom weitet den Blick schließlich auf die römische Kapitale. Genauer geht es um die Erzählkonzeption der Apostelgeschichte des Lukas. Schäfer erkennt in ihr eine Erzählachse Jerusalem–Rom, welcher tragende Bedeutung für die narrative Raumgestaltung zukomme. Grundlage solcher Überlegungen ist der spatial turn, eine seit den 1990er Jahren vollzogene Hinwendung zum Raum als zentraler Wahrnehmungseinheit bei gleichzeitiger Überwindung einer einseitigen Perspektivierung der Zeit – eine Konzeption, die maßgeblich von den Kulturwissenschaften geprägt und von dort aus auch in andere geisteswissenschaftliche Disziplinen übernommen wurde. Dabei wird deutlich, dass Räume immer diskursive Konstrukte darstellen: Geographische Räume, die jenseits von Sinnzuschreibungen und Beobachtungsleistungen einfach „existieren“, gibt es nicht. Auch geographische Räume, die scheinbar in ihrer physischen Materialität eindeutig identifizierbar sind, werden erst in einem Kontext kultureller Zuschreibungen wahrgenommen. Auf die Apostelgeschichte angewandt ist zu beobachten, dass die Achse Jerusalem–Rom mit gewissen Übergangsstationen implementiert werde – also auch der Raum der Städte, die zwischen Jerusalem und Rom liegen, narrativ entfaltet werde: Samarien werde z.B. als Bindeglied der Mission in Jerusalem und Judäa einer-
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seits und der weltweiten Mission andererseits und somit als „Übergangsraum zu den Völkern“ inszeniert. Auf griechischem Boden führe die Ablehnung des Paulus in Thessalonich wiederum nicht zu einer Verkündigung im Raum der Peripherie, sondern in das kulturelle Zentrum der klassischen Antike nach Athen. In Ephesus hingegen nimmt sich Paulus vor, Rom nach seiner Reise nach Jerusalem zu sehen (vgl. 19,21) – die Achse Jerusalem–Rom trete auch hier zu Tage. Letztlich zeige sich, dass sich die auf die urbanen Zentren und Gemeinden in der Apostelgeschichte gerichtete Perspektive nicht gegen die Achse Jerusalem–Rom ausspielen lasse, sondern in das narrative Konzept dieser Achse miteinbezogen sei. Der Beitrag von Robert Vorholt: Alle Wege führen nach Rom. Die Hauptstadt im Blickfeld des Paulus schließt hier gut an – nun richtet sich der Fokus alleine auf die römische Kapitale und ihre Bedeutung für die Mission des Paulus. Nach Erwägungen zu Struktur und Zusammensetzung der christlichen Gemeinde von Rom erfolgen Überlegungen zu Abfassung und Zielsetzung des Römerbriefs. Auch Unterschiede zwischen dem Grundtenor des Römerbriefs und der Apostelgeschichte benennt Vorholt: Während im Römerbrief der Ton mehr auf die geplanten Aktivitäten des Apostels gestimmt sei (weitreichende Missionspläne; Rom ist eine Zwischenstation), dominiere in der Apostelgeschichte das Abschieds-Motiv. Die Unterschiede erklären sich in einem gewissen Maß auch aus der unterschiedlichen Zeitperspektive: Lukas weiß um das Martyrium des Paulus in Rom. Letztlich werde aber deutlich: Rom und die dort ansässige christliche Gemeinde seien für Paulus nicht allein aus missionsstrategischen Erwägungen heraus von Belang. Vielmehr sei es dem Völkerapostel ein offenkundiges Herzensanliegen gewesen, in die Hauptstadt des römischen Imperiums zu gelangen (vgl. nur Röm 1,11.13.15; 15,23f.28.32). Paulus wolle dezidiert nach Rom: Er denke und argumentiere entsprechend in römisch-imperialen Strukturen, nicht machtvoll-prahlerisch, aber als derjenige, der in Repräsentanz des Kyrios Jesus Christus das „Wort vom Kreuz“ zu den Menschen trage. Der Beitrag von Volker Rabens: „Von Jerusalem aus und rings umher…“ (Röm 15,19). Die paulinische Missionsstrategie im Dickicht der Städte schließlich rundet den Blick auf das paulinische Missionswerk ab, indem hier die paulinische Strategie der Stadtmission thematisiert wird. Ob wir beim Völkerapostel eine planmäßige, strategische Mission erkennen können – wie zuletzt behauptet wurde –, oder ob man Paulus eine durchgeplante Missionsstrategie abspricht, ist Gegenstand von Kontroversen. Jedenfalls wählt Paulus bewusst (Groß-)Städte für seine Mission aus. Diese Wahl bringe zahlreiche Vorteile für seine Arbeit mit sich, die sich von einer entwickelten Infrastruktur über ein breiteres Arbeitsangebot (vgl. Paulus als Zeltmacher) bis zu einer größeren Bevölkerungsvielfalt erstrecken (letzteres ist u.a. von Bedeutung, weil Paulus so die Möglichkeit hat, die Synagoge zu besuchen). Wie detailliert und wie langfristig der Apostel dabei seine Reiserouten vorausplane, lasse sich auf der Grundlage seiner Briefe (und sekundär der Apostelgeschichte) nur schwer feststellen. Paulus reflektiere jedoch – im Vorausblick auf seine geplante Spanienmission – über seine Reisebewegung. Bei der Planung und Umsetzung seiner Missionsreisen habe Paulus
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im Übrigen Flexibilität besessen, denn Konflikte und Widrigkeiten haben ihn oft andere Wege gehen lassen als geplant. Mit Peter Wick: Das Paradies in der Stadt. Das himmlische Jerusalem als Ziel der Offenbarung des Johannes schließt sich das Arpeggio dieses Bandes: Den Schlusston bildet somit das himmlische Jerusalem, aber auch die grundsätzliche „Theologie der Stadt“ in der Offenbarung. In den Städtebildern dramatisiere die Offenbarung die für dieses Buch so zentralen Vorstellungen von Abbruch, Diskontinuität und Neuschöpfung einerseits sowie von Vollendung, Kontinuität und Heilszusage andererseits. Babylon und Jerusalem werden hier als zwei streng spiegelverkehrte Paradigmen vor Augen geführt, die Städte stehen sich antitypisch gegenüber. Doch auch in der Theologie der auf die Erde niedersteigenden himmlischen Stadt sei ein Ineinander von Kontinuitätsaussagen und Neuschöpfungsvisionen impliziert. Das verwüstete Jerusalem mit seinem in Trümmern liegenden Tempel wirke hier wahrscheinlich als mächtiges Bild im Hintergrund. Menschen können es nicht mehr reparieren. Gott werde es aber nicht in den Händen der Heiden lassen, sondern seine Jerusalemverheißungen „von oben her“ verwirklichen, und zwar so, dass das erneuerte Heil viel größer als jede alte Herrlichkeit erscheine. Jeglicher Bruch zwischen Schöpfung und Neuschöpfung sei durch den Schöpfergott und den Erlöser Jesus umklammert. Im himmlischen Jerusalem werde nach Wick nicht nur der Gegensatz zwischen Heilskontinuität und Neuschöpfung ausbalanciert, sondern auch der Gegensatz zwischen Stadt und Land aufgehoben: Hier können Natur und Kultur zur Harmonie finden, es handle sich um die Zielperspektive der „vollkommenen Gartenstadt“ – ein altes Ideal der Polis bei vielen Völkern.
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Jesus und die Stadt im Markusevangelium Reinhard von Bendemann
1.
„Stadt“ und „Land“ – Einleitung und methodische Vorbemerkungen
1. In Mk 1,9 begibt sich Jesus zu Johannes an den Jordan; er kommt aus Nazaret, einem Ort, der – nicht nur archäologisch, sondern auch in antiken Quellen – gänzlich unbedeutend ist; Josephus, der Galiläa als Augenzeuge kennt, erwähnt ihn nicht einmal. Zwischen Mk 1 und 9 hält Jesus sich immer wieder in Kapharnaum auf (Mk 1,21; 2,1; 9,33), einer Ortschaft, die ebenfalls von so geringer Relevanz im zeitgenössischen Galiläa ist, dass Josephus sie nur en passant streift (bell. III 519; vit. 403).1 In den entsprechenden Erzählabschnitten entsteht das Bild, dass Jesus Städte und Verwaltungszentren meidet, darunter auch solche, die auf seinem Weg liegen bzw. die man mit Blick auf eine Karte des zeitgenössischen Galiläa unmittelbar erwarten würde. So vermisst man u.a. die Nennung von Sepphoris, Tarichaeae und Tiberias; und auf dem Hintergrund der Exkursion zur Küste in Mk 7 könnte man z.B. auch die Nennung von Ptolemais erwarten (vgl. dagegen Tyros und Sidon in Mk 3,8 [Summar]; 7,31). In der ersten Hälfte des Markusevangeliums sind bevorzugte Aufenthaltsorte Jesu dagegen („abgelegene“ bzw. „abgeschiedene“ Orte; Mk 1,35.45; 6,31f.35). Die These eines ländlichen Evangeliums, das nicht von den Städten, sondern der ländlichen Peripherie her denkt, kann man auch durch die erzählte Verkündigung und Praxis Jesu bestätigt finden. Die markinischen Gleichnisse werden seit A. Jülicher dafür herangezogen, um die vermeintlich einfache und schlichtevidente Reich-Gottes-Verkündigung herauszustellen, wie sie sich einer bäuerlichen Vegetations- und Kulturwelt verdankt. Noch das erst spät im Erzählaufriss positionierte Gleichnis „Von den bösen Winzern“ (Mk 12,1–11) deutet das Geschick Jesu in der Stadt in Metaphern, wie sie ländlichen Wirtschaftsverhältnissen zuzuweisen sind. Die Wundertätigkeit Jesu als Komplement seiner ReichGottes-Verkündigung vollzieht sich bei Markus jenseits all derjenigen medizinischen Versorgungssysteme, wie man sie antik mit Städten verbinden kann. Insgesamt scheint dem Markusevangelium der „Blick für die Stadt“ als kulturelle und soziopolitische Größe weitgehend fremd. Mit Ausnahme der Erzählung der Jerusalemereignisse (s.u. Punkt 5.) fehlen Schilderungen oder auch nur Nennungen von Akrai, Mauerwerken, Theatern, Bädern, Tempelanlagen oder auch Toren an Ausfallstraßen oder Wegkreuzungen.
1
Vgl. weiter im Überblick zu Bethsaida, Dalmanutha u.a.: Scholtissek, Galiläa, 60–62.
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Solchen Beobachtungen scheint schließlich der terminologische Befund zu entsprechen. Der Begriff spielt bei Mk eine untergeordnete Rolle. Allerdings ist in Rechnung zu bringen, dass die terminologischen Grenzziehungen zwischen „Ortslagen“, „Dörfern“ und „Städten“ in zeitgenössischen Texten vielfach unklar bzw. fließend sind. (steht im zweiten Evangelium sachlich hebräisch Ônahe, was zunächst nicht mehr als die befestigte Siedlung bedeutet2, kann aber auch metonymisch für die Bevölkerung einer Ortschaft gebraucht werden (Mk 1,33). Markus kann Stadt und Dorf gelegentlich unterscheiden und vom Dorf noch einmal explizit die (rein) ländliche Gegend ( ; in Mk 10,29f. bezeichnet der Begriff den „Grundbesitz”; Mk 13,16; im Plural kann es Höfe oder Dörfer bedeuten: Mk 5,14 – neben bzw. – Mk 6,36.56). Doch ist diese Unterscheidung kaum qualifizierbar und belastbar. Wenn Betsaida in Mk 8,22–26 im zweiten Evangelium als Dorf gilt, so kann hieraus z.B. nicht viel gefolgert werden. In Mk 6,1.6 kontrastiert die , die „Vaterstadt“, dem anschließenden Wirken Jesu in den „Dörfern ringsum“ ( ! ). Dies ist ein Befund, der auch für andere frühchristliche Texte und viele weitere spätantike Autoren gilt. Josephus etwa kann z.B. Lydda, immerhin der Verwaltungssitz einer Toparchie, sowohl als (ant. XX 130) als auch als (bell. II 515) ansprechen. Ähnlich heißt Garis in der Nähe von Sepphoris einmal und das andere Mal (bell. V 474; vit. 395, 412). Auch sonst sind in der Antike entsprechende terminologische Grenzziehungen umstritten, da die Kriterien nicht feststehen. Qualität einer res publica, administrative Bedeutung oder auch die quantifizierbare Besiedlungsdichte können verschieden als Maß gelten. In den jeweiligen Quellen spielt hierbei der „point of view“ des Verfassers eine wesentliche Rolle: Schreibt er aus einer ländlichen oder einer städtischen Perspektive, ist er im Judentum oder in der griechisch-römischen Kultur beheimatet, spiegelt sich eine Ober- oder eine Unterschichtsperspektive etc.? Am architektonischen Städtebild orientiert sich etwa der Reiseführer des Pausanias, der Panopeus eine nennt, die Bezeichnung aber zugleich in Frage stellt, da dem Ort Verwaltungsgebäude, eine Agora, ein Gymnasium, ein Theater und ein Brunnen, der sich aus fließendem Wasser speist, fehlten (Paus. X 4,1). Bei Strabo ist für die Rede von einer „Stadt“ das Kriterium einer kräftigen Kultur entscheidend, die auch das Umland zu durchdringen vermag. – Die Perspektive ist dabei die des Römers: Die „eigentliche“ Kultur ist die römische. Strukturell ähnlich urteilt Tacitus in seiner Beschreibung Britanniens im „Agricola“. In 3,4,13 diskutiert er das keltiberische Gebiet und kommt auf diejenigen zu sprechen, die auf der Iberischen Halbinsel mit tausenden von Städten rechnen, indem sie Dörfer zu Städten umdeklarieren. Das Land sei aufgrund der geologischen Bedingungen für eine Vielzahl von Städten gar nicht disponiert; ferner entspreche der Lebensstil der Bewohner bzw. ihre wilde Natur nicht dem Stil von Städtern. Hier scheint ein römisches Stadtverständnis auf, wonach eine Stadt ein Ort ist, der zugleich das Umland unter seine Kontrolle bringt und kulturell erschließt. Strabo nimmt dabei die Städte am mare nostrum aus, welches die Iberer mit Rom und damit mit Kultur in Kontakt zu bringen vermag.3
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Strathmann, Art. , 522. Zum methodischen Problem der Unterscheidung von „Stadt“ und „Umland“ in der Städteforschung kann mit Lang festgehalten werden: „Die kategoriale Beziehung zwischen Stadt und Umland hat sich im Laufe der Geschichte verändert: im Mittelalter basierte sie auf dem Rechtsverhältnis, und für die Zeit nach der industriellen Revolution ist die Arbeitsteilung ein Faktor, der zur Trennung Stadt- Umland führte. Beides trifft für die Antike nicht zu.“ Die Stadtmauern der Antike seien anders als die des Mittelalters „durch-
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Vor diesem Hintergrund gewinnt der frühe Forschungsbeitrag von Ernst Lohmeyer an Profil, der im Markusevangelium eine Antithese von Stadt und Land konstruierte – allerdings unter dem Vorzeichen einer theologischen Alternative von Galiläa und Jerusalem.4 G. Theißen zieht das zweite Evangelium zur Stützung der These einer grundsätzlichen Opposition zwischen Stadt und Land in der Rekonstruktion der Soziologie der ältesten Jesusbewegung heran.5 Auch Forscher wie R.A. Horsley und C. Myers untersuchen die spannungsvolle Beziehung zwischen Stadt und Land im Markusevangelium – wenngleich deutlich anders – mit Hilfe sozialgeschichtlicher Theoreme.6 Ergebnisse solcher Studien zur Soziologie der ältesten Jesusbewegung werden auch für die redaktionsgeschichtliche bzw. narratologische Interpretationen des Markusevangeliums selbst fruchtbar gemacht.7 2. Mit dieser ersten Annäherung an die Befundlage im Blick auf das Verhältnis von Stadt und Land bzw. die Bedeutung von Städten im zweiten Evangelium sowie an wenige ausgewählte Forschungspositionen werden bereits gravierende methodische Probleme in Umrissen erkennbar. Man kann die Aussagen über „Stadt“ und „Land“ im Markusevangelium grundsätzlich auf drei Ebenen interpretieren. Auf einer ersten Ebene stellt sich mit Ansätzen wie denen von Theißen, Horsley und Myers die Frage, inwieweit die Erzählung als Quelle für das Verhältnis von „Stadt“ und „Land“ in der Aktivität Jesu herangezogen werden kann/darf. Auf der zweiten Ebene wird nach der narrativen Inszenierung von „Stadt“ und „Land“ in der Jesusgeschichte des Markus gefragt. Schließlich
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lässig“, insofern die Bindung des Einzelnen zu einem Gemeinwesen und nicht zu einer Siedlungsform bestehe (Lang, Stadt, 1–18; a.a.O., 8). Lohmeyer, Galiläa. Theißen geht davon aus, dass die älteste Jesustradition in engem Zusammenhang einer konfliktreichen Umbruchsituation im Galiläa der ersten Hälfte des 1. Jhs. zu verstehen sei. Eine „Identitätskrise“ sei in Galiläa, den Nachbargebieten und besonders im Umkreis der Städte festzustellen, die sich in einer dreifachen Spannung erschließt: nämlich erstens der Spannung, die aus dem häufigen Herrschafts- und Verfassungswechsel resultierte, zweitens der Spannung zwischen Stadt und Land und drittens dem Gegensatz zwischen hellenistischer und jüdischer Kultur (zum Verhältnis von Stadt und Land: ders., Studien, 98–101). Die Differenzierung zwischen „profitierenden“ und „produzierenden“ Schichten (s.u. zu Max Webers Abhandlung über die Stadt) verteilt sich auf Stadt und Land. Vor diesem Hintergrund wird bei Theißen z.B. das Logion Mk 7,27 verständlich: Tyros erscheint als eine von den Produzenten im Umland (bis an den Hule-See reichend) abhängige Stadt; die „Hunde unter dem Tisch“ symbolisieren dieses Umland, das damit jenseits der Stadt einen (ausgebeuteten) Rand der Gesellschaft repräsentiert (vgl. ders., Lokalkolorit, 76–79). Vgl. Horsley, Hearing, 27–51, nach dem sich Markus vorrangig an die dörfliche/ländliche, im Unterschied zu den Römern „egalitär“ denkende Bevölkerung Galiläas richtet, um ihr in ihrer „unterdrückten“ Situation eine Stimme zu verleihen; vgl. Myers, Binding, 39–87. Freyne, Galilee, 101–154, schattiert die Bedeutung der Städte für die kulturelle Entwicklung Galiläas insgesamt stärker ab. Schmeller überträgt Theißens Modell einer Identitätskrise im Galiläa des 1. Jahrhunderts, welche nicht allein durch den ständigen Wechsel der Herrschaftsformen und die Hellenisierung und Romanisierung durch Waffengewalt, sondern gerade auch durch den Konflikt von „Stadt“ und „Land“ bedingt sei, auch auf das Markusevangelium selbst bzw. die Situation der markinischen Christenheit; vgl. ders., Jesus, 61–66.
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ist drittens die Ebene der Entstehungssituation (der Situation der „formation“) des zweiten Evangeliums betroffen: Schreibt „Markus“ in einem ländlichen Kontext, gehört seine „Gemeinde“ unter die ländlichen (‚unterdrückten’ und ‚ausgebeuteten’) Schichten des Landes (in dieser Richtung Horsley) etc.?8 Die Frage, inwieweit das älteste Evangelium als Quelle für den historischen Jesus genutzt werden kann/darf, ist äußerst komplex und diffizil. Sie kann und soll hier nicht intensiver verfolgt werden. Lediglich drei Punkte seien notiert: a) In Hinsicht auf die Frage nach „Stadt“ und „Land“ melden sich die bekannten methodischen Kriterien-Probleme der Jesusforschung. In Arbeiten wie denen von Horsley und Myers scheint z.B. die Gefahr eines zirkulären oder deduktiven Vorgehens nicht immer gebannt: Auf der Basis einer von diesen postulierten ökonomisch bedeutsamen Spannung zwischen „Stadt“ und „Land“ würde man Szenen des Kampfes „herrschender“ bzw. konsumierender Klassen in den Städten mit den (ländlichen) Unterdrückten erwarten. Von derlei ist im zweiten Evangelium jedoch insgesamt wenig erzählt und erkennbar.9 b) Die Nutzung des zweiten Evangeliums als Quelle führt in der Untersuchung der konkret im Text genannten Orte auf das alte Problem der „geographischen Irrtümer“. So liegt die ) in Mk 5,1 abseits des eigentlich „benötigten“ Settings am See, oder die Reiseroute in 7,31 gilt als aporetisch.10 Den postulierten „Irrtümern” lassen sich weitere offene Fragen und Probleme zuordnen wie z.B. das Problem der Lokalisierung Dalmanuthas in Mk 8,10.11 Methodisch stellt sich die Frage, ob das Postulat von historischen „Irrtümern“ einen befriedigenden Zugang zur Topologie eines frühchristlichen Erzähltextes eröffnen kann. c) Schließlich ist auf die Problematik historischer Theoriebildung hinzuweisen. Die Auswertung des Markus für bestimmte sozio-historische Konstellationen von „Stadt“ und „Land“ in der Wirksamkeit Jesu erweist sich als eminent theoriedependent. Theißen schließt methodisch eng an die Stadt-Konzeption Max Webers an, die sich in den klassischen Altertumswissenschaften lange Zeit hoher Beliebtheit erfreut hat.12 Unterschieden sind hier die Konsumentenstadt 8
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Alle berührten Frageebenen wären weiter zu untergliedern. In Hinblick auf die dritte Ebene wäre z.B. weiter zu fragen: Die Abfassung einer Erzählung von der Ambition und dem Umfang des Mk setzt Zeit und Motivation eines Verfassers voraus; sind solche Bedingungen „auf dem Land“ denkbar? Verhält es sich grundsätzlich so, dass sich der „Städter“ für das „Land“ interessiert – nicht umgekehrt? Zu vergleichen wäre z.B. das Interesse des Städters Galen an der „ländlichen“ Medizin; vgl. auch Vergils „Bucolica“. Überhaupt spielen sozioökonomische Probleme und auch die Divergenz von „arm“ und „reich“ im zweiten Evangelium nur eine nachgeordnete Rolle. Insbesondere bei Horsley (vgl. ders., Hearing) stellt sich die Frage, ob hier nicht sehr weitreichend aus einem bestimmten Geschichtsmodell deduziert wird; die Ergebnisse werden dann auf die postulierten städtischen Eliten und die Freiheitskämpfer „vom Land“ projiziert. Vgl. jüngst wieder Marcus, Mark I, 472: „comparable to a description of an Amercian trip from Portland to Denver via Seattle and the Great Plains or a British trip from Liverpool to London via Glasgow and Norfolk.“ Hierzu: Seybold, Dalmanutha, 42–48. Vgl. Deininger, Stadt, 269–289 (besonders zur Auseinandersetzung mit Kolbs Kritik an Max Weber); Meier, Stadt (mit weiterer Literatur); vgl. die Einleitung in diesem Sammelband: Punkt 3.
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bzw. Rentnerstadt und das sie versorgende, produzierende Umland.13 In dieses Modell werden dann zugleich Schichtendifferenzierungen eingetragen, insbesondere die Unterscheidung von städtischer Aristokratie und (‚unterdrückten’) ländlichen Versorgern. Anders als Weber hat Gideon Sjoberg den Grad der Technisierung als einen wichtigen Faktor für die Konstituierung einer Stadt geltend gemacht (Lebensmittelverarbeitung, Ackergeräte, Metallurgie, Energieerzeugung – mit Hilfe von Sklaven und Tieren und nicht mit Maschinen etc.). Nach Sjoberg sind Städter aufgrund der Ressourcenlage, der sozialen Organisation, der Kommunikationsmöglichkeiten und der Fortschritte im Einsatz von Technologien, insbesondere des Transportwesens, in der Lage, sich mit anderem zu beschäftigen als der Erzeugung von Lebensmitteln für den eigenen Bedarf. Insofern hat Intellektualität ihren Ort in den Städten (Bücher etc.). Das „Mehr“ an Gütern und Aktivitäten in der Stadt muss verwaltet werden, und dies geschieht durch eine zahlenmäßig eng limitierte Elite mit entsprechenden Machtmitteln. Neben der Technologisierung ist also die Ausbildung einer sozialen Hierarchie für die vorindustrielle Stadt konstitutiv. Soziale Hierarchiebildung bedingt aber nach Sjoberg in der vorindustriellen Stadt zugleich eine religiöse Hierarchiebildung resp. Funktionsdifferenzierung.14
Ob allerdings Webers äußerst einflussreiche, sehr komplexe und oft nur verkürzt dargestellte Konstruktion auf die zeitgenössische Situation in Judäa, Galiläa, Peräa etc. angewendet werden kann, ist umstritten.15 Dies betrifft insbesondere 13
14 15
Vgl. Kolb, Stadt, 262: „Insofern die lokale Elite antiker Städte in der Regel ihre Einkünfte größtenteils aus Landbesitz zog, die in der Stadt ausgeübte soziale und politische Herrschaft also wesentlich auf Landbesitz und dem Konsum von Bodenrenten beruhte, war die antike Stadt Konsumentenstadt“. Unter Forscherinnen und Forschern, die Webers Modell der Konsumentenstadt für grundsätzlich tragfähig halten und an ihm angeknüpft haben, ist zuerst Moses Finley, City, zu nennen. In jüngerer Zeit verteidigt u.a. Parkins, City, 83–111 das Webersche Modell im Grundansatz (vgl. a.a.O., 87). Parkins möchte jedoch die stark systemische Beschreibung der Wirtschaftsfaktoren im Modell Max Webers durch ein kleinteiligeres, differenzierteres Konzept ersetzen: Sie hält es für aussichtsträchtiger, in den Städten nicht von „der Wirtschaft“, sondern von „many minieconomies: the economies of individual households“ auszugehen (a.a.O., 89); diese kleinen Wirtschaftseinheiten könnten im Einzelfall kooperieren bzw. ihre Interessen könnten konvergieren; aber in höherem Maß, als dies im Weberschen Modell darstellbar ist, sei auch mit konfligierenden Interessen zu rechnen. Diese seien in höherem Maß auch im Zusammenhang der politisch-sozialen Relationen und Hierarchien zu interpretieren. Siehe zur weiteren Diskussion: Steward, City, 205–210. Vgl. auch die Einleitung in diesem Sammelband. Vgl. zu Sjobergs Konzeption: Stewart, City, 205f. Horsley kritisiert einen einseitig ökonomisierten Stadt-Begriff bzw. die Vorstellung, die Wirtschaft des römischen Palästina sei als ein einzigartiger „offener Markt“ zu begreifen. Er hält das Konsumenten-Stadt-Modell für verfehlt und geht davon aus, dass es insgesamt keine nennenswerte Stadt-Land-Diastase in Galiläa gegeben habe und dass die galiläischen Städte vielmehr ebenso auch Produzentenstädte waren – auf der Ebene von Mikrohaushalten, die im Wesentlichen produzierten, was sie auch selbst verbrauchten (vgl. ders., Archaeology, 83). Insgesamt werde unterschätzt, dass offene Tausch- bzw. Marktbeziehungen zwischen Stadt und Land – auf Grundlage der archäologischen Befunde und der literarischen Quellen – kaum nachweisbar seien (a.a.O., 74), Handel dagegen in Galiläa lokal begrenzt und v.a. redistributiv war. Hier beruft sich Horsley auf M. Finley, nach dem der Austausch von Waren in der Antike grundsätzlich nicht als „Handel“ (trade) zu beschreiben sei, sondern als „tributarisch“, in der Form von Steuern und
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die Verhältnisse im zeitgenössischen Galiläa als primärem Wirkraum Jesu. Galiläa war in der Forschung lange Zeit ein Projektionsraum für simplifizierende Zuordnungsmodelle von „Stadt“ und „Land“.16 3. Unser Interesse gilt im Folgenden innerhalb des Spektrums der drei unterschiedenen Betrachtungsebenen vorrangig der zweiten Ebene: der der literarischen Inszenierung von „Stadt“ und „Land“. Zugleich ist diese Ebene jedoch von den beiden anderen Ebenen nicht einfach abzulösen, insofern das Markusevangelium ereignete Geschichte erzählt, die auf konkrete Topoi bezogen bleibt. Konkret heißt dies: a) Zunächst ist in der Untersuchung von konkreten Orten (Städten, Dörfern etc.) im Markusevangelium der Gefahr eines topologischen Doketismus zu wehren. In der älteren redaktionsgeschichtlichen Forschung wie auch in jüngeren‚ synchronen bzw. immanent-narratologischen Untersuchungen („approaches“) droht teils die Gefahr, die konkreten Topoi als solche zu verlieren.17 Demgegenüber scheint es sich so zu verhalten: Markus rechnet bei seiner Leserschaft mit einem konkreten Ortswissen; Orte werden nicht (nur) „symbolisiert“, sie sind nicht (nur) Ausdruck bestimmten theologischer Intentionen. Der episodische Erzählstil des zweiten Evangeliums verwendet zwar nicht in jedem Fall Energien auf die Markierung von Orten, er wählt aus, modelliert und lässt aus entsprechend seiner Intention; doch dort, wo konkrete Angaben zu finden sind, wo
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17
Abgaben bzw. Forderungen. Er spricht von einer „politically managed economy“ (a.a.O., 85). Die Stadt als „Markt“ sei nicht die entscheidende Konstituente. Insgesamt: „[…] [T]he model of a market economy is simply inappropriate to ancient Galilee. Most serious is its failure to help us understand urban-rural relations“ (a.a.O., 75). Eck, Rom, 205f.: „Ähnlich wie im eigentlichen Judaea waren auch die anderen Teile des herodianischen Königreiches in Toparchien untergliedert [...] Die Basisstrukturen waren im Wesentlichen überall gleich; sie garantierten die volle Abhängigkeit vom König. [...] Keine der [...] Toparchien in Judaea kennt als Mittelpunkt eine griechische Polis mit den üblichen institutionellen Elementen, einer Volksversammlung, einem Rat und den daraus hervorgegangenen Magistraten.“ Die Strukturen wurden grundlegend erst seit der Zeit Vespasians geändert (vgl. a.a.O, 216). Vgl. demgegenüber Zangenberg, Galiläa, 288: „So erscheint mir im Gegensatz zu Mordechai Aviam, der Dörfer als ‚closed communities’ ansieht, das Bild einer traditionell orientierten, ruhig dahinfließenden Dorfwelt im Unterschied zur pulsierenden und aktiven Bevölkerung der Städte höchst trügerisch.“ Die „Betonung des Gegensatzes zwischen multikultureller Stadt und traditionell-stabilem Dorf“ sei „allzu vereinfachend“. Zangenberg macht zudem geltend, dass auch die dörflich-ländlichen Gegenden Galiläas von hellenistischen Modernisierungsmaßnahmen profitierten und nicht eo ipso ausgebeutet wurden (a.a.O., 287). Ein Beispiel für diese Gefährdung bietet die Untersuchung von Elisabeth Struthers Malbon über „Narrative Space and Mythic Meaning in Mark“. Sie ordnet den „geopolitischen Raum” des Markusevangeliums auf der Basis des strukturalistischen Modells von Lévi-Strauss und erschließt die i.E. geopolitisch relevanten Stellen („seventy-two relations in twenty-seven categories“; a.a.O. 20) im Mk als „mythisch“, denn der „Mythos“ habe die Funktion, unversöhnbare Gegensätze in solche Gegensätze zu überführen, die Mediation erlauben (vgl. a.a.O., 1–14). Die von Struthers Malbon entworfene Ordnung erscheint dabei weitreichend von der tatsächlichen Welt des antiken Palästina abstrahierbar. Ähnlich bei Myers, Binding, 149 (Mk sei vor dem Passionsbericht mehr am „socio-symbolism“ erzählter Orte interessiert).
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Landstriche, Dörfer und Städte zumal namentlich identifiziert werden, geschieht dies reflektiert und planvoll – im Blick auf konkrete Orte, mit denen die Leserschaft ein konkretes topologisches Wissen verbinden kann. Die erzählte „Karte“ des zweiten Evangeliums bleibt damit auf zeitgeschichtlich identifizierbare Topoi bezogen. b) Im engen Bezug auf die konkreten Gegebenheiten von „Städten“, „Dörfern“ etc. ist die besondere Erzählleistung des zweiten Evangeliums möglichst genau zu beschreiben und zu verstehen. Methodisch ist hierfür eine Auseinandersetzung mit Arbeiten der klassischen Altertumswissenschaften fruchtbar, die Techniken narrativer Repräsentationen von „Orten“ bzw. „Geographischem“ in antiken Texten erforschen. Clarke hat entsprechende Fragestellungen im Blick auf Polybios, Poseidonius und Strabo entwickelt. Im Licht ihrer Arbeit sind die konkreten Orte im Markusevangelium als Ausdruck einer bestimmten fiktionalen „Fokalisierung“ zu beleuchten. Orte, Städte, die nicht „fiktional“ oder „mythisch“ im modernen Sinn sind, werden als der Leserschaft bekannt und identifizierbar vorausgesetzt und übernehmen in der Erzählung des Markus, insbesondere in ihrer Verknüpfung mit Handlungen von Figuren, spezifizische und unverwechselbare semantische bzw. narrative Funktionen – die an die loci als solche rückgekoppelt bleiben. Mit konkreten Ortsidentifikationen verbinden sich besondere Positionalitäten und Intentionalitäten der Erzählung; insbesondere spielt die diachrone Dimensionierung von Orten dabei eine Rolle.18 In Hinsicht auf die erzählerische Korrelation von Orten („Städten“, „Dörfern“ etc.) kann man im Anschluss an Brodersen in der markinischen Erzählung eine besondere Form „nichtkartographischer“ Raumerfassung erkennen, d.h. einer Raumerfassung, deren Maßstab nicht euklidisch ist, nicht die mathematisch messbare Übersicht erreicht, sondern sich an subjektiv konstruierten „landmarks“, „routes“ und „surveys“ – bezogen auf den „Kleinraum“ – orientiert. Der Erzähler fokussiert Stationen, deren Lage zunächst insofern interessiert, als sich mit ihnen Richtungswechsel ergeben bzw. Schritte im narrativen Progress markiert werden können.19 Der Evangelist generiert mit seiner Erzählung entsprechend eine eigene „Karte“, die nicht „tatsächlichen“ Ortsverhältnissen eins zu eins entspricht (wobei zugleich zu fragen ist, ob es in einer literarischen Darstellung „die“ Ortsverhältnisse überhaupt geben kann). Für das zweite Evangelium ist z.B. nicht eo ipso die Einteilung Galiläas in ein Ober- und Untergaliläa vorauszusetzen, wie man sie in der Regel dem berühmten landeskundlichen Exkurs bei Josephus (bell. III 35–43) entnimmt. 18
19
Vgl. Clarke, Geography, 18 (in der Frage, wie Geographie und Historie bzw. Raum und Zeit zusammenhängen): „So, the past of a place forms part of the description of its present state [...]“. Der Ansatz wird aufgegriffen von Zangenberg, Galiläa, 274–276. Vgl. Brodersen, Terra, 33–69; Nicolet, Space, zur geographischen Konzeptualisierung des orbis terrarum subiectus in den Res Gestae des Augustus (vgl. a.a.O., 70f., zur „linear vision“ im Verstehen geographischer Räume, die allerdings nicht systematisch einer „cartographic mentality“ entgegengesetzt werden dürfe). Vgl. weiter Talbert/Brodersen, Space.
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Der nichtkartographischen Raumerfassung ist insbesondere die für das zweite Evangelium typische Technik zuzuweisen, welche vorrangig „Territorien“ identifiziert, in denen Jesus sich aufhält. In Mk 5,20; 7,24.31 und 8,27 begibt Jesus sich nicht in die Dekapolis, nach Tyros und nach Caesarea Philippi, sondern in das jeweilige Territorium bzw. Dörfer des Umlandes (vgl. in Mk 6,55 für die Gegend von Gennesaret). c) Von besonderer Wichtigkeit ist insgesamt die Beachtung der Leserorientierung der Erzählung. Markus stimmt sein ganzes Evangelium wohl kalkuliert auf eine Kommunikation mit seinen Leserinnen und Lesern ab (vgl. das Motiv des Jüngerunverständnisses; vgl. den Buchanfang in Mk 1,1 etc.). Dies betrifft auch die erzählte Topologie seiner Jesusgeschichte. Meine These lautet nun: Das Mk bietet – entgegen einer die Forschung lange bestimmenden Perspektive – nicht den Ausnahmefall innerhalb einer Entwicklung des frühen Christentum als einer religio urbana. Vielmehr gehört Markus mit seiner christlichen Leserschaft ebenfalls „in die Stadt“ und bietet eine „städtische“ Perspektive. Innerhalb einer eigentümlichen narrativen Konstruktion spiegelt das zweite Evangelium in seiner diachronen Tiefenschärfe die initia derjenigen Entwicklung, die auch Texte wie die Paulusbriefe zu erkennen geben, innerhalb derer das älteste Christentum konsequent und rasch Anschluss an die städtischen Zentren gefunden und seine Dynamiken in Interaktion mit städtischer Kultur, Geschichte und Religiosität entfaltet hat. Wir können dabei im Folgenden nur ausgewählte Orte und Textzusammenhänge beleuchten. In einem ersten Schritt greifen wir die Frage nach dem – hypothetisch: spannungsvollen – Verhältnis von „Stadt“ und „Land“ in den Galiläa zuzuordnenden Teilen der markinischen Jesusgeschichte noch einmal auf. In einem zweiten Schritt beschäftigen wir uns mit der „Dekapolis“ in Mk 5,20 und 7,31. Sodann wird in einem dritten Schritt die Lokalisierung des Geschehens „in/bei den Dörfern von Caesarea Philippi“ in Mk 8,27 untersucht. Schließlich kann in einem Ausblick die Frage der Konzeptualisierung Jerusalems bei Markus nur noch als solche gestellt werden.
2.
Die Stadt-Land-Differenzierung und das Messiasgeheimnis
Wenden wir uns den mit Galiläa koordinierten Texten im zweiten Evangelium zu, so wird eine erzählerische Gestaltungstechnik erkennbar, welche die narrative Topologie in einen engen Zusammenhang zum Messiasgeheimnis rückt. Diese Gestaltungstechnik wird dabei zugleich auf die Kommunikation mit der Leserschaft hin entwickelt: Das Markusevangelium setzt bei seiner Leserschaft ein geschichtliches Bewusstsein voraus im Hinblick auf die diachrone Entwicklung der „Orte“ von der frühen Jesusbewegung in Galiläa hin zu einer überwiegend städtisch geprägten christlichen Gegenwart. Die in Galiläa situierten episodischen Abschnitte des zweiten Evangeliums zeigen: Die Perspektive einer
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„ländlichen“ Wirksamkeit ergibt sich nur auf dem Hintergrund des Wissens um die städtische Gegenwart. a) Zu zeigen ist dies zunächst daran, wie der Evangelist in Mk 1 die , zu denen Jesus sich begibt, im Gegenüber zur Stadt konstruiert. In Mk 1,45 initiiert der geheilte Besessene eine Verbreitung des „Wortes“, so dass Jesus nicht mehr öffentlich eine Stadt betreten kann, sondern sich vielmehr fortan außerhalb der Stadt ' aufhält. Dieser Kontrast muss nicht nur auf eine Stadt-Land-Opposition verweisen. Vielmehr erklärt er sich besser, wenn man erkennt, wie sich narrative Topologie mit einem Wissen und Gewahrsein bezüglich der Differenz der Zeiten verbindet. Von Beginn an weiß hier die Erzählung, dass derjenige Wirkraum, in dem sich die Christusverkündigung entfalten kann und wird, die Stadt als Drehscheibe für Information und Kommunikation ist (resp. sein wird). Zugleich erscheint die städtische Öffentlichkeit hier und in den Folgezusammenhängen der Erzählung in das Messiasgeheimnis involviert. Der Befund wird sich weiter im Hinblick auf die Lokalisierung des „Petrusbekenntnisses“ in Mk 8,27 bestätigen: Die narrative Topologie des zweiten Evangeliums ist ein ganz wesentliches Mittel der Umsetzung des sogenannten Messiasgeheimnisses. Die erzählerische Theorie vom Ineinander des epiphanen und zugleich verborgenen Christus ist – im Verbund des Bewusstseins der unterschiedenen Zeiten – sehr viel stärker auf die topologische Entwicklung der Erzählung abgestimmt, als in der Forschung vielfach berücksichtigt wird.20 Sodann spielt ein weiteres Motiv im Mk eine wichtige Rolle: Die „neue Lehre in Vollmacht“ (Mk 1,27), das Neue, das mit der -Verkündigung Jesu und seiner heilenden und exorzistischen Praxis anbricht, eröffnet auch neue Orte. D.h. für Mk repräsentieren die (vgl. 1,35.45; 6,11.31f.35) nicht so etwas wie grundsätzliche Kritik an der (konsumierenden) „Stadt“; vielmehr bieten sie einen symbolischen Raum für Innovationen.21 Die sind zugleich bei Mk vom dezidierten zu unterscheiden. Wenn Jesus sich zu begibt, bedeutet das nicht eo ipso, dass er die Wüste aufsucht (dagegen in Mk 1,4.12f.: von der jüdischen Wüste, dem steinigen Ostabfall des jüdischen Gebirges; vgl. 1Makk 2,29; 5,24.28; 2Makk 5,27; vgl. im Zitat von Jes 40,3: Mk 1,3). Schon gar nicht sollen die eine Verbindung zu Mk 13,14 schaffen ( ). Vgl. : nur in Mk 8,4; vgl. in Unterscheidung von der Stadt und Wasser/Meer: 2Kor 11,26; vgl. Ez 35,4; Josephus, ant. II 24. Ähnlich wie bei Mk steht im Eingang der spätantiken Vita Alexandri Magni in I 14 (rec. ) synonym mit % (vgl. rec. 14,16). Wie das Mk weiß auch die Vita Alexandri darum, dass an Orten, die der Öffentlichkeit entzogen sind, Wunder ihren Raum haben (vgl. die Speisung in Mk 6; vgl. die Blindenheilung in Mk 8,22–26). Vgl. Vita Alexandri rec. I 14,31 (der mythische Vater des Alexander, Nektanebo, nimmt den Alexander „mit hinaus vor die Stadt an einen einsamen Ort“, um ihm die Sterne zu zeigen; vgl. im Zusammenhang des Todes des Vaters I 14,31: % ""). Im zweiten Buch (rec. 2,32), das einen Ausschnitt des Briefromans bietet, finden sich die „ver20 21
Dagegen hat dies bereits Lohmeyer, Galiläa, 33, erkannt (im Blick auf Mk 9,30). Vgl. Philos Aussagen über die Essener, die in Dörfern leben und die Städte meiden (Prob. Lib. 76).
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Reinhard von Bendemann lassenen“/„abgelegenen“ Orte als Raum für Wunderhaftes. Alexander berichtet – im Ich-Stil – wie er in der Folge der Schlacht bei Issos nach Osten zieht und in wüste Gegenden gelangt, an denen wilde und fremdartige Tiere wohnen ( ) u.a.m.
b) Aufmerksamkeit im Blick auf die narrative Inszenierung verdient auch Mk 1,38. Jesus spricht hier Simon und seine Begleiter an, er sei ausgezogen, um auch in den anderen zu „verkündigen”. Das Verb unterscheidet die mit dem Täufer verbindende Anfangsaktivität Jesu und der Zwölf resp. seiner Jünger von dem, was dieser in Galiläa dann zunächst und später in Jerusalem tut: nämlich lehren (zu vgl. Mk 1,4.7.14.38f.45 u.a.; zu / / vgl. Mk 1,21f.27; 2,13; 4,1f.38; 6,2.6.30.34 u.a.). Es weist auf das „Verkündigen“ der Zwölf/der Jünger voraus (Mk 3,14; 6,12; vgl. 14,9), damit zugleich auf das, was auch der Geheilte in der Dekapolis in Mk 5,20 tun wird (s.u. Punkt 3.). Das Verb kann damit transparent werden für dasjenige Geschehen, welches in Gestalt der christlichen Verkündigung auch die Leserschaft erreicht bzw. an die Erzählgegenwart herangeführt hat. Solches „Verkündigungs“-Geschehen findet nach der Rede Jesu in Mk 1,38 ihren Zielpunkt „in den anderen “. Der Begriff bietet ein neutestamentliches Hapaxlegomenon und verdient mehr Aufmerksamkeit, als ihm in aller Regel zuteil wird. Luther übersetzt den Begriff mit „Stadt“, was das Spezifische verfehlt; Bauer/Aland gibt ihn mit „Marktflecken” wieder. Näher kommt die englische Übersetzung mit „village-city”/„Dorfstadt“.22 begegnet sehr selten in der antiken Gräzität. Außer Cassius Dio an einer Stelle (Cass. Dio 186,25) verwendet der Geograph Strabo den Begriff um die Zeitenwende einige Male, in den Büchern 11–14 seiner ) .23 Im 12. Buch gebraucht Strabo den Begriff nicht nur für eine „Dorfstadt“ in der Nähe von Cabeira/Sebaste namens Ameria (12,3), sondern zweimal (12,2.6) für die an der Grenze von Lykaonien gelegene Ortschaft Garsaýira, die nach 12,2 einstmals eine Gebietsmetropole () gewesen ist. Die Koordination mit einer entspricht hier grundsätzlich der markinischen Wahrnehmung von Städten, sofern diese Territorien identifizieren. Bemerkenswert ist, dass Strabo im 13. Buch (13,1.27) Troja als bezeichnet, und zwar in seinem Zustand, wie ihn die Römer vorfanden, als sie in die Asia kamen. Strabo bezieht sich hier auf Demetrios von Skepsis (frgm. 21), der als junger Mann den Ort vernachlässigt gefunden habe, sowie ferner auf den alexandrinischen Historiker Hegesianax (FGrHist 45 F 3), der berichtet, dass die Galater, als sie von Griechenland nach Europa übersetzten, in Ilium/Troja eine Zuflucht hätten suchen wollen; sie hätten vor Ort ihren Plan jedoch sofort aufgegeben, da keine Mauern mehr gestanden hätten. Die Stadt sei später wiederhergestellt, dann schließlich von den Römern belagert und erobert worden. erscheint an diesen Stellen als Begriff für Ortschaften oder Siedlungslagen mit wechselvollem Geschick, die synchron und/oder diachron betrachtet nicht mehr resp. noch nicht Städte sind.
22
23
Vgl. Strathmann, Art. , 529: „stadtartige Siedlung ohne Stadtrecht“ (ohne Belege); Jeffers, World, 67: „the population of a city [...] but the nature of a village“ (mit Hinweis auf Josephusstellen, an denen der Begriff freilich nicht begegnet). Vgl. deutlich später dann Johannes Malalas, chron. 347, sowie etliche Belege bei der byzantinischen Geschichtsschreiberin Anna Comnena (Alexias I 2,5; II 6,10 u.a.).
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sind damit Orte im potentiellen Übergang zwischen „Dorf“/„Ortslage“ und „Stadt“; damit aber können sie im zweiten Evangelium ideale Ansatzpunkte für die neue Lehre und Praxis Jesu bilden. Es handelt sich um Orte, die für die Metabasis von den ländlichen Gebieten hin zur Stadt offen stehen, die innerhalb der markinischen Erzählung folgen wird – und die sich, diachron betrachtet, hin zum point of view der Erzählgegenwart vollzogen hat. Hier wie an anderer Stelle unterstützt die narrative Topologie im zweiten Evangelium eine Verschränkung der Zeitebenen.
3.
Die Dekapolis als terra nova
Den ausdrücklichen Übergang in ein dezidiert städtisches Gebiet vollzieht die markinischen Erzählung zum ersten Mal in Mk 5: Jesus kommt in das Gebiet von Gerasa, das nach Mk 5,20 mit der Dekapolis in Zusammenhang steht. 1. Die Dekapolis galt in der Forschung lange Zeit als ein mehr oder minder klar definiertes foedus von zehn griechischen Städten in Syrien-Palästina bzw. mit Ausnahme von Skythopolis im Ostjordanland, welches entweder schon von Alexander oder seinen hellenistischen Nachfahren gegründet worden sei.24 Diese Städte waren in ihrer Unabhängigkeit dann in Folge der Makkabäeraufstände bedroht bzw. verloren diese in der Zeit der Hasmonäer. Alexander Jannäus nahm nach Josephus Skythopolis, Gadara, Abila, Dium und Pella ein (ant. XIII 5–8; 393.7; bell. I 4,8). Einige Städte gerieten im 1. Jh. v. Chr. auch unter nabatäischen Einfluss und wurden schließlich von Tigranes von Armenien beherrscht. Mit der Ankunft des Pompeius in Palästina änderte sich diese Situation grundlegend. Pompeius befreite 62/63 v. Chr. die Städte Südsyriens. Zugleich – so die ältere These – habe er sie in eine neue Föderation autonomer Städte überführt. Nach außen habe diese Föderation dem Ziel der Sicherung der Reichsgrenze im Osten gedient, nach innen habe er ein Gegengewicht gegen die Hasmonäer (Südwesten), die Nabatäer (Südosten) und Ituräer (im Norden) schaffen wollen.25 In der Folge hätten die zehn Städte dieses foedus die sog. Pompejanische Ära eingeführt. Pompeius hat nach dieser Sicht möglicherweise eine ehedem griechische Liga revitalisiert bzw. ist zum eigentlichen Schöpfer der Dekapolis geworden.
Ausgegangen wird somit in der Forschung z.T. von einem einfachen – griechisch-hellenistischen – oder einem doppelten – einem griechischen und einem römischen – Gründungsakt. Dieser richtet sich auf ein klar definiertes Territorium von zehn Städten, das sowohl kulturell als auch institutionell zusammengehörig bestimmt wird. Diese Sicht ist nicht zuletzt durch die Arbeit von Bieten24
25
Die ältere Sicht, die nahezu ungebrochen in der exegetischen Fachliteratur weitertradiert wird, z.B. bei Iverson, Gentiles, 22: „The term Decapolis was a geographic label denoting a region consisting of ten cities […]”. Bernhardt, Rom, 64: „Erst Pompeius und die in seinem Sinn wirkenden Statthalter haben das griechische Städtewesen in Kleinasien und Syrien systematisch gefördert und die städtische Selbstverwaltung als Basis für die römische Provinzverwaltung in etlichen Gebieten, in denen sie nicht vorhanden war, zu schaffen versucht.“ Vgl. Jones, Cities, 253–263.
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hard noch einmal befestigt worden und findet sich fast durchgängig in älteren Standarduntersuchungen. So spricht etwa Jones auch dort, wo er die Unterschiedlichkeit der Listen erkennt, von einem „continous block of territory“26. Diese Sicht bedarf im Licht der jüngsten Forschung in einigen Hinsichten der Korrektur. 1. Zunächst ist festzustellen, dass ein offizielles Dokument bzw. eine entsprechende Inschrift, die die Zehnzahl als solche stützen würden, nicht existieren. Die Zehnzahl ist nicht auf einen Zustand zu beziehen, der mit der Gründungssituation zu verbinden wäre. Die für die „Zehnstädte“ ansonsten vorhandenen Auflistungen variieren erheblich. In der Liste des Plinius d.Ä. für die „regio Decapolitana“ fehlt z.B. Abila. Ferner rechnet Plinius Damaskus zur Dekapolis, worin ihm spätere Forscher mit der – für Markus nicht durchführbaren – These eines sog. „Großgaliläa“ gefolgt sind.27 Andere Listen nennen weit mehr als zehn Städte. Der Geograph Claudius Ptolemaios kennt Mitte des 2. Jahrhunderts siebzehn Städte für ein Gebiet, das er als „Koilesyrien und die Dekapolis“ bezeichnet. Mit Koilesyrien wird hier der wahrscheinlich ältere Begriff genannt.28 2. Sichere Zeugnisse für eine Gründung der Dekapolis als foedus in der Zeit Alexanders bzw. in der frühen hellenistischen Phase gibt es nicht. Bei verbleibenden Unsicherheiten kommt der Zeit des Pompeius in den 60er Jahren v. Chr zunächst Präferenz zu.
26 27
28
Jones, Cities, 259. Die Wiedergabe der Aufzählung bei Scholtissek, Galiläa, 68, ist unvollständig. Plinius d.Ä., nat.hist. V 16,74: „Iungitur ei latere Syriae Decapolitana regio a numero oppidorum, in quo non omnes eadem observant, plurimi tamen Damascum […] Philadelphiam, Raphanam (omnia in Arabiam recendentia), Scythopolim (antea Nysam […] Scythis deductis, Gadara Hieromice praefluente, et iam dictum Hippon, Dion, Pellam aquis divitem, Galasam [oder: Garasam], Canatham. Intercurrunt cinguntque has urbes tetrarchiae, regnorum instar singulae, et in regna contribuntur, Trachonitis, Panias (in qua Caesarea cum supra dicto fonte), Abila, Arca, Ampeloessa, Gabe.“ (Diesem [d.h. Judäa] verbunden auf der Seite Syriens ist die Region der Dekapolis, [so genannt] nach der Zahl der Städte, im Blick auf die nicht alle [Schriftsteller] dasselbe feststellen. Die meisten stimmen gleichwohl überein in Hinsicht auf Damaskus […], Philadelphia, Raphana – alles Städte, die sich in Richtung Arabien erstrecken –, Scythopolis [das früher Nysa genannt wurde …], dessen [jetziger Name] von Scythien hergeleitet ist, Gadara, vor dem der Hieromix fließt, und das bereits angesprochene Hippo, Dion, Pella, reich an Wassern, Galasa [oder: Gerasa], Kanatha. Die Tetrarchien liegen zwischen diesen Städten und umgeben sie, jede einzelne von der Art von Königtümern, und nehmen den Rang von Königtümern ein, [nämlich:] Trachonitis, Panias [in dem sich Caesarea befindet mit der oben [[16,10]] angesprochenen Quelle], Abila, Arca, Ampeloessa, Gabe). Die Liste des Plinius d. Ä. kann nach Hoffmann/Kerner, Gadara – Gerasa, 4 (Prolog von D. Graf) „nicht als verbindlich angesehen werden“. Zur These eines Großgaliläa: Schmeller, Jesus, 50f. Claudius Ptolemaios (ca. 150 n. Chr.), Geographia V 14,18: * + [die letzten beiden Wörter in einigen MSS fehlend] & , -" . /* 0+* ( . MSS) ) . * ) ( + ) 1 (Die Städte Koilesyriens und der Dekapolis sind die folgenden: Heliopolis, Abila, welches das des Lysianos genannt wird, Saana, Ina, Damaskus, Samulis, [Abida MSS], Kapitolias, Gadara, Adra, Skythopolis, Gerasa, Pella, Dion, Gadora, Philadelphia, Kanatha). Aus der Liste des Plinius fehlt hier Raphana.
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Weber verweist im Anschluss an Rey-Coquais darauf, dass „Gadara und die übrigen Mitglieder [der Dekapolis; R.v.B] weder in der lokalen Münzprägung noch auf offiziellen Inschriften einen solchen politischen Städtebund erwähnen [...].“29 Ist der Begriff der in offiziellen Texten nicht zu verzeichnen, so ist * – bezogen insbesondere auf den von Josephus genannten Umfang (ant. XIV 4,4; bell. I 7,7) von fünf Städten: Gadara, Hippos, Skythopolis, Pella und Dion – zunächst die ursprüngliche geographische Bezeichnung für das Gebiet seit der Neuordnung des Pompeius (s.o.).30 Es ist dabei zugleich nicht nachweisbar, dass mit einem Gründungsakt alle für die Dekapolis reklamierten Städte die pompejanische Ära eingeführt hätten.31 Forschungsgeschichtlich datiert die These eines früheren Zehner-foedus in eine Zeit, in der man in den Altertumswissenschaften die Bündnisfreudigkeit antiker Völker teilweise deutlich strapaziert hat. Bernhardt notiert im Blick auf die römische Zeit hierzu: „Während die ältere, juristisch orientierte Forschung relativ häufig Indizien für foedera außerhalb Italiens zu erkennen glaubte und daraus regelmäßig den Schluß auf ein starkes politisches Engagement der Römer in der betreffenden Region zog, bildete sich später in zunehmendem Maße die Überzeugung heraus, daß es sich bei etlichen dieser foedera lediglich um amicitia et societas handelte. Und selbst bei den echten foedera stellten sich Zweifel ein, wie weit sie als ein Hinweis auf feste politische und militärische Bindungen verstanden werden dürfen […].“32 3. Gravierende Schwierigkeiten stellen sich in Hinsicht auf die Datierung bzw. die Frage nach der erstmaligen Verwendung des terminus Dekapolis und seiner Bedeutung. Die Rede von der decapolitana regio bei Plinius d.Ä. datiert erst aus der Zeit nach dem Ende des römisch-jüdischen Krieges; die beiden Belege im Markusevangelium (Mk 5,20; 7,31) sind die einzigen, die möglicherweise noch vor dessen Ende anzusetzen sind.33 Möglich bleibt, dass die Dekapolis kein auf die Alexanderzeit oder auch auf die Pompeianische Neustrukturierung zurückgehendes, fest umrissenes Bündnis von Städten darstellt, sondern vielmehr eine Verwaltungseinheit ehedem relativ autonomer Städte innerhalb der *, welche erst in Folge des jüdischen Krieges entstanden ist. 4. Auch die älteren Forschungsmeinungen bezüglich der Auflösung der Dekapolis sind ins Wanken gekommen. Umstritten bleibt dabei die These, wonach die Dekapolis mit der Errichtung der Provinz Arabia 106 n. Chr. bzw. der politischen
29 30 31
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Weber, Gadara, 68. So Wenning, Dekapolis und Nabatäer, 7; vgl. auch Möller/Schmitt, Siedlungen, 79f. Vgl. Hoffmann/Kerner, Gadara – Gerasa, 4 (Prolog von D. Graf); Wenning, Dekapolis und Nabatäer, 7f. Anders u.a. Isaac, Decapolis, 71 mit Anm. 23. Bernhardt, Rom, 36, der allerdings zugleich einen rückläufigen Trend in der jüngeren Forschung konstatiert. Wenning, NTAK II, 145. Vgl. ansonsten Josephus, bell. III 446 (Skythopolis als „größte Stadt der Dekapolis und Tiberias benachbart“); vit. 341f. (innerhalb des von vit. 336–367 reichenden Exkurses gegen Justus von Tiberias über die Wahrheit der Geschichtsschreibung: Die Dörfer der zehn Städte [ ] in Syrien als von Iustus mit Krieg überzogen; in den Aufzeichnungen des Kaisers Vespasians finde sich außerdem, wie in Ptolemais die Bewohner der zehn Städte ["" ] vor Vespasian protestierten und die Bestrafung des Iustus forderten; hierzu auch vit. 42 und 410: "" * [ PR]); vgl. Euseb, Onomasticon 80,16 (vgl. Ephiphanius, Panarion haer. I 330.335): +. . & "" ! (! &0 ( ) (Dekapolis. In den Evangelien. Diese ist bei Peräa um Hippos und Pella und Gadara herum gelegen); vgl. Stephanos Byzantinicus, Ethnica (ed. Reimer) 203,15.
56
Reinhard von Bendemann Zuteilung an drei Provinzen aufhörte zu existieren.34 Dagegen sprechen Listen wie die des Claudius Ptolemaeus sowie auch inschriftliche Zeugnisse. Wenning erklärt den wachsenden Umfang in den späteren Städtelisten wie der des Ptolemaios so, dass die von den Römern gewährten Privilegien und Steuernachlässe rasch dazu geführt hätten, dass weitere Städte der Region um Anschluss bemüht waren.35 5. Ausgrabungen in den einzelnen Städten der letzten Jahrzehnte unterminieren die ältere Sicht, wonach die Dekapolis-Städte im 1. Jh. n. Chr. wie klassische griechische Poleis organisiert gewesen wären oder solchen Poleis geähnelt hätten. Mit Wenning ist vielmehr festzuhalten: „Konträr zu der in der literarischen Überlieferung gespiegelten Bedeutung mancher dieser Städte in der hellenistischen Zeit und der frühen Kaiserzeit, allen voran Gadara [...], ist es der Archäologie nicht gelungen, einen adaequaten Architekturbefund aus dieser Zeit nachzuweisen.“36 Wie schon Bowhser gezeigt hat, waren die Städte auch baulich zu Beginn der Kaiserzeit nicht griechisch, sondern in orientalischer Tradition gestaltet. „Urbanität und Romanisierung setzten erst relativ spät ein. Auslöser war auch hier der Jüd[ische] Krieg. Den Eindruck (architektur)reicher röm[ischer] Städte, den die Ruinen der Dekapolis heute vermitteln, verdanken sie ihrer Blüte im 2./frühen 3. Jh. bzw. den byzantinischen Bauphasen. Für die frühröm[ische] Zeit muss man sich von diesen Bildern lösen und einfachere und bis auf Damaskus, Gadara und vielleicht Abila unbefestigte Siedlungen annehmen […]. Die semitischen Traditionen scheinen auch später noch in vielen Bereichen durch.“37 Die für die Dekapolis reklamierten Städte „waren während der hellenistischen Zeit kleine, ländliche Dörfer, die keine öffentliche Architektur außer Tempeln und Militäranlagen besaßen.“38 Erst in der Zeit nach der Annexion des Reiches der Nabatäer und der Gründung der Provinz Arabia erhielten sie ihr griechisches Gesicht. Vor allem unter Hadrian ist auch architektonisch ein Schub im griechischen Selbstverständnis der Städte festzustellen.39 6. Die Dekapolis darf in der Zeit der Entstehung des Markusevangeliums keineswegs eo ipso als Verbund „griechischer“ resp. „heidnischer“ Städte gelten. Mit den Nabatäern sind zunächst semitische Kultur und Sprache anzutreffen. Die Berichte des Josephus zeigen sodann insbesondere im Fall von Skythopolis, Gerasa, Gadara
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So Hoffmann/Kerner, Gadara – Gerasa. 5 (Prolog von D. Graf); vgl. Isaac, Decapolis, 74. Dagegen Wenning, NTAK 2, 145. Vgl. Wenning, Dekapolis und Nabatäer, 12. Wenning, a.a.O., 12f.; Bowsher, Architecture, 62–69. Wenning, NTAK II, 147. Beispielhaft lässt sich das an dem archäologisch am Besten erschlossenen Gerasa/Jerasch zeigen, wo die intensiven Grabungen seit 1977 zu berücksichtigen sind. Die Funde in Städten wie Jerasch, die ein solches Bild hellenistisch-römischer Städte spiegeln, sind trügerisch, denn sie zeigen die Entwicklung, die die Städte nach der Zerstörung Jerusalems und der Reise Hadrians erst ab dem 2. Jh. nehmen konnten. U.a. hat sich ergeben, dass im 1. Jh v. Chr. in der Stadt zwei Heiligtümer konkurrierten, ein Tempel zu Ehren des Zeus Olympios sowie ein altes Heiligtum einer semitischen Göttin: „Einzig in Gerasa ist in der Dekapolis ein arabisches Heiligtum in derart prominenter Lage in der Stadt zu finden“ (Lichtenberger, Kulte, 243). Bei der Beurteilung des Zeus-Heiligtums gibt es Unsicherheit; der Tempeltyp und Weihinschriften lassen möglich erscheinen, dass hier noch im 1. und 2. Jh. n. Chr. semitische Kulte praktiziert wurden. Siehe hierzu insgesamt: Lichtenberger, a.a.O., 191–243, der mit einer Konkurrenz von Zeus- und Artemiskult rechnet. Hoffmann/Kerner, Gadara – Gerasa, 4 (Prolog von D. Graf). Zur Grabungsgeschichte des „Pompeji des Nahen Ostens“: Seigne, Gerasa, 6–22; vgl. Kraeling, Gerasa, 49–51; Isaac, Limits, 352–359, zur Baupolitik Hadrians; vgl. Wenning, Dekapolis und Nabatäer, 26–29.
Jesus und die Stadt im Markusevangelium
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und Hippo, dass es jeweils nennenswerte jüdische Bevölkerungsanteile gegeben hat.40 Dass das Gebiet als jüdisch bestimmt gelten kann, findet möglicherweise auch im frühchristlichen Zeugnis Bestätigung. Das judenchristliche Matthäusevangelium, das sehr sorgfältig darauf achtet, seinen Jesus – anders als bei Markus – streng israelzentrisch auftreten zu lassen, streicht aus dem Summar von Mk 3,7–11 zwar Tyros, Sidon und auch Idumäa, das von den Hasmonäern judaisiert worden war, bietet aber in Mt 4,25 die Dekapolis. Die Anführung der Dekapolis im Summar, welches die Bergpredigt vorbereitet, wäre schwer vorstellbar, wenn Mt hier mit einem überwiegend griechisch-römisch geprägten Städtebündnis rechnete. Allerdings ist in einem Summar, das vielleicht in etwa die geographische Erstreckung des biblischen Israel abdecken soll, schwer zu erklären, warum Idumäa gestrichen wird.41
Die Ortsangabe der „Dekapolis“ in Mk 5,20 und 7,31 verweist also wahrscheinlich entgegen einer lange behaupteten Forschungsposition nicht auf ein frühes institutionelles Bündnis von zehn Städten. Territorial handelt es sich um eine flexible Größe innerhalb von Cölesyrien. Ehedem relativ souveräne Städte werden administrativ koordiniert. Möglich bleibt, dass dies in Aufnahme der Maßnahmen des Pompeius erst in der Folge des jüdischen Krieges geschehen ist.42 Zur Zeit des Markusevangeliums, welches als früheste Quelle den Begriff überhaupt kennt, können die tangierten Städte zudem noch nicht als kulturell griechisch-römisch geprägt gelten43. 2. Wie sind nun die Einsichten der jüngeren Dekapolisforschung für die erzählte Topologie des zweiten Evangeliums fruchtbar zu machen? Entgegen einem lange geübten „historisierenden“ Zugang, der an (späteren) geographischen Karten vermisst, ist zuerst festzuhalten, dass die Rede von „geographischen Irrtümern“ (vgl. oben Punkt 1.) im Fall von Mk 5,20 und 7,31 noch einmal neu zu verhandeln ist. In Mk 5,20 identifiziert der Erzähler die Dekapolis von Gerasa her aus einer nördlichen Perspektive. Im Text von Mk 5 ist dabei zunächst vom Gebiet von Gerasa die 40
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43
Hierzu insgesamt Goodman, Jews, 49–56 (a.a.O., 50–52 zu Josephus); vgl. Freyne, Galilee, 134f. Vgl. zur Diskussion Luz, Matthäus I, 247. Nicht verfolgt werden kann hier die Frage, inwieweit die jüngsten Entwicklungen der Erforschung der Dekapolis einen neuen Ansatzpunkt für die so fest gefahrene Datierungsfrage des zweiten Evangeliums geben können. Sollte die Dekapolis tatsächlich erst nach dem Ende des jüdischen Krieges ihre finale Gestalt erhalten haben, so wäre die bis dato kaum entscheidbare Frage, ob Mk (kurz) vor oder (kurz) nach 70 n. Chr. entstanden ist, mit besseren Argumenten zugunsten eines Abschlusses erst nach Kriegsende zu lösen. Allerdings stellt sich die Frage, ob es wahrscheinlich ist, dass gerade ein frühchristlicher Text einen erst frisch etablierten terminus bereits kennt und verwendet. Möglich bleibt u.a. auch, dass im zweiten Evangelium ein ‚uneigentlicher’ Gebrauch im Sinne einer gebräuchlichen Landschaftsbezeichnung vorliegt. Zudem ist gegenüber jüngeren Ansätzen der Forschung wie denen von Wenning die Bedeutung der Eingriffe des Pompeius stärker zu gewichten. Wenn Iverson, Gentiles, die Dekapolis in die postulierten vier Reisen Jesu in „heidnisches Gebiet“ im Mk einordnet (vgl. a.a.O., 40–82, zur „Third Journey Into Gentile Territory“), so wird an diesem Punkt zu wenig differenziert. Klärungsbedürftig ist, was eigentlich unter „jüdisch“ und „nichtjüdisch“ resp. „heidnisch“ verstanden werden soll: Geht es um sprachliche, ethnische, kulturelle und/oder religiöse Bestimmungen?
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Reinhard von Bendemann Rede, in das Jesus kommt und aus dem der Dämon Legion nicht ausgewiesen werden will. Diese Wahrnehmung der Stadt über das Territorium lässt sich mit jüngsten archäologischen Ergebnissen verbinden, nach denen Gerasa, das der Dekapolis koordiniert wurde, einem äußerst weit gespannten und nach Norden offenem Territorium zugeordnet werden kann.44
Sodann sind die historischen und archäologischen Erkenntnisse in eine Interpretation der Dekapolis als „active agent of meaning“ in der markinischen Erzählung einzubringen (s. hierzu oben Punkt 1.). Im Fall von Mk 5 ist zunächst zu beachten: Das Ostufer des galiläischen Sees ist als „landmark“ in der Erzählung soweit ausgearbeitet, dass die Leserschaft hier an nichtjüdisches Territorium denken kann. Die Erzählung setzt mit der Überquerung des Sees und der Heilung des daemoniacus die Überwindung der Schranke zwischen Juden und „Heiden“ in Erzählung um. Indizien für das Ostufer als „nichtjüdisches“ resp. „paganes“ Territorium sind dabei u.a. die Abwesenheit jüdischer Gesprächspartner Jesu (ähnlich wie bei der Überfahrt in Mk 8,10 begegnet ein jüdischer Gesprächspartner erst in der folgenden Episode: der Synagogenvorsteher Jairus); sodann hat der Kranke den Ort für die Toten zu seinem Wohnsitz gemacht, was dreimal in vier Versen hervorgehoben ist (Mk 5,2f.5). Die Schweineherde (5,11) wird mit Unreinheit konnotiert (Lev 11,7; Dtn 14,8; Jes 65,4f.7; 66,17; bQam 82b).45 Auch dass der Dämon Jesus mit „Sohn des höchsten Gottes“ anredet, ist auf dem traditionsgeschichtlichen Hintergrund paganer Gottesattribute möglich46. Von dieser „landmark“ des Ostufers als neuem, nichtjüdischem Territorium ist allerdings bei Markus die Dekapolis ein Stück weit abgesetzt. Erst in der finalen Szene, in der Jesus schon das Schiff bestiegen hat, wird am Ende der Begriff genannt. Auf der erzählerischen Route des Markus sind zwei Stationen zu unterscheiden. Die Dekapolis ist eine zweite Station, und als solche wird sie von Markus nicht in der Distinktion jüdisch – nichtjüdisch oder auch: rein – unrein bzw. „pagan“ gefasst. Die Dekapolis markiert vielmehr eine neue Station, die am Ende von der „Verkündigung“ her konzeptualisiert ist. In der Dekapolis geht es am Ende um den Zielpunkt der solennen Christusverkündigung des Geheil44
45
46
Die 40 östlich und südlich der Stadt gefundenen Stelen ((2) – Abkürzung für ) bzw. ); Abb. 28 bei Seigne, Gerasa, 19), die wahrscheinlich das Stadtgebiet nach seinen Außengrenzen markierten, erlauben dabei gegenwärtig noch nicht, die Grenzziehung in Richtung Norden festzulegen. Seigne erwägt, dass das Territorium von Gerasa 850 km2 umfasst haben könnte, „[...] vom Jordantal bis an die Steppe, beziehungsweise vom Wadi Yabis bis zu den Höhen [...], welche die Bekaa beherrschen“ (a.a.O., 20). Allerdings ist auch über ein entsprechend weit gefasstes Territorium keine Nähe zum galiläischen See zu erzielen. Mk 5 setzt dabei wohl auch Kenntnisse bezüglich der römischen Truppenpräsenz nach 70 n. Chr. am Ort voraus (der Legion als Anspielung auf die römische Legio X Fretensis; vgl. hierzu Klinghardt, Legionssschweine, 42; Lau, Legio, 351–364 [mit einer möglichen Erklärung der Zahlenangabe „etwa 2000“ in Mk 5,13]; Heininger, Theologie, 190f.). Zuordnung und Funktion solcher möglicher Konnotationen sind allerdings in der Erzählung vielfach nicht deutlich (es geht jedenfalls nicht ausdrücklich um religiöse Verunreinigung; und es geht nicht um die Speiseproblematik; vgl. Klinghardt, Legionsschweine, 30 mit Anm. 7f., 43). Vgl. Marcus, Mark I, 343f.; Pervo, Acts, 405f., zu Apg 16,17 (vgl. Philo LegGai 278, 317).
Jesus und die Stadt im Markusevangelium
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ten. Dies entspricht demjenigen narrativen „Übergang“, den wir bereits oben für Mk 1 festgestellt haben. Die Verkündigung in der Dekapolis „[...] symbolizes a significant transition in Christian history [...]“.47 Eine entsprechend mehrphasige Routierung lässt sich auch für Mk 7 nachweisen. Die Erzählung setzt hier zugleich grundsätzlicher an und gibt eine diskursive Begründung für die in Mk 5 antizipierte Entwicklung. Mk 7,1–23 klärt die in Mk 5 nur implizit angelegte Frage nach der Differenzierung von „rein“ und „unrein“ grundsätzlich diskursiv; Jesus reinigt alles bzw. erklärt alles für rein. Auf dieser Basis ist die folgende Exkursion Jesu in das tyrisch-phönizische Gebiet zu verstehen. In diese Exkursion ist am Ende in Mk 7,31 die Dekapolis eingebunden, wobei es nun heißt, dass Jesus „mitten durch/in das Gebiet der Dekapolis“ zieht. Wurde die Dekapolis in Mk 5,1–20 zunächst nur in Gestalt des Geheilten, seiner Verkündigung – gegen Widerstände – erreicht, so befindet sich nun Jesus selbst mitten in ihr. Die Dekapolis wird hier in Verbindung mit der Heilung des Tauben/Stummen im Aufriss des zweiten Evangeliums transparent für die Öffnung der Ohren und die Lösung der Zunge der . Damit ist diejenige Entwicklung unmittelbar anvisiert, die zur Erzählgegenwart geführt hat.48 Die Dekapolis fungiert in der Erzählung als „active agent of meaning“ für die universale, nicht mehr von der Unterscheidung zwischen Juden und Heiden gehemmte Christusverkündigung. Sie repräsentiert so literarisch-topologisch den Ort der Markusleserschaft, für die die beschneidungsfreie Völkermission Realität geworden ist. Im Hintergrund steht dabei, dass die Dekapolis in der Zeit nach dem jüdischen Krieg zu einer Drehscheibe politischer, militärischer und kultureller Entwicklungen wurde. Die südsyrischen bzw. ostjordanischen Städte erleben die Konjunktur eines neuen Aufschwungs. Im Rahmen der von Markus erzählten Welt werden sie so anschlussfähig für die Dynamiken einer nicht mehr durch die Barriere zwischen Juden und Heiden gehemmten, völkerweiten Christusverkündigung.
4.
Caesarea Philippi und die politischen Implikationen jüdisch-messianischer Hoffnung
Mk 8,27–30 stellt eine entscheidende Gelenkstelle im zweiten Evangelium dar – dies insbesondere in Hinsicht auf die Klärung der christologischen Leitfrage der Erzählung. Dies wird in der Markusforschung in unterschiedlicher Gewichtung seit Langem gesehen – allerdings lange und weitgehend unabhängig von der er-
47 48
Mit Marcus, Mark I, 353. Wichtig für die mk Konzeption ist in diesem Zusammenhang: Da zwischen Mk 7,37 und 8,1 kein Ortswechsel notiert wird, ist auch die Speisung der 4000 als „Völker“- resp. „Heidenspeisung“ in diesem Gebiet anzusiedeln. D.h. hier wird der point of view der Erzählgegenwart eingeholt.
60
Reinhard von Bendemann
zählerischen Ortsangabe: „in/bei den Dörfern von Caesarea Philippi“ (Mk 8,27: 1). Für die Ortslage hat sich auch hier fast ausschließlich die historische Jesusforschung interessiert, die Caesarea teilweise mit einem grundlegenden Umbruch, einer Neuorientierung im Wirken Jesu verknüpft hat. Wo das Problem in der Markus-Forschung wahrgenommen wurde, begegnet dagegen auch im Fall von Caesarea Philippi die Auffassung eines „geographischen Irrtums“, findet man doch in Mk 8,22 Jesus in Betsaida, zeichnet sich der Weg nach Jerusalem ab und erscheint demgegenüber der Weg in den Norden zu den Jordanquellen als unlogisch. Auch hier ist zudem der oben angesprochene Kurzschluss mit der Verfasserfrage des zweiten Evangeliums zu verzeichnen.49 Erst in allerjüngster Zeit hat der Ort Caesarea Philippi dabei als solcher ein eigenständiges Interesse in der Forschung gefunden, und zwar im Zusammenhang einer lectio politica des zweiten Evangeliums. 1. Archäologie und literarische Quellen vermitteln Einblicke in eine bewegte Geschichte und führen eng an die Entstehungszeit des Markusevangeliums heran. Tangiert ist grundsätzlich derjenige historische Zeitraum, der schon in der Diskussion der Dekapolis besonders virulent war: Die Zeit der Okkupation der Städte durch die jüdischen Hasmonäer, ihre Befreiung und Neuordnung durch Pompeius, dann der Übergang in das Herrschaftsgebiet Oktavians und die Zuordnung zur neuen Herrschaft durch Herodes und sein Haus. Josephus unterrichtet über die Geschichte des Ortes (bell. I 404–406; ant. XV 359–364), der seinen ursprünglichen Namen von dem am Fuß des Hermon gelegenen PanHeiligtum empfing: Paneas (Banyas), der zunächst vom Königshaus der Ituräer beherrscht wurde, dann unter hasmonäische Herrschaft geriet, der 63 v. Chr. von Pompeius an die Ituräer zurückgegeben wurde und der 20 v. Chr. durch Oktavian in das Herrschaftsgebiet Herodes des Großen gelangte. Nach dessen Tod wurde der Ort vom Tetrarchen Philippus in den Jahren 3/2 v. Chr. zur hellenistischen Polis ausgebaut und zu Ehren des Kaisers Tiberius Caesarea genannt. Caesarea Philippi wurde die Hauptstadt der Tetrarchie des Philippus. Damit ist diejenige Konstellation vorgezeichnet, die sich auch archäologisch verifizieren lässt und bei der die jüngsten lectiones politicae ansetzen: In Caesarea Philippi manifestieren sich und verdichten sich Kontakte zwischen den Vertretern des römischen Imperiums und des jüdischen Herrscherhauses der Herodäer. 2. Besondere Aufmerksamkeit verdienen in diesem Zusammenhang die folgenden Punkte: a) Der Bau des Augustus-Tempels in Paneas/Caesarea Philippi wird im Rahmen der weit gespannten Bauaktivitäten Herodes des Großen als Loyalitätserweis des Herodes gegenüber Rom verständlich.50 Der Tempel war später nicht 49
50
Schmeller folgert aus der ungewöhnlichen Route, dass die Gemeinde des Mk bzw. der Ort des Verfassers möglicherweise in/bei Caesarea Philippi zu suchen sei (ders., Jesus 54f.). Münzen zeigen den Kaiser und die Fassade eines Tempels; siehe Lichtenberger, Baupolitik, 150–153, der davon ausgeht, dass Herodes am Paneion möglicherweise an eine bereits vorfindliche Tradition des hellenistischen Herrscherkultes anschließen konnte. Siehe zum Ganzen: Guttenberger, Caesarea, 119–131.
Jesus und die Stadt im Markusevangelium
61
mehr Augustus, sondern Nero geweiht. Bei einigen Unsicherheiten, die besonders in Hinsicht auf den Umfang und die Bedeutung des Herrscherkultes in Paneas/Caesarea bleiben, lässt sich festhalten: Das „Messiasbekenntnis“ des Petrus erfolgt in Mk 8 in topologischer Beziehung zu einem monumentalen Zeugnis herodäischer Referenz gegenüber dem römischen Kaiser. b) Caesarea Philippi setzt als Ortslage die Jesusgeschichte in eine Beziehung zu Ereignissen des Jüdischen Krieges. Caesarea Philippi war Residenz des jüdischen Klientelkönigs Agrippa II, dem Nachfolger des Philippus. Die Schwester Agrippas, Berenike, verlobte sich mit Titus, dem Eroberer Jerusalems. Nach Josephus bewirtete Agrippa Vespasian im Spätsommer 67 in Caesarea; Vespasian hielt hier inne, bevor er in einem zweiten Anlauf nach Süden Richtung Jerusalem zog (vgl. Josephus, bell. III 443–446). Noch dichter an die Entstehungszeit des zweiten Evangeliums führt heran, dass die Eroberer Galiläas, Vespasian und sein Sohn Titus, in Caesarea Philippi im Winter 70 das Iudaea capta feierlich begingen. Die markinische Jesusgeschichte erreicht also in Mk 8 einen Ort, der eine entscheidende Zäsur zwischen der Unterwerfung Galiläas und der Eroberung Jerusalems durch die Römer markiert und zugleich mit dem triumphalen Sieg über ganz Judäa konnotiert ist. c) Verschiedene Gründe sprechen dafür, dass die Leserschaft in Mk 8 in mehrfacher Hinsicht an die Figur Vespasians bzw. die flavische Kaiserpropaganda erinnert wird. Vespasian war ein homo novus, ein Emporkömmling ohne Legitimität. Er stammte nicht aus der julisch-klaudischen Linie. Seine Ernennung zum Cäsar basierte auf seinen militärischen Leistungen und war nicht unbestritten. Die vespasianische herrscherideologische Propaganda war ab dem Jahre 69 bestrebt, den homo novus Vespasian als Kaiser zu legitimieren. Hierfür wurden, wie Tacitus, Sueton und Dio Cassius wissen, nicht allein ‚heidnische’ Zukunftsahnungen, nach denen aus dem Osten ein großer König aufstehen werde, propagandistisch auf Vespasian übertragen, sondern vielmehr auch jüdisch-messianische Hoffnungen instrumentalisiert.51 Nach dem Bericht des Josephus hat dieser dem Vespasian kurz vor dessen Zwischenstopp in Caesarea Philippi als Kriegsgefangener die Kaiserwürde vorhergesagt – auch dies wurde von der flavischen Propaganda aufgegriffen (Josephus, bell. III 401f.). Mit anderen Worten: Das Christusbekenntnis in Mk 8 markiert einen Punkt, an dem jüdische Hoffnungen und Herrscheransprüche von flavischer Seite engstens aufeinander bezogen wurden. Dem lässt sich eine weitere Beobachtung zuordnen: Mk 8,27 geht in 8,22–26 die Blindenheilung in Betsaida voraus: Jesus heilt in zwei therapeutischen Phasen einen Blinden, wobei der eigentliche Heilerfolg erst in Phase zwei durch Speichel erreicht wird. Als Teil der Bemühungen um die Absicherung der Legitimität der unverhofft erworbenen Kaiserwürde wurden aber auch Vespasian Heilwunder zugeschrieben, näherhin eine Blinden- und eine Gelähmtenheilung in Alexandria – die Blindenheilung ebenfalls mit Speichel –, in enger Abstimmung auf die dortige Serapispriesterschaft. Tacitus, Sueton und Dio Cassius berichten davon, dass Vespasian bzw. die
51
Vgl. Josephus, bell. VI 312f.; Tacitus, hist. 5,13; 4,81f.; Sueton, Vesp. 4,5; Dio Cass. 64,93.
62
Reinhard von Bendemann kaiserliche Propaganda dieses Wunder klug für die Vermehrung seiner gloria einzusetzen wussten (Tacitus, hist. IV 81,1–3; Sueton, Vesp. VII 2; Dio Cass. 65,8,1).
3. Mk 8 bietet damit – in engem Zusammenhang zu der Ortsangabe – mögliche Ansatzpunkte für eine politisch-messianische Deutung des Christus-Bekenntnisses des Petrus. Zugleich fällt von hier aus Licht auf die Frage, warum Jesus mit Blick auf seine Jünger in Mk 8,33 Petrus so scharf zurückweist (" (! 3 45 3 *3 & ). Die Bezüge sind allerdings im Einzelnen mehrdeutig und diskussionsbedürftig. Deutlich ist, dass der Christus-Titel im zweiten Evangelium nicht frei von Ambivalenzen ist. Zugleich setzt ihn der Evangelist im anfänglichen Kontakt seiner Erzählung mit seiner Leserschaft in Mk 1,1 selbstverständlich voraus. Ob die Anrede des Petrus mit „Satan“ wirklich so zu verstehen ist, dass Petrus hier in der Sicht des Markus „die dämonische Sicht der Dinge“52 übernimmt, ist angesichts des ausdrücklichen Fehlens solcher Bezüge in der Markuspassion unsicher. Im Sinne von Texten wie Mk 10,42–44, insbesondere aber im Licht des folgenden Leidensweges Jesu und der mit ihm verknüpften weiteren Jüngerbelehrungen handelt es sich zunächst um ein korrekturbedürftiges, grundlegendes Missverständnis der Auffassung von der Messianität Jesu, insofern diese am Leidensweg vorbei konstruiert ist. Ein „politisches Missverständnis“ bleibt aber auch dann möglich, wenn Petrus hier zwar nicht der „dämonischen“ Versuchung erliegt, wohl aber in verfehlter Weise auf bedacht ist.53 In jedem Fall zielt die Distanzierung Jesu auf verfehlte jüdische Vorstellungen und Erwartungen, es geht damit um die möglichen politischen Implikationen jüdisch-messianischer Hoffnung.54 Dagegen ist es aus verschiedenen Gründen sehr unwahrscheinlich, dass die Erzählung eine direkte Auseinandersetzung mit dem römischen Imperium und seinen Repräsentanten sucht. M. Ebner, B. Heininger, A. Winn u.a. haben in verschiedener Weise vorgeschlagen, das zweite Evangelium insgesamt als eine Art antiimperialen, genauer: einen antiflavischen Erzähltext zu lesen. Während der homo novus Vespasian kontinuierlich und durch Propaganda gestützt im Aufstieg befindlich sei, seinen cursus honorum konsequent absolviere, befinde sich Jesus als Christus und Gottessohn kontrafaktisch in einer Abstiegsbewegung, einem descensus, hin zum Kreuz.55 Meines Erachtens ist eine solche intentionale Ausrichtung dem Text des Markus insgesamt nicht zu entnehmen. Es wäre genauer zu fragen, ob und inwiefern ent52 53 54
55
Heininger, Theologie, 197. Vgl. zur Diskussion: Collins, Mark, 407. Im Mk wäre dies insbesondere in der Analyse von Mk 13,6 und 13,21f. zu zeigen, d.h. anhand des Rahmens im ersten Teil der Endzeitrede, in dem Mk sich kritisch mit verfehlten messianologischen Optionen auseinandersetzt. Weiter wären die verschiedenen von Josephus im 6. Buch seinem „Bellum Iudaicum“ berichteten Phänomene und Prodigien zu diskutieren. So Heininger, Theologie, 181–204; vgl. Winn, Purpose, passim.
Jesus und die Stadt im Markusevangelium
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sprechende „political“ oder „postcolonial approaches“ (denen teilweise ein stark materialistisch geprägtes Geschichtsbild zugrunde liegt) nicht stark deduktiv argumentieren: Für das, was man sachlich bzw. „politisch“ postuliert, werden Befunde bei Markus „gesucht“. Die Argumentationen scheinen vielfach vom Text her wenig zwingend. Argumentiert wird insgesamt mit so etwas wie „kumulativer Evidenz“. Die Textexegesen zeigen dann nicht mehr, sie illuminieren nur noch das einmal vorgefasste Modell.56 Nicht wirklich zu beantworten scheint dabei auch die Frage, welchen Nutzen eine frühchristliche Leserschaft um 70 n. Chr. aus der dem zweiten Evangelium unterstellten Aussageabsicht zu ziehen hätte, dass die erhöhte Gestalt, an die sie glaubt, ein „Anti-Cäsar“ sei.57 Gerade im Blick auf das Geschick der Städte ergeben sich Anfragen an einige der jüngeren „politischen“ Lektüremodelle des Markus. Auf die Geschichte Nordpalästinas gesehen, waren es in der jüngeren Vergangenheit der mk Zeit zunächst nicht die Römer, sondern die jüdischen Hasmonäer, die den Städten Zerstörung und Unterdrückung gebracht hatten und welche aufkeimende Ideen städtischer Freiheiten in vielen Gebieten erstickt hatten.58 In jüngsten antirömisch-antiimperialen Lektüren des Mk (nicht so z.B. bei Horsley und Myers) wird teils auch zu sehr abgeblendet, dass es sich beim Herodes-Haus, auf dessen Geschichte man in Caesarea Philippi trifft, um Juden gehandelt hat (vgl. die Gegnerschaft der Herodianer im Mk von früh an: Mk 3,6). „Unter jüdische Herrschaft zu geraten hatte für die Städte [...] schlimmere Folgen als unter der Herrschaft seleukidischer und ptolemaiischer Könige zu stehen, da die Hasmonaier eine rigorose Judaisierungspolitik betrieben und nicht wenige Städte zerstörten oder ihre Einwohner vertrieben“59. So war die Ankunft der Römer wahrscheinlich in den südsyrischen Städten eher willkommen, da Pompeius diese von der jüdisch-hasmonäischen Herrschaft befreite bzw. wieder aufbauen ließ. Strabo 56
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Diskutieren kann und muss man über in Mk 1,1 (vgl. Heininger, Theologie, 181–183). Fraglich scheint, dass die mk Sturmstillung als ein Kontrafakt zur der Geschichte bei Dio Cass 41 zu interpretieren ist, in der Caesar in einen Sturm gerät. Ob Mk 10,46–52 die Züge einer kaiserlichen Audienzszene trägt, ist äußerst unsicher. Ebenso ist der mk Kreuzesweg kaum als Parodie auf den römischen Triumphzug des Vespasian zu lesen etc. Im Markusevangelium sind die Römer gewiss als brutale Besatzungsmacht im Blick; v.a. im Passionsbericht wird die Grausamkeit der Soldaten herausgestellt, und Pontius Pilatus ist ein zutiefst ambivalenter Charakter. Zugleich aber gibt es auch den Centurio unter dem Kreuz, der zwar kein vollgültiges Christuszeugnis ablegt, jedoch etwas für die MkLeserschaft Gültiges formuliert. Anders als im Fall der Römer sind im zweiten Evangelium dagegen die Herodianer durchgängig die Feinde Jesu, d.h. das weit verzweigte jüdische Herodeshaus, besonders in der Gestalt des Herodes Antipas, der bei Markus nicht Tetrarch, sondern heißt. Die Bedeutung der Herodianer ist m.E. auch stärker zu beachten, wenn in Mk 13,9 die Gegenwart der Mk-Leserschaft avisiert wird als ein „Stehen vor Königen“ – im Plural. M.a.W.: Es sind die jüdischen Klientelkönige mit ihrer besonderen Gestalt jüdischer Frömmigkeit und jüdischer Politik, in denen sich nur indirekt die Macht Roms im zweiten Evangeliums bricht. Ein Problem der genannten politischen Lektüren des zweiten Evangeliums besteht auch darin, dass die positive Darstellungsfunktion der Wundertätigkeit Jesu um der scharfen Grenzziehung zur flavianischen Propaganda willen zu stark abgewertet werden muss (so z.B. bei Heininger, Theologie, 198). Die Wunder sind jedoch bei Mk nicht nur Ausdruck falsch verstandener Messianität (so ebd.) – vgl. dagegen schon das 1. Kapitel des Mk. Allerdings kann man auch nicht umgekehrt argumentieren, dass es Pompeius um die Befreiung der Städte als solche gegangen sei. Vielmehr zielte seine Neustrukturierung zunächst auf eine Limitierung der Macht der bzw. Völker (Bernhardt, Polis, 160). Bernhardt, Polis, 100.
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schreibt (16,755), dass Pompeius in den Städten „Tyrannen“ beseitigte (vgl. Plutarch, Pomp. 39,2).60 Wie Bernhardt herausarbeitet, galt die erste Sorge der Städte grundsätzlich stets dem Ziel, den Verlust ihrer Wirtschaftskraft durch Zerstörung zu vermeiden. Insofern waren die Städte in erhöhtem Maß darauf angewiesen, sich mit den jeweilig übergeordneten Herrschaftsverhältnissen zu arrangieren. Im 1. Jh. stellte sich die römische Herrschaft vielfach als das geringere Übel dar, sofern sie auch Schutz bot. Die Römer nutzten die Mittel permanenter Besatzung oder weiterer prophylaktischer Maßnahmen gegen Aufstände in den Städten der eroberten Gebiete in der Regel nur, wenn es Entwicklungen zwingend erforderlich machten; zugleich gewährten sie den Städten Privilegien. Diese kamen nicht allein der Aristokratie zugute. Es ist darum verfehlt, Vertretern der unteren Schichten in den Städten rein materielle „Konsumenteninteressen“ zu unterstellen. Vielmehr konnten auch die unteren Gesellschaftsschichten von römischer Städtepolitik profitieren und insofern ein (politisches) Interesse am Fortbestehen ihrer Stadt haben.61 Unter solchen Aspekten wird verständlich, dass die Städte in Galiläa sich nach Josephus im „Bellum Iudaicum“ sehr sorgfältig überlegten, ob sie sich dem jüdischen Aufstand anschließen sollten. Einige Städte wie Sepphoris taten das bewusst nicht.
Die Angabe „in/bei den Dörfern von Cäsarea Philippi“ in Mk 8,27 ist damit zusammengefasst ein weiteres Beispiel dafür, wie die konkrete Topologie des zweiten Evangeliums in enger Abstimmung auf lokale und geschichtlichpolitische Begebenheiten zu einem „active agent of meaning“ in der Erzählung wird. Die „kaiserliche“ Ortslage verweist durch ihre Integration in die erzählerische Routierung, den literarischen Kontext und die Bezüge zu den Ereignissen des Jüdischen Krieges und insbesondere jüdisch-messianologischen Optionen, wie sie auch von der römisch-flavianischen Propaganda benutzt wurden, auf eine eigene und besondere Konstellation im zweiten Evangelium.
5.
„Heilige Stadt“? – Ausblick zur Wahrnehmung Jerusalems im zweiten Evangelium
Nicht erst mit dem Anfang der Passionsgeschichte, und auch nicht erst mit dem Beginn der sogenannten Leidensansagen in Mk 8,31 ist deutlich: Jerusalem beschreibt den eigentlichen Fluchtpunkt der markinischen Gesamterzählung. Jerusalem ist dabei bereits früh mit den Gegnern Jesu konnotiert. Jerusalem ist „die“ Stadt, die einzige Stadt, die von Markus auch als solche gesehen wird (vgl. oben Punkt 1.), eine Stadt mit einer nachvollziehbaren Topographie, mit Marktplätzen, einer , staunenswerten Mauern, Toren und vor allem dem Tempel. All dies fällt auf im Vergleich zu den Städten, die Markus soweit erzählt hat. Jerusalem ist damit die Stadt im zweiten Evangelium, die als einzige ausdrücklich, ausführlich und dezidiert religiös kodiert und besetzt ist
60 61
Vgl. Bernhardt, a.a.O., 104. Vgl. Bernhardt, a.a.O., 124–139.
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– dies in den einzelnen Themenfeldern der Jerusalemstreitgespräche, ganz besonders aber in der Endzeitrede Mk 13.62 Was aber Jerusalem für die markinische Erzählung genauer und näherhin ist, was der Erzähler hier sieht und zeigt, wenn er mit seinen Lesern die Stadt betritt, ist nicht leicht zu beschreiben. Warum verbringt Jesus die Nächte im sorgfältig geplanten Tagesschema von Mk 11 an außerhalb der Stadt? Wie werden die Stadt, ihre Grenzen, die vorgelagerten Orte und das Gebiet genauer konzeptualisiert? Wie wertet die Erzählung die Stadt, ihren Tempel, ihre Institutionen und Repräsentanten? Beachtung verdient auch die Frage, was im erzählerischen Jerusalembild des zweiten Evangeliums alles fehlt. Zwar ist Jerusalem im Sinn des Markus gewiss nicht der „Ort der Sünde und des Todes“ – wie es klassisch Ernst Lohmeyer in seiner berühmten Untersuchung über „Galiläa und Jerusalem“ vertreten hat.63 Aber das Jerusalembild des Markus gewinnt doch eine eigentümliche Signatur; es fällt auf, wie wenig der Evangelist aus der Stadt macht gemessen an dem, was in jüdischer Literatur und Erwartung bereitstand: Eine entfaltete Zionstheologie kennt das zweite Evangelium nicht (vgl. aber Mk 11,17). Es fehlen zudem viele metaphorische Konzepte, die wir aus der frühjüdischen Literatur erwarten könnten: Jerusalem ist für Markus nicht Frauengestalt, nicht Mutter, Tochter, Braut oder Geliebte – wie wir die Stadt in frühjüdischen Texten gedeutet finden. Diese Beobachtungen lassen es fraglich erscheinen, dass Jerusalem in der Sicht des zweiten Evangeliums so etwas wie eine „heilige Stadt“ wäre.64 Der Tempel ist am Ende des Evangeliums v.a. insofern bedeutsam, als er der Ort der qualitativ vollgültigen Lehre Jesu ist. Sodann wird er vom markinischen Jesus als „Gebetshaus für alle Völker“ apostrophiert (Mk 11,17: "" ). Insofern die Verfluchung des Feigenbaums auf die Zerstörung des Tempels zielt und auch der abschließende Erzählrahmen der Jerusalemstreitgespräche in Mk 13,1f., nachdem Jesus den Tempel für immer verlassen hat, diese Zerstörung anspricht, stellt sich die Frage, wo solches Gebet in der Gegenwart noch möglich sein wird. Hiermit trifft man auf eines der erzählerischen Signale, mit denen die Markus-Leserschaft am Buchende nach Galiläa zurückverwiesen wird, hin zu eben jenen , über die wir eingangs sprachen, damit aber zu den Ansatzpunkten jener neuen
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Nirgends begegnet in der Erzählung z.B. einer religiös so multiformen Gegend wie der Dekapolis auch nur die Erwähnung eines fremdreligiösen Heiligtums. Lohmeyer, Galiläa, 33. Seine Aussagen über Jerusalem bei Mk tönen paulinisch. Demgegenüber sei Galiläa „das heilige Land des Evangeliums, die Stätte seiner eschatologischen Erfüllung“ (a.a.O., 29). Jerusalem ist bei Mk nicht „heiliger Raum“ im Sinn Mircea Eliades, nach dem der „heilige Raum“ einen Bruch in der Homogenität des profanen Raumes darstellt „durch eine Öffnung symbolisiert, die den Übergang von einer kosmischen Region zur anderen ermöglicht“, Jerusalem ist im zweiten Evangelium nicht axis mundi, um die sich die Welt dreht, Nabel der Welt, Mitte der Welt, Weltenberg o.ä., nicht Ort der Dauerhaftigkeit des Sakralen. Tempel und Berg sind nicht Orte, an denen Himmel und Erde sich berühren. Allerdings wäre der gesamt Erzählverbund ab Mk 11, insbesondere Mk 13, noch einmal gründlicher auf die Frage von Jerusalem-Konzeptionen hin zu untersuchen.
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Geschichte, die Markus im ersten Hauptteil seines Evangeliums reflektiert, die sich im Übergang vom Land zur Stadt neue Gebiete erschließt. Dafür, dass die markinische Jesusgeschichte Jerusalem als Stadt hinter sich lässt, spricht zuletzt auch: In Texten wie Mk 1, 5 und 7 kommt es an den städtischen Orten jeweils zur solennen Christusverkündigung, werden die Städte zum Resonanzraum des – obwohl Jesus dies vorösterlich untersagt (Mk 5). Am Ende in Jerusalem verhält es sich genau umgekehrt: Die engsten Jesusnachfolger – die Frauen, die bis zuletzt bei Jesus in der Stadt bleiben – erhalten einen Verkündigungsauftrag. Doch dieser verhallt im Schluss uneingelöst. So ist Jerusalem für Markus zuerst der Ort, an dem das Messiasgeheimnis im Zusammenhang von Kreuz und Auferstehung Jesu gelöst wird, indem sich der im Wissen der markinischen Christenheit Erhöhte als der Leidende und Sterbende offenbart. Und ein anderer Ort käme als agent of meaning hierfür nach Markus auch nicht in Betracht. Zuletzt aber gehen der Blick und der Weg zurück nach Galiläa in den Prozess jener Metabasis hinein, die im Sinn der markinischen Erzählung zum städtischen Christentum der Gegenwart geführt hat.
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Zwischen Tempel und Obergemach – Jerusalem als erste messianische Stadtgemeinde Rainer Riesner
1.
Jerusalem als antike Großstadt
1.1
Ausdehnung und Bevölkerungszahl
Jerusalem zur Zeit des Neuen Testaments war eine antike Großstadt. Mit dem Tempel und seinen Vorhöfen, die den größten Platz der Antike bildeten, besaß Jerusalem gleichsam das achte Weltwunder. Noch Tacitus sprach vom „Tempel der ungeheuren Pracht (immensae opulentiae templum)“ (hist. V 8) und Plinius der Ältere nannte Jerusalem die „weitaus berühmteste der Städte des Ostens (longe clarissima urbium Orientis)“ (nat.hist. V 70). Ganz Jerusalem war von herodianischer Architektur geprägt und vor allem auf Dorfbewohner muss das einen ungeheuren Eindruck hinterlassen haben. Nach Mk 13,1 soll ein galiläischer Jünger Jesu in den begeisterten Ruf ausgebrochen sein: „Lehrer, siehe, was für Steine und was für Bauten!“. Wie aus der Darstellung des Josephus hervorgeht, war sich Herodes der Große dieser propagandistischen Unterstützung seines Herrschaftsanspruches sehr wohl bewusst (ant. XV 326–330).1 Noch in einer Diskussion des Babylonischen Talmuds über den herodianischen Tempel findet sich ein Reflex der zeitgenössischen Bewunderung: „Wer nicht Jerusalem in seiner Herrlichkeit gesehen hat, hat niemals eine liebliche Stadt gesehen. Wer nicht das Heiligtum in seiner Bauausführung gesehen hat, der hat niemals einen Prachtbau gesehen“ (bSukk 51b Bar [Bill. I, 944]). Die Ausdehnung der Stadt im 1. Jahrhundert ist durch Mauerfunde genügend klar zu bestimmen und umfasste gegen Ende der Zeit des Zweiten Tempels ca. 450 Hektar.2 Notorisch schwer zu schätzen ist dagegen die Bevölkerungszahl. Aufgrund von entsprechenden Angaben bei Josephus (ant. XV 390; XX 219) wurde gelegentlich eine Zahl von 220.000 angenommen,3 aber das ist mit Sicherheit übertrieben. Joachim Jeremias ging von höchstens 30.000 Einwohnern aus,4 Wolfgang Reinhardt hält dagegen über 100.000 für möglich.5 Aufgrund eines Vergleichs mit der Bevölkerungsdichte von heutigen orientalischen Altstädten rechnete Magen Broshi6 mit 60.000 Einwohnern und das dürfte eher 1 2 3 4 5 6
Vgl. Lichtenberger, Baupolitik Herodes des Großen. Vgl. Avigad, Second Temple Period, 720f. Vgl. Byatt, Josephus. Vgl. Jeremias, Einwohnerzahl. Vgl. Reinhardt, Population Size. Vgl. Broshi, Population.
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die Mindestzahl sein.7 An den drei Wallfahrtsfesten kamen noch mehrere zehntausend Festpilger hinzu. Wie stark der Wallfahrtsbetrieb die Stadt prägte, lässt sich auch archäologisch nachweisen. Nicht nur große Tauchbäder in unmittelbarer Nähe zum Tempel, sondern auch monumentale Teichanlagen wie Siloah (Joh 9,7) und Bethesda (Joh 5,2) dienten der rituellen Reinigung der Pilgermassen (vgl. Joh 11,55).8
1.2
Soziale und religiöse Zusammensetzung
Als Stadt des Tempels war Jerusalem auch der bevorzugte Wohnort der sadduzäischen Oberschicht.9 Nach Josephus lebte sie in der Oberstadt auf dem Westhügel (bell. II 422.428), der klimatisch begünstigt ist und wo sich auch der Hohepriesterliche Palast befand (bell. II 426). Ausgrabungen im Bereich der Oberstadt belegen den Luxus der sadduzäischen Oberschicht.10 Nahman Avigad schloss aus seinen Ausgrabungen auf dem Westhügel: „The area housed wealthy, aristocratic families, who built their homes in conformity with the taste and style of the Hellenistic-Roman period“.11 Die aufgefundenen Bodenmosaiken ähneln denen in den herodianischen Königspalästen von Jericho und Masada. Manche der Wandfresken waren im Pompejanischen Stil ausgeführt. Sowohl Angehörige der Hohepriesterlichen Familien wie auch des Laienadels besaßen ausgedehnte Latifundien besonders in Judäa.12 Es war deshalb vielleicht nicht zufällig, dass Jesus gerade in seinem gegen Jerusalemer Sadduzäer gerichteten Weinberg-Gleichnis von einem Großgrundbesitzer und seinen aufrührerischen Pächtern erzählte (Mk 12,1–9).13 Albert I. Baumgarten hat die These vertreten, dass die Urbanisierung unter den Hasmonäern seit dem ausgehenden 2. Jahrhundert v. Chr. und besonders das starke Anwachsen von Jerusalem ein Faktor war, der die jüdische Gruppenbildung förderte.14 Jerusalem wurde zum Zentrum des Pharisäismus. Er fand seine Anhänger vor allem in der Mittelschicht.15 Sie war in Jerusalem besonders ausgeprägt, weil der Tempel- und Wallfahrtsbetrieb Handwerkern und Kleinhändlern viele Verdienstmöglichkeiten bot.16 So wurde auf den städtischen Müllhalden eine große Anzahl von unzerbrochenen Tontöpfen gefunden, die Pilger für die Zubereitung ihres Essens in der Stadt gekauft, aber nicht auf den Heimweg mitgenommen hatten.17 Sehr lange Zeit glaubte man, das TyropöonTal und die ehemalige Davidsstadt seien von der Unterschicht bewohnt gewe7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
Vgl. Wilkinson, Ancient Jerusalem; King, Jerusalem, 753. Vgl. Reich, City of David, 330–333. Vgl. Fiensy, Social History, 159–161; Z. Safrai, Economy, 377–379. Eine Zusammenfassung bei Avigad, Wealthy. Avigad, Second Temple Period, 729. Vgl. Applebaum, Judaea; Fiensy, Composition, 215–218. Vgl. Habbe, Palästina, 100f. Vgl. Baumgarten, City Lights. Vgl. Finkelstein, Pharisees. Vgl. Jeremias, Jerusalem, 66–98. Vgl. Reich, Jerusalem City-Dump.
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sen.18 Diese Annahme kann durch die archäologische Forschung als widerlegt gelten. Sie illustriert, wie Hillel Geva feststellt, „the intensive settlement and high standard of housing in this part of Jerusalem at the end of the Second temple period“.19 Allerdings reicht die Qualität der aufgefundenen Häuser nicht an die Extravaganz der Gebäude in der Oberstadt heran. Zahlreiche Funde von Ritualbädern20 und rituellen Steingefäßen21 weisen darauf hin, dass in der Unterstadt offensichtlich viele pharisäische Fromme lebten. Dazu passt, dass die Aufständischen im Jahr 66 bei Ausbruch des Jüdischen Krieges zuerst die Unterstadt unter ihre Kontrolle bringen konnten (bell. II 422). Josephus erwähnt auf dem Südwesthügel ein „Tor der Essener ( ')“ (bell. V 145). Dieses Tor wurde im Bereich des Protestantischen Friedhofs22 wiederausgegraben und konnte aufgrund der dabei gemachten Funde teilweise rekonstruiert werden.23 Es handelte sich um einen ausschließlich für Fußgänger bestimmten Durchlass. Schon Emil Schürer hatte angenommen, dass der Name des Tores auf ein essenisches Viertel in unmittelbarer Nähe hinweise.24 Moderne archäologische Erkenntnisse unterstützen diese Ansicht.25 Schon allein die einfachen Wohnhäuser in der Nähe des Tores sind für die Oberstadt völlig untypisch. Auffällig sind auch Ritualbäder, die sich durch ihre Größe von entsprechenden Installationen in Privathäusern unterscheiden und eher einer Gemeinschaft gedient haben. Besonders wichtig ist der Fund eines Friedhofs im benachbarten Beit Safafa.26 Er enthält nach Norden ausgerichtete Senkgräber ohne Ossuarien und Beigaben, was ihn von allen Jerusalemer Grablagen unterscheidet, aber mit den Bestattungen von Qumran verbindet. Gerade der dortige Friedhof weist in seiner besonderen Anlage auf die Siedlung einer abgeschlossenen jüdischen Sondergruppe wie die Essener hin.27 Aufgrund des ökonomischen Aufschwungs der Städte seit der hasmonäischen Zeit kamen auch viele verarmte Landbewohner nach Jerusalem, um dort Arbeit zu finden.28 Sie bildeten teilweise ein Proletariat, das in Zelten und Hütten außerhalb der Mauern und damit an der Peripherie der Stadt hauste.29 Aber diese soziale Gruppe ist schwer durch archäologische Funde nachzuweisen. Die Zahl der Tagelöhner dürfte die der jüdischen Sklaven in Jerusalem bei weitem
18 19 20 21 22
23 24 25 26 27
28 29
So etwa Ben-Dov, Shadow of the Temple, 155. Geva, Mount Zion, 1814. Vgl. Reich, City of David, 323–325. Vgl. Deines, Jüdische Steingefäße, 71–90. Gibson, Tage Jesu, 115–120, lokalisiert das Essenertor im Widerspruch zu Josephus (bell. V 142–145) in der Mitte der westlichen Stadtmauer. Vgl. dagegen Riesner, „Gate of the Essenes“; Bahat, Jerusalem, 231; Küchler, Jerusalem, 642–644. Vgl. Pixner/Chen/Margalit, Mount Zion. Vgl. Schürer, Geschichte, 657f., Anm. 5. Vgl. Riesner, Essener, 14–55. Vgl. Zissu, „Qumran Type“ Graves. Vgl. Hachlili, Burial Practices. Zu Qumran als einer Essener-Siedlung vgl. Magness, Archaeology; Betz/Riesner, Verschwörung um Qumran?, 85–116; Dimant, Vocabulary. Vgl. Hengel, Judentum, 101f. Vgl. Rohrbaugh, Pre-Industrial City.
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übertroffen haben.30 Schon allein im Neuen Testament wird sichtbar, dass der Tempel und die mit ihm verbundene Pflicht zur Mildtätigkeit Scharen von Bettlern anzogen (Joh 9,8; Apg 3,2). Neben der römischen Besatzung in der Festung Antonia (Apg 21,31f.) gab es eine offensichtlich nicht geringe Zahl von nichtjüdischen Besuchern Jerusalems (mMid 2,3; mSchek 1,5). Es handelte sich oft um aufgeschlossene Heiden, die den alttestamentlichen Glauben an seinem Zentrum besser kennenlernen wollten (Joh 12,20; Apg 8,27f.).31 Das wohl berühmteste Beispiel ist die zum Judentum übergetretene Königin Helena von Adiabene, die sich aus Liebe zu Jerusalem in der Unterstadt einen Palast (bell. V 253) und im Norden der Stadt eine monumentale Familiengrabanlage errichten ließ (ant. XX 95). Antoine Duprez hat sogar damit gerechnet, dass es im Gebiet des Bethesda-Teiches (Joh 5,2–4) ein heidnisches Heiligtum gegeben habe.32 Aber damit wurden die Verhältnisse der spätrömisch-heidnischen Colonia Aelia Capitolina fälschlich in die Zeit vor 70 n. Chr. zurückprojiziert.33 Die Heiligkeit ganz Jerusalems und besonders auch die unmittelbare Nähe zum Tempel schlossen die Existenz einer heidnischen Kultstätte völlig aus (vgl. Josephus, bell. II 169–174).
1.3
Mehrsprachigkeit
Erstaunlich ist die mit rund 30% verhältnismäßig große Zahl von griechischen Grabinschriften. Neben stark hellenisierten Angehörigen der Oberschicht gab es wohlhabende Diaspora-Juden, die aus Torahtreue in die Heilige Stadt übersiedelten. Wir kennen die griechischsprachige „Synagoge der Libertiner“ (Apg 6,9). Wahrscheinlich ist die auf dem Südosthügel gefundene griechische Theodotos-Inschrift (CIJ II Nr. 1404 [333]), die aus der Zeit vor der Tempelzerstörung stammt,34 ihr zuzuordnen.35 Die Inschrift erwähnt eine Fremdenherberge sowie Installationen zur Reinigung (Z. 5–8), die wahrscheinlich in Form einer großen Mikweh erhalten geblieben sind.36 Anders als bisher zu bestimmen ist das Verhältnis von Aramäisch und Hebräisch. Gustaf Dalman wollte aus den im Neuen Testament genannten Ortsnamen schließen, dass in Jerusalem Aramäisch als Umgangssprache vorherrschte.37 Eine kürzlich erschienene Arbeit von Guido Baltes bekräftigt dagegen die Ansicht israelischer Forscher, die in Judäa von der Exilszeit bis in die neutestamentliche Zeit mit Hebräisch als einer lebendigen Sprache rechnen.38 Jerusalem war im 1. Jahrhundert eine dreisprachige Stadt.
30 31 32 33 34 35 36 37 38
Vgl. Jeremias, Jerusalem, 124–127. Vgl. S. Safrai, Wallfahrt, 105–111. Vgl. Duprez, Jésus, 28–127. Vgl. Riesner, Bethanien, 156–161. Vgl. Kloppenborg, The Theodotos Synagogue. Vgl. Riesner, Synagogues, 192–200. Vgl. Reich, City of David, 74–76. Vgl. Dalman, Worte Jesu, 6. Vgl. Baltes, Hebräisches Evangelium, 85–149. Zu den Jerusalemer Ortsnamen a.a.O. 120–123.
Zwischen Tempel unnd Obergemach
Jerusalem zur Zeit Jesu (auss: Riesner, Herodianische Architektur, 193)
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2.
Die Jerusalemer Urgemeinde
2.1
Quellen
Neben zwei kurzen Notizen bei Josephus und einigen wichtigen Informationen bei Paulus will auch die Apostelgeschichte über die Jerusalemer Urgemeinde berichten. Der Geschichtswert der Acta ist gerade hier überaus umstritten. Den folgenden Ausführungen liegen zwei Annahmen zu Grunde. Mit Martin Hengel39 gilt der zeitweilige Paulus-Begleiter Lukas (Phlm 24; Kol 4,14) als Verfasser der Apostelgeschichte.40 In seinem neuen großen Lukas-Kommentar rechnet jetzt auch Michael Wolter mit einem Paulus-Begleiter als Autor, ohne sich allerdings auf den Namen Lukas festzulegen.41 Wenn die Wir-Berichte vom Verfasser stammen und keine bloße Fiktion sind, dann hat er im Jahr 57 zusammen mit dem Apostel Paulus Jerusalem besucht und die damalige Urgemeinde selbst kennengelernt (Apg 21,15–26). Dafür sprechen auch die durchaus guten Kenntnisse der Heiligen Stadt und des Tempels.42 Des Weiteren wird hier die These von Paul Feine,43 Harald Sahlin44 und Raymond A. Martin45 wieder aufgenommen, dass die aus judenchristlichen Kreisen in Judäa stammende lukanische Sonderüberlieferung sich nicht nur im Evangelium bemerkbar macht, sondern bis in die Apostelgeschichte hinein reicht.46 Wie vor allem eine Reihe von Semitismen nahe legt, die bei weitem nicht alle als Septuagintismen erklärt werden können,47 umfasste diese Überlieferung Teile von Apg 1–12 und 15. Diese Tradition muss kritisch ausgewertet werden, aber die historische Nachfrage ist keinesfalls aussichtslos.
2.2
Entstehung
Die Jerusalemer Gemeinde ist offensichtlich in unmittelbarem Zusammenhang mit den Osterereignissen im April des Jahres 30 n. Chr. entstanden. Dafür gibt es zwei konvergierende chronologische Argumente. Adolf Schlatter48 hatte Recht, dass die Emmaus-Erzählung (Lk 24,13–35) auf den Augenzeugenbericht des Herrenverwandten Kleopas (Euseb, HE III 11) zurückgeht (Lk 24,18).49 Dann fand aber die dort kurz erwähnte (Lk 24,34) und auch von Paulus als die 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49
Vgl. Hengel, Evangelien, 345–349. Vgl. Riesner, Apostelgeschichte. Vgl. Wolter, Lukasevangelium, 4–10. Vgl. Riesner, Herodianische Architektur, 165–179. Vgl. Feine, Überlieferung. Vgl. Sahlin, Messias. Vgl. Martin, Syntactical Evidence, 87–108. Vgl. Riesner, James’ Speech. Vgl. M. Wilcox, Aramaic Background, 365–371; Edwards, Hebrew Gospel, 125–147. Vgl. Schlatter, Kirche, 26. Vgl. Riesner, Emmaus-Erzählung.
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Ersterscheinung vor einem Jünger bestätigte Begegnung des Petrus mit dem Auferstandenen (1Kor 15,5) am dritten Tag nach der Kreuzigung Jesu in Jerusalem statt.50 Die galiläischen Erscheinungen waren zeitlich später. Auch die paulinische Chronologie spricht dafür, dass sich schon im ersten Jahr nach den Osterereignissen in Jerusalem eine größere Gemeinde sammelte. Nach einigen in aller Verschiedenheit doch konvergierenden altkirchlichen Nachrichten, die auch Adolf von Harnack für zutreffend hielt,51 gehört die Berufung des Paulus am ehesten in das „zweite Jahr nach dem Aufstieg des Herrn (anno secundo ab ascensione Domini)“ in den Himmel (ActPl [TU NF 7/2,130]) und das wäre um 31 n.Chr.52 Vorher hatte Paulus die Jerusalemer Urgemeinde verfolgt (Gal 1,13; Apg 22,3f.).53 Darüber hinaus zeigt James D.G. Dunn, dass hinter der Pfingsterzählung (Apg 2,1–13), trotz aller Einwirkung von lukanischer Theologie, die Erinnerung an besondere charismatische Erfahrungen am ersten Wochenfest nach dem Todespassah Jesu steht.54 Solche Erfahrungen bestärkten die Jerusalemer Gemeinde in dem Bewusstsein, die bzw. die (Gal 1,13) zu sein, die endzeitliche „Gemeinde Gottes“.55 Zu diesem Sprachgebrauch existieren Qumran-Parallelen (1QM 4,10; 1QSa 1,25 [em.]). Auch die Bezeichnung der Urgemeinde als „der Weg (" " )“ (Apg 9,2; 19,9.23; 22,4; 24,14.22) ist kaum lukanisch, sondern eher eine Selbstbenennung der Jerusalemer, zu der es ebenfalls eine parallele Ausdrucksweise in Qumran ( ) gibt (1QS 9,17f.; 1QM 14,7; CD 1,13 usw.).56
2.3
Geschichte
Die Situation der Jerusalemer Urgemeinde an dem Ort, wo Jesus als Verbrecher hingerichtet worden war, blieb immer prekär. Das zeigen die ersten Kapitel der Apostelgeschichte hinreichend deutlich, ohne dass man jede Einzelheit für historisch halten müsste.57 Die Gefährdung der Jerusalemer Judenchristen bestätigt Paulus 50 n.Chr. im ersten Thessalonicher-Brief (1Thess 2,14).58 Besonders einschneidend war die Verfolgung unter Agrippa I, die eher gleich zu Beginn seiner Herrschaft im Jahr 41 stattfand (Apg 12,1–19).59 Seit dieser Zeit war Jerusalem nicht mehr der Sitz des Zwölfer-Kreises (s. Punkt 4.1) und der Herrenbruder Jakobus wurde zur unumstrittenen Führungspersönlichkeit (Gal 2,9; Apg 21,18). Nach seinem auch von Josephus bezeugten Martyrium im Jahr 62 (ant. XX 199–203) blieb die Gemeindeleitung mit Symeon, dem Sohn des 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59
So auch Jeremias, Neutestamentliche Theologie, 288–291. Vgl. von Harnack, Chronologische Berechnung. Vgl. Riesner, Frühzeit, 52–65. Vgl. Légasse, Pre-Christian Career, 365–390. Vgl. Dunn, Christianity, 156–171. Vgl. Roloff, Kirche, 83f. Vgl. Repo, Weg; Fitzmyer, Luke, 242f. Vgl. Bammel, Jewish Activity; Wander, Trennungsprozesse, 98–122. Vgl. Bockmuehl, 1 Thessalonians. Vgl. Riesner, Frühzeit, 95–110.
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Kleopas, in der Großfamilie Jesu (Euseb, HE III 11; 32,1–3).60 Noch vor der Einschließung Jerusalems durch die Römer im Jahr 68 floh die Urgemeinde ins Ost-Jordan-Land (HE III 5,3).61 Ein Teil kehrte aber sehr bald in die Heilige Stadt zurück (Eutychius, CSCO 472,47) und das ist für die Frage nach der Tragfähigkeit christlicher Lokaltraditionen sehr wichtig.62 Eusebius sprach für die Zeit zwischen den beiden Jüdischen Kriegen von einer immer noch „sehr großen Kirche Christi in Jerusalem aus den Juden ( […] 7 80 '0 )“ (Dem Ev III 5 [GCS 23,131]), die offenbar bis zum Bar-Kochba-Aufstand von Herrenverwandten geleitet wurde.63 Schon vor diesem Aufstand gab es in Jerusalem auch Heidenchristen (Euseb, Theophania IV 24), die über die Katastrophe der Jahre 132–135 hinaus Überlieferungen bewahren konnten.64 Vor allem Ortstraditionen, die auf die vorbyzantinische Zeit zurückgehen, verdienen eine ernsthafte Prüfung.
3.
Gruppen in der Urgemeinde
3.1
Galiläische Jesus-Anhänger und -Anhängerinnen
Den Kern der Urgemeinde bildeten der Zwölfer-Kreis und andere galiläische Anhänger Jesu (Apg 1,13f.). Sie wären in ihrer Heimat sicherer gewesen, hielten aber trotz andauernder Gefährdung hartnäckig in der Heiligen Stadt aus. Einen wesentlichen Grund dafür fanden sie im Alten Testament. Nach den großen Verheißungen in Jesaja 2 und Micha 4 würde das endzeitliche Wort Gottes von Jerusalem ausgehen und die Heidenvölker zu einer grandiosen Wallfahrt zum Gott Israels veranlassen. Wenn Paulus die Korinther kritisch fragte, ob denn „das Wort Gottes von ihnen ausgegangen sei ( ' " " % )“ (1Kor 14,36), so dürfte dieses Verständnis der Weissagung von Jes 2,3 dahinter stehen.65 Dazu kam ein sozusagen missionsstrategischer Grund. Wenn man nach Ostern ganz Israel zur Umkehr rufen wollte, dann war Jerusalem mit seinen großen Wallfahrtsfesten der am besten geeignete Ort. Neben den Zwölfen nennt Lukas unter den Gruppen in der Jerusalemer Urgemeinde betont „Frauen“ (Apg 1,14). Das ist ein Rückverweis auf Frauen, die Jesus von Galiläa nach Jerusalem „nachgefolgt waren“ (Lk 23,49.55), unter ihnen Maria Magdalena, Johanna, die Frau des herodianischen Verwalters Chuza, und Maria, die Mutter des Jakobus (Lk 24,10; vgl. 8,1f.). Haben sie in Jerusalem ein gemeinsames Leben geführt, wie es vielleicht Gemeinschaften unverhei-
60 61 62 63 64 65
Vgl. Bauckham, Jude, 79–93. Vgl. Pritz, Nazarene Jewish Christianity, 122–127; Koester, Origin. Vgl. Pixner, Wege des Messias, 304. So Harnack, Geschichte, 220 Anm. 2. Vgl. Riesner, Essener, 68–72. Vgl. Müller, Jerusalem, 153f. Vgl. Bruce, 1 and 2 Corinthians, 136; Wolff, 1. Korinther, 346.
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rateter essenischer Frauen taten?66 In Lydda bestand offensichtlich eine Art messianische Witwenkommunität (Apg 9,36–43), von der aus Verbindungen zur Witwenordnung der Pastoralbriefe (1Tim 5,3–16) reichen könnten.67 In der Jerusalemer Urgemeinde spielten prophetisch begabte Frauen eine Rolle. Der aus Jerusalem vertriebene Hellenist Philippus hatte mehrere weissagende Töchter (Apg 21,8f.). Die Pfingstpredigt des Petrus bezieht sich auf die Endzeitverheißung aus Joel 3,1, nach der „eure Söhne und Töchter prophezeien werden“ (Apg 2,17). In dem vermutlich aus der Urgemeinde stammenden Stück 2Kor 6,14–7,1 (s. Punkt 5.1) ist der Anspielung auf 2Sam 7,14 eine Erwähnung der „Töchter“ hinzugefügt (2Kor 6,18). Erinnerungen galiläischer Nachfolgerinnen Jesu gingen offenbar in die lukanische Sonderüberlieferung ein.68 Dass auch einige männliche Jesus-Anhänger aus Galiläa nach Jerusalem übersiedelten, zeigen Beispiele wie Josef Barsabbas und Matthias (Apg 1,23).
3.2
Die Großfamilie Jesu
Die Evangelien haben die Erinnerung daran bewahrt, dass es vor Ostern einen Konflikt zwischen Jesus und mindestens Teilen seiner Großfamilie gab (Mk 3,21f.; Joh 7,2–9). Umso erstaunlicher ist, dass nach Lukas diese Gruppe eine wesentliche Größe in der Jerusalemer Urgemeinde darstellte (Apg 1,14; 12,17). Bestätigt und erklärt wird dieses Phänomen durch Paulus, wonach dem Herrenbruder Jakobus eine besondere Ostererscheinung widerfuhr (1Kor 15,6). Auch dadurch wurde begründet, dass Jakobus früh den Kristallisationspunkt für einen Teil der Urgemeinde bildete. Paulus hebt ihn schon bei seinem ersten Jerusalem-Besuch um 33/34 als einzigen neben Petrus hervor (Gal 1,19) und macht später durch die Nennung des Jakobus als erstem unter den drei „Säulen“ der Urgemeinde (Gal 2,9) seine führende Stellung deutlich. Die Bedeutung des Jakobus ist in der neutestamentlichen Wissenschaft lange unterschätzt worden, obwohl ihn auch Lukas gerade an entscheidenden Wendepunkten seiner Darstellung bewusst einführt (Apg 12,17; 15,13–21; 21,18–26). Erst seit rund zwanzig Jahren hat es einen gewissen Boom von Veröffentlichungen über diesen Großen des Urchristentums gegeben.69 Es ist damit zu rechnen, dass die Gruppe um Jakobus einen eigenen Typ der Jesus-Überlieferung ausgebildet hat. Mit dem formgeschichtlichen Pionier Martin Albertz70 und einem modernen Forscher wie Frédéric Manns71 darf man annehmen, dass sie uns in Form der lukanischen Sonderüberlieferung erhalten geblieben ist.72 Dafür spricht vor allem auch die 66 67 68
69
70 71 72
Vgl. Baumgarten, 4Q502; Elder, The Women Question. Vgl. Riesner, Essener, 63, 104. Vgl. schon Boman, Jesus-Überlieferung, 126–133, und auch Hengel, Lukasprolog, 293– 297. Vgl. Pratscher, Herrenbruder; Adamson, James; Bernheim, James; Painter, Just James; Chilton/Evans, James; Bauckham, James; Chilton/Neusner, Brother of Jesus; Hengel, Jakobus und Paulus. Vgl. M. Albertz, Botschaft, 204–207. Vgl. Manns, Document. Vgl. Riesner, Prägung. Vgl. auch Byrskog, Story, 82–91.
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Emmaus-Erzählung (Lk 24,13–35), die aus der Tradition der Großfamilie Jesu stammt (s. Punkt 2.1). Auffällig bei der lukanischen Sonderüberlieferung sind außer der Familienprägung (vgl. Lk 2,19.51) das judäische Lokalkolorit,73 der oft hebraisierende Charakter74 sowie die gelegentliche Nähe zu Sprache und Vorstellungen von Qumran.75
3.3
Pharisäische und essenische Konvertiten
Schon vor einem halben Jahrhundert bemerkte der große Erforscher des Judenchristentums, Jean Daniélou, dass sich im Urchristentum der Pluralismus der frühjüdischen Gruppen widerspiegele.76 Über pharisäische Konvertiten besitzen wir direkte Nachrichten (Apg 15,5) und Saulus ist nur der berühmteste unter ihnen (Phil 3,5; Apg 23,6). Pharisäisch geprägte Messiasgläubige traten in Jerusalem für die Sicht ein, Heidenchristen müssten durch Beschneidung und Übernahme der ganzen Torah in das eschatologische Gottesvolk integriert werden (Apg 15,1–5; vgl. Gal 2,11–13). Auch wenn sie sich damit nicht durchsetzen konnten (Apg 15,6–29), blieben solche pharisäische Konvertiten doch offensichtlich ein namhafter Bestandteil der Jerusalemer Gemeinde. Für sie war der Herrenbruder Jakobus eine wichtige Integrationsfigur. Beim letzten Besuch des Paulus in der Heiligen Stadt wies ihn Jakobus auf die Notwendigkeit hin, auch das Vertrauen solcher zu gewinnen, die „Eiferer für das Gesetz (9 )“ waren (Apg 21,20). Friedrich Wilhelm Horn hält es für möglich, dass Paulus damals tatsächlich auf den Vorschlag des Herrenbruders eingegangen ist, die Auslösung judenchristlicher Nasiräer zu bezahlen und so seine Treue zum Tempel zu zeigen (Apg 21,23–27).77 Gleich zu Beginn seiner Darstellung in der Apostelgeschichte führt Lukas „das Obergemach ( "!)“ als eine feste Größe ein (Apg 1,13).78 Für dieses erste Zentrum der Jerusalemer Urgemeinde gibt es auf dem Südwesthügel, dem heutigen Zionsberg, eine Ortstradition (Epiphanius, De mensuris et ponderibis 14 [PG 43,260]), die bis in die Zeit vor dem Bar-Kochba-Aufstand zurückreicht.79 Es fällt auf, dass dieses Zentrum unmittelbar neben dem Gelände lag, das für das Essener-Quartier anzunehmen ist.80 Étienne Trocmé bemerkte dazu: „Die Tatsache, dass es wahrscheinlich ein essenisches Viertel in Jerusalem gab, würde leicht erklären, wie Beziehungen zwischen den beiden Gruppen zustande gekommen sind“.81 Eine ganze Reihe von Forschern82 dachte bei der 73 74 75
76 77 78 79
80 81
Vgl. Riesner, Lokalkolorit. Vgl. Edwards, Hebrew Gospel, 292–332; Baltes, Hebräisches Evangelium, 590f. Beispiele sind Lk 1,32–35 (4Q246), 2,14 (1QH 4,32–33; 11,9; 4QhAc 18); 16,8 („Söhne des Lichts“). Zum letzten Text vgl. Flusser, Jesus’ Opinion. Daniélou, Anfänge, 43. Vgl. Horn, Paulus, 198f. Vgl. Pesch, Apostelgeschichte, 78. Vgl. Murphy-O’Connor, The Cenacle; Mimouni, Le judéo-christianisme ancien, 369– 387; Lourié, Calendrical Implications. Vgl. Riesner, Essener, 2–83. Trocmé, Die ersten Gemeinden, 60.
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„großen Menge von Priestern, die dem Glauben gehorsam wurden“ (Apg 6,7), an essenische Konvertiten.83 Wenn Apg 2,41 und 2,47 bei der Aufnahme von Neubekehrten in Jerusalem vom „Hinzufügen ( )“ sprechen, so hat das sogar Herbert Braun als eine zu Qumran parallele Ausdrucksweise ( ) gelten lassen (1QS 6,14; 8,19; CD 13,11).84 Angeregt durch die Besitzlosigkeit des engsten Jüngerkreises Jesu, die in der lukanischen Sonderüberlieferung besonders akzentuiert wird (Lk 5,28; 14,33 usw.), und den Zustrom bekehrter Essener kam es in einem Teil der Urgemeinde zur Gütergemeinschaft (Apg 2,44f.; 4,32–35). Sicher deutete Lukas für seine hellenistischen Leser auch an, wie sich in Jerusalem erfüllt hat, was Philosophen wie Plato (Resp V 462C) und Aristoteles (Leg V 739B–D) in ihren Utopien erhofften,85 aber er ging dabei von einer zutreffenden Überlieferung aus.86 Bereits Johannes Chrysostomus hatte angenommen, dass in dem in Gütergemeinschaft lebenden Teil der Urgemeinde die Sklaverei aufgehoben war (Hom 11,3 in Acta [PG 60,97]). Dafür spricht die Analogie der innersten essenischen Gruppe, von deren Gütergemeinschaft Philo (Omn Prob Lib 79) und Josephus (ant. XVIII 20f.) fälschlich auf die generelle Abschaffung der Sklaverei bei den Essenern geschlossen haben. Die nichtzölibatären essenischen Gemeinschaften besaßen aber Sklaven (CD 11,12; 12,6.10ff). Es ist bemerkenswert, wie Egon Flaig, ein Experte für die Erforschung der Sklaverei, die so genannte Antrittspredigt Jesu in Nazareth kommentiert: „Jesus verkündigt, das Reich Gottes, in welchem die Sklaverei mit anderen Übeln verschwinden werde, stehe unmittelbar bevor (Lukas 4,16ff)“.87 Rainer Albertz hat herausgearbeitet, dass aufgrund des alttestamentlichen Mischzitats in Lk 4,18f. (Jes 61,1–3 und 58,6) bei dem „Verkündigen einer Entlassung der Gefangenen (% )“ das „wörtliche soziale Verständnis“ am nächsten liegt, rechnet hier aber nur mit lukanischer Redaktion.88 Doch finden sich die besten frühjüdischen Parallelen zu Lk 4,16–30 in den beiden Qumran-Texten 11QMelchisedek (11Q13) und der messianischen Apokalypse 4Q521.89 Das ist einer der Gründe, der die Aufnahme einer vorlukanischen Tradition wahrscheinlich macht,90 die in der Jerusalemer Urgemeinde mit ihrem endzeitlichen Bewusstsein Wirkung entfalten konnte. Allerdings brachte diese Sozialstruktur auch eine Anfälligkeit gegen lokale Hungersnöte und damit eine Abhängigkeit von anderen Gemeinden mit sich (Apg 11,27–30; 12,25), weil Barmittel für den Ankauf von Brotgetreide aus anderen Teilen des römischen Reiches fehlten (vgl. Josephus, ant. XX 51–53.101).
82
83 84 85 86 87 88 89 90
Vgl. immer noch Spicq, L’épître aux Hébreux, und auch Schenke, Urgemeinde, 40–45; Pixner, Wege des Messias, 333; Fitzmyer, Acts, 351. Vgl. Riesner, Essener, 84–86. Vgl. Braun, Qumran, 143. Vgl. Plümacher, Lukas, 16–18; Mealand, Community. Vgl. Capper, Community of Goods; Capper, Essene Community Houses. Flaig, Sklaverei, 79. R. Albertz, Antrittspredigt, 206. Vgl. Falcetta, Call of Nazareth. Vgl. Jeremias, Sprache, 119–128; Bovon, Lukas I, 207f; Bock, Luke I, 394–398.
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80
3.4
Hebräer und Hellenisten
Trotz seiner irenischen Tendenz verschweigt Lukas nicht, dass es in der Urgemeinde bald zu einem Konflikt zwischen „Hebräern und Hellenisten“ kam (Apg 6,1–6). Wie schon Johannes Chrysostomus richtig sah (Hom 14,1 in Acta [PG 60,113]), bezeichnen beide Begriffe erst einmal nur den Unterschied in der hauptsächlich gebrauchten Sprache.91 Allerdings unterschieden sich offenbar die jeweiligen Mehrheiten der beiden Gruppen in soziologischer Hinsicht. Anlass des Streites war, dass „die Witwen der Hellenisten bei der täglichen Versorgung ( ) übersehen wurden“ (Apg 6,1). Wie Brian J. Capper gezeigt hat, findet die „tägliche Versorgung“ ihre nächste Parallele in einer Schilderung Philos von essenischen Gemeinschaftsmählern (Hypoth 11,10f.).92 Wenn die Mehrheit der „Hebräer“ in Gütergemeinschaft lebte, dann war auf diese Weise für ihre Witwen gesorgt. Die Bezeichnung „Hebräer“ wird noch einmal verständlicher, wenn sich unter ihnen viele essenische Konvertiten befanden, welche die heilige Sprache auch als Umgangssprache nutzten. Entgegen einer weit verbreiteten Meinung bedeuten Begriffe wie ", ": usw. wirklich Hebräisch und nicht Aramäisch.93 Es scheint, dass die Mehrheit der „Hellenisten“ sich nicht der Gütergemeinschaft anschloss. Die zumindest zweisprachige Familie des Johannes Markus besaß jedenfalls weiter ein stattliches Haus und wenigstens eine Sklavin (Apg 12,12–14). Der Landverkauf seines aus der zyprischen Diaspora zugezogenen Onkels Joseph Barnabas (Kol 4,10) wird möglicherweise als bemerkenswerter Einzelfall geschildert (Apg 4,36f.). Weil die hellenistischen Witwen nicht an der Gütergemeinschaft der „Hebräer“ Anteil haben konnten, musste für sie durch die „Sieben“ eine eigene Versorgung organisiert werden (Apg 6,2–6). Die Mehrheiten der beiden Gruppen nahmen auch eine unterschiedliche Haltung zum Tempel ein. Die „Hebräer“ hielten an ihm als einem Ort des Gebetes fest (Apg 2,46), manche brachten dort sogar Opfer dar (Apg 21,23–26). Sie konnten sich durch das Wort Jesu bestärkt fühlen, wonach das Jerusalemer Heiligtum „ein Haus des Gebetes für alle Völker“ (Jes 56,7) sein sollte (Mk 11,17).94 Durch ihr Festhalten am Tempel versuchten diese konservativen Judenchristen gleichsam, die Völkerwallfahrt zum Zion vorzubereiten (s. Punkt 3.1). Die Mehrheit der „Hellenisten“ folgte dagegen Stephanus in seiner tempelkritischen Haltung, für die er sich auf die Zerstörungsprophetien Jesu berufen konnte (Apg 6,13f.; vgl. Mk 14,58). Das machte die „Hellenisten“ zur vorrangigen Zielscheibe sadduzäischer Verfolgung (Apg 8,1; 11,19f.). Gerd Theißen bemerkt zur politisch-sozialen Dimension dieses Konflikts: „Wenn […] jemand in Jerusalem mit einer Prophetie gegen den Tempel auftrat und dessen Zerstörung ankündigte, so müssen das diejenigen als Kampfansage verstanden haben, die den Tempel mit ihren Händen erbaut hatten und deren sozialer Besitzstand 91 92 93 94
Vgl. Hengel, Jesus und Paulus. Vgl. Capper, Palestinian Cultural Context, 350–355. Vgl. Baltes, Hebräisches Evangelium, 133–144. Vgl. Jeremias, Jesu Verheißung, 56.
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81
von diesem Tempelbau abhing […] Damit konnte man an die existenziellen Ängste vieler Menschen in Jerusalem appellieren“.95 Aufgrund ihrer positiven Haltung zum Tempel wurden die „Hebräer“ in Jerusalem eher geduldet, obwohl auch sie an Jesus als den Messias glaubten und deshalb immer wieder Diskriminierungen und Verfolgungen erleiden mussten. Ein lebender Jesus mit messianischem Anspruch galt der sadduzäischen Mehrheit des Synhedriums als politische Gefahr. Vor allem hatte sein messianisches Selbstbekenntnis die Möglichkeit geboten, bei Pilatus einen Kapitalprozess gegen ihn anzustrengen (Mk 14,61–64; 15,1–5).96 Der ursprüngliche Anklagepunkt war aber Jesu Weissagung gegen den Tempel gewesen (Mk 14,55–59). Wenn die „Hebräer“ am Tempel festhielten, dann fehlte aus sadduzäischer Sicht der wichtigste Anklagegrund. Dass die Jerusalemer Judenchristen einen toten Messias verehrten, konnte man notfalls als religiöse Phantasterei abtun. Nach Lukas hätte der pharisäische Schriftgelehrte Gamaliel I. im Synhedrium zu Gunsten der Jerusalemer Urgemeinde interveniert (Apg 5,34–39)97 und diese Darstellung erfährt durch die Beschwerde der Pharisäer gegen die unrechtmäßige Hinrichtung des Herrenbruders Jakobus unter Ananus II. eine gewisse Unterstützung (ant. XX 201f.). Solche Vorgänge müssen nicht für theologische Sympathien gegenüber den Judenchristen sprechen, sondern konnten auch dadurch begründet sein, dass die Pharisäer den Sadduzäern ihre Grenzen beim Vorgehen gegen andere Religionsparteien aufzeigen wollten. Vielleicht genoss der konservative Teil der Urgemeinde auch im Windschatten des EssenerViertels einen gewissen Schutz. Trotz der Treue zum irdischen Heiligtum übertrug man in der Jerusalemer Urgemeinde Tempelmetaphorik auf die eigene Gemeinschaft. Jakobus, Petrus und Johannes galten als „Säulen ()“ im geistlichen Tempel der messianischen Gemeinde (Gal 2,9).98 Innerhalb dieser Metaphorik konnten Bilder für den Tempel und die Heilige Stadt ineinander übergehen. Vielleicht stammt auch die Bezeichnung der zwölf Apostel als „Fundamente ( )“ des himmlischen Jerusalem (Apk 21,14) aus der Urgemeinde.99 Ein wesentlicher Auslöser für derartige Redeweisen war bestimmt, dass schon Jesus solche Metaphorik gebraucht hatte, wenn er vom endzeitlichen Gottesvolk sprach, das er zu sammeln begann (Mk 14,58; Mt 16,18). Aber es bleibt trotzdem auffällig, dass wir außer der Jerusalemer Urgemeinde die Essener als einzige frühjüdische Gruppe kennen, die sich sowohl als geistlicher Tempel sah (4QpIsad) als auch die Verheißung des „neuen Bundes“ (Jer 31,31) auf sich anwandte (CD 20,12–14; 1QpHab 3,3 [em.]).100 Bei anderen Selbstbezeichnungen der Urgemeinde hat sich ebenfalls eine Nähe zur Sprache von Qumran gezeigt (s. Punkt 2.2).
95 96 97 98 99 100
Theißen, Tempelweissagung, 157. Vgl. Betz. Prozess Jesu. Vgl. Pesch, Apostelgeschichte, 222; Bock, Acts, 249–252. Vgl. Mussner, Galaterbrief, 120f; Dunn, Galatians, 109f. Vgl. Draper, Apostles. Vgl. Riesner, Bund; Donfried, Paul the Jew, 724f.
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82
3.5
Bleibende Pluralität
Die Verfolgung der „Hellenisten“ und die Auflösung des Zwölfer-Kreises stärkten die konservativen Judenchristen, die sich um Jakobus sammelten. Der antiochenische Zwischenfall zeigt, wie Jerusalem versuchte, auch auf Gemeinden außerhalb der Heiligen Stadt Einfluss zu nehmen (Gal 2,11–13).101 Vielleicht gehört der an „die zwölf Stämme in der Zerstreuung“ gerichtete Jakobus-Brief (Jak 1,1), der sich jüdischen Diaspora-Briefen vergleichen lässt,102 in diesen Kontext.103 Es gab aber weiterhin anders geprägte messiasgläubige Gruppen in Jerusalem, wenn auch in einer Minderheitsposition. Paulus fand im Jahr 57 bei dem Hellenisten Mnason Unterkunft (Apg 21,16), der entweder nicht vertrieben worden oder zurückgekehrt war. Petrus behielt wohl über den Haushalt der Maria, der Mutter des Johannes Markus, Einfluss (Apg 12,12). Man kann fragen, ob es einen Kreis um den Jünger Johannes gab, den Paulus unter den drei „Säulen“ nannte (Gal 2,9). Wenn Johannes’ Bruder Jakobus von Agrippa I gezielt hingerichtet wurde (Apg 12,1f.), so weist das auf ihn als eine wichtige Führungspersönlichkeit hin. Falls ein besonderer johanneischer Kreis existierte, dürfte er eine eigene Form der Jesus-Überlieferung ausgeprägt haben. Rudolf Schnackenburg schloss aus den Berührungen zwischen dem Lukas- und dem Johannes-Evangelium: „Beide Evangelisten hatten offenbar einen stärkeren Zugang zu einer in Judäa und Jerusalem konzentrierten Tradition“.104
4.
Urgemeinde oder Urgemeinden?
4.1
Die Zeit der „Zwölf“
Die unbestreitbare Pluralität von Strömungen innerhalb der an Jesus als den Messias Gläubigen in Jerusalem weckt die Frage, ob man überhaupt von einer Urgemeinde im Singular sprechen kann. Für das erste Jahrzehnt nach Kreuz und Auferstehung trifft das gewiss zu, da während dieser Zeit der ergänzte Zwölferkreis das Leitungsgremium bildete, das durch Jesus selbst für das eschatologische Gottesvolk eingesetzt worden war (Mt 19,28/Lk 20,30). Es gibt eine altkirchliche chronologische Tradition, die unter anderem von Clemens Alexandrinus (strom. VI 43,3), dem Antimontanisten Apollonius (Euseb, HE V 18,14) und den Petrus-Akten (ActPetr 5,22) bezeugt wird, dass nämlich die Aposteltrennung zwölf Jahre nach Kreuz und Auferstehung stattfand. Das wäre um 41/42 gewesen und stimmt auffallend mit dem wahrscheinlichsten Datum für die Verfolgung unter Agrippa I überein (s. Punkt 2.3). Sicher haben die Zwölf vor101 102 103 104
Vgl. Bockmuehl, James, 49–84. Vgl. Niebuhr, Jakobusbrief. Vgl. Carson/Moo, Einleitung, 755f. Schnackenburg, Johannesevangelium I, 22.
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83
her auch Gemeinden in Judäa, Samarien und Galiläa besucht (Apg 8–10), aber ihr Sitz blieb Jerusalem. Erst das Martyrium von Jakobus, dem Sohn des Zebedäus (Apg 12,1f.), die Flucht des Petrus (Apg 12,17) und visionäre Erlebnisse (Apg 10,9–23) überzeugten sie davon, schon jetzt zu den Heiden hinaus zu gehen. Vielleicht sah man sich dazu auch durch das Vorbild Jesu legitimiert, der sich nach seiner Abweisung in Galiläa über eine Heidin erbarmte (Mk 7,24–30).
4.2
Jakobus und Paulus
Wie Paulus die Kollekte gegenüber seinen heidenchristlichen Missionsgemeinden begründet, zeigt deutlich, dass auch er eine besondere heilsgeschichtliche Stellung der Jerusalemer Urgemeinde anerkannt hat (Röm 15,25–27). Ohne die Judenchristen war für ihn die Kirche Gottes unvollständig, ja ihr fehlte dann die Wurzel des treuen Israel (Röm 11,1–24). Nach der Darstellung des Lukas hätte Paulus sich sogar auf den pragmatischen Kompromiss des Aposteldekretes eingelassen (Apg 15,22–35; 16,1–5), um ein Auseinanderbrechen von Juden- und Heidenchristen zu verhindern. Richard Bauckham nennt bedenkenswerte Argumente, warum das historisch nicht so unmöglich ist, wie es vielen scheint.105 Gemeinschaft war für Paulus möglich, weil Jakobus bei aller Torahtreue keine ebionitische, sondern eine hohe Christologie vertrat.106 Wegen seines Bekenntnisses zum göttlichen Status des Messias Jesus erlitt der Herrenbruder das Martyrium als Volksverführer.107
4.3
Pluralität und Identität in einer Stadtgemeinde
Es hatte Konsequenzen, dass sich die nachösterliche Jesus-Bewegung zuerst in einer Großstadt sammelte. Der Zustrom neuer Mitglieder aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten und Religionsparteien führte zu einer Pluralität,108 die einige Male zum unvereinbaren Pluralismus zu werden drohte. Andererseits sah sich die neu konstituierte Messias-Gemeinde herausgefordert, gegenüber einer kritisch bis ablehnend eingestellten Umwelt eine eigene unverwechselbare Identität auszubilden. Das wurde dadurch erleichtert, dass man in den Zwölf einen unangefochtenen Leitungskreis besaß, der eine lebendige Brücke zu dem Begründer und Herrn der Gemeinde bildete (vgl. Eph 2,20). Jerusalem besaß im grundlegenden ersten Jahrzehnt als Zentrum entscheidende Prägekraft auch gegenüber Galiläa und Samarien (vgl. Apg 9,31). Pharisäische und essenische Konvertiten konnten als religiös Gebildetere nicht bloß eine Bedrohung, sondern auch eine Bereicherung für eine ursprünglich hauptsächlich ländliche Bewegung bedeuten, wie auch Ludger Schenke betont.109 Aufgrund der Mehrsprachigkeit 105 106 107 108 109
Vgl. Bauckham, James and the Jerusalem Church, 450–480. Vgl. Evans, Comparing Judaisms. Vgl. Bauckham, Offence. Vgl. Fiensy, Composition, 226–230, 234–236. Vgl. Schenke, Urgemeinde, 45, 50.
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84
vollzog sich die Jesus-Überlieferung seit frühester Zeit in den drei Sprachen Hebräisch, Aramäisch und Griechisch, die in Jerusalem viele beherrschten.
5.
Wirkungen der Jerusalemer Urgemeinde
5.1
Paraklesen und Gemeindeordnungen
Mit einem gewissen Erstaunen bemerkte Rudolf Schnackenburg zum Dualismus von „Licht und Finsternis“ in Epheser 5,8–11: „Vielleicht haben bekehrte Qumran-Essener schon relativ früh die christliche Taufparaklese beeinflusst“.110 Für Thomas Schmeller ist „wahrscheinlich“, dass 2Kor 6,14–7,1 mit seinen auffälligen Qumran-Parallelen „sich in Terminologie und Theologie in der Nähe der Jerusalemer Urgemeinde bewegt“.111 Solche Beobachtungen bekräftigen analytisch die Annahme, dass es dort sehr früh einflussreiche essenische Konvertiten gegeben haben muss. Wenn zumindest ein Teil der Jerusalemer Urgemeinde in Gütergemeinschaft lebte, so kann das zu einer frühen Ausprägung von festeren Ämterstrukturen mit beigetragen haben (vgl. Apg 5,6.10; 6,2–6; 11,30). Für einen so großen Kenner der Alten Kirche wie Henry Chadwick112 schien es sicher, dass der christliche „Aufseher“ ( ) vom essenischen „Aufseher“ ( ) herzuleiten sei.113 Die Apostelgeschichte (Apg 14,23; 20,17.28) und besonders die Pastoralbriefe (1Tim 3,1–7; Tit 1,5–9) könnten die Ausbreitung einer ursprünglich Jerusalemer Gemeindeordnung nach Westen bezeugen.114
5.2
Frühe Christologie
In seinem großen Werk über die Entstehung der Christologie schreibt Larry W. Hurtado über die frühen judäischen Gemeinden: „The high place of Jesus in the beliefs and religious practice of Judean Christianity […] confirms how astonishingly early and quickly an impressive devotion to Jesus appeared“.115 Es ist auffällig, wie sich bei Paulus hochchristologische Aussagen gerade auch in vorpaulinischen traditionellen Stücken finden. Man kann fragen, ob nicht bloß 1Kor 15,3–5 aus Jerusalem herzuleiten ist,116 sondern ob man mit Detlef Häußer diese Herkunft auch für ein Stück wie Phil 2,6–11 erwägen sollte.117 Wenn die Diversität in der Christologie offenbar viel geringer war als bei der Gesetzes110 111 112 113 114 115 116 117
Schnackenburg, Epheser, 227. Schmeller, Kontext, 228. Vgl. Chadwick, Church, 16. Vgl. auch Campbell, Elders, 155–159; Marcheselli-Casale, Mebaqqer. Vgl. Chilton, James, 155–159. Hurtado, Lord Jesus Christ, 215. Vgl. Stuhlmacher, Biblische Theologie, 168f.; Wolff, 1. Korinther, 359. Vgl. Häußer, Christusbekenntnis, 219–300.
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frage (s. Punkt 4.2), so scheint das damit zusammen zu hängen, dass eine Hochchristologie eher in den dreißiger als in den vierziger Jahren der Urgemeinde ausgebildet wurde. Schriftkundige pharisäische und essenische Konvertiten konnten dabei ihre Fähigkeiten einbringen. Schon in Jerusalem rief man den auferstandenen Jesus als „Herrn ()“ im Gebet an (1Kor 16,22). Die Wirkungen der Urgemeinde strahlten selbstverständlich nicht nur nach Westen aus, sondern auch nach Osten in die syrische Christenheit hinein. Die stark davidisch-messianisch geprägten Mahlgebete der Didache können auf die Jerusalemer Gemeinde der Zeit noch vor 70 zurückgehen (Did 9f.).118
5.3
Jesus-Überlieferungen
In Jerusalem wurde vor und neben der lukanischen Sonderüberlieferung eine petrinische Jesus-Überlieferung geprägt, die uns vor allem im Markus-Evangelium aufbehalten ist. Die Papias-Notiz über Petrus (# ) kann man so verstehen, dass schon er chrienartige Überlieferungen bildete (Euseb, HE III 39,15 [ed. Schwartz 122]).119 Man darf deshalb damit rechnen, dass nicht nur die Worte Jesu, die er oft selbst leicht memorierbar geformt hatte, sondern auch Apophthegmen und Erzählungen sowie eine Passionsgeschichte bereits in Jerusalem in festeren Formen weiter gegeben wurden.120 Im Römer-Brief spricht Paulus davon, dass die Heidenchristen an „den geistlichen Gütern“ der Jerusalemer Gemeinde „Anteil haben ( )“ (Röm 15,27). Wenn man dem Apostel keine bloße rhetorische Floskel unterstellen will, dann sollte man dabei am ehesten an christologisch-soteriologische und ethische Traditionen sowie Jesus-Überlieferungen denken, die Paulus, seine Gemeinden und letzten Endes auch wir Jerusalem verdanken.
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118 119 120
Vgl. Voöbus, Liturgical Traditions, 169f; Heid, Das Heilige Land, 5–12. Vgl. Bauckham, Jesus, 214–217. Vgl. Riesner, Messianic Teacher. Für eine Durchsicht dieses Aufsatzes danke ich Mag. Theol. Emmanuel L. Rehfeld (Technische Universität Dortmund).
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Apostel gegen Apostel. Ein Unfall im antiochenischen Großstadtverkehr (Gal 2,11–16) Thomas Söding
So prekär im Alten Testament der Streit zwischen Prophet und Prophet1, so prekär im Neuen der zwischen Apostel und Apostel. Im Alten Testament werden in den Konflikten harte Kriterien entwickelt, die zwischen wahrer und falscher Prophetie unterscheiden sollen. Die im Neuen Testament dokumentierten Diskussionen, ob Johannes der Täufer oder Jesus echte Propheten seien und Paulus wirklich Apostel genannt zu werden verdient, sind von diesen Kriterien stark beeinflusst. Freilich bleiben die Opponenten außen vor: Ihr Widerspruch wird zwar erwähnt, mithin als wichtig und erhellend erachtet; aber ihre Stimme findet im Kanon keinen Platz – wegen der Positionen, die sie in den Auseinandersetzungen gegen Johannes den Täufer, gegen Jesus, gegen Paulus bezogen haben. Von anderem Kaliber ist es aber, wenn es zwischen anerkannten Autoritäten zum Krach kommt. Vermutlich hat es häufiger Spannungen und Widersprüche im Kreis der Apostel gegeben (wie weit auch immer man ihn ziehen mag). Aber der einzige Zusammenstoß zwischen zwei Aposteln, von dem (nach den Streitereien im vorösterlichen Jüngerkreis) das Neue Testament offen berichtet, ist der antiochenische Zwischenfall zwischen Petrus und Paulus (Gal 2,11–14).2 Schon deshalb hat er starkes Gewicht. In der Kirchengeschichte hat man sich mit ganz unterschiedlichen Intentionen immer wieder auf ihn bezogen oder an ihm vorbeigemogelt. Er konnte nur in einer antiken Metropole stattfinden; er konnte sich so nur in der syrischen Hauptstadt ereignen. Der antiochenische Zwischenfall ist ein Unfall im antiochenischen Großstadtverkehr.
1.
Eine unangenehme Erinnerung
Paulus betont in seinen Briefen sonst gerne die Harmonie mit Petrus resp. Kephas (Gal 1,18; 2,9; vgl. 1Kor 9,5; auch 1Kor 1,12; 3,22) und allen Aposteln (1Kor 15,1–11).3 Gerade in den Konflikten mit seinen Gemeinden, aber auch mit Gegnern, die er austragen musste, ist es ihm wichtig, sich nicht als outsider 1 2
3
Vgl. Meyer/Hossfeld, Prophet. Die Literatur ist Legion. Pars pro toto vgl. Kieffer, Foi; Dunn, Incident; Neitzel, Interpretation; Holtz, Zwischenfall; Böttrich, Petrus; Mayer-Haas, Identitätsbewahrung. Vgl. Söding, Petrus.
Apostel gegen Apostel
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oder Einzelgänger hinzustellen, sondern als kirchlich voll integrierten Missionar und als engagierten teamplayer.4 Deshalb ist die Erwähnung des antiochenischen Konfliktes nicht selbstverständlich. Den Galaterbrief schreibt Paulus in der für ihn prekären Situation, dass innerkirchliche Gegner – wie es scheint – nicht nur die Authentizität seines Evangeliums, sondern auch die Legitimität seines Apostolates bestritten (Gal 1,10–12) und sich dafür – ob zu Recht oder zu Unrecht – auf Jerusalem berufen haben.5 Deshalb kam es Paulus äußerst gelegen, vom Apostelkonzil berichten zu können (Gal 2,1–10), das mit der vollen Anerkennung seines Apostolates für die Heiden geendet habe, besiegelt per Handschlag als Koinonia auf Augenhöhe.6 Bei bedeutenden Unterschieden im Einzelnen wird diese Sicht im Großen und Ganzen von der lukanischen Darstellung in Apg 15 bestätigt.7 Paulus war mithin bei der Rekapitulation seiner Biographie, wiewohl er eigene Wege und Widersprüche nicht verschweigt, auf der sicheren Seite, als er von der Beratung in Jerusalem berichtete. Dass es (kurze oder etwas längere Zeit) nach diesem agreement8 ausgerechnet in der wichtigen Ortskirche von Antiochia, die für lange Zeit die Heimatgemeinde des Paulus geworden war9, zum Konflikt nicht nur mit Kephas, sondern auch mit Barnabas10 und, wie Paulus schreibt, mit allen anderen Judenchristen, überdies indirekt mit dem Herrenbruder Jakobus in Jerusalem gekommen ist, hat Wasser auf die Mühlen seiner Gegner sein können. Dass Paulus das Problem nicht verschweigt, spricht für sich. Er könnte damit gerechnet haben, dass der Vorfall bekannt war und er seine Version erzählen musste, um seinen Gegnern den Wind aus dem Segeln zu nehmen. Vielleicht hat er auch demonstrieren wollen, wie sich Kephas von ihm hat überzeugen lassen (oder hätte überzeugen lassen können), um dadurch sowohl den Galatern wie auch seinen dortigen Gegnern ein prominentes Vorbild vor Augen zu stellen, an dem sie sich orientieren sollten. So oder so ist der Fall exzeptionell, auch für Paulus. Er gehört zu seiner Biographie, wie das Apostelkonzil; Paulus konnte und wollte vom Streit mit Petrus nicht schweigen. Das Außergewöhnliche des Zusammenstoßes spiegelt sich in einer Leerstelle der Apostelgeschichte. Sie berichtet zwar von Konflikten in der Urgemeinde zwischen den „Hellenisten“ und den „Hebräern“ (Apg 6,1–7), zwischen „Antiochenern“ und christlich gewordenen Pharisäern (Apg 15,1–5; vgl. Gal 2,1–3), auch zwischen Paulus und Barnabas (Apg 15,36–41); sie lässt ebenfalls erkennen, dass in der Urgemeinde harte Auseinandersetzungen um die 4
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8
9 10
Seine Berufung ist außerhalb der Kirche erfolgt; aber seinen theologischen Ort findet Paulus in der Kirche, die er zuvor verfolgt hatte; vgl. Vorholt, Dienst. Die Debatte über die Gegner ist kontrovers; vgl. Oberlinner, Evangelium; Hurd, Reflections. Vgl. Niebuhr, Gemeinschaft. Hilfreich für eine profilierte Ökumene ist auch nach wie vor die Exegese von Hahn, Apostelkonvent. Es muss allerdings die Identität der in Gal 2,1–10 und Apg 15 beschriebenen Ereignisse diskutiert werden; eine Unterscheidung favorisiert wiederum Schäfer, Paulus. Üblicherweise wird das schmale Zeitfenster bis zum Aufbruch zur sog. 2. Missionsreise genannt (Apg 15,36–41). Eine Alternative entwickelt Konradt, Datierung. Vgl. Dauer, Paulus; Padovese, Paolo. Vgl. Wedderburn, Paul; Öhler, Barnabas, 85f.
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(nach Lukas) von Petrus wie von Paulus forcierte Taufe unbeschnittener Gottesfürchtiger und Heiden geführt worden sind (Apg 11,1–8; 15,6f.), so wie nach Apg 10 auch bei Petrus selbst erst massive Widerstände überwunden werden mussten, bevor er sich nach Caesarea am Meer aufgemacht hat, um den gottesfürchtigen Hauptmann Cornelius und sein ganzes Haus zu taufen. Aber vom antiochenischen Zwischenfall erfährt man aus der Apostelgeschichte nichts. Über die Gründe des Schweigens kann man nur spekulieren. Lukas hat eine irenische Art. Auch wenn er nicht einfach den Eindruck erweckt, es herrsche in der Urgemeinde eine heile Welt, schien ihm womöglich das Ideal, „ein Herz und eine Seele“ (Apg 4,32) zu sein, nicht recht vereinbar mit einer offenen Konfrontation zwischen den beiden Helden seiner Geschichte, so dass er die Szene schlicht gestrichen hat. Oder kannte er sie nicht? Schien sie ihm nicht wichtig genug? Bei den Fragen wird es bleiben müssen. Der Galaterbrief ist aber klar. Das historische Ereignis ist nicht zu leugnen. Es fordert eine sachliche Diskussion: Worin bestand der Konflikt? Wie konnte er entstehen? Wie sollte er – nach Paulus – gelöst werden? Wie ist er ausgegangen? Diese Fragen sind in jeder Geschichte des Urchristentums zu diskutieren und in jeder Biographie, jeder Theologie des Paulus zu reflektieren. Sie haben aber auch eine Bedeutung für die Beschreibung urchristlicher Urbanität. Der Ort des Geschehens ist für die Entstehung und die (denkbare) Lösung des Konfliktes nicht unwesentlich. Für die Gemeinde von Antiochia am Orontes ist die paulinische Erinnerung von zentraler Bedeutung bis heute. Haben die ursprüngliche Situation und die paulinische Darstellung Lokalkolorit? Welche Interferenzen bestehen zwischen dem Streit und der Stadt? Wie weit prägt die Auseinandersetzung das neutestamentliche und historische Bild einer antiken Großstadt? Gehört der antiochenische Zwischenfall zu den typischen Problemen oder zu den prägnanten Charakteristika urbanen Christentums in der Antike?
2.
Ein alter Interpretationskonflikt
Der Stellenwert des antiochenischen Konflikts war und ist umstritten. In der Alten Kirche herrscht der Eindruck vor, dass Paulus und Petrus nur zum Schein gestritten hätten, um vor den Augen der Öffentlichkeit die Demut des Petrus und die Klarheit des Paulus zu demonstrieren.11 Während sogar Hieronymus (PL 26, 364f.) dieser traditionellen Auffassung zuneigte12, war es in diesem Falle einmal Augustinus, der den Finger auf die Wunde gelegt hat13: Es sei ein echter Konflikt, und Paulus sei im Recht gewesen, während Petrus habe klein beigeben müssen (ep. 28,3–5; 40,3–5). Hieronymus konzediert dies schließlich (c. Pelag. 1,23: CC.SL 80, 29), und Augustinus nimmt es befriedigt zur Kenntnis (ep. 180,5). 11 12 13
Die von Martin Meiser gesammelten Belege sind eindeutig: Galater, 99f. Vgl. Raspanti, San Girolamo. Vgl. Hennings, Briefwechsel.
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Mit dieser Verständigung ist das Problem aber lange nicht ausgestanden. Die Schwierigkeiten der Theologen, einen echten Konflikt zu erkennen, offenbaren ihre Schwierigkeiten, eine dialogische, kritische und historisch valide, an den Quellen orientierte und schriftgemäße Theologie zu konzipieren. Bis in die Neuzeit hinein wird der Vorfall – jedenfalls wenn es um mehr oder weniger offizielle Selbstdarstellungen der katholischen Kirche geht – oft ausgeblendet oder heruntergespielt, um das schöne Idealbild apostolischer Harmonie nicht zu trüben.14 Auf evangelischer Seite wird die Auseinandersetzung hingegen immer wieder einmal zur protestantischen Ursituation hochstilisiert.15 Dass Paulus nach seinen eigenen Worten dem Kephas „ins Angesicht widerstanden“ (Gal 2,11) und „vor allen“ (Gal 2,14) zur Rede gestellt habe, wird gerne als Vorform des „Hier stehe ich und kann nicht anders!“ hingestellt und mit weitreichenden Aussagen verknüpft: Das Apostelkonzil habe nur zu einem Formelkompromiss geführt, der eine de facto bestehende Kirchenspaltung (Gal 2,9: „Wir sollten zu den Heiden, sie zu den Juden gehen“) notdürftig kaschiert habe; in Antiochia habe sich nur erwiesen, dass er nie tragfähig gewesen ist; aus Nützlichkeitserwägungen heraus habe man gewiss nach wie vor hier und da kooperiert, aber de facto sei nicht die Einheit der Kirche, sondern die Vielfalt der Konfessionen16 offenkundig geworden; nun habe die Notwendigkeit bestanden, eine Entscheidung zwischen dem petrinischen Weg der Anpassungen ans Gesetz, ans Jüdische, ans priesterliche Reinheitsdenken und dem paulinischen Weg der Gesetzesfreiheit, der Entsakralisierung und der universalen Öffnung zu treffen; das Versprechen des antiochenischen Streits habe erst die Reformation mit ihrer entschiedenen Hinwendung zu Paulus und der von ihm propagierten Freiheit eingelöst.17 In all diesen Varianten ist die ideologische Prägung der Exegese groß. Möglicherweise kann man ihr gar nicht entkommen, weil der antiochenische Streit selbst von vornherein eine ideologische Dimension hatte, ohne den er gar nicht entstanden wäre. Dann aber muss man die ideologische Prägung genau – und selbstkritisch – analysieren und die Interessen offenlegen. Entscheidend ist in jedem Fall eine nüchterne Analyse, die sowohl die paulinische Darstellung mit ihrer Intention, ihrer Rhetorik und ihrer Perspektive würdigt als auch die historischen Ereignisse mit ihren religiösen, kulturellen und sozialen Dimensionen zu erhellen und auf den Ort des Zwischenfalls zu beziehen versucht.
14
15 16 17
Eine Ausnahme von der Regel ist die Ansprache von Papst Benedikt XVI. am 1.10.2008 während der Generalaudienz auf dem Petersplatz im Paulusjahr: Das „Konzil von Jerusalem“ und der Zwischenfall in Antiochia, L'Osservatore Romano. Giornale quotidiano Politico Religioso. Wochenausgabe in deutscher Sprache 38, 2008, H.41, 2. Vgl. Wechsler, Geschichtsbild. So die berühmt-berüchtigte, aber nicht undialektische Position von Käsemann, Kanon. Harnack,Wesen.
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3.
Ein schwerwiegendes Problem
Der Streit zwischen Paulus und Petrus ist nur die Spitze des Eisberges. Das eigentliche Problem liegt viel tiefer als in sublimen oder fiktiven Statusfragen der Apostel und in heimlichen oder vermeintlichen Animositäten zwischen den beiden „Apostelfürsten“. Zum Zusammenstoß kommt es, weil in Antiochia ein Konflikt entstanden ist, der die Kirche an ihrer empfindlichsten Stelle berührt: an der Tischgemeinschaft von Juden und Heiden im Haus des Glaubens, also wohl auch an der Eucharistie.18 Bei aller Kürze, die Paulus zu lieben scheint, wird deutlich, wie schwerwiegend er das Problem einschätzt. Dass Juden- und Heidenchristen „zusammen essen“ ( ), ist nach Gal 2,12 der wichtigste Ausdruck ihrer ekklesialen Kommunität.19 In 1Kor 11,17–34 findet sich die komplementäre Argumentation, dass dort, wo Eucharistie gefeiert wird, die Gemeinschaft stark sein und gefördert werden muss, insbesondere die zwischen Reichen und Armen, während eine Demütigung der Armen durch die Reichen eine Blasphemie ist.20 In Antiochia hingegen steht die Frage an, ob überhaupt noch gemeinsam Eucharistie gefeiert werden kann. So wie nach dem Ersten Korintherbrief eine bestehende Eucharistiefeier die Koinonia der Gläubigen (1Kor 10,16f.) stärken muss, so fordert nach dem Galaterbrief die Existenz einer bestehenden Ortskirche die gemeinsame Eucharistiefeier – und überhaupt ein gemeinsames Essen und Trinken, mit all dem an Gebet und Gespräch, was nach antiken Usancen mit guten theologischen Gründen dazugehört haben wird.
3.1
Die petrinische Sezession
Die paulinische Kritik an Petrus zielt darauf ab, dass er „sich absondert“ (Gal 2,12b: 9 ") – und mit ihm alle anderen Judenchristen. Vorausgesetzt ist, was Paulus referiert: dass zuvor Einheit und Einmütigkeit bestanden habe, die sich in der gemeinsamen Mahlpraxis ausgedrückt hat (Gal 2,12a). Dass Paulus von einer Sezession spricht, ist aber nicht nur eine Beschreibung, sondern auch eine negative Bewertung. Vor dem Hintergrund des Berichts vom Apostelkonzil kann man unmittelbar ersehen, welche Bedeutung für Paulus die Einheit der Kirche hat, verstanden als Gemeinschaft vieler, die auf verschiedenen Wegen und in verschiedener Weise kooperieren. Deshalb ist aus paulinischer Sicht der Rückzug ein Fehltritt. So wie Paulus es darstellt, haben er und die anderen Judenchristen, die mit ihm gehen, nicht nur eine Gemeinsamkeit aufgekündigt, sondern sich auch aus der antiochenischen Gemein-
18
19 20
Je deutlicher die sozialen Dimensionen der Eucharistie werden, desto klarer werden die theologischen Dimensionen des Konfliktes. Sozialgeschichtliche Ansätze zu einer Reformulierung der neutestamentlichen Eucharistietheologie sammelt Ebner, Herrenmahl. Vgl. Mussner, Wesen. Vgl. Merklein/Gielen, Korinther, 21–25.
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de ausgegrenzt, die im Kern dort geblieben ist, wo die Judenchristen vorher waren: beim gemeinsamen Essen. Das aber heißt: Für Paulus steht in Antiochia die Einheit der Kirche auf dem Spiel – ähnlich wie vorher beim Apostelkonzil. Ob Petrus, Barnabas und die anderen Judenchristen das ebenso gesehen haben, steht dahin. Vermutlich haben sie durchaus gedacht, dass ihr Verhalten mit den Vereinbarungen beim Jerusalemer Treffen übereinstimmen kann. Paulus hingegen schärft das Problem: Nach seinem Urteil bricht an einer Schlüsselstelle der Gegensatz zwischen Juden und Heiden auf (vgl. Gal 2,14), der durch Christus in der Kirche aber theologisch überwunden ist (Gal 3,28).21 In der Taufe wird gefeiert22, dass in Jesus Christus die Grenze des Gottesvolkes zwischen Juden und Heiden aufgehoben ist – kann sie dann von den Judenchristen wieder aufgerichtet werden, nun aber als eine innerkirchliche Barriere? Das widerspräche der (in sich vielfältigen) Einheit der Kirche, die eucharistisch begründet ist (1Kor 10,16f.).23
3.2
Der Druck auf die Heidenchristen
Paulus geht davon aus, dass nicht nur für ihn selbst, sondern auch für die antiochenischen Heidenchristen die Tischgemeinschaft mit den Judenchristen, aber auch die Übereinstimmung mit der Urgemeinde von Jerusalem ein hohes Gut darstellt. Deshalb übt Kephas Druck auf die Heidenchristen aus; Paulus spricht sogar von einem Zwang oder einer Nötigung ( 9). Durch das Verhalten der Judenchristen wird ihnen signalisiert, dass sie nur dann, wenn sie ihrerseits „jüdisch leben“, die eucharistische Tischgemeinschaft mit den Judenchristen retten oder wiederherstellen können (Gal 2,14). Petrus und die anderen Judenchristen haben allerdings, wie Paulus sie darstellt, nicht direkt interveniert, dass die Heidenchristen ihr Verhalten ändern (wie die Paulusgegner in Jerusalem früher auf dem Apostelkonzil und später in Galatien), sondern indirekt: durch ihren Rückzug aus der Gemeinschaft. Dieser sanfte Druck braucht nicht weniger stark gewesen zu sein, sondern kann desto nachdrücklicher empfunden worden sein. Womöglich ist es erst Paulus selbst gewesen, der ihn – wenigstens aus seiner Erinnerung heraus – ans Licht gebracht hat. Die Situation, die er in Gal 2,11–14 beschwört, ist nicht die, dass einige oder gar viele der Heidenchristen Antiochias dem Druck nachgegeben hätten (während in Galatien die Stimmung und Praxis eine andere gewesen sein dürfte). Noch ist auf ihrer Seite nichts geschehen – ob aufgrund einer intensiven Meinungsbildung, deren Anwalt Paulus dann geworden wäre, oder aufgrund der Frische des Ereignisses, die einfach noch keine Zeit zur Reaktion gelassen hätte, sei dahingestellt. Der Konflikt macht sich offenbar an den Reinheitsgeboten und Speisevorschriften fest, die im Frühjudentum als identity markers große Bedeutung ge21 22 23
Die Gleichberechtigung von Juden und Heiden betont Strecker, Theologie, 358–369. Vgl. Porter, Dimensions. Die genuin biblische Dialektik von Einheit und Vielfalt, die in Gal 2 konkret wird, habe ich aufzuweisen versucht in: Einheit, 170–187.
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wonnen haben und neben der Beschneidung zu den wichtigsten Konkretionen der „Gesetzeswerke“ gehören.24 Worin aber genau der Druck bestand, wird kontrovers diskutiert. Eine Antwort hängt am Sinn des ;9(Gal 2,14). Es ist ein neutestamentliches Hapaxlegomenon. Was es besagt, ist nicht von vornherein klar. Oft wird vermutet, dass letztlich die Forderung der Beschneidung erhoben worden sei.25 Dann würden Kephas, Barnabas und die anderen Judenchristen auf die Linie derer eingeschwenkt sein, die in Jerusalem die Beschneidung aller (männlichen) Heidenchristen verlangt haben. Das ist nicht auszuschließen. Die Paulusgegner in Galatien haben womöglich so gedacht. Es könnte sich dann immer noch um eine ad-hoc-Entscheidung gehandelt haben, als die Paulus sie darstellt, ohne dass alle Konsequenzen, die Paulus vor Augen stehen, hätten gezogen werden müssen. Dennoch überwiegen die Gründe, die eine weichere Interpretation wahrscheinlich werden lassen.26 Erstens wäre es ein starkes Stück, hätten Jakobus, Petrus und Barnabas, die auf dem Apostelkonzil nach Gal 2,4 „Titus nicht genötigt“ haben, „sich beschneiden“ zu lassen, in Antiochia eine Kehrtwende um 180 Grad vollzogen und die Position derjenigen „Brüder“ übernommen, die sie laut Paulus und Lukas gerade in die Schranken gewiesen hatten (Gal 2,1–10; vgl. Apg 15,1–21). Die Entscheidung, dass Paulus und die Seinen sich an die Heiden, Kephas und seine Leute an die beschnittenen Juden zu wenden haben, scheint mit der Verpflichtung der Heiden auf die Beschneidung unvereinbar. Auszuschließen ist ein radikaler Meinungswechsel nie; aber naheliegend ist er auch nicht. Er müsste zuerst bei Jakobus in Jerusalem und dann noch einmal bei Petrus, bei Barnabas und allen anderen Judenchristen in Antiochia stattgefunden haben. Das leuchtet kaum ein. Zweitens wird im Kontext explizit nur vom Essen gesprochen (Gal 2,12). Die Beschneidung wird im Brief zwar oft erwähnt (Gal 6,12f.; vgl. 5,1–12; auch 2,3.7; 3,28; 6,15), aber ausschließlich in der Kritik der Gegner und der Galater.27 Das ist kein schlagender Beweis gegen die Deutung von Vers 14 auf die Beschneidung, aber ein weiteres Indiz. Drittens baut Gal 2,14a den Gegensatz „heidnisch leben“ – „jüdisch leben“ auf, im Blick das frühere und jetzige Verhalten des Petrus. Das kann aber nur meinen, dass er vorher mit den Heidenchristen zusammen Mahl gehalten hat, ohne jüdische Speisevorschriften weiter zu beachten, jetzt aber auf Abstand geht. Das spricht trotz der leicht gewandelten Terminologie für ein ähnliches Bedeutungsspektrum des ;9. Wenn man Gal 2,18 hinzunehmen darf, wird der Eindruck noch verstärkt. Dort ist vom „Aufbauen“ und „Niederreißen“ die Rede. Sofern aus dem „Ich“ noch eine indirekte Anrede an Kephas heraus24
25 26
27
Die religionssoziologische Analyse der Beschneidung und der Speisegebote als identitätsstiftende Faktoren jüdischer Gemeinden in paganer Umgebung gehört zu den bleibenden Einsichten der (nicht mehr ganz so) „neuen Paulusforschung“; vgl. Dunn, Perspective, 183–206. 206–214 (Additional Note); Ders., Theology. So u.a. Betz, Galaterbrief, 211. Vgl. Becker, Galater, 28; Dunn, Incident, 26f.; Borse, Galater, 105f.; Holtz, 345f., 352, 354f. Treffende Beobachtungen bei Horn, Verzicht.
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gehört werden darf, kann nur auf seinen Zickzackkurs angespielt sein, der aber nicht in der zwischenzeitlichen Leugnung seiner Beschneidung, sondern in der zeitweisen Sistierung der Reinheitsgebote bestanden hat. Viertens zeigt der Blick auf Parallelen, dass ;9 zwar durchaus die Beschneidung umfassen kann; das spricht für die strenge Auslegung. Aber sowohl in Est 8,17LXX28 als auch bei Josephus (bell. II 454)29 wird dieser Umstand dann eigens erwähnt; er ist also nicht selbsterklärend. In 4Makk 4,26 meint das parallele '0 : explizit nur das Einhalten der Speisegebote. Zwar ist das sprachliche Vergleichsmaterial quantitativ und qualitativ nicht so eindeutig, dass eine andere Deutung unmöglich wäre. Aber etwas besser scheint die Differenzierung begründet. Mithin besteht der Druck darin, dass die Heidenchristen Antiochias die Speise- und Reinheitsvorschriften des Gesetzes übernehmen sollen, auf die nun die Judenchristen nicht nur sich selbst verpflichtet sehen, sondern aus Gründen der (eucharistischen) Tischgemeinschaft auch die anderen, die von Haus aus keine Verpflichtung haben.
3.3
Ein nachkonziliarer Streit
Sollte es richtig sein, dass nicht die Beschneidung verlangt wurde, wäre die Position, die Paulus bestreitet, nicht das, was die Exegese oft „Nomismus“ nennt: Es würde sich nicht um eine Spielart dessen handeln, was die Paulusgegner in Galatien und ähnlich die Opponenten der Antiochener in Jerusalem gefordert haben. Was in Antiochia von allen Judenchristen außer Paulus den Heidenchristen (nicht programmatisch, aber faktisch) auferlegt wird, wäre aber wesentlich mehr als die Beachtung einer Vorform der sog. „noachitischen Gebote“ (vgl. Lev 17,8–16; 18,26), auf die laut Apg 15,28f. das Aposteldekret die Heidenchristen in gemischten Gemeinden verpflichtet hat (vgl. Apg 21,25)30; denn dort geht es nur darum, dass neben „Götzendienst“ und „Unzucht“ auch „Blut und Ersticktes“ vermieden wird, hier hingegen geht es anscheinend um ein umfassenderes Konzept ritueller Reinheit, zu dem die pharisäische Halacha wahrscheinlich die besten Parallelen liefert.31 Ständen nur die „noachitischen Gebote“ zur Debatte, hätte Paulus schwerlich ;9schreiben können. Was den Heidenchristen Antiochias von Petrus und seinen Mitstreitern zugemutet wird, ist wesentlich anders als das, was Paulus von den „Starken“ in 28
29 30
31
„In Stadt und Land, wo immer der Erlass verkündet, wo immer das Gebot verkündet wurde, war Jubel und Freude bei den Juden, Gastmahl und Festtag; und viele Heiden ließen sich beschneiden und lebten jüdisch ( 9: ) wegen des Respekts vor den Juden.“ „[…] er versprach, bis zur Beschneidung jüdisch zu leben ( ;)“. Nach Taylor, Decrees repräsentiert Paulus einerseits, Petrus andererseits zwei verschiedene Lesarten der „Jakobusklauseln”: ob sie eher den Abstand wahren oder die Integration fördern sollen. Vgl. Deines, Steingefäße; Ders., Pharisäer.
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Korinth und Rom fordert: dass sie beim Fleischgenuss wegen des den Göttern Geweihten auf die „Schwachen“ Rücksicht nehmen und lieber verzichten sollen, obwohl sie zu recht reklamieren, dass es doch keine Götzen gebe (1Kor 8–10; Röm 14). Denn dort geht es um eine freie Entscheidung aus dem Glauben heraus32, hier jedoch um einen Druck, der keine Glaubensgründe hat, sondern – nach Paulus – aus der Angst geboren ist und eine grundlegende Änderung des christlichen Lebensstils zur Folge hätte.33 Wenn der antiochenische Konflikt so in etwa richtig beschrieben sein sollte, ist verständlich, ja vielleicht so gar unvermeidlich, dass er nach dem Apostelkonzil hat aufbrechen können. Er wiederholt nicht das dort diskutierte Grundsatzproblem, ob ein eigener Apostolat für die Heiden ohne Beschneidung (der Männer) theologisch legitim, ja notwendig sei, sondern setzt auf beiden Seiten dessen Lösung voraus: die volle Anerkennung der antiochenischen Völkermission. Der Streit entzündet sich vielmehr an einem Folgeproblem, das in Jerusalem weder laut Gal 2,1–10 noch laut Apg 15 diskutiert worden war: am Zusammenleben und Zusammenessen in gemischten Gemeinden. Die Übereinkunft, die in Jerusalem laut Gal 2,7–9 getroffen worden ist, könnte theoretisch auch an eine friedliche Unterscheidung von Juden- und Heidenmission auf der Basis wechselseitiger Anerkennung denken lassen. Allerdings wäre dann die von Paulus apostrophierte Koinonia unterbestimmt. Das wird in Antiochia greifbar. Paulus ist sich sicher, im Sinne der Jerusalemer Vereinbarung zu agieren. Jakobus hat sie offenbar anders gedeutet; Petrus hat ursprünglich die paulinische Position geteilt und später verlassen. Mit leichtem (oder stärkerem) Anachronismus gesagt: Der antiochenische Zwischenfall ist ein Schlüsselereignis in der Konzilsrezeption.
4.
Ein scharfes Urteil
Paulus stellt den antiochenischen Konflikt trotz seines Gewichts – anders als den auf dem Apostelkonzil und in Galatien – nicht als grundsätzliches Problem dar, das durch einen theologischen Dissens entstanden ist und nur durch eine theologische Argumentation in favorem fidei gelöst werden kann, sondern als praktisches Problem, das durch menschliche Schwäche entstanden ist und durch den Appell an gemeinsames Glaubenswissen zu lösen ist, dessen Dimensionen und Verbindlichkeit von der anderen Partei zwar prinzipiell anerkannt, in diesem konkreten Fall aber verkannt wären (Gal 2,15f.).
32 33
Zum Versuch einer Rekonstruktion und Interpretation vgl. Söding, Götzenopferstreit. Eine innere Widersprüchlichkeit bei Paulus sieht hingegen Richardson, Inconsistency.
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4.1
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Der Vorwurf der Heuchelei
Der Grundvorwurf, den Paulus gegen Petrus, aber auch gegen Barnabas und „die übrigen Judenchristen“ in Antiochia richtet, ist der Vorwurf der Heuchelei ("). Paulus erkennt bei Petrus und den anderen nicht bestimmte Gründe (wie bei seinen Gegnern auf dem Apostelkonzil), sondern ein Handeln, das der Frömmigkeit geschuldet scheint, aber gegen die eigenen Überzeugungen gerichtet ist (Gal 2,13). Der Deckmantel der Frömmigkeit wird durch die Einhaltung der Gebote umgelegt, die für Juden Ausdruckshandlungen des Gesetzesgehorsams sind. Die eigene Überzeugung aber, die Petrus nach dem Galaterbrief an sich teilt, aber hier faktisch verleugnet, rekapituliert Paulus in Gal 2,15f. mit der Rechtfertigungsthese, die er in der 1. Person Plural formuliert (" […] […] ) – wenn nicht mit historischem Recht, so doch mit rhetorischem Nachdruck. Beides, der Glaube und das Verhalten Petri, steht, so Paulus, in einem unversöhnlichen Widerspruch und muss deshalb in aller Schärfe, in aller Öffentlichkeit und aller Offenheit kritisiert werden. Die prophetische Kritik der Heuchelei wurzelt tief in der synoptischen Jesustradition. Dort hat sie nicht nur den moralischen Sinn, der im modernen Deutsch vorherrscht, sondern, mit ihm verbunden, den theologischen Sinn, einen Widerspruch nicht nur zwischen Reden und Tun, sondern auch zwischen Sein und Sollen aufzudecken. So auch hier: Paulus wirft Kephas und den anderen nicht vor, dass sie anders handelten, als sie dächten, und, womöglich bona fide, auf einen falschen Weg des Denkens geraten seien, der nicht nur gegen den Sinn des Evangeliums steht, sondern auch im Widerspruch zu den Prinzipien des Glaubens, zu denen Kephas, Barnabas und andere zweifellos gestanden haben, weiterhin stehen wollen und auch in der aktuellen Krise zu stehen meinen. Sie glauben, es ihrem Judesein, einschließlich ihrer spirituellen Solidarität mit Jerusalem und der bedrängten Christengemeinde dort, schuldig zu sein, zu tun, wozu sie sich jetzt entschieden haben. Was Paulus jedoch in seiner Rhetorik akzentuiert, sind die negativen Folgen, die nicht nur für die Heidenchristen, sondern auch für seine Streitpartner entstehen. Die gesamte Metaphorik der Vorwürfe akzentuiert das Getriebene, nicht das Entschiedene des Verhaltens Petri und der anderen Judenchristen Antiochias: Kephas hat seine frühere Position aufgegeben (Gal 2,12: "); Barnabas wird „mitgerissen“ (Gal 2,13: ); alle weichen vom rechten Weg ab ( ), der zur Wahrheit des Evangeliums führt (Gal 2,14).
4.2
Die Furcht des Kephas
Als Grund für die Heuchelei nennt Paulus bei Petrus Angst „vor denen aus der Beschneidung“ (Gal 2,12). Sein Verhalten habe dann das der anderen zur Folge gehabt; mit seiner Angst habe er sie – so der unausgesprochene Vorwurf – angesteckt. Es hilft wenig, an dieser Stelle ein Psychogramm des Petrus zeichnen zu
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wollen34, auch wenn man aus Gal 2,6 („was immer sie früher waren, schert mich nicht“) herauslesen möchte, dass Paulus einiges über die dunklen Stunden seines Partners und Kontrahenten in der Passion Christi wusste. Was immer in ihm vorgegangen sein mag: nicht Petrus steht unter den Judenchristen allein, sondern Paulus; Kephas hat mit seinem Verhalten eine Kettenreaktion bei den Judenchristen in Antiochia ausgelöst. Die Intervention aus dem Jerusalem des Jakobus hat Eindruck gemacht. Dafür muss es Gründe gegeben haben. Die Furcht des Kephas richtet sich, so Paulus, auf „die aus der Beschneidung“ (Gal 2,12). Wer damit gemeint ist, muss diskutiert werden. Die Wendung ist nicht auf den ersten Blick klar. Einige denken an Jakobus und seine – oder seinen35 – Abgesandten. Von Teilen der Exegese wird der Herrenbruder zum großen Gegenspieler des Paulus hochgespielt. Diese Entgegenstellung ist ein Phänomen der Neuzeit. Sie hat zwei Ursachen. Der eine Grund ist die theologische Kritik Martin Luthers an der „strohernen Epistel“, die in die Werkgerechtigkeit zurückfalle, wo Paulus die Glaubensgerechtigkeit gelehrt habe. Der andere Grund ist die davon abhängige, aber hegelianisch inspirierte Konstruktion eines theologischen Grundwiderspruches zwischen einem an Jakobus orientierten, gesetzestreuen, partikularistischen und einem an Paulus orientierten, gesetzesfreien und universalistischen Christentum, dem eine petrinische oder johanneische Synthese gefolgt wäre.36 Beides hält einer exegetischen Kritik nicht stand. Der Jakobusbrief setzt anders als die paulinische Rechtfertigungslehre an, kommt aber in einer divergierenden Sprache zu einem konvergierenden Resultat.37 Jakobus selbst war kein theologischer Betonkopf.38 Dass er laut Josephus (ant. XX 199f.) durch den Hohenpriester Hannas II. ca. 62 n. Chr. wegen Gesetzesbruchs angeklagt und trotz pharisäischen Protestes verurteilt und gesteinigt worden ist, spricht nicht dafür, dass er ein Nomist gewesen wäre, sondern dafür, dass seine Form judenchristlichen Glaubens auch von pharisäischer Seite als gerecht hat anerkannt werden können. Das passt gut zu der Rolle, die ihm Paulus in Gal 2 zuschreibt: dass das, was er verlangt, nicht christlicher Pharisäismus gewesen ist, aber eine Form des Judenchristentums, das von den Pharisäern toleriert, ja respektiert worden ist. Im Text von Gal 2 spricht wenig dafür, aber viel dagegen, dass Jakobus sowohl Kephas als auch Barnabas und anderen Judenchristen Angst eingejagt habe. Zwar spielt Jakobus eine wichtige Rolle im Hintergrund. Das Erscheinen seiner Gesandtschaft hat die Krise ausgelöst. Dass er für das votiert hat, was Kephas dann tut, ist klar. Aber Paulus erweckt nicht den Eindruck, dass die Gesandtschaft auch die Ursache der Angst gewesen sei. Das würde auch 34
35 36 37
38
Es hilft aber, die Episode in ein neutestamentliches Petrusbild einzuzeichnen; Vorschläge stammen von: Becker, Simon Petrus; Hengel, Petrus; Gnilka, Petrus; Dschulnigg, Petrus. Ökumenisch vorbildlich ist die amerikanische Studie von Brown/Donfried/Reuman, Petrus. Vgl. Popkes, Jakobus. Vgl. Holtzmann, Lehrbuch. Zur neuen, in sich wiederum kontroversen Diskussion vgl. Avemarie, Werke; Konradt, Jakobusbrief, 172–190; Niebuhr, Perspective. Nicht ganz unbeeinflusst von der älteren Schule, aber doch mit neuen Impulsen argumentiert Hengel,Herrenbruder. Vgl. Bochmühl, Antioch.
Apostel gegen Apostel
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schlecht ins Jakobusbild des Briefes passen. Schließlich gehört Jakobus nach Gal 2,7–9 zu den „Säulen“, die Paulus auf dem Jerusalemer Konzil gerade freie Hand zur Völkermission gegeben haben; sicher waren damit noch nicht alle Folgeprobleme gelöst, vielleicht auch das von Antiochia nicht. Deshalb kommt es ja zum Streit. Aber wie Jakobus agiert hat, halten jedenfalls nach lukanischer Darstellung die Klauseln fest (Apg 15,28f.): Sie bringen seinen Entschluss zum Ausdruck: den Heidenchristen „nicht viel aufzuerlegen“ außer den sog. noachitischen Geboten. Die historischen Probleme der lukanischen Darstellung sind groß; der Bezug des Aposteldekrets zum Apostelkonzil ist strittig. Aber die Jakobusüberlieferung des Neuen Testaments (die von Josephus flankiert wird) ist nicht so, dass Jakobus die Schuld am Umfaller des Petrus und der anderen gegeben werden kann. Andere denken an die (pharisäischen) hardliner unter den Judenchristen, die gegen die antiochenische Mission vorgegangen seien. Sollte das ;9 – anders als hier begründet – doch auf die Beschneidung zu beziehen sein, wäre eine solche Verbindung ernsthaft zu erwägen. Aber dass sie unter den Aposteln Angst und Schrecken verbreitetet hätten, ist wenig wahrscheinlich. Sie haben ja sowohl nach paulinischer als auch nach lukanischer Darstellung auf dem Apostelkonzil ihre Position nicht durchsetzen können. Gewiss kann sich theoretisch immer alles noch einmal geändert haben; aber dann sind viele Zusatzannahmen notwendig, für die es wenig Evidenz gibt. Eine dritte Möglichkeit, die Wendung zu erklären, besteht darin, sie auf Juden bezogen zu sehen, die Druck auf Judenchristen machen. Das passt nicht schlecht ins Bild, das man sonst von der geschichtlichen Entwicklung zeichnen kann; es stimmt auch am ehesten mit dem literarischen Zeugnis überein. Die Apostelgeschichte erweckt den Eindruck, dass immer wieder jüdische Stellen gegen die judenchristliche Mission vorgegangen sind, speziell in Jerusalem, und dass besonders die Situation der Urgemeinde besonders prekär gewesen ist. Das ist zwar sicher eine lukanische Geschichtskonstruktion, aber schwerlich ohne Anhaltspunkte in der historischen Überlieferung und Erfahrung. Paulus weiß jedenfalls in einigen seiner Briefe von Pressionen durch örtliche Synagogengemeinden zu berichten (2Kor 11,22–26; 12,10; vgl. 1Kor 4,9–11; 2Kor 6,1–10), wenngleich nicht in Jerusalem; er macht die Thessalonicher, die unter ihrer paganen Umgebung leiden, mit der Tatsache bekannt, dass es ihnen nicht anders als den Gemeinden Judäas ergehe, die gleichfalls von ihren eigenen Landsleuten verfolgt würden (1Thess 2,14). Auch im Galaterbrief spricht Paulus, mit Blick auf sich selbst und seine Gegner, von solchen Pressionen (vgl. Gal 5,11; 6,12). Dass es Opportunitätsgründe gegeben haben kann, Judenchristen zu schützen, indem Judenchristen auch in der Diaspora nicht „heidnisch“, sondern „jüdisch“ leben (Gal 2,14) und sich „absondern“, also die heiklen Punkte des Gemeinschaftslebens vermeiden, ist gleichfalls eine historisch plausible Vorstellung (vgl. Apg 21,18–26). Sprachliche Gründe treten hinzu. Die Wendung kennzeichnet zwar in Kol 4,11 das Woher von Judenchristen (während Tit 1,10 unsicher ist), bei Paulus selbst aber, in Röm 4,12, das Woher von Juden als Juden. Überdies besteht ein terminologischer Zusammenhang mit dem Bericht vom Apostelkon-
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zil. Dort, in Gal 2,9, gibt die Wendung „zur Beschneidung“ ( ) die Richtung der Judenmission vor, die prototypisch durch Kephas repräsentiert wird; hier, in Gal 2,12, gibt die gegenläufige Wendung „aus der Beschneidung“ ( ) deshalb am ehesten die Herkunft der Angst bei Juden wieder, die von den Judenchristen erst noch missioniert werden sollen. Paulus wirft also Petrus vor, aus Angst vor Repressalien, denen die Judenchristen – in Jerusalem und vielleicht auch in Antiochia – wegen der Tischgemeinschaft (und der von ihr symbolisierten Kirchengemeinschaft) mit Heidenchristen ausgesetzt zu werden drohten, seiner eigenen Einsicht untreu geworden zu sein, die ihn – wie Barnabas und die anderen Judenchristen – zum gemeinsamen (eucharistischen) Mahl mit Heidenchristen in Antiochia geführt hatte.
4.3
Die paulinische Lösung
Paulus stellt den Konflikt so dar, dass er durch seinen Appell an den gemeinsamen Glauben nicht nur die Heuchelei entlarvt, sondern auch eine Lösung in seinem Sinn erreicht hat. Er führt die Rechtfertigungsthese in Gal 2,15f. so an, als ob er weiter referiere, was er Kephas seinerzeit entgegengehalten habe. Allerdings gerät der historische Disput auf der Wegstrecke von Vers 14 bis zu Vers 21 immer mehr aus den Augen, während das Prinzipielle und die Passung für die galatische Auseinandersetzung zunehmen.39 Deshalb ist der Rückschluss auf einen O-Ton aus Antiochia nicht möglich; Paulus aktualisiert und pointiert vielmehr seine damalige Intervention. Er stellt sein Votum, das er in Gal 2,15–21 referiert (und aktualisiert), nicht als Plädoyer der Anklage dar, dem dann ein Plädoyer der Verteidigung entgegenzuhalten wäre, bevor vom Richter ein Urteil gesprochen würde, sondern als eine Einlassung zur Sache, die zugleich eine Einladung an Petrus (und alle, für die er steht) ist, ein Urteil aus dem Munde des Paulus anzuerkennen, dessen Gründen man sich nicht entziehen kann. Es gibt nach dem Galaterbrief nichts mehr zu erwidern. Die Sache ist klar. Ab Gal 3,1 kann Paulus sich deshalb direkt den Galatern zuwenden. Er könnte sie nicht gleich zu Beginn mit dem Vorwurf des Unverstandes angehen, wenn Gal 2 den Eindruck hätte hinterlassen sollen, damals seien nicht alle Unklarheiten beseitigt worden, weil alle wieder zur Einsicht gelangt seien. Die rhetorische Strategie des Paulus passt genau zum Vorwurf der Heuchelei, den er in Gal 2,11–14 erhoben hat. Den Streit mit seinen galatischen Gegnern meint er nur als harte Konfrontation führen zu können, die auf ein Anathema zuläuft (Gal 1,6–9). Ebenso war für ihn die Auseinandersetzung in Jerusalem – nicht mit den „Säulen“, sondern – mit den „eingeschlichenen Lügenbrüdern, die dazwischen gegangen sind, unsere Freiheit, die wir in Christus haben, auszuspähen, um uns zu knechten […]“ (Gal 2,4), nur als kompromissloses Nein zu denken: „[…] denen haben wir nicht eine Sekunde nachgegeben, damit die Wahrheit des Evangeliums bei euch bleibe“ (Gal 2,5). Beide Male geht es in den Augen des Apostels um einen theologischen Grunddissens. Hier hingegen ap39
Die Argumentation analysiert Lambrecht, Galatians.
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pelliert er an einen bestehenden Grundkonsens. Ihn schärft er mit der Rechtfertigungsthese und ihrer Alternative „nicht aus Werken des Gesetzes, sondern aus dem Christusglauben“ an (Gal 2,16), um ein Kriterium gewinnen zu können; und um die tragfähige Basis zu sichern, verankert er ihn im gemeinsamen Glaubenswissen, das beide, Paulus wie Petrus, als Judenchristen teilen, weil es sich aus dem Zeugnis der Schrift ergibt, das Gal 2,16 mit dem freien Rekurs auf Ps 142LXX einspielt und später im Brief ausführlich entfaltet. Aus der paulinischen Darstellung ergibt sich, dass die galatischen Nomisten keine Möglichkeit haben, sich auf Jerusalem und die „echten“ Apostel zu berufen, wenn sie in Galatien aus theologischen Gründen die Beschneidung einführen wollen und damit den Gesetzesgehorsam, wie Paulus sagt, verbindlich machen. Die Lösungsstrategie ist jener vergleichbar, die auch in den korinthischen Konflikten zu beobachten ist: Ein praktisches Problem wird auf eine grundsätzliche Ebene gehoben, um in seinen Dimensionen ausgeleuchtet und so (im Sinne des Apostels Paulus) gelöst werden zu können. Nach Gal 2 war der antiochenische Konflikt ein Unfall, dessen Schaden schnell repariert worden ist.
4.4
Die historische Frage
Entspricht das Bild, das der Brief zeichnet, der Realität? Die historische Frage ist schwer zu beantworten. Wird Petrus von Paulus für seine Rechtfertigungslehre vereinnahmt? Oder hat er tatsächlich den Konsens geteilt? Und hat Paulus sich in Antiochia durchgesetzt? Oder nur den Eindruck erwecken wollen, gewonnen zu haben? Die erste Frage zu beantworten, erfordert eingehende traditionsgeschichtliche Forschungen. Die Rechtfertigungslehre ist zwar in der Pointierung, wie sie in Gal 2,15f. vorliegt und in Gal 2,17–21, sodann im Rest des Briefes begründet wird, spezifisch paulinisch. Aber was sie zum Ausdruck bringt und in Antiochia um der Wahrheit des Evangeliums, der Freiheit des Glaubens und der Einheit der Kirche willen verteidigen will, ist die weithin geteilte und auf dem Apostelkonzil beschworene Basis für die theologische Legitimität der Völkermission: dass die Taufe und nicht die Beschneidung die Zugehörigkeit zur Ekklesia begründet; dass der Glaube das Heil wirkt und dass es Gottes Gnade ist, die rechtfertigt; dass Heiden wie Juden gleichermaßen der Vergebung bedürfen und zum Eintritt ins Reich Gottes, deshalb aber auch zur Vollmitgliedschaft in der Kirche berufen sind. Damit sind – vielleicht nicht expressis verbis, aber de facto – die „Werke des Gesetzes“ aus der Rechtfertigung ausgeschlossen. Insofern gibt es eine hohe Plausibilität, dass Gal 2,16 – vielleicht nicht in der antithetischen Zuspitzung – im Kern tatsächlich ein gemeinsames Element judenchristlicher Theologie expliziert.40 Die lehrmächtige Form, vielleicht auch die antithetische Zuspitzung ist genuin paulinisch. Aber die Rechtfertigungsleh40
Becker (Paulus 101, 303f.) sieht in Gal 2,16 einen „Gemeindegrundsatz“ Antiochiens. Burchard, Glauben will die Spuren bis in die Urgemeinde zurückverfolgen. Eine besonders eingehende Argumentation für die Annahme einer starken Verankerung im Judenchristentum entwickelt Theobald, Kanon.
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re ist nicht eine Speziallehre des Apostels, sondern die charakteristische Ausdrucksform einer tief im Urchristentum verankerten Soteriologie. Die zweite Frage jedoch, ob Paulus sich tatsächlich hat durchsetzen können, wird in der Forschung meist verneint: Paulus berichte von keiner Reaktion des Petrus; dieses Schweigen sei beredt41; es könne vielleicht auch die lukanische Leerstelle erklären. Überdies habe Paulus nach der Apostelgeschichte die zweite Missionsreise, anders als die erste (Apg 13f.), auf eigene Faust organisiert; das spreche für einen Bruch mit Antiochia. Doch die Gründe müssen kritisch betrachtet werden; es gibt auch Gegenargumente. Der Galaterbrief spricht den Konflikt von Anfang an in der Gewissheit einer Position an, die sich durchgesetzt hat und vor Ort allgemein anerkannt ist. Wäre es anders, argumentierte Paulus auf sehr dünnem Eis, das beim ersten Protest seiner Kontrahenten einbrechen würde. Die Trennung von Barnabas und der Beginn eigenständiger Missionsarbeit nach dem Apostelkonzil mag tiefere Ursachen haben als den Streit über Johannes Markus, von dem Lukas weiß (Apg 15,36–40), obwohl es hohe Plausibilität hat, dass Probleme im persönlichen Umgang zu Streit geführt haben. Auf jeden Fall ist die These schlecht begründet, dass Paulus in Antiochia keine Basis mehr gehabt hätte (unabhängig von der zu diskutierenden Frage, ob der Aufbruch zur zweiten Missionsreise vielleicht früher als der Dissens in Antiochia ist). Als Motiv für die Ausweitung der missionarischen Aktivität des Völkerapostels ist der Rückenwind, den er durch das Apostelkonzil erhalten hat, ausreichend. Nach den neutestamentlichen Zeugnissen, den einzig verfügbaren historischen Quellen, hat er keineswegs den Faden zur Gemeinde von Antiochien und zur Urgemeinde von Jerusalem abreißen lassen, sondern an ihm sorgfältig weiter gesponnen. Der Erste Korintherbrief (der auch bei einer Spätdatierung des Konfliktes später geschrieben worden sein muss) zeigt, dass ihm nicht nur Petrus und Jakobus wichtig sind und verbunden bleiben (1Kor 15,5–7), sondern auch Barnabas (1Kor 9,6). Mit Eifer verfolgt er – bis zum bitteren Ende – die in Jerusalem vereinbarte Kollekte, die aber als eine Aufgabe der antiochenischen Missionskirche projektiert worden war (Gal 2,10). Die Apostelgeschichte zeigt Paulus auch nach der zweiten Missionsreise mit Antiochia und Jerusalem verbunden (Apg 18,22). Das wird zwar oft als lukanische Projektion beurteilt, ist aber ebenso gut als historische Reminiszenz vorstellbar. Bleibt man bei der traditionellen Frühdatierung des Zwischenfalls vor der zweiten Missionsreise, zeigt der Umstand, dass Paulus nach Apg 15,40 statt Barnabas nun Silas, in dem vermutlich der Silvanus aus 1Thess 1,1 (vgl. 2Thess 1,1) und 2Kor 1,19 zu erkennen ist (vgl. 1Petr 5,12), mit auf Missionsreise nimmt (Apg 16–18), wie sehr Paulus nach wie vor eine hervorragende Zusammenarbeit mit der Urgemeinde und indirekt auch mit Jakobus gepflegt hat; denn Silas ist ein Jerusalemer Judenchrist, der nach Apg 15,22–29 die Konzilsbeschlüsse nach Antiochia und anderswo kommuniziert hat. Weitere Argumente treten hinzu. Die Kirche von Antiochia ist, wie Ignatius zeigt, auf die paulinische Linie eingeschwenkt. Dass es zwischenzeitlich ganz anders war, ist reine Spekulation. Die Exegese hat zwar einleitungswissen41
So, mit Nachdruck und Wirkung, Bornkamm, Paulus, 67.
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schaftlich oft Antiochia im Visier, wenn es um die Heimat des Matthäusevangeliums geht, das manche als großen Widerpart der paulinischen Gnadenlehre betrachten. Aber das scheint überzogen; es würde der Integration – und Transformation – paulinischer Theologie nicht widersprechen. In einer großen Stadt ist Raum für ein ganzes Spektrum an theologischen Positionen, auch in der Umgebung, wo die Didache einem ländlichen Christentum Stimme geben könnte. Wenn Paulus den Dissens in Antiochia tatsächlich hat überwinden können, bleibt immer noch Raum für flexible praktische Regelungen im Zusammenspiel von Juden- und Heidenchristen, die sich später eingespielt haben können und nicht immer die glasklare Eindeutigkeit der paulinischen Position widergespiegelt haben müssen. Ob das ein Nachteil war, bleibe dahingestellt. Paulus spitzt in Gal 2,11–14 zu. Er kennt nur ein Entweder-Oder. Da er den Konflikt austragen musste, hatte er keine andere Möglichkeit, als entschieden Partei zu ergreifen. Wenn er selbst als Gemeindeleiter die volle Verantwortung für die Gläubigen einer Ortskirche wahrzunehmen hat, ist er konzilianter, differenzierter, flexibler. An dieser Stelle kommen die Jakobusklauseln ins Spiel. Ihre historische Einschätzung bleibt schwierig. Wären sie, wie Lukas berichtet, auf dem Apostelkonzil beschlossen und sofort in Antiochia beachtet worden, wäre es schwerlich zur Abgrenzung der Judenchristen gekommen, die zum antiochenischen Zwischenfall geführt hat. Aus den Klauseln abzuleiten, Gal 2 und Apg 15 handelten nicht vom selben Ereignis, ist aber ebenso wenig schlüssig wie eine chronologische Einordnung des Zwischenfalls vor dem Konzil.42 Die Klauseln spielen in den Paulusbriefen nie eine Rolle, auch wo sie hätten wichtig werden können: In den Rechtfertigungsdebatten hätte es hinreichenden Anlass – und genügend Möglichkeiten – gegeben, die Einhaltung der Klauseln von den „Werken des Gesetzes“ zu unterscheiden. Die Lösung, die Paulus im Götzenopferstreit mit dem Appell an die Verantwortung der „Starken“ empfiehlt (1Kor 8–10), ist im Ergebnis nicht so weit von den Klauseln entfernt, aber in der Begründung nicht von ihnen abhängig, sondern von der paulinischen Theologie der Glaubensfreiheit. Die mit Schwierigkeiten verbundene, aber relativ einfachste Lösung besteht darin, anzunehmen, dass Lukas die Jakobusklauseln, die in Jerusalem entwickelt worden sind, mit dem Apostelkonzil verknüpft hat, auch wenn sie zeitlich später entstanden sein mögen und zur Wirkungsgeschichte nicht nur des Jerusalemer Abkommens, sondern womöglich auch des antiochenischen Streits gehört haben. Wie Lukas richtig gesehen hat, stimmen sie mit der Völkermission und der Rechtfertigungslehre voll überein, achten aber das Judentum der Judenchristen.
42
Das ist eine These von Lüdemann, Paulus. Er argumentiert, dass die Reihenfolge der Themen in Gal 2 nicht der Chronologie, sondern der Rhetorik geschuldet sein könnte.
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5.
Ein urbanes Phänomen
Der antiochenische Zwischenfall ist ein Großstadtkonflikt. Die syrische Metropole43, damals eine Weltstadt, bringt Vertreter unterschiedlicher ethnischer und religiöser Herkunft zusammen. Sie ist ein Schmelztiegel theologischer Biographien, ein Zentrum für Handel und Wandel, ein Forum für Debatten, ein Mistbeet für religiöse Bewegungen. Der Konflikt setzt ein starkes Judentum am Ort voraus. Alle Informationen, die man über das antike Antiochia beziehen kann, bestätigen dies.44 Ohne die jüdische Präsenz gäbe es weder einen Mutterboden für das Aufkeimen des Judenchristentums, das stark gewesen sein muss, noch einen Resonanzboden für den Druck, der „aus der Beschneidung“ aufgebaut wird. Der Konflikt setzt auch ein stark wachsendes, theologisch profiliertes Christentum in Antiochia voraus. Die Stadt spielt eine Schlüsselrolle in der Missionsgeschichte des Urchristentums. Von Anfang an sind die Beziehungen zu Jerusalem sehr eng: Nikolaus, einer der Sieben, stammt aus der syrischen Hauptstadt (Apg 6,5). Lukas hat in seinem Bild der Gemeinde nur stärker modelliert, was jede historische Recherche in etwa bestätigen würde: Dort haben die in Jerusalem verfolgten Hellenisten Zuflucht gefunden (Apg 11,19)45; dort haben „einige, die aus Zypern und der Zyrene stammten“, mit einer programmatischen Heidenmission begonnen (Apg 11,20f.); dorthin ist wegen ihres Erfolges Barnabas aus Jerusalem zu einer Art Visitation entsandt worden; dort hat er sich vom großen Erfolg der Verkündigung überzeugt (Apg 11,22–24); dorthin hat er etwas später Paulus aus Tarsus geholt (Apg 11,25f.); dort sind die Gläubigen erstmals „Christen“ genannt worden (Apg 11,26); dort ist das Basislager für die erste Missionsreise (Apg 13–14). Apg 13,1–3 spiegelt Lokalkolorit wider: Propheten und Lehrer konnte es auch auf dem Lande geben, aber die Namensliste zeigt eine so bunte Zusammensetzung der Protagonisten, wie sie nur in einer hellenistischen Großstadt vorstellbar war. Gal 2,11–14 erlaubt es, das Bild noch farbiger zu gestalten. Der Konflikt lässt sich gleichfalls nicht erklären, ohne dass es eine namhafte Anzahl von Christen gegeben hätte, die in verschiedenen Gemeinden oder wenigstens an verschiedenen Orten zusammengekommen wären, aber sich auch als eine Einheit, sozusagen als Kirche vor Ort, als Kirche in der Stadt gesehen haben. Die Treffen werden, wie üblich, in Häusern, vielleicht auch in Gaststätten, Vereinsheimen und Kulturzentren stattgefunden haben, möglicherweise organisiert nach Sprachgruppen, Landsmannschaften und Kulturkreisen. Aber wenigstens in der Sicht des Paulus – weniger vielleicht der Sezessionisten – bildet Antiochia auch eine kirchliche Einheit. Es ist nicht ganz klar, was er vor Augen stellt, wenn er schreibt, dass er Petrus „vor allen“ widerstanden habe (Gal 2,14). Sind alle Ju43
44 45
Vgl. Kolb, Antiochia; ein Spezialproblem der Antiochia-Forschung erschließen Brands/Hopfner/Pamir, Antiochia. Vgl. Hahn, Gemeinde. Vgl. zu den theologischen und historischen Aspekten Kraus, Hellenisten; zur literarischen Darstellung vgl. Penner, Praise.
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denchristen gemeint, die sich „abgesondert“ haben? Ist an eine Vollversammlung der Christen Antiochias gedacht? Oder meint er nur ein meeting der in Apg 13,1 erwähnten „Propheten und Lehrer“? So oder so muss es ein Forum gegeben haben, in der die Stadtkirche anschaulich, erlebbar, gesprächsfähig werden konnte. Das Milieu des Konfliktes ist urban. Nur eine Stadt in günstiger Lage, mit bewegter Geschichte, ausgebauter Infrastruktur, erheblicher Größe und hohen politischen, ökonomischen, kulturellen Gewichts kam als Schauplatz eines solches Ereignisses in Frage. Antiochia am Orontes bot die denkbar besten Voraussetzungen für die kirchenpolitische und missionsgeschichtliche Entwicklung der frühesten Kirche. Antiochia ist auch die politische Oberhauptstadt Judäas und Jerusalems. Das hat sicher zur Verbindung zwischen den Städten und zur Bedeutung antiochenischer Entwicklungen auch für Jerusalem beigetragen. Auch das Zusammentreffen so vieler prominenter Christen der ersten Stunde setzt eine Großstadt als Begegnungsfläche voraus und lässt sich am leichtesten für die Kapitale Syriens erklären. Nur Jerusalem wäre noch in Frage gekommen, wie das Apostelkonzil zeigt. Aber der Konflikt konnte nicht in Israel, sondern nur in der Diaspora entstehen, weil nur dort eine Völkermission stattfinden konnte. Weshalb Paulus und Barnabas in Antiochia sind, ist klar: Es ist ihre Heimatgemeinde, auch nach der ersten Missionsreise. Weshalb Jakobus von Jerusalem aus ein Auge für Antiochia hat, ist auch klar: Die Beziehungen zwischen beiden Großstädten sind eng; so wie es schon einmal – mit Barnabas – einen Abgesandten aus Jerusalem gab, der zusehen sollte, ob in Antiochia alles mit rechten Dingen zuging (Apg 11,22–24), so gibt es vor dem Zusammenstoß eine neue Intervention. Schwerer ist zu erklären, weshalb Petrus in Antiochia war. Aus Gal 2 geht der Grund nicht hervor. Dass er dort war, passt aber ins historische Bild: Lukas schildert Petrus als Missionar nicht nur in Jerusalem, sondern auch über die Grenzen Judäas hinaus, wenngleich nur Caesarea am Meer direkt erwähnt wird, aber doch immerhin – wenn man den Äthiopier von Apg 8 anders einordnet – mit der ersten Taufe eines Gottesfürchtigen (Apg 10). Lukas wendet sich nach dem Apostelkonzil (Apg 15) ganz Paulus und seinen Missionsreisen zu. Das bedeutet aber keineswegs, dass die Aktivitäten Petri zum Erliegen gekommen wäre. Kephas ist immerhin bis Rom gekommen46 und war auch in Korinth bekannt (1Kor 1,12; 3,22; 9,5; 15,5). Er scheint also eine ähnliche Strategie urbaner Mission verfolgt zu haben wie Paulus, ohne dass er den Ehrgeiz gehabt zu haben braucht, nur dort „das Evangelium zu verkünden, wo Christus noch keinen Namen hat“ (Röm 15,20). Sein Aufenthalt in Antiochia scheint kein Zufall, sondern Ergebnis seines missionarischen und pastoralen Engagements gewesen zu sein. Auch seine anfängliche Tischgemeinschaft mit den Heidenchristen passt gut ins Paulusbild der Apostelgeschichte, denn nach Lukas ist Petrus ja in seiner Vision gezeigt worden, dass man keinen Menschen unrein nennen soll (Apg 10,28; 11,9; vgl. 10,15). Paulus ist ein Großstadtmensch, der wie ein Städter gedacht und gehandelt hat, vor und nach seiner Berufung. Paulus hat sich von Barnabas wohl auch des46
Das bestreitet wieder Zwierlein, Petrus. Gegenargumente forcieren Gnilka/Heid/Riesner, Blutzeuge.
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halb nach Antiochia locken lassen (Apg 11,25f.), weil er die strategische Bedeutung der Stadt für die Völkermission erkannt und später zielstrebig genutzt hat. Nur dadurch kam es zur Kontroverse zwischen Juden und Christen, die auf innerkirchliche Konflikte abgefärbt hat. Petrus kommt zwar wie Jakobus vom Lande; der antiochenische Streit ist aber kein Stadt-Land-Konflikt. Eher ist er ein Konflikt zwischen Jerusalem und Antiochia, der aber mehr auf einer religionspolitischen als auf einer theologischen Ebene lag und deshalb so gelöst werden konnte, dass die engen Beziehungen zwischen beiden Städten weiter gepflegt werden konnten. Der Unfall ist im Großstadtverkehr von Antiochia passiert. Dort waren auch die Reparaturwerkstätten vorhanden. Es gab keinen Personen-, sondern nur Sachschaden. Er bleibt bemerkenswert, weil die Unfallbeteiligten zwei Apostel sind, die man sonst eher als Polizisten erwartet hätte. Paulus hat den Unfall weniger als Opfer erlitten, denn als Beteiligter genutzt, um – Anwalt in eigener Sache und Richter in einer Person – Petrus die Schuld zuzuschieben (wofür es offenbar Gründe gab); dadurch konnte es ihm gelingen, zuerst in Antiochia die Heidenchristen vom Anpassungsdruck zu befreien und dann in Galatien den Konflikt und seine Lösung als Anschauungsmaterial für die Rechtfertigungsthese zu nutzen. Der antiochenische Zwischenfall hatte es von Anfang an schwer, als Crash wahrgenommen zu werden; dafür ist die Apostelgeschichte ein erstes Beispiel. Hätte ihn Paulus im Galaterbrief nicht erwähnt, wäre er vergessen worden. Er war aber wichtig: als Beispiel für kirchliche Streitkultur, als Weichenstellung für die Einheit der Kirche auf der Basis der apostolischen Sendung und der Rechtfertigungslehre, nicht zuletzt als Dokument urbanen Glaubenslebens in einer antiken Metropole.
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1.
Spekulationen zur Entstehung des Hebräerbriefes
„Der Hebräerbrief wurde im März des Jahres 62 nach Christus vom Apostel Philippus von Antiochia aus an judenchristliche Gemeinden der Nachbarstädte geschrieben.“ Solche klaren Angaben sind der Wunschtraum der Exegeten und noch mehr der Studierenden. Doch weist schon die Detailgenauigkeit auf den ironischen Charakter der Auskunft hin; mitnichten kennen wir den auctor ad Hebraeos namentlich, noch das Abfassungsdatum, noch den Abfassungsort, noch den Zielort des Briefes, der nicht einmal als Brief gelten kann. Unterm Strich so die Bilanz der bisherigen Forschung wissen wir nichts sicher über die Entstehungsumstände des Hebräerbriefs.1 Was die Datierung des Hebräerbriefs anbelangt, reichen die Spekulationen von den 50er Jahren des 1. Jh. bis hin zum frühen 2. Jh. n. Chr.2 Die Argumente für die mehrheitlich vertretene (Spät-)Datierung nach 70 n. Chr. konzentrieren sich auf die Aussagen über die Glaubensmüdigkeit einer zweiten bzw. dritten christlichen Generation (vor allem Hebr 10,25–37), auf eine fortgeschrittene am Gegensatz von Himmel und Erde ausgerichtete Eschatologie (besonders Hebr 8,1–5; 9,24) sowie auf das gegenüber Paulus fehlende charismatische Element in der Gemeinde. (Früh-)Datierungen vor 70 n. Chr. verweisen auf eine theologische Nähe zum Römerbrief bzw. auf eine erkennbare Auseinandersetzung mit dem noch intakten Jerusalemer Tempelkult (besonders Hebr 8,13–9,10). Die Argumente sind austauschbar und jeweils durch treffende Gegenargumente zu entkräften. Unterm Strich lässt sich nichts sicher sagen. Dasselbe Dilemma gilt für die Frage nach dem Autor. Die Auslegungsgeschichte hat mit Ideen und Namen nicht gespart – von Paulus selbst als Autor (einer hebräischen Vorlage?) über diverse „Hellenisten“ bis hin zu Maria, der Mutter Jesu, reicht das Spektrum. Während über die Nichtautorschaft des Paulus heute ein weitgehender Konsens besteht, herrscht ansonsten Unsicherheit, zumal 1
2
Überblicke über die Forschungsgeschichte bieten unter anderem Kümmel, Einleitung, 353–355; Grässer, Hebräer, 13–38; Schnelle, Einleitung, 420f.; Bruce, To The Hebrews, 3496–3521. Berger/Nord, Schriften 182, vertreten eine extreme Frühdatierung um 56 n. Chr., aufgrund der Nähe zum Römerbrief und noch offener Grundfragen im Verhältnis zum Judentum. Für eine Datierung in die Zeit Domitians plädiert unter anderem Grässer, Hebräer 25 (der dort auch eine ausführlichere Diskussion der Forschermeinungen bietet). Attridge, Hebrews 9, lässt den Zeitraum bewusst offen (60–100 n. Chr.) – Zu den immer wieder behaupteten Christenverfolgungen unter Domitian vgl. Erlemann, Datierung, 595–597.
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über die genannten Autoren theologisch weiter nichts bekannt ist. Wie im Falle der Datierung wird auch die Frage der Autorschaft als theologisch unerheblich, ja die Anonymität des Schreibens sogar als historisch bewusst so gewollt bezeichnet.3 Nicht anders sieht es in der Frage des Abfassungsortes und der Zieladresse aus: Der geographische Hinweis in Hebr 13,24 („Brüder aus Italien“) ist fiktiv. Die Bezeichnung "" für die Gemeindeleiter könnte auf Rom als Abfassungsort hindeuten (Hebr 13,7.17.24 vgl. 1Clem 1,3; 21,6).4 Auch Antiochia am Orontes wurde schon als Zielort in die Diskussion gebracht.5 Aus dem restlichen Schreiben lassen sich Hinweise auf eine heidenchristliche Klientel (Hebr 6,1) und auf judenchristliche Anteile (besonders Hebr 11) entnehmen, so dass vage von einer, möglicherweise auch mehreren heterogenen Adressgemeinden auszugehen ist. Deren Situation ist augenscheinlich durch äußere Anfeindungen und Absprungtendenzen gekennzeichnet (Hebr 10,25–34). Viel mehr lässt sich jedoch nicht sagen.6 Auch lassen diese Erkenntnisse keine Rückschlüsse auf die Datierung zu. Was für die einen ein klares Zeichen einer späteren Entwicklung ist, ist für die anderen genauso schon vor der Zerstörung Jerusalems etwa im Kontext des ersten Jüdischen Krieges vorstellbar. Fazit: Die Einleitungsfragen des Hebräerbriefes lassen vieles offen und werden wohl auch in Zukunft vieles offen lassen. Gleichwohl lässt sich meines Erachtens aufgrund von Überlegungen zum inhaltlich-theologischen Profil das Spektrum der möglichen Angaben eingrenzen (weiter dazu s. Punkte 5.–7.).
2.
Spekulationen zu Antiochia im 1. Jh. n. Chr.
Der Erkenntnisstand zu Antiochia am Orontes (das heutige Antakya) im ersten Jahrhundert n. Chr. ist ähnlich dürftig wie der zur Entstehung des Hebräerbriefes.7 Archäologische Zeugnisse gibt es wenig, auch nicht über eine jüdische Gemeinschaft in der syrischen Stadt. Die bekannten Inschriften stammen vornehmlich aus spätantiker Zeit. Die literarischen Auskünfte des Josephus sind mit 3
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So Grässer, Hebräer, 21. Hier werden auch die bislang angebotenen Autorennamen gelistet. – Vgl. auch die Diskussion bei Weiß, Hebräer 62–65. So Bruce, Hebrews, 3519: „The group to which the Epistle to the Hebrews was sent is unlikely to have been monolithic in doctrine or practice. All in all, this document has powerful claims to be welcomed for the contribution which it makes to our all-too-scanty knowledge of Roman Christianity in the later years of the Julio-Claudian dynasty.” – Rom als Zielort ist jedoch unsicher, vgl. die Diskussion in Kümmel, Einleitung, 353f., Schnelle, Einleitung, 421, und Grässer, Hebräer, 22–24. In jedem Fall zeichnen sich die "" durch ihren (bis zum Martyrium?) vorbildlichen Glauben aus, was wiederum eine Nähe zur Stephanustradition anzeigt (vgl. Erlemann, Alt und neu, 367). Spicq, Hébreux, 247–251. Auf den typischen Charakter der Gemeindesituation, der keinen Rückschluss auf Ort oder Zeit zulasse, weist zu Recht Grässer, Hebräer, 25, hin. Zum Folgenden vgl. Haensch/Zangenberg, Antiochia; Barclay, Diaspora; Brooten, Jews; Ashbrook Harvey, Antioch; Finegan, Archeology.
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der üblichen Vorsicht zu genießen, ebenso die Angaben der Apg, des Paulus und des antiochenischen Mönchs Johannes Malalas (491–578 n. Chr.).8 Gegründet wurde Antiochia um 300 v. Chr. durch den Diadochenkönig Seleukos I., der die Stadt nach seinem Vater Antiochos benannte. Antiochia am Orontes entwickelte sich zur Metropole des seleukidischen Reiches. Sie lief der offiziellen Hauptstadt Seleukia den Rang ab und avancierte zur Residenz der Seleukidenkönige. Unter Antiochos III. d. Gr. nahm die Stadt einen großen Aufschwung, ab 64 v. Chr. war sie Teil der römischen Provinz Syria und erhielt unter Caesar 47 v. Chr. den Status einer civitas libera. Seit Augustus war Antiochia Sitz des römischen Statthalters der Provinz Syria. Als größte Stadt der syrischen Tetrapolis hatte Antiochia eine ähnliche Bedeutung wie Alexandria.9 Über das religiöse Leben der Stadt in der frühen Kaiserzeit ist wenig bekannt. Neben dem obligatorischen Zeus- und Apollokult und später dem Kaiserkult gab es nur wenige markante Kulttraditionen. Eine jüdische Diasporagemeinde wird von Flavius Josephus bestätigt.10 Deren Rang im Rahmen der antiochenischen Polis war wohl nicht unbedeutend; jedenfalls dürfte sie eine relative Autonomie genossen haben, ihr Ansehen war wohl lange Zeit konstant.11 Die jüdische Gemeinde war recht begütert, sollte die Erwähnung teurer Geschenke an den Jerusalemer Tempel korrekt sein.12 Folgt man Flavius Josephus (bell. VII 46–53), kam es wie andernorts auch erst im Zusammenhang der Caligulakrise und später des ersten Jüdischen Krieges, als Titus auch in Antiochia Truppen aushob, zu Konflikten. Doch selbst in dieser Phase blieb die jüdische Gemeinde dank der Intervention des Titus vorläufig vor Übergriffen und Restriktionen verschont.13 Die jüdische Gemeinde war nach Jos, bell. VII 43–45 schon früh für zahlreiche Nichtjuden attraktiv. Viele von ihnen wurden zu Gottesfürchtigen, was der späteren christlichen Mission unter Nichtjuden den Boden bereitete. Ausweislich Apg 8,1–4 war Antiochia neben der phönizischen Küste und Zypern die erste wichtige Anlaufstation der aus Jerusalem geflüchteten „Hellenisten“. Apg 13,1 nennt Propheten und Lehrer wie Barnabas, Simeon Niger, Lucius von Kyrene, Manaen und Saulus (Paulus) als erste Missionare in Antiochia (vgl. 8
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Malalas berichtet von einem bewaffneten Konflikt zwischen Griechen und Juden unter Caligula. Der in Chron 10,20 geschilderte militärische Marsch 30.000 bewaffneter Juden und Galiläer nach Antiochien macht den Bericht indes historisch unglaubwürdig. So Strabo, 16,2,4f. So siedelten Juden in Antiochia wohl schon im 3. Jh. v. Chr., vgl. Jos, ant. XII 119–124; Ap 2,38f.; bell. VII 44. – Nach 1Makk 1,41f. kam es unter Antiochos IV. zu einer Normierung des Kultes – nur noch der Zeuskult sollte gelten. Nach 1Makk 11,41–51 suchte der König bei einem Volksaufstand im ersten Jahrhundert v. Chr. erfolgreich Schutz bei den Juden Antiochias. Brooten, Jews, 29–31. – Umstritten ist der rechtshistorische Status der Juden. Die Angabe des Josephus, die Juden seien Bürger der Polis gewesen (ant. XIX 280–285), wird von PapLond 1912 (CPJ II, 153) nicht bestätigt. Zur Diskussion vgl. Kasher, Diaspora. Jos, bell. VII 45. Die erste christliche Gemeinde in Antiochia war ebenfalls in der Lage, Jerusalem zu unterstützen (Apg 2,27– 30). Brooten, Jews, 32, ausweislich Jos, bell. VII 54–62.110f. – Der Status der Juden verschlechterte sich demnach deutlich erst unter Hadrian und vollends unter den christlichen Kaisern des 4. Jh. n. Chr.
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Apg 11,19–30). Wahrscheinlich war auch Petrus in Antiochia aktiv (Apg 12,17). Hier wurden nach Apg 11,26 die Christen das erste Mal als 7 bezeichnet. Von Antiochia aus organisierten Paulus, Barnabas und Silas die ersten großen Missionsreisen. Später wurde Ephesus zum „Basislager“ der paulinischen Mission, während Barnabas mit Johannes Markus nach Zypern ging (Apg 15,39), während Petrus und andere möglicherweise noch länger in Antiochia blieben.14 Zum so genannten „Apostelkonzil“ zog Paulus mit einer Delegation der antiochenischen Gemeinde nach Jerusalem, um dort unter der Auflage einer Kollekte für die dortige Muttergemeinde den Segen für die beschneidungsfreie Mission unter Nichtjuden zu erhalten (Apg 15; vgl. 11,30; 12,25). In Antiochia kam es nach Gal 2,11–21 zum so genannten „antiochenischen Zwischenfall“, in dem Paulus und Petrus wegen der Tischgemeinschaft von (ehemaligen) Juden und Nichtjuden aneinander gerieten. Der Vorfall zeugt von der Heterogenität der frühen antiochenischen Gemeinde, die der Pluriformität der großstädtischen Bevölkerung entsprach. Die liberale paulinische Position findet sich in Antiochia am Anfang des 2. Jh. in den Briefen des dortigen Bischofs Ignatius wieder. Ein gnostisch gefärbtes Christentum in Antiochia wird im weiteren Verlauf durch Menander, Tatian, Saturnin und Kerdon bezeugt.
3.
Die theologische Position der „Hellenisten“
Der Kreis um Stephanus, die so genannten „Hellenisten“, trat schon früh als eigenständige christliche Gruppierung in Jerusalem in Erscheinung. Ihr Hauptmerkmal war Griechisch als Muttersprache und, begünstigt durch ihre biographische Distanz zu Jerusalem, eine eigenständige Bewertung des Jerusalemer Tempels und seines Kultes. Namentlich als „Hellenist“ antiochenischer Herkunft bekannt ist Nikolaos, einer der sieben Diakone aus Apg 6,5. Zu den typischen Positionen antiochenischer Christen zählt Berger15 die Ausprägung des Apostelbegriffs, erste Formen der Logos-Christologie (unter anderem mit der Vorstellung vom himmlischen Fürsprecher, vgl. Röm, 1Joh, Hebr), die Überbietung des Mose durch Christus (vgl. MkEv, JohEv, 2Kor, Hebr), die verstärkte Orientierung an der himmlischen Welt (Rede vom himmlischen Jerusalem und vom himmlischen Bürgerrecht, vgl. Hebr, Kol, Apk, Ign), die Deutung des Todes Jesu im Kontext des Jom-Kippur-Ritus (vor allem Röm und Hebr) und der Bundesverheißung (Mk, Röm, 2Kor, Hebr u.a.), das Martyrium als adäquates Nachfolgemodell (JohEv, Paulus, Hebr, 1Petr) sowie die Ausprägung früher Modelle der Heidenmission (Paulus, Apollos, Petrus). Als maßgeblich von hellenistisch-antiochenischer Theologie beeinflusst sieht Berger 14
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Für die Bedeutung des Petrus für das christliche Antiochia spricht der Name der Hauptkirche St. Peter („Grotte“). Sie wird nach Clem recogn. 10,71 auf ein Geschenk des Bürgers Theophilus an Petrus und die Gemeinde zurückgeführt (Finegan, Archeology, 69). Petrus gilt nach Euseb, h.e. 3,22,1 als erster Bischof von Antiochia. Vgl. Berger, Theologiegeschichte, 200–460.
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neben Paulus und seinen Schülern die johanneischen Schriften, Markus, Matthäus, die Johannesoffenbarung, den ersten Petrus-, den Judas- und den Hebräerbrief. In der jüdischen Diaspora wurde die geographische Entfernung zum Tempel in Jerusalem schon früh theologisch kompensiert. Dazu gehörte die Aussage, dass Jahwe nicht in einem Tempel aus Stein lebe (1Kön 8,27; Jes 66,1; Apg 17,24) und dass es letztlich nicht auf die äußere Befolgung von Kultvorschriften, sondern auf deren inneren Nachvollzug ankomme (Sib 4,6–12;). Philo von Alexandrien (ca. 15 v. Chr.–45 n. Chr.) hat die Position klassisch ausformuliert.16 Die Alternative zum Jerusalemer Tempel sieht die „hellenistisch“ geprägte Theologie in einem himmlischen Heiligtum, das nicht mit Händen gemacht ist,17 oder im Leib der Christen als „Tempel“ (1Kor 6,19; vgl. Hebr 3,6). Die Vorstellung vom Menschensohn bzw. Hohenpriester, der im Himmel die Sühne vollzieht (Apg 7,56; Hebr; vgl. TestBenj 10,8), sowie die Auslagerung diakonischer Aufgaben aus dem Tempel (Apg 6) sind ebenfalls Indizien für die kultische Emanzipation des „hellenistischen“ Christentums. Das negative Geschick Israels wird in Apg 7,40–43 auf kultische Vergehen zurückgeführt, deren Spitze der Bau des Salomonischen Tempels war (V. 47). Die Kritik des Stephanus endet mit der Anklage Israels wegen der fortgesetzten Verfolgung der Propheten; dies wird als Widerstand gegen den heiligen Geist und gegen die von Engeln vermittelte Tora gewertet (Apg 7,51–53). Stephanus wurde seine Tempelkritik zum Verhängnis (Apg 6,13; 7,44–50; vgl. 6,14). Die nach Antiochia und anderswo ausgewichenen „Hellenisten“ brachten ihr theologisches Erbe mit; einige theologische Positionen, die späteren Briefen und den Evangelien gemeinsam sind, dürften bei den „Hellenisten“ ihren Ausgangspunkt gehabt haben. Fazit: Die „Hellenisten“, deren Position sich in der Rede des Stephanus spiegelt, führen als Kronzeugen für ihre Tempelkritik Mose und die durch Engel vermittelte Tora an. An die Stelle des von Händen gemachten Tempels und seines Kultes tritt die Orientierung an Mose, den Propheten und am Heiligen Geist als den adäquaten und von Gott selbst autorisierten Mittlerinstanzen.
4.
Die theologische Problemstellung des Hebräerbriefs
4.1
Auseinandersetzung mit der jüdischen Kultpraxis
Im Mittelpunkt des Hebräerbriefes steht die Auseinandersetzung mit der jüdischen Kultpraxis (Hebr 4,14–10,18). Fokussiert werden besonders der Jom-Kip16
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Philo, Plant 126; Quaest in Ex II 2 (ad 22,21); Migr 89–93 u.a. – Zum Vergleich zwischen Philo und dem Hebräerbrief vgl. Gräßer, Glaube 95–146, Söding, Zuversicht und Geduld, 237, sowie Köster, Abraham-Verheißung, 102f. TestSal; Philo, Decal 82; VitMos II 74ff., 141; SpecLeg I 66ff.; Congr 116f.; vgl. Sap 9,8; Mk 14,58; Joh 2,19–21; Apg 7,48; 17,24; Hebr 9,11.24; Barn 16,7.
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pur-Ritus, Speiseregeln und (Lob-)Opfer (Hebr 13,9.15). Dem Autor liegt daran, die Kultvorschriften als überholt, da ineffizient, zu erweisen und die christliche Alternative dagegenzustellen. Die Dominanz des Themas ist ein sicheres Indiz dafür, dass es sich nicht um eine „akademische“ Auseinandersetzung handelt, sondern dass das alltägliche Leben der Adressatengruppe – und möglicherweise auch des Autors – erheblich davon beeinflusst wurde. Damit rückt der Hebräerbrief in die Nachbarschaft anderer neutestamentlicher Schreiben, die ebenfalls eine Verhältnisbestimmung zur jüdischen Kultpraxis vornehmen. Zu nennen sind vor allem der Galater- und der Kolosserbrief sowie die johanneischen Schriften und der Barnabasbrief. Während es im Hebräerbrief um den Jerusalemer Tempelkult, Speisegebote und Opfergaben geht, geht es im Galaterbrief um die Beschneidung.18 Gegen massive jüdisch-judenchristliche Remissionierungsversuche streicht Paulus den grundsätzlichen Stellenwert einer äußerlichen Beschneidung heraus: Wer in diesem einen Punkt der jüdischen Kultpraxis folgt, entscheidet sich im Ganzen für sie (Gal 5,3). Dasselbe gilt für die Verweigerung der Mahlgemeinschaft mit Nichtjuden (Gal 2,14–18). In einer breit angelegten Argumentation erweist Paulus die Tora als erledigtes Provisorium (Gal 3,15–26). Der scharfe Ton, den Paulus anschlägt, lässt vermuten, dass Paulus die Gemeinden Galatiens als stark gefährdet ansieht; offenbar war die jüdische Kultpraxis für sie attraktiv, so dass die Remissionierungsversuche von Erfolg gekrönt waren – selbst Petrus ließ sich zu einem gravierenden Rückzieher in Sachen Kommensalität hinreißen („antiochenischer Zwischenfall“, Gal 2,11–21). Mit dem Kolosserbrief verbindet den Hebräerbrief die Polemik gegen jüdische Speisegebote (Kol 2,16; Hebr 13,9). Im Kolosserbrief kommen die Observanz jüdischer Festtage und das Problem der Engelverehrung hinzu (Kol 2,16.18). Die dortige Argumentation ist der des Hebräerbriefes unmittelbar vergleichbar: Für beide ist die jüdische Kultpraxis in platonischer Nomenklatur nur ein „Schatten“ des Eigentlichen, Zukünftigen bzw. Himmlischen (Kol 2,17; Hebr 8,5; 10,1). Beide Schriften betonen außerdem die Überlegenheit Christi über die Engel (Kol 2,10.19: Christus ist das Haupt aller Mächte und Gewalten; Hebr 2,5–10: Christus ist, nachdem er eine Zeitlang unter den Engeln rangierte, der gekrönte himmlische Herrscher).19 Der Barnabasbrief bietet in Kap. 16 eine dem Hebräerbrief sehr nahe stehende, radikale Auseinandersetzung mit dem Jerusalemer Tempelkult. Auch hier wird der sichtbare Tempel als irrtümliche Behausung Gottes entlarvt, auch hier erfolgt der Rekurs auf alttestamentliche Tempelkritik (Barn 16,2 im Rückgriff auf Jes 40,12), auch hier wird dem irdischen Tempel der unvergängliche, unsichtbare himmlische Tempel gegenübergestellt (Barn 16,9f.), auch hier wird die Bundestradition mit ihrer Kontrastierung von außen und innen aufgenommen 18 19
Ausführlich zum Vergleich zwischen Paulus und Hebräerbrief: Erlemann, Alt und neu. Zur Frage der Gegner im Kolosserbrief vgl. Wolter, Kolosser, 155–163, und Berger, Theologiegeschichte, 466–469. – Die Rede vom freien Zugang zu Gott (2Kor 3,12; Kol 2,18; Hebr 4,16; 10,19) korreliert der Kritik an der Engelverehrung: Die Engel haben ihre Funktion als Mittler zwischen Gott und Menschen verloren (anders hebHen 43,2; Apk 1,4f.; Justin, Apol I 6,2).
Kurt Erlemann
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(Barn 16,7–10). Im Unterschied zum Hebräerbrief betont Barnabas das Herz der Glaubenden als eigentliche Wohnung Gottes bzw. als „Tempel des Heiligen Geistes“ (Barn 16,10).
4.2
Die neue, himmlische Heilswirklichkeit
Die Alternative, die der Hebräerbrief zur jüdischen Kultpraxis entwickelt, folgt einem Schema, das auch bei Paulus, in der Paulusschule und in der johanneischen Tradition erkennbar ist: Das eigentliche und einzig soteriologisch relevante Geschehen findet schon jetzt im Himmel statt. Für Paulus haben die Glaubenden bereits das „himmlische Bürgerrecht“ (Phil 3,20, vgl. Hebr 12,23), Christus ist jetzt schon im Himmel inthronisiert (Kol 3,1; vgl. Phil 2,9–11; Hebr 2,5–10). Er ist dort Herr über Mächte und Gewalten (Röm 8,34–39; Kol 2,10.19) und übt die entscheidende Mittlerfunktion zwischen Gott und Menschen aus (Röm 8,34; 1Joh 2,1: Christus als Anwalt bzw. Paraklet der Glaubenden; Hebr 7,25: Christus als himmlischer Hoherpriester, der für die Glaubenden Fürbitte leistet, vgl. Hebr 12,24). Damit ist der Jerusalemer Tempelkult in seinem Kern überholt. An die Stelle des irdischen tritt das himmlische Jerusalem, das schon immer bestanden hat und das Urbild des irdischen auf Zeit gebauten Jerusalem war (Gal 4,26; Hebr 12,22; Apk 21). Analog dazu wird der Jerusalemer Tempel durch den Tempel im Himmel, der nach Ex 25,40 das Urbild der Stiftshütte war, abgelöst. Der Kreis schließt sich – der Gott Israels, der noch nie wirklich im Tempel Platz fand, erhält die Verehrung, die seiner unendlichen Größe adäquat ist, zurück.20 In ethischer Hinsicht bedeutet das die radikale Abkehr von äußerlicher Kultpraxis hin zur (inneren) Befolgung des Liebesgebotes, des Bekenntnisses und der Selbsthingabe in der Nachfolge Christi (Röm 2,28f.: „Beschneidung des Herzens“; Röm 12,1: Hingabe als „vernünftiger Kult“; Joh 13: gegenseitiger Liebesdienst statt anderer Kulthandlungen; Hebr 13,15f.: Bekenntnis und Tun des Guten als die besseren Opfer).
4.3
Argumente gegen die Unsichtbarkeit des Neuen
Das Problem der beschriebenen Alternative zur jüdischen Kultpraxis besteht in der Unanschaulichkeit des neuen Kultes bzw. in der Unsichtbarkeit der neuen Heilswirklichkeit. Ausweislich Hebr 2,8f. ist der erhöhte Christus zwar schon der strahlende Sieger über die kosmischen Mächte, dies ist aber auf Erden unsichtbar und hier noch zu „ratifizieren“ (Hebr 10,13; vgl. 1Kor 15,23–28). Der Glaube in der Definition von Hebr 11,1 ist geradezu der Beweis für das Unsichtbare und der sichtbare Anfang des Erhofften (vgl. Hebr 11,7.27). In dieser Problematik liegt die Chance jüdisch-judenchristlicher Remissionierungsversuche und der Grund für die bleibende Attraktivität sichtbarer, bun20
Jes 66,1; Apg 17,24; vgl. Hebr 8,1–5; weiter Joh 4,23f.: Anbetung Gottes in Geist und Wahrheit.
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ter Kultpraxis – gleich, ob es sich um jüdische oder nichtjüdische Kulte handelt. Der Lösungsansatz besteht in allen Fällen aus einer Kombination platonischphilonischer Denkmuster21 und der Benennung sichtbarer Anfänge, die das Ganze der geglaubten, aber unsichtbaren Heilswirklichkeit verbürgen. Das bedeutet, dass die sichtbare Realität des Neuen grundsätzlich in die Sphäre des Himmels verlagert wird. Der „eschatologische Vorbehalt“ besteht in diesem Fall in der Sichtbarwerdung des Neuen in baldiger Zukunft („revelatorische Naherwartung“22, Röm 8,18–25; Eph; Kol). Die sichtbare Welt gilt dagegen als vergängliche, dem Ende nahe Realität (1Kor 7,29.31; vgl. Hebr 8,13). Die sichtbaren Anfänge, die benannt werden, sind das Ostergeschehen (Christus als „Erstgeborener“, Röm 8,29; 1Kor 15,20.23; vgl. Kol 1,18; Hebr 1,6), der Heilige Geist mit seinen charismatischen Wirkungen (vor allem Paulus, Apg; Hebr 6,4–6: „Gaben des Anfangs“)23, der Glaube gegen alle sichtbare Realität (Hebr 11)24 und die Leiden der Glaubenden als sicheres Indiz der Endzeit (Mk 13parr.; 1Kor 4f.; 1Petr 4; Hebr 10; Apk).25
5.
Der Hebräerbrief – ein Schreiben von „Hellenisten“?
Die Nähe des Hebräerbriefes zu antiochenisch-„hellenistischen“ Positionen wurde schon mehrfach herausgestellt.26 Die massive Kritik am sichtbaren Tempelkult in Jerusalem und die Etablierung der Hohepriesterchristologie als theologisch angemessene Alternative ist das Kernstück des „hellenistischen“ Erbes im Hebräerbrief. Aber auch Elemente wie die Rede vom freien Zugang zu Gott (Hebr 4,16; 10,19), vom himmlischen Jerusalem (Hebr 12,22), von Christus als „Bild Gottes“ (Hebr 1,3), von seiner Kenosis (Hebr 2,7ff.) sowie die Rede von Christus als Pionier der Glaubenden, Mittler des neuen Bundes und himmli-
21
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25 26
Nach Philo ist das Unsichtbare, das nicht mit Händen Gefertigte, das Bessere (Decal 82, VitMos II 74ff., 141; SpecLeg I 66ff.; Congr 116f.; vgl. Sap 9,8). Dementsprechend ist die innerliche Gesetzeserfüllung das Entscheidende (Quaest in Ex II 2 [ad 22,11]; Migr 89–93). Zum Begriff vgl. Erlemann, Naherwartung, 392–395. Nach Hebr 3,7; 9,8; 10,15; (vgl. 1Petr 1,10–12) ist die christologische Schriftauslegung die entscheidende Gabe des Geistes. Hebr 1.7.27: Der Glaube ist das, was das Unsichtbare für das Wahre hält und worauf sich die Existenz des Glaubenden ausrichtet; dieser Glaube führt in die Leidensnachfolge; 13,13f. („heraus aus dem Lager“). Vgl. Erlemann, Anfänge. Schon Manson, Hebrews, 25ff., weist auf Analogien des Hebr mit Apg 7 hin. Anders sieht Bruce, Hebrews, 3514, eher einen Kontrast: Während Stephanus den Tempel angreife, schweige der Hebr über ihn. – Weiter Weiß, Hebräer, 88.
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schem Fürsprecher der Glaubenden (Hebr 6,20; 7,22.25; 8,6; 9,24)27 bezeugen das antiochenisch-„hellenistische“ Milieu des Schreibens.28 Darüber hinaus greift der Hebräerbrief einige platonisch-philonische Denkformen auf. Dazu gehören vor allem die Unterscheidung von äußerlich und innerlich (Hebr 7,16), die Unterscheidung von vergänglich und ewig bzw. besser (Hebr 10,34; vgl. 2Kor 4,18), die Betonung der Ethik anstelle des Kultes (Hebr 13,15f.) sowie die platonische Unterscheidung von sichtbaren Dingen und deren Ideen. Nach Hebr 8,5 dienen die Jerusalemer Priester nur dem Abbild und Schatten des Himmlischen, nach Hebr 10,1 hat die Tora nur einen Schatten von den zukünftigen Gütern, nicht das Wesen der Güter selbst (vgl. Kol 2,17). Das Problem, dass der neue „Kult“ unsichtbar und wenig spektakulär ist, wird hierdurch geradezu als untrügliches Indiz des Besseren gewertet (vgl. Röm 8,24; 2Kor 4f.). Wie in Apg 7 erfolgt die Begründung des Neuen mithilfe eines „Altersbeweises“ unter Rückgriff auf die Wurzeln des jüdischen Glaubens (Ex 25: Bau der Stiftshütte nach dem Vorbild des himmlischen Heiligtums). Wie Stephanus bietet der Hebr eine Liste alttestamentlicher Glaubenszeugen auf, um die eigene Position zu rechtfertigen. Neu gegenüber Stephanus ist die radikale Kritik an der defizitär und nutzlos empfundenen Tora (Hebr 7,18f.; vergleichbar Gal 3; anders Röm 7!),29 die hier freilich auf die äußerlichen Kultgebote reduziert erscheint. Mose wird zwar wertgeschätzt, aber eindeutig Jesus untergeordnet (Hebr 3,1–6). Fazit: Die Stoßrichtung des Hebräerbriefes gegen den sichtbaren Jerusalemer Tempelkult und die Etablierung eines unsichtbaren „Gegenkults“ am himmlischen Heiligtum, in dem der erhöhte Christus die entscheidende Rolle spielt, weist den Hebräerbrief als Dokument antiochenisch-„hellenistischer“ Theologie aus. Als Autor kommt meines Erachtens ein prominenter Vertreter früher antiochenisch-„hellenistischer“ Theologie in Frage.30
6.
Überlegungen zur Datierung des Hebräerbriefs
Argumente gibt es sowohl für eine Datierung des Hebräerbriefs deutlich vor 70 n. Chr., als auch für eine Datierung deutlich nach dem Ende des Jerusalemer 27 28
29
30
Zu den Metaphern und ihrer Funktion vgl. Erlemann, Anfänge, 60–86. Mit Berger, Theologiegeschichte, 406 und 441. Berger stellt den Hebr neben Kol und Eph in die Reihe der antiochenischen Brieftradition. Mit Apk verbindet Hebr die Zweiteilung der Welt und die Kritik an Speiseregeln (a.a.O. 455). Paulus sieht im Liebesgebot die bleibende substanzielle Verpflichtung aus der Tora (Röm 13,8–10; Gal 5,14). Zu den bislang favorisierten Autorennamen vgl. Grässer, Hebräer, 21, und Weiß, Hebräer 62–65. Ich selbst hatte zu einem früheren Zeitpunkt den Evangelisten Philippus in Erwägung gezogen (Alt und neu 367; mit Ramsay, Luke, 301ff.). Eine solch konkrete Zuordnung ist natürlich Spekulation. Paulus scheidet als Autor meines Erachtens aus – zu groß sind die Unterschiede, wie sich unter anderem am Stellenwert des heiligen Geistes als einer „Brücke“ zwischen sichtbarer Gegenwart und unsichtbarer Heilswirklichkeit zeigen ließe.
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Tempelkults; die Argumente sind weitgehend austauschbar (vgl. Punkt 1.). Meines Erachtens sprechen mehrere Texthinweise für eine Frühdatierung des Schreibens: Erstens, der alte Kult scheint nach Hebr 8,13 und 10,1–13 zwar seinem Ende nah, aber noch intakt zu sein. Vor diesem Hintergrund wird die Breite der Auseinandersetzung um die jüdische Kultpraxis plausibler. Zweitens, die Rede von der Stiftshütte, die im Hebräerbrief zugunsten der Rede vom Tempel favorisiert wird, ist nicht per se ein Hinweis auf den nicht mehr existenten Tempel und auf einen Rekurs auf den „idealen“ Kult31, sondern ist durch den so genannten Altersbeweis erklärbar: Nur die Stiftshütte, nicht aber der Tempel wird traditionsgeschichtlich auf das Urbild der himmlischen Wohnung Gottes zurückgeführt (Ex 25,9.40; 26,30; vgl. Apg 7,44). Auf diese Tradition rekurriert Hebr 8,5 expressis verbis. Drittens, die theologische Nähe zu Paulus, zum Kolosser- und zum Barnabasbrief32, aber auch zu den johanneischen Schriften macht eine Datierung im vergleichbaren Zeitraum wahrscheinlich. Dieser Zeitraum ist durch die lebendige Auseinandersetzung mit der jüdischen Kultpraxis, durch die Erfahrung von Ausgrenzung und Verfolgung sowie durch das Problem der Unsichtbarkeit des Neuen bestimmt. Das fällt meines Erachtens in die zeitliche Phase zwischen Paulus und dem ersten Jüdischen Krieg – in eine Phase also, in der grundsätzlich über den „neuen Weg“ christlicher Kultpraxis nachzudenken war. Viertens, die Beobachtung von „Glaubensmüdigkeit“ (unter Verweis auf Hebr 10,23f.) ist nicht per se Hinweis auf ein Christentum der zweiten oder dritten Generation, wie vielfach konstatiert wird.33 Abgesehen davon, dass sich christliche Gemeinden äußerst unterschiedlich entwickelt haben dürften und die Ablösung vom Judentum wohl unterschiedlich schnell vonstatten ging,34 ist das Problem der Erosion in den Gemeinden durchaus schon bei Paulus zu erkennen und mit Blick auf die Erwartung der nahen Parusie Christi an das Phänomen subjektiver Zeitwahrnehmung gebunden und somit für eine Datierung des Schreibens untauglich.35 Fünftens, die Frage des charismatischen Elements ist ebenfalls kein schlüssiger Indikator für ein bestimmtes Entwicklungsstadium einer Gemeinde, sondern in erster Linie milieubedingt. Davon abgesehen zeigt der Hebräerbrief seine ganz eigene „Pneumatologie“: Er rekurriert auf das Pfingstgeschehen mit seinen Geistwirkungen (Hebr 2,4), er kennt charismatische „Gaben des Anfangs“ (6,4–6) und bewertet die Erkenntnis der christologischen Ausrichtung des Alten Testaments als Charisma (3,7; 9,8; 10,15). Die Überwindung des Problems der Unsichtbarkeit des Neuen wird im Hebräerbrief eigenständig gelöst: Nicht sind der Geist und seine Gaben die entscheidende Brücke, 31
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So zuletzt Grässer, Hebräer 25, und Weiß, Hebräer, 77. – Die „Stiftshütte“ stellt nach dieser Auffassung das zeitlose Prinzip des Jerusalemer Opferkultes dar. Eine präsentische Rede vom Jerusalemer Opferkult nach 70 n. Chr. bietet Josephus, ant. III 7,1–7, dort allerdings nur als Stilmittel bzw. in ant. III 9,1ff. mit Hinblick auf die weiterhin gültigen und vom Tempel unabhängigen Opfervorschriften der Tora. Die gängige Spätdatierung des Barnabasbriefes ins erste Drittel des 2. Jahrhunderts hängt an der (allerdings umstrittenen) Bewertung von Barn 16,3f., wo vom Abriss und Wiederaufbau des Tempels die Rede ist. Vgl. dazu Berger/Nord, Schriften 235. So unter anderem Grässer, Hebräer 25, ausweislich Hebr 2,3. Dazu vgl. Vouga, Geschichte 166–170. Dazu ausführlich Erlemann, Endzeiterwartungen, 154.
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sondern der Glaube, der radikal contra factum glaubt und schon immer die Glaubenden ausgezeichnet hat (Hebr 11).36 Fazit: Meines Erachtens ist der Hebräerbrief aufgrund seiner Stoßrichtung und seines theologischen Argumentationsmusters ein typisches Schreiben der sechziger Jahre des ersten Jahrhunderts n. Chr.
7.
Antiochia – ein zum Hebräerbrief passendes Milieu?
7.1
Kultpraxis im urbanen Umfeld
Der Hebräerbrief arbeitet sich offenkundig an der bleibenden Attraktivität des sichtbaren Kultes ab. Das Problem der Unsichtbarkeit des Neuen ist die Folie, auf der die Argumentation des Schreibens allererst verständlich wird. Dabei ist nicht nur an den Jerusalemer Tempelkult zu denken (der ausweislich Hebr 8,13 veraltet und überlebt, aber noch nicht zu Ende ist), sondern auch an pagane, hellenistisch-römische Kulte der unmittelbaren Umgebung. Wie andere Städte im Osten des Römischen Imperiums auch war Antiochia reich an Kulten unterschiedlicher Art. Zeus- und Apollokult dürfen für die fragliche Zeit als selbstverständlich vorgestellt werden, ebenso ein lokaler Kaiserkult und das MaiumasFest.37 Darüber hinaus sprechen die Ausführungen von Hebr 10,26–34 für eine städtische Umgebung zumindest der Adressaten, wahrscheinlich aber auch des Autors: Die Rede ist hier unter anderem von Inhaftierungen, Enteignungen und davon, dass die Christen „ 9“ waren – im öffentlichen Theater zur Schau gestellt.
7.2
Kultvakuum inmitten lebendiger Kultpraxis
Die antiochenische Christengemeinde war wie dargestellt ethnisch und sozial heterogen. Ehemalige Juden, Nichtjuden und so genannte Gottesfürchtige kamen dort zusammen. Das Thema der Kommensalität wird auch nach dem „antiochenischen Zwischenfall“ weiter aktuell geblieben sein. Den unterschiedlichen Ethnien gemeinsam war eine religiöse Sozialisation, die entscheidend an sichtbaren Kulten ausgerichtet war. Die Hinwendung zum Christentum führte zu einem Bruch mit diesen Traditionen; der Mangel an Kultleben bedeutete ein Vakuum, das offensichtlich nicht für alle befriedigend ausgefüllt wurde. Eine Anfälligkeit für die Attraktivität sichtbarer Kulte darf vorausgesetzt werden. So jedenfalls wird Hebr 12,18–24 verständlich: Der Abschnitt schärft ein, dass die Christen nicht zum „Sinai“, sondern zum „Zion“ bzw. zum himmlischen Jerusalem pil-
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Ausführlich dazu vgl. Erlemann, Alt und Neu. Zur Definition von vgl. grundsätzlich Dörrie, „Zu Hbr 11,1“. Vgl. Haensch/Zangenberg, Antiochia, 135.
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gern.38 Der Weg der Christinnen und Christen führt zu Jesus, dem Mittler des neuen Bundes und in die Nachfolge seines Martyriums (V. 24) – sicherlich keine allzu attraktive Alternative zur Faszination bunter und vergleichsweise ungefährlicher Kultausübung. Der Hebräerbrief dient unter diesen Vorzeichen der Vergewisserung der Glaubensgrundlagen.
7.3
Repressalien gegen urbane Christengemeinden
Auch für andere Städte sind Konflikte zwischen alteingesessenen (sichtbaren) Kulten und dem neuen, unanschaulichen christlichen Glauben bezeugt: Paulus argumentierte nach Apg 17,16–34 auf dem Areopag in Athen gegen die sichtbare Verehrung von Göttern in Tempeln, ganz ähnlich wie Stephanus (V. 24.29). Seine Predigt, die als Alternative den „unbekannten Gott“ zum Inhalt hatte und zum theologischen Umdenken aufforderte, löste zwiespältige Reaktionen aus. In Ephesus provozierte Paulus durch seine Offensive gegen den dortigen Artemiskult den Aufstand der Goldschmiede, die als Zulieferbetriebe vom Tempelkult lebten (Apg 19,23–40). Die Verweigerung der Christen, am Staatskult teilzunehmen (V. 26f.), war bis zur Konstantinischen Wende das offizielle Hauptmotiv, Christenverfolgungen einzuleiten. Kultisch-religiöse, wirtschaftliche und staatliche Motive ließen somit eine Hinwendung zum weitgehend kultlosen christlichen Glauben für viele als hohes Lebensrisiko erscheinen. Andere wiederum wurden gerade durch die Kritik an tempelgebundener Götterverehrung fasziniert und angezogen.
7.4
Eine aufschlussreiche Notiz aus Antiochia
Dafür, dass es gerade auch in Antiochia am Orontes Tendenzen gab, zur anschaulicheren Form des (jüdischen) Kultes zurückzukehren, spricht das Zeugnis des antiochenischen Rhetors und Theologen Johannes Chrysostomos, der ca. 345–398 in Antiochia lebte und später Patriarch von Konstantinopel wurde. In seiner Schrift „Gegen die Juden, Oratio 1“ polemisiert er gegen christliche Synagogengänger, die an Jom Kippur mitfasteten, am Rosh Haschanah dem Schofarblasen beiwohnten und mithalfen, an Sukkot die Hütten zu errichten.39 „Doch, was plagt mich? Eine andere, enorm schwere Krankheit ruft unsere Zunge zur Heilung, eine Krankheit, die im Leib der Kirche gewachsen ist. Es ist daher nötig, zuerst diese (aus dem Leib) herauszuziehen, dann sich um die äußeren Krankheitsherde zu kümmern, zuerst die eigenen zu heilen und dann sich um die Fremden zu kümmern. Was ist denn das für eine Krankheit? Die Feste der unseligen, un38
39
Mit Käsemann, Das wandernde Gottesvolk; ähnlich Theißen, Untersuchungen. – Im Hintergrund ist Ex 23,14–17 zu sehen, wonach für männliche Juden, auch solchen, die in der Diaspora lebten, dreimal im Jahr eine Pilgerfahrt zu den hohen Festen nach Jerusalem vorgeschrieben war (zu Peschach, Schavuot, Sukkot). In Jerusalem kam zu diesen Anlässen die gesamte Diaspora zusammen (Döpp, Tempel, 192). Vgl. Brooten, Jews, 35. Das folgende Zitat stammt aus Brändle, Chrysostomus, 84.
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glücklichen Juden sind im Kommen, die anhaltend eines nach dem andern stattfinden, die Schofarhörner, die Laubhütten, die Fastentage. Und von den vielen aus unseren Reihen, die behaupten, unsere Gesinnungsgenossen zu sein, gehen die einen hin, bei den Festfeiern zuzuschauen, die andern feiern sogar mit und nehmen an den Festen teil. Diese schlechte Gewohnheit will ich also jetzt von der Kirche wegjagen […] (Jetzt aber geht es um) diejenigen, die sich durch ihre Sympathie für das Judentum als krank erweisen: Wenn wir die nicht jetzt behandeln, wo die Festtage der Juden nahe sind, ja vor der Türe stehen, dann fürchte ich, daß unter dem Einfluß der unzeitgemäßen, deplazierten Gewohnheit und der großen Unwissenheit einige an deren gesetzwidrigem Tun teilnehmen […]“
Ich widerstehe der Versuchung, einen Rückschluss auf die Verhältnisse in Antiochia im ersten Jahrhundert zu ziehen – dies wäre Spekulation. Doch meine ich, dass die Nähe zwischen den christlichen Gemeinden und den ansässigen jüdischen Gemeinden im Laufe der Zeit insgesamt eher ab- als zugenommen haben dürfte. Johannes Chrysostomus wird so zu einem späten, aber nicht ganz uninteressanten Zeugen für unser Gedankenspiel.
8.
Fazit: Antiochia – ein guter Kandidat für die Entstehung des Hebräerbriefs
Stellt Antiochia am Orontes ein diskutables Milieu für die Entstehung des Hebräerbriefs dar? Die Frage lässt sich am Ende des Durchgangs vorsichtig bejahen. Dabei bleibt offen, ob Antiochia eher als Abfassungs- oder Zielort des Schreibens in Frage kommt. Und natürlich ist hier nichts zu beweisen. Immerhin wissen wir aus einer späteren Epoche, dass das jüdische Kultleben in Antiochia am Orontes eine bleibende Faszination auf manche Christen vor Ort ausübte.
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Frühchristliche Pluralität in Ephesus Markus Tiwald
Noch vor 15 Jahren konnte man sich darüber beklagen, dass „[e]ine eingehende Analyse der Frühgeschichte des Christentums in Ephesus fehlt.“1 In den letzten Jahren hat allerdings ein regelrechter „Ephesus-Boom“ die Forschungsgeschichte heimgesucht: An eigens dem Frühchristentum in Ephesus gewidmeten Monographien seien erwähnt:2 Werner Thiessen (1995), Matthias Günther (1995), Rick Strelan (1996), Michael Fieger (1998), Paul Trebilco (2004), Stephan Witetschek (2008) und Mikael Tellbe (2009). Der Boom erstreckte sich aber auch über den neutestamentlich-frühchristlichen Horizont hinaus: Eine 1995 von Stephan Karwiese (seit 1994 Leiter der österreichischen Ausgrabungen in Ephesus) geschriebene Geschichte des antiken Ephesus, eine Forschungsgeschichte zu Ephesus von Traute Wohlers-Scharf (1995), ein Führer zu den Ausgrabungen in Ephesus von Peter Scherrer (1995) sowie ein Sammelband zu Archäologie, Religionsgeschichte und Kultur in Ephesus (hg. von Helmut Koester 1995). „Wenn Ephesus […] eines der wichtigsten Zentren des frühen Christentums oder sogar das Zentrum der früh-christlichen Mission war, ist diese ‚Springflut‘ an neuen Publikationen angesichts der langen ephesinischen ‚Dürre‘ hoch willkommen.“3 Was allerdings die Frühgeschichte des Christentums in Ephesus anbelangt, verbleibt trotz dieser literarischen Blüte ein gewisses Unbehagen. Dem aufmerksamen Leser der umfangreichen exegetischen Studien bietet sich nämlich kein einheitliches Bild, sondern ein schier unübersichtlicher Dschungel aus verschiedenen Hypothesen, einander widerstreitenden Rekonstruktionen und unterschiedlichen theologischen Verortungen der zahlreichen mit Ephesus in Verbindung gebrachten frühchristlichen Gruppierungen.4 Werner Thiessen (1995) zieht für seine Studie weder den Epheserbrief noch die johanneische Literatur heran und verortet die Gegner der Pastoralbriefe – in recht eigenwilliger Manier – als pharisäische Judenchristen. Matthias Günther (1995) hingegen behauptet, dass die „apollonisch-paulinische“ Linie des ephesinischen Christentums später abgebrochen sei und es zu einer „zweiten Gründung“ des Christen1 2
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Günther, Frühgeschichte, 1; vgl. auch Schnabel, Christen, 349. Die jüngere Forschungsgeschichte findet sich ausführlich dokumentiert und kommentiert bei Schnabel, Christen, und bei Trebilco, Ephesus, 2–4. Die ältere Forschungsgeschichte ist bei Günther, Frühgeschichte, 1–12, belegt. Schnabel, Christen, 351 (die Kursivsetzung ist hier und auch sonst wenn nicht ausdrücklich anders vermerkt immer aus dem Original übernommen). Der gesamte Beitrag von Schnabel, Christen, ist der Auswertung dieser rezenten Studien zu Ephesus gewidmet und schließt mit der wenig befriedigenden (und sicherlich zu kritischen) Notiz, dass „[b]ei der Lektüre eines nicht unbeträchtlichen Teils der Literatur zu dieser Thematik“ der Eindruck entstünde, diese sei „im (Elfenbein-)Turm der westlichen akademischen Welt“ geschrieben worden und würde der historischen Realität nicht gerecht.
Frühchristliche Pluralität in Ephesus
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tums in Ephesus durch den aus Palästina eingewanderten „Presbyter Johannes“ (den Autor von 2 und 3Joh) gekommen wäre.5 So hätte es in Ephesus nie gleichzeitig unterschiedliche Gruppierungen im Christentum gegeben, wie der staunende Leser im Schlusssatz der Arbeit erfährt6: „Von der These eines Nebeneinanders einer Mehrzahl christlicher Gruppen als Charakteristikum der Frühgeschichte des Christentums in Ephesus sollte Abstand genommen werden“7. Immerhin haften dieser These zum Trotz an Ephesus doch etliche frühchristliche Traditionen: die Täuferjünger (Apg 19,2–6)8, Apollos (Apg 18,24)9, Prisca, Aquila und die paulinische Mission dort (1Kor 16,19; Apg 18,19.26; 19,1)10, der deuteropaulinische Epheserbrief11, das lk Doppelwerk12, das Corpus Johanneum13, die Johannesoffenbarung14, die Pastoralbriefe15 und der Brief an die Epheser des Ignatius.16 Rick Strelan (1996) schließlich wartet mit der recht unkonventionellen Sichtweise auf, das Christentum in Ephesus habe mehrheitlich aus Judenchristen bestanden, da der paulinischen Heidenmission dort kein Erfolg beschieden wäre:17 „Paul’s success lasted no longer than his own
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Günther, Frühgeschichte, 206. Vgl. dazu die Rezension von J. Roloff in BZ 41, 1997, 145: „… eine Konstruktion von abstrakter Künstlichkeit als Ergebnis einer eindimensionalen, wichtige Bereiche ausblendenden Sichtweise.“ Günther, Frühgeschichte, 209. Hier ist wahrscheinlich mit Leuten zu rechnen, die reale Schüler des Täufers waren und dies auch noch über den Tod des Meisters hinaus blieben (vgl. Mk 6,29). Vgl. dazu Trebilco, Ephesus, 129. Auch andere mit Ephesus verbundene Traditionen zeigen einen gewissen Argumentationsdruck, dass Jesus und nicht der Täufer der Messias war – etwa die lk Überarbeitung der Taufe Jesu (die Lk bewusst nach der Gefangensetzung des Täufers berichtet, sodass der Eindruck entstehen könnte, der Täufer hätte Jesus gar nicht taufen können, da er ja im Gefängnis saß), das überbietende Diptychon Johannes-Jesus in der lk Kindheitsgeschichte oder die Täufereinschübe in Prolog des Joh. Apollos war wohl ein Missionar von eigenständigem Gewicht, der historisch korrekt nicht einfach unter der „paulinischen Mission“ subsummiert werden sollte (vgl. 1Kor 3,4). Vgl. dazu Trebilco, Ephesus, 117–125. Der 1Kor wurde in Ephesus verfasst, ebenso auch Gal, Phil und Phlm (vgl. Gnilka, Paulus, 313). Für den Eph optiert Gnilka, Eph, 20, für eine Abfassung in Ephesus. Die Zuschreibung (