Strafrechtliche Grenzen der Rationierung medizinischer Leistungen: Zugleich ein Beitrag zum »Dogma vom Höchstwert des menschlichen Lebens« und zum »Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen« [1 ed.] 9783428544653, 9783428144655

Aufgrund der Überalterung der Gesellschaft und des medizinischen Fortschritts wird es schon bald erforderlich sein, auch

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Strafrechtliche Grenzen der Rationierung medizinischer Leistungen: Zugleich ein Beitrag zum »Dogma vom Höchstwert des menschlichen Lebens« und zum »Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen« [1 ed.]
 9783428544653, 9783428144655

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Strafrechtliche Abhandlungen Neue Folge · Band 269

Strafrechtliche Grenzen der Rationierung medizinischer Leistungen Zugleich ein Beitrag zum „Dogma vom Höchstwert des menschlichen Lebens“ und zum „Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen“

Von

Anne Franziska Streng-Baunemann

Duncker & Humblot · Berlin

ANNE FRANZISKA STRENG-BAUNEMANN

Strafrechtliche Grenzen der Rationierung medizinischer Leistungen

Strafrechtliche Abhandlungen · Neue Folge Begründet von Dr. Eberhard Schmidhäuser (†) em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Hamburg

Herausgegeben von Dr. Dres. h. c. Friedrich-Christian Schroeder em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Regensburg

und Dr. Andreas Hoyer ord. Prof. der Rechte an der Universität Kiel

in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten

Band 269

Strafrechtliche Grenzen der Rationierung medizinischer Leistungen Zugleich ein Beitrag zum „Dogma vom Höchstwert des menschlichen Lebens“ und zum „Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen“

Von

Anne Franziska Streng-Baunemann

Duncker & Humblot · Berlin

Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Professor Dr. Gerhard Dannecker, Heidelberg Die Juristische Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg hat diese Arbeit im Jahre 2014 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2016 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 978-3-428-14465-5 (Print) ISBN 978-3-428-54465-3 (E-Book) ISBN 978-3-428-84465-4 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2013 von der Juristischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg als Dissertation angenommen. Die berücksichtigte Literatur befindet sich auf dem Stand Dezember 2014. Die Arbeit entstand im Rahmen der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Forschergruppe FOR 655: „Priorisierung in der Medizin – Eine theoretische und empirische Analyse unter besonderer Berücksichtigung der Gesetzlichen Krankenkasse“. Ohne die großzügige finanzielle Unterstützung der DFG und den fächerübergreifenden Austausch zwischen den Mitgliedern der Forschergruppe wäre diese Dissertation nicht möglich gewesen. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Gerhard Dannecker. Er hat das Thema der Arbeit angeregt, mir die Mitarbeit in der Forschergruppe und anderen anregenden Forschungsprojekten ermöglicht und mich während meiner Zeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an dem von ihm geleiteten Lehrstuhl stets sehr gut und engagiert betreut. Bei Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. Thomas Hillenkamp bedanke ich mich für wertvolle Anregungen sowie die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Herrn Prof. Dr. Dres. h. c. Paul Kirchhof, Verfassungsrichter a. D., gebührt mein herzlicher Dank für weiterführende Anmerkungen zum verfassungsrechtlichen Teil der Arbeit. Für die freundliche Aufnahme meiner Dissertationsschrift in die Schriftenreihe „Strafrechtliche Abhandlungen, N. F.“ bin ich den Herausgebern, Herrn Professor Dr. Dres. h. c. Friedrich-Christian Schroeder und Herrn Professor Dr. Andreas Hoyer, sehr verbunden. Die Arbeit wurde mit dem 19. Wissenschaftspreis der Gesellschaft für Recht und Politik im Gesundheitswesen e. V. (GRPG) sowie mit dem Förderpreis 2014 des Vereins zur Förderung des deutschen, europäischen und internationalen Medizinrechts, Gesundheitsrechts und der Bioethik in Heidelberg und Mannheim e. V. ausgezeichnet. Mein besonderer Dank gilt meinem Mann Lars Baunemann für seine bedingungslose Unterstützung und sein stetes Drängen auf Vollendung der Arbeit.

8 Vorwort

Gewidmet ist die Arbeit meinen lieben Eltern, Prof. Dr. Dr. h. c. Franz und Barbara Streng, die mir durch konstruktive Kritik und mühevolles Korrekturlesen geholfen haben, meine akademische Ausbildung ermöglicht und mich in jeder Hinsicht unterstützt haben. Heidelberg, im September 2015

Anne Franziska Streng-Baunemann

Inhaltsverzeichnis Kapitel 1 Einleitung 21

Kapitel 2

Verfassungsrechtliche Grenzen der Rationierung medizinischer Leistungen in einem öffentlichen Gesundheitswesen 25

A. Vorbehalt des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 B. Existenz und Inhalt eines Anspruchsauf das medizinische Existenz­ minimum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 I. Herrschende Lehre: Anerkennung eines medizinischen Existenz­ minimums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 1. Existenz und Umfang des medizinischen Existenzminimums  . . . . . . 27 2. Bedeutung des medizinischen Existenzminimums für die Rationierung medizinischer Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 II. „Nikolaus-Beschluss“ des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 1. Entscheidungsgründe des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2. Anerkennung eines medizinischen Existenzminimums durch das BVerfG im „Nikolaus-Beschluss“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 3. Bedeutung des „Nikolaus-Beschlusses“ für die Rationierung ­medizinischer Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 C. „Gesundheitsrechtlich geschärftes Willkürverbot“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 D. Allgemeine Handlungsfreiheit bzw. Eigentumsfreiheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 E. Sozialstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 F. Verfassungsrechtlich zulässige und unzulässige Kriterienzur Allokation knapper finanzieller Ressourcen im Gesundheitswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 I. Verfassungswidrige Differenzierungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 II. Verfassungsrechtlich unbedenkliche Differenzierungskriterien . . . . . . . . 44

10 Inhaltsverzeichnis Kapitel 3

Denkbare Rationierungsszenarien und deren strafrechtliche Folgeprobleme im Überblick 50

A. Denkbare Rationierungsszenarien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 B. Strafrechtliche Folgeprobleme im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 I. Behandlungs- und Aufklärungspflichten gegenüber zahlungsfähigen und zahlungswilligen Patienten hinsichtlich durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) bereitgestellter Leistungen  . . . . . . 53 II. Behandlungs- und Aufklärungspflichten gegenüber zahlungsunfähigen oder zahlungsunwilligen Patienten hinsichtlich durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) bereitgestellter Leistungen bei Existenz von Behandlungsalternativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 III. Behandlungs- und Aufklärungspflichten gegenüber zahlungsunfähigen oder zahlungsunwilligen Patienten hinsichtlich durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) bereitgestellter, alternativloser Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 Kapitel 4

Behandlungs- und Aufklärungspflichten gegenüber zahlungsfähigen und zahlungswilligen Patienten hinsichtlich durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) zur Verfügung gestellter Leistungen 57

A. Behandlungsverweigerung vor tatsächlicher Übernahmeder Behandlung . . 58 I. Verweigerung der Behandlung einer Erkrankung ohne krisenhaften Verlauf  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 II. Verweigerung der Behandlung eines medizinischen Notfalls . . . . . . . . . 60 B. Behandlungsverzicht nach tatsächlicher Behandlungsübernahme /  Suboptimale Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 I. Offene Behandlungsverweigerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 II. Verdeckte Behandlungsverweigerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 1. Körperverletzung durch Unterlassen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 a) Erfordernis des Zurückbleibens hinter dem medizinischen Standard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 b) Verschlimmerung der Erkrankung bzw. Verzögerung des Heilungsprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 c) Quasikausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 2. Körperverletzung durch Unterlassen mit Todesfolge  . . . . . . . . . . . . . 64 III. (Verdeckte) Suboptimale Behandlung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 1. Verdeckte Anwendung einer hinsichtlich der Risiken und / oder Nebenwirkungen suboptimalen Leistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

Inhaltsverzeichnis11 a) Körperverletzung infolge der Verletzung von Aufklärungspflichten über Behandlungsalternativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 aa) Inhalt und Grenzen der Aufklärungspflicht bei durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) . . . . . . . . . . . bereitgestellten Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 bb) Rechtsfolgen einer Verletzung der Aufklärungspflicht über Behandlungsalternativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 (1) Regelfall: Strafbarkeit wegen Körperverletzung . . . . . . . . 68 (2) Sonderfall: Straflosigkeit aufgrund Vorinformiertheit des Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 (3) Sonderfall: Straflosigkeit infolge hypothetischer ­Einwilligung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 b) Körperverletzung infolge fehlerhafter Behandlung . . . . . . . . . . . . . 71 c) Körperverletzung mit Todesfolge / Fahrlässige Tötung infolge fehlerhafter Behandlung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 2. Verdeckte Anwendung einer hinsichtlich der Erfolgsaussichten suboptimalen Leistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 a) Körperverletzung durch Verletzung der Aufklärungspflicht über Behandlungsalternativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 b) Körperverletzung durch Unterlassen infolge fehlerhafter Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 c) Körperverletzung durch Unterlassen mit Todesfolge /  Fahrlässige Tötung infolge fehlerhafter Behandlung  . . . . . . . . . . . 74 C. Problematik der zweifelhaften Zahlungsfähigkeit oder Zahlungswilligkeit . . 75 Kapitel 5

Behandlungspflichten gegenüber zahlungsunfähigen oder zahlungsunwilligen Patienten hinsichtlich durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) zur Verfügung gestellter Leistungen bei Existenz von Behandlungsalternativen 77

A. Durch die öffentliche Gesundheitsversorgung bereitgestellte Behandlungsalternative entspricht medizinischem Standard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 B. Durch die öffentliche Gesundheitsversorgung bereitgestellte Behandlungsalternative unterschreitet den medizinischen Standard oder entspricht nicht der Indikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78

12 Inhaltsverzeichnis Kapitel 6

Behandlungspflichten gegenüber zahlungsunfähigen oder zahlungsunwilligen Patienten hinsichtlich durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) zur Verfügung gestellter, alternativloser Leistungen 79

A. Behandlungspflichten des auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätigen Arztes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 I. Lösungsansätze in der Literatur und deren Bewertung . . . . . . . . . . . . . . 80 1. Auffassung der herrschenden Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 2. Eigene Stellungnahme zur herrschenden Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 a) Unzureichende Begründung für die Posteriorisierung der Rechtsgüter Leben und Gesundheit hinter wirtschaftlichen Interessen . . . 82 b) Fehlende Konsistenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 c) Fehlende Diskussion alternativer Lösungsansätze, wie der Notstandslösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 II. Verfassungsorientierter Lösungsansatz: Verfassungskonforme Auslegung der §§ 223, 13 StGB; §§ 212, 13 StGB (§ 323 c StGB) . . . . . . . . . . . . . 85 1. Vorgaben des Grundgesetzes für die strafrechtliche Bewertung des ökonomischen Behandlungsverzichts durch auf eigenes wirtschaft­ liches Risiko tätige Ärzte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 a) Eigentumsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 b) Berufsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 aa) GKV-System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Exkurs: Gegenwärtiges vertragsärztliches Vergütungssystem der GKV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 bb) Alternatives öffentliches Gesundheitsversorgungssystem . . . . 92 c) Sozialstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 d) Allgemeiner Gleichheitssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 e) Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit . . . . . . . . . . 94 2. Bewertung des Rechtsguts Leben (im Verhältnis zu kollidierenden Rechtsgütern / Interessen) bzw. von Personenwerten im Verhältnis zu kollidierenden Sachinteressen durch die herrschende Strafrechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 a) Analyse strafrechtlicher Abwägungsentscheidungen, die das Rechtsgut Leben (hinter kollidierenden Rechtsgütern / Interessen). bzw. Personenwerte hinter kollidierenden Sachinteressen posteriorisieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 aa) Anlass der Untersuchung: Dogma vom Höchstwert des menschlichen Lebens; Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 bb) Untersuchung von Abwägungsentscheidungen, die das Rechtsgut Leben (hinter kollidierenden Rechtsgütern / Interessen). bzw. Personenwerte hinter kollidierenden Sachinteressen posteriorisieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

Inhaltsverzeichnis13 (1) Lebensverkürzendes Tun (Leben als Eingriffsgut) . . . . . . 103 (a) Rechtsgüterbinnenkollision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 (aa) Indirekte Sterbehilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 (α) Falldarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 (β) Darstellung der in Literatur und Recht­ sprechung ­vertretenen Lösungsansätze . . . . . 103 (γ) Analyse der in Literatur und Rechtsprechung v ­ ertretenen Lösungsansätze . . . . . . . . 106 (bb) Technischer Behandlungsabbruch durch einen Nicht-Arzt („Fall Putz“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 (α) Falldarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 (β) Darstellung der in Literatur und Rechtsprechung v ­ ertretenen Lösungsansätze . . . . . . . . 110 (γ) Analyse der in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Lösungsansätze . . . . . . . . 114 (b) Kollision zwischen unterschiedlichen Trägern ­zuzuordnenden Rechtgütern / Interessen . . . . . . . . . . . . 117 (aa) Notwehr zur Verteidigung gegen nicht-lebens­ bedrohliche Angriffe mit tödlichen Folgen für den Angreifer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 (α) Fallkonstellation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 (β) Darstellung der in Literatur und Rechtsprechung v ­ ertretenen Lösungsansätze . . . . . . . . 118 (γ) Analyse der in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Lösungsansätze . . . . . . . . 120 (2) Lebensverkürzendes Unterlassen (Leben als Eingriffsgut) . 122 (a) Rechtgüterbinnenkollision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 (aa) Passive Sterbehilfe beim entscheidungsfähigen Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 (α) Falldarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 (β) Darstellung der in Literatur und Rechtsprechung v ­ ertretenen Lösungsansätze . . . . . . . . 122 (γ) Analyse der in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Lösungsansätze . . . . . . . . 125 (bb) Geschehenlassen eines freiverantwortlichen Suizids („Wittig-Fall“)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 (α) Falldarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 (β) Darstellung der in Literatur und Rechtsprechung v ­ ertretenen Lösungsansätze . . . . . . . . 127 (γ) Analyse der in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Lösungsansätze . . . . . . . . 131 (cc) Unterlassen einer lebensrettenden Zwangs­ heilung beim entscheidungsfähigen Patienten . . . 133 (α) Falldarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133

14 Inhaltsverzeichnis (β) Darstellung der in Literatur und Rechtsprechung v ­ ertretenen Lösungsansätze . . . . . . . . 133 (γ) Analyse der in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Lösungsansätze . . . . . . . . 134 (b) Kollision zwischen unterschiedlichen Trägern ­zuzuordnenden Rechtsgütern / Interessen . . . . . . . . . . . 135 (aa) Dem Garanten unzumutbare Lebensrettung („Nierenspende-Fall“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 (α) Falldarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 (β) Darstellung der in Literatur und Recht­ sprechung v ­ ertretenen Lösungsansätze . . . . . 135 (γ) Analyse der in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Lösungsansätze . . . . . . . . 137 (3) Zur Bewahrung menschlichen Lebens durchgeführte Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsguts (Rechtsgut Leben als Erhaltungsgut) . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 (a) Rechtsgüterbinnenkollision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 (aa) Lebensrettende Zwangsheilung beim entscheidungsfähigen Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 (α) Falldarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 (β) Darstellung der in Literatur und Rechtsprechung v ­ ertretenen Lösungsansätze . . . . . . . . 139 (γ) Analyse der in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Lösungsansätze . . . . . . . . 140 (b) Interessenkollision zwischen unterschiedlichen ­Trägern zuzuordnenden Rechtsgütern / Interessen . . . . 145 (aa) „Zwangsblutspende-Fall“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 (α) Falldarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 (β) Darstellung der in Literatur und Recht­ sprechung v ­ ertretenen Lösungsansätze . . . . . 145 (γ) Analyse der in Literatur und Recht­ sprechung vertretenen Lösungsansätze . . . . . 147 (bb) Erzwungene Lebend(organ)spende . . . . . . . . . . . 149 (α) Falldarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 (β) Darstellung der in Literatur und Rechtsprechung v ­ ertretenen Lösungsansätze . . . . . . . . 149 (γ) Analyse der in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Lösungsansätze . . . . . . . . 150 (cc) Postmortale Organentnahme entgegen dem Willen des Spenders . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 (α) Falldarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 (β) Darstellung der in Literatur und Rechtsprechung v ­ ertretenen Lösungsansätze . . . . . . . . 151 (γ) Analyse der in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Lösungsansätze . . . . . . . . 152

Inhaltsverzeichnis15 (dd) „Millionärs-Fall“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 (α) Falldarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 (β) Darstellung der in Literatur und Recht­ sprechung v ­ ertretenen Lösungsansätze . . . . . 154 (γ) Analyse der in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Lösungsansätze . . . . . . . . 155 b) Ergebnis der Analyse: Bewertung des Rechtsguts Leben (im Verhältnis zu kollidierenden Rechtsgütern / Interessen) und von Personenwerten im Verhältnis zu kollidierenden Sachinteressen durch die herrschende Strafrechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 aa) Dogma vom Höchstwert des menschlichen Lebens . . . . . . . . 158 (1) Herrschende Meinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 (a) Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 (b) Folgen der Eröffnung des Anwendungsbereichs . . . . . 165 (c) Folgen der fehlenden Eröffnung des Anwendungs­ bereichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 (aa) Beispielsfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 (α) § 32 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 (β) Leben als Erhaltungsgut im Rahmen des § 34 StGB  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 (γ) Lebensverkürzendes Unterlassen . . . . . . . . . . 169 (δ) Legitimierung eines lebensverkürzenden Tuns durch Einwilligung bzw. Zurechnungsausschluss  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 (bb) Bewertung des Rechtsguts Leben (im Verhältnis zu kollidierenden Rechtsgütern / Interessen). . . . . außerhalb des Anwendungsbereichs des Höchstwertigkeitsdogmas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 (2) Im Vordringen befindliche Literaturauffassung . . . . . . . . . 173 (3) Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen herrschender Meinung und im Vordringen befindlicher Literaturauffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 bb) Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinte­ ressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 (1) Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 (2) Folgen der Eröffnung des Anwendungsbereichs . . . . . . . . 179 (3) Folgen der fehlenden Eröffnung des Anwendungs­ bereichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 (a) Beispielsfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 (aa) Tödliche Notwehrmaßnahmen zur Verteidigung von (nicht unbedeutenden) Sachwerten  . . . . . . . 180 (bb) Ökonomischer Behandlungsverzicht durch auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätige Ärzte  . . . 180 (cc) „Millionärs-Fall“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

16 Inhaltsverzeichnis (b) Regeln für die Bewertung von Personenwerten im Verhältnis zu kollidierenden Sachinteressen außerhalb des Anwendungsbereichs des Grundsatzes vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen  . . . 182 cc) Bedeutung der verfassungskonformen Auslegung für die Bewertung des menschlichen Lebens (im Verhältnis zu kollidierenden Rechtsgütern / Interessen). bzw. von Personenwerten im Verhältnis zu kollidierenden Sachinteressen . . . . . . . . . . . . 183 (1) Posteriorisierung des Rechtsguts Leben (hinter kollidierenden Rechtsgütern / Interessen) sowie von Personenwerten hinter kollidierenden Sachinteressen infolge verfassungskonformer Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 (2) Verfassungskonforme Auslegung und Höchstwertigkeitsdogma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 (a) Herrschende Meinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 (b) Im Vordringen befindliche Literaturauffassung . . . . . . 191 (3) Verfassungskonforme Auslegung des Strafrechts und Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sach­ interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 dd) Zwischenfazit: Bewertung des Rechtsguts Leben (im Verhältnis zu kollidierenden Rechtsgütern / Interessen) . . . . . . . . . . . . bzw. von Personenwerten im Verhältnis zu kollidierenden Sachinteressen durch die herrschende Strafrechtsdogmatik . . . 195 ee) Ökonomischer Behandlungsverzicht durch auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätige Ärzte aus Perspektive der herrschenden Strafrechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 3. Eigener Ansatz: Konsequente verfassungskonforme Auslegung des Strafrechts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 a) Bewertung des Rechtsguts Leben (im Verhältnis zu kollidierenden Rechtsgütern / Interessen) und von Personenwerten im Verhältnis zu kollidierenden Sachinteressen im Strafrecht im Licht der Grundrechtsdogmatik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 aa) Bewertung des Rechtsguts Leben (im Verhältnis zu kollidierenden Rechtsgütern / Interessen) im Strafrecht im Licht der Grundrechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 (1) Verfassungsrechtlich gebotener und zulässiger strafrechtlicher Lebensschutz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 (a) Keine verfassungsrechtliche (Schutz-)Pflicht zur Pönalisierung jedes lebensverkürzenden Tuns  . . . . . . 202 (aa) Schwangerschaftsabbruch  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 (bb) Notwehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 (cc) Indirekte Sterbehilfe  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 (dd) Technischer Behandlungsabbruch durch NichtÄrzte („Fall Putz“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 (b) Keine verfassungsrechtliche (Schutz-)Pflicht zur ­Pönalisierung jedes lebensverkürzenden Unterlassens . 219

Inhaltsverzeichnis17 (aa) Passive Sterbehilfe beim entscheidungsfähigen Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 (bb) Geschehenlassen eines freiverantwortlichen Suizids („Wittig-Fall“)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 (cc) Unterlassen einer lebensrettenden Zwangs­ heilung beim entscheidungsfähigen Patienten  . . 227 (dd) Dem Garanten unzumutbare Lebensrettung ­(„Nierenspende-Fall“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 (c) Keine verfassungsrechtliche (Schutz-)Pflicht zur Legitimierung jeder zur Bewahrung menschlichen Lebens erforderlichen Verletzung strafrechtlich geschützter Rechtsgüter  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 (aa) Lebensrettende Zwangsheilung beim entscheidungsfähigen Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 (bb) Erzwungene Lebend(organ)spende . . . . . . . . . . . 240 (cc) Postmortale Organentnahme entgegen dem Willen des Spenders . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 (dd) Zwangsblutspende („Zwangsblutspende-Fall“)  . 248 (ee) „Millionärs-Fall“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 (2) Bewertung des strafrechtlichen Dogmas vom Höchstwert des menschlichen Lebens im Licht der Grundrechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 (a) Herrschende Meinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 (b) Im Vordringen befindliche Literaturauffassung . . . . . . 260 bb) Bewertung von Personenwerten im Verhältnis zu kollidierenden Sachinteressen im Strafrecht im Licht der Grundrechtsdogmatik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 (1) Verfassungsrechtlich gebotenes und zulässiges Verhältnis zwischen Personenwerten und kollidierenden Sachinte­ ressen im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 (a) Keine verfassungsrechtliche (Schutz-)Pflicht zur ­Pönalisierung jeder, zur Bewahrung eines Sachinte­ resses erforderlichen, durch aktives Tun verwirklichten Verletzung eines Personenwerts . . . . . . . . . . . . . . . 263 (aa) Notwehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 (b) Keine verfassungsrechtliche (Schutz-)Pflicht zur ­Pönalisierung jeder, zur Bewahrung eines Sachinte­ resses erforderlichen, durch Unterlassen verwirklichten Verletzung eines Personenwertes . . . . . . . . . . . . . . 265 (aa) Ökonomischer Behandlungsverzicht durch auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätige Ärzte . . . . 266 (c) Keine verfassungsrechtliche (Schutz-)Pflicht zur Legitimierung jeder zur Bewahrung eines Personenwerts erforderlichen Verletzung strafrechtlich geschützter Sachinteressen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 (aa) „Millionärs-Fall“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269

18 Inhaltsverzeichnis (2) Bewertung des strafrechtlichen Grundsatzes vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen im Licht der Grundrechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 cc) Strafrechtsdogmatische Bedeutung der verfassungskonformen Auslegung aus Perspektive der Grundrechtsdogmatik . . . . . . . 273 (1) Unzureichende Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Vorgaben bei der Strafrechtsauslegung . . . . . . . . . . . . . . . 275 (2) Unzureichende Berücksichtigung des (Verfassungs-) Grundsatzes vom Vorrang des Gesetzes bei der Strafrechtsauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 (3) Unzureichende Berücksichtigung des (Verfassungs-) Grundsatzes vom Vorbehalt des Gesetzes bei der Strafrechtsauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 b) Eigener Ansatz und Anwendung auf die geschilderten Beispielsfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 aa) Konsequente verfassungskonforme Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 (1) Vorgaben für eine konsequente verfassungskonforme Auslegung strafrechtlicher Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 (a) Verfassungskonforme Auslegung und Dogma vom Höchstwert des menschlichen Lebens  . . . . . . . . 280 (b) Verfassungskonforme Auslegung und Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen . . . . 283 (c) Verfassungskonforme Auslegung und (Verfassungs-) Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes  . . . . . . . . . . . 284 (d) Verfassungskonforme Auslegung und (Verfassungs-) Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . 285 (e) Bedeutung der verfassungskonformen Auslegung im Verhältnis zu anderen Auslegungsmethoden und Argumenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 (2) Implementierung der verfassungsrechtlichen Vorgaben in den strafrechtlichen Deliktsaufbau  . . . . . . . . . . . . . . . . 287 (a) Verfassungsrechtlich gebotene Legitimierung ­eines  lebensverkürzenden Tuns . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 (b) Verfassungsrechtlich gebotene Legitimierung eines lebensverkürzenden Unterlassens durch einen ­(Lebensschutz-)Garanten (§§ 211 ff., 13 StGB) . . . . . . 293 (c) Verfassungsrechtlich gebotene Legitimierung eines lebensverkürzenden Unterlassens im Sinne des §  323 c StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 (d) Verfassungswidrigkeit der Legitimierung einer zur Bewahrung menschlichen Lebens erforderlichen Verletzung strafrechtlich geschützter Rechtsgüter  . . . 299 bb) Lösung der Fallbeispiele nach eigenem Ansatz . . . . . . . . . . . . 300 (1) Lebensverkürzendes Tun  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300

Inhaltsverzeichnis19 (a) Rechtsgüterbinnenkollision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 (aa) Indirekte Sterbehilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 (bb) Technischer Behandlungsabbruch durch NichtÄrzte („Fall Putz“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 (b) Kollision zwischen unterschiedlichen Trägern zuzuordnenden Rechtsgütern / Interessen  . . . . . . . . . . . . . . 302 (aa) Notwehr zur Verteidigung nicht-lebensbedrohlicher Angriffe mit tödlichen Folgen für den Angreifer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 (2) Lebensverkürzendes Unterlassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 (a) Rechtgüterbinnenkollision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 (aa) Passive Sterbehilfe beim entscheidungsfähigen Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 (bb) Tatenloses Geschehenlassen eines freiverantwortlichen Suizids („Wittig-Fall“) . . . . . . . . . . . 304 (cc) Unterlassen einer lebensrettenden Zwangs­ heilung beim entscheidungsfähigen Patienten  . . 305 (b) Kollision zwischen unterschiedlichen Trägern ­zustehenden Rechtsgütern / Interessen . . . . . . . . . . . . . . 307 (aa) Dem Garanten unzumutbare Lebensrettung („Nierenspende-Fall“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 (3) Zur Bewahrung menschlichen Lebens durchgeführte Verletzung strafrechtlich geschützter Rechtsgüter . . . . . . . 309 (a) Rechtsgüterbinnenkollision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 (aa) Lebensrettende Zwangsheilung beim entscheidungsfähigen Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 (b) Kollision zwischen unterschiedlichen Trägern zu­ stehenden Rechtsgütern / Interessen  . . . . . . . . . . . . . . . 310 (aa) „Zwangsblutspende-Fall“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 (bb) Erzwungene Lebend(organ)spende . . . . . . . . . . . 311 (cc) Postmortale Organentnahme entgegen dem Willen des Spenders  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 (dd) „Millionärs-Fall“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 cc) Ökonomischer Behandlungsverzicht durch auf eigenes ­wirtschaftliches Risiko tätige Ärzte unter Zugrundelegung des eigenen Ansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 Exkurs: Behandlungspflichten des niedergelassenen Vertrags­ arztes (GKV-System) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 B. Behandlungspflichten der in einem Krankenhaus in öffentlicher Trägerschaft angestellten Ärzte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 C. Behandlungspflichten der in einem Krankenhaus in privater Trägerschaft angestellten Ärzte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322

20 Inhaltsverzeichnis Kapitel 7 Aufklärungspflichten über durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) bereitgestellte Leistungen gegenüber zahlungsunfähigen oder -unwilligen Patienten 326 A. Bei Nicht-Existenz einer durch die öffentliche Gesundheitsversorgung bereitgestellten Behandlungsalternative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 I. Verpflichtung zur Durchführung einer therapeutischen Aufklärung . . . . 326 II. Rechtsfolgen der Verletzung der Verpflichtung zur therapeutischen Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 1. Regelfall: Straflosigkeit infolge fehlender Quasikausalität . . . . . . . . . 328 2. Sonderfall: Straflosigkeit aufgrund Vorinformiertheit des Patienten  . 329 3. Sonderfall: Straflosigkeit infolge Aufklärungsverzichts  . . . . . . . . . . . 329 a) Möglichkeit und Grenzen des Verzichts auf die ärztliche Auf­ klärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 b) Form des Aufklärungsverzichts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 B. Bei Existenz einer durch die öffentliche Gesundheitsversorgung zur Ver­ fügung gestellten Behandlungsalternative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 I. Existenz und Umfang der Aufklärungspflicht über Behandlungsalternativen   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 II. Rechtsfolgen der Verletzung der Aufklärungspflicht über Behandlungsalternativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Kapitel 8

Zusammenfassung und Ausblick 335

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367

Kapitel 1

Einleitung Angesichts der finanziellen Knappheit im deutschen öffentlichen Gesundheitssystem – der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) – wird seitens der Gesundheitsökonomie1 und der Medizinethik2 und neuerdings auch seitens der Ärzteschaft, so z. B. durch den ehemaligen Präsidenten der Bundesärztekammer Jörg-Dietrich Hoppe3, immer häufiger gefordert, nicht mehr jedem gesetzlich versicherten Patienten eine solidarisch finanzierte, medizinische Vollversorgung zur Verfügung zu stellen. Die bisherigen Versuche des Gesetzgebers, die Kostenexplosion im öffentlichen Gesundheitswesen durch Rationalisierungsmaßnahmen einzudämmen4, die maßgeblich bei den Leistungserbringern (Ärzte etc.) ansetzen (Budgetierung etc.), haben zu einer impliziten Rationierung medizinischer Leistungen geführt5, die aufgrund ihrer Intransparenz insbesondere aus Gerechtigkeits- und Fairnesserwägungen heraus sehr kritisch beurteilt wird6 und zudem für die Ärzteschaft hohe Haftungsrisiken7 mit sich bringt. Deshalb wird vorgeschlagen, bestimmte medizinische Leistungen aus dem Leistungskatalog der GKV herauszunehmen und diese der privaten Absicherung durch den Patienten zu überlassen. 1  Breyer, Bundesgesundheitsblatt 2012, 652 ff.; Felder, in: Schmitz-Luhn/Bohmeier, Priorisierung in der Medizin, S. 61 ff.; Wasem, DÄBl. 105 (2008), A 439 f. 2  Huster, in: Schöne-Seifert/Buyx/Ach, Gerecht behandelt?, S. 121 ff.; Kliemt, in: Kirch/Kliemt, Rationierung im Gesundheitswesen, S. 21 ff.; ders., in: Marckmann, Gesundheitsversorgung im Alter, S. 59 ff.; ders., GGW 2010, 8 ff. 3   Interview mit der Tageszeitung „Welt-online“ vom 18.05.2008, abrufbar unter: http://www.welt.de/politik/article2007157/Aerzte_wollen_medizinische_Leistungen_ rationieren.html. 4  Ausführlich hierzu: Arnade, Kostendruck und Standard, S. 15 ff. 5  Marckmann/Strech, Zeitschrift für medizinische Ethik 55 (2009), 15 (16 f.); Strech/Börchers/Freyer et  al., Ethik in der Medizin 2008, 94 ff. 6  Marckmann/Strech, Zeitschrift für medizinische Ethik 55 (2009), 15 ff.; Marckmann, GGW 2010, 8 (12). 7  Zu den strafrechtlichen sowie zivilrechtlichen Haftungsrisiken einer derartigen impliziten Rationierung medizinischer Leistungen: Dannecker/Huster/Katzenmeier/ Bohmeier/Schmitz-Luhn/Streng, DÄBl. 2009 (41), A 2007 ff., abrufbar unter: http:// www.aerzteblatt.de/archiv/66226/Priorisierung-Notwendiger-rechtlicher-Gestaltungs spielraum; Bohmeier/Schmitz-Luhn/Streng, MedR 2011, 704 ff.; Dannecker/Streng, MedR 2011, 131 ff.

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Kap. 1: Einleitung

Bislang stellt die GKV ihren Versicherten nahezu eine medizinische Vollversorgung zur Verfügung; der Gesetzgeber hat von der Möglichkeit, Kosten im öffentlichen Gesundheitswesen durch eine explizite Rationierung solidarisch finanzierter medizinischer Leistungen einzudämmen, nur in wenig zentralen Bereichen der medizinischen Versorgung Gebrauch gemacht.8 Man denke etwa an § 34 Abs. 1 SGB V, wonach erwachsenen Versicherten nicht verschreibungspflichtige Medikamente und verschreibungspflichtige Medikamente bei Bagatellerkrankungen (Erkältungskrankheiten etc.) nicht durch die GKV zur Verfügung gestellt werden müssen und somit durch den Patienten privat zu finanzieren sind.9 Jedoch lässt die oben geschilderte Debatte erwarten, dass der Gesetzgeber künftig noch weitere Leistungen aus dem Leistungskatalog der GKV herausnehmen und der Eigenverantwortung des Patienten überlassen wird. Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass sich die Finanzierungsprobleme der GKV in Zukunft angesichts der zunehmenden Überalterung der Gesellschaft und des medizinisch-technischen Fortschritts noch weiter verschärfen werden.10 Aus juristischer Sicht werfen diese Entwicklungen einerseits die Frage auf, welche verfassungsrechtlichen Grenzen für die Vorenthaltung medizinischer Leistungen in einem öffentlichen Gesundheitssystem, wie der GKV, existieren und andererseits, welche strafrechtlichen Folgeprobleme das Vorenthalten medizinischer Leistungen in einem öffentlichen Gesundheitssystem mit sich bringen kann. Die Frage nach den öffentlich-rechtlichen Grenzen einer expliziten Rationierung wird in der Literatur bereits eifrig debattiert11 und braucht deshalb im Rahmen dieser Untersuchung nicht er8  Nettesheim,

Zeitschrift für medizinische Ethik 48 (2002), 139 (142). Verfassungsmäßigkeit des § 34 SGB V: BSG NZS 2009, 624 ff.; Axer, in: Becker/Kingreen, SGB  V, § 34, Rn. 5 ff. 10  Fuchs/Nagel/Raspe, DÄBl. 2009; 106 (12): A-554. 11  Siehe nur: I. Augsberg/S. Augsberg, AöR 132 (2007), 539 (556 ff.); Axer, in: Festschrift für Isensee, S. 965 ff.; U. Becker, Festschrift für Udo Steiner, S. 50 ff.; Brech, Triage und Recht, S. 185 ff.; Dannecker/Streng, in: Schmitz-Luhn/Bohmeier, Priorisierung in der Medizin, S. 135 ff.; Däubler, NJW 1972, 1105 ff.; Dettling, GesR 2006, 97 ff.; Ebsen, NDV 1997, 109 ff.; Heinig, in: Bahr/Heinig, Menschenwürde in der säkularen Verfassungsordnung, S. 251 ff.; ders., Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S. 446 ff.; Höfling, in: Feuerstein/Kuhlmann, Rationierung im Gesundheitswesen, S.  143 ff.; Höfling/S. Augsberg, Zeitschrift für medizinische Ethik 55 (2009), 45 ff.; Huster, in: Mazouz/Werner/Wiesing, Krankheitsbegriff und Mittelverteilung, S.  157 ff.; ders., JZ 2006, 466 ff.; ders., DVBl. 2010, 1069 ff.; Isensee, Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft 93 (2004), 651 ff.; P. Kirchhof, MMW 140 (1998), 200 ff.; Künschner, Wirtschaftlicher Behandlungsverzicht und Patientenauswahl; Ladeur/I. Augsberg, Funktion der Menschenwürde im Verfassungsstaat, S.  48 ff.; Lang, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 2, Rn. 82; Nettesheim, VerwArch 93 (2002), 315 ff.; ders., Zeitschrift für medizinische Ethik 48 (2002), 139 ff.; Neumann, NZS 1998, 401 ff.; Schmidt-Aßmann, NJW 2004, 1689 ff.; Schul9  Zur



Kap. 1: Einleitung23

schöpfend behandelt zu werden; diese Rechtsfrage soll hier nur insoweit aufgegriffen werden, wie dies erforderlich ist, um realistische zukünftige Rationierungsszenarien als Ausgangspunkt für die strafrechtliche Fragestellung aufzuzeigen (Kap. 2 und Kap. 3). Im Gegensatz hierzu wird die Frage nach möglichen strafrechtlichen Implikationen der drohenden expliziten Rationierung medizinischer Leistungen bislang kaum diskutiert. Dies überrascht wenig, da das SGB V gesetzlich versicherten Patienten bisher einen Anspruch gewährt, der einem Anspruch auf medizinische Vollversorgung nahekommt12. Dennoch ist diese Fragestellung von großem Interesse, da ein derartiger Anspruch bereits mittelfristig nicht mehr finanzierbar sein dürfte13 und somit bestimmte medizinische Leistungen durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht mehr bereitgestellt werden, so dass diese der privaten Absicherung durch den Patienten überlassen werden. Daher soll die Problematik der strafrechtlichen Folgen einer expliziten Rationierung medizinischer Leistungen den thematischen Schwerpunkt dieser Abhandlung darstellen. Es soll untersucht werden, welche strafbewehrten Behandlungs- und / oder Aufklärungspflichten den behandelnden Arzt in Bezug auf medizinische Leistungen treffen, die durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) zur Verfügung gestellt werden und die auch nicht jeder Patient privat finanzieren kann oder will (Kap. 4 ff.). Mit anderen Worten sollen die Auswirkungen einer expliziten Rationierung medizinischer Leistungen auf die Pflichtenstellung der Ärzte beleuchtet werden. Im Zentrum dieser Überlegungen sollen die strafrechtlichen Risiken des ökonomisch motivierten Behandlungsverzichts stehen, also die Frage, ob sich ein Arzt strafbar macht, wenn er seinem Patienten eine medizinisch notwendige Behandlung vorenthält, weil diese weder durch die öffentliche Gesundheitsversorgung bereitgestellt noch durch den Patienten finanziert wird. Eine weitere, insbesondere aus der de lege lata-Perspektive relevante Form des ökonomischen Behandlungsverzichts soll lediglich im Rahmen eines kurzen Exkurses beleuchtet werden, nämlich die Frage nach den strafrechtlichen Haftungsrisiken der impliziten Rationierung. Hiermit ist der Fall gemeint, dass ein Arzt einem gesetzlich versicherten Patienten medizinische Leistungen vorenthält, die im Leistungskatalog der GKV zwar enthalten sind, jedoch aufgrund von an der ärztlichen Vergütung ansetzenden Kostendämpfungsmaßnahmen (Budgetierung etc.) nicht mehr gewinnze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2, Rn. 96; Schwabe, NJW 1969, 2274 ff.; Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, Art. 2, Rn. 213; Taupitz, in: Wolter et al., Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, Öffentliche Recht und das Strafrecht, S. 113 ff.; Wenner, GesR 2009, 177 ff.; Wiedemann, in: Umbach/ Clemens, GG, Art. 2 Abs. 2, Rn. 376. 12  Nettesheim, Zeitschrift für medizinische Ethik 48 (2002), 139 (142). 13  Fuchs/Nagel/Raspe, DÄBl. 2009; 106 (12): A-554.

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Kap. 1: Einleitung

bringend bzw. noch nicht einmal mehr kostendeckend vergütet werden.14 Nicht erörtert werden sollen die strafrechtlichen Risiken des durch akute Knappheit an Behandlungsressourcen erzwungenen Behandlungsverzichts (Triage15 etc.), da dieser Sonderfall in der Literatur bereits ausführlich debattiert wurde.

14  Näher hierzu: Bohmeier/Schmitz-Luhn/Streng, MedR 2011, 704 ff.; Dannecker/ Streng, MedR 2011, 131 ff. 15  Ausführlich hierzu und m.  w.  Nachw.: Brech, Triage und Recht, S. 336  ff.; Künschner, Wirtschaftlicher Behandlungsverzicht und Patientenauswahl, S. 311 ff.

Kapitel 2

Verfassungsrechtliche Grenzen der Rationierung medizinischer Leistungen in einem öffentlichen Gesundheitswesen A. Vorbehalt des Gesetzes Werden in einem öffentlichen Gesundheitssystem – wie der GKV – medizinisch notwendige Leistungen vorenthalten, so bedarf es hierzu eines formellen Gesetzes.1 Dies ergibt sich zwar nicht aus dem Umstand, dass staatliche Eingriffe in Freiheitsgrundrechte grundsätzlich einer gesetzlichen Grundlage bedürfen2. Denn das Vorenthalten notwendiger medizinischer Leistungen tangiert das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) nicht in seiner Abwehrdimension, selbst dann nicht, wenn die Leistung ursprünglich durch das öffentliche Gesundheitssystem zur Verfügung gestellt worden ist und dann gekürzt bzw. gestrichen wird3. Durch die Vorenthaltung notwendiger medizinischer Leistungen kann der Staat allenfalls hinter Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG zugunsten des durch Krankheit bedrohten Lebens und der Gesundheit4 zurückbleiben oder das Recht auf das medizinische Existenzminimum verletzen, das die herrschende Meinung5 Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip entnimmt (näher Kap. 2 B.). 1  Höfling, in: Feuerstein/Kuhlmann, Rationierung im Gesundheitswesen, S. 143 (151 f.); Isensee, in: Gedächtnisschrift für Heinze, S. 417 (427); Katzenmeier, in: Schmitz-Luhn/Bohmeier, Priorisierung in der Medizin, S. 1 (2). 2  Isensee, in: Gedächtnisschrift für Heinze, S. 417 (427). 3  Isensee, Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft 93 (2004), 651 (663). 4  BVerfGE 39, 1 (42); 46, 160 (164); 77, 170 (214); 88, 203 (251); 115, 320 (346); Calliess, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. 2, § 44, Rn. 1 ff.; Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, § 191, Rn. 146 ff.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 91; Kunig, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 2, Rn. 54 f.; Lang, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 2, Rn. 74 ff.; Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 188; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2, Rn.  76 ff. 5  Brech, Triage und Recht, S. 185 ff.; Däubler, NJW 1972, 1105 (1109); Ebsen, NDV 1997, 109 (120); Heinig, in: Bahr/Heinig, Menschenwürde in der säkularen Verfassungsordnung, S. 251 (293 f.); ders., Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit,

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Kap. 2: Verfassungsrechtliche Grenzen

Dass die Vorenthaltung notwendiger medizinischer Leistungen in einem öffentlichen Gesundheitssystem dennoch einer gesetzlichen Grundlage bedarf, folgt aus dem im Rechtsstaats- und Demokratieprinzip6 verankerten Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes, den das BVerfG durch seine „Wesentlichkeitsrechtsprechung“ konkretisiert hat.7 Danach ist das Parlament als demokratisch unmittelbar legitimierter Gesetzgeber verpflichtet, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen, soweit diese staatlicher Normierung zugänglich sind, im Wesentlichen selbst und durch Gesetz zu treffen.8 Die Entscheidung über das Vorenthalten medizinisch indizierter Maßnahmen in einem öffentlichen Gesundheitswesen besitzt aufgrund der Bedeutung der Krankenversorgung für das Leben und die körperliche Unversehrtheit hohe Grundrechtsrelevanz, weshalb sie durch den demokratisch unmittelbar legitimierten Gesetzgeber selbst getroffen werden muss.9

S.  446 ff.; Huster, in: Mazouz/Werner/Wiesing, Krankheitsbegriff und Mittelverteilung, S. 157 (167); Lang, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 2, Rn. 82; Nettesheim, VerwArch 93 (2002), 315 (337); Neumann, NZS 1998, 401 (419); Schmidt-Aßmann, NJW 2004, 1689 (1691); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2, Rn. 96; Schwabe, NJW 1969, 2274 (2275); Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, Art. 2, Rn. 213; Taupitz, in: Wolter et al., Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, Öffentliche Recht und das Strafrecht, S. 113 (121 f.); Wiedemann, in: Umbach/Clemens, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2, Rn. 376; a. A. Di Fabio, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 94 (43. Lfg. 2004); Kirchhof, in: Festschrift für Laufs, S. 931 (944 ff.). 6  BVerfGE 101, 1 (34); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 20, Rn. 46; SchulzeFielitz, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 20, Rn. 106 ff.; differenzierend: Herzog/Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20, Rn. 72 (71.  Lfg. 2014). 7  Höfling/S. Augsberg, Zeitschrift für medizinische Ethik 55 (2009), 45 (52). 8  BVerfGE 33, 125 (158, 303, 337); 34, 52 (60 u. 165, 192 f.); 40, 237 (249); 45, 400 (417); 47, 46 (78 f.); 49, 89 (126 ff.); 57, 295 (327); 61, 260 (275); 76, 1 (74 f.); 83, 130 (142, 152). 9  Ebsen, NDV 1997, 109 (120); Höfling, in: Feuerstein/Kuhlmann, Rationierung im Gesundheitswesen, S. 143 (151 f.); Höfling/S. Augsberg, Zeitschrift für medizinische Ethik 55 (2009), 45 (52); Isensee, Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft 93 (2004), 651 (663); ders., in: Gedächtnisschrift für Heinze, S. 417 (427).



B. Existenz und Inhalt eines Anspruchs27

B. Existenz und Inhalt eines Anspruchs auf das medizinische Existenzminimum I. Herrschende Lehre: Anerkennung eines medizinischen Existenzminimums 1. Existenz und Umfang des medizinischen Existenzminimums Ein Leistungsanspruch auf Gewährung einer medizinischen Vollversorgung im Sinne aller medizinisch notwendigen Leistungen zur Aufrechterhaltung und Wiederherstellung der geistigen und körperlichen Gesundheit lässt sich der Verfassung nicht entnehmen10; die Umdeutung des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) in ein Leistungsgrundrecht auf Gesundheit begegnet nämlich denselben tiefgreifenden Bedenken, die gegen die generelle Umdeutung der Grundrechte in originäre Teilhabeansprüche ins Feld geführt werden.11 Jedoch treffen den Staat aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG folgende Schutzpflichten zugunsten des durch Krankheit bedrohten Lebens und der Gesundheit12, die sich nach zutreffender herrschender Meinung13 in Verbindung mit Art. 1 10  Brech, Triage und Recht, S. 190 f.; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2, Rn. 37. 11  Zur Dogmatik der sog. sozialen Grundrechte: Böckenförde, NJW 1974, 1529 ff.; ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 152; Breuer, Festgabe 25 Jahre Bundesverwaltungsgericht, S. 89 (93); ders., Jura 1979, 401 ff.; Brohm, JZ 1994, 213 ff.; Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit, Bd. 1, S. 71; Hermes, Das Grundrecht auf Leben und Gesundheit, S. 118; Murswiek, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, § 192, Rn. 96 ff.; von Mutius, VerwArch 64 (1973), S. 183 ff. 12  BVerfGE 39, 1 (42); 46, 160 (164); 77, 170 (214); 88, 203 (251); 115, 320 (346); Calliess, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. 2, § 44, Rn. 1 ff.; Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, § 191, Rn. 146 ff.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 91; Kunig, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 2, Rn. 54 f.; Lang, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 2, Rn. 74 ff.; Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 188; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2, Rn.  76 ff. 13  Brech, Triage und Recht, S. 185 ff.; Däubler, NJW 1972, 1105 (1109); Ebsen, NDV 1997, 109 (120); Heinig, in: Bahr/Heinig, Menschenwürde in der säkularen Verfassungsordnung, S. 251 (293 f.); ders., Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S.  446 ff.; Huster, in: Mazouz/Werner/Wiesing, Krankheitsbegriff und Mittelverteilung, S. 157 (167); Lang, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 2, Rn. 82; Nettesheim, VerwArch 93 (2002), 315 (337); Neumann, NZS 1998, 401 (419); Schmidt-Aßmann, NJW 2004, 1689 (1691); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2, Rn. 96; Schwabe, NJW 1969, 2274 (2275); Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, Art. 2, Rn. 213; Taupitz, in: Wolter et al., Einwirkungen der Grundrechte auf

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Kap. 2: Verfassungsrechtliche Grenzen

Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip zu einem verfassungsunmittelbaren Anspruch auf ein medizinisches Existenzminimum verdichten. Für die Anerkennung eines derartigen Rechts auf Mindestsolidarität im Krankheitsfall spricht, dass nach nahezu unbestrittener Auffassung Art. 1 Abs. 1 GG (ggf. in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip) in seiner Leistungsdimension auch einen Anspruch auf ein generelles Existenzminimum gewährt, das Nahrung, Kleidung, Wohnen etc. umfasst und eine medizinische Basisversorgung zweifelsohne ebenso zu den Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein zählt, wie die genannten Grundbedürfnisse.14 Wenngleich die herrschende Meinung anerkennt, dass Bedürftige (also Personen, die nicht in der Lage sind, eine medizinische Basisversorgung selbst zu finanzieren) gegenüber dem Staat einen verfassungsunmittelbaren Anspruch auf ein medizinisches Existenzminimum haben, ist umstritten, wie das medizinische Existenzminimum zu definieren ist und welche Leistungen es im Einzelnen umfasst: Zu unterscheiden ist – so Heinig15 – zwischen einer egalitaristischen Deutung des medizinischen Existenzminimums16 und einer freiheitsfunktional-suffizienzorientierten Interpretation17. Die egalitaristische Deutung rekurriert darauf, welche medizinischen Leistungen der Durchschnittsbürger für sich als so unverzichtbar erachtet, dass er diese notfalls sogar privat versichern würde.18 Hierzu gehören Notfallbehandlungen, ambulante und stationäre Krankenhausaufenthalte sowie lebenserhaltende Leistungen, wenngleich nicht ohne Rücksicht auf die Wirksamkeit bzw. das Kosten-Nutzen-Verhältnis dieser Therapien. Denn eine private Versicherung, die – wenn auch nur für den Fall einer lebensbedrohlichen Erkrankung – jede marginal wirksame Therapie absichern würde, wäre für einen Durchschnittsbürger mit Sicherheit unerschwinglich bzw. ließe sich nur mit unzumutbaren Einbußen im Hinblick auf die Befriedigung anderer wesentlicher Bedürfnisse erkaufen. das Zivilrecht, Öffentliche Recht und das Strafrecht, S. 113 (121 f.); Wiedemann, in: Umbach/Clemens, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2, Rn. 376; a. A. Di Fabio, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 94 (43. Lfg. 2004); Kirchhof, in: Festschrift für Laufs, S. 931 (944 ff.). 14  Lang, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 2, Rn. 82. 15  Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S. 443 ff. 16  Brech, Triage und Recht, S. 186; Ebsen, NDV 1997, 109 (120); Huster, in: Mazouz et al., Krankheitsbegriff und Mittelverteilung, S. 157 (167); Neumann, NZS 1998, 401 (419); Schmidt-Aßmann, NJW 2004, 1689 (1691); Taupitz, in: Wolter et al., Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, Öffentliche Recht und das Strafrecht, S. 113 (121 f.). 17  Däubler, NJW 1972, 1105 (1109); Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S.  446 ff.; Nettesheim, VerwArch 93 (2002), 315 (337); ders., Zeitschrift für medizinische Ethik 48 (2002), 139 (147). 18  Huster, in: Mazouz et al., Krankheitsbegriff und Mittelverteilung, S. 157 (167 ff.).



B. Existenz und Inhalt eines Anspruchs29

Die Vertreter einer freiheitsfunktional-suffizienzorientierten Deutung19 definieren das medizinische Existenzminimum unabhängig von den medizinischen Versorgungspräferenzen des Durchschnittsbürgers. Vertreter einer restriktiven Strömung zählen nur solche Leistungen zum medizinischen Existenzminimum, die unmittelbar lebenserhaltend sind. Andere plädieren unter Verweis auf die überragende Bedeutung der involvierten Rechtsgüter für eine extensive Auslegung des medizinischen Existenzminimums und fordern die Sicherstellung aller evident notwendigen und sinnvollen (im Sinne nachgewiesen wirksamer) Therapieformen.20 Für wiederum andere repräsentiert – neben der Wirksamkeit und der Wirtschaftlichkeit der Leistung (im Sinne eines angemessenen Kosten-Nutzen-Verhältnisses) – die Unaufschiebbarkeit der Leistung das maßgebliche Abgrenzungskriterium: Nur Leistungen, die nicht ohne schwere Folgen aufgeschoben werden können, bis der Betroffene seine Selbstständigkeit wiedererlangt, zählen zum medizinischen Existenzminimum.21 2. Bedeutung des medizinischen Existenzminimums für die Rationierung medizinischer Leistungen22 Unabhängig davon, ob man das Existenzminimum nun extensiv oder restriktiv definiert, stellt sich jedoch die Frage nach den verfassungsrecht­ lichen Folgen einer Unterschreitung des Rechts auf das medizinische Existenzminimum durch die öffentliche Gesundheitsversorgung. Nach Auffassung der herrschenden Lehre scheint die Vorenthaltung zum medizinischen Existenzminimum gehörender Leistungen nicht per se verfassungswidrig zu sein; das Recht auf das medizinische Existenzminimum stehe (unabhängig davon, ob dieses egalitaristisch oder freiheitsfunktional-suffizienzorientiert gedeutet wird) als unter Rückgriff auf das Sozialstaatsprinzip begründetes Recht unter dem sog. „Vorbehalt des Möglichen“.23 Dieser „Vorbehalt des 19  Däubler, NJW 1972, 1105 (1109); Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S.  446 ff.; Nettesheim, VerwArch 93 (2002), 315 (337); ders., Zeitschrift für medizinische Ethik 48 (2002), 139, 147. 20  Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S. 447. 21  Nettesheim, VerwArch 93 (2002), 315 (337 f.); ders., Zeitschrift für medizinische Ethik 48 (2002), 139 (147 f.). 22  Die folgenden Ausführungen basieren auf: Dannecker/Streng, in: Bohmeier/ Schmitz-Luhn, Priorisierung in der Medizin, S. 135 (142 f.). 23  BVerfGE 33, 303 (333); Brech, Triage und Recht, S. 188; Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S. 438; Huster/Rux, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 20, Rn. 203.1; Isensee, Gedächtnisschrift für Heinze, S. 417 ff. (420); Kirchhof, in: Festschrift für Laufs, S. 931 (951); Müller-Terpitz, in: Spickhoff, Medizinrecht, Art. 1 GG, Rn. 2; Murswiek, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, § 192, Rn.  121, 63 ff.

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Kap. 2: Verfassungsrechtliche Grenzen

Möglichen“ beschränke grundrechtliche Leistungsrechte auf das, „was der Einzelne vernünftigerweise von der Gesellschaft beanspruchen kann“24. Im Hinblick auf das medizinische Existenzminimum bedeute dies, dass „der Staat weder vorrangig seine Einnahmen zu erhöhen hat, bevor medizinische Leistungen rationiert werden, noch andere staatliche Aufgabenbereiche vernachlässigen muss, noch ausnahmslos und prioritär die für den Gesundheitssektor zur Verfügung stehenden Mittel zur Bekämpfung schwerster und lebensbedrohlicher Erkrankungen verwenden muss“25. Ausreichend sei es, wenn der Gesundheitssektor im Verhältnis zu sämtlichen anderen pflichtigen und freiwilligen Staatsaufgaben eine seiner relativen Bedeutung angemessene Berücksichtigung finde.26 Der „Vorbehalt des Möglichen“ bewirkt, dass der Anspruch auf das medizinische Existenzminimum nur insoweit hält, was er zu versprechen vorgibt, als der Staat einerseits über hinreichende finanzielle Mittel verfügt, um dieses zu finanzieren, und andererseits diese Mittel dem Gesundheitssektor auch zukommen lässt. Anders sieht es jedoch aus, wenn die Gesundheitskosten infolge der demographischen Entwicklung und des medizinischen Fortschritts solche Ausmaße annehmen werden, dass sich das medizinische Existenzminimum entweder nicht mehr (vollumfänglich) finanzieren lässt oder man dieses nicht mehr (vollumfänglich) finanzieren will, weil man dadurch zur Vernachlässigung anderer gleichrangiger oder höherrangiger Staatsaufgaben (z. B. Finanzierung des allgemeinen Existenzminimums für Bedürftige, Umweltschutz etc.) gezwungen wäre.

II. „Nikolaus-Beschluss“ des BVerfG Ob auch das BVerfG für ein medizinisches Existenzminimum eintritt, ist bislang ungeklärt. Zunächst hat das BVerfG die Anerkennung eines aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG abgeleiteten Anspruchs auf das medizinische Existenzminimum eindeutig abgelehnt.27 Jedoch hat das BVerfG im sog. „Nikolaus-Beschluss“28 aus dem Jahr 2005 die Auffassung vertreten, dass es mit 24  BVerfGE

33, 303 (333). Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S. 447. 26  Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S. 439. 27  BVerfGE 77, 170 (215); 79, 174 (202); BVerfG NJW 1997, 3085; MedR 1997, 318 (319); NJW 1998, 1775 (1776). 28  BVerfGE 115, 25 ff. = NJW 2006, 891 ff.; zur Bedeutung des „Nikolaus-Beschlusses“ für das einfache Recht (de lege lata): Dannecker/Huster/Katzenmeier/ Penner/Schmitz-Luhn/Streng, in: Wohlgemuth/Freitag, Priorisierung in der Medizin – Interdisziplinäre Forschungsansätze, S. 158 ff.; Dannecker/Streng, in: Festschrift für Szwarc, S. 453 ff.; Katzenmeier, in: Festschrift für Gerda Müller, S. 237 ff.; Sternberg-Lieben, in: Festschrift für Geppert, S. 723 ff.; zur Umsetzung durch die Sozialgerichte: Bohmeier/Penner, WzS 2009, 65 ff. 25  Heinig,



B. Existenz und Inhalt eines Anspruchs31

den Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nicht vereinbar sei, einem gesetzlich Krankenversicherten, für dessen lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, die Finanzierung einer von ihm gewählten, ärztlich angewandten Behandlungsmethode zu versagen, wenn eine nicht ganz entfernte Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.29 Fraglich ist jedoch, ob hierin die Anerkennung eines medizinischen Existenzminimums und somit eine Kehrtwende zur bisherigen Judikatur des BVerfG zu erblicken ist, weshalb diese Fragestellung im Folgenden untersucht werden soll. Zu diesem Zweck sollen zunächst die Entscheidungsgründe des BVerfG dargestellt werden (Kap. 2 B. II. 1.) und sodann diskutiert werden, wie diese zu interpretieren sind (Kap. 2 B. II. 2.). 1. Entscheidungsgründe des BVerfG Das BVerfG stützt den im „Nikolaus-Beschluss“ zuerkannten Leistungsanspruch des Versicherten gegenüber der GKV auf folgende drei Verfassungsnormen: die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) und das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG).30 Als vorrangigen Prüfungsmaßstab zieht das BVerfG jedoch die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) und das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) heran.31 Das Gericht argumentiert, es sei mit Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip nicht vereinbar, „den Einzelnen unter den Voraussetzungen des § 5 SGB V einer Versicherungspflicht in der GKV zu unterwerfen und für seine an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ausgerichteten Beiträge die notwendige Krankenbehandlung gesetzlich zuzusagen, ihn andererseits aber, wenn er an einer lebensbedrohlichen oder sogar regelmäßig tödlichen Erkrankung leidet, für die schulmedizinische Behandlungsmethoden nicht vorliegen, von der Leistung einer bestimmten Behandlungsmethode durch die Krankenkasse auszuschließen und ihn auf eine Finanzierung der Behandlung außerhalb der Gesetzlichen Krankenversicherung zu verweisen“32. Insofern stützt sich das BVerfG in seinen Entscheidungsgründen vorrangig auf das durch die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) gebotene Verhältnis von Leistung und Gegenleistung 29  BVerfGE

115, 115, 31  BVerfGE 115, 32  BVerfGE 115, 30  BVerfGE

25 25 25 25

= NJW 2006, 891. (41) = NJW 2006, 891 (892). (41) = NJW 2006, 891 (892). (49) = NJW 2006, 891 (894).

32

Kap. 2: Verfassungsrechtliche Grenzen

in einer öffentlich-rechtlichen Pflichtversicherung, das den beitragspflichtigen Versicherten vor einer Unverhältnismäßigkeit von Beitrag und Leistung schütze.33 Daneben stellt das Gericht in seiner Begründung auf das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) ab: Zwar ergäbe sich aus den Grundrechten auf Leben und körperliche Unversehrtheit regelmäßig kein verfassungsrechtlicher Anspruch gegen die Krankenkassen auf Bereitstellung bestimmter und insbesondere spezieller Gesundheitsleistungen.34 Jedoch habe die Gestaltung des Leistungsrechts der GKV sich an der objektiv-rechtlichen Pflicht des Staates zu orientieren, sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG zu stellen.35 Vor dem Hintergrund, dass der Staat mit dem System der GKV Verantwortung für das Leben und die körperliche Unversehrtheit der Versicherten übernehme, sei dieser Schutzpflicht nur unter der Voraussetzung Genüge getan, dass dem Versicherten der im „Nikolaus-Beschluss“ anerkannte Anspruch zusteht, da dieser zum Kernbereich der von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG geforderten Mindestversorgung gehöre.36 Unter Verweis auf das Sozialstaatsprinzip argumentiert das BVerfG auch mit der besonderen Schutzbedürftigkeit der Versicherten. Die GKV erfasse nach der gesetzlichen Typisierung jedenfalls diejenigen Personengruppen, die aufgrund ihres geringen Einkommens im Krankheitsfall schutzbedürftig sind, wobei dieser Schutz durch Zwang zur Eigenvorsorge erreicht werden solle.37 Mit dieser Versicherungsform solle auch einkommensschwachen Bevölkerungsteilen ein voller Krankenversicherungsschutz zu moderaten Beträgen ermöglicht werden.38 Es bedürfe daher einer besonderen Rechtfertigung vor Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip, wenn dem Versicherten durch gesetzliche Bestimmungen oder durch deren fachgerichtliche Auslegung und Anwendung Leistungen für die Behandlung einer Krankheit und insbesondere einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung vorenthalten werden.39

33  BVerfGE 34  BVerfGE 35  BVerfGE 36  BVerfGE 37  BVerfGE 38  BVerfGE 39  BVerfGE

115, 115, 115, 115, 115, 115, 115,

25 25 25 25 25 25 25

(41) (44) (45) (49) (44) (44) (44)

= = = = = = =

NJW NJW NJW NJW NJW NJW NJW

2006, 2006, 2006, 2006, 2006, 2006, 2006,

891 891 891 891 891 891 891

(892). (893). (893). (894). (892). (892). (892).



B. Existenz und Inhalt eines Anspruchs33

2. Anerkennung eines medizinischen Existenzminimums durch das BVerfG im „Nikolaus-Beschluss“?40 Ob das Gericht mit dieser Entscheidung einen weit verstandenen, aus dem Grundrecht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) abgeleiteten (Leistungs-)Anspruch auf das medizinische Existenzminimum nach freiheitsfunktional-suffizienzorientierter Deutung anerkannt hat, der bei lebensbedrohlichen Erkrankungen einen verfassungsunmittelbaren Anspruch auf medizinische Vollversorgung gewährt, ist nicht abschließend geklärt41: In der verfassungsrechtlichen Literatur wurde der „Nikolaus-Beschluss“ zumeist als Anerkennung eines solchen (aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG folgenden) medizinischen Existenzminimums interpretiert und stark kritisiert.42 Denn nach Auffassung der ganz herrschenden Meinung ist ein aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG (in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG) resultierender Leistungsanspruch, der im Falle einer lebensbedrohlichen Erkrankung einen Anspruch auf jede denkbare – sofern nicht eindeutig in jeder Hinsicht völlig nutzlose – Therapie gewährt, nicht zu begründen.43 Denn, wie oben (vgl. Kap. 2 B. I.) bereits dargelegt, lässt sich Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG (in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG) kein Anspruch auf Gesundheit im Sinne eines Anspruchs auf Finanzierung aller zur Aufrechterhaltung der Gesundheit erforderlichen Maßnahmen entnehmen, sondern allenfalls ein Anspruch auf ein strikt eingrenzbares Minimum.44 Der vom BVerfG im „Nikolaus-Beschluss“ anerkannte Anspruch geht jedoch – zumindest für den Bereich lebensbedrohlicher Krankheiten – weit über ein medizinisches Existenzminimum hinaus, unabhängig davon, ob man das medizinische Existenzminimum egalitaristisch oder freiheitsfunktional-suffizienzorientiert definiert. Denn dieser umfasst auch solche Behandlungen, die „bloß nicht evident ungeeignet“45 sind, und läuft damit faktisch auf einen Anspruch auf eine 40  Die folgenden Ausführungen zur dogmatischen Einordnung des „NikolausBeschlusses“ basieren auf: Dannecker/Streng, in: Schmitz-Luhn/Bohmeier, Priorisierung in der Medizin, S. 135 ff. 41  Zu den verschiedenen Deutungsmöglichkeiten: Dettling, GesR 2006, 105 ff. 42  Ablehnend: I. Augsberg/S. Augsberg, AöR 132 (2007), 539 (561 ff.); Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S. 539 (561 ff.); Huster, JZ 2006, 466 ff.; ders., in: Dt. Sozialgerichtstag e. V., S. 54 f.; Ladeur/I. Augsberg, Die Funktion der Menschenwürde im Verfassungsstaat, S. 51 f.; Möllers, FAZ vom 29.03.2006, Nr. 75, S. 42; Wenner, GesR 2009, 177 f.; zustimmend: U. Becker, in: Festschrift für Udo Steiner, S.  50 ff.; Hauck, NJW 2007, 1320. 43  Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S. 425 ff.; Huster, JZ 2006, 466 ff. 44  I. Augsberg/S. Augsberg, AöR 132 (2007), 539 (558); Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S. 433; Huster, JZ 2006, 466 (468). 45  Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S. 433.

34

Kap. 2: Verfassungsrechtliche Grenzen

medizinische Maximalversorgung bzw. auf eine „Medizin nach Wunsch“46 hinaus. Dagegen gebietet das medizinische Existenzminimum, wie auch immer es definiert wird, allenfalls „die Sicherstellung solcher medizinischer Leistungen, die evident medizinisch erforderlich und sinnvoll sind, die also Anforderungen wie denen des § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V entsprechen, nicht dagegen die Kostenübernahme für medizinische Leistungen, die bloß nicht evident ungeeignet sind“47. Das von Verfassung wegen gebotene medizinische Existenzminimum beginnt nämlich zumindest nicht schon unmittelbar jenseits „esoterischer Heilmethoden“, sondern frühestens mit dem, was „gemessen an den üblichen Standards medizinischer Erkenntnisse gesichert erforderlich ist“48. Ob der „Nikolaus-Beschluss“ jedoch tatsächlich zwingend als Anerkennung eines verfassungsunmittelbaren Leistungsrechts auf ein sehr weitverstandenes medizinisches Existenzminimum zu interpretieren ist, lässt sich den Entscheidungsgründen nicht zweifelsfrei entnehmen und ist insbesondere deshalb unklar, weil die Funktion, die das BVerfG dem Grundrecht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) im „Nikolaus-Beschluss“ zugewiesen hat, schwer zu deuten ist.49 Die Entscheidungsbegründung zum „Nikolaus-Beschluss“ gestattet es, sowohl von einer rechtsbegründenden als auch von einer rechtskonkretisierenden Funktion des Grundrechts auf Leben auszugehen50: Vor dem Hintergrund der im „Nikolaus-Beschluss“ getroffenen Aussage, dass der im „Nikolaus-Beschluss“ zuerkannte Anspruch der von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geforderten (medizinischen) Mindestversorgung entspreche, lässt sich die Auffassung vertreten, dass dem Grundrecht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) eine rechtsbegründende Funktion zukommt und das BVerfG im „Nikolaus-Beschluss“ einen Anspruch auf ein weitverstandenes medizinisches Existenzminimum anerkannt hat.51 Die Argumentation des BVerfG im „Nikolaus-Beschluss“ erlaubt es aber auch, sich auf den Standpunkt zu stellen, dass sich das Gericht maßgeblich auf die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) und das durch dieses Grundrecht gebotene Verhältnis von Leistung und Gegenleistung in einer Zwangsversiche46  I.

Augsberg/S. Augsberg, AöR 132 (2007), 539 (558). Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S. 433; im Ergebnis auch Huster, JZ 2006, 466 (468). 48  Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S. 433; im Ergebnis auch Huster, JZ 2006, 466 (468). 49  Dettling, GesR 2006, 97 (106). 50  Hierzu: Dettling, GesR 2006, 97 (105 f.). 51  In diese Richtung den „Nikolaus-Beschluss“ interpretierend: I. Augsberg/ S. Augsberg, AöR 132 (2007), 539 (561 ff.); Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S.  425 ff.; Huster, JZ 2006, 466 ff.; Ladeur/I. Augsberg, Die Funktion der Menschenwürde im Verfassungsstaat, S. 51 f. 47  Heinig,



B. Existenz und Inhalt eines Anspruchs35

rung wie der GKV gestützt hat und das Grundrecht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) nur zur Konkretisierung der medizinischen Leistungen herangezogen hat, die das vorgenannte (aus Art. 2 Abs. 1 GG abgeleitete) Verhältnis vor dem Hintergrund des heutigen Beitragsniveaus, der Zahl der heute GKV-Versicherten und der Menge und Qualität der heute verfügbaren Therapien gebietet.52 Für diese Deutung spricht, dass das BVerfG seine Ausführungen zu Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ausdrücklich auf die Konstellation bezogen hat, dass der Staat mit dem System der GKV Verantwortung für Leben und körperliche Unversehrtheit der Versicherten übernommen hat.53 Auch läge in der Anerkennung eines versicherungssystemunabhängigen medizinischen Existenzminimums ein radikaler Bruch mit der dem „Nikolaus-Beschluss“ vorangegangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung, nach der sich aus dem in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG garantierten Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gerade kein Anspruch gegen die Krankenversicherung auf Bereitstellung spezieller Gesundheitsleistungen ergibt.54 Darüber hinaus hat das BVerfG diese Rechtsprechung im „Nikolaus-Beschluss“ sogar explizit in Bezug genommen und bestätigt.55 Zudem wäre eine rechtsbegründende Deutung des Grundrechts auf Leben im „Nikolaus-Beschluss“ nur schwerlich mit dem „Harz IV-Urteil“ des BVerfG56 aus dem Jahr 2010 in Einklang zu bringen. Denn hierin hat das BVerfG – ohne sich von dem (im Jahr 2005 ergangenen) „Nikolaus-Beschluss“ zu distanzieren – die im Schrifttum57 vorherrschende Meinung bestätigt, nach der sich aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 GG ein Anspruch auf ein Existenzminimum ergibt, das nicht zuletzt auch Gesundheitsleistungen umfasst und das zwar unverfügbar ist, dessen Maß aber keine konstante Größe darstellt, sondern durch den Gesetzgeber am jeweiligen Entwicklungsstand und den bestehenden Lebensbedingungen des Gemeinwesens (Leistungskraft des Sozialstaats etc.) auszurichten ist. Mit dieser Rechtsprechung wäre der im „Nikolaus-Beschluss“ zuerkannte Anspruch nicht zu vereinbaren, sofern man ihn als Anspruch auf ein weitverstandenes medizinisches Existenzminimum interpretieren würde. Denn wenn man die Auffassung vertritt, dass ein medizinisches Existenzminimum jegliche lebensver52  In diese Richtung den „Nikolaus-Beschluss“ interpretierend: Axer, in: Festschrift für Isensee, S. 965 (974 ff.); Dettling, GesR 2006, 97 (106). 53  Dettling, GesR 2006, 97 (106). 54  Axer, in: Festschrift für Isensee, S. 965 (974); Dettling, GesR 2006, 97 (106). 55  BVerfGE 115, 25 (43) = NJW 2006, 891 (893). 56  BVerfGE 125, 175 ff. = NJW 2010, 505 ff. 57  Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1, Rn. 121 (70.  Lfg. 2013); Hillgruber, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 1, Rn. 51 f.; Höfling, in: Sachs, GG, Art. 1, Rn. 31; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 1, Rn. 15, 22 f.; Müller-Terpitz, in: Spickhoff, Medizinrecht, Art. 1 GG, Rn. 2.

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Kap. 2: Verfassungsrechtliche Grenzen

längernde Maßnahmen umfasst, sogar solche, die nicht nachgewiesenermaßen wirksam sind, so wäre dem Gesetzgeber – angesichts der immensen und zukünftig eher noch steigenden Kosten einer solchen „Mindestversorgung“ und angesichts der Sperrwirkung, die ein so definiertes Existenzminimum gegenüber Kosten-Nutzen-Abwägungen entfaltet – die Berücksichtigung der bestehenden Lebensbedingungen (Konjunkturlage etc.) bei der Ausgestaltung des medizinischen Existenzminimums verwehrt. Dabei wäre die Vorenthaltung von Maßnahmen von nicht nachgewiesener Wirksamkeit geradezu prädestiniert, um bei steigenden Gesundheitskosten Einsparungen vorzunehmen58 und dennoch nicht auf die Bereitstellung einer effizienten medizinischen Mindestsicherung verzichten zu müssen. 3. Bedeutung des „Nikolaus-Beschlusses“ für die Rationierung medizinischer Leistungen59 Die Bedeutung des „Nikolaus-Beschlusses“ für die Rationierungsdebatte bedarf einer differenzierten Betrachtung: Unterhalb der Schwelle der lebensbedrohlichen Erkrankungen gelten unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des BVerfG vage konturierte Schutzpflichten im Sinne eines „echten“ medizinischen Existenzminimums, wie dieses auch von der herrschenden Lehre anerkannt wird und bei dessen Ausgestaltung dem Gesetzgeber ein weiter Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum zukommt, mit der Folge, dass auch Wirtschaftlichkeits- und Effizienzgesichtspunkte berücksichtigt werden dürfen.60 Weitaus höhere Anforderungen gelten für den Bereich der Therapien zur Behandlung lebensbedrohlicher Erkrankungen. Der „Nikolaus-Beschluss“ steht – zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt – der Vorenthaltung von Therapien zur Behandlung lebensbedrohlicher Erkrankungen entgegen, zumindest, sofern durch die GKV keine gleichwertige oder bessere Therapiealternative zur Verfügung gestellt wird. Dies gilt sowohl für nicht-standardgemäße als auch für standardgemäße Therapien. Zwar hat sich das BVerfG im „Nikolaus-Beschluss“ explizit nur zu den nicht-standardgemäßen Maßnahmen geäußert. Jedoch bedeutet dies nicht, dass für standardgemäße Therapien ein anderer (geringerer) verfassungsrechtlicher Maßstab gilt. Denn wenn die Verfassung für den Bereich der lebensbedrohlichen Erkrankungen sogar die Bereitstellung nicht-standardgemäßer Leistungen durch die GKV gebietet, muss die GKV erst recht schulmedizinisch anerkannte Maßnahmen zur Behandlung lebensbedrohlicher 58  Huster,

JZ 2006, 466 (468). Ausführungen zur Bedeutung des „Nikolaus-Beschlusses“ für die Rationierungsdebatte basieren auf: Dannecker/Streng, in: Schmitz-Luhn/Bohmeier, Priorisierung in der Medizin, S. 135 (142 ff.). 60  Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S. 430 ff. 59  Die



B. Existenz und Inhalt eines Anspruchs37

Erkrankungen zur Verfügung stellen. Die Beschränkung des „Nikolaus-Beschlusses“ auf nicht-standardgemäße Leistungen ist lediglich dem Umstand geschuldet, dass der Gesetzgeber zum Zeitpunkt des Entscheidungserlasses gesetzlich Krankenversicherten nicht-standardgemäße Leistungen auch im Falle lebensbedrohlicher Erkrankungen vorenthielt61, während zum medizinischen Standard zu rechnende Leistungen ausnahmslos zur Verfügung gestellt wurden und werden, jedenfalls im Hinblick auf ernstere und insbesondere lebensbedrohliche Erkrankungen. Weitaus schwieriger zu beantworten als die Frage, ob und inwieweit es zum gegenwärtigen Zeitpunkt zulässig wäre, einem gesetzlich Krankenversicherten nicht-nachgewiesen wirksame Therapien zur Behandlung lebensbedrohlicher Erkrankungen vorzuenthalten, ist die Fragestellung, welche Bedeutung dem „Nikolaus-Beschluss“ unter Zugrundelegung einer mittelund langfristigen Perspektive zukommt. Denn ob der „Nikolaus-Beschluss“ Rationierungen im Bereich der Therapien zur Behandlung lebensbedroh­ licher Erkrankungen selbst dann noch verbieten wird, wenn uns in einigen Jahren / Jahrzehnten aufgrund des medizinischen Fortschritts und der demographischen Entwicklung die Gesundheitskosten über den Kopf wachsen sollten, ist nicht eindeutig zu beantworten. Diese Prognoseunsicherheiten sind insbesondere auf den Umstand zurückzuführen, dass den Entscheidungsgründen des „Nikolaus-Beschlusses“ nicht eindeutig zu entnehmen ist, ob das BVerfG dem Grundrecht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) eine rechtsbegründende oder eine rechtskonkretisierende Funktion zugemessen hat. Legt man die Deutung zugrunde, dass das BVerfG mit dem im „Nikolaus-Beschluss“ zuerkannten Anspruch einen sehr weitverstandenen aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG (in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG) abgeleiteten grundrechtlichen Leistungsanspruch auf das medizinische Existenzminimum anerkannt habe, so müssten lebenserhaltende Therapien und Therapien, welche die Lebensqualität lebensbedrohlich Erkrankter verbessern, auch in Zukunft zwingend solidarisch (z. B. über die GKV) finanziert werden. Das würde sogar für Therapien von nicht nachgewiesener Wirksamkeit gelten, sofern nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden könnte, dass diese ir61  Die Regelung des § 2 Abs. 1 a S. 1 SGB V, die einen Ausnahmetatbestand zu dem in § 2 Abs. 1 S. 3 SGB V normierten Prinzip normiert, wonach medizinische Leistungen dem allgemeinen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse entsprechen müssen, ist als Reaktion auf den „Nikolaus-Beschluss“ zu betrachten und trat erst am 01.01.2014 in Kraft. Nach dieser Vorschrift können Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, auch eine von Absatz 1 Satz 3 abweichende Leistung (i. e. eine nicht-standardgemäße Therapie) beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.

38

Kap. 2: Verfassungsrechtliche Grenzen

gendeine – wenn auch nur marginale – Wirkung haben können. Dieser Verpflichtung könnte sich der Staat konsequenterweise nicht einmal dadurch vollständig entziehen, dass er die GKV abschaffen und diese durch ein privates Versicherungssystem ersetzen würde. Denn für Bedürftige müsste der Gesetzgeber derartige, zum medizinischen Existenzminimum gehörende Therapien notfalls im Wege der Sozialhilfe zur Verfügung stellen. Der Rationierung solidarisch finanzierter medizinischer Leistungen, die angesichts des medizinischen Fortschritts und der Überalterung der Gesellschaft als unausweichlich angesehen wird, wären damit sehr enge Grenzen gesetzt.62 Zwar wäre es zulässig, Leistungen zur Heilung bzw. zur Verbesserung der Lebensqualität bei nicht-lebensbedrohlichen Erkrankungen vorzuenthalten, jedoch wären hierdurch keine wesentlichen Einsparungen zu erreichen. Denn Therapien zur Behandlung lebensbedrohlicher Erkrankungen machen den Löwenanteil der Gesundheitsausgaben aus. Dies wird durch die Tatsache belegt, dass Studien zufolge die letzten Lebensmonate eines Patienten – unabhängig von dessen Lebensalter – mit Abstand die teuersten sind.63 So sollen Therapien für spezielle Lungenkrebsformen heute schon 50.000 Euro kosten, obgleich die hiermit behandelten Patienten lediglich 1,2 Monate länger leben; die Gesamtkosten, die dem amerikanischen Gesundheitswesen für derartige Therapien entstehen, sollen sich laut Hochrechnungen des National Cancer Institute auf 440 Milliarden Dollar pro Jahr belaufen.64 Folglich hat die Deutung, dass das BVerfG mit dem „Nikolaus-Beschluss“ einen aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG abgeleiteten Anspruch auf das medizinische Existenzminimum anerkannt hat, zur Konsequenz, dass das Gemeinwesen nicht umhinkommen wird, riesige Summen in die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung zu investieren, die – bedingt durch den medizinisch-technischen Fortschritt und die Überalterung der Bevölkerung – immens ansteigen werden. Diese Finanzmittel werden dem Gemeinwesen an anderer Stelle fehlen, was die Vernachlässigung anderer wesentlicher Staatsaufgaben (Bildung, Kultur, Wirtschaftsförderung etc.) erzwingen wird.65 Zwar wird der Anspruch auf das medizinische Existenzminimum durch den sogenannten „Vorbehalt des Möglichen“ begrenzt, also auf das beschränkt, „was der Einzelne vernünftigerweise von der Gesellschaft beanspruchen kann“66. Wie oben bereits dargestellt (siehe Kap. 2 B. I. 2.) bedeutet dies im Hinblick auf das medizinische Existenzminimum, dass „der Staat weder vorrangig seine 62  Duttge, in: ders./Zimmermann-Acklin, Gerecht sorgen, S. 73 (78); Huster, JZ 2006, 466 (467). 63  Zweifel/Felder/Meier, in: Oberender, Alter und Gesundheit, S. 26 ff. 64  Abrecht, Medizin am Limit, in: Die Zeit vom 14.12.2009. 65  Huster, JZ 2006, 466 (467); Ladeur/I. Augsberg, Die Funktion der Menschenwürde im Verfassungsstaat, S. 51 f. 66  BVerfGE 33, 303 (333).



B. Existenz und Inhalt eines Anspruchs39

Einnahmen zu erhöhen hat, bevor medizinische Leistungen rationiert werden, noch andere staatliche Aufgabenbereiche vernachlässigen muss, noch ausnahmslos und prioritär die für den Gesundheitssektor zur Verfügung stehenden Mittel zur Bekämpfung schwerster und lebensbedrohlicher Erkrankungen verwenden muss“67. Ausreichend ist, wenn der Gesundheitssektor im Verhältnis zu sämtlichen anderen pflichtigen und freiwilligen Staatsaufgaben eine seiner relativen Bedeutung angemessene Berücksichtigung findet.68 Angesichts der Verortung des Anspruchs auf das medizinische Existenzminimum im Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG), das ein sehr hochrangiges Verfassungsgut darstellt, gibt es jedoch nur wenige Staatsaufgaben, die im Verhältnis zur Gesundheitsversorgung eine gleich- oder gar höherrangige Stellung einnehmen. Insofern läuft die Anerkennung eines weit verstandenen medizinischen Existenzminimums angesichts der zu erwartenden Kostenexplosion im Gesundheitswesen darauf hinaus, dass der Staat gezwungen sein wird, Politikbereiche, wie Kultur, Bildung, Wirtschaftsförderung und andere Politik­ bereiche, die nicht in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG oder in Art. 1 Abs. 1 GG zu verorten sind, stark zu vernachlässigen.69 Ladeur / I. Augsberg bringen diesen Gedanken auf den Punkt, indem sie provokant fragen: „Kann es eine Ratio­ nierung im Gesundheitswesen geben, die einer 90-jährigen Patientin eine wenn auch nur geringe Erfolgsaussichten versprechende Herz-OP versagt, solange es noch irgendein staatlich subventioniertes Theater, Ausstellungshaus etc. gibt?“70 Eine für die Rationierung medizinischer Leistungen weitaus weniger weitreichende Bedeutung hat der „Nikolaus-Beschluss“, wenn man die Auffassung vertritt, dass das BVerfG den im „Nikolaus-Beschluss“ zuerkannten Anspruch maßgeblich auf die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) und das durch dieses Grundrecht gebotene Verhältnis von Leistung und Gegenleistung in einer Zwangsversicherung wie der GKV gestützt und das Grundrecht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) nur zur Konkretisierung der medizinischen Leistungen herangezogen hat, die Art. 2 Abs. 1 GG vor dem Hintergrund des heutigen Beitragsniveaus, der Zahl der heute GKV-Versicherten und der Menge, der Qualität und der Kosten der heute verfügbaren Therapien gebietet.71 67  Heinig,

Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S. 447. Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S. 439. 69  Ladeur/I. Augsberg, Die Funktion der Menschenwürde im Verfassungsstaat, S.  51 f. 70  Ladeur/I. Augsberg, Die Funktion der Menschenwürde im Verfassungsstaat, S. 51. 71  In diese Richtung tendierend wohl: Axer, in: Festschrift für Isensee, S. 974 ff.; Dettling, GesR 2006, 97 (106). 68  Heinig,

40

Kap. 2: Verfassungsrechtliche Grenzen

Zunächst einmal ist unter Zugrundelegung dieser Deutung die Bedeutung des „Nikolaus-Beschlusses“ auf das System der GKV beschränkt: Er macht ausschließlich Vorgaben für die medizinische Versorgung von Personen, die in der GKV versichert sind (und zwar unabhängig von deren individueller finanzieller Bedürftigkeit). Außerdem beansprucht der „Nikolaus-Beschluss“ nur so lange und insoweit Geltung, wie die GKV nicht abgeschafft und durch ein privates Krankenversicherungssystem ersetzt wird, was durchaus als verfassungsrechtlich zulässig erachtet wird72. Aber auch für das gegenwärtige Versicherungssystem der GKV und die medizinische Versorgung seiner Versicherten stellt der „Nikolaus-Beschluss“ keine absolute Rationierungsgrenze dar: Zwar lässt sich der Entscheidung die Vorgabe entnehmen, dass GKVVersicherten weder lebenserhaltende Therapien noch Therapien, welche die Lebensqualität lebensbedrohlich Erkrankter verbessern, vorenthalten werden dürfen, solange diese Therapien nicht erwiesenermaßen unwirksam sind. Jedoch gilt dies nur so lange, wie sich diese Leistungen durch die Beiträge der GKV-Versicherten (noch) finanzieren lassen. Sobald sich die Versichertenstruktur (Anzahl, Alter, Zahlungsfähigkeit der Versicherten), die Höhe der Beiträge oder die Quantität / Qualität / Kosten der verfügbaren medizinischen Leistungen nennenswert verändern, ergeben sich aus Art. 2 Abs. 1 GG und dem aus Art. 2 Abs. 1 GG abgeleiteten Verhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung in einer Zwangsversicherung auch veränderte Vorgaben für den Umfang der zu finanzierenden GKV-Leistungen. Vor dem Hintergrund des zu erwartenden medizinisch-technischen Fortschritts, der die Anzahl, Qualität und Kosten der verfügbaren medizinischen Leistungen steigern wird und der Überalterung der Gesellschaft, die sich negativ auf die Finanzierungsseite auswirken wird, erscheint es höchst wahrscheinlich, dass sich aus Art. 2 Abs. 1 GG in wenigen Jahren nicht einmal mehr ein Anspruch auf jede lebensverlängernde Leistung (ganz zu schweigen von marginal lebensqualitätsverbessernden Leistungen) entnehmen lassen wird. In diesem Fall wäre der im „Nikolaus-Beschluss“ zuerkannte Leistungsanspruch auf Finanzierung jeder (sofern nicht nachgewiesen wirkungslosen) lebensverlängernden bzw. lebensqualitätsbessernden Therapie im Falle lebensbedrohlicher Erkrankung in erheblichem Umfang in Frage gestellt.

C. „Gesundheitsrechtlich geschärftes Willkürverbot“ Verfassungsrechtliche Grenzen für die Verteilung knapper finanzieller Ressourcen im Gesundheitswesen ergeben sich auch aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG (bzw. Art. 1 Abs. 1 GG), also aus dem allgemeinen Gleichheitssatz in Verbindung mit dem – aufgrund der 72  Nettesheim,

VerwArch 93 (2002), 315 (326).



D. Allgemeine Handlungsfreiheit bzw. Eigentumsfreiheit 41

existentiellen Bedeutung von Gesundheitsleistungen berührten – Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Diese Vorschriften, von SchmidtAßmann treffend als „gesundheitsrechtlich geschärftes Willkürverbot“73 bezeichnet, normieren im Gegensatz zum Recht auf das medizinische Existenzminimum keine Versorgungsuntergrenze, sondern zielen auf die Vermeidung einer willkürlichen Benachteiligung bestimmter Patientengruppen bei der Verteilung der vorhandenen medizinischen Ressourcen in einem öffentlichen Gesundheitssystem. Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gebietet angesichts des verfassungsrechtlichen Prinzips der Gleichwertigkeit menschlichen Lebens eine streng „lebenswertindifferente“ Verteilung knapper finanzieller Ressourcen im Gesundheitssystem und verbietet somit jede – auch nur mittelbare Differenzierung – nach dem Lebenswert.74 Erkennt man mit der herrschenden Meinung ein medizinisches Existenzminimum an, so kommt dem gesundheitsrechtlich geschärften Willkürverbot eigenständige Bedeutung insbesondere im Hinblick auf die Verteilung von nicht zum medizinischen Existenzminimum gehörenden (im Sinne von hierüber hinausgehenden) Gesundheitsleistungen zu, die im Rahmen eines öffentlichen (solidarisch finanzierten) Gesundheitssystems einem Teil der Patienten zur Verfügung gestellt werden. Außerdem können sich auf das gesundheitsrechtlich geschärfte Willkürverbot (im Gegensatz zum medizinischen Existenzminimum) auch nicht bedürftige Personen berufen, wenn ihnen in einem öffentlichen Gesundheitssystem (etwa der GKV) bestimmte medizinische Leistungen vorenthalten werden. Ebenfalls eigenständige Bedeutung (neben dem Recht auf das medizinische Existenzminimum) hat das gesundheitsrechtlich geschärfte Willkürverbot in Fällen, in denen nicht genügend finanzielle Mittel vorhanden sind, um allen Anspruchsberechtigten sämtliche vom medizinischen Existenzminimum umfassten Leistungen zu finanzieren (und insofern der sog. „Vorbehalt des Möglichen“ zum Tragen kommt).

D. Allgemeine Handlungsfreiheit bzw. Eigentumsfreiheit Sofern der Gesetzgeber sich dazu entschließt, Gesundheitsleistungen durch ein öffentlich-rechtliches Pflichtversicherungssystem (wie die GKV) zur Ver73  Schmidt-Aßmann, Grundrechtspositionen und Legitimationsfragen im öffent­ lichen Gesundheitswesen, S. 21; ders., NJW 2004, 1689 (1691). 74  Gutmann, in: Gutmann/Schmidt, Rationalisierung und Allokation im Gesundheitswesen, S. 179 (222 ff.); Kirchhof, MMW 140 (1998), 200 (201); Schmidt-Aßmann, NJW 2004, 1689 (1692); Taupitz, in: Wolter et al., Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, das öffentliche Recht und das Strafrecht, S. 113 (128).

42

Kap. 2: Verfassungsrechtliche Grenzen

fügung zu stellen – wozu er von Verfassung wegen keineswegs verpflichtet ist75 –, ergeben sich für die Rationierung knapper finanzieller Ressourcen im Gesundheitssystem noch zusätzliche Vorgaben aus der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG)76 bzw. nach anderer Auffassung aus der Eigentumsfreiheit (Art. 14 GG)77. Die allgemeine Handlungsfreiheit (bzw. die Eigentumsfreiheit), in die durch die gegenwärtig bestehende gesetzliche Verpflichtung zum Eintritt in die GKV und zur Zahlung von Versicherungsbeiträgen eingegriffen wird, verpflichtet die öffentliche Gewalt (durch ihren status negativus), die Angemessenheit von Leistung und Gegenleistung zu gewährleisten.78 Unter welchen Voraussetzungen eine unangemessene und somit verfassungswidrige Divergenz zwischen Versicherungsbeitrag und Leistungsumfang anzunehmen ist, dürfte sich mit Blick auf den privaten Versicherungsmarkt beantworten lassen.79 Erhellend wird hier insbesondere sein, welchen Leistungsumfang private Krankenversicherungen für Versicherungsbeiträge in Höhe der durchschnittlichen GKV-Beiträge anbieten.80

E. Sozialstaatsprinzip Das Sozialstaatsprinzip (Artt. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG) setzt der Rationierung medizinischer Leistungen keine nennenswerten Grenzen. Denn es gebietet lediglich den Aufbau und die Unterhaltung einer effizienten Gesundheitsversorgung.81 Im Hinblick auf das Niveau einer solchen Gesundheitsversorgung steht dem Gesetzgeber jedoch eine große Einschätzungsprärogative zu.82 Weitaus engere Grenzen für die Rationierung medizinischer 75  Der Gesetzgeber ist zwar von Verfassung wegen verpflichtet, ein leistungsfähiges Gesundheitssystem zu gewährleisten und – sofern man einen Anspruch auf ein medizinisches Existenzminimum anerkennt – auch jedermann ein Mindestniveau an medizinischen Leistungen zur Verfügung zu stellen, jedoch macht die Verfassung keine Vorgaben hinsichtlich der rechtstechnischen Organisation eines solchen Gesundheitssystems, vgl. Nettesheim, VerwArch 93 (2002), 315 (326). 76  BVerfGE 115, 25 ff. = NJW 2006, 891 ff.; Ebsen, NDV 1997, 109 (115). 77  Axer, in: Festschrift für Isensee, S. 965 (975  f.); Dettling, GesR 2006, 97 (103 ff.); Höfling/S. Augsberg, Zeitschrift für medizinische Ethik 55 (2009), 45 (49); Nettesheim, VerwArch 93 (2002), 315 (330 ff.). 78  BVerfG NJW 2006, 891 ff.; Axer, in: Festschrift für Isensee, S. 965 (976 f.); Dettling, GesR 2006, 97 (103 ff.); Ebsen, NDV 1997, 109 (115); Höfling/S. Augsberg, Zeitschrift für medizinische Ethik 55 (2009), 45 (49); Nettesheim, VerwArch 93 (2002), 315 (330 ff.). 79  Dettling, GesR 2006, 97 (105); Höfling/S. Augsberg, Zeitschrift für medizinische Ethik 55 (2009), 45 (49); Nettesheim, VerwArch 93 (2002), 315 (331). 80  Dettling, GesR 2006, 97 (105); Nettesheim, VerwArch 93 (2002), 315 (331). 81  BVerfGE 57, 70 (99); 68, 193 (209). 82  U. Becker, in: Festschrift für Udo Steiner, S. 51 (66); Höfling, in: Schumpelick/Vogel, Was ist uns die Gesundheit wert?, S. 284 (286), ders., in: Feuerstein/



F. Verfassungsrechtlich zulässige und unzulässige Kriterien 43

Leistungen als aus dem Sozialstaatsprinzip ergeben sich nach herrschender Lehre erst aus dem Sozialstaatsprinzip in Verbindung mit dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) und / oder der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), wie die obigen Ausführungen zeigen (siehe Kap. 2 B.).

F. Verfassungsrechtlich zulässige und unzulässige Kriterienzur Allokation knapper finanzieller Ressourcen im Gesundheitswesen I. Verfassungswidrige Differenzierungskriterien Die herrschende Meinung entnimmt den soeben beschriebenen verfassungsrechtlichen Vorgaben (vgl. Kap. 2 A. ff.), insbesondere dem medizinischen Existenzminimum und dem „gesundheitsrechtlich geschärften Willkürverbot“, dass ein soziales Minimum, welches zumindest Notfallbehandlungen und nach herrschender Auffassung auch Leistungen bei lebensbedrohlichen sowie anderen schwerwiegenden Erkrankungen (jedenfalls sofern diese Leistungen nachgewiesen wirksam sind) umfasst, niemandem vorenthalten werden darf. Eine Differenzierung nach den Kriterien Alter83 (im Sinne von starren Altersgrenzen, die nicht in hinreichender Relation zu einem bestimmten Krankheitsrisiko stehen), Finanzkraft des Hilfebedürftigen84, Social Worth85 und Selbstverschulden des Patienten86 gilt daher in einem öffentlichen Gesundheitssystem als unzulässig, was in erster Linie Kuhlmann, Rationierung im Gesundheitswesen, S. 143 (146 f.); Künschner, Wirtschaftlicher Behandlungsverzicht und Patientenauswahl, S. 264 ff. 83  Brech, Triage und Recht, S. 275 ff.; Kirchhof, MMW 140 (1998), 200 (201); Nettesheim, VerwArch 93 (2002), 315 (346); Schmidt-Aßmann, NJW 2004, 1689 (1691); ders., in: Gethmann et al., Gesundheit nach Maß?, S. 157 f.; Uhlenbruck, MedR 1995, 427 (433); a. A. Huster, SDSRV, Bd. 55, 15 ff. 84  Brech, Triage und Recht, 2008, S. 285 ff.; Kirchhof, Stimmen der Zeit 2004, 3 (5); ders., MMW 140 (1998), 200 (201); Nettesheim, VerwArch 93 (2002), 315 (346); Uhlenbruck, MedR 1995, 427 (433). 85  Brech, Triage und Recht, S. 287 ff.; Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S. 448; Kirchhof, Stimmen der Zeit 2004, 3 (5); ders., MMW 140 (1998), 200 (201); Nettesheim, VerwArch 93 (2002), 315 (346); Schmidt-Aßmann, NJW 2004, 1689 (1691); ders., in: Gethmann et al., Gesundheit nach Maß, 2004, S. 157; Taupitz, in: Wolter et al., Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, öffentliche Recht und Strafrecht, S. 113 (128); Uhlenbruck, MedR 1995, 427 (433). 86  Brech, Triage und Recht, S. 292 ff.; Kirchhof, Stimmen der Zeit 2004, 3 (5); ders., MMW 140 (1998), 200 (201 f.); Nettesheim, VerwArch 93 (2002), 315 (346); Taupitz, in: Wolter et al., Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, öffentliche Recht und Strafrecht, S. 113 (128).

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Kap. 2: Verfassungsrechtliche Grenzen

mit dem Argument begründet wird, dass eine Verteilung knapper finanzieller Ressourcen im Gesundheitswesen nach den benannten Kriterien eine unmittelbare oder zumindest mittelbare Differenzierung nach dem Lebenswert darstelle. Eine solche nicht-„lebenswertindifferente“ Allokation überlebenswichtiger bzw. gesundheitsrelevanter Ressourcen sei jedoch mit dem Grundrecht auf Leben, der sedes materiae des medizinischen Existenzminimums und des „gesundheitsrechtlich geschärften Willkürverbots“, und dem aus diesem Grundrecht (Grundrecht auf Leben) folgenden Prinzip der Gleichwertigkeit allen menschlichen Lebens nicht vereinbar. Die genannten Differenzierungsverbote – Alter, Finanzkraft, Social Worth und Selbstverschulden – beanspruchen somit jedenfalls für den Bereich der zum medizinischen Existenzminimum gehörenden Leistungen Geltung87, weshalb es noch nicht einmal in einer Mangelsituation, in der es ausgeschlossen ist, jedem Anspruchsberechtigten das medizinische Existenzminimum zur Verfügung zu stellen, zulässig wäre, einem Patienten aufgrund seines Alters, seines Verursachungsbeitrags an seiner Erkrankung, seiner geringen finanziellen Leistungsfähigkeit oder seiner vermeintlich geringen sozialen Wertigkeit zum medizinischen Existenzminimum gehörende Leistungen vorzuenthalten. Nach Auffassung vieler Autoren88 gelten die genannten Differenzierungsverbote jedoch auch für solche Diagnosemethoden / Therapien, die über das medizinische Existenzminimum hinausgehen, sofern diese Leistungen nicht der privaten Absicherung durch den Einzelnen überlassen sind, sondern durch ein öffentliches Gesundheitssystems – wie die GKV – erbracht werden.

II. Verfassungsrechtlich unbedenkliche Differenzierungskriterien Als verfassungsrechtlich unbedenkliche Kriterien zur Allokation knapper finanzieller Ressourcen im Gesundheitswesen gelten hingegen das Kriterium der medizinischen Dringlichkeit89, das Zufallsprinzip (Losverfahren)90 87  A. A. Huster, in: Mazouz et al., Krankheitsbegriff und Mittelverteilung, S. 157 (167 f.), der sehr kostenträchtige, lebenserhaltende Maßnahmen bei Hochbetagten nicht als (zwingenden) Teil des medizinischen Existenzminimums sieht, da nicht davon auszugehen sei, dass sich der Durchschnittsbürger (nach dessen Gesundheitsversorgungspräferenzen sich nach der von Huster vertretenen Auffassung das medizinische Existenzminimum bestimmt) eine private Versicherung leisten will oder kann, die derartige Leistungen abdeckt. 88  Nettesheim, Zeitschrift für medizinische Ethik 48 (2002), 139 (150 ff.); Neumann, NZS 2005, 617 (622 ff.); Schmidt-Aßmann, in: Gethmann et al., Gesundheit nach Maß?, S. 154 ff. 89  Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S. 448; Taupitz, in: Wolter et al., Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, öffentliche Recht und Strafrecht, S. 113 (126); ders., in: Nagel/Fuchs, Rationalisierung und Rationierung im



F. Verfassungsrechtlich zulässige und unzulässige Kriterien 45

sowie das Prioritätsprinzip (Wartelisten)91, wobei sich letztere beiden Kriterien natürlich nur begrenzt dazu eignen, eine zukunftsfähige und effiziente öffentliche Gesundheitsversorgung zu gestalten. 90

Im Hinblick auf die Verteilungskriterien Erfolgsaussichten der Behandlung und Kosten-Nutzen-Erwägungen muss differenziert werden: Für den Bereich der nicht-lebensbedrohlichen Erkrankungen gelten diese Kriterien unumstritten als verfassungsrechtlich unbedenkliche Differenzierungskriterien im Hinblick auf die aus finanziellen Gründen indizierte Rationierung im Gesundheitswesen.92 Schwieriger zu beantworten ist die Frage, ob Thera­ pien / Diagnosemethoden zur Behandlung (unmittelbar) lebensbedrohlicher Erkrankungen aufgrund zu geringer Erfolgsaussichten der Behandlung und / oder eines zu schlechten Kosten-Nutzen-Verhältnisses vorenthalten werden dürfen: In der Literatur werden (gerade auch seitens der Befürworter eines medizinischen Existenzminimums) auch für den Bereich der lebenserhaltenden Therapien sowohl die Erfolgsaussichten der Behandlung93 als auch Kosten-Nutzen-Erwägungen94 als verfassungsrechtlich unbedenk­ deutschen Gesundheitswesen, S. 86 (99); Schmidt-Aßmann, in: Gethmann et al., Gesundheit nach Maß?, S. 156. 90  Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S. 448; Nettesheim, VerwArch 93 (2002), 315 (343); Schmidt-Aßmann, in: Gethmann et al., Gesundheit nach Maß?, S. 156; Taupitz, in: Wolter et al., Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, öffentliche Recht und Strafrecht, S. 113 (127). 91  Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S. 448; Nettesheim, VerwArch 93 (2002), 315 (343 ff.); Schmidt-Aßmann, in: Gethmann et al., Gesundheit nach Maß?, S. 156; Taupitz, in: Wolter et al., Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, öffentliche Recht und Strafrecht, S. 113 (127). 92  Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S. 448  f.; Nettesheim, VerwArch 93 (2002), 315 (343 ff.); Schmidt-Aßmann, NJW 2004, 1689 (1691); ders., in: Gethmann et al., Gesundheit nach Maß?, S. 156; Taupitz, in: Wolter et al., Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, öffentliche Recht und Strafrecht, S. 113 (128); einschränkend: Huster, DVBl. 2010, 1069 (1074 ff.). 93  I. Augsberg/S. Augsberg, AöR 132 (2007), 539 (561 f.); Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S. 448 f.; Huster, JZ 2006, 466 (467 f.); Ladeur/I. Augsberg, Die Funktion der Menschenwürde im Verfassungsstaat, S. 51 f.; Nettesheim, VerwArch 93 (2002), 315 (343 ff.); Schmidt-Aßmann, NJW 2004, 1689 (1691); ders., in: Gethmann et al., Gesundheit nach Maß?, S. 156; Taupitz, in: Wolter et al., Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, öffentliche Recht und Strafrecht, S. 113 (128). 94  I. Augsberg/S. Augsberg, AöR 132 (2007), 539 (561 f.); Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S. 448 f.; Huster, JZ 2006, 466 (467 f.); Ladeur/I. Augsberg, Die Funktion der Menschenwürde im Verfassungsstaat, S. 51 f.; Nettesheim, VerwArch 93 (2002), 315 (343 ff.); Schmidt-Aßmann, NJW 2004, 1689 (1691); ders., in: Gethmann et al., Gesundheit nach Maß?, S. 156; Taupitz, in: Wolter et al., Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, öffentliche Recht und Strafrecht, S. 113 (128); einschränkend: Huster, DVBl. 2010, 1069 (1074 ff.).

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Kap. 2: Verfassungsrechtliche Grenzen

liche Differenzierungskriterien für die aus finanziellen Gründen indizierte Rationierung im Gesundheitswesen betrachtet. Bezüglich des Erfolgskriteriums wird dies sowohl für die Ausprägung als zu erwartende Lebensqualitätsverbesserung oder zu erwartende Lebensverlängerung als auch für die Ausprägung als Therapieansprechrate vertreten; sowohl nach der erzielbaren Lebensqualitätsverbesserung bzw. Lebensverlängerung als auch nach der Ansprechrate einer Therapie soll differenziert werden dürfen. Einschränkend zur dargestellten herrschenden Lehre ist jedoch anzumerken, dass manche Autoren95 die Einschätzung, dass die Erfolgsaussichten der Behandlung sowie Kosten-Nutzen-Erwägungen zulässige Priorisierungskriterien sind, auf die oberen Allokationsebenen beschränkt wissen wollen. Hiernach wäre es zwar zulässig, bestimmte Therapien grundsätzlich (i. e. für alle Patienten, die an einer bestimmten Erkrankung leiden) von der solidarischen Finanzierung auszuschließen, nicht jedoch, auf die individuellen Erfolgsaussichten beim einzelnen Patienten zu rekurrieren und mit Blick auf den individuellen Zustand des Patienten zu entscheiden, ob die erzielbare Lebensverlängerung / Lebensqualitätsverbesserung die Therapiekosten rechtfertigt.96 Letzterer Auffassung ist insofern zuzustimmen, als ein grundsätzlicher Ausschluss bestimmter Behandlungsmethoden rationaler, transparenter und demokratischer als eine Einzelfallentscheidung ist97 und zudem das Arzt-PatientenVerhältnis weniger belastet. Huster98, der die Erfolgsaussichten der Behandlung und Kosten-NutzenErwägungen im Grundsatz ebenfalls als verfassungsgemäße Allokationskriterien ansieht (sogar wenn man sie im Bereich der lebensbedrohlichen Erkrankungen einsetzt), nimmt noch eine weitere Einschränkung vor. Mit der Begründung, dass der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) besonders strenge Anforderungen stelle, wenn verschiedene Personengruppen und nicht nur verschiedene Sachverhalte ungleich behandelt würden, betrachtet Huster die Allokation knapper finanzieller Ressourcen im Gesundheitssystem nach Kosten-Nutzen-Erwägungen sowie nach dem Erfolgskriterium nur unter der Voraussetzung als verfassungsrechtlich zulässig, dass hierdurch keine ex ante identifizierbare Personengruppe, wie z. B. Menschen mit angeborener Erkrankung, benachteiligt werde, sondern potentiell jedermann betroffen sein könne, wie z. B. alle Menschen am Lebensende.99

95  Höfling,

in: Schumpelick/Vogel, Was ist uns die Gesundheit wert?, S. 284 (293). Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S. 448 f.; Schmidt-Aßmann, NJW 2004, 1689 (1691). 97  Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S. 449. 98  Huster, DVBl. 2010, 1069 (1075). 99  Huster, DVBl. 2010, 1069 (1075). 96  Heinig,



F. Verfassungsrechtlich zulässige und unzulässige Kriterien 47

Während Kosten-Nutzen-Erwägungen sowie das Erfolgskriterium nach der von der herrschenden Lehre vertretenen Auffassung auch für den Bereich der lebensbedrohlichen Erkrankungen zulässige Kriterien zur Verteilung knapper finanzieller Ressourcen im Gesundheitswesen repräsentieren, ist es nach der vom BVerfG im sog. „Nikolaus-Beschluss“100 vertretenen Auffassung – zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt (unter der Voraussetzung der Aufrechterhaltung der GKV) – nicht zulässig, lebenserhaltende oder der Lebensqualitätsverbesserung bei lebensbedrohlicher Erkrankung dienende Therapien wegen zu geringer Erfolgsaussichten (zu geringer Lebensverlängerung bzw. -qualitätsverbesserung und / oder zu geringer Ansprechrate) oder einer zu schlechten Kosten-Nutzen-Quote vorzuenthalten, sofern zu diesen Leistungen keine Alternative existiert.101 Denn im „Nikolaus-Beschluss“ bejahte das BVerfG auch für nicht nachgewiesen wirksame Therapien zur Behandlung lebensbedrohlicher Erkrankungen eine Finanzierungspflicht der GKV, sofern nur „eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht“102. Diese Voraussetzung wird jedoch angesichts schwankender Krankheitsverläufe und der bekannten Placebo-Effekte kaum jemals verneint werden können103, weshalb der „Nikolaus-Beschluss“ es gegenwärtig ausschließt lebenserhaltenden Maßnahmen (unabhängig davon, ob sie zum medizinischen Standard gehören oder nicht) die Finanzierung durch die GKV zu versagen, weil diese Maßnahmen – absolut oder im Verhältnis zu den Kosten – eine zu geringe Ansprechrate haben oder eine zu geringe Lebensverlängerung bewirken. Damit ist jedoch noch nicht gesagt, dass die Vorenthaltung lebenserhaltender medizinischer Leistungen aufgrund zu geringer Erfolgsaussichten oder zu schlechtem Kosten-Nutzen-Verhältnis auch in Zukunft stets am BVerfG scheitern wird.104 Denn erstens ist der „Nikolaus-Beschluss“ des BVerfG auf ganz massive Kritik seitens der Lehre105 gestoßen, weshalb eine Änderung dieser Rechtsprechung nicht unwahrscheinlich erscheint. Zweitens ist völlig unklar, ob das BVerfG mit dem „Nikolaus-Beschluss“ einen grundrechtlichen, von der Ausgestaltung des 100  BVerfGE

115, 25 ff. = NJW 2006, 891 ff. zur Bedeutung des „Nikolaus-Beschlusses“ für die Rationierung medizinischer Leistungen aufgrund knapper finanzieller Ressourcen: Dannecker/Streng, in: Bohmeier/Schmitz-Luhn, Priorisierung in der Medizin, S. 135 (142 ff.). 102  BVerfGE 115, 25 = NJW 2006, 891. 103  Huster, JZ 2006, 466 (467); Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S. 433. 104  Näher hierzu: Dannecker/Streng, in: Schmitz-Luhn/Bohmeier, Priorisierung in der Medizin, S. 135 ff. 105  Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S. 425 ff.; Huster, JZ 2006, 466 ff.; ders., DVBl. 2010, 1069 (1074); Möllers, FAZ vom 29.03.2006, Nr. 75, 42; Udsching, in: Duttge/Zimmermann-Acklin, Gerecht sorgen, S. 61 (66). 101  Näher

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Kap. 2: Verfassungsrechtliche Grenzen

Krankenversicherungssystems unabhängigen (Leistungs-)Anspruch auf das medizinische Existenzminimum begründen wollte oder sich bloß dazu geäußert hat, welche Leistungen in einem öffentlich-rechtlichen Pflichtversicherungssystem, wie der GKV, unter Zugrundelegung des aktuell gegebenen GKV-Einnahmen-Ausgaben-Verhältnisses geboten sind.106 Sollte letztere Interpretation der Entscheidung zutreffend sein (wofür die unter Kap. 2 B. II. 2. genannten Argumente sprechen), steht der „Nikolaus-Beschluss“ einer Vorenthaltung lebenserhaltender Leistungen nur so lange entgegen, wie einerseits das System der GKV aufrechterhalten wird und andererseits die Kosten der von der GKV erbrachten Gesundheitsleistungen noch irgendwie durch die Versichertenbeiträge finanziert werden können. Sollte sich der Gesetzgeber für die Abschaffung der GKV entscheiden oder aber sich das Gleichgewicht zwischen GKV-Beiträgen (Einnahmen) und Gesundheitsausgaben aufgrund des medizinischen Fortschritts und der Überalterung der Gesellschaft einmal dramatisch (zu Lasten der Einnahmeseite) verschieben, dann ließe sich dem „Nikolaus-Beschluss“ nicht einmal mehr ein Anspruch auf die Finanzierung jeder lebenserhaltenden Maßnahme (ganz zu schweigen von lebensqualitätsverbessernden Maßnahmen) entnehmen.107 Ebenso wie die Erfolgsaussichten der Behandlung und Kosten-NutzenErwägungen, die zumindest seitens der herrschenden Lehre als verfassungsgemäße Kriterien zur Rationierung medizinischer Leistungen betrachtet werden, gilt auch das Compliance-Kriterium als verfassungsrechtlich zulässiges Differenzierungskriterium.108 Dies ist folgerichtig, da dieses Kriterium in der Sache ebenfalls ein (spezielles) Erfolgskriterium darstellt, da es darauf abstellt, ob und inwieweit der Patient willens und in der Lage ist, für den Heilerfolg unerlässliche bzw. förderliche ärztliche Anweisungen zu befolgen. Zwischenfazit: Der Vorenthaltung medizinisch indizierter Leistungen in einem öffentlichen Gesundheitssystem, wie der GKV, steht auch die Verfassung nicht kategorisch entgegen. Zwar ist der Gesetzgeber, dem aufgrund des Grundsatzes vom Vorbehalt des Gesetzes die Entscheidung über die Vorenthaltung medizinisch indizierter Leistungen in einem öffentlichen Gesundheitssystem obliegt, an einschlägige verfassungsrechtliche Garantien gebunden. Hierzu zählen neben den absoluten Differenzierungsverboten in Art. 3 Abs. 3 GG der Anspruch auf ein medizinisches Existenzminimum (Art. 2 Abs. 2 S. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip), das „gesundheitsrechtlich geschärfte Willkürverbot“ des Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 S. 1 (bzw.), Art. 1 Abs. 1 GG diese Richtung auch: Dettling, GesR 2006, 97 (105 f.). in: Festschrift für Szwarc, S. 454 (466). 108  Schmidt-Aßmann, NJW 2004, 1689 (1691). 106  In

107  Dannecker/Streng,



F. Verfassungsrechtlich zulässige und unzulässige Kriterien 49

die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) bzw. die Eigentumsgarantie (Art. 14 GG) sowie das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG). Diese Garantien stehen einer Vorenthaltung medizinisch indizierter Leistungen u. a. aufgrund Geschlecht, Abstammung, Rasse, Behinderung, Alter, Finanzkraft, Social-Worth-Erwägungen sowie Selbstverschulden entgegen, zumindest im Rahmen des medizinischen Existenzminimums, das unstrittig Notfallmaßnahmen und nach herrschender Meinung auch Leistungen bei lebensbedrohlichen und anderen schwerwiegenden Erkrankungen umfasst. Dagegen stellen die Kriterien Dringlichkeit, Erfolgsaussichten, KostenNutzen-Erwägungen sowie Compliance zulässige Differenzierungskriterien dar. Dies gilt jedenfalls für den Bereich der Therapien bzw. Diagnosemethoden zur Behandlung nicht-lebensbedrohlicher Erkrankungen; nach der hier vertretenen Auffassung sind diese Differenzierungskriterien sogar im Bereich der Therapien bzw. Diagnosemethoden zur Behandlung lebensbedrohlicher Erkrankungen nicht kategorisch ausgeschlossen.

Kapitel 3

Denkbare Rationierungsszenarien und deren strafrechtliche Folgeprobleme im Überblick A. Denkbare Rationierungsszenarien Wenngleich auch eine Verteilung knapper finanzieller Ressourcen im Gesundheitswesen nach den Kriterien Priorität, Zufall und Compliance verfassungsrechtlich zulässig wäre (vgl. Kap. 2 F. II.), ist wohl am wahrscheinlichsten, dass sich der Gesetzgeber – sofern die Gesundheitskosten weiter ansteigen werden und so nicht mehr zu finanzieren sein sollten – für ein Rationierungsmodell entscheiden wird, das in irgendeiner Form die Rationierungskriterien Dringlichkeit, Erfolgsaussichten der Behandlung und / oder Kosten-Nutzen-Erwägungen umsetzt oder zumindest berücksichtigt. Denn im Gegensatz zu diesen Kriterien laufen die Rationierungskriterien Priorität und Zufall erkennbar dem Ziel der Aufrechterhaltung einer zwar bezahlbaren, nichtsdestoweniger aber effizienten und flächendeckenden öffentlichen Gesundheitsversorgung zuwider. Das Compliancekriterium hat den Nachteil, dass es unabhängig von seiner Ausgestaltung eine Einzelfallentscheidung am Krankenbett unumgänglich macht, da nur am Krankenbett des jeweiligen Patienten entschieden werden kann, ob der Patient willens und in der Lage ist, ärztliche Anweisungen zu befolgen, die zur Sicherstellung einer erfolgreichen Behandlung unerlässlich oder zumindest förderlich sind. Es besteht jedoch Einigkeit, dass Rationierungsentscheidungen besser auf höherer Allokationsebene getroffen werden, weil der generelle Ausschluss bestimmter Therapie- und Diagnosemethoden unter Transparenz-, Demokratie-, Effizienz- und Rationalitätsgesichtspunkten gegenüber Einzelfallentscheidungen vorzugswürdig ist.1 Im Gegensatz hierzu gestatten die Rationierungskriterien Dringlichkeit, Erfolgsaussichten der Behandlung und / oder Kosten-Nutzenerwägungen die Gestaltung einer sowohl bezahlbaren und somit zukunftsfähigen als auch effizienten, flächendeckenden und transparenten öffentlichen Gesundheitsversorgung, da sich alle diese Kriterien dazu eignen, auf hohen Allokationsstufen verwendet zu werden und sie zudem 1  Heinig,

Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S. 449.



A. Denkbare Rationierungsszenarien51

– insbesondere die Kriterien Kosten-Nutzen sowie Erfolgsaussichten der Behandlung – immenses Kosteneinsparungspotential aufweisen. Das Dringlichkeitskriterium wird in den Randbereichen der medizinischen Versorgung schon heute als Kriterium zur Vorenthaltung medizinisch indizierter Leistungen herangezogen.2 In diesem Zusammenhang ist insbesondere § 34 Abs. 1 SGB V zu nennen, wonach nicht verschreibungspflichtige Medikamente, wie beispielsweise Medikamente zur Behandlung von Erkältungen, grippalen Infekten und anderen harmlosen Erkrankungen, durch die GKV nicht zur Verfügung gestellt werden (Ausnahme: versicherte Kinder bis zum 12. Lebensjahr und versicherte Jugendliche mit Entwicklungsstörungen bis zum 18. Lebensjahr, § 34 Abs. 1 S. 5 Nr. 1 und 2 SGB V).3 Da gegen die Vorenthaltung von (zumeist sehr kostengünstigen) Therapien zur Behandlung harmloser Erkrankungen weder verfassungsrechtliche Einwände bestehen, noch große Widerstände seitens der Bevölkerung zu befürchten sind, ist zu erwarten, dass der Gesetzgeber mittel- oder langfristig in weitaus größerem Umfang als heute das Dringlichkeitskriterium umsetzen wird und viele Leistungen, die der Therapierung harmloser Erkrankungen dienen, durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht mehr bereitgestellt werden. Es sind jedoch in absehbarer Zukunft deutlich einschneidendere Rationierungsszenarien zu erwarten. Sehr wahrscheinlich werden medizinische Behandlungen mit geringen Erfolgsaussichten (i. e. Maßnahmen mit geringer Ansprechrate bzw. Maßnahmen, die eine geringe L ­ ebensqualitätsverbesserung bzw. -verlängerung bewirken) und / oder Behandlungen mit schlechter Kosten-Nutzen-Quote im Rahmen eines öffentlichen Gesundheitssystems nicht mehr zur Verfügung gestellt werden, selbst wenn dies – mangels Vorhandenseins einer vergleichbaren Behandlungsalternative – dazu führen wird, dass Patienten, welche die fragliche Behandlung nicht privat finanzieren können, nicht mehr behandelt werden bzw. eine minderwertige Behandlung erhalten werden (sog. indikationsübergreifender Einsatz von Kosten-Nutzen-Erwägungen). Der indikationsübergreifende Einsatz von Kosten-Nutzen-Erwägungen gilt nämlich aus Perspektive der Gesundheitsökonomie als Mittel der Wahl zur Vermeidung einer Kostenexplosion in einem öffentlichen Gesundheitswesen.4 Auch seitens der Gesundheitsethik werden das Erfolgskriterium5 2  Huster,

DVBl. 2010, 1069 (1072). Verfassungsmäßigkeit des § 34 SGB V: BSG NZS 2009, 624 ff.; Axer, in: Becker/Kingreen, SGB  V, § 34, Rn. 5 ff. 4  Felder, in: Schmitz-Luhn/Bohmeier, Priorisierung in der Medizin, S. 61 ff.; Wasem, DÄBl. 105 (2008), A 439 f. 5  Huster, Soziale Gesundheitsgerechtigkeit, S. 42 ff.; Schöne-Seifert/Buyx, in: Schöne-Seifert/Buyx/Ach, Gerecht behandelt?, S. 215 ff.; restriktiv: Lübbe, Sondervotum zur Stellungnahme des Ethikrats: Kosten und Nutzen im Gesundheitswesen – Zur normativen Funktion ihrer Bewertung, S. 98 ff. 3  Zur

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Kap. 3: Denkbare Rationierungsszenarien

sowie Kosten-Nutzen-Erwägungen6 – zumindest im Grundsatz – akzeptiert, wenngleich unter Gesundheitsethikern umstritten ist, auf welche Weise der medizinische Nutzen einer medizinischen Leistung zu beurteilen ist und insbesondere, ob die Messung des medizinischen Nutzens in sog. QALYs („quality adjusted live years“, dt. „qualitätsbereinigte Lebensjahre“) eine gerechte Verteilung knapper finanzieller Ressourcen in einem öffentlichen Gesundheitswesen gestattet. Auch unter dem Blickwinkel des Verfassungsrechts erscheint der indikationsübergreifende Einsatz des Erfolgskriteriums bzw. von Kosten-Nutzen-Erwägungen – wie die obige Untersuchung (Kap. 2 B. / Kap. 2 F. II.) gezeigt hat – als gangbarer Weg, zumindest sofern man ihn in der oben beschriebenen Weise auf eine hohe Allokationsstufe beschränkt und bestimmte Therapien generell nicht mehr zur Verfügung stellt. Keinerlei Bedenken bestehen gegen die Vorenthaltung von Leistungen zur Behandlung nicht-lebensbedrohlicher Erkrankungen, die geringe Erfolgsaussichten (i. e. lebensqualitätsverbessernde Maßnahmen, die eine geringe Ansprechrate haben und / oder lediglich geringe Verbesserungen der Lebensqualität zu bewirken vermögen) oder eine schlechte Kosten-Nutzen-Quote aufweisen. Aber auch die Vorenthaltung von lebensverlängernden Leistungen mit geringer Erfolgsquote (i. e. lebensverlängernde Maßnahmen, die eine geringe Ansprechrate haben und / oder nur marginale Lebensverlängerungen zu bewirken vermögen) bzw. schlechter Kosten-Nutzen-Quote erscheint aus verfassungsrechtlicher Perspektive eine durchaus diskutable Lösung zu sein, sofern sich in Zukunft die Finanzierungsprobleme im öffentlichen Gesundheitswesen noch weiter verschärfen sollten. Insofern erscheint nicht ausgeschlossen, dass auch in Deutschland mittel- oder langfristig bestimmte Krebstherapien durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht mehr bereitgestellt werden, weil diese bei Kosten pro Patient von mehreren Tausend Euro pro Monat lediglich bei einem geringen Prozentsatz der Patienten nennenswerte Lebensverlängerungen oder (ggf. sogar bei einem nennenswerten Prozentsatz der Patienten) lediglich Lebensverlängerungen im Bereich von wenigen Wochen zu bewirken vermögen. In England sind derartige Verhältnisse schon heute Realität.7 Dort werden Krebspatienten lebenserhaltende Therapien, die eine bestimmte Kosten-Nutzen-Quote unterschreiten, verweigert.8 Die Kosten für das Nie6  Huster, Soziale Gesundheitsgerechtigkeit, S. 42  ff.; Keller, in: Die Zeit vom 20.01.2011, Dossier, 13 (15); mit Einschränkungen: Marckmann/Siebert, Zeitschrift für Ethik in der Medizin 48 (2002), 171 ff.; Marckmann, Gesundheitswesen 2009, 2 ff.; restriktiv: Lübbe, Sondervotum zur Stellungnahme des Ethikrats: Kosten und Nutzen im Gesundheitswesen – Zur normativen Funktion ihrer Bewertung, S. 98 ff. 7  Keller, in: Die Zeit vom 20.01.2011, Dossier, S. 13 (15); zur Rationierung medizinischer Leistungen im britischen Gesundheitssystem: Schmitz-Luhn, Priorisierung in der Medizin, Erfahrungen und Perspektiven, S. 19 ff. 8  Keller, in: Die Zeit vom 20.01.2011, Dossier, S. 13 (15).



B. Strafrechtliche Folgeprobleme im Überblick53

renkrebsmedikament „Afinitor“ beispielsweise werden in England durch das öffentliche Gesundheitssystem nicht erstattet.9

B. Strafrechtliche Folgeprobleme im Überblick Aus strafrechtlicher Perspektive stellt sich die Problematik, welche Pflichten einen Arzt im Falle der Realisierung des beschriebenen Rationierungsszenarios treffen. Genauer gesagt ist fraglich, welche Behandlungsund / oder Aufklärungspflichten den behandelnden Arzt treffen, dessen Patient eine Diagnoseleistung bzw. Therapie benötigt, die – aufgrund der Tatsache, dass sie der Diagnostizierung bzw. Therapierung einer relativ harmlosen Erkrankung dient oder einen zu geringen Nutzen bzw. eine zu schlechte Kosten-Nutzen-Quote hat – im öffentlichen Gesundheitswesen nicht mehr zur Verfügung gestellt wird.

I. Behandlungs- und Aufklärungspflichten gegenüber zahlungsfähigen und zahlungswilligen Patienten hinsichtlich durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) bereitgestellter Leistungen Keine Probleme ergeben sich, sofern der Patient willens und in der Lage ist, die durch das öffentliche Gesundheitssystem nicht (mehr) zur Verfügung gestellte Diagnosemethode bzw. Therapie selbst zu bezahlen oder aber eine private (Zusatz-)Krankenversicherung abgeschlossen hat, welche die Kosten für derartige Leistungen übernimmt. In diesem Fall treffen den Arzt die üblichen strafrechtlichen Pflichten bei der Behandlung des Patienten, nämlich die Pflichten, die ihn auch dann treffen würden, wenn die benötigte Leistung durch die öffentliche Gesundheitsversorgung finanziert würde (näher Kap. 4).

II. Behandlungs- und Aufklärungspflichten gegenüber zahlungsunfähigen oder zahlungsunwilligen Patienten hinsichtlich durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) bereitgestellter Leistungen bei Existenz von Behandlungsalternativen Ebenfalls relativ unproblematisch ist die Konstellation, dass zu der durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) angebotenen Leistung eine überlegene, gleichwertige oder jedenfalls noch dem medizinischen 9  Keller,

in: Die Zeit vom 20.01.2011, Dossier, S. 13 (15).

54

Kap. 3: Denkbare Rationierungsszenarien

Standard zuzurechnende Alternative existiert, die durch die öffentliche Gesundheitsversorgung (noch) zur Verfügung gestellt wird. In diesem Fall stellt sich lediglich die Frage, ob bzw. unter welchen Umständen der Arzt verpflichtet ist, den Patienten über die Existenz dieser durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) finanzierten (jedoch privat zukaufbaren) Behandlungsalternative aufzuklären und welche strafrechtlichen Konsequenzen eventuelle Aufklärungsfehler haben würden (näher Kap. 5).

III. Behandlungs- und Aufklärungspflichten gegenüber zahlungsunfähigen oder zahlungsunwilligen Patienten hinsichtlich durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) bereitgestellter, alternativloser Leistungen Erhebliche strafrechtsdogmatische Probleme ergeben sich jedoch für die Fallgestaltung, dass zu der durch das öffentliche Gesundheitssystem nicht (mehr) zur Verfügung gestellten, medizinisch indizierten Leistung keine standardgemäße Alternative existiert und der Patient entweder nicht willens oder nicht in der Lage ist, diese (durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht mehr offerierte) Therapie oder Diagnosemethode privat zu finanzieren und hierfür auch keine private (Zusatz-)Krankenversicherung aufkommt. Die gleichen Konflikte ergeben sich für die Konstellation, dass zu der durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) zur Verfügung gestellten Maßnahme zwar eine standardgemäße Alternative existiert, aber auch diese durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht bereitgestellt wird. In diesen Fällen stellt sich die – in Kap. 6 näher zu erörternde – Problematik, ob den behandelnden Arzt die strafbewehrte Pflicht trifft, eine medizinisch indizierte, durch das öffentliche Gesundheitssystem jedoch nicht (mehr) finanzierte Leistung vorzunehmen, obwohl ihm diese durch den Patienten oder eine private Zusatzkrankenversicherung nicht vergütet wird. Sollte diese Frage zu verneinen und eine entsprechende Behandlungspflicht abzulehnen sein, so muss erörtert werden, ob der Arzt seinen Pa­ tienten zumindest über die Möglichkeit des privaten Zukaufs dieser Leistung aufzuklären hat. Dieser Fragestellung soll in Kap. 7 nachgegangen werden. Vergleichsweise geringe Brisanz – da geringe praktische Relevanz – hat die Frage nach eventuell vorhandenen Behandlungs- und Aufklärungspflichten in Bezug auf Maßnahmen, die in einem öffentlichen Gesundheitssystem deshalb vorenthalten werden, weil sie eine zu geringe Ansprechrate haben, also in einer zu geringen Anzahl an Fällen eine Lebensverlängerung und / oder Lebensqualitätsverbesserung bewirken. Enthält der behandelnde Arzt seinem Patienten eine solche marginal wirksame Behandlung vor, verwirklicht er durch dieses Unterlassen schon deshalb nicht den Tatbestand



B. Strafrechtliche Folgeprobleme im Überblick55

der Körperverletzung oder Tötung (§§ 223, 13 StGB / §§ 212, 13 StGB), weil es an der für eine Unterlassungsstrafbarkeit konstitutiven Quasikausalität des Unterlassens für den tatbestandsmäßigen Erfolg fehlt.10 Denn nach ganz herrschender Meinung11 genügt es für die Bejahung der Quasikausalität (entgegen der sog. Risikoverringerungstheorie12) nicht, dass die Vornahme der gebotenen Rettungshandlung die Chancen für die Rettung des Rechtsguts erhöht hätte, da das Abstellen auf die bloße Erhöhung der Rettungschance gegen den „in dubio pro reo“-Grundsatz verstoße und Verletzungsdelikte contra legem in Gefährdungsdelikte umdeute13. Vielmehr fordert die herrschende Meinung, dass der tatbestandliche Erfolg durch Vornahme der gebotenen Rettungshandlung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vermieden worden wäre.14 Sofern der Arzt seinem Patienten jedoch eine Behandlung vorenthält, die wegen zu geringer Ansprechrate im öffentlichen Gesundheitssystem nicht mehr zur Verfügung gestellt wird, kann gerade nicht davon ausgegangen werden, dass die Durchführung dieser Maßnahme mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den tatbestandlichen Erfolg vermieden hätte und der Patient länger überlebt hätte bzw. der Gesundheitszustand des Patienten sich gebessert hätte bzw. der Gesundheitszustand des Patienten sich nicht weiter verschlechtert hätte. Dagegen stellt sich die Frage nach eventuell vorhandenen Behandlungsoder Aufklärungspflichten in besonderer Schärfe in Bezug auf solche (standardgemäße und alternativlose) Leistungen, die im öffentlichen Gesundheitssystem deshalb nicht mehr zur Verfügung gestellt werden, weil sie bei hoher Ansprechrate nur geringe Lebensverlängerungen zu bewirken vermögen. Die in diesen Fallkonstellationen im Raum stehende Strafbarkeit wegen auch Sternberg-Lieben, in: Festschrift für Geppert, S. 723 (725 f.). 37, 106 (127); 43, 381 (397); BGH NStZ 1985, 27; NStZ 1987, 505; NJW 2000, 2754 (2757); NStZ-RR 2002, 303; NJW 2008, 1897 (1899); Baumann/ Weber/Mitsch, Strafrecht AT, § 15, Rn.  24; Fischer, StGB, Vor. § 13, Rn.  39; Jakobs, Strafrecht AT, § 29, Rn. 19; Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, § 59 III 4; Kühl, Strafrecht AT, § 18, Rn.  37 f; ders., in: Lackner/Kühl, StGB, Vor. § 13, Rn. 12, 14 a; Spendel, JZ 1973, 137 (140); Stree/Bosch, in: Schönke/Schröder, StGB, § 13, Rn.  61 ff.; Tag, in: Kick/Taupitz, Handeln und Unterlassen, S. 37 (39 f). 12  Brammsen, MDR 1989, 123 (126 f.); Otto, NJW 1980, 417 (423 f.); Stratenwerth, in: Festschrift für Gallas, S. 227 (237 f.); Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht AT, § 13, Rn.  54, §  8, Rn.  34 ff. 13  Wachsmuth/Schreiber, NJW 1982, 2094 (2096). 14  BGHSt 37, 106 (127); 43, 381 (397); NStZ 1985, 27; NStZ 1987, 505; NJW 2000, 2754 (2757); NStZ-RR 2002, 303; NJW 2008, 1897 (1899); Baumann/Weber/ Mitsch, Strafrecht AT, § 15, Rn.  24; Fischer, StGB, Vor. § 13, Rn.  39; Jakobs, Strafrecht AT, § 29, Rn. 19; Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, § 59 III 4; Kühl, Strafrecht AT, § 18, Rn.  37 f; ders., in: Lackner/Kühl, StGB, Vor. § 13, Rn. 12, 14 a; Spendel, JZ 1973, 137 (140); Stree/Bosch, in: Schönke/Schröder, StGB, § 13, Rn. 61 ff.; Tag, in: Kick/Taupitz, Handeln und Unterlassen, S. 37 (39 f.). 10  So

11  BGHSt

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Kap. 3: Denkbare Rationierungsszenarien

Tötung durch Unterlassen (§§ 212, 13 StGB) wäre nicht schon aufgrund fehlender Quasikausalität des Unterlassens für den tatbestandlichen Erfolg abzulehnen. Da der Tatbestand der Tötung durch Unterlassen (§§ 212, 13 StGB) nach Auffassung des BGH15 und mancher Literaturvertreter16 auch in solchen Fallkonstellationen zu bejahen ist, in denen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit lediglich nachgewiesen werden kann, dass es infolge des pflichtwidrigen ärztlichen Unterlassens zu einer Lebensverkürzung von (mindestens) einigen Stunden gekommen ist, würde die Strafbarkeit der Vorenthaltung einer marginal lebensverlängernden Maßnahme (mit sehr hoher Ansprechrate) nach §§ 212, 13 StGB nicht an fehlender Quasikausalität des Unterlassens für den tatbestandlichen Erfolgs scheitern. Auch durch eine (einseitige) Aufgabe seiner ärztlichen Garantenstellung könnte sich der Arzt in vielen Fällen vor Strafe nicht schützen, wenn – was in Kap. 6 zu untersuchen sein wird – Ärzte verpflichtet wären durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht mehr zur Verfügung gestellte Leistungen auch gegenüber zahlungsunfähigen / -unwilligen Patienten zu erbringen. Zwar können Ärzte ihre (durch die tatsächliche Übernahme der Behandlung des Patienten entstehende) Garantenstellung17 grundsätzlich auch gegen den Willen des Patienten wieder beenden und sich somit ihrer Garantenplichten gegenüber dem Patienten entledigen, indem sie die Fortsetzung der Behandlung in einer für den Patienten erkennbaren Weise verweigern18; jedoch besteht diese Möglichkeit nur innerhalb bestimmter Grenzen: Ist der der Gesundheitszustand des Patienten bereits so kritisch, dass sofortiges ärztliches Eingreifen geboten ist, ist eine einseitige Beendigung der ärztlichen Garantenstellung nicht (mehr) möglich (näher Kap. 4 B. I.).

15  BGH

NStZ 1981, 218 f. in: NK, StGB, Bd. 2, § 212, Rn. 5; Wolfslast, NStZ 1981, 219 ff.; a. A. Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, Rn. 224 ff. 17  Knauer/Brose, in: Spickhoff, Medizinrecht, §  212 StGB, Rn. 7; Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, § 13, Rn. 9; Künschner, Wirtschaftlicher Behandlungsverzicht und Patientenauswahl, S. 157; Lenckner, in: Forster, Praxis der Rechtsmedizin, S.  570 (573 f.); Roxin, Strafrecht AT, Bd. 2, § 32 IV, Rn. 70 ff.; Stree/Bosch, in: Schönke/Schröder, StGB, § 13, Rn. 28 a; Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, Rn. 34. 18  Lenckner, in: Forster, Praxis der Rechtsmedizin, S. 570 (573). 16  Neumann,

Kapitel 4

Behandlungs- und Aufklärungspflichten gegenüber zahlungsfähigen und zahlungswilligen Patienten hinsichtlich durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) zur Verfügung gestellter Leistungen Sofern ein Patient willens und in der Lage ist, durch das öffentliche Gesundheitssystem in der Zukunft nicht mehr bereitgestellte Leistungen gegebenenfalls privat zu finanzieren – etwa weil er über eine eine solche Leistung abdeckende private Zusatzversicherung verfügt – bestehen für den Arzt die regulären strafrechtlichen Behandlungs- und Aufklärungspflichten, die auch für die Konstellation gelten, dass alle medizinisch indizierten Maßnahmen durch die öffentliche Gesundheitsversorgung finanziert werden. Es kann daher nicht unerhebliche strafrechtliche Konsequenzen haben, wenn Ärzte gegenüber zahlungsfähigen sowie -willigen Patienten die Behandlung (Therapie bzw. Diagnoseleistung) verweigern, weil die medizinisch indizierte Maßnahme durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht mehr zur Verfügung gestellt wird und auch keine (durch die öffent­liche Gesundheitsversorgung bereitgestellte) Alternative existiert. Ebenfalls mit strafrechtlichen Risiken behaftet kann es sein, zahlungswillige und -fähige Patienten mit einer (durch die öffentliche Gesundheitsversorgung bezahlten) als suboptimal zu qualifizierenden Leistung zu behandeln, weil die (im konkreten Fall) optimale Maßnahme durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) offeriert wird. Zwar besteht für Ärzte im Regelfall kein Anreiz durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht mehr finanzierte Leistungen vorzuenthalten, sofern der Pa­tient in der Lage ist für diese Leistungen privat aufzukommen und hierzu auch bereit ist. Dennoch ist eine derartige Vorgehensweise denkbar, beispielsweise, wenn der behandelnde Arzt eine Zweiklassen-Medizin aus grundsätzlichen Erwägungen heraus ablehnt oder er mit privaten Zusatzversicherungen in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen gemacht hat, etwa weil es hohen bürokratischen Aufwand erfordert, gegenüber der privaten Zusatzversicherung die medizinische Notwendigkeit der Maßnahme zu rechtfertigen. Wie noch nachzuweisen sein wird (vgl. Kap. 6), streiten die Grundrechte für die Straflosigkeit der Vorenthaltung ärztlicher Leistungen, die darauf

58

Kap. 4: Behandlungs- und Aufklärungspflichten

beruht, dass diese Maßnahmen durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) bereitgestellt werden und auch durch den Patienten nicht privat finanziert werden (ökonomischer Behandlungsverzicht). Jedoch existiert kein legitimer Grund, Ärzte im Hinblick auf durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) angebotene Leistungen gegenüber zahlungswilligen und -fähigen Patienten geringeren Behandlungs- und Aufklärungspflichten zu unterwerfen, als im Hinblick auf durch die öffentliche Gesundheitsversorgung finanzierte Leistungen gelten. Das gilt zumindest dann, wenn die Zahlungswilligkeit und die Zahlungsfähigkeit außer Frage stehen, wovon jedenfalls im Falle des Vorhandenseins einer privaten Zusatzkrankenversicherung für Maßnahmen, die durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) bereitgestellt werden, auszugehen ist. Auf die Problematik, wie mit zweifelhafter Zahlungsfähigkeit oder -willigkeit umzugehen ist, wird in Kap. 4 C. einzugehen sein. Für den beschriebenen Gleichlauf der Behandlungs- und Aufklärungspflichten spricht auch die Vergleichbarkeit der Situation, dass eine durch die öffentliche Gesundheitsleistung nicht (mehr) offerierte Leistung durch den Patienten selbst oder eine private Zusatzkrankenversicherung finanziert wird, mit der Situation von Patienten, die heute in der Privaten Krankenversicherung (PKV) versichert sind. Denn das gegenwärtig gültige Arztstrafrecht unterscheidet (ebenso wie das Arzthaftungsrecht) nicht danach, ob ein Patient privat oder über die GKV versichert ist.1 Im Einzelnen stellt sich die Rechtslage wie folgt dar2:

A. Behandlungsverweigerung vor tatsächlicher Übernahmeder Behandlung Die Verweigerung der Behandlung vor tatsächlicher Behandlungsübernahme ist mit geringen Strafbarkeitsrisiken belastet und erfüllt allenfalls den Tatbestand der Unterlassenen Hilfeleistung (§ 323 c StGB).

I. Verweigerung der Behandlung einer Erkrankung ohne krisenhaften Verlauf Liegt kein medizinischer Notfall vor, so verwirklicht die Vorgehensweise, einem Patienten vor tatsächlicher Übernahme der Behandlung die notwen1  Zuck,

in: Quaas/Zuck, Medizinrecht, § 72, Rn. 1. bereits: Dannecker/Streng, MedR 2011, 131 ff.; Bohmeier/Schmitz-Luhn/ Streng, MedR 2011, 704 ff. 2  Hierzu



A. Behandlungsverweigerung vor tatsächlicher Übernahme 59

dige medizinische Hilfe vorzuenthalten, keinen Straftatbestand: Eine Körperverletzung oder Tötung durch Unterlassen (§§ 223, 13 StGB bzw. §§ 212, 13 StGB) scheitert bereits an der hierfür erforderlichen Garantenstellung des Arztes. Denn diese entsteht erst mit der tatsächlichen Übernahme der Behandlung des Patienten (bezogen auf den konkreten Erkrankungsfall)3 und ist in der Regel erst ab dem Zeitpunkt zu bejahen, zu dem der Arzt mit der Untersuchung beginnt4. Dies gilt sowohl für niedergelassene Ärzte als auch für Krankenhausärzte. Trotz der besonderen öffentlich-rechtlichen Beziehungen der Tätigkeit als niedergelassener Vertragsarzt entsteht für niedergelassene Vertragsärzte die für die Unterlassungsstrafbarkeit konstitutive Garantenstellung nicht schon mit der Niederlassung als Vertragsarzt, sondern erst mit der tatsächlichen Übernahme der Behandlung des Patienten.5 Vergleichbares gilt für Krankenhausärzte. Die Garantenstellung, die ein Krankenhausarzt für die Dauer seiner Dienstzeit für alle in seiner Abteilung befindlichen Patienten besitzt, entsteht erst mit der Aufnahme des jeweiligen Patienten in die jeweilige Abteilung des Krankenhauses, unabhängig davon, durch welchen Arzt der Patient aufgenommen wurde.6 Unter den oben beschriebenen Voraussetzungen scheitert jedoch nicht nur eine Strafbarkeit wegen Körperverletzung oder Tötung durch Unterlassen (§§ 223, 13 StGB bzw. §§ 212, 13 StGB). Auch eine Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung (§ 323 c StGB) ist in diesen Fällen abzulehnen, da eine solche nur in Betracht kommt, wenn der Zustand des Patienten als „Unglücksfall“ einzuordnen ist, was nicht schon bei jeder Erkrankung, auch nicht bei jeder schweren Erkrankung, anzunehmen ist7. Denn ein Unglücksfall ist ein plötzlich eintretendes Ereignis, das erhebliche Gefahr für ein Individualrechtsgut mit sich bringt.8 Damit stellt nicht schon jede, auch nicht jede schwere Erkrankung einen Unglücksfall dar.9 Insbesondere sind 3  Knauer/Brose, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 212 StGB, Rn. 7; Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, § 13, Rn. 9; Künschner, Wirtschaftlicher Behandlungsverzicht und Patientenauswahl, S. 157; Lenckner, in: Forster, Praxis der Rechtsmedizin, S. 570 (573 f.); Roxin, Strafrecht AT, Bd. 2, § 32 IV, Rn. 70 ff.; Stree/Bosch, in: Schönke/ Schröder, StGB, § 13, Rn. 28 a; Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, Rn. 34. 4  Lenckner, in: Forster, Praxis der Rechtsmedizin, S. 570 (573). 5  Künschner, Wirtschaftlicher Behandlungsverzicht und Patientenauswahl, S. 157; Lenckner, in: Forster, Praxis der Rechtsmedizin, S. 570 (572 f.); Roxin, Strafrecht AT, Bd. 2, § 32 IV, Rn. 70  ff.; Stree/Bosch, in: Schönke/Schröder, StGB, § 13, Rn.  28 a; Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, Rn. 34; a. A. Eb. Schmidt, in: Zeit und Recht, Heft 11, 1949, S. 17 ff. 6  Ulsenheimer, in: Laufs/Kern, Handbuch des Arztrechts, § 140, Rn. 14. 7  Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, § 323 c, Rn. 2. 8  BGHSt 3, 66; 6 147 (152), 11, 135; Fischer, StGB, § 323 c, Rn. 3; Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, § 323 c, Rn. 2. 9  Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, § 323 c, Rn. 2.

60

Kap. 4: Behandlungs- und Aufklärungspflichten

länger andauernde oder chronische Krankheiten kein dauernder Unglücksfall.10 Ein solcher ist erst anzunehmen, wenn es zu einer plötzlichen und bedrohlichen Verschlimmerung des Gesundheitszustands kommt.11 Es muss also eine Krisensituation gegeben sein, die ein sofortiges Eingreifen erforderlich macht12, so z. B. beim Eintritt unmittelbar lebensgefähr­licher Situationen (schwerer Atemnot13, starker Blutungen14, drohenden Herzinfarkts15) oder bei unerträglich werdenden Schmerzen16.

II. Verweigerung der Behandlung eines medizinischen Notfalls Hat eine Erkrankung einen derartig krisenhaften Verlauf genommen, dass sie als „Unglücksfall“ zu qualifizieren ist, verwirklicht die Vorenthaltung der notwendigen medizinischen Hilfe den Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung (§ 323 c StGB). Aufgrund der Tatsache, dass § 323 c StGB ein reiner Vorsatztatbestand und kein Auffangtatbestand für fahrlässig versäumte (ärztliche) Maßnahmen ist, ist jedoch erforderlich, dass die Person, welche die gebotenen medizinischen Hilfsmaßnahmen unterlassen hat, erkannt hat, dass sie es mit einem Unglücksfall zu tun hat.17

B. Behandlungsverzicht nach tatsächlicher Behandlungsübernahme /  Suboptimale Behandlung Mit weitaus höheren strafrechtlichen Risiken kann es verbunden sein, gegenüber einem bereits zur Behandlung angenommenen Patienten die notwendige Maßnahme (Therapie bzw. Diagnoseleistung) ganz vorzuenthalten oder zumindest die optimale Maßnahme vorzuenthalten, weil sie durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) finanziert wird, sofern der Patient – etwa aufgrund einer privaten Zusatzversicherung – willens und in 10  Schuhr, in: Spickhoff, Medizinrecht, §  323  c StGB, Rn. 18; Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, Rn. 253. 11  Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, § 323 c, Rn. 2; Lenckner, in: Forster, Praxis der Rechtsmedizin, S. 570 (578). 12  Wohlers, in: MüKo, StGB, Bd. 5, § 323 c, Rn. 23 m. w. Nachw. 13  BGHSt 17, 166; OLG Düsseldorf NJW 1995, 799. 14  RG HRR 1941, Nr. 915. 15  Schöch, in: Roxin/Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 161 (168). 16  OLG Hamm NJW 1975, S. 604. 17  Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, Rn. 250.



B. Behandlungsverzicht nach tatsächlicher Behandlungsübernahme 61

der Lage ist, derartige Leistungen privat zu finanzieren. Denn ab dem Zeitpunkt der tatsächlichen Behandlungsübernahme kann ein Behandlungsverzicht bzw. eine suboptimale Behandlung – aufgrund der durch die tatsächliche Übernahme der Behandlung entstehenden ärztlichen Garantenpflichten – auch den Tatbestand der Körperverletzung und im Einzelfall sogar den Tatbestand des Totschlags erfüllen. Im Einzelnen:

I. Offene Behandlungsverweigerung Der behandelnde Arzt kann eine strafrechtliche Verantwortung trotz bereits erfolgter tatsächlicher Übernahme der Behandlung dadurch vermeiden, dass er die Fortsetzung der Behandlung in einer für den Patienten erkennbaren Weise verweigert und dabei keinen Zweifel daran lässt, dass die Erkrankung des Patienten weiterhin sowohl behandlungsbedürftig als auch behandelbar ist. Dabei kommt dem Umstand, ob die hierfür erforderlichen Leistungen durch die öffentliche Gesundheitsversorgung bereitgestellt werden oder ob sie im Wege des privaten Zukaufs zu erlangen sind, keine rechtliche Relevanz zu; irrelevant ist auch, ob und wie die Verweigerung der Fortsetzung der Behandlung durch den Arzt begründet wird18. Denn Legitimationsgrund für Obhutgarantenpflichten, wozu auch die ärztliche Garantenpflicht gehört19, ist das berechtigte Vertrauen des Patienten als Rechtsgutsträger, ab dem Zeitpunkt der tatsächlichen Behandlungsübernahme schulmedizinische Hilfe zu erhalten, so dass er auf die Suche nach anderweitiger Hilfe, insbesondere auf die Konsultation eines weiteren Arztes, verzichten kann20. Hieraus folgt, dass die Garantenstellung des Arztes endet, sobald dieser gegenüber dem Patienten erkennbar die Fortsetzung der Behandlung verweigert und dabei den Patienten über die weitere Behandlungsfähigkeit und -bedürftigkeit seiner Erkrankung nicht im Unklaren lässt. Denn ab diesem Zeitpunkt ist das Vertrauen des Patienten, von seinem Arzt medizinisch versorgt zu werden, nicht mehr schutzwürdig21. Der Möglichkeit des Arztes, seine Garantenstellung durch die für den Patienten erkennbare Aufgabe der Behandlung zu beenden, sind jedoch Grenzen gesetzt, wenn der Zustand des zur Behandlung bereits angenommenen Patienten sich so rasant verschlechtert, dass ein sofortiges Eingreifen 18  Generell zur einseitigen Beendigung der ärztlichen Garantenstellung: Lenckner, in: Forster, Praxis der Rechtsmedizin, S. 570 (573). 19  Statt aller: Rengier, Strafrecht AT, § 50, Rn. 28, 30. 20  Lenckner, in: Forster, Praxis der Rechtsmedizin, S. 570 (573). 21  Künschner, Wirtschaftlicher Behandlungsverzicht und Patientenauswahl, 1992, S. 159; Lenckner, in: Forster, Praxis der Rechtsmedizin, S. 570 (573).

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Kap. 4: Behandlungs- und Aufklärungspflichten

geboten ist und der Patient deshalb auch keine Möglichkeit hat, sich an einen anderen Arzt zu wenden22. Könnte der Arzt die Garantenstellung auch zur Unzeit einseitig beenden, so würde der Schutz durch die Straftatbestände der Körperverletzung und des Totschlags durch Unterlassen außer Kraft gesetzt. Dies widerspräche aber der staatlichen Pflicht, in solchen Fällen strafrechtlichen Schutz zu gewährleisten. Diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben ist im Wege der verfassungskonformen Auslegung der strafrechtlichen Normen Rechnung zu tragen. Deshalb darf nicht jedes Zurückbleiben hinter der Garantenpflicht als konkludente einseitige Beendigung der Garantenstellung gewertet werden.

II. Verdeckte Behandlungsverweigerung Mit besonders hohen strafrechtlichen Haftungsrisiken ist die verdeckte Behandlungsverweigerung verbunden: die Vorenthaltung der notwendigen Behandlung, die gegenüber dem Patienten verschleiert wird, indem gegenüber diesem die richtige Diagnose, die Behandlungsbedürftigkeit der Erkrankung, der Fortbestand der Behandlungsbedürftigkeit der Behandlung und / oder die Behandelbarkeit der Erkrankung verschleiert wird. 1. Körperverletzung durch Unterlassen a) Erfordernis des Zurückbleibens hinter dem medizinischen Standard Das heimliche Vorenthalten einer medizinisch indizierten Behandlung hat zur Folge, dass sich der behandelnde (und somit eine auf tatsächlicher Übernahme beruhende ärztliche Garantenstellung innehabende) Arzt wegen vorsätzlicher (sofern der Arzt die nachteiligen Gesundheitsfolgen für den Patienten für möglich hält und billigend in Kauf nimmt) oder fahrlässiger (sofern der Arzt auf das Ausbleiben der nachteiligen Folgen für den Patienten vertraut) Körperverletzung durch Unterlassen (§§ 223, 13 StGB bzw. §§ 229, 13 StGB) zu verantworten hat. Voraussetzung für eine derartige Strafbarkeit ist allerdings, dass der Arzt mit der Vorenthaltung der Behandlung hinter dem sog. „Facharztstandard“ zurückgeblieben ist, worunter man das in ärztlicher Praxis und Erfahrung bewährte, nach naturwissenschaft­ licher Erkenntnis gesicherte, von einem durchschnittlich befähigten Facharzt verlangte Maß an Kenntnis und Können versteht23. Denn die für eine ärzt22  Lenckner,

in: Forster, Praxis der Rechtsmedizin, S. 570 (573). in: Forster, Praxis der Rechtsmedizin, S. 570 (571 f.); Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, Rn. 18. 23  Lenckner,



B. Behandlungsverzicht nach tatsächlicher Behandlungsübernahme 63

liche Unterlassungsstrafbarkeit konstitutive „Möglichkeit der Erfolgsabwendung“ und die „Garantenpflicht des Arztes“ (sowie die Voraussetzung der objektiven Sorgfaltspflichtverletzung beim Fahrlässigkeitsdelikt) orientieren sich am Facharztstandard.24 b) Verschlimmerung der Erkrankung bzw. Verzögerung des Heilungsprozesses Außerdem muss die Vorenthaltung der Behandlung negative Auswirkungen auf den Gesundheitszustand des Patienten haben, also eine Verschlimmerung der Erkrankung oder zumindest einen langsamer voranschreitenden Heilungsprozess bewirken. Eine Verzögerung des Heilungsprozesses ist ausreichend, da eine Körperverletzung durch Unterlassen nicht nur begeht, wer als Garant die Entstehung eines pathologischen Zustands nicht verhindert, sondern auch derjenige, der einen (vorhandenen) pathologischen Zustand nicht beseitigt.25 c) Quasikausalität Des Weiteren setzt die Bejahung einer Körperverletzung durch Unterlassen voraus, dass festgestellt werden kann, dass der tatbestandliche Erfolg bei Vornahme der unterlassenen Handlung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeblieben wäre (sog. „Quasikausalität“)26. Dieses Kausalitätserfordernis ist im Hinblick auf die Körperverletzung durch Unterlassen als erbracht anzusehen, wenn angenommen werden kann, dass bei Vornahme der medizinisch indizierten Behandlung die Verschlechterung der Erkrankung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeblieben oder in wesentlich geringerem Umfang eingetreten wäre bzw. sich die Erkrankung wesentlich schneller oder wesentlich umfangreicher gebessert hätte. Hätte die Vornahme der medizinisch indizierten Behandlung lediglich eine unwesentliche Verbesserung gebracht, so muss die Quasikausalität verneint werden. Dies ergibt sich aus der Vergleichbarkeit von Körperverletzung durch Unterlassen und Totschlag durch Unterlassen. Denn Recht24  Lenckner,

in: Forster, Praxis der Rechtsmedizin, S. 570 (574). in: Forster, Praxis der Rechtsmedizin, S. 570 (571 f.). 26  Nach einer in der Literatur vertretenen Auffassung, wonach eine Verminderung der dem Rechtsgut drohenden Gefahr ausreichend ist (so Roxin, ZStW 74 [1962], 411 (430); Otto, Jura 2001, 275, (277)), genügt für die Bejahung der (Quasi-)Kausalität des Unterlassens für den tatbestandlichen Erfolg demgegenüber schon eine Erhöhung der Wahrscheinlichkeit für eine Besserung oder eine Heilung. 25  Lenckner,

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Kap. 4: Behandlungs- und Aufklärungspflichten

sprechung27 und Lehre28 bejahen einen Totschlag durch Unterlassen nur dann, wenn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststeht, dass der Tod des Patienten bei Vornahme der standardgemäßen Behandlung für einen wesentlichen Zeitraum hinausgezögert worden wäre, wovon nach Auffassung von Rechtsprechung und Lehre bereits bei einer Lebensverlängerung von einigen Stunden auszugehen ist. Dass für die durch Unterlassen verwirklichte Tötung (Körperverletzung mit Todesfolge) somit strengere Anforderungen gelten als für die durch aktives Tun begangene Tötung, die nach Auffassung der herrschenden Meinung29 durch jede irgendwie messbare Beschleunigung des Todes verwirklicht werden kann, begründen Rechtsprechung und Lehre mit dem Argument, dass zwar niemand das Recht besitzt, das Leben eines anderen auch nur um Sekunden zu verkürzen, dass aber ein helfendes Eingreifen nur sinnvoll ist, wenn es nicht nur darum geht, verlöschendes Leben nicht bloß um Sekunden zu verlängern.30 Aufgrund der konstruktiven Ähnlichkeit der durch Unterlassen verwirklichten Körperverletzung und der durch Unterlassen verwirklichten Tötung sowie der Tatsache, dass staatliche Schutzpflichten für das menschliche Leben sogar noch stärker ausgeprägt sind als für die körperliche Integrität und Gesundheit, ist diese Argumentation für die Körperverletzung durch Unterlassen fruchtbar zu machen und zu argumentieren, dass helfendes Eingreifen nur dann sinnvoll ist, wenn der Gesundheitszustand eines Menschen hierdurch mehr als nur unwesentlich gebessert werden kann. Eine durch Unterlassen begangene Körperverletzung ist somit nur anzunehmen, wenn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bei Vornahme der medizinisch indizierten Behandlung die Verschlechterung der Erkrankung ausgeblieben oder in wesentlich geringerem Umfang eingetreten wäre bzw. sich die Erkrankung wesentlich schneller oder wesentlich umfangreicher gebessert hätte. 2. Körperverletzung durch Unterlassen mit Todesfolge Verschlimmert sich infolge der Vorenthaltung der standardgemäßen Behandlung die Erkrankung und verstirbt der Patient infolgedessen, so kommt 27  BGH

NStZ 1981, 218 ff. in: NK, StGB, Bd. 2, § 212, Rn. 5; Wolfslast, NStZ 1981, 219 ff.; a. A. Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, Rn. 224 ff. 29  BGHSt 21, 59 (61); Eser, in: Schönke/Schröder, StGB, § 212, Rn. 3; Fischer, StGB, § 212, Rn. 3 a; Knauer/Brose, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 212 StGB, Rn. 13; Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, § 212, Rn. 2; Neumann, in: NK, StGB, Bd. 2, § 212, Rn. 3; Schneider, in: MüKo, StGB, Bd. 4, § 212, Rn. 1. 30  Neumann, in: NK, StGB, Bd. 2, § 212, Rn. 5. 28  Neumann,



B. Behandlungsverzicht nach tatsächlicher Behandlungsübernahme 65

eine fahrlässige Tötung durch Unterlassen (§§ 222, 13 StGB) oder sogar eine durch Unterlassen begangene Körperverletzung mit Todesfolge (§§ 227, 13 StGB) in Betracht, sofern mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Tod des Patienten bei Vornahme der standardgemäßen Behandlung für einen wesentlichen Zeitraum hinausgezögert worden wäre. Hiervon ist nach Auffassung der Rechtsprechung31 und der herrschenden Lehre32 bereits bei einer Lebensverlängerung von einigen Stunden auszugehen. Da § 222 StGB Fahrlässigkeit voraussetzt und auch § 227 StGB hinsichtlich der tödlichen Folge fahrlässiges Verhalten genügen lässt33, ist neben der als objektive Sorgfaltspflichtverletzung zu qualifizierenden Vorenthaltung der standardgemäßen Behandlung34 zu fordern, dass sich der Tod des Patienten als objektiv vorhersehbare Folge der Vorenthaltung der standardgemäßen Behandlung darstellt. Eine (vorsätzliche) Körperverletzung mit Todesfolge erfordert zusätzlich zu den genannten Voraussetzungen, dass der behandelnde Arzt Vorsatz hinsichtlich der Verschlimmerung der Erkrankung hatte, die infolge der Vorenthaltung der standardgemäßen Behandlung eingetreten ist, nämlich die Verschlimmerung der Erkrankung mindestens billigend in Kauf genommen hat. Zudem erfordert die Bejahung einer Körperverletzung mit Todesfolge das Vorliegen eines gefahrspezifischen Zurechnungszusammenhangs, der in den in Frage stehenden Fallkonstellationen gegeben ist, wenn der (durch die Vorenthaltung der standardgemäßen Behandlung bewirkten) Verschlimmerung der Erkrankung eine Todesgefahr anhaftet und sich gerade diese Todesgefahr im tödlichen Ausgang niedergeschlagen hat.35

III. (Verdeckte) Suboptimale Behandlung Führt der behandelnde Arzt an einem Patienten, der willens und in der Lage wäre, auch solche Maßnahmen (Therapien bzw. Diagnose­methoden) privat zu finanzieren, die durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht mehr zur Verfügung gestellt werden, eine suboptimale Behandlung durch, weil diese im Gegensatz zu den überlegenen Behandlungsalternativen durch die öffentliche Gesundheitsversorgung bereitgestellt wird, so kann dies – 31  BGH

NStZ 1981, 218 ff. in: NK, StGB, Bd. 2, § 212, Rn. 5; Wolfslast, NStZ 1981, 219 ff.; a. A. Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, Rn. 224 ff. 33  Zwar kommt eine Körperverletzung mit Todesfolge auch bei vorsätzlichem Verhalten in Betracht, jedoch dürfte diese Fallkonstellation im Medizinstrafrecht wenig praxisrelevant sein. 34  Knauer/Brose, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 222 StGB, Rn. 17. 35  Knauer/Brose, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 227 StGB, Rn. 5. 32  Neumann,

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Kap. 4: Behandlungs- und Aufklärungspflichten

insbesondere sofern der Patient über die privat zukaufbaren, überlegenen Therapie- bzw. Diagnosealternativen nicht aufgeklärt wurde – erhebliche Haftungsrisiken mit sich bringen. Für deren Darstellung bietet sich folgende Systematisierung an: Zu unterscheiden ist auf der einen Seite zwischen der Fallkonstellation, dass der (über das Vorhandensein überlegener Behandlungsalternativen nicht aufgeklärte) Patient eine Leistung erhält, die im Verhältnis zu der als optimal einzuordnenden Therapie- bzw. Diagnose­ methode höhere Risiken und / oder belastendere Nebenwirkungen aufweist (1.), und der Konstellation, dass der Patient eine Behandlung erhält, die im Vergleich zur optimalen Behandlung geringere Erfolgsaussichten aufweist, ohne dass der Patient vorher über das Vorhandensein einer erfolgsversprechenderen Leistung informiert worden war (2.). Innerhalb dieser beiden Fallkonstellationen muss wiederum unterschieden werden zwischen Therapien bzw. Diagnosemethoden, die zwar gegenüber der optimalen Leistung als suboptimal einzuordnen sind, jedoch immer noch dem medizinischen Standard entsprechen, und solchen Leistungen, die den Anforderungen des medizinischen Standards nicht genügen. 1. Verdeckte Anwendung einer hinsichtlich der Risiken und / oder Nebenwirkungen suboptimalen Leistung a) Körperverletzung infolge der Verletzung von Aufklärungspflichten über Behandlungsalternativen aa) Inhalt und Grenzen der Aufklärungspflicht bei durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) bereitgestellten Leistungen Mit der Durchführung einer durch die öffentliche Gesundheitsversorgung zur Verfügung gestellten Maßnahme, die im Vergleich zu der durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) finanzierten Alternative wesentlich höhere Nebenwirkungen hat oder größere Belastungen für den Patienten mit sich bringt, begeht der behandelnde Arzt im Regelfall eine Körperverletzung, sofern er den Patienten nicht zuvor über die Verfügbarkeit der nebenwirkungsärmeren oder schonenderen Maßnahme aufgeklärt hatte. Dies gilt auch dann, wenn die suboptimale Leistung dem medizinischen Standard entspricht und lege artis durchgeführt wird und sich die mit ihr verbundenen erhöhten Risiken bzw. Nebenwirkungen im konkreten Fall gerade nicht realisieren. Denn obgleich der behandelnde Arzt aufgrund seiner Therapiefreiheit nicht dazu verpflichtet ist, den Patienten über jede



B. Behandlungsverzicht nach tatsächlicher Behandlungsübernahme 67

denkbare Behandlungsalternative zu informieren, bejahen Rechtsprechung36 und herrschende Lehre37 eine Verpflichtung zur Aufklärung über Behandlungsalternativen, die dem medizinischen Standard entsprechen und den Patienten weniger belasten, h ­ öhere Erfolgsaussichten haben oder geringere Risiken aufweisen, sofern diese Unterschiede von Gewicht sind. Dies muss auch dann gelten, wenn die Behandlungsalternative(n) durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht mehr bereitgestellt wird / werden. Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Aufklärung über durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) finanzierten Behandlungsalternativen für den Patienten in der Regel von erheblicher gesundheitlicher bzw. sogar existenzieller Wichtigkeit ist, während der behandelnde Arzt für sich keine schützenswerten Interessen in Anspruch nehmen kann, die gegen eine Pflicht zur Aufklärung streiten. Im Gegensatz zu einer Behandlungspflicht in Bezug auf durch das öffentliche Gesundheitssystem nicht (mehr) bezahlte Leistungen – die sogar gegen die Berufs- und Eigentumsfreiheit sowie gegen den Allgemeinen Gleichheitssatz verstoßen würde, falls der Patient nicht willens oder in der Lage ist, diese Leistungen privat zu finanzieren (näher Kap. 6 A. II. 1.) – berührt die Verpflichtung, den Patienten über die Existenz und die Möglichkeit des privaten Zukaufs medizinisch indizierter Leistungen aufzuklären, die durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) bereitgestellt werden, die wirtschaftlichen Interessen des behandelnden Arztes nicht in nachteiliger Weise. Vielmehr eröffnet die Aufklärung über das Vorhandensein privat zukaufbarer Leistungen dem Arzt sogar zusätzliche Verdienstmöglichkeiten. Außerdem wird selbst im Zivilrecht eine Aufklärungspflicht im Hinblick auf medizinisch indizierte, standardgemäße Maßnahmen bejaht, die durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht mehr offeriert werden38. Dabei erscheint es im Zivilrecht – anders als im Strafrecht, wo ärztliche (Garanten-)Pflichten mit der faktischen Behandlungsübernahme und unabhängig vom Abschluss eines (wirksamen) Behandlungsvertrags entstehen39 – nicht völlig aussichtslos, die ärztlichen Pflichten, zu denen auch die Verpflichtung zur therapeutischen Aufklärung 36  BGH

NStZ 1996, 34; NJW 2005, 1718. in: Spickhoff, Medizinrecht, § 223 StGB, Rn. 46; Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, § 228, Rn. 14; Roßner, NJW 1990, 2291 (2293); Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, § 1, Rn. 82. 38  Arnade, Kostendruck und Standard, S. 220 ff.; Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, V., Rn. 18; Kern, MedR 2004, 300 (302), Kreße, MedR 2007, 393 (400); Taupitz, in: Wolter/Riedel/Taupitz (Hrsg.), Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, Öffentliche Recht und das Strafrecht, S. 113 ff.; vorsichtiger: Müller, GesR 2004, 257 (264). 39  Künschner, Wirtschaftlicher Behandlungsverzicht und Patientenauswahl, S. 157; Lenckner, in: Forster, Praxis der Rechtsmedizin, S. 570 (573 f.); Rengier, Strafrecht AT, § 50, Rn. 28, 30 f.; Roxin, Strafrecht AT, Bd. 2, § 32 IV Rn. 70 ff.; 37  Knauer/Brose,

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Kap. 4: Behandlungs- und Aufklärungspflichten

zählt, mit Blick auf den Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung zu bestimmen. Zwar hat das OLG Hamm40 eine (zivilrechtliche) Aufklärungspflicht hinsichtlich einer Diagnosemethode (PSA-Test, i. e. zur Diagnose von Prostatakrebs eingesetzter Bluttest, der auch als Krebsvorsorgemaßnahme diskutiert wird) abgelehnt, die von der GKV nicht bezahlt wird und somit hätte privat finanziert werden müssen. Jedoch hat das Gericht eine Verpflichtung zum Hinweis auf den PSA-Test nicht etwa mit dem Argument abgelehnt, dass eine Rechtspflicht über Leistungen zu informieren, die nicht Gegenstand der öffentlichen Gesundheitsversorgung sind, grundsätzlich nicht besteht. Vielmehr hat das Gericht argumentiert, dass zum Beurteilungszeitpunkt in der medizinischen Wissenschaft erhebliche Vorbehalte bestanden hätten, einen PSA-Test als reine Vorsorgemaßnahme zu empfehlen.41 Infolgedessen sah das OLG Hamm in dem Verzicht, einen (keine Anzeichen für Prostatakrebs aufweisenden) Patienten über die Existenz eines (privat zu finanzierenden) PSA-Tests aufzuklären, keine Unterschreitung des guten ärzt­lichen Standards.42 bb) Rechtsfolgen einer Verletzung der Aufklärungspflicht über Behandlungsalternativen (1) Regelfall: Strafbarkeit wegen Körperverletzung Verletzt der Arzt die (unter den in Kap. 4 B. III. 1. a) aa) genannten Voraussetzungen bestehende) Aufklärungspflicht über Behandlungsalternativen, so macht er sich durch die Vornahme der suboptimalen Behandlung im Regelfall einer Körperverletzung schuldig. Das gilt jedenfalls unter Zugrundelegung der von der Rechtsprechung43 und einer Literaturauffassung44 vertretenen Meinung, wonach jeder Heileingriff – auch der erfolgreiche und lege artis durchgeführte Heileingriff – eine tatbestandsmäßige Körperverletzung darstellt, die der Rechtfertigung durch Einwilligung bedarf. Zumindest wird eine solche Einwilligungsrechtfertigung gefordert, sofern der Heileingriff mithilfe von therapeutischen und diagnostischen Maßnahmen durchgeStree/Bosch, in: Schönke/Schröder, StGB, § 13, Rn. 28 a; Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, Rn. 34. 40  OLG Hamm ZMGR 2007, 235 f. 41  OLG Hamm ZMGR 2007, 236. 42  OLG Hamm ZMGR 2007, 236. 43  StRspr. seit RGSt 25, 375 (380). 44  Frister/Lindemann/Peters, Arztstrafrecht, 1. Kap., Rn. 1 ff.; Knauer/Brose, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 223 StGB, Rn. 26; Paeffgen, in: NK, StGB, Bd. 2, § 228, Rn.  56 ff.; Schroth, in: Roxin/Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 21 (23 ff.).



B. Behandlungsverzicht nach tatsächlicher Behandlungsübernahme 69

führt wird, die invasiver Natur sind. Das dürfte nicht nur bei Operationen, sondern bei den meisten therapeutischen und diagnostischen Maßnahmen der Fall sein, da sogar die Verordnung von Medikamenten bzw. die Röntgenbestrahlung in körperliche Vorgänge eingreift.45 Insofern stellt auch eine lege artis durchgeführte (invasive) ärztliche Heilbehandlung eine rechtswidrige Körperverletzung dar, sofern der Arzt den Patienten nicht vor Durchführung der Behandlung fehlerfrei aufgeklärt hat, was unter den oben genannten Voraussetzungen (vgl. Kap. 4 B. III. 1. a) aa)) auch die Aufklärung über Behandlungsalternativen erfordert.46 Unter bestimmten Umständen ist der Verstoß gegen die Pflicht, über durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht bereitgestellte Behandlungsalternativen aufzuklären, jedoch auch unter Zugrundelegung der Auffassung der Rechtsprechung straflos. In Betracht kommt in diesem Zusammenhang insbesondere eine Straflosigkeit aufgrund hypothetischer Einwilligung oder aufgrund der Tatsache, dass der Patient vorinformiert war. Eine Straflosigkeit aufgrund eines Aufklärungsverzichts (im Hinblick auf privat zukaufbare Behandlungsalternativen) ist in der Fallkonstellation, dass der Patient sowohl fähig als auch bereit ist, durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht mehr zur Verfügung gestellte Leistungen privat zu finanzieren, weniger praxisrelevant als in Fällen, in denen sich der Patient derartige Maßnahmen nicht leisten kann oder will; daher soll auf den Aufklärungsverzicht später eingegangen werden (hierzu Kap. 7 A. II. 3.). (2) Sonderfall: Straflosigkeit aufgrund Vorinformiertheit des Patienten Sind dem Patienten – auch ohne vorherige ärztliche Aufklärung – die durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) finanzierten, jedoch in Punkto Risiken und / oder Nebenwirkungen als wesentlich überlegen zu qualifizierenden Behandlungsalternativen bekannt (etwa weil der Patient zuvor einen anderen Arzt konsultiert hat) und weiß er um die Möglichkeit des privaten Zukaufs, so verwirklicht der behandelnde Arzt mit der Vornahme der durch die öffentliche Gesundheitsversorgung zur Verfügung gestellten Maßnahme keine rechtswidrige Körperverletzung. Denn in diesem Fall fehlt es an einem die Wirksamkeit der Einwilligung beeinträchtigenden Willensmangel. Glaubt der Arzt zu Unrecht, dass dem Patien­ten die Behandlungsalternativen bekannt sind, so liegt ein Irrtum über den Rechtfertigungsgrund der Einwilligung vor, der als Erlaubnistatbestandsirrtum zu behandeln ist. 45  Schroth,

in: Roxin/Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 21 (24). in: Spickhoff, Medizinrecht, § 223 StGB, Rn. 26.

46  Knauer/Brose,

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Kap. 4: Behandlungs- und Aufklärungspflichten

(3) Sonderfall: Straflosigkeit infolge hypothetischer ­Einwilligung Im hohem Maße praxisrelevant ist die Fragestellung, wie der Umstand zu bewerten ist, dass der Patient in die durch die öffentliche Gesundheitsversorgung finanzierte (und auch tatsächlich durchgeführte) Behandlung auch dann eingewilligt hätte, wenn er ordnungsgemäß über die Existenz der überlegenen, durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) zur Verfügung gestellten (und privat zukaufbaren) Alternativmaßnahme unterrichtet worden wäre. Schließlich sind durchaus persönliche oder auch gesundheitliche Gründe denkbar, weshalb ein Patient eine suboptimale Behandlung favorisieren könnte, selbst wenn er in der Lage sein sollte, die überlegene Maßnahme privat zu bezahlen. Das gilt insbesondere in Fällen, in denen die suboptimale Maßnahme weniger invasiv, weniger zeitaufwändig etc. ist und dem Patienten daher aus Gründen, die mit seiner persönlichen Lebenssituation oder seiner individuellen körperlichen Konstitution zusammenhängen, vorzugswürdig erscheint. Die Frage nach den strafrechtlichen Folgen eines ohne ordnungsgemäße Aufklärung durchgeführten körperlichen Eingriffs, in den der Patient auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung eingewilligt hätte, beschreibt die Problematik der sog. „hypothetischen Einwilligung“. Nach Auffassung der Rechtsprechung47 sowie der wohl herrschenden Lehre48 führt die Tatsache, dass der Patient eingewilligt hätte, sofern er ordnungsgemäß aufgeklärt worden wäre, zu einem Ausschluss der Vollendungsstrafbarkeit, wenngleich erhebliche Meinungsverschiedenheiten darüber bestehen, wie dieses Ergebnis dogmatisch überzeugend zu begründen ist. Während der BGH49 und die wohl herrschende Meinung50 die Rechtswidrigkeit entfallen lassen, plädiert eine Mindermeinung51 für einen Zurechnungsausschluss. Neben der Frage, wie der Ausschluss der Vollendungsstrafbarkeit dogmatisch am überzeu47  BGH

NStZ 1995, 16 f.; NStZ 1996, 34 ff.; NStZ-RR 2004, 16 f. StGB, § 223, Rn. 32; Hengstenberg, Die hypothetische Einwilligung im Strafrecht, S.  404 ff.; Knauer/Brose, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 223, Rn. 99; Kuhlen, in: Festschrift für Roxin, S. 331 (342 f.); Kühl, Strafrecht AT, § 9, Rn. 47 a; ders., in: Lackner/Kühl, StGB, § 228, Rn. 17 a; Rönnau, JZ 2004, 801 ff.; Roxin, Strafrecht AT, Bd. 1, § 13 Abs. 1, Rn. 126; Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, § 1, Rn.  132 a  ff.; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, § 9, Rn. 384 a; gegen Anerkennung der „hypothetischen“ Einwilligung: Otto, Strafrecht AT, § 8, Rn. 134; ders., Jura 2004, 679 (682 f.); Paeffgen, in: Festschrift für Rudolphi, S. 187 (208 f.); Puppe, GA 2003, 764 ff. 49  BGH NStZ 1996, 34 ff.; NStZ-RR 2004, 16 ff. 50  Knauer/Brose, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 223, Rn. 99; Rönnau, JZ 2004, 801 ff.; Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, § 1, Rn. 132 a ff.; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, § 9, Rn. 384 a. 48  Fischer,



B. Behandlungsverzicht nach tatsächlicher Behandlungsübernahme 71

gendsten begründet werden kann, ist strittig, wie sich nicht aufzuklärende Zweifel, wie sich der Patient bei pflichtgemäßer Aufklärung entschieden hätte, auf die Strafbarkeit auswirken. Nach Auffassung des BGH52 und mancher Stimmen im Schrifttum53 führen derartige Unklarheiten zu einer Ablehnung der Vollendungsstrafbarkeit; aufgrund des „in-dubio-pro-reo“Grundsatzes sei im Zweifelsfall zugunsten des Arztes davon auszugehen, dass der Patient bei ordnungsgemäßer Aufklärung der durchgeführten Behandlung zugestimmt hätte. Nach anderer Auffassung gehen Zweifel, wie der Patient bei ordnungsgemäßer Aufklärung entschieden hätte, zu Lasten des Arztes.54 Wenngleich diesem Meinungsstreit durchaus praktische Bedeutung zukommt, führen – wie Roxin55 zutreffend konstatiert – beide Auffassungen dennoch zu weniger divergenten Ergebnissen, als man prima facie vermuten könnte.56 Denn sowohl der BGH als auch die in der Literatur vertretene Gegenauffassung lassen die theoretische Möglichkeit, dass der Patient im Falle ordnungsgemäßer Aufklärung dem Eingriff zugestimmt hätte, nicht genügen, um nicht auszuräumende Zweifel hinsichtlich des zu ermittelnden hypothetischen Patientenwillens anzunehmen (die nach der vom BGH vertretenen Auffassung zur Ablehnung der Vollendungsstrafbarkeit und nach anderer Auffassung zur Vollendungsstrafbarkeit führt), sondern fordern hierfür konkrete Anhaltspunkte, die sich etwa aus Äußerungen des Patienten oder seiner Interessenlage ergeben können.57 Außerdem führe die Befragung des Patienten in Fällen der unterlassenen Aufklärung häufig zu eindeutigen Ergebnissen.58 51

b) Körperverletzung infolge fehlerhafter Behandlung Verwirklichen sich darüber hinaus die (gegenüber der optimalen Therapie erhöhten) Risiken bzw. Nebenwirkungen der durch die öffentliche Gesundheitsversorgung finanzierten, suboptimalen Therapie bzw. Diagnosemethode, so kommt neben der an der Aufklärungspflichtverletzung ansetzenden Straf51  Hengstenberg, Die hypothetische Einwilligung im Strafrecht, S. 404 ff.; Kühl, Strafrecht AT, § 9, Rn. 47 a. 52  BGH NStZ 1996, 34; BGH NStZ 2004, 16 (17). 53  Fischer, StGB, § 223, Rn. 32; Knauer/Brose, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 223, Rn. 99; Kuhlen, JR 2004, 227 ff.; Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, § 228, Rn. 17 a; Rönnau, JZ 2004, 801 (804); Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, § 1, Rn.  132 b; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, § 9, Rn. 384 a. 54  Roxin, Strafrecht AT, Bd. 1, § 13 Abs. 1, Rn. 125. 55  Roxin, Strafrecht AT, Bd. 1, § 13 Abs. 1, Rn. 126. 56  Roxin, Strafrecht AT, Bd. 1, § 13 Abs. 1, Rn. 126. 57  Roxin, Strafrecht AT, Bd. 1, § 13 Abs. 1, Rn. 126. 58  Roxin, Strafrecht AT, Bd. 1, § 13 Abs. 1, Rn. 127.

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Kap. 4: Behandlungs- und Aufklärungspflichten

barkeit wegen Körperverletzung auch eine Strafbarkeit wegen vorsätzlicher bzw. fahrlässiger Körperverletzung in Betracht, die an die negativen Gesundheitsfolgen für den Patienten anknüpft. Für eine derartige Strafbarkeit ist jedoch erforderlich, dass der Arzt mit der Vornahme der suboptimalen Behandlung hinter den Anforderungen des medizinischen Standards zurückgeblieben ist. Schäden, die auf der kunstgerechten Durchführung einer standardgemäßen Maßnahme beruhen, sind dem behandelnden Arzt nicht zurechenbar, da ihn in diesem Fall weder der Vorwurf der Überschreitung des erlaubten Risikos noch der Vorwurf der Verletzung einer Sorgfaltspflicht trifft. Deshalb scheidet sowohl eine vorsätzliche als auch eine fahrlässige Körperverletzung aus. Zudem muss für die Bejahung einer Körperverletzung durch Unterschreitung des medizinischen Standards mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehen, dass der pathologische Zustand bei Vornahme der standardgemäßen Behandlung nicht oder in geringerem Umfang eingetreten wäre. c) Körperverletzung mit Todesfolge / Fahrlässige Tötung infolge fehlerhafter Behandlung Eine fahrlässige Tötung oder gar (vorsätzliche) Körperverletzung mit Todesfolge kommt in Betracht, wenn der behandelnde Arzt mit der Vornahme der (aufgrund höherer Risiken bzw. belastenderer Nebenwirkungen) suboptimalen Behandlung hinter den Anforderungen des medizinischen Standards zurückgeblieben ist, infolge der Realisierung der Risiken / Nebenwirkungen ein zum Tode des Patienten führender pathologischer Zustand eingetreten und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Tod des Patienten – wenn auch nur unwesentlich59 – früher eingetreten ist als bei Vornahme der standardgemäßen Maßnahme. Da sowohl § 222 StGB als auch § 227 StGB hinsichtlich des tödlichen Erfolgs fahrlässiges Verhalten verlangt bzw. genügen lässt, ist neben der als objektive Sorgfaltspflichtverletzung zu qualifizierenden Unterschreitung des medizinischen Standards60 zu fordern, dass sich der Tod des Patienten als objektiv vorhersehbare Folge der suboptimalen, nicht-standardgemäßen Behandlung des Patienten darstellt. Eine (vorsätzliche) Körperverletzung mit Todesfolge setzt zudem voraus, dass der behandelnde Arzt vorsätzlich hinsichtlich des pathologischen Zustands handelte, der in Realisierung der mit der suboptimalen Behandlung 59  Für diese h. M.: BGHSt 26, 61; 42, 305; Fischer, StGB, § 212 StGB, Rn. 3; Knauer/Brose, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 212 StGB, Rn. 13. 60  Knauer/Brose, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 222 StGB, Rn. 17.



B. Behandlungsverzicht nach tatsächlicher Behandlungsübernahme 73

einhergehenden Risiken und / oder Nebenwirkungen eingetreten ist. Da § 227 StGB einen gefahrspezifischen Zurechnungszusammenhang voraussetzt, ist zudem zu fordern, dass der infolge der Realisierung der Risiken oder Nebenwirkungen eingetretene pathologische Zustand als potentiell lebensbedrohlich zu qualifizieren ist und sich gerade diese Lebensgefahr im tödlichen Ausgang niedergeschlagen hat. 2. Verdeckte Anwendung einer hinsichtlich der Erfolgsaussichten suboptimalen Leistung a) Körperverletzung durch Verletzung der Aufklärungspflicht über Behandlungsalternativen Da der behandelnde Arzt den Patienten über vorhandene Behandlungsalternativen mit wesentlich besseren Erfolgsaussichten aufklären muss61, begeht er im Regelfall eine Körperverletzung, sofern er – ohne den Patienten über die Existenz überlegener Maßnahmen zu informieren – eine durch die öffentliche Gesundheitsversorgung zur Verfügung gestellte Behandlung mit schlechteren Erfolgsaussichten anwendet. Da eine solche Strafbarkeit an der unzureichenden Aufklärung des Patienten anknüpft, kommt sie auch in Fällen in Betracht, in denen sich die schlechteren Erfolgsaussichten der suboptimalen Maßnahme nicht realisiert haben. b) Körperverletzung durch Unterlassen infolge fehlerhafter Behandlung Weist die durchgeführte Maßnahme (Therapie bzw. Diagnosemethode) gegenüber den durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht mehr offerierten, aber privat zukaufbaren Alternativen so stark verminderte Erfolgsaussichten auf, dass ihre Durchführung nicht mehr dem medizinischen Standard entspricht, so kommt überdies eine Haftung wegen Körperverletzung durch Unterlassen in Betracht. Zwar lässt sich die Vornahme einer nur suboptimalen Behandlung theoretisch auch als positives Tun qualifizieren. Allerdings liegt der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit – auf den die herrschende Meinung62 zum Zweck der Abgrenzung von Tun und Unterlassen abstellt – in Fällen, in denen das Behandlungsziel infolge der Vornahme einer nur suboptimalen medizinischen Maßnahme verfehlt bzw. nicht voll61  BGHZ 102, 17, 22; BGH NStZ 1996, 34; OLG Karlsruhe MedR 2003, 229 (230); Knauer/Brose, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 223 StGB, Rn. 46; Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, § 1, Rn. 82. 62  Stree/Bosch, in: Schönke/Schröder, StGB, Vor §§ 13 ff., Rn. 158 a m. w. Nachw.

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Kap. 4: Behandlungs- und Aufklärungspflichten

ständig erreicht wurde, nicht auf dem von der suboptimalen Behandlung ausgehenden Eingriff in die körperliche Unversehrtheit, sondern auf der Vorenthaltung der standardgemäßen Leistung und den hierdurch „verschenkten“ (Heilungs-)Chancen für den Patienten. Eine Körperverletzung durch Unterlassen setzt neben dem Zurückbleiben hinter dem medizinischen Standard voraus, dass sich die (gegenüber der standardgemäßen Behandlung) schlechteren Erfolgsaussichten realisieren und die Erkrankung sich infolge der suboptimalen, nicht-standardgemäßen Behandlung verschlimmert bzw. die erhoffte Besserung der Erkrankung nicht oder nicht im vollen Umfang eintritt. Außerdem muss mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehen, dass es dem Patienten bei Vornahme der standardgemäßen Behandlung gesundheitlich nicht nur unwesentlich besser ergangen wäre, also die Verschlechterung der Erkrankung ganz oder zumindest teilweise ausgeblieben wäre oder sich der Gesundheitszustand wesentlich schneller oder wesentlich umfangreicher gebessert hätte (vgl. Kap. 4 B. II. 1. c)). c) Körperverletzung durch Unterlassen mit Todesfolge /  Fahrlässige Tötung infolge fehlerhafter Behandlung Bleibt der behandelnde Arzt mit der Anwendung einer hinsichtlich ihrer Erfolgsaussichten als suboptimal zu qualifizierenden Maßnahme hinter den Anforderungen des medizinischen Standards zurück und führt dies zum Tod des Patienten, so kommt eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen oder sogar wegen einer durch Unterlassen begangenen Körperverletzung mit Todesfolge in Betracht, sofern der Tod des Patienten eine objektiv vorhersehbare Folge der suboptimalen, nicht-standardgemäßen Behandlung ist und der vorzeitige Tod mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bei standardgemäßer Behandlung für einen wesentlichen Zeitraum hinausgezögert worden wäre. Hiervon ist nach Auffassung der Rechtsprechung63 und der herrschenden Lehre64 – wie oben (Kap. 4 B. II. 1. c)) dargelegt – ab einer Lebensverlängerung von wenigen Stunden auszugehen. Mit der Anforderung einer nicht nur unwesentlichen Lebensverlängerung gelten für die durch Unterlassen verwirklichte fahrlässige Tötung bzw. Körperverletzung mit Todesfolge strengere Anforderungen als für die durch aktives Tun begangene Tötung, die nach Auffassung der herrschenden Meinung65 durch jede irgendwie messbare Beschleunigung des Todes ver63  BGH

NStZ 1981, 218 ff. in: NK, StGB, Bd. 2, § 212, Rn. 5; Wolfslast, NStZ 1981, 219 ff.; a. A. Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, Rn. 224 ff. 65  H.  M. BGHSt 21, 59 (61); Eser/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, § 212, Rn. 3; Fischer, StGB, § 212, Rn. 3 a; Knauer/Brose, in: Spickhoff, 64  Neumann,



C. Problematik zweifelhafter Zahlungsfähigkeit oder Zahlungswilligkeit75

wirklicht werden kann. Dies beruht auf dem Umstand, dass zwar niemand das Recht hat, das Leben eines anderen auch nur um Sekunden zu verkürzen, dass aber ein helfendes Eingreifen nur sinnvoll ist, wenn es darum geht, verlöschendes Leben nicht bloß um Sekunden zu verlängern.66 Eine (vorsätzliche) Körperverletzung mit Todesfolge setzt zudem voraus, dass der behandelnde Arzt vorsätzlich hinsichtlich des pathologischen Zustands handelte, der beim Patienten infolge der Anwendung der im Hinblick auf die Erfolgsaussichten suboptimalen und die Anforderungen des medizinischen Standards unterschreitenden Maßnahme eingetreten ist. Aufgrund der Tatsache, dass § 227 StGB einen gefahrspezifischen Zurechnungszusammenhang voraussetzt, ist zudem zu fordern, dass der (infolge der Realisierung der suboptimalen Erfolgsaussichten der nicht-standardgemäßen Behandlung eingetretene) pathologische Zustand als potentiell lebensbedrohlich zu qualifizieren ist und sich gerade diese Lebensgefahr im tödlichen Ausgang niedergeschlagen hat.

C. Problematik der zweifelhaften Zahlungsfähigkeit oder Zahlungswilligkeit Die dargestellten strafrechtlichen Haftungsrisiken stellen den Arzt insofern vor praktische Probleme, als ein Patient, der eine durch das öffentliche Gesundheitssystem nicht (mehr) offerierte Leistung benötigt, selbst dann versucht sein dürfte, dem behandelnden Arzt eine private Finanzierung zu versprechen, wenn er sich diese unter keinen Umständen leisten kann. Das gilt umso eher, je schwerwiegender die Erkrankung ist und je größer die in die Behandlung gesetzten (berechtigten oder unberechtigten) Hoffnungen des Patienten sind. Um das Risiko zu vermindern, die Behandlungskosten am Ende selbst tragen zu müssen, ist dem Arzt daher anzuraten, nur gegen Zahlung eines Vorschusses tätig zu werden. Auf bloße Versprechungen des Patienten, er werde die Behandlung nach ihrer Durchführung schon irgendwie finanzieren, braucht sich der Arzt nicht zu verlassen. Da eine Strafbarkeit wegen Vorenthaltung einer durch das öffentliche Gesundheitssystem nicht (mehr) bereitgestellten Leistung ausscheidet, sofern der Patient diese Leistung nicht selbst finanzieren kann oder will (siehe Kap. 6), wirken sich verbleibende Zweifel hinsichtlich der Finanzierungsbereitschaft und der Zahlungsfähigkeit des Patienten zugunsten des Arztes aus. In prozessualer Medizinrecht, § 212 StGB, Rn. 13; Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, § 212, Rn. 2; Neumann, in: NK, StGB, Bd. 2, § 212, Rn. 3; Schneider, in: MüKo, StGB, Bd. 4, § 212, Rn. 1. 66  Neumann, in: NK, StGB, Bd. 2, § 212, Rn. 5.

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Kap. 4: Behandlungs- und Aufklärungspflichten

Hinsicht bedeutet dies, dass ein Arzt in einer derartigen Fallkonstellation im Falle einer Anklage „in dubio pro reo“ freizusprechen ist. Geht der behandelnde Arzt zu Unrecht davon aus, dass ein Patient nicht zahlungswillig oder nicht zahlungsfähig ist, so scheitert die Strafbarkeit am Vorliegen eines vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtums. Der Irrtum über die Zahlungsfähigkeit oder -willigkeit des Patienten stellt einen Irrtum über die die Garantenpflicht begründenden tatsächlichen Umstände dar, da gegenüber zahlungsunfähigen und / oder zahlungsunwilligen Patienten keine solche Pflicht besteht, die auf die Erbringung durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) finanzierter Maßnahmen gerichtet ist (siehe Kap. 6 A. II. 3. b) cc)). Irrtümer über die die Garantenpflicht konstituierenden tatsächlichen Umstände begründen als ungeschriebene Tatbestandsmerkmale einen vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtum67, unabhängig davon, ob man die Garantenpflicht mit der herrschenden Meinung68 als allgemeines Verbrechensmerkmal qualifiziert oder mit einer in der Literatur vertretenen Auffassung69 auf der Ebene der Rechtswidrigkeit ansiedelt (näher Kap. 6 A. II. 3. b) aa) (2) (b)).

67  A. Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, S. 307 f.; Kühl, Strafrecht AT, § 18, Rn. 128; Neumann, in: NK, StGB, Bd. 2, Vor. § 211, Rn. 89; Sternberg-Lieben/Schuster, in: Schönke/Schröder, StGB, § 15, Rn. 96. 68  Gropp, Strafrecht AT, § 11, Rn. 11; Kühl, Strafrecht AT, § 18, Rn. 129; Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, § 15, Rn. 7; Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB28, § 15, Rn. 2. 69  Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT, § 15, Rn. 45; Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S.  630 f.

Kapitel 5

Behandlungspflichten gegenüber zahlungsunfähigen oder zahlungsunwilligen Patienten hinsichtlich durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) zur Verfügung gestellter Leistungen bei Existenz von Behandlungsalternativen Bei den gegenüber zahlungsunfähigen oder zahlungsunwilligen Patienten bestehenden Behandlungspflichten bezüglich solcher Leistungen, die durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) finanziert werden, zu denen jedoch eine / mehrere durch die öffentliche Gesundheitsversorgung bereitgestellte Behandlungsalternative(n) existiert / existieren, ist zwischen drei Fallkonstellationen zu differenzieren: Erstens die durch die öffentliche Gesundheitsversorgung zur Verfügung gestellte Behandlungs­alternative entspricht dem medizinischen Standard (A.), zweitens diese Behandlungsalternative genügt den Anforderungen des medizinischen Standards generell nicht (B.) und drittens die Anwendung der Behandlungsalternative ist im konkreten Fall (aufgrund von Besonderheiten des Gesundheitszustands des Patienten) medizinisch nicht indiziert (B.).

A. Durch die öffentliche Gesundheitsversorgung bereitgestellte Behandlungsalternative entspricht medizinischem Standard Besteht zu der durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) bereitgestellten Behandlung, die der Patient entweder nicht privat bezahlen kann oder will, eine durch die öffentliche Gesundheitsversorgung finanzierte, standardgemäße Alternative und führt der behandelnde Arzt diese durch, so bleibt er hierdurch nicht hinter den strafrechtlich sanktionierten Behandlungspflichten zurück. Das ergibt sich aus den gleichen Erwägungen, aus denen eine solche Vorgehensweise gegenüber Patienten, die willens und in der Lage sind, die durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht mehr offerierte Leistung privat zu finanzieren, nicht als Körperverletzung oder Tötung unter dem Aspekt der fehlerhaften Behandlung zu qualifizieren ist (siehe Kap. 4 B. III. 1. b) f. bzw. Kap. 4 B. III. 2. b) f.).

78 Kap. 5: Behandlungspflichten bei Existenz von Behandlungsalternativen

B. Durch die öffentliche Gesundheitsversorgung bereitgestellte Behandlungsalternative unterschreitet den medizinischen Standard oder entspricht nicht der Indikation Existiert zu der durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) offerierten, medizinisch indizierten Maßnahme lediglich eine nicht-standardgemäße Behandlungsalternative und kann oder will sich der Patient den privaten Zukauf der standardgemäßen Leistung nicht leisten, so beurteilen sich die ärztlichen Pflichten nach den gleichen Grundsätzen, die auch gelten, wenn der Patient nicht willens oder in der Lage ist, eine durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht mehr finanzierte, medizinisch in­ dizierte Leistung ohne Behandlungsalternative privat zuzukaufen (siehe zu dieser Problematik: Kap. 6). Gleiches gilt für den Sonderfall, dass zu der von der öffentlichen Gesundheitsversorgung nicht (mehr) zur Verfügung gestellten Maßnahme zwar eine durch die öffentliche Gesundheitsversorgung finanzierte Alternative existiert, letztere jedoch aufgrund der Besonderheiten des Gesundheitszustands des Patienten im konkreten Fall nicht medizinisch indiziert ist und der Patient sich die private Finanzierung der medizinisch indizierten Leistung nicht leisten kann oder nicht leisten möchte.

Kapitel 6

Behandlungspflichten gegenüber zahlungsunfähigen oder zahlungsunwilligen Patienten hinsichtlich durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) zur Verfügung gestellter, alternativloser Leistungen Ob den behandelnden Arzt gegenüber einem zahlungsunfähigen oder zahlungsunwilligen Patienten eine strafbewehrte Verpflichtung zur Vornahme einer durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) offerierten, medizinisch indizierten Behandlung trifft, zu der keine durch die öffentliche Gesundheitsversorgung bereitgestellte (standardgemäße) Alternative existiert, entzieht sich einer pauschalen Bewertung. Vielmehr sind drei Fallgestaltungen zu unterscheiden. Denn eine strafbewehrte ärztliche Verpflichtung, einen (zur Behandlung tatsächlich angenommen) Patienten mit einer medizinisch gebotenen Leistung zu versorgen, die weder durch die öffentliche Gesundheitsversorgung noch den Patienten finanziert wird, kann allenfalls – was noch zu klären sein wird (siehe Kap. 6 A. I. 1. ff.) – aufgrund der wirtschaftlichen Belastung abgelehnt werden, die die Erbringung einer solchen nicht vergüteten Leistung für denjenigen mit sich bringt, der das wirtschaftliche Risiko der ärztlichen Tätigkeit zu tragen hat. Als Träger dieses wirtschaftlichen Risikos kommen in einem öffentlichen Gesundheitswesen erstens der auf eigenes wirtschaftliches Risiko behandelnde Arzt (bezogen auf das GKV-System: der niedergelassene Vertragsarzt), zweitens der private Träger einer Klinik und drittens eine öffentliche Körperschaft als Trägerin eines öffentlichen Krankenhauses in Betracht. Daher ist die Fragestellung, ob und ggf. welche Behandlungspflichten den behandelnden Arzt gegenüber zahlungsunfähigen oder -unwilligen Patienten im Hinblick auf medizinisch indizierte, alternativlose und durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht zur Verfügung gestellte Leistungen treffen, dreifach zu untersuchen: erstens für den Fall, dass der behandelnde Arzt auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätig ist (im GKV-System: niedergelassener Vertragsarzt) (siehe Kap. 6 A.), zweitens für die Fallkonstellation, dass der behandelnde Arzt Angestellter eines Krankenhauses in öffentlicher Trägerschaft ist (siehe Kap. 6 B.) und drittens für den Fall, dass der behandelnde Arzt in einem Krankenhaus in privater Trägerschaft beschäftigt ist (siehe Kap. 6 C.).

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

Die wenigen Stellungnahmen in der Literatur, die sich mit dieser Problematik befassen, beziehen sich ausschließlich auf die erste Fallvariante. Dies zeigt sich daran, dass dort (ausschließlich) auf wirtschaftliche Interessen des behandelnden Arztes rekurriert wird, die einer Pflicht zur unentgeltlichen Behandlung entgegenstehen und eine derartige wirtschaftliche Interessen­ lage lediglich bei einem auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätigen Arzt gegeben ist, nicht jedoch bei angestellten Krankenhausärzten.

A. Behandlungspflichten des auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätigen Arztes I. Lösungsansätze in der Literatur und deren Bewertung 1. Auffassung der herrschenden Lehre In der Literatur1 besteht wohl weitgehend Einigkeit, dass sich ein auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätiger Arzt, der eine medizinische Leistung (Diagnose / Therapie) unterlässt, weil ihm diese weder durch das öffentliche Gesundheitssystem (gegenwärtig: GKV) noch durch den Patienten vergütet wird, keiner Körperverletzung oder Tötung durch Unterlassen gem. §§ 223, 13 StGB bzw. §§ 212, 13 StGB schuldig macht; das wird auch für den Fall vertreten, dass dem Patienten durch die Vorenthaltung der Behandlung gesundheitliche Nachteile erwachsen (im Sinne einer Verschlechterung der Erkrankung oder der Verschenkung von Heilungschancen), die bei Vornahme der medizinisch gebotenen Behandlung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert worden wären. Dies gilt auch dann, wenn es bereits zu einer – nach zutreffender herrschender Meinung2 die ärztliche Garantenpflicht auslösenden – tatsächlichen Übernahme der Behandlung gekommen ist. Im Einzelnen wird wie folgt argumentiert: 1  Sternberg-Lieben/Schuster, in: Schönke/Schröder, StGB, § 15, Rn. 212 g; Sternberg-Lieben, in: Festschrift für Geppert, S. 723 (737); Ulsenheimer, in: Festschrift für Kohlmann, S. 313 (329 ff.); ders., Arztstrafrecht in der Praxis, Rn. 20 d; wohl auch für eine Straflosigkeit: Künschner, Wirtschaftlicher Behandlungsverzicht und Patientenauswahl, S. 181 ff.; zum zivilrechtlichen Haftungsrecht: Arnade, Kostendruck und Standard, S.  218 ff.; Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, X., Rn.  29 ff.; Kern, MedR 2004, 300 (302); Schmitz-Luhn, Priorisierung in der Medizin – Erfahrungen und Perspektiven, S. 153 ff. 2  Künschner, Wirtschaftlicher Behandlungsverzicht und Patientenauswahl, S. 157; Lenckner, in: Forster, Praxis der Rechtsmedizin, S. 570 (573 f.); Rengier, Strafrecht AT, § 50, Rn. 28, 30 f.; Roxin, Strafrecht AT, Bd. 2, § 32 IV, Rn. 70 ff.; Stree, in: Schönke/Schröder, StGB, § 13, Rn. 28 a; Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, Rn. 34.



A. Behandlungspflichten des Arztes81

Sternberg-Lieben vertritt die Auffassung, dass den behandelnden Arzt keine Behandlungspflicht trifft, sofern die medizinisch gebotene Leistung nicht Teil der öffentlichen Gesundheitsversorgung ist.3 Durch die Vorenthaltung einer durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht mehr bereitgestellten Leistung werde der vom Medizinstrafrecht zu fordernde Sorgfaltsmaßstab nicht unterschritten; die die Vorenthaltung lebens- und gesundheitserhaltender Leistungen normierenden Vorschriften seien (im Gegensatz zu den gegenwärtigen sozialversicherungsrechtlichen „kostendeckelnden“ Vorgaben der Budgetierung) auch für die Fahrlässigkeitshaftung relevant, da das Strafrecht kaum eine Privatperson zur kostenfreien Vornahme einer Sozialleistung zwingen könne, welche sich die Gesellschaft nicht mehr leisten wolle.4 Ulsenheimer begründet die Straflosigkeit des behandelnden Arztes damit, dass es unzumutbar wäre, einen Arzt zur Erbringung von medizinischen Leistungen zu verpflichten, die weder durch die öffentliche Gesundheitsversorgung bereitgestellt noch durch den Patienten finanziert werden.5 Auch Künschner scheint der Auffassung zuzuneigen, dass eine Strafbarkeit an der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens scheitert. Allerdings macht er eine Ausnahme für den medizinischen Notfall und nimmt für diese Konstellation eine strafbewehrte Behandlungspflicht an.6 2. Eigene Stellungnahme zur herrschenden Lehre Die soeben dargelegten (vgl. Kap. 6 A. I. 1.) Begründungen für die Straflosigkeit eines auf eigenes wirtschaftliches Risiko arbeitenden Arztes, der zahlungsunfähigen oder zahlungsunwilligen Patienten eine medizinisch indizierte Leistung vorenthält, weil diese weder durch die öffentliche Gesundheitsversorgung noch durch den Patienten finanziert wird, sind zutreffend, bedürfen jedoch der Ergänzung. Im Einzelnen:

3  Sternberg-Lieben/Schuster, in: Schönke/Schröder, StGB, § 15, Rn. 212 g; Sternberg-Lieben, in: Festschrift für Geppert, S. 723 (737). 4  Sternberg-Lieben, in: Festschrift für Geppert, S. 723 (735). 5  Ulsenheimer, in: Festschrift für Kohlmann, S. 313 (329  ff.); ders., Arztstrafrecht in der Praxis, Rn. 20 d; wohl auch: Künschner, Wirtschaftlicher Behandlungsverzicht und Patientenauswahl, S. 181. 6  Künschner, Wirtschaftlicher Behandlungsverzicht und Patientenauswahl, S. 181 ff.

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

a) Unzureichende Begründung für die Posteriorisierung der Rechtsgüter Leben und Gesundheit hinter wirtschaftlichen Interessen In der Ablehnung der Strafbarkeit eines auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätigen Arztes, der nicht vergütete medizinische Leistungen vorenthält, liegt eine Entscheidung für die wirtschaftlichen Interessen des unterlassenden Arztes – also für dessen Eigentum und Vermögen – und gegen die Lebens- und Gesundheitsinteressen des Patienten. Jedoch wird den Rechtsgütern Leben und Gesundheit in unserer Rechtsordnung eine überragende bzw. sehr hohe Bedeutung zugesprochen, während wirtschaftlichen Interessen (wie dem Eigentum oder dem Vermögen) eine deutlich geringere Bedeutung zugemessen wird, was sich nicht zuletzt im Bekenntnis der herrschenden Meinung zum Dogma der Höchstwertigkeit des menschlichen Lebens und zum Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sach­ interessen widerspiegelt. Die von der herrschenden Meinung befürwortete Posteriorisierung der Rechtsgüter Leben und Gesundheit hinter den Rechtsgütern Eigentum und Vermögen im Hinblick auf den hier in Frage stehenden ökonomischen Behandlungsverzicht erscheint daher zumindest begründungsbedürftig. Das gilt auch dann, wenn man – wie die herrschende Lehre – die Strafbarkeit des hier in Frage stehenden ökonomischen Behandlungsverzichts schon am Fehlen einer entsprechenden Behandlungspflicht (Sternberg-Lieben) oder an der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens (Ulsenheimer, Künschner) scheitern lässt und nicht erst auf der Rechtfertigungsebene im Rahmen des § 34 StGB (rechtfertigender Notstand), der durch seine Interessenabwägungsformel eine Offenlegung, Gewichtung und Abwägung der miteinander konkurrierenden Rechtsgüter und Interessen und damit eine detaillierte Begründung der Abwägungsentscheidung erzwingt. Denn hinter dem Merkmal der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens verbirgt sich letztlich auch nur eine Abwägungsentscheidung, weshalb die gleichen Begründungsanforderungen wie im Rahmen des § 34 StGB zu stellen sind. Nach Auffassung der herrschenden Meinung ist eine dem Garanten obliegende (Rettungs-)Handlung im Sinne des § 13 StGB dann unzumutbar, wenn sie eigene billigenswerte Interessen des Garanten in erheblichem Umfang beeinträchtigt und diese in einem angemessenen Verhältnis zum drohenden Erfolg stehen7. Daher erfordert die Entscheidung über die „Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens“ eine Abwägung der widerstreitenden Interessen des Garanten und der Person, in deren Interesse die Garantenpflichten bestehen.8 7  Stree/Bosch, in: Schönke/Schröder, StGB, Vor §§ 13 ff., Rn. 156 unter Berufung auf BGH NStZ 1984, 164.



A. Behandlungspflichten des Arztes83

b) Fehlende Konsistenz Die oben genannten Autoren bleiben überdies eine Erklärung schuldig, weshalb die Fallgestaltung, dass ein Arzt eine durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) zur Verfügung gestellte Leistung (bezogen auf das gegenwärtige System der öffentlichen Gesundheitsversorgung: eine im Leistungskatalog der GKV nicht enthaltene Leistung), die durch den Pa­ tienten auch nicht privat finanziert wird, vorenthält, strafrechtlich anders zu bewerten ist, als die sog. indirekte Rationierung. Unter letzterer versteht man die Konstellation, dass eine medizinisch indizierte Maßnahme unterlassen wird, die durch die öffentliche Gesundheitsversorgung zwar bereitgestellt wird, jedoch bezogen auf die Einzelleistung – etwa aufgrund von an der ärztlichen Vergütung ansetzenden Kostendämpfungsmaßnahmen (Budgetierung etc.) – unzureichend, möglicherweise noch nicht einmal kosten­ deckend vergütet wird. 8

Letztere Fallkonstellation wird in der Literatur – bezogen auf das gegenwärtige System der öffentlichen Gesundheitsversorgung, die GKV – an dem Fallbeispiel diskutiert, dass eine im Leistungskatalog der GKV enthaltene Leistung durch einen niedergelassenen Vertragsarzt vorenthalten wird, weil diese Maßnahme dem Vertragsarzt aufgrund von Kostendämpfungsmaßnahmen (Budgetierung etc.) unzureichend, gegebenenfalls nicht einmal kostendeckend entlohnt wird. Die ganz herrschende Lehre9, die auch von Sternberg-Lieben, Künschner und Ulsenheimer vertreten wird, gelangt diesbezüglich zu der Auffassung, dass der behandelnde Vertragsarzt ein Körperverletzungs- oder Tötungsdelikt verwirklicht, wenn er vom Leistungskatalog der GKV umfasste, medizinisch indizierte Behandlungen unterlässt; dies wird auch für den Fall vertreten, dass diese Leistungen im Einzelfall nicht angemessen, ggf. noch nicht einmal kostendeckend vergütet werden. Zur Begründung wird darauf rekurriert, dass die Patientenrechtsgüter Leben und Gesundheit gegenüber den wirtschaftlichen Interessen des Arztes überwiegen, weil sie höherwertig seien.10 Die Patientenrechtsgüter Leben und Gesundheit konkurrieren mit den wirtschaftlichen Interessen des Arztes allerdings auch in der hier in Frage stehenden Konstellation, dass eine medizinisch indizierte Leistung vorent8  Stree/Bosch, in: Schönke/Schröder, StGB, Vor §§ 13 ff., Rn. 156 unter Berufung auf BGH NJW 1998, 1574. 9  Schürch, Rationierung in der Medizin als Straftat, S. 139 ff.; Sternberg-Lieben/ Schuster, in: Schönke/Schröder, StGB, § 15, Rn. 212 g; Ulsenheimer, in: Festschrift für Kohlmann, S. 313 (329 ff.). 10  Schürch, Rationierung in der Medizin als Straftat, S. 147 f.; Sternberg-Lieben/ Schuster, in: Schönke/Schröder, StGB, § 15, Rn. 212 g; Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, Rn. 20 d.

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

halten wird, die weder durch die öffentliche Gesundheitsversorgung finanziert wird (nicht einmal über eine pauschalierte Vergütung) noch durch den Patienten selbst. Insofern stellt sich die Frage, weshalb die Interessenabwägung zwischen den Patientenrechtsgütern Leben und Gesundheit und den wirtschaftlichen Interessen des Arztes in der einen Konstellation zugunsten der wirtschaftlichen Interessen des Arztes und in der anderen Fallgestaltung zugunsten der Patientenrechtsgüter Leben und Gesundheit zu entscheiden ist. Zwar ist zuzugestehen, dass die ökonomischen Belange des Arztes durch eine Behandlungspflicht im Hinblick auf durch die öffentliche Gesundheitsversorgung finanzierte Leistungen – selbst wenn diese aufgrund von Kostendämpfungsmaßnahmen (Budgetierung etc.) im Einzelfall unzureichend honoriert sind – weniger stark gefährdet werden als durch eine Behandlungspflicht im Bezug auf Maßnahmen, die nicht zum Leistungsprogramm der öffentlichen Gesundheitsversorgung zählen und für die der Pa­tient auch privat nicht aufkommen kann oder will. Jedoch ist zu bezweifeln, dass dem Grad der Gefährdung der konkurrierenden Interessen angesichts der Größe des hier gegebenen Wertgefälles zwischen den (Patienten-)Rechtsgütern Leben und Gesundheit auf der einen Seite und dem Eigentums- und Vermögensinteresse (des behandelnden Arztes) auf der anderen Seite ausschlaggebende Bedeutung zuzukommen vermag. c) Fehlende Diskussion alternativer Lösungsansätze, wie der Notstandslösung Weiterhin ist zu konstatieren, dass keiner der genannten Autoren eine Begründung dafür gibt, weshalb die Strafbarkeit eines Arztes, der eine medizinische Leistung vorenthält, die weder durch die öffentliche Gesundheitsversorgung (aktuell: GKV) noch vom Patienten selbst finanziert wird, am Merkmal der „Zumutbarkeit normgemäßen Verhaltens“ (Künschner, Ulsenheimer) bzw. im Rahmen der „Garantenpflicht“ (Sternberg-Lieben) scheitert und nicht etwa auf der Ebene des rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB).



A. Behandlungspflichten des Arztes85

II. Verfassungsorientierter Lösungsansatz: Verfassungskonforme Auslegung der §§ 223, 13 StGB; §§ 212, 13 StGB (§ 323 c StGB) Ziel der nachfolgenden Untersuchung ist es herzuleiten, dass das Ergebnis der herrschenden Lehre11 zutreffend ist, wonach ein auf eigenes wirtschaftliches Risiko behandelnder Arzt durch das Vorenthalten medizinischer Leistungen, die weder durch die öffentliche Gesundheitsversorgung noch durch den Patienten selbst finanziert werden, rechtmäßig handelt. Für dieses Ergebnis soll eine (strafrechts-)dogmatisch überzeugende Begründung entwickelt werden. Zu diesem Zweck soll zunächst in Kap. 6 A. II. 1. dargelegt werden, dass das von der herrschenden Lehre vertretene Ergebnis für sich in Anspruch nehmen kann, nicht nur den moralischen Intuitionen zu entsprechen. Schließlich wäre es offenkundig ungerecht, wenn die auf eigenes wirtschaftliches Risiko handelnde Ärzteschaft gezwungen wäre, medizinische Leistungen notfalls auf eigene Kosten zu erbringen, weil die Gesellschaft dem öffentlichen Gesundheitswesen Kosten ersparen will.12 Vielmehr stellt sich dieses Ergebnis sogar als verfassungsrechtlich zwingend dar, da eine Pönalisierung des hier in Frage stehenden wirtschaftlichen Behandlungsverzichts durch die Schutzpflichtdimension des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) nicht erzwungen wird, sondern sogar den Arzt in seiner Berufsfreiheit (Art. 12 GG) und in seiner Eigentumsfreiheit (Art. 14 GG) verletzen und zudem gegen den Allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) verstoßen würde. In Kap. 6 A. II. 2. ff. soll sodann der Nachweis geführt werden, dass die verfassungsrechtlich gebotene Zulässigkeit des hier in Frage stehenden ökonomischen Behandlungsverzichts de lege lata, nämlich im Wege der verfassungskonformen Auslegung der §§ 212, 13 StGB; §§ 223, 13 (§ 323 c) StGB erzielt werden kann. Es soll gezeigt werden, dass eine Straflosigkeit des wirtschaftlichen Behandlungsverzichts insbesondere nicht an unüberwindbaren strafrechtsdogmatischen Hindernissen scheitert, obwohl dem menschlichen Leben gerade auch im Strafrecht eine sehr hohe Wertigkeit zugemessen wird. Es soll dargelegt werden, dass dies sowohl dann gilt, wenn man den ökonomischen Behandlungsverzicht unter Zugrundelegung der herrschenden 11  Sternberg-Lieben/Schuster, in: Schönke/Schröder, StGB, § 15, Rn. 212 g; Sternberg-Lieben, in: Festschrift für Geppert, S. 723 (737); Ulsenheimer, in: Festschrift für Kohlmann, S. 313 (329 ff.); ders., Arztstrafrecht in der Praxis, Rn. 20 d; wohl auch für eine Straflosigkeit: Künschner, Wirtschaftlicher Behandlungsverzicht und Patientenauswahl, S. 181 ff. 12  So auch Sternberg-Lieben, in: Festschrift für Geppert, S. 723 (735).

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

Strafrechtsdogmatik (Kap. 6 A. II. 2.) beurteilt, als auch dann, wenn man die wirtschaftliche Behandlungsverweigerung unter Zugrundelegung des hier vertretenen Ansatzes beurteilt, wonach verfassungsrechtliche Wertentscheidungen bei der Strafrechtsauslegung konsequenter zu berücksichtigen sind, als Rechtsprechung und Lehre dies bislang tun (Kap. 6 A. II. 3.). Zunächst soll in Kap. 6 A. II. 2. der Nachweis geführt werden, dass die herrschende Strafrechtsdogmatik einer durch die Verfassung erzwungenen Zulässigkeit des ökonomischen Behandlungsverzichts nicht entgegensteht, obwohl dieses Ergebnis mit einer konsequenten Anwendung der von Rechtsprechung und herrschender Lehre anerkannten Grundsätze des Dogmas vom Höchstwert des menschlichen Lebens und des Vorrangs von Personenwerten vor Sachinteressen nicht zu vereinbaren wäre. Zu diesem Zweck soll dargelegt werden, dass Rechtsprechung und Lehre – trotz Bekenntnis zum Höchstwertigkeitsdogma sowie zum Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen – einer durch die Verfassung gestatteten bzw. erzwungenen Posteriorisierung des menschlichen Lebens hinter kollidierenden Rechtsgütern oder Interessen bzw. von Personenwerten hinter Sachinteressen stets Rechnung zu tragen vermögen. Hierzu sollen zunächst im strafrechtlichen Schrifttum diskutierte Fallkonstellationen geschildert werden, bezüglich welcher Rechtsprechung und / oder Lehre – zumeist unter ausdrücklicher Berufung auf bindende Wertentscheidungen der Verfassung – für eine Posteriorisierung des menschlichen Lebens eintreten, indem sie die Zulässigkeit eines lebensverkürzenden Tuns oder Unterlassens bejahen oder die Legitimierung einer Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsguts ablehnen, obwohl diese Rechtsgutsverletzung zur Bewahrung eines unmittelbar bedrohten menschlichen Lebens erforderlich war (Kap. 6 A. II. 2. a)). Sodann soll im Rahmen einer Analyse dieser Fallkonstellationen dargelegt werden, dass die herrschende Strafrechtsdogmatik einer im Einzelfall durch die Verfassung erzwungenen Posteriorisierung des menschlichen Lebens bzw. einer Posteriorisierung von Personenwerten hinter Sach­ interessen stets zu entsprechen vermag, indem das Höchstwertigkeitsdogma und der Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sach­ interessen sehr restriktiv interpretiert und außerdem Ausnahmetatbestände von diesen Prinzipien anerkannt werden, was vor dem Hintergrund der dogmatischen Begründung dieser Prinzipien zwar willkürlich erscheinen mag, jedoch Verfassungsverstöße vermeidet (Kap. 6 A. II. 2. b)). Angesichts der in der vorangegangenen Analyse festgestellten Inkonsistenzen soll in Kap. 6 A. II. 3. die Dogmatik der Bewertung des Rechtsguts Leben (sowie von Personenwerten im Verhältnis zu Sachinteressen) im Strafrecht kritisch hinterfragt werden und dafür plädiert werden, verfassungsrechtliche Wertentscheidungen – insbesondere auch argumentativ – bei der Auslegung des Strafrechts konsequent zu berücksichtigen. Zunächst soll



A. Behandlungspflichten des Arztes87

dargelegt werden, aus welchen Grundrechten und Verfassungsprinzipien sich unter Zugrundelegung der herrschenden Verfassungsdogmatik zwingende verfassungsrechtliche Vorgaben für die Bewertung des Rechtsguts Leben und die Bewertung von Personenwerten im Verhältnis zu Sachinteressen im Strafrecht ergeben. In diesem Zusammenhang sollen die obigen strafrechtlichen Beispielsfälle für eine von Rechtsprechung und / oder Lehre befürwortete Posteriorisierung des Rechtsguts Leben hinter kollidierenden Rechtsgütern oder Interessen bzw. für eine Posteriorisierung eines Personenwerts hinter einem Sachinteresse aus verfassungsdogmatischer Perspektive beleuchtet werden (Kap. 6 A. II. 3. a)). Hierdurch soll überprüft werden, inwiefern die herrschende Strafrechtsdogmatik den verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Bewertung des Rechtsguts Leben bzw. von Personenwerten im Verhältnis zu Sachinteressen Rechnung trägt. Angesichts der aufgezeigten Begründungsdefizite und Inkonsistenzen soll für eine restriktive, verfassungskonforme Interpretation des Höchstwertigkeitsdogmas sowie des Personenwerte-Vorrangs plädiert werden. Unter Berücksichtigung dieser Ergebnisse sollen sodann in Kap. 6 A. II. 3. b) Vorgaben für eine konsequente Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen bei der Auslegung strafrechtlicher Normen erarbeitet werden. Zum Schluss werden die obigen strafrechtlichen Beispielsfälle sowie der hier in Frage stehende ökonomische Behandlungsverzicht unter Anwendung dieser Vorgaben entschieden. Es soll dargelegt werden, dass unter Zugrundelegung des hier entwickelten Ansatzes keine Einwände bestehen, die §§ 212, 13 StGB; §§ 223, 13 (§ 323 c) StGB im Licht der Artt. 12, 14 GG und des Art. 3 Abs. 1 GG dahingehend auszulegen, dass der ökonomische Behandlungsverzicht zulässig ist. 1. Vorgaben des Grundgesetzes für die strafrechtliche Bewertung des ökonomischen Behandlungsverzichts durch auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätige Ärzte Zunächst soll dargelegt werden, dass das Grundgesetz einer strafbewehrten Verpflichtung entgegensteht, wonach auf eigenes wirtschaftliches Risiko handelnde Ärzte (im GKV-System: niedergelassene Vertragsärzte) dazu gezwungen sind, auch solche medizinisch indizierten Leistungen zu erbringen, die diesen Ärzten weder durch die öffentliche Gesundheitsversorgung (im GKV-System: dem GKV-Leistungskatalog nicht unterfallende Leistungen) noch durch den Patienten selbst vergütet werden. Hierzu soll zunächst nachgewiesen werden, dass eine derartige Verhaltensnorm13 gegen die Eigen13  Die herrschende Meinung unterscheidet bei der Überprüfung strafrechtlicher Normen auf ihre Verfassungsmäßigkeit zutreffend zwischen Verhaltensnormen und

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

tumsfreiheit (Art. 14 Abs. 1 GG), die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) und den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) verstößt und der Staat, durch den Verzicht auf eine solche Verpflichtung, auch nicht hinter seinen aus dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) resultierenden Schutzpflichten zurückbleibt. a) Eigentumsfreiheit Ein auf eigenes wirtschaftliches Risiko handelnder Arzt darf nicht (mittels Strafrecht) dazu gezwungen werden, die in seinem Eigentum stehenden Medikamente, Diagnosegeräte (Ultraschall etc.), Therapiegeräte (Spritzen, Verbandszeug etc.) sowie seine Praxisimmobilie ohne Gegenleistung zur medizinischen Versorgung seiner Patienten einzusetzen. Eine derartige Verpflichtung würde nämlich einen – als Inhalts- und Schrankenbestimmung zu qualifizierenden – Eingriff in die Eigentumsfreiheit (Art. 14 GG) darstellen, der die Grenzen zulässiger Sozialbindung eindeutig überschreitet. Denn hierin läge eine Inpflichtnahme Privater für öffentliche Zwecke. Für eine solche Inpflichtnahme Privater gilt das Prinzip der Lastengleichheit, mit dem Sonderbelastungen bestimmter Personen oder Gruppen nur vereinbar sind, wenn diese wegen ihrer sozialen und / oder rechtlichen Besonderheiten eine ganz spezifische Sachnähe zum normativen Eingriffszweck aufweisen.14 Fehlt es an einer spezifischen Sachnähe der Betroffenen zum Eingriffszweck, so müssen wegen Art. 3 Abs. 1 GG alle Bürger zu den öffentlichen Aufgaben und Lasten beitragen.15 Eine ausschließliche Belastung bestimmter Privater stellt einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG dar.16 Die Indienstnahme Privater für öffentliche bzw. staatliche Zwecke ist dann als unentgeltliche oder entschädigungsfreie Inanspruchnahme als eine unzulässige Sozialbindung des Eigentums zu bewerten.17 Orientiert man sich an diesen Vorgaben, so stehen Art. 14 GG und Art. 3 Abs. 1 GG der oben beschriebenen Verpflichtung entgegen. Denn es existiert kein Grund, der es rechtfertigen könnte, Ärzte zu zwingen, ihr Privateigentum entschädigungslos in den Dienst der Förderung der Volksgesundheit zu stellen und ihnen so ein die wirtschaftliche Existenz bedrohendes ökonomisches Sonderopfer zugunsten der Volksgesundheit abzuverlangen. (strafrechtlichen) Sanktionsnormen, vgl. hierzu: Appel, Verfassung und Strafe, S. 79 ff.; BVerfGE 80, 182 (185 ff.); 80, 244 (254 ff.); 85, 69 (74 ff.); 87, 399 ff.; 90, 145 (183 ff.); 92, 191 ff.; 92, 277 (318). 14  Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14, Rn. 378 j (59.  Lfg. 2010). 15  Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14, Rn. 378 j (59.  Lfg. 2010). 16  Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14, Rn. 378 j (59.  Lfg. 2010). 17  Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14, Rn. 378 j (59.  Lfg. 2010).



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b) Berufsfreiheit Zudem würde eine (strafbewehrte) Verpflichtung, medizinisch indizierte Leistungen auch dann zu erbringen, wenn auf eigenes wirtschaftliches Risiko handelnde Ärzte (im GKV-System: niedergelassene Vertragsärzte) hierfür weder von der öffentlichen Gesundheitsversorgung (gegenwärtig: GKV) noch vom Patienten selbst (oder einer privaten Zusatzversicherung) eine Gegenleistung erhalten, gegen die Berufsfreiheit (Art. 12 GG) verstoßen. aa) GKV-System Im gegenwärtigen System der GKV wäre eine solche strafbewehrte Verpflichtung aus folgenden Erwägungen heraus als verfassungswidrig zu qualifizieren: Nach herrschender Lehre ergibt sich aus Art. 12 GG ein Anspruch des niedergelassenen Vertragsarztes auf angemessene Vergütung im Sinne einer Gegenleistung, die die entstandenen Kosten deckt und einen „Arztlohn“ enthält18. Dessen dogmatische Fundierung ist umstritten, was hier kurz dargestellt, aber mangels Entscheidungserheblichkeit nicht erschöpfend diskutiert werden soll: Eine Mindermeinung in der Literatur leitet den Anspruch auf angemessene Vergütung über die Abwehrdimension der Berufsfreiheit (Art. 12 GG) her, indem sie darauf verweist, dass unangemessene, insbesondere nicht kostendeckende Gegenleistungen die Existenz des Arztes gefährden und insofern als Eingriffe in die Freiheit der Berufswahl den status negativus der Berufsfreiheit berühren.19 Die meisten Autoren gehen jedoch davon aus, dass der Anspruch des Vertragsarztes auf angemessene Entlohnung seiner Leistungen dem status postivus des Art. 12 GG zu entnehmen ist.20 Das für den Vertragsarzt geltende Verbot, privat zu liquidieren, sei im Hinblick auf Art. 12 GG nur 18  Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, S. 265; Hufen, NJW 2004, 14 (15); Isensee, VSSR 1995, 321 (342, 352); ders., Zeitschrift für die gesamte Versicherungswirtschaft 2004, 651 (662); Reuther, Die Vergütung des Vertragsarztes und die Stabilität des Beitragssatzes – Grundrechte als Vorgaben der Budgetierung, S. 167, 270; Schmiedl, MedR 2002, 116 (118 f.); Sodan/Gast, NZS 1998, 497 (504 ff.); Wimmer, MedR 1998, 533 (534); ders., MedR 2001, 361 (361 f.); a.  A. für eine nur eingeschränkte Justitiabilität der Angemessenheit der Vergütung: Funk, MedR 1994, 314 ff.; Schneider, Handbuch des Kassenarztrechts, Rn. 970. 19  Hufen, NJW 2004, 14 (15); wohl auch: Wimmer, NZS 1999, 480 (480). 20  Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, S. 265; Isensee, VSSR 1995, 321 (340); ders., Zeitschrift für die gesamte Versicherungswirtschaft 2004, 651 (662); Reuther, Die Vergütung des Vertragsarztes und die Stabilität des Beitragssatzes – Grundrechte als Vorgaben der Budgetierung, S. 167, 270; Schmiedl, MedR 2002, S. 116 (118); Sodan/Gast, NZS 1998, 497 (505).

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verfassungsgemäß, wenn dieser Nachteil durch ein angemessenes Äquivalent für die erbrachten Leistungen kompensiert werde.21 Keiner könne verpflichtet werden, unentgeltliche Dienste im Allgemeininteresse zu erbringen.22 Insofern stehe dem Vertragsarzt ein kompensatorischer, auf eine angemessene Vergütung gerichteter grundrechtlicher Leistungsanspruch (status positivus) aus Art. 12 GG zu.23 Neben der dogmatischen Herleitung des Anspruchs auf angemessene Vergütung ist auch der Anknüpfungspunkt der Angemessenheit der Bezahlung umstritten: Nach der wohl überwiegend vertretenen Meinung ist auf die Vergütung der Einzelleistung abzustellen.24 Hiernach hat der Vertragsarzt aus Art. 12 GG (Berufsfreiheit) einen Anspruch auf angemessene Entlohnung jeder einzelnen ärztlichen Leistung, die er im Rahmen der Versorgung der Versicherten erbringt.25 Die Vergütung einer ärztlichen Leistung sei angemessen, wenn sie im gesetzlich intendierten Normalfall einer ausgelasteten und ordnungsgemäß geführten Praxis die anfallenden Kosten deckt und dem Arzt die Möglichkeit zur Erzielung eines angemessenen Gewinns lässt.26 Teilweise wird es als ausreichend angesehen, wenn die innerhalb eines bestimmten Zeitraums erzielbare Bezahlung angemessen ist.27 Um den Anforderungen des Art. 12 GG zu genügen, müsse die ärzt­ liche Vergütung bei einer durchschnittlich ausgelasteten, dem Stand der Medizin entsprechenden und wirtschaftlich betriebenen Praxis innerhalb eines Abrechnungszeitraums die Praxiskosten decken und zusätzlich einen 21  Isensee, VSSR 1995, 321 (340); ders., Zeitschrift für die gesamte Versicherungswirtschaft 2004, 651 (662); Schmiedl, MedR 2002, 116 (118). 22  Isensee, VSSR 1995, 321 (352). 23  Isensee, VSSR 1995, 321 (352); Reuther, Die Vergütung des Vertragsarztes und die Stabilität des Beitragssatzes – Grundrechte als Vorgaben der Budgetierung, S. 167, 270; Schmiedl, MedR 2002, 116 (118); Sodan/Gast, NZS 1998, 497 (505). 24  Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, S. 265; Isensee, VSSR 1995, 321 (342, 352); ders., Zeitschrift für die gesamte Versicherungswirtschaft 2004, 651 (662); Maaß, NZS 1998, 13 (19); Reuther, Die Vergütung des Vertragsarztes und die Stabilität des Beitragssatzes – Grundrechte als Vorgaben der Budgetierung, S. 167, 270. 25  Isensee, VSSR 1995, 321 (342, 352); ders., Zeitschrift für die gesamte Versicherungswirtschaft 2004, 651 (662); Reuther, Die Vergütung des Vertragsarztes und die Stabilität des Beitragssatzes – Grundrechte als Vorgaben der Budgetierung, S. 167, 270. 26  Isensee, VSSR 1995, 321, (341, 252); ders., Zeitschrift für die gesamte Versicherungswirtschaft 2004, 651 (662); Reuther, Die Vergütung des Vertragsarztes und die Stabilität des Beitragssatzes – Grundrechte als Vorgaben der Budgetierung, S. 169, 270. 27  Schmiedl, MedR 2002, S. 116 (118 f.); Wimmer, MedR 1998, 533 (534); ders., MedR 2001, 361 (361 f.).



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Arztlohn ermöglichen.28 Orientierung für den Arztlohn könne das Einkommen eines Klinikarztes bieten.29 Auch dieser Meinungsstreit kann mangels Entscheidungserheblichkeit für die vorliegende Fragestellung dahinstehen, denn eine (strafbewehrte) Regelung, nach der ein Vertragsarzt verpflichtet ist, medizinische Leistungen zu erbringen, die weder im Leistungskatalog der GKV enthalten sind, noch vom Patienten privat finanziert werden, würde unter Zugrundelegung beider Auffassungen nicht den Anforderungen des Art. 12 GG genügen: Wenn man die Angemessenheit nach der innerhalb eines bestimmten Zeitraums erzielten Vergütung bestimmt, wäre ein Verstoß gegen Art. 12 GG zu bejahen, weil nicht gewährleistet wäre, dass der Vertragsarzt für den jeweiligen Abrechnungszeitraum ein Gehalt erhält, das bei einer durchschnittlich ausgelasteten, dem Stand der Medizin entsprechenden und wirtschaftlich betriebenen Praxis die Praxiskosten deckt und zusätzlich einen Arztlohn bietet. Denn die Höhe des innerhalb eines Abrechnungszeitraums verdienten Gehalts würde vom Zufall abhängen oder – genauer gesagt – davon, wie sich im jeweiligen Abrechnungszeitraum das durch den Arzt nicht zu beeinflussende Verhältnis von Patienten, die entweder zahlungswillig und -fähig sind oder eine im Leistungskatalog der GKV enthaltene Leistung benötigen, zu zahlungsunwilligen bzw. – unfähigen Patienten, die eine nicht im Leistungskatalog der GKV enthaltene Leistung benötigen, verhält. Ebenfalls zu einem Verstoß gegen Art. 12 GG gelangt man, wenn man die Verpflichtung, auch solche Leistungen vorzunehmen, die dem Vertragsarzt weder durch die GKV noch durch den Patienten vergütet werden, an der Auffassung misst, welche hinsichtlich der Angemessenheit der Vergütung auf die Einzelleistung rekurriert. Denn Leistungen, für deren Vornahme der Arzt überhaupt keine Vergütung erhält, werden naturgemäß nicht angemessen vergütet. Exkurs: Gegenwärtiges vertragsärztliches Vergütungssystem der GKV Wie oben dargelegt (Kap. 6 A. II. 1. a) / Kap. 6 A. II. 1. b) aa)) folgt aus der Verfassung (Artt. 12, 14 und 3 Abs. 1 GG), dass ein niedergelassener Vertragsarzt (mittels Strafdrohung) nicht gezwungen werden darf, zahlungsunfähige bzw. -unwillige Patienten mit medizinischen Maßnahmen zu versorgen, die – als Folge einer expliziten Rationierung medizinischer Leistungen – vom Leistungskatalog der GKV nicht (mehr) umfasst sind. Im Gegensatz hierzu erzwingt die Verfassung die Zulässigkeit einer impliziten Rationierung medizinischer Leistungen durch den behandelnden 28  Schmiedl, 29  Schmiedl,

MedR 2002, 116 (118 f.); Wimmer, MedR 2001, 361 (361 f.). MedR 2002, 116 (118 f.).

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

Arzt gerade nicht: Dem Grundgesetz lässt sich nicht entnehmen, dass es niedergelassenen Vertragsärzten gestattet sein muss, gesetzlich Versicherten medizinisch indizierte Leistungen vorzuenthalten, die zwar im GKV-Katalog enthalten sind, jedoch – aufgrund von am Leistungserbringer ansetzenden Kostensenkungsmaßnahmen – unrentabel vergütet werden (etwa weil diese Leistungen nur im Rahmen einer Pauschale vergütet werden). Denn die wohl herrschende Auffassung30 betrachtet die gesetzlich vorgegebenen Strukturen des vertragsärztlichen Abrechnungssystems zu Recht als mit der Berufsfreiheit (Art. 12 GG) des einzelnen Vertragsarztes vereinbar und somit als verfassungsgemäß, auch wenn bestimmte, im Leistungskatalog der GKV enthaltene Leistungen infolge an der ärztlichen Vergütung ansetzender Kostendämpfungsmaßnahmen nicht rentabel bzw. nicht einmal kostendeckend entlohnt werden.31 Exkurs Ende bb) Alternatives öffentliches Gesundheitsversorgungssystem Aber auch wenn sich der Gesetzgeber für die Abschaffung der GKV entscheiden und eine öffentliche Gesundheitsversorgung in anderer Form zur Verfügung stellen würde (was aus verfassungsrechtlicher Perspektive möglich wäre32), wäre es mit der Berufsfreiheit (Art. 12 GG) nicht zu vereinbaren, einen auf eigenes wirtschaftliches Risiko arbeitenden Arzt (mittels Strafdrohung) zu verpflichten, auch solche Leistungen zu erbringen, die weder durch die öffentliche Gesundheitsversorgung noch durch den Patienten vergütet werden. Eine solche Verhaltensnorm würde einen unverhältnismäßigen und somit nicht zu rechtfertigenden Eingriff in die Berufsfreiheit darstellen: Sie wäre weder geeignet die Volksgesundheit zu fördern, da sie auf eigenes wirtschaftliches Risiko handelnde Ärzte über kurz oder lang ruinieren würde, 30  BVerfGE 103, 172 (185 f.); BVerfG NJW 2005, 136 (138); BSG 1994, 50, 97 ff.; Reuther, Die Vergütung des Vertragsarztes und die Stabilität des Beitragssatzes – Grundrechte als Vorgaben der Budgetierung; Steiner, in: Spickhoff, Medizinrecht, Art. 12 GG, Rn. 3. 31  Zu den strafrechtlichen Risiken der impliziten Rationierung medizinischer Leistungen: Bohmeier/Schmitz-Luhn/Streng, MedR 2011, 704 ff. (709 ff.); Dannecker/ Streng, MedR 2011, 131  ff.; Sternberg-Lieben / Schuster, in: Schönke / Schröder, StGB, § 15, Rn. 212g. 32  Der Gesetzgeber ist zwar von Verfassung wegen verpflichtet, ein leistungsfähiges Gesundheitssystem zu gewährleisten und – sofern man einen Anspruch auf ein medizinisches Existenzminimum anerkennt – auch jedermann ein Mindestniveau an medizinischen Leistungen zur Verfügung zu stellen, jedoch macht das Grundgesetz keine Vorgaben hinsichtlich der rechtstechnischen Organisation eines solchen Gesundheitssystems.; Nettesheim, VerwArch 93 (2002), 315 (330 f.).



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noch wäre sie erforderlich, weil es ein weitaus milderes Mittel darstellen würde, den Arzt – etwa finanziert über Steuererhöhungen – für alle von ihm zu erbringenden Leistungen zu entlohnen (wenn auch nur im Rahmen einer Pauschalvergütung). Zudem würde es angesichts der massiven finanziellen Belastungen für die Ärzte an der Angemessenheit fehlen. c) Sozialstaatsprinzip Aufgrund der Tatsache, dass das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) den Staat zum Aufbau und zur Bereitstellung einer effizienten Gesundheitsversorgung verpflichtet33, könnte eine strafbewehrte Pflicht, Patienten notfalls ohne jede Gegenleistung zu behandeln, mit dem Sozialstaatsprinzip in Konflikt geraten. Denn mit der strafbewehrten Verpflichtung, Patienten notfalls umsonst zu versorgen, würde eine gewaltige finanzielle Belastung der auf eigenes wirtschaftliches Risiko arbeitenden Ärzteschaft (im GKVSystem: niedergelassene Vertragsärzteschaft) einhergehen, die letztlich zum finanziellen Ruin führen würde. Würde der Staat die hiermit einhergehende medizinische Unterversorgung der Bevölkerung nicht durch geeignete Maßnahmen kompensieren, so wäre angesichts der immensen Bedeutung der auf eigenes wirtschaftliches Risiko arbeitenden Ärzte für die Gesundheitsversorgung in Deutschland zu befürchten, dass der Staat hinter seiner durch das Sozialstaatsprinzip gebotenen Pflicht zur Bereitstellung einer effizienten Gesundheitsversorgung zurückbleiben würde, auch wenn dem Staat im Hinblick auf das Niveau einer solchen Gesundheitsversorgung ein großer Gestaltungsspielraum zukommt34. d) Allgemeiner Gleichheitssatz Eine strafbewehrte Verpflichtung, Patienten notfalls ohne jede Gegenleistung zu behandeln, würde Ärzte, die auf eigenes wirtschaftliches Risiko handeln (im GKV-System: niedergelassene Vertragsärzte), dazu zwingen, ihre Arbeitskraft und ihr Eigentum umsonst in den Dienst der Volksgesundheit zu stellen. Hierin läge für diese Berufsgruppe ein (in wirtschaftlicher Hinsicht) existenzbedrohendes / -vernichtendes und durch nichts zu rechtfertigendes Sonderopfer zugunsten der Allgemeinheit, das nicht nur gegen die Berufsfreiheit (Art. 12 GG) und die Eigentumsfreiheit (Art. 14 GG), sondern 33  BVerfGE

57, 70 (99); 68, 193 (209). Becker, in: Festschrift für Udo Steiner, S. 51 (66); Höfling, in: Schumpelick/Vogel, Was ist und die Gesundheit wert?, S. 284 (286); ders., in: Feuerstein/ Kuhlmann, Rationierung im Gesundheitswesen, S. 143 (146 f.); Künschner, Wirtschaftlicher Behandlungsverzicht und Patientenauswahl, S. 264 ff. 34  U.

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auch gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) verstoßen würde (näher: Kap. 6 A. II. 1. a)). e) Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit Das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit des Patienten (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) wird nicht verletzt, wenn der Staat darauf verzichtet, auf eigenes wirtschaftliches Risiko behandelnde Ärzte (im heutigen System: niedergelassene Vertragsärzte) durch Strafdrohung dazu anzuhalten, auch solche medizinisch indizierten Leistungen zu erbringen, die weder durch die öffentliche Gesundheitsversorgung noch durch den Patienten vergütet werden. Ein Verstoß gegen das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit in seinem status negativus scheidet schon deshalb aus, weil die beschriebene Rechtslage nicht an der Abwehrdimension dieses Grundrechts zu messen ist. Denn der Verzicht auf die Pönalisierung eines lebensverkürzenden oder gesundheitsschädigenden ärztlichen Unterlassens stellt keinen hoheitlichen Eingriff in das menschliche Leben oder die körperliche Unversehrtheit dar. Aber auch in seiner Schutzpflichtdimension wird das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit durch den Verzicht auf die Pönalisierung des hier in Frage stehenden ökonomischen Behandlungsverzichts nicht verletzt. Zwar bestehen nach zutreffender herrschender Meinung35 grundrechtliche Schutzpflichten aus dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit nicht nur gegenüber privaten Übergriffen, sondern auch in Fällen „gegnerloser Not“36, also bei objektiven Gefährdungen, wozu (neben Selbstgefährdungen, Naturkatastrophen etc.) insbesondere auch Erkrankungen37 zählen (näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (a)). Jedoch ist der Staat trotz seiner aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ableitbaren Schutzpflichten 35  BVerfGE 115, 25 (49); Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 45 ff. (43. Lfg. 2004); Lang, in: Epping/Hillgruber, Beck’scher Online-Kommentar, GG, Art. 2, Rn. 75 (1.9.2014); Lorenz, in: BK, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 516 ff. (157. Aktualisierung 2012); Sachs, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 38; SchulzeFielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2, Rn. 76; Steiner, in: Spickhoff, Medizinrecht, Art. 2, Rn. 13; a. A. Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, § 191, Rn.  192 ff.; Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 188. 36  Leisner, Das Lebensrecht, S. 27. 37  BVerfGE 39, 1 (42); 46, 160 (164); 77, 170 (214); 88, 203 (251); 115, 320 (346); Calliess, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. 2, § 44, Rn. 1 ff.; Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, § 191, Rn. 146 ff.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 91; Kunig, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 2, Rn. 54 f.; Lang, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 2, Rn. 74 ff.; Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 188; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2, Rn.  76 ff.



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zugunsten des durch Krankheit bedrohten Lebens und der Gesundheit38, die sich nach zutreffender herrschender Meinung39 – in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip – zu einem Anspruch auf ein medizinisches Existenzminimum verdichten (näher Kap. 2 B.), nicht dazu verpflichtet (und noch nicht einmal dazu berechtigt) diese Schutzpflichten gerade dadurch zu erfüllen, dass er auf eigenes wirtschaftliches Risiko behandelnde Ärzte mittels Strafdrohung dazu anhält, jeden Patienten mit allen medizinisch indizierten Leistungen zu versorgen, selbst mit solchen, die weder durch die öffentliche Gesundheitsversorgung noch durch den Patienten selbst finanziert werden. Dies folgt aus der Dogmatik grundrechtlicher Schutzpflichten. Danach kommt dem Staat bei der Erfüllung seiner Schutzpflichten – selbst solcher zugunsten des menschlichen Lebens – ein weiter (nur durch das Untermaßverbot beschränkter) Einschätzungs-, Wertungsund Gestaltungsspielraum zu40, der sich regelmäßig nicht dahin verdichtet, dass nur eine ganz bestimmte gesetzliche Regelung oder staatliche Maßnahme rechtmäßig wäre41, es sei denn, dass das Schutzgut ausschließlich durch 38  BVerfGE 39, 1 (42); 46, 160 (164); 77, 170 (214); 88, 203 (251); 115, 320 (346); Calliess, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. 2, § 44, Rn. 1 ff.; Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, § 191, Rn. 146 ff.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 91; Kunig, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 2, Rn. 54 f.; Lang, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 2, Rn. 74 ff.; Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 188; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2, Rn.  76 ff. 39  Brech, Triage und Recht, S. 185 ff.; Däubler, NJW 1972, 1105 (1109); Ebsen, NDV 1997, 109 (120); Heinig, in: Bahr/Heinig, Menschenwürde in der säkularen Verfassungsordnung, S. 251 (293 f.); ders., Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S.  446 ff.; Huster, in: Mazouz/Werner/Wiesing, Krankheitsbegriff und Mittelverteilung, S. 157 (167); Lang, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 2, Rn. 82; Nettesheim, VerwArch 93 (2002), 315 (337); Neumann, NZS 1998, 401 (419); Schmidt-Aßmann, NJW 2004, 1689 (1691); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2, Rn. 96; Schwabe, NJW 1969, 2274 (2275); Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, Art. 2, Rn. 213; Taupitz, in: Wolter et al., Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, Öffentliche Recht und das Strafrecht, S. 113 (121 f.); Wiedemann, in: Umbach/Clemens, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2, Rn. 376; a. A. Di Fabio, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 94 (43. Lfg. 2004); Kirchhof, in: Festschrift für Laufs, S. 931 (944 ff.). 40  BVerfGE 46, 160 (164); 56, 54 (80 f.); 77, 381 (405); 79, 174 (200); 85, 191 (212); 92, 26 (46); 96, 56 (64); Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, § 191, Rn. 293 ff.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 92; Klein, NJW 1989, 1633 (1637); Lang, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 2, Rn. 76 f.; Lorenz, in: BK, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 522 (157. Aktualisierung 2012); SchulzeFielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2, Rn. 86; Stern, DÖV 2010, 241 (247 f.). 41  BVerfGE 46, 160 (165); 56, 54 (80); 77, 170 (214); 79, 174 (202); 115, 118 (160); 121, 317 (360); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 92; Lorenz, in: BK, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 522 (157. Aktualisierung 2012); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 2 Abs. 2, Rn. 90.

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

diese eine Maßnahme sachgerecht geschützt werden kann und die ergriffenen Maßnahmen gänzlich ungeeignet oder zur Erreichung des gebotenen Schutzziels völlig unzulänglich sind42. In Bezug auf das durch Krankheit bedrohte Leben und die Gesundheit verbietet das Untermaßverbot dem Staat die Unterschreitung des aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip abgeleiteten medizinischen Existenzminimums, welches die herrschende Meinung43 zutreffenderweise anerkennt (siehe hierzu unter Kap. 2 B.). Sofern die durch die öffentliche Gesundheitsversorgung bereitgestellten Gesundheitsleistungen – wie dies heute der Fall ist44 (näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (c) (ee)) – den Anforderungen des medizinischen Existenzminimums genügen, kann der Staat durch den Verzicht auf die Pönalisierung des hier in Frage stehenden ökonomischen Behandlungsverzichts somit schon deshalb nicht hinter den Vorgaben des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG zurückbleiben, weil der Staat seine aus diesem Grundrecht folgenden Pflichten zugunsten des durch Krankheit bedrohten Lebens und der Gesundheit durch die Bereitstellung der öffentlichen Gesundheitsversorgung erfüllt. Aber selbst wenn durch die öffentliche Gesundheitsversorgung kein medizinisches Existenzminimum gewährleistet wird, steht der weite Gestaltungspielraum, der dem Staat bei der Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten zukommt, einer aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG abgeleiteten Pflicht entgegen, die auf eigenes wirtschaftliches Risiko handelnde Ärzteschaft zur unentgeltlichen Erbringung von zum medizinischen Existenzminimum gehörenden Leistungen (mittels Strafdrohung) zu zwingen. Denn schließlich gäbe es neben der Pönalisierung des ökonomischen Behandlungsverzichts noch andere, weitaus effektivere Maßnahmen zur Gewährleistung eines medizinischen Existenzminimums für Bedürftige, etwa die – notfalls über 42  BVerfGE 79, 174 (202); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 92; Lorenz, in: BK, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 522 (157. Aktualisierung 2012); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2, Rn. 90. 43  Brech, Triage und Recht, S. 185 ff.; Däubler, NJW 1972, 1105 (1109); Ebsen, NDV 1997, 109 (120); Heinig, in: Bahr/Heinig, Menschenwürde in der säkularen Verfassungsordnung, S. 251 (293 f.); ders., Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S.  446 ff.; Huster, in: Mazouz et al., Krankheitsbegriff und Mittelverteilung, S. 157 (167); Lang, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 2, Rn. 82; Müller-Terpitz, in: Spickhoff, Medizinrecht, Art. 1 GG, Rn. 2; Nettesheim, VerwArch 93 (2002), 315 (337); Neumann, NZS 1998, 401 (419); Schmidt-Aßmann, NJW 2004, 1689 (1691); SchulzeFielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2, Rn. 96; Schwabe, NJW 1969, 2274 (2275); Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, Art. 2, Rn. 213; Taupitz, in: Wolter et al., Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, Öffentliche Recht und das Strafrecht, S. 113 (121 f.); Wiedemann, in: Umbach/Clemens, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2, Rn. 376; a. A. Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 94 (43. Lfg. 2004); Kirchhof, in: Festschrift für Laufs, S. 931 (944 ff.). 44  Nettesheim, VerwArch 93 (2002), 315 (325).



A. Behandlungspflichten des Arztes97

Steuererhöhungen zu finanzierende – Aufstockung der durch die öffentliche Gesundheitsversorgung bereitgestellten Gesundheitsleistungen. Insbesondere aber ist es dem Staat auch untersagt, seine Schutzpflichten zugunsten des durch Krankheit bedrohten Lebens und der Gesundheit und die hiermit verbundenen finanziellen Lasten auf die auf eigenes wirtschaftliches Risiko handelnde Ärzteschaft abzuwälzen. Denn der staatliche Spielraum bei der Erfüllung von grundrechtlichen Schutzpflichten wird neben dem Untermaßverbot auch durch das (aus der Abwehrdimension der Grundrechte resultierende) Verhältnismäßigkeitsprinzip begrenzt, sofern der Staat zur Erfüllung seiner Schutzpflichten in grundrechtliche Betätigungen Dritter eingreift45 (näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1)). Eine strafbewehrte Pflicht, medizinisch indizierte Leistungen notfalls auch ohne Gegenleistung zu erbringen, würde jedoch einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Eigentumsfreiheit sowie die Berufsfreiheit auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätiger Ärzte bedeuten und diese Grundrechte verletzten und zudem gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen (Kap. 6 A. II. 1. a) / Kap. 6 A. II. 1. b) / Kap. 6 A. II. 1. d)). Insofern besteht für den Staat keine aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG folgende Verpflichtung, den hier in Frage stehenden ökonomischen Behandlungsverzicht zu pönalisieren; vielmehr wäre der Staat hierzu noch nicht einmal berechtigt. Zwischenergebnis: Eine Verhaltensnorm, die auf eigenes ökonomisches Risiko arbeitende Ärzte (im gegenwärtigen System: niedergelassene Vertragsärzte) mittels Strafdrohung dazu zwingt, Leistungen zu erbringen, die weder durch die öffentliche Gesundheitsversorgung bereitgestellt (bezogen auf das gegenwärtige System: Leistungen, die nicht im GKV-Leistungskatalog enthalten sind), noch durch den Patienten selbst finanziert werden, ist durch das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) nicht geboten; dies gilt auch dann, wenn die durch die öffentliche Gesundheitsversorgung zur Verfügung gestellten Gesundheitsleistungen den an ein medizinisches Existenzminimum zu stellenden Anforderungen nicht genügen. Vielmehr würde eine solche strafbewehrte Verpflichtung die Berufsfreiheit (Art. 12 GG) und die Eigentumsfreiheit (Art. 12 GG) auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätiger Ärzte verletzen und gegen den Allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) verstoßen. Die Verfassung erzwingt somit eine Auslegung der §§ 223, 13 (34) StGB, §§ 212, 13 (34) StGB, § 323 c (34) StGB mit dem Inhalt, dass der durch auf eigenes ökonomisches Risiko tätige Ärzte begangene wirtschaftliche Behandlungsverzicht zulässig ist. 45  Calliess, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. 2, § 44, Rn. 18 ff.; 29 ff.; Klein, NJW 1989, 1633 (1638); Lang, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 2, Rn. 76; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2, Rn. 86.

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

2. Bewertung des Rechtsguts Leben (im Verhältnis zu kollidierenden Rechtsgütern / Interessen) bzw. von Personenwerten im Verhältnis zu kollidierenden Sachinteressen durch die herrschende Strafrechtsdogmatik Nachdem aufgezeigt wurde, dass die Verfassung eine Auslegung der §§ 223, 13 (34) StGB, §§ 212, 13 (34) StGB, § 323 c (34) StGB dahingehend erzwingt, dass der durch auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätige Ärzte begangene ökonomische Behandlungsverzicht zulässig ist, soll nun dargelegt werden, dass sich eine solche Norminterpretation durchaus in die (herrschende) Dogmatik des strafrechtlichen Lebensschutzes einfügt und einer derartigen Auslegung insbesondere nicht die von der herrschenden Meinung anerkannten (Auslegungs-)Grundsätze der Höchstwertigkeit des menschlichen Lebens und des Vorrangs von Personenwerten vor Sachinteressen entgegenstehen. Zu diesem Zweck sollen zunächst in Kap. 6 A. II. 2. a) strafrechtliche Abwägungsentscheidungen analysiert werden, die von Rechtsprechung und / oder herrschender Lehre dahingehend entschieden werden, dass das Rechtsgut Leben hinter einem hiermit kollidierenden Rechtsgut oder Interesse zurückzutreten hat bzw. ein Personenwert hinter einem hiermit kollidierenden Sachinteresse zurückzutreten hat. Sodann sollen in Kap. 6 A. II. 2. b) die Ergebnisse dieser Analyse zusammengefasst werden, um aufzuzeigen, wie die herrschende Strafrechtsdogmatik das Rechtsgut Leben (im Verhältnis zu kollidierenden Rechtsgütern bzw. Inte­ ressen) bzw. Personenwerte im Verhältnis zu Sachinteressen bewertet und um nachzuweisen, dass die herrschende Strafrechtsdogmatik einer durch die Verfassung erzwungenen Posteriorisierung des Rechtsguts Leben (hinter kollidierenden Rechtsgütern bzw. Interessen) bzw. von Personenwerten hinter Sachinteressen stets Rechnung zu tragen vermag. a) Analyse strafrechtlicher Abwägungsentscheidungen, die das Rechtsgut Leben (hinter kollidierenden Rechtsgütern / Interessen) bzw. Personenwerte hinter kollidierenden Sachinteressen posteriorisieren aa) Anlass der Untersuchung: Dogma vom Höchstwert des menschlichen Lebens; Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen Eine Auslegung der §§ 223, 13 (34) StGB, §§ 212, 13 (34) StGB, §§ 323 c (34) StGB im Licht der (andernfalls verletzten Grundrechte aus) Artt. 12, 14 und 3 Abs. 1 GG dahingehend, dass der ökonomische Behandlungsverzicht durch einen auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätigen Arzt (im GKVSystem: durch einen niedergelassenen Vertragsarzt) zulässig ist, impliziert



A. Behandlungspflichten des Arztes99

es, den wirtschaftlichen Interessen des Arztes Priorität vor den hiermit kollidierenden Lebens- und Gesundheitsinteressen des Patienten einzuräumen. Eine Posteriorisierung der Rechtsgüter Leben und Gesundheit hinter den Rechtsgütern Eigentum und Vermögen erscheint jedoch – zumindest prima facie – schwerlich mit der herrschenden Strafrechtsdogmatik vereinbar. Denn die herrschende Lehre bekennt sich in den Kommentierungen bzw. Stellungnahmen zu § 34 StGB in der Regel uneingeschränkt zu dem Prinzip, dass das Rechtsgut Leben einen abwägungsresistenten (Verfassungs-)Höchstwert46 repräsentiert, jedenfalls aber einen (Verfassungs-) Höchstwert darstellt, der allenfalls gegen andere (Verfassungs-)Höchstwerte, wie die Menschenwürde, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder den Bestand der BRD, abgewogen werden könne47. Die herrschende Lehre begründet das Höchstwertigkeitsdogma also maßgeblich mit der hohen Wertigkeit und / oder dem hohen Rang, die / der dem menschlichen Leben in der Verfassungsordnung zukommt und beschränkt die Geltung dieses Prinzips nicht explizit auf die Auslegung des § 34 StGB. Daher stellt sich die Frage, ob dieser Grundsatz einer Auslegung der §§ 223, 13 (34) StGB, §§ 212, 13 (34) StGB im Lichte der Artt. 12, 14 und 3 Abs. 1 GG dahingehend entgegensteht, dass der hier in Frage stehende wirtschaftliche Behandlungsverzicht eines auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätigen Arztes zulässig ist. Denn wenn der Rang des Grundrechts auf Leben (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) in der Verfassung es tatsächlich gebieten sollte, das menschliche Leben stets als Höchstwert zu behandeln, wäre der Anwendungsbereich des Höchstwertigkeitsdogmas nicht auf die Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe in § 34 StGB („überwiegendes Interesse“, „Angemessenheit“) beschränkt, sondern müsste für die Auslegung aller unbestimmten Rechtsbegriffe in den Straftatbeständen und Rechtfertigungsgründen gelten. Dies hätte u. a. zur Folge, dass jedes lebensverkürzende Tun oder Unterlassen als Totschlag strafbar wäre (zumindest, sofern nicht ein Verfassungshöchstwert, wie die Menschenwürde, eine andere Bewertung rechtfertigt). Hiermit wäre die durch die Berufsfreiheit, die Eigentumsfreiheit und den Allgemeinen Gleichheitssatz gebotene Zulässigkeit eines durch auf eigenes ökonomisches Risiko tätige Ärzte begangenen wirtschaftlichen Behandlungsverzichts unter keinen Umständen zu vereinbaren. Die Frage, ob die Zulässigkeit bzw. Straflosigkeit des hier in Frage stehenden ökonomischen Behandlungsverzichts ohne Bruch mit der herrschenden Strafrechtsdogmatik begründet werden kann, erhebt sich auch angesichts 46  Fischer, StGB, § 34, Rn. 14; Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, § 34, Rn. 7 f.; Rosenau, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, § 34, Rn. 20; Roxin, Strafrecht AT, Bd. 1, § 16, Rn. 33. 47  Krey/Esser, Deutsches Strafrecht AT, § 15, Rn. 606; wohl auch: Kühl, Strafrecht AT, § 8, Rn. 113.

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

des allgemein anerkannten (Auslegungs-)Grundsatzes, dass wegen Art. 1 Abs. 1 GG Personenwerten auf allen Rechtsgebieten – und somit auch im Strafrecht – der Vorrang gegenüber Sachinteressen48 zukommt. Auch zu diesem Prinzip bekennt sich die ganz herrschende Meinung in den Kommentierungen bzw. Stellungnahmen zu § 34 StGB, die den Anwendungsbereich dieses Prinzips nicht explizit auf § 34 StGB beschränken. Insofern müsste dieser Grundsatz konsequenterweise – insbesondere in Anbetracht der Fundierung dieses Prinzips in der keiner Abwägung zugänglichen Menschenwürdegarantie – nicht nur für die Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe in § 34 StGB („überwiegendes Interesse“, „Angemessenheit“), sondern auch für die Auslegung aller unbestimmten Rechtsbegriffe in den Straftatbeständen und Rechtfertigungstatbeständen Geltung beanspruchen. Dies hätte zur Folge, dass u. a. jedes lebensverkürzende oder gesundheitsschädigende Tun oder Unterlassen, das zur Bewahrung eines Sachinteresses erforderlich ist, als Totschlag bzw. Körperverletzung strafbar ist. Dies wäre mit einer durch die Artt. 12, 14 und 3 Abs. 1 GG gebotenen Zulässigkeit bzw. Straflosigkeit des hier in Frage stehenden ökonomischen Behandlungsverzichts durch auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätige Ärzte unter keinen Umständen zu vereinbaren. bb) Untersuchung von Abwägungsentscheidungen, die das Rechtsgut Leben (hinter kollidierenden Rechtsgütern / Interessen) bzw. Personenwerte hinter kollidierenden Sachinteressen posteriorisieren Prima facie scheint sich die herrschende Lehre zur uneingeschränkten Geltung sowohl des Dogmas der Höchstwertigkeit des menschlichen Lebens als auch des Vorrangs von Personenwerten vor Sachinteressen zu bekennen. Dennoch existieren in der Praxis Fälle und Fallkonstellationen, deren rechtliche Bewertung darauf schließen lassen könnte, dass Rechtsprechung und Lehre beide Prinzipien in der Praxis weitaus weniger konsequent handhaben, als man vermuten würde, wenn man die dogmatische Fundierung beider Prinzipien in Rechnung stellt, die darauf rekurriert, dass das Leben einen (Verfassungs-)Höchstwert repräsentiert und die Menschenwürde den Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen erzwingt. In diesem Zusammenhang seien zunächst die indirekte Sterbehilfe, der technische Behandlungsabbruch durch Nicht-Ärzte („Fall Putz“) sowie die 48  Maurach/Zipf, Strafrecht AT, TeilBd. 1, § 27, Rn. 29; Kühl, Strafrecht AT, § 8, Rn. 113, 115; Neumann, in: NK, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 72; Perron, in: Schönke/ Schröder, StGB, § 34, Rn. 23; Rengier, Strafrecht AT, § 19, Rn. 28; Rosenau, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, § 34, Rn. 18; Roxin, Strafrecht AT, Bd. 1, § 16, Rn. 29; Zieschang, in: LK, StGB, Bd. 2, § 34, Rn. 56.



A. Behandlungspflichten des Arztes101

herrschende Notwehrdogmatik, wonach tödliche Notwehrmaßnahmen zur Verteidigung nicht-lebensbedrohlicher Angriffe zulässig sind, genannt. Denn die in diesen Konstellationen durch aktives Tun bewirkte Tötung repräsentiert nach Auffassung von Literatur und Rechtsprechung kein Tötungsunrecht. Weitere Beispielsfälle sind die passive Sterbehilfe beim entscheidungsfähigen Patienten, das tatenlose Geschehenlassen eines freiverantwortlichen Suizids („Wittig-Fall“), die unterlassene Zwangsheilung eines entscheidungsfähigen Patienten sowie die dem Garanten unzumutbare Lebensrettung („Nierenspende-Fall“), da Rechtsprechung und Lehre das in diesen Fallkonstellationen gegebene lebensverkürzende Unterlassen als zulässig (und somit straflos) betrachten. Die lebensrettende Zwangsheilung eines entscheidungsfähigen Patienten, der „Zwangsblutspende-Fall“, die Lebend(organ)spende gegen oder ohne den Willen des Spenders, die postmortale Organentnahme entgegen dem Willen des Spenders sowie der „Millionärs-Fall“49 repräsentieren Fallkonstellationen, in denen die ganz herrschende Meinung eine Strafbarkeit bejaht, obwohl die deliktische Handlung in diesen Fällen erforderlich war, um ein unmittelbar bedrohtes Leben zu bewahren. All diese Fallgestaltungen lassen an der uneingeschränkten Geltung des Grundsatzes vom Höchstwert des menschlichen Lebens zweifeln. Vielmehr werfen diese Fallkonstellationen und ihre rechtliche Bewertung die Frage auf, ob Rechtsprechung und / oder Literatur in der Praxis – im Interesse der Gewährleistung einer verfassungskonformen Rechtsanwendung – Ausnahmen vom Höchstwertigkeitsdogma zulassen und den Anwendungsbereich dieses Prinzips nicht in allen Konstellationen als eröffnet betrachten, in denen eine als strafrechtlich relevant in Betracht kommende Interessenkollision zwischen dem Rechtsgut Leben und einem anderen Rechtsgut oder Interesse gegeben ist. Die rechtliche Bewertung des „Millionärs-Falls“, des hier in Frage stehenden ökonomischen Behandlungsverzichts durch auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätige Ärzte sowie die rechtliche Bewertung tödlicher Notwehrmaßnahmen zur Verteidigung von Angriffen auf Sachwerte könnte überdies den Rückschluss zulassen, dass Rechtsprechung und herrschende Lehre in der Praxis entweder sehr weitgehende Ausnahmen vom Vorrang von Personenwerten gegenüber Sachinteressen zulassen und / oder den Anwendungs49  Dem „Millionärs-Fall“ liegt der fiktive Sachverhalt zugrunde, dass ein lebensbedrohlich Erkrankter einem Millionär Geld entwendet, um durch diesen Diebstahl eine durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht zur Verfügung gestellte und für den Erkrankten andernfalls nicht finanzierbare, lebenserhaltende Behandlung bezahlen zu können.

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

bereich dieses Prinzips auf ganz bestimmte Konstellationen beschränken, in denen Sachinteressen und Personenwerte kollidieren. Im Folgenden sollen die Stellungnahmen in der strafrechtlichen Literatur und in der Rechtsprechung zu den genannten Fallkonstellationen analysiert werden, wobei das Erkenntnisinteresse maßgeblich darin besteht, verallgemeinerungsfähige Aussagen hinsichtlich der absoluten und relativen Wertigkeit des Rechtsguts Leben zu finden. Besondere Aufmerksamkeit soll der Problemstellung gewidmet werden, unter welchen Voraussetzungen sich Rechtsprechung und Lehre in der Praxis auf das Dogma der Höchstwertigkeit bzw. Abwägungsresistenz des menschlichen Lebens berufen und in welchen Fallkonstellationen diesem Grundsatz in der Praxis keine Relevanz beigemessen wird, obwohl eine Kollision zwischen dem Rechtsgut Leben und einem anderen Rechtsgut oder Interesse gegeben ist. Hiervon ausgehend soll bestimmt werden, welchen Anwendungsbereich Rechtsprechung und Lehre dem Dogma der Höchstwertigkeit bzw. Abwägungsresistenz des menschlichen Lebens zuschreiben und welche Ausnahmen von diesem Dogma zugelassen werden. Der allgemein anerkannte Grundsatz, dass Personenwerten der Vorrang vor Sachinteressen zukommt, soll mit der gleichen Zielsetzung untersucht werden. Auch die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen Rechtsprechung und Lehre im Wege der verfassungskonformen Auslegung zu einer Poste­ riorisierung des menschlichen Lebens (hinter kollidierenden Rechtsgütern bzw. Interessen) bzw. von Personenwerten hinter Sachinteressen gelangen, soll analysiert und im Licht des Höchstwertigkeitsdogmas sowie im Licht des Grundsatzes vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen beleuchtet und kategorisiert werden. Letztendlich soll so herausgearbeitet werden, wie sich das Höchstwertigkeitsdogma und der Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen zum Gebot der verfassungskonformen Auslegung des Strafrechts verhalten. Da in der strafrechtlichen Literatur50 Hinweise zu finden sind, dass sich das Rechtsgut Leben, sofern es nur als Erhaltungsgut betroffen ist, nicht zwingend in jeder Interessenabwägung durchsetzt (und dem Rechtsgut Leben somit als Erhaltungsgut eine geringere Wertigkeit zukommen könnte, als wenn dieses als Eingriffsgut betroffen ist), bietet sich für diese Untersuchung folgende Differenzierung an: Zu unterscheiden ist zwischen der Betroffenheit des menschlichen Lebens als Eingriffsgut, wobei zwischen lebensverkürzendem Tun (1) auf der einen Seite und lebensverkürzendem Unterlassen (2) auf 50  Erb, in: MüKo, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 116; Neumann, in: NK, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 73; Zieschang, in: LK, StGB, Bd. 2, § 34, Rn. 56.



A. Behandlungspflichten des Arztes103

der anderen Seite differenziert werden muss, sowie der Betroffenheit des Rechtsguts Leben als Erhaltungsgut, was durch die Fallgruppe der zur Bewahrung menschlichen Lebens erforderlichen (durch Tun oder Unterlassen bewirkten) Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsguts (3) repräsentiert wird. Innerhalb jeder dieser Fallgruppen ist wiederum zu unterscheiden zwischen Konstellationen, in denen das Rechtsgut Leben mit einem demselben Rechtsgutsträger zuzuordnenden Rechtsgut oder Interesse kollidiert (sog. Rechtsgüterbinnenkollisionen ((1) (a), (2) (a), (3) (a)), und Fallkonstellationen, in denen das Rechtsgut Leben mit einem Rechtsgut oder Interesse kollidiert, das einem vom Träger des Rechtsguts Leben personenverschiedenen Träger zuzuordnen ist ((1) (b), (2) (b), (3) (b)). (1) Lebensverkürzendes Tun (Leben als Eingriffsgut) (a) Rechtsgüterbinnenkollision (aa) Indirekte Sterbehilfe (α) Falldarstellung Die unter der Rubrik „indirekte Sterbehilfe“ diskutierte Problematik befasst sich mit der Fragestellung, ob sich ein Arzt nach § 212 StGB oder zumindest nach § 216 StGB strafbar macht, wenn er einem unheilbar kranken und unter unerträglichen Schmerzen leidenden Patienten mit dessen tatsächlichem oder mutmaßlichem Einverständnis ein Medikament (z. B. Morphium) verabreicht, bzw. eine medizinische Intervention vornimmt, obwohl hierdurch als unvermeidliche Nebenwirkung das Leben des Patienten verkürzt wird. (β) D  arstellung der in Literatur und Rechtsprechung ­vertretenen Lösungsansätze Es existiert ein allgemeiner gesellschaftlicher und auch von der Rechtswissenschaft, der Medizin und der Medizinethik getragener Konsens, dass die indirekte Sterbehilfe – zumindest sofern sie lege artis durchgeführt wird und durch eine tatsächliche oder mutmaßliche Einwilligung des Patienten gedeckt ist – zulässig ist. Daher stellt sich aus strafrechtlicher Perspektive lediglich die Frage, wie die Straflosigkeit eines indirekte Sterbehilfe übenden Arztes dogmatisch überzeugend begründet werden kann. Die Frage, warum sich ein indirekte Sterbehilfe leistender Arzt weder nach § 212 StGB noch auch nur nach § 216 StGB strafbar macht, ist Ge-

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

genstand heftiger Kontroversen. Eine Strömung innerhalb des Schrifttums sucht die Lösung des Problems auf der Ebene des objektiven Tatbestands: Einige Autoren rekurrieren auf den Schutzzweck der Norm51 und argumentieren, es sei nicht Sinn der Tötungsdelikte, den Arzt zu zwingen, jede Schmerzlinderung beim Moribunden zu unterlassen, wenn hierdurch das Leben verkürzt wird. Eine in der Literatur vertretene Mindermeinung verneint den objektiven Tatbestand der Tötungsdelikte mit dem Argument, die Schmerzbehandlung eines unheilbar erkrankten Patienten sei – auch wenn sie das Leben unbestreitbar verkürze – von ihrem sozialen Bedeutungssinn her etwas anderes als eine „Tötungshandlung“ im Sinne der §§ 212, 216 StGB. Eine dritte Auffassung52 verweist auf die Sozialadäquanz lebensverkürzender Schmerztherapien. Die höchstrichterliche Rechtsprechung53 und die herrschende Lehre54 leiten die Straflosigkeit des indirekte Sterbehilfe übenden Arztes aus § 34 StGB (Notstand) her. Die indirekte Sterbehilfe sei über § 34 StGB gerechtfertigt, da die Ermöglichung eines Todes in Würde und Schmerzfreiheit gemäß dem erklärten oder mutmaßlichen Patientenwillen „ein höherwertiges Rechtsgut als die Aussicht, unter schwersten, insbesondere sogenannten Vernichtungsschmerzen noch kurze Zeit länger leben zu müssen“55 darstelle. Der in dieser Argumentation liegende Bruch mit der von BGH und herrschender Lehre im Rahmen des § 34 StGB bislang fast durchweg anerkannten Prämisse, dass das menschliche Leben – jedenfalls wenn es als Eingriffsgut durch ein aktives Tun tangiert ist – einen abwägungsresistenten Höchstwert darstelle, wird von der herrschenden Lehre und dem BGH eingestanden und als rechtfertigungsbedürftig anerkannt.56 Manche Autoren begründen die Missachtung des Höchstwertigkeitsdogmas mit dem Ausnah51  Ingelfinger, Grundlagen und Grenzbereiche des Tötungsverbots, S. 273; Krey / Heinrich, Strafrecht BT, Bd. 1, Rn. 14. 52  Herzberg, NJW 1996, 3043 (3048). 53  BGHSt 43, 301 (305). 54  Achenbach, Jura 2002, 542 (547); Hettinger, in: Festgabe für Paulus, S. 73 (82); Hillenkamp, in: Anderheiden/Eckard, Handbuch Sterben und Menschenwürde, Bd. 1, S. 349 (364), der zu Recht eine lebensverkürzende Medikation nicht nur bei unerträglichen Schmerzen für zulässig erachtetet, sondern auch zur Linderung anderer Krankheitszustände, wie Atemnot, und den Anwendungsbereich der zulässigen indirekten Sterbehilfe nicht auf die eigentliche Sterbephase begrenzt; Hirsch, in: LK, StGB, Bd. 2, § 34, Rn. 75; Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, Vor. § 211, Rn. 7; Kutzer, NStZ 1994, 110 (115); Merkel, JZ 1996, 1145 (1148 ff.); Neumann, in: NK, StGB, Bd. 2, Vor § 211, Rn. 103; Roxin, in: Roxin/Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 75 (88); Otto, Jura 1999, 434 (440); Schneider, in: MüKo, StGB, Bd. 4, Vor §§ 211 ff., Rn. 113; Schreiber, NStZ 1986, 337 (341). 55  BGH NJW 1997, 807 (810). 56  Dreier, JZ 2007, 317 (322).



A. Behandlungspflichten des Arztes105

mecharakter des qualvollen Sterbeprozesses sowie mit der Einwilligung des Patienten in die lebensverkürzende Schmerztherapie.57 Andere Vertreter des Schrifttums58 sowie der BGH59 relativieren den Bruch mit dem strafrechtlichen Prinzip der Unabwägbarkeit des menschlichen Lebens, indem sie in die Interessenabwägung des § 34 StGB auf der Seite des Erhaltungsinteresses die Menschenwürdegarantie einbinden: Die lebensverkürzende Schmerzlinderung sei (zusätzlich auch) durch das Gebot zur Achtung der menschlichen Würde legitimiert, da die Schmerzlinderung unabdingbar sei, um dem Patienten zu ermöglichen, als Person zu sterben und nicht nur als vom Schmerz bestimmtes Wesen, das sich seiner selbst nicht mehr bewusst werden kann.60 Die Missachtung des Höchstwertigkeitsdogmas wird also durch „Aufladung“ des Schmerzlinderungsinteresses mit einem verfassungsrecht­ lichen Wert gerechtfertigt, dem die Rechtsordnung sowohl bei konkreter als auch bei abstrakter Betrachtungsweise einen noch höheren Wert zuweist als dem hiermit kollidierenden menschlichen Leben. Neumann61 und Merkel62 hingegen vermögen das von ihnen angenommene Überwiegen des Schmerzlinderungsinteresses gegenüber dem Interesse an einem leidvollen Weiterleben im Rahmen der Interessenabwägung nach § 34 StGB ohne dogmatische Kunstgriffe zu erklären: Neumann63 vertritt nämlich (ebenso wie auch Erb64) die Auffassung, dass das Dogma von der Unabwägbarkeit bzw. Höchstwertigkeit des menschlichen Lebens nicht uneingeschränkt Geltung beansprucht, wenn menschliches Leben berührt ist: Vielmehr habe dieses Prinzip ausschließlich den Bedeutungsgehalt, dass das Rechtsgut Leben der Pflicht zur solidarischen Aufopferung für andere grundsätzlich entzogen ist.65 Um die solidarische Aufopferung des eigenen Lebens für andere geht es bei der indirekten Sterbehilfe jedoch gerade nicht, weshalb unter Zugrundelegung dieser restriktiven Interpretation des Höchstwertigkeitsdogmas eine Notstandsrechtfertigung keiner besonderen Begründung bedarf. Auch Merkel66 vertritt die Auffassung, dass das Prinzip der 57  Schneider,

in: MüKo, StGB, Bd. 4, Vor §§ 211 ff., Rn. 113. NStZ 1994, 110 (115); Otto, Jura 1999, 434 (440); gegen die die Heranziehung der Menschenwürde: Schneider, in: MüKo, StGB, Bd. 4, Vor §§ 211 ff., Rn. 112. 59  BGH NJW 1997, 807 (810). 60  Otto, Jura 1999, 434 (440 f.). 61  Neumann, in: NK, StGB, Bd. 2, Vor § 211, Rn. 103, 85. 62  Merkel, JZ 1996, 1145 (1151). 63  Neumann, in: NK, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 73. 64  Erb, in: MüKo, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 116. 65  Erb, in: MüKo, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 116; Neumann, in: NK, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 73. 66  Merkel, JZ 1996, 1145 (1151). 58  Kutzer,

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

Unabwägbarkeit bzw. Höchstwertigkeit des menschlichen Lebens nicht uneingeschränkt gelte und insbesondere dann keine Geltung beanspruchen könne, wenn es – wie bei der indirekten Sterbehilfe – nicht um das abstrakte Recht auf Leben, sondern um das individuelle Interesse am Weiterleben geht. Denn würde man in Fällen, in denen es am individuellen Interesse am Weiterleben fehlt, am Grundsatz der Abwägungsresistenz des menschlichen Lebens festhalten, würde man eine unmenschliche und damit illegitime Pflicht zum Weiterleben statuieren.67 (γ) A  nalyse der in Literatur und Rechtsprechung ­vertretenen  Lösungsansätze Rechtsprechung und Literatur sind sich im Ergebnis über die Zulässigkeit bzw. Straflosigkeit der indirekten Sterbehilfe und der hiermit zwangsläufig einhergehenden Posteriorisierung des Rechtsguts Leben einig. Die Behandlung der Problematik der indirekten Sterbehilfe zeigt somit, dass sich nach Auffassung der herrschenden Meinung das Rechtsgut Leben nicht zwingend gegenüber jedem kollidierenden Rechtsgut oder Interesse durchzusetzen vermag, selbst dann nicht, wenn das Rechtsgut Leben als Eingriffsgut berührt ist und durch aktives Tun beeinträchtigt wird. Jedenfalls gegen die demselben Rechtsgutsträger zustehende Menschenwürde (Binnenkollision) vermag sich das Rechtsgut Leben nicht durchzusetzen. Es drängt sich die Frage auf, wie sich dies mit dem Dogma der Höchstwertigkeit des menschlichen Lebens, zu dem sich die herrschende Meinung in der Theorie bekennt, vereinbaren lässt. Erb, Merkel und Neumann vermögen diese Frage zwanglos und ohne dogmatische Brüche zu beantworten. Sie betrachten das Rechtsgut Leben nur insofern als Höchstwert (und in der Konsequenz einer Abwägung nicht zugänglich), als niemand zur solidarischen Aufopferung seines Lebens gezwungen werden darf. Diese restriktive Interpretation des Höchstwertigkeitsdogmas hat zur Folge, dass der Anwendungsbereich des Höchstwertigkeitsdogmas u. a. dann nicht eröffnet ist, wenn das Rechtsgut Leben mit einem Rechtsgut desselben Rechtsgutsträgers kollidiert (Binnenkollision), wie im Fall der indirekten Sterbehilfe, da dort eine Binnenkollision zwischen dem Rechtsgut Leben und dem Interesse an der Linderung von unerträglichen Schmerzen gegeben ist. Größeren Begründungsaufwand, um die Straflosigkeit der indirekten Sterbehilfe mit dem Dogma der Höchstwertigkeit bzw. Unabwägbarkeit des menschlichen Lebens in Einklang zu bringen, erfordert die herrschende 67  Merkel,

JZ 1996, 1145 (1151).



A. Behandlungspflichten des Arztes107

Meinung, die sich im Hinblick auf § 34 StGB explizit zur umfassenden Geltung des Höchstwertigkeitsdogmas – jedenfalls in Bezug auf aktive Tötungshandlungen – bekennt. Auf dieser Linie liegt es, dass Rechtsprechung und herrschende Lehre im Hinblick auf die Fallkonstellation der indirekten Sterbehilfe, die ebenfalls durch eine aktive Tötungshandlung gekennzeichnet ist, den Anwendungsbereich des Höchstwertigkeitsdogmas als eröffnet betrachten, obwohl die indirekte Sterbehilfe durch eine Rechtsgüterbinnenkollision gekennzeichnet ist. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die herrschende Meinung das Schmerzlinderungsinteresse des Patienten in der Menschenwürde verortet, die einen Verfassungswert repräsentiert, der sowohl bei konkreter als auch bei abstrakter Betrachtung in der Wertordnung noch oberhalb des menschlichen Lebens verortet ist. Denn würde die herrschende Lehre den Anwendungsbereich des Dogmas der Höchstwertigkeit des menschlichen Lebens hinsichtlich der indirekten Sterbehilfe schon nicht als eröffnet betrachten, weil der Problematik der indirekten Sterbehilfe eine Binnenkollision (zwischen dem Rechtsgut Leben und der Menschenwürde) zugrunde liegt, würden sich die herrschende Lehre und Rechtsprechung kaum veranlasst sehen, zur Begründung der Zulässigkeit der indirekten Sterbehilfe einen (selbst bei abstrakter Betrachtungsweise) über dem menschlichen Leben anzusiedelnden Wert, nämlich die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), argumentativ zu bemühen. Es wäre ausreichend, mit dem Interesse des Patienten an einem schmerzfreien oder erträglichen Tod zu argumentieren oder mit dem verfassungsrechtlich verbürgten Selbstbestimmungsrecht des Patienten (Artt. 2 Abs. 2 S. 1, 1 Abs. 1 GG); auf die Aufladung dieses Interesses mit dem verfassungsrechtlichen Höchstwert schlechthin könnte verzichtet werden. Neben der Eröffnung des Anwendungsbereichs des Dogmas der Höchstwertigkeit des menschlichen Lebens in Konstellationen, in denen das menschliche Leben durch aktives Tun verkürzt wird – unabhängig davon, ob das mit dem Leben kollidierende Rechtsgut unterschiedlichen Rechtsguts­ trägern zuzuordnen ist oder eine Rechtsgüterbinnenkollision gegeben ist – offenbart die Diskussion um die indirekte Sterbehilfe jedoch auch, dass die herrschende Lehre, jedenfalls innerhalb enger Grenzen, Ausnahmen vom Grundsatz der Höchstwertigkeit des menschlichen Lebens zulässt. Zumindest sofern im Rahmen der Interessenabwägung nach § 34 StGB das Rechtsgut Leben mit der Menschenwürde kollidiert, räumen Rechtsprechung und herrschende Lehre der Menschenwürde als verfassungsrechtlichem Höchstwert den Vorrang vor dem Rechtsgut Leben ein. Die Anerkennung dieses Ausnahmetatbestands ist konsequent. Denn der von der herrschenden Meinung vertretenen, extensiven Deutung des Höchstwertigkeitsdogmas liegt die Annahme zugrunde, dass den Grundrechten und damit auch dem Grundrecht auf Leben innerhalb der Wertordnung des

108

Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

Grundgesetzes ein bestimmter abstrakter Rang (im Verhältnis zu anderen Grundrechten oder Verfassungswerten) zukommt und die Entscheidung jeder beliebigen – und somit auch jeder strafrechtlich relevanten – Interessenkollision zwischen dem menschlichen Leben und anderen Rechtsgütern oder Interessen dieses Rangverhältnis widerspiegeln muss. Der Menschenwürde (ebenso wie dem Interesse am Bestand des Staates oder dem Interesse am Bestand der freiheitlichen demokratischen Grundordnung) kommt jedoch – selbst unter Berücksichtigung der dem Höchstwertigkeitsdogma zugrundeliegenden generell-abstrakten Betrachtungsweise der Verfassung und ihrer Garantien – ein höherer Rang als dem menschlichen Leben zu. Des Weiteren ist die strafrechtliche Behandlung der indirekten Sterbehilfe durch die herrschende Meinung ein Anwendungsfall der verfassungskonformen Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe im Strafrecht: Indem die herrschende Meinung die indirekte Sterbehilfe durch Notstand rechtfertigt (bzw. die Erfolgszurechnung ablehnt), nimmt sie in der Sache eine verfassungskonforme Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs des „überwiegenden Interesses“ in § 34 StGB (bzw. des unbestimmten Rechtsbegriffs der objektiven Zurechnung) vor. Denn wie unter Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (a) (cc) näher darzulegen sein wird, gestattet die Verfassung nicht nur die Zulässigkeit der indirekten Sterbehilfe, sondern erzwingt diese sogar, da eine Strafbarkeit der indirekten Sterbehilfe den Moribunden gegen seinen Willen dazu zwingen würde, einen qualvollen Tod zu erleiden, was dessen Menschenwürde verletzen würde. Aufgrund des Vorrangs der Verfassung vor dem einfachen Recht hat dies zur Folge, dass dem Strafrichter bei der Beurteilung der indirekten Sterbehilfe kein Raum zur Vornahme einer (eigenen) Abwägung zwischen dem Rechtsgut Leben und dem hiermit kollidierenden Schmerzlinderungsinteresse mehr verbleibt. Er ist gezwungen, dieser verfassungsrechtlichen Wertentscheidung bei der Auslegung der §§ 212 (216) (34) StGB zur Wirksamkeit zu verhelfen und diese Vorschriften im Licht der andernfalls verletzten Menschenwürde dahingehend auszulegen, dass die indirekte Sterbehilfe zulässig (i. e. tatbestandslos oder gerechtfertigt) ist. Die Bezeichnung des Interesses des Moribunden an einem erträglichen Tod als Interesse an einem „Tod in Würde“ ist somit nicht nur ein rhetorischer Kunstgriff der herrschenden (Strafrechts-)Lehre, um die Straflosigkeit der indirekten Sterbehilfe – ein medizinethisch gebotenes und gesellschaftlich gewünschtes Ergebnis – zu rechtfertigen und dennoch das Höchstwertigkeitsdogma des menschlichen Lebens aufrecht erhalten zu können, das – zumindest unter Zugrundelegung der von der herrschenden Meinung vertretenen, extensiven Interpretation dieses Prinzips – von einer starren Hierarchie der Grundrechte und anderer Verfassungswerte ausgeht. Vielmehr erzwingt die Verfassung, die die Wertigkeit bzw. das Rangverhältnis mitei-



A. Behandlungspflichten des Arztes109

nander kollidierender Rechtsgüter bzw. Interessen nicht abstrakt, sondern konkret-individuell und damit kontextbezogen bestimmt68, für die konkrete Problematik der indirekten Sterbehilfe tatsächlich einen Vorrang der vom Patienten gewollten lebensverkürzenden Schmerzlinderung vor dem strafrechtlichen Lebensschutz. (bb) T  echnischer Behandlungsabbruch durch einen Nicht-Arzt („Fall Putz“69) (α) Falldarstellung Der vom BGH im Jahr 2010 entschiedene und in der Literatur auf große Resonanz gestoßene „Fall Putz“ betraf eine 76-jährige Patientin, die seit fünf Jahren im Wachkoma lag und in einem Pflegeheim liegend mittels einer PEG-Sonde über einen Zugang durch die Bauchdecke künstlich ernährt und hierdurch künstlich am Leben erhalten wurde. Kurz bevor die Patientin ins Koma gefallen war, hatte sie anlässlich einer lebensbedrohlichen Erkrankung ihres Ehemannes gegenüber ihrer Tochter, die später als Betreuerin ihrer Mutter bestellt wurde, geäussert, im Falle der Bewusstlosigkeit keine lebensverlängernden Maßnahmen in Form von künstlicher Ernährung und / oder Beatmung zu wünschen. Als eine Besserung der Patientin, die nach fünf Jahren im Wachkoma bei einer Größe von 1,59 cm auf 40 kg abgemagert war, nicht mehr zu erwarten war, entschieden sich der behandelnde Hausarzt, der keine Indikation für eine weitere Behandlung sah, und die zur Betreuerin bestellte Tochter zum Behandlungsabbruch und zur Einstellung der künstlichen Ernährung. In diesem Sinne verständigte man sich mit dem Pflegeheim darauf, dass die Betreuerin die Ernährung einstellen und die Palliativbehandlung durchführen sollte und das Pflegepersonal lediglich die Pflege im engeren Sinne übernehmen sollte. Nach kurzer Zeit intervenierte allerdings die Heimleitung, die mit dem Behandlungsabbruch nicht einverstanden war und forderte die Betreuerin auf, die künstliche Ernährung wieder aufzunehmen und drohte der Betreuerin mit Hausverbot sowie mit der eigenmächtigen Wiederaufnahme der künstlichen Ernährung. Der daraufhin von der Tochter konsultierte Rechtsanwalt riet dieser, den Schlauch der PEG-Sonde über der Bauchdecke durchzuschneiden; diesen Rat befolgte die Betreuerin. Obwohl die Patientin auf Veranlassung des Pflegeheims in ein Krankenhaus eingeliefert wurde, starb sie eines natürlichen Todes. 68  Di

Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 37 (43.  Lfg. 2004). 55, 191 ff. = NJW 2010, 2963 ff.

69  BGHSt

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

Das Landgericht sprach die Betreuerin wegen unvermeidbaren Verbotsirrtums frei und verurteilte den Rechtsanwalt aufgrund des Ratschlags, den Schlauch der PEG-Sonde durchzuschneiden, wegen versuchten gemeinschaftlichen Totschlags (§§ 212, 25 Abs. 2, 22 StGB). (β) D  arstellung der in Literatur und Rechtsprechung ­vertretenen Lösungsansätze Der BGH gelangte im oben geschilderten „Fall Putz“ zu der Auffassung, dass das Durchschneiden des Ernährungsschlauchs als aktives Tun zu qualifizieren sei und betrachtete den hierin liegenden Behandlungsabbruch durch den Rechtsanwalt (i. e. Nicht-Arzt) als gerechtfertigt.70 Zwar lehnte der BGH eine Notstandsrechtfertigung (§ 34 StGB) unter Hinweis auf die Höchstwertigkeit und hieraus folgende Abwägungsresistenz des Rechtsguts Leben ab.71 Auch eine Nothilferechtfertigung (§ 32 StGB) verneinte der BGH72: Zwar sei angesichts der rechtswidrigen Wiederaufnahme der Ernährung ein Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Patientin gegeben und somit auch eine Notwehrlage zu bejahen. Jedoch scheitere eine Nothilferechtfertigung des Zerschneidens des Schlauches daran, dass sich die Verteidigungshandlung nicht in erster Linie gegen die Rechtsgüter des Angreifers richte, sondern (mit dem Rechtsgut Leben des Patienten) vor allem gegen ein höchstrangiges, anderes Rechtsgut der Angegriffenen selbst. Der Eingriff in das Rechtsgut Leben der angegriffenen Person könne aber nicht durch Nothilfe gegen einen Angriff auf das Selbstbestimmungsrecht und die körperliche Unversehrtheit derselben Person gerechtfertigt sein. Jedoch betrachtete der BGH das Zerschneiden des Ernährungsschlauches, wodurch der tödlichen Grunderkrankung der Patientin ihr natürlicher Lauf gelassen wurde, als durch Einwilligung gerechtfertigt, weil ein antezipierter Verzicht der Patientin auf lebensverlängernde Maßnahmen existierte, der den Anforderungen der §§ 1901 a ff. BGB an einen zivilrechtlich zulässigen Behandlungsabbruch genügte und der – aufgrund der Tatsache, dass die §§ 1901 a ff. BGB eine verfahrensrechtliche Absicherung des Selbstbestimmungsrechts nicht mehr äußerungsfähiger Patienten enthalten – unter dem Aspekt der Einheit der Rechtsordnung im Strafrecht zu berücksichtigen sei73. Das verfassungsrechtlich verbürgte Selbstbestimmungsrecht (Art. 2 Abs. 2 S. 1, 1 Abs. 1 GG) gebiete es, den Behandlungsabbruch unter be70  BGHSt

55, 55, 72  BGHSt 55, 73  BGHSt 55, 71  BGHSt

191 191 191 191

= NJW 2010, 2963. (197) = NJW 2010, 2963 (2965). (197) = NJW 2010, 2963 (2965). (198 ff.) = NJW 2010, 2963 (2966).



A. Behandlungspflichten des Arztes111

stimmten, eng definierten – und im „Fall Putz“ eindeutig vorliegenden – Voraussetzungen im Wege der Einwilligung zu rechtfertigen.74 Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten legitimiere den Patienten, wenn auch nicht zur Veranlassung Dritter zu selbstständigen Eingriffen in das Leben ohne Zusammenhang zu einer medizinischen Behandlung, so doch zur Abwehr nicht gewollter Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit und in den unbeeinflussten Fortgang ihres Lebens und Sterbens.75 Vor dem Hintergrund dieser verfassungsrechtlichen Vorgaben sei der Behandlungsabbruch unter folgenden Voraussetzungen durch Einwilligung gerechtfertigt: Erstens müsse die einwilligende Person lebensbedrohlich erkrankt sein.76 Zweitens müsse die abgebrochene oder unterlassene Maßnahme zur Erhaltung oder Verlängerung des Lebens geeignet sein.77 Drittens müsse die in Frage stehende Handlung objektiv und subjektiv unmittelbar auf eine medizinische Behandlung bezogen sein (mit der Folge, dass nur der Abbruch oder das Unterlassen lebenserhaltender Maßnahmen sowie die „indirekte Sterbehilfe“ erfasst ist).78 Viertens müsse sich das in Frage stehende Handeln darauf beschränken, einen Zustand wiederherzustellen, der einem bereits begonnenen Krankheitsverlauf seinen Lauf lässt, indem zwar Leiden gelindert werden, die Krankheit jedoch nicht mehr behandelt wird und der Patient so letztlich seinem Sterben überlassen wird79; daher seien gezielte Eingriffe, die die Beendigung des Lebens vom Krankheitsprozess abkoppeln, nicht zulässig (z. B. Tötung durch Giftspritze)80. Seien diese Voraussetzungen – wie im „Fall Putz“ eindeutig der Fall – gegeben, so sei der Täter durch Einwilligung gerechtfertigt. Dies gelte unabhängig davon, ob der Behandlungsabbruch durch Tun oder Unterlassen verwirklicht werde.81 Ebenso irrelevant sei, ob der Behandlungsabbruch durch den behandelnden Arzt, Betreuer, Bevollmächtigten oder durch eine dritte Personen begangen werde, die vom behandelnden Arzt, Betreuer oder Bevollmächtigten für die Betreuung und Behandlung als Hilfspersonen hinzugezogen wurde82. In der Literatur ist diese Entscheidung des BGH insoweit begrüßt worden, als das Gericht die Beurteilung der Strafbarkeit eines Behandlungsabbruchs nicht von der äußeren Form des Behandlungsabbruchs (Tun oder Unterlassen) – und damit auch vom Vorhandensein einer ärztlichen Garan74  BGHSt

75  BGHSt 76  BGHSt 77  BGHSt 78  BGHSt 79  BGHSt 80  BGHSt 81  BGHSt 82  BGHSt

55, 55, 55, 55, 55, 55, 55, 55, 55,

191 191 191 191 191 191 191 191 191

(204) = NJW 2010, 2963 (2967). (204) = NJW 2010, 2963 (2967). (204) = NJW 2010, 2963 (2967). = NJW 2010, 2963. (204) = NJW 2010, 2963 (2967). (204 f.) = NJW 2010, 2963 (2967). (204 f.) = NJW 2010, 2963 (2967). (205) = NJW 2010, 2963 (2967). (205 f.) = NJW 2010, 2963 (2968).

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

tenstellung bei der das Selbstbestimmungsrecht des Patienten durchsetzenden Person – abhängig macht, sondern die Grenzen der erlaubten Sterbehilfe strikt an den Vorgaben des verfassungsrechtlich garantierten Selbstbestimmungsrechts des Patienten (Art. 2 Abs. 2 S. 1, 1 Abs. 1 GG) orientiert83. Während das Ergebnis der Entscheidung uneingeschränkt positiv aufgenommen wurde, beklagt die Literatur in Bezug auf die Entscheidungsbegründung konstruktive Mängel sowie Unklarheiten: Zu den Unklarheiten der Entscheidung werden die Ausführungen des BGH zur Bedeutung der Einhaltung der betreuungsrechtlichen Verfahrensvorschriften für die Rechtfertigung und die Ausführungen des Gerichts zur Beschränkung der Möglichkeit der (Einwilligungs-)Rechtfertigung auf die im Urteil genannten Personen gezählt. Es wird in der Literatur nämlich bezweifelt, dass die Einhaltung der betreuungsrechtlichen Verfahrensvorschriften für die Rechtfertigung der Behandlungsbeendigung zwingend erforderlich ist, da der Verstoß gegen das Betreuungsrecht alleine kein Tötungsunrecht begründen könne84. Auch wird angezweifelt, dass – was die Entscheidungsbegründung nahezulegen scheint – sich ausschließlich die im Urteil genannten Personen (Betreuer, Arzt, Bevollmächtigter sowie deren Hilfspersonen) auf eine Einwilligungsrechtfertigung berufen können, da den rechtswidrigen Zustand, der in der Behandlung entgegen dem Patientenwillen liegt, jedermann – ohne sich eines Tötungsdelikts strafbar zu machen – beenden können müsse.85 In dogmatischer Hinsicht ist die vom BGH gewählte Einwilligungskonstruktion Gegenstand heftiger Kritik. So werden dem BGH im Zusammenhang mit § 216 StGB Begründungsdefizite vorgeworfen. Zwar ließe sich hinsichtlich des (vorliegend in Frage stehenden) Behandlungsabbruchs ein Dispens von der Einwilligungssperre des § 216 StGB problemlos begründen, sofern man § 216 StGB im Licht des zugunsten des Behandlungsab83  Dölling, ZIS 2011, 345 (347); Duttge, MedR 2011, 36 (36); Eidam, GA 2011, 232 (238); Engländer, JZ 2011, 513 (516); Fischer, Bucerius Law Journal 2011, 1 (2); Gaede, NJW 2010, 2925 (2926); Hillenkamp, in: Anderheiden/Eckard, Handbuch Sterben und Menschenwürde, Bd. 1, S. 349 (367 ff.); Knauer/Brose, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 216 StGB, Rn. 15; Kubiciel, ZJS 2010, 656 (660); ders., Ad Legendum 2011, 361 (367); Rengier, Strafrecht BT, Bd. 2, § 7, Rn. 7 b; Rissing-Van Saan, ZIS 2011, 544 (547); Rosenau, in: Festschrift für Rissing-van Saan, S. 547 (557); Streng, in: Festschrift für Frisch, S. 739 ff.; Uhlig/Joerden, Ad Legendum 2011, 369 (374); Walter, ZIS 2011, 76 (79); Wessels/Hettinger, Strafrecht BT, Bd. 1, Rn.  30 d; Wolfslast/Weinrich, StV 2011, 286 (286). 84  Dölling, ZIS 2011, 345 (348); Engländer, JZ 2011, 513 (519); Hirsch, JR 2011, 37 (39); Uhlig/Joerden, Ad Legendum 2011, 369 (375); Verrel, NStZ 2010, 671 (674); Wolfslast/Weinrich, StV 2011, 286. 85  Engländer, JZ 2011, 513 (519); Verrel, NStZ 2010, 671 (674).



A. Behandlungspflichten des Arztes113

bruchs streitenden Selbstbestimmungsrechts des Patienten auslege.86 Jedoch lasse der BGH entsprechende Erwägungen in seiner Urteilsbegründung vermissen, weshalb unklar bleibe, aus welchem Grund das Gericht die von ihm angenommene Einwilligung nicht an § 216 StGB scheitern lasse.87 Des Weiteren wird im Schrifttum zunehmend die Auffassung vertreten, dass eine Tatbestandslösung gegenüber der vom BGH gewählten Einwilligungslösung auf der Rechtfertigungsebene vorzuziehen gewesen wäre.88 Da die künstliche Ernährung entgegen dem Patientenwillen und somit aufgrund des Verstoßes gegen das Selbstbestimmungsrecht des Patienten rechtswidrig erfolgt war, benötige der rechtmäßige Verhältnisse (wieder-) herstellende Behandlungsabbruch (im Gegensatz zur Fortsetzung der Behandlung) keiner Einwilligung; dies solle die Verneinung des objektiven Tatbestands mangels Zurechenbarkeit des tatbestandsmäßigen Erfolgs zur Konsequenz haben.89 Kritik wird auch an der Begründung geübt, mit welcher der BGH eine Notstandsrechtfertigung ablehnt. Die Verneinung des § 34 StGB, die der BGH mit der Höchstwertigkeit (und daraus folgenden Abwägungsresistenz) des Rechtsguts Leben begründet, sei inkonsequent, da der Senat die Straflosigkeit des technischen Behandlungsabbruchs durch Nicht-Ärzte letztlich im Wege einer Einwilligungsrechtfertigung begründet habe, die ebenfalls hätte scheitern müssen, wenn man das menschliche Leben als Höchstwert (und somit als dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten übergeordneten Wert) ansieht.90 Diese Kritik liegt ganz auf der Linie der insbesondere von C. Schneider91 und H. Schneider92 vertretenen Auffassung: Diese plädierte bereits Jahre vor der Entscheidung des „Fall Putz“ durch den BGH dafür, den technischen Behandlungsabbruch durch einen in Übereinstimmung mit dem Patientenwillen handelnden Nicht-Arzt als durch aktives Tun begange86  Duttge, MedR 2011, 36 (37 f.); Eidam, GA 2011, 232 (241); Uhlig/Joerden, Ad Legendum 2011, 369 (374). 87  Duttge, MedR 2011, 36 (37 f.); Eidam, GA 2011, 232 (241). 88  Engländer, JZ 2011, 513 (518); Gaede, NJW 2010, 2925 (2927 f.); Kubiciel, Ad Legendum 2011, 361 (367 f.); Rissing-van Saan, ZIS 2011, 544 (549 f.); Wessels/ Hettinger, Strafrecht BT, Bd. 1, Rn. 30 d; Uhlig/Joerden, Ad Legendum 2011, 369 (374 f.). 89  Engländer, JZ 2011, 513 (518); Gaede, NJW 2010, 2925 (2927 f.); Kubiciel, Ad Legendum 2011, 361 (367 f.); Rissing-van Saan, ZIS 2011, 544 (549 f.); Wessels/ Hettinger, Strafrecht BT, Bd. 1, Rn. 30 d; Uhlig/Joerden, Ad Legendum 2011, 369 (374 f.). 90  Kubiciel, ZJS 2010, 656 (660). 91  C. Schneider, Tun und Unterlassen beim Abbruch lebenserhaltender medizinischer Behandlung, S. 298 f. 92  H. Schneider, in: MüKo, StGB, Βd. 4, Vor §§ 211 ff., Rn. 174 f., 122.

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

nen Totschlag einzuordnen, der durch Notstand gerechtfertigt ist.93 Zur Begründung rekurriert diese Auffassung auf das verfassungsrechtlich verbürgte Selbstbestimmungsrecht des schwerkranken Patienten, das für die Befreiung von einer nicht gewollten ärztlichen Intervention streite und dem der Vorrang gegenüber einer nicht gewollten Lebensverlängerung einzuräumen sei, da die kollidierenden Rechtsgüter in der vorliegenden Fallkonstellation demselben Rechtsgutsträger zuzurechnen seien; zusätzlich wird das Argument vorgebracht, dass die Rechtsordnung an verschiedenen Stellen durchaus Relativierungen des Lebensschutzes zulasse, Eigenverantwortlichkeit ein wesentliches Prinzip unseres Rechtssystems sei und in § 34 StGB von Interessen und nicht von Rechtsgütern die Rede sei.94 (γ) A  nalyse der in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Lösungsansätze Die rechtliche Bewertung des „Fall Putz“ durch den BGH und die Literatur bestätigt die (aus der Analyse der zur indirekten Sterbehilfe vertretenen Meinungen, vgl. Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (1) (a) (aa)) schon bekannte Erkenntnis, dass sich nach Auffassung der herrschenden Meinung das Rechtsgut Leben, selbst wenn es als Eingriffsgut berührt ist und durch aktives Tun beeinträchtigt wird, nicht zwingend gegenüber jedem kollidierenden Rechtsgut bzw. Interesse durchzusetzen vermag. Weitergehend zeigt sich, dass nach Auffassung der herrschenden Meinung das menschliche Leben, auch wenn es (als Eingriffsgut) durch aktives Tun beeinträchtigt wird, selbst dann nicht immer Vorrang vor kollidierenden Rechtsgütern desselben Rechtsgutsinhabers hat, wenn das kollidierende Rechtsgut – wie das Selbstbestimmungsrecht des Patienten im Fall des technischen Behandlungsabbruchs durch Nicht-Ärzte – unterhalb des verfassungsrechtlichen Höchstwerts der Menschenwürde zu verorten ist und bei abstrakter Betrachtungsweise sogar unterhalb des menschlichen Lebens anzusiedeln ist. Eine Posteriorisierung des menschlichen Lebens hinter dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten ist mit dem Dogma der Höchstwertigkeit und Abwägungsresistenz des menschlichen Lebens – sofern man diesen Grundsatz mit der herrschenden Meinung extensiv auslegt und nicht 93  C. Schneider, Tun und Unterlassen beim Abbruch lebenserhaltender medizinischer Behandlung, S. 298 f.; H. Schneider, in: MüKo, StGB, Βd. 4, Vor §§ 211 ff., Rn. 122; ähnlich: LG Ravensburg NStZ 1987, 229 ff. (worin die Straflosigkeit des durch einen Nicht-Arzt durchgeführten Behandlungsabbruchs über einen nicht näher bezeichneten Rechtfertigungsgrund begründet wird). 94  C. Schneider, Tun und Unterlassen beim Abbruch lebenserhaltender medizinischer Behandlung, S. 298 f.; H. Schneider, in: MüKo, StGB, Βd. 4, Vor §§ 211 ff., Rn. 122.



A. Behandlungspflichten des Arztes115

nur mit einer Mindermeinung als Verbot zum Zwang der solidarischen Aufopferung des eigenen Lebens interpretiert – unter keinen Umständen zu vereinbaren. Denn unter Zugrundelegung der herrschenden Interpretation des Höchstwertigkeitkeitsdogmas liegt diesem Prinzip die Annahme zugrunde, dass den Grundrechten und damit auch dem Grundrecht auf Leben innerhalb der Wertordnung des Grundgesetzes ein bestimmter abstrakter Wert und Rang (im Verhältnis zu anderen Grundrechten und Verfassungswerten) zukommt und dass die Entscheidung jeder beliebigen – und somit auch jeder strafrechtlich relevanten – Interessenkollision zwischen dem menschlichen Leben und anderen Rechtsgütern dieses abstrakte Wert- und Rangverhältnis widerspiegeln muss. Daher sind Vertreter der herrschenden extensiven Interpretation des Höchstwertigkeitsdogmas der Auffassung, dass das menschliche Leben allenfalls durch einen anderen Verfassungshöchstwert, wie die Menschenwürde und das Interesse am Bestand des Staates oder der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, überwogen werden kann95. Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten wird hingegen nicht zu den Verfassungshöchstwerten gezählt, die das menschliche Leben zu überwiegen vermögen, auch nicht der Menschenwürdekern des Selbstbestimmungsrechts des Patienten. Dies spiegelt sich in der Argumentation von BGH und herrschender Lehre wider, mit der diese eine Notstandsrechtfertigung des technischen Behandlungsabbruchs durch Nicht-Ärzte ablehnen. Denn obwohl der BGH und die herrschende Lehre konzedieren, dass das verfassungsrechtlich verbürgte Selbstbestimmungsrecht eine Legitimierung des technischen Behandlungsabbruchs durch Nicht-Ärzte (zumindest in der oben beschriebenen Konstellation) erzwingt, lehnen diese eine Notstandsrechtfertigung unter Verweis auf die Höchstwertigkeit des menschlichen Lebens explizit ab. Dass der technische Behandlungsabbruch durch Nicht-Ärzte (zumindest in der oben beschriebenen Konstellation) dennoch keine rechtswidrige Tötung darstellt, rechtfertigen der – für eine Einwilligungsrechtfertigung dieser Problematik eintretende – BGH und die – ebenfalls mehrheitlich für eine Einwilligungsrechtfertigung bzw. teils auch für einen Zurechnungsausschluss plädierende – Lehre, indem sie den Anwendungsbereich des Höchstwertigkeitsdogmas auf § 34 StGB beschränken. Dies hat zur Folge, dass dieser Grundsatz weder für die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe im Rechtfertigungstatbestand der Einwilligung noch für die Auslegung des unbestimmten Tatbestandsmerkmals der objektiven Zurechnung Geltung beansprucht. Denn bei konsequenter Anwendung des Höchstwertigkeitsdogmas hätten der BGH und die herrschende Lehre nicht nur eine Notstandsrechtfertigung des technischen Behandlungsabbruchs durch Nicht95  Krey/Esser, Deutsches Strafrecht AT, § 15, Rn. 606, wohl auch: Kühl, Strafrecht AT, § 8, Rn. 113.

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

Ärzte an der Höchstwertigkeit bzw. Abwägungsresistenz des Rechtsguts Leben scheitern lassen müssen. Auch der von BGH und einem großen Teil der Lehre gewählte Lösungsweg, die durch das Selbstbestimmungsrecht des Patienten gebotene Zulässigkeit des technischen Behandlungsabbruchs durch Nicht-Ärzte über eine Einwilligung zu rechtfertigen, wäre durch das Höchstwertigkeitsdogma versperrt gewesen; nichts anderes hätte für den von manchen Autoren eingeschlagenen Weg gegolten, unter Verweis auf das Selbstbestimmungsrecht des Patienten die objektive Zurechnung abzulehnen.96 Die Posteriorisierung des Rechtsguts Leben, für die der BGH und die ganz herrschende Lehre im Hinblick auf den technischen Behandlungsabbruch durch Nicht-Ärzte eintreten, wird über eine verfassungskonforme Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe im Strafrecht begründet: Der BGH und die ganz herrschende Lehre vertreten die aus verfassungsrechtlicher Perspektive zutreffende (und unter Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (a) (dd) näher begründete) Auffassung, der unabwägbare Menschenwürdekern des Selbstbestimmungsrecht des Patienten stehe einer Pönalisierung eines durch Tun oder Unterlassen bewirkten Behandlungsabbruchs zwingend entgegen und zwar selbst dann, wenn dieser nicht durch den behandelnden Arzt, sondern durch den Betreuer, den Bevollmächtigten oder durch Hilfspersonen des Arztes, des Betreuers oder des Bevollmächtigten vorgenommen wird. Voraussetzung für eine durch das verfassungsrechtlich verbürgte Selbstbestimmungsrecht erzwungene Zulässigkeit des technischen Behandlungsabbruchs ist, dass der Behandlungsabbruch dem tatsächlichen, mutmaßlichen oder antezipierten Patientenwillen entspricht. Hierfür ist bei äußerungsunfähigen Patienten jedenfalls dann auszugehen, wenn unter Berücksichtigung der betreuungsrechtlichen Verfahrensvorschriften zur Ermittlung des Patientenwillens bei äußerungsunfähigen Personen (§§ 1901 a ff. BGB) ein entsprechender Wille ermittelt wurde. Liegen diese Voraussetzungen vor, so betrachten der BGH und große Teile der Lehre den technischen Behandlungsabbruch durch Nicht-Ärzte als durch Einwilligung gerechtfertigt. Hingegen lehnt eine im Vordringen befindliche Literaturauffassung (unter den gleichen Voraussetzungen wie BGH und herrschende Lehre) unter Verweis auf das einer Strafbarkeit entgegenstehende Selbstbestimmungsrecht die objektive Zurechenbarkeit ab und gelangt so zu einer Straflosigkeit des technischen Behandlungsabbruchs durch Nicht-Ärzte. Der BGH und die herrschende Lehre interpretieren also die Einwilligungsvoraussetzungen, insbesondere die wertungsoffene Voraussetzung der „Disponibilität des verletzten Rechtsguts“, die bei Eingriffen ins Rechtsgut Leben im Regelfall zu verneinen ist, sowie § 216 StGB im Lichte des (im Falle der Unzulässigkeit des techni96  Kubiciel,

ZJS 2010, 656 (660).



A. Behandlungspflichten des Arztes117

schen Behandlungsabbruchs durch Nicht-Ärzte verletzten) grundrechtlich verbürgten Selbstbestimmungsrechts des Patienten. Dagegen legt die im Vordringen befindliche Literaturauffassung die objektive Zurechnung im Licht derselben grundrechtlichen Verbürgung aus. Auch C. Schneider97 und H. Schneider98, die bereits vor der Entscheidung des BGH vom 25.06.2010 („Fall Putz“) für eine Notstandsrechtfertigung des technischen Behandlungsabbruchs durch Nicht-Ärzte eingetreten sind, begründen ihr Ergebnis über eine verfassungskonforme Auslegung, indem sie den unbestimmten Rechtsbegriff des „überwiegenden Interesses“ in § 34 StGB im Licht des Selbstbestimmungsrechts des Patienten interpretieren und dem verfassungsrechtlich verbürgten Selbstbestimmungsrecht den Vorrang vor dem – in dieser Konstellation nicht als Höchstwert berührten – Rechtsgut Leben einräumen.99 (b) K  ollision zwischen unterschiedlichen Trägern ­zuzuordnenden Rechtgütern / Interessen (aa) N  otwehr zur Verteidigung gegen nicht-lebensbedrohliche Angriffe mit tödlichen Folgen für den Angreifer (α) Fallkonstellation Auf einen gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff auf die körperliche Unversehrtheit, das sexuelle Selbstbestimmungsrecht, die Freiheit bzw. nicht unerhebliche Eigentumswerte reagiert das Angriffsopfer bzw. ein hilfsbereiter Dritter – in Ermangelung weniger einschneidender Abwehrmittel – mit Verteidigungsmaßnahmen, die das Leben des Angreifers gefährden. Hierdurch gelingt es, den Angriff erfolgreich abzuwehren. Jedoch endet die Verteidigung für den Angreifer tödlich, was der Verteidiger zwar nicht bezweckt, aber billigend in Kauf genommen oder zumindest vorhergesehen hatte.

97  C. Schneider, Tun und Unterlassen beim Abbruch lebenserhaltender medizinischer Behandlung, S. 245 ff. 98  H. Schneider, in: MüKo, StGB, Βd. 4, Vor §§ 211 ff., Rn. 122. 99  Ch. Schneider, Tun und Unterlassen beim Abbruch lebenserhaltender medizinischer Behandlung, S. 245 ff.; H. Schneider, in: MüKo, StGB, Βd. 4, Vor §§ 211 ff., Rn. 122.

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

(β) D  arstellung der in Literatur und Rechtsprechung ­vertretenen Lösungsansätze Im Hinblick auf die Frage nach der Zulässigkeit von das Leben des Angreifers gefährdenden Notwehrmaßnahmen zur Verteidigung gegen nichtlebensbedrohliche Angriffe ist zu differenzieren zwischen solchen Maßnahmen, die der Abwehr von (nicht-lebensbedrohlichen) Angriffen auf Personenwerte zu dienen bestimmt sind und solchen, die einen Angriff auf Sach­ interessen abzuwehren bezwecken: Völlig unstrittig ist, dass zur Verteidigung gegen gegenwärtige, rechtswidrige Angriffe auf Personenwerte notfalls auch tödlich wirkende Maßnahmen zulässig sind (und die Verteidigungshandlung somit nicht als rechtswidriges Tötungsdelikt zu qualifizieren ist), selbst dann, wenn der angegriffene Personenwert – bei abstrakter Betrachtungsweise – hinter dem menschlichen Leben rangiert, wie z. B. die körperliche Unversehrtheit, das sexuelle Selbstbestimmungsrecht, die Freiheit. Zur Begründung wird zumeist auf das der Notwehr zugrunde liegende Rechtsbewährungsinteresse („Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen.“) verwiesen. Erb zieht die Grundrechte zur Begründung heran: Einschränkungen des Notwehrrechts seien an der Abwehrdimension der Grundrechte (die durch den Angriff berührt sind) zu messen, da der Staat mit der Einschränkung des Notwehrrechts durch massiven staatlichen Zwang darauf hinwirke, dass die Verteidigung gegen den Angriff unterbleibt und das angegriffene Rechtsgut der Vernichtung preisgegeben wird.100 Vor diesem Hintergrund stelle es einen nicht zu rechtfertigenden staatlichen Eingriff in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit, das allgemeine Persönlichkeitsrecht etc. und somit eine Verletzung dieser Grundrechte dar, dem Angegriffenen oder einem Dritten zum Tode führende Notwehrmittel zu versagen, obwohl diese erforderlich sind, um sich gegen einen gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff auf die körperliche Unversehrtheit, das sexuelle Selbstbestimmungsrecht etc. effektiv zur Wehr zu setzen.101 Ob die Mehrzahl der Vertreter dieser herrschenden Notwehrdogmatik die überzeugende Argumentation Erbs befürwortet, wonach es verfassungsrechtlich nicht nur zulässig, sondern vielmehr auch zwingend ist, das Leben des Angreifers gefährdende Verteidigungsmaßnahmen zur Abwehr gegenwärtiger, rechtswidriger Angriffe auf (bei abstrakter Betrachtungsweise) unterhalb des menschlichen Lebens rangierende Personenwerte (körperliche Unversehrtheit / Freiheit etc.) durch Notwehr zu legitimieren, ist unklar. Jedenfalls 100  Erb, 101  Erb,

NStZ 2005, 593 (594). NStZ 2005, 593 (597).



A. Behandlungspflichten des Arztes119

aber ist unstreitig, dass das Grundrecht auf Leben durch die Zubilligung tödlicher Notwehrrechte zur Verteidigung gegenüber einem gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff auf Personenwerte nicht verletzt wird. Während Notwehrmaßnahmen mit tödlichen Folgen für den Angreifer zur Abwehr nicht-lebensbedrohlicher Angriffe auf Personenwerte unstrittig gerechtfertigt sind, gelten tödlich wirkende Verteidigungsmittel, wenn sie zur Abwehr eines gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriffs auf Sachwerte eingesetzt werden, zumindest bei einer überwiegend vertretenen Auffassung102 als zulässig. Der Umstand, dass das Leben des Angreifers gefährdende Maßnahmen zur Verteidigung von Sachwerten eingesetzt werden, führt nach herrschender Meinung nicht zur Ablehnung der Gebotenheit der Notwehr (etwa unter dem Aspekt des groben Missverhältnisses zwischen angegriffenem Rechtsgut und Verteidigungshandlung). Lediglich eine Mindermeinung103 verneint die Gebotenheit der Notwehr, weil der Staat durch die Zubilligung das Leben gefährdender Notwehrbefugnisse zur Verteidigung von Angriffen auf Sachwerte seine staatlichen Schutzpflichten zugunsten des menschlichen Lebens verletze. Die herrschende Meinung104 hingegen lehnt die Gebotenheit der Notwehr nur für die Ausnahmekonstellation ab, dass der Sachwert unbedeutend ist und sieht in der Verteidigung von Sachwerten mit für den Angreifer tödlichen Notwehrmitteln grundsätzlich kein Missverhältnis zwischen angegriffenem Rechtsgut und Verteidigungshandlung.105 Zur Begründung wird von einigen Autoren auf das Grundrecht auf Eigentum verwiesen, das die Verteidigung von Sachgütern mit lebensgefähr102  Bülte, GA 2011, 145 ff.; Erb, NStZ 2005, 593 ff.; Fischer, StGB, § 32, Rn. 39; Günther, in: SK, StGB, Bd. 1, § 32, Rn. 115 (31. Lfg. 7. Aufl. 1999); Herzog, in: NK, StGB, Bd. 1, § 32, Rn. 111  f.; Krey/Esser, Deutsches Strafrecht AT, § 14, Rn. 543; Rengier, Strafrecht AT, § 18, Rn. 57 ff.; Roxin, Strafrecht AT, Bd. 1, § 15, Rn.  83 ff.; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, § 8, Rn. 343 f.; differenzierend: Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht, S. 612 f. 103  Bernsmann, ZStW 104 (1992), 290 (315, 323); Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, § 32, Rn. 50. 104  Bülte, GA 2011, 145 ff.; Erb, NStZ 2005, 593 ff.; Fischer, StGB, § 32, Rn. 39; Günther, in: SK, StGB, Bd. 1, § 32, Rn. 115 (31. Lfg. 7. Aufl. 1999); Herzog, in: NK, StGB, Bd. 1, § 32, Rn. 111  f.; Krey/Esser, Deutsches Strafrecht AT, § 14, Rn. 543; Rengier, Strafrecht AT, § 18, Rn. 57 ff.; Roxin, Strafrecht AT, Bd. 1, § 15, Rn.  83 ff.; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, § 8, Rn. 343 f. 105  Erb, NStZ 2005, 593 ff.; Fischer, StGB, § 32, Rn. 39; Herzog, in: NK, StGB, Bd. 1, § 32, Rn. 111 f.; Krey/Esser, Deutsches Strafrecht AT, § 14, Rn. 546; Rengier, Strafrecht AT, § 18, Rn. 57 ff.; Roxin, Strafrecht AT, Bd. 1, § 15, Rn. 83 ff.; Wessels/ Beulke, Strafrecht AT, § 8, Rn. 343 f.; restriktiver: Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht, S. 612 f., wonach tödliche Notwehrmaßnahmen zur Verteidigung von Vermögen und Eigentum nur zulässig sind, sofern es sich um wertvolle Güter handelt.

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

lichen Mitteln schütze106. So argumentiert Erb, es gehe zu weit, lebensgefährliche Notwehrmaßnahmen bei Angriffen auf Sachwerte grundsätzlich auszuschließen; jedenfalls wo un­ersetzliche Sachwerte betroffen seien, sei keine Legitimation ersichtlich, diese durch ein Notwehrverbot de facto zu konfiszieren, um den Angreifer vor Beeinträchtigungen zu schützen, die er aufgrund seines rechtswidrigen Angriffs selbst zu verantworten habe, selbst wenn es dadurch um sein Leben gehe.107 Auch wenn die herrschende Meinung dieser Auffassung nicht explizit zustimmt, sieht sie doch in der Gewährung tödlicher Notwehrrechte zur Verteidigung von Sachwerten – außer wenn nur unbedeutende Sachwerte b ­etroffen sind – keine Verletzung der grundrechtlichen Schutzpflichten zugunsten des menschlichen Lebens. Auch die EMRK gebietet nach Auffassung der herrschenden Meinung keine Auslegung des § 32 StGB dahingehend, dass lebensgefährliche Notwehrmaßnahmen zur Verteidigung von Sachwerten unzulässig sind; zwar verbiete Art. 2 Abs. 2 a EMRK eine absichtliche Tötung zur Rettung von Sachwerten, unabhängig davon, welchen Wert der Sachwert hat, jedoch könne hieraus nicht abgeleitet werden, dass eine Tötung zur Bewahrung eines Sachwerts durch einen Notwehrtäter unzulässig sei, da sich diese Vorschrift alleine an Hoheitsträger richtet und nicht das Verhältnis der Staatsbürger untereinander regelt.108 (γ) A  nalyse der in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Lösungsansätze Wenn die herrschende Meinung für eine Notwehrrechtfertigung bei einer zum Tod des Angreifers führenden Verteidigung plädiert, stellt sie die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, die Freiheit, das Eigentum (Ausnahme: Bagatellangriffe) etc. über das menschliche Leben. Sie räumt also Rechtsgütern, die bei abstrakter Betrachtungsweise unterhalb des menschlichen Lebens anzusiedeln sind, den Vorrang vor dem (als Eingriffsgut tangierten) menschlichen Leben ein, sofern diese Rechtsgüter durch einen gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff bedroht werden und der Zugriff auf das menschliche Leben zur effektiven Abwehr des Angriffs unerlässlich ist. Zur Begründung wird teils sogar explizit darauf verwiesen, dass eine Verneinung des § 32 StGB bei tödlichen Verteidigungshandlungen zur Ab106  Erb, NStZ 2005, 593 (597); Günther, in: SK, StGB, § 32, Rn. 116 (31. Lfg. 7. Aufl. 1999); Krey/Esser, Deutsches Strafrecht AT, § 14, Rn. 546. 107  Erb, NStZ 2005, 593 (597). 108  Fischer, StGB, § 32, Rn. 40; Günther, in: SK, StGB, Βd. 1, § 32, Rn. 117 (31. Lfg. 7. Aufl. 1999); Rengier, Strafrecht AT, § 18, Rn. 60; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, § 8, Rn. 343 f.



A. Behandlungspflichten des Arztes121

wehr eines gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriffs auf die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum etc. den Angegriffenen in seinem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit, seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht, seiner Eigentumsfreiheit etc. verletzen würde. Zumindest aber gilt die als herrschend anerkannte Notwehrdogmatik im Hinblick auf den durch Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gebotenen Lebensschutz als nicht zu beanstanden, selbst wenn diese Dogmatik nicht durch die Abwehrdimension des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit etc. als erzwungen betrachtet wird. Wie unter Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (bb) näher dargelegt werden soll, sind diese Auffassungen aus verfassungsrechtlicher Perspektive vertretbar. Insofern stellt sich die von der herrschenden Meinung in der beschriebenen Konstellation befürwortete Notwehrrechtfertigung und die hiermit einhergehende Posteriorisierung des (als Eingriffsgut berührten) menschlichen Lebens hinter der / dem (als Erhaltungsgut tangierten) körperlichen Unversehrtheit, sexuellen Selbstbestimmung, Eigentum etc. (mit der Folge der Notwehrrechtfertigung) als Anwendungsfall einer verfassungskonformen Auslegung des Strafrechts dar (sofern man die Posteriorisierung des Rechtsguts Leben hinter den Rechtsgütern körperliche Unversehrtheit etc. als verfassungsrechtlich zwingend betrachtet). Zumindest aber ist hierin eine verfassungsorientierte Auslegung des Strafrechts zu erblicken (sofern man die Posteriorisierung des Rechtsguts Leben hinter den Rechtsgütern körperliche Unversehrtheit etc. zwar nicht als verfassungsrechtlich zwingend, aber als verfassungsrechtlich zulässig betrachtet). Des Weiteren zeigt die Analyse der Auffassungen, die zur Fallgruppe der Verteidigung nicht-lebensbedrohlicher Angriffe mit tödlichen Folgen für den Angreifer vertreten werden, dass der Anwendungsbereich des Höchstwertigkeitsdogmas nach Auffassung der herrschenden Meinung, für die Auslegung des § 32 StGB – zumindest für Konstellationen, in denen das menschliche Leben als Eingriffsgut berührt ist – keine Anwendung findet. Eine Posteriorisierung des (als Eingriffsgut berührten) menschlichen Lebens hinter den Rechtsgütern körperliche Unversehrtheit, Freiheit, sexuelle Selbstbestimmung oder Eigentum wäre mit einer konsequenten Anwendung dieses Prinzips auf § 32 StGB nicht zu vereinbaren: Wie bereits dargestellt, kann das menschliche Leben im Anwendungsbereich des Höchstwertigkeitsdogmas lediglich durch andere Verfassungshöchstwerte (Menschenwürde, Interesse am Bestand des Staates etc.) überwogen werden; offenkundig repräsentieren aber weder die körperliche Unversehrtheit, noch die Freiheit, die sexuelle Selbstbestimmung oder das Eigentum einen solchen Verfassungshöchstwert. Das gleiche gilt für den Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen. Auch dessen Anwendungsbereich ist nach herrschender Meinung im Hinblick auf § 32 StGB für Konstellationen, in denen der Per-

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

sonenwert als Eingriffsgut und das Sachinteresse als Erhaltungsgut berührt ist, nicht eröffnet. Denn nach herrschender Meinung sind das Leben des Angreifers (Eingriffsgut) gefährdende Notwehrmittel sogar zur Verteidigung von Sachinteressen (Erhaltungsgut) grundsätzlich zulässig (Ausnahme: bei Angriffen auf unbedeutende Sachwerte). Dies ist mit einer Geltung des Grundsatzes vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen nicht zu vereinbaren. Die Voraussetzungen des allgemein anerkannten Ausnahmetatbestands von diesem Prinzip, dass Personenwerte vor Sachinteressen ausnahmsweise keine Priorität haben, wenn nur eine geringe Beeinträchtigung der Rechtsgüter Gesundheit oder Freiheit droht, während immense Sachwerte auf dem Spiel stehen, sind im Hinblick auf die vorliegend in Frage stehende Fallkonstellation (tödliche Notwehrmaßnahmen zur Verteidigung von Sachwerten) offenkundig nicht gegeben. (2) Lebensverkürzendes Unterlassen (Leben als Eingriffsgut) (a) Rechtgüterbinnenkollision (aa) Passive Sterbehilfe beim entscheidungsfähigen Patienten (α) Falldarstellung Die Problematik der sog. passiven Sterbehilfe beim entscheidungsfähigen Patienten (einverständlicher Behandlungsverzicht) ist dadurch gekennzeichnet, dass bei einem Sterbenden (passive Sterbehilfe im engeren Sinne) oder bei einem ansprechbaren und zurechnungsfähigen Todkranken (passive Sterbehilfe im weiteren Sinne) lebensverlängernde Maßnahmen auf ausdrücklichen Wunsch des Patienten unterlassen werden. (β) D  arstellung der in Literatur und Rechtsprechung ­vertretenen Lösungsansätze Es besteht Einigkeit, dass die passive Sterbehilfe beim entscheidungsfähigen Patienten jedenfalls dann straflos ist, wenn der Sterbeprozess schon begonnen hat.109 Nach zutreffender herrschender Meinung110 ist die passive 109  BGHSt 55, 191 ff. = NJW 2010, 2963 ff.; Dreier, JZ 2007, 317 (322 f.); Eser, in: Schönke/Schröder, StGB, Vor § 211, Rn. 28; Fischer, StGB, Vor §§ 211–216, Rn. 42; Geilen, Euthanasie und Selbstbestimmung, S. 12 f.; Horn, in: SK, StGB, 2012, Rn. 26 b (50. Lfg. 6. Aufl. April 2000); Ingelfinger, Grundlagen und Grenzbereiche des Tötungsverbots, S. 306 ff.; Kaufmann, Festschrift für Roxin zum 70. Geburtstag, S. 841 (849); Kühl, Jura 2009, 881 (885); ders., in: Lackner/Kühl, StGB, Vor. § 211, Rn. 8; Neumann, in: NK, StGB, Bd. 2, Vor § 211, Rn. 105 ff.; Roxin, in:



A. Behandlungspflichten des Arztes123

Sterbehilfe jedoch auch schon vor Beginn des Sterbeprozesses straflos, zumindest wenn eine ausdrückliche Einwilligung des Patienten vorliegt. Begründet wird die Straflosigkeit der passiven Sterbehilfe beim entscheidungsfähigen Patienten zumeist mit dem Argument, dass eine Strafbarkeit darauf hinauslaufen würde, den Patienten zur Duldung lebensrettender, in der Regel invasiver Maßnahmen (Operationen etc.) zu zwingen.111 Ein derartiger Behandlungszwang wäre jedoch mit dem verfassungsrechtlich verbürgten Selbstbestimmungsrecht des Patienten (Art. 2 Abs. 2 S. 1, Art. 1 Abs. 1 GG) nicht vereinbar.112 Daher fehle es in der Konstellation eines einverständlichen Behandlungsverzichts nicht nur an einer Behandlungspflicht, sondern darüber hinaus auch an einem Behandlungsrecht des Arztes.113 Während unbestritten ist, dass die passive Sterbehilfe beim entscheidungsfähigen Patienten zulässig ist, weil eine Strafbarkeit in derartigen Fällen gegen das aus Art. 2 Abs. 2 S. 1, Art. 1 Abs. 1 GG abgeleitete Selbstbestimmungsrecht des Patienten verstoßen würde, ist durchaus streitig, auf welcher Ebene des Verbrechensaufbaus (Deliktsebene) dieses verfassungsrechtlich gebotene Ergebnis herbeizuführen ist: Die meisten Vertreter dieser Auffassung lehnen mit Blick auf das Selbstbestimmungsrecht des Patienten schon eine – als allgemeines Verbrechens110

Roxin/Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 75 (93); Otto, NJW 2006, 2217 (2218); Rengier, Strafrecht BT, Bd. 2, § 7, Rn. 5 f.; H. Schneider, in: MüKo, StGB, Bd. 4, Vor § 211 ff., Rn. 115; Ch. Schneider, Tun und Unterlassen beim Abbruch lebenserhaltender medizinischer Behandlung, S. 43 ff. 110  BGHSt 55, 191 ff. = NJW 2010, 2963 ff.; Dreier, JZ 2007, 317 (323); Fischer, StGB, Vor §§ 211–216, Rn. 42; Neumann, in: NK, StGB, Bd. 2, Vor. § 211, Rn. 105; Otto, NJW 2006, 2217 (2218 f.); H. Schneider, in: MüKo, StGB, Bd. 4, Vor. § 211 ff., Rn. 116; wohl auch: Ch. Schneider, Tun und Unterlassen beim Abbruch lebenserhaltender medizinischer Behandlung, S. 43 ff. 111  Dreier, JZ 2007, 317 (323); Eser, in: Schönke/Schröder, StGB, Vor § 211, Rn. 28; Fischer, StGB, Vor §§ 211–216, Rn. 42; Geilen, Euthanasie und Selbstbestimmung, S.  12 f.; Kaufmann, Festschrift für Roxin zum 70. Geburtstag, S. 841, 849; Neumann, in: NK, StGB, Bd. 2, Vor. § 211, Rn. 107; Otto, NJW 2006, 2217 (2218); H. Schneider, in: MüKo, StGB, Bd. 4, Vor § 211 ff., 115; Ch. Schneider, Tun und Unterlassen beim Abbruch lebenserhaltender medizinischer Behandlung, S. 43 ff. 112  Dreier, JZ 2007, 317 (323); Eser, in: Schönke/Schröder, StGB, Vor § 211, Rn. 28; Fischer, StGB, Vor §§ 211–216, Rn. 42; Geilen, Euthanasie und Selbstbestimmung, S.  12 f.; Kaufmann, Festschrift für Roxin zum 70. Geburtstag, S. 841 (849); Neumann, in: NK, StGB, Bd. 2, Vor. § 211, Rn. 107; Rengier, Strafrecht BT, Bd. 1, § 7, Rn. 5 f.; Otto, NJW 2006, 2217 (2218); H. Schneider, in: MüKo, StGB, Bd. 4, Vor. § 211 ff., 115; Ch. Schneider, Tun und Unterlassen beim Abbruch lebenserhaltender medizinischer Behandlung, S. 43 ff. 113  Geilen, Euthanasie und Selbstbestimmung, S. 12 f.; Neumann, in: NK, StGB, Bd. 2, Vor. § 211, Rn. 107; H. Schneider, in: MüKo, StGB, Bd. 4, Vor. § 211 ff., Rn. 115; Ch. Schneider, Tun und Unterlassen beim Abbruch lebenserhaltender medizinischer Behandlung, S. 43 ff.

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

merkmal114 oder als Rechtswidrigkeitsmerkmal115 einzuordnende – Garantenpflicht des Arztes ab, die diesen zur Fortsetzung seiner Bemühungen, den Patienten am Leben zu halten, verpflichtet.116 Demgegenüber lässt Ingelfinger117 in derartigen Fallkonstellationen die – nach herrschender Meinung118 als Tatbestandsmerkmal aller unechten Unterlassungsdelikte zu qualifizierende – Garantenstellung entfallen, und verneint somit den objektiven Tatbestand der §§ 212, 13 StGB. Eine von Neumann119 und Merkel120 vertretene Mindermeinung nimmt eine Rechtfertigung nach § 34 StGB an. Merkel zufolge bietet der Notstand (im Gegensatz zur Garantenpflicht bzw. zur objektiven Zurechnung oder zum Schutzzweck der Norm) die erforderliche rechtliche Form für die notwendigen moralischen Abwägungen, die unbestritten zur Straflosigkeit des Behandlungsverzichts bei entscheidungsfähigen Patienten führen. Nach Auffassung des BGH121 folgt die Zulässigkeit bzw. Straflosigkeit der passiven Sterbehilfe beim entscheidungsfähigen Patienten aus den gleichen Grundsätzen wie die Zulässigkeit bzw. Straflosigkeit des vom Patientenwillen gedeckten technischen Behandlungsabbruchs, wie das Gericht in seiner Entscheidung zum „Fall Putz“ explizit klargestellt hat: Aufgrund des andernfalls verletzten Selbstbestimmungsrechts des Patienten sei (auch) die passive Sterbehilfe beim entscheidungsfähigen Patienten durch den Rechtfertigungsgrund der Einwilligung gerechtfertigt.122

114  Gropp, Strafrecht AT, § 11, Rn. 11; Kühl, Strafrecht AT, § 18, Rn. 129; ders., in: Lackner/Kühl, StGB, § 15, Rn. 7. 115  BGHSt 16, 158; Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT, § 15, Rn. 45; Jescheck/ Weigend, Strafrecht AT, S. 630 f.; Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, § 15, Rn. 2. 116  Dreier, JZ 2007, 317 (323); Eser, in: Schönke/Schröder, StGB, Vor § 211, Rn. 28; Rengier, Strafrecht BT, Bd. 2, § 7, Rn. 5 f.; Roxin, NStZ 1987, 345 (349); Ch. Schneider, Tun und Unterlassen beim Abbruch lebenserhaltender medizinischer Behandlung, S.  43 ff.; Otto, NJW 2006, 2217 (2218); H. Schneider, in: MüKo, StGB, Bd. 4, Vor. § 211 ff., Rn. 115. 117  Ingelfinger, Grundlagen und Grenzbereiche des Tötungsverbots, S. 308. 118  Stree/Bosch, in: Schönke/Schröder, StGB, § 13, Rn. 7. 119  Neumann, in: NK, StGB, Bd. 2, Vor. § 211, Rn. 110, 103. 120  Merkel, ZStW 107 (1995), 545 (569 ff.). 121  BGHSt 55, 191 = NJW 2010, 2963. 122  BGHSt 55, 191 = NJW 2010, 2963.



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(γ) A  nalyse der in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Lösungsansätze Die ganz herrschende Meinung betrachtet die passive Sterbehilfe beim entscheidungsfähigen Patienten aufgrund des verfassungsrechtlich verbürgten Selbstbestimmungsrechts als zulässig und räumt somit dem als Erhaltungsgut berührten Selbstbestimmungsrecht des Patienten den Vorrang vor dem demselben Rechtsgutsträger zustehenden, als Eingriffsgut tangierten Rechtsgut Leben ein, in dessen Integrität durch ein (lebensverkürzendes) Unterlassen eingegriffen wird. Diese Posteriorisierung des Rechtsguts Leben hinter dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten erreicht die herrschende Meinung im Wege einer verfassungskonformen Auslegung des Strafrechts. Denn diese begründet die Straflosigkeit der passiven Sterbehilfe beim entscheidungsfähigen Patienten zutreffend – wie in Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (b) (aa) näher darzulegen sein wird – mit dem Argument, dass eine Strafbarkeit das aus Artt. 2 Abs. 2 S. 1, 1 Abs. 1 GG abgeleitete Selbstbestimmungsrecht des Patienten verletzen würde. Infolgedessen verneint sie eine Strafbarkeit des passive Sterbehilfe übenden Arztes gemäß §§ 212, 13 StGB, indem sie dessen Garantenstellung bzw. eine auf Lebensverlängerung gerichtete Garantenpflicht ablehnt oder zumindest eine Notstands- oder Einwilligungsrechtfertigung bejaht. Hierin ist eindeutig eine verfassungskonforme Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe „Garantenstellung“ (§ 13 StGB), „Garantenpflicht“ (§ 13 StGB), „überwiegendes Interesses“ (§ 34 StGB) bzw. „Disponibilität des verletzten Rechtsguts“ (Einwilligung) zu sehen, je nachdem, an welchem Tatbestandsmerkmal, allgemeinem Verbrechensmerkmal oder Rechtfertigungstatbestandsmerkmal man die Strafbarkeit der passiven Sterbehilfe im Einzelnen scheitern lässt. Es stellt sich jedoch die Frage, wie dieses Ergebnis mit dem allgemein anerkannten Dogma vom Höchstwert des menschlichen Lebens zu vereinbaren ist. Keinerlei Begründungsprobleme ergeben sich unter Zugrundelegung der im Vordringen befindlichen (maßgeblich von Erb, Neumann und Merkel vertretenen) Literaturauffassung123, dass das Rechtsgut Leben nur insofern Höchstwert ist, als niemand zur solidarischen Aufopferung seines Lebens gezwungen werden darf. Denn die passive Sterbehilfe beim entscheidungsfähigen Patienten ist durch eine Binnenrechtsgüterkollision zwischen dem Rechtsgut Leben und dem demselben Rechtsgutsträger zuzuordnenden Selbstbestimmungsrecht des Patienten gekennzeichnet, weshalb das 123  Erb, in: MüKo, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 116; Merkel, ZStW 107 (1995), 545 (569 ff.); Neumann, in: NK, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 73.

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

Rechtsgut Leben unter Zugrundelegung dieser Auffassung nicht als abwägungsresistenter Höchstwert berührt ist. Die Zulässigkeit der passiven Sterbehilfe beim entscheidungsfähigen Patienten wird aber auch von denjenigen befürwortet, die der beschriebenen, restriktiven Interpretation des Höchstwertigkeitsdogmas nicht folgen. Dies kann nur so interpretiert werden, dass selbst die Befürworter der von der herrschenden Meinung vertretenen, extensiven Auslegung des Höchstwertigkeitsdogmas der Auffassung sind, dass dessen Anwendungsbereich im Hinblick auf Fallkonstellationen, in welchen das Rechtsgut Leben – wie bei der passiven Sterbehilfe – durch ein Unterlassen tangiert wird, nicht eröffnet ist und somit Abwägungsspielräume, ohne Begrenzung auf Verfassungshöchstwerte, eröffnet sind. Denn das im Fall der passiven Sterbehilfe berührte Selbstbestimmungsrecht des Patienten wird – trotz seines Menschenwürdebezugs – von den Vertretern der herrschenden Meinung nicht als Verfassungshöchstwert angesehen, der das Rechtsgut Leben zu überwiegen vermag; dies zeigt der technische Behandlungsabbruch durch Nicht-Ärzte „Fall Putz“) dessen Notstandsrechtfertigung Rechtsprechung und Lehre unter Verweis auf das andernfalls verletzte Höchstwertigkeitsdogma ablehnen, obwohl das Selbstbestimmungsrecht des Patienten unstrittig für dessen Legitimierung streitet (näher Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (1) (bb)). Die Deutung, dass selbst Vertreter der herrschenden Interpretation des Höchstwertigkeitsdogmas den Anwendungsbereich dieses Prinzips nicht als eröffnet betrachten, sofern das Rechtsgut Leben durch ein lebensverkürzendes Unterlassen verletzt wird, bestätigen auch die Kommentierungen zu §§ 212, 13 StGB, insbesondere die Kommentierungen zu den Merkmalen „Garantenpflicht“ und / oder „Zumutbarkeit“. Denn im Gegensatz zu den Kommentierungen zu § 34 StGB findet sich in den Kommentierungen zu §§ 212, 13 StGB gerade kein Plädoyer dafür, das menschliche Leben stets als abwägungsresistenten Höchstwert zu betrachten, der allenfalls durch entgegenstehende Verfassungshöchstwerte, wie die Menschenwürde und das Interesse am Bestand des Staates, überwogen werden kann. (bb) G  eschehenlassen eines freiverantwortlichen Suizids („Wittig-Fall“) (α) Falldarstellung Ein Arzt verzichtet darauf, zugunsten seiner Patientin, die er nach einem Selbstmordversuch bewusstlos aufgefunden hat, Rettungsmaßnahmen zu ergreifen, woraufhin die Patientin stirbt. Die verwitwete und schwer herzkranke Patientin, die in ihrem Leben keinen Sinn mehr sah, hatte einen



A. Behandlungspflichten des Arztes127

Bilanzselbstmord begangen und den Arzt durch eine kurz vor ihrem Selbstmord verfasste schriftliche Mitteilung um den Verzicht auf Wiederbelebungsmaßnahmen gebeten („An meinen Arzt – Kein Krankenhaus – Erlösung“). Im Fall der erfolgreichen Reanimation der Patientin wäre – nach zutreffender Auffassung des Arztes – mit erheblichen Hirnschädigungen zu rechnen gewesen. (β) D  arstellung der in Literatur und Rechtsprechung ­vertretenen Lösungsansätze Im vorliegend geschilderten Fall stellt sich aus strafrechtsdogmatischer Sicht die Frage, ob sich der Arzt wegen einer durch Unterlassen begangenen (versuchten) Tötung auf Verlangen (§§ 216, 13 StGB) oder zumindest wegen einer Unterlassenen Hilfeleistung (§ 323 c StGB) strafbar gemacht hat. Geschehenlassen eines freiverantwortlichen Suizids als Totschlag durch Unterlassen? Der BGH124 geht im Grundsatz davon aus, dass sich jeder, den – wie beispielsweise den Arzt oder den Ehegatten – eine Garantenpflicht für das Leben des Suizidenten trifft, eines Tötungsdelikts durch Unterlassen schuldig macht, wenn er, nachdem der Suizident bewusstlos geworden ist, die erforderliche und zumutbare Hilfe zur Lebensrettung unterlässt. Das Gericht begründet die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Garanten maßgeblich mit dem Tatherrschaftswechsel vom Suizidenten auf den Garanten, welcher mit dem Bewusstseinsverlust des Suizidenten eintrete. Der Frage, ob die Selbsttötung freiverantwortlich unternommen wurde, kommt nach der Auffassung des BGH im Prinzip keine entscheidende Bedeutung zu.125 Lediglich bei Ärzten kann nach Meinung des Gerichts die Freiverantwortlichkeit der Selbsttötung zusammen mit anderen Besonderheiten des Einzelfalls zur Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens und somit zur Straflosigkeit des Garanten führen – so geschehen im oben beschriebenen „Wittig-Fall“. Der BGH begründet im „Wittig-Fall“ die Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens damit, dass die vom behandelnden Arzt getroffene – und zugunsten des Selbstbestimmungsrechts der Patientin ausgefallene – (ärztliche) Entscheidung zwischen dem Selbstbestimmungsrecht und dem ärztlichen Auftrag, Leben zu retten, von dessen ärztlichem, an den Maßstäben der Rechtsordnung und der Standesethik auszurichtendem Entscheidungsspielraum ge124  BGH

NJW 1984, 2639 (2640). 6, 147 (153); BGH NJW 1984, 2639 (2641).

125  BGHSt

128

Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

deckt war, insbesondere da eine Reanimation mit Sicherheit erhebliche Hirnschäden bei der Patientin verursacht hätte.126 Die Auffassung des BGH, dass das Geschehenlassen einer freiverantwortlichen Selbsttötung im Grundsatz strafbar ist, wird von der herrschenden Lehre nicht geteilt: Es wird kritisiert, dass diese Auffassung die offensichtlich widersinnige Konsequenz habe, dass der Arzt oder ein anderer Garant die Suizidhandlung eines freiverantwortlich handelnden Suizidenten zwar untätig geschehen lassen dürfe, ab dem Zeitpunkt, da der Suizident das Bewusstsein verliert, jedoch postwendend zur Abwendung des Suiziderfolgs verpflichtet sei.127 Außerdem verstoße die Einschätzung, dass die auf Lebensverlängerung gerichtete Garantenpflicht gegenüber dem auf Lebensbeendigung gerichteten Willen des (freiverantwortlich handelnden) Suizidenten vorrangig sei, gegen das verfassungsrechtlich verbürgte Selbstbestimmungsrecht.128 Dementsprechend verwirklicht das Geschehenlassen eines freiverantwortlichen Suizids nach herrschender Lehre kein durch Unterlassen begangenes Tötungsdelikt, sofern – nach dem Wechsel der Tatherrschaft vom Suizidenten auf den Garanten – keine erkennbaren Hinweise dafür existieren, dass der Suizident seinen Beschluss bereut und rückgängig machen möchte.129 Konstruktiv erfolgt die Verneinung der Strafbarkeit zumeist dadurch, dass die (auf die Verhinderung des Suizides gerichtete) Garantenpflicht des Arztes oder der Angehörigen des Suizidenten mit dem Argument abgelehnt wird, die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts durch den freiverantwortlichen Suizid beseitige die Garantenpflicht.130 Aufgrund des einer Lebensverlängerung entgegenstehenden Selbstbestimmungsrechts des freiverant126  BGH

NJW 1984, 2639 (2642). in: Schönke/Schröder, StGB, Vor. § 211, Rn. 43; Hillenkamp, in: Anderheiden/Eckart, Handbuch Sterben und Menschenwürde, S. 1033 (1049). 128  Achenbach, Jura 2002, 542, 544; Fischer, StGB, Vor §§ 211–216, Rn. 24; Hillenkamp, in: Anderheiden/Eckart, Handbuch Sterben und Menschenwürde, Bd. 2, S.  1033 (1048 f.); Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, Vor. § 211, Rn. 15; Rengier, Strafrecht BT, Bd. 2, § 8, Rn. 14; H. Schneider, in: MüKo, StGB, Bd. 4, Vor. § 211 ff., Rn.  74 ff. 129  Achenbach, Jura 2002, 542, 544; Fischer, StGB, Vor §§ 211–216, Rn. 24; Horn, in: SK, StGB, § 212, Rn. 17 (64. Lfg. 2005); Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, Vor. § 211, Rn. 15; Neumann, in: NK, StGB, Bd. 2, Vor §§ 211, Rn. 75; Rengier, Strafrecht BT, Bd. 2, § 8, Rn. 14; Rössner/Wenkel, in: Dölling/Duttge/Rössner, Gesamtes Strafrecht, Vor. § 211, Rn. 12; H. Schneider, in: MüKo, StGB, Bd. 4, Vor. § 211 ff., Rn.  77 ff.; Sowada, Jura 1985, 75 ff.; Wessels/Hettinger, Strafrecht BT, Bd. 1, Rn. 161. 130  Achenbach, Jura 2002, 542 (544); Hillenkamp, in: Anderheiden/Eckart, Handbuch Sterben und Menschenwürde, Bd. 2, S. 1033 (1049); Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, Vor. § 211, Rn. 15; Neumann, in: NK, StGB, Bd. 2, Vor. § 211, Rn. 75; H. Schneider, in: MüKo, StGB, Bd. 4, Vor. § 211 ff., Rn. 77. 127  Eser,



A. Behandlungspflichten des Arztes129

wortlich handelnden Suizidenten habe der (an das Behandlungsveto des Patienten gebundene) Arzt schon keine Befugnis einzugreifen, weshalb über die §§ 212, 13 StGB bzw. §§ 216, 13 StGB erst recht keine entsprechende (strafbewehrte) Rechtspflicht – wie der BGH dies tue – konstruiert werden könne.131 Geschehenlassen eines freiverantwortlichen Suizids als Unterlassene Hilfeleistung? Eine vergleichbare Kontroverse existiert in Bezug auf die Frage, ob das Geschehenlassen eines freiverantwortlichen Suizids den Straftatbestand der Unterlassenen Hilfeleistung (§ 323 c StGB) erfüllt. Nach Auffassung des BGH132, die auch im Schrifttum133 vertreten wird, stellt jede infolge einer Selbstgefährdung eingetretene (Lebens-)Gefahr und damit auch die infolge einer freiverantwortlichen Selbstgefährdung eingetretene (Lebens-)Gefahr, einen Hilfeleistungspflichten auslösenden „Unglücksfall“ im Sinne des § 323 c StGB dar. Dies hat zur Konsequenz, dass das Geschehenlassen eines Suizids, auch wenn dieser durch einen freiverantwortlich handelnden Suizidenten ins Werk gesetzt wurde, in der Regel nach § 323 c StGB strafbar ist. Das gilt insbesondere für den Fall, dass der Lebensmüde die Herrschaft über den freiverantwortlich veranlassten Geschehensablauf verloren hat und z. B. ohnmächtig geworden ist. Lediglich in Ausnahmefällen wird unter Verneinung der „Zumutbarkeit der Hilfeleistung“ (bzw. gelegentlich auch unter Negierung der „Erforderlichkeit der Hilfeleistung“) eine Strafbarkeit nach § 323 c StGB abgelehnt.134 So verneint der BGH135 eine Unterlassene Hilfeleistung wegen „Unzumutbarkeit“ etwa für die Fallkonstellation, dass der Suizident bis zuletzt bei klarem Verstand ist und unmissverständlich deutlich macht, unbedingt sterben zu wollen und für den Fall der aufgedrängten Hilfe letztlich gezwungen wäre, den Selbstmordversuch zu wiederholen. In der Literatur wird eine zur Straflosigkeit führende „Unzumutbarkeit der Hilfeleistung“ auch dann angenommen, wenn – wie im sog. „Wittig131  Achenbach, Jura 2002, 542 (544); Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, Vor. § 211, Rn. 15; Neumann, in: NK, StGB, Bd. 2, Vor. § 211, Rn. 75; Rengier, Strafrecht BT, Bd. 2, § 8, Rn. 14; § 7, Rn. 5 f.; H. Schneider, in: MüKo, StGB, Bd. 4, Vor § 211 ff., Rn. 77; Sowada, Jura 1985, 75 (83). 132  BGHSt 32, 367 (376). 133  Dölling, NJW 1986, 1011 (1016); Fischer, StGB, § 323  c, Rn. 5; Rengier, Strafrecht BT, Bd. 2, § 8, Rn. 19. 134  BGH NStZ 1983, 117 (118); Dölling, NJW 1986, 1011 (1016); Rengier, Strafrecht BT, Bd. 2, § 8, Rn. 20 f. 135  BGH NStZ 1983, 117 (118); zustimmend: Rengier, Strafrecht BT, Bd. 2, § 8, Rn. 19.

130

Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

Fall“ – eindeutig ein Bilanzsuizid gegeben ist136 oder eindeutig eine freiverantwortliche Wiederholungstat vorliegt137. Zur Begründung, dass auch jeder freiverantwortliche Suizid einen „Unglücksfall“ darstelle und somit im Regelfall Hilfeleistungspflichten auslöse, wird häufig darauf verwiesen, dass viele Selbstmorde in einem Zustand der Verzweiflung oder der Depression begangen werden und es in der Regel unmöglich ist, zwischen einem freiverantwortlichen Suizid und einem nicht-freiverantwortlichen Suizid eindeutig zu unterscheiden138. Dagegen ist nach herrschender Lehre139 das Geschehenlassen eines freiverantwortlichen Suizids unter keinen Umständen als Unterlassene Hilfeleistung strafbar, weshalb eine durch Selbsttötungsversuch verursachte (Lebens-)Gefahr schon nicht als „Unglücksfall“ im Sinne des § 323 c StGB zu qualifizieren ist. Dies wird auch für den Fall vertreten, dass der Lebensmüde die Herrschaft über den freiverantwortlich veranlassten Geschehensablauf verloren hat, weil er etwa ohnmächtig geworden ist. Eine Strafbarkeit nach § 323 c StGB kommt nach Auffassung der herrschenden Lehre nur in dem Ausnahmefall in Betracht, dass der Suizident erkennbar seinen Selbsttötungswillen aufgegeben hat.140 Die herrschende Lehre begründet die Ablehnung eines Hilfspflichten auslösenden „Unglücksfalls“ nicht selten mit dem gleichen Argument, mit dem sie in der Konstellation eines freiverantwortlichen Suizids auch eine auf Lebensbewahrung gerichtete Garantenpflicht im Sinne der §§ 212, 13 StGB ablehnt, nämlich mit dem Argument, dass das verfassungsrechtlich verbürgte Selbstbestimmungsrecht des Patienten es verbiete, einem freiverantwortlich handelnden Suizidenten Hilfe gegen dessen Willen aufzuzwingen.141

136  Dölling,

NJW 1986, 1011 (1016). Strafrecht BT, Bd. 2, § 8, Rn. 20 a. 138  BGHSt 32, 367 (376); Dölling, NJW 1986, 1011 (1014); Rengier, Strafrecht BT, Bd. 2, § 8, Rn. 19. 139  Freund, in: MüKo, StGB, Bd. 5, § 323 c, Rn. 59; Hillenkamp, in: Anderheiden/Eckart, Handbuch Sterben und Menschenwürde, Bd. 2, S. 1033 (1047); Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, § 323 c, Rn. 2; Rudolphi/Stein, in: SK, StGB, § 323 c, Rn. 8 (110. Lfg. Sept. 2007); Schneider, in: MüKo, StGB, Bd. 4, Vor. § 211, Rn. 84; Spendel, in: LK, StGB, Bd. 11, § 323 c, Rn. 50 ff.; Sternberg-Lieben/Hecker, in: Schönke/ Schröder, StGB, § 323 c, Rn. 8; Wessels/Hettinger, Strafrecht BT, Bd. 1, Rn. 63; Wohlers/Gaede, in: NK, StGB, Bd. 3, § 323 c, Rn. 5. 140  Wohlers/Gaede, in: NK, StGB, Bd. 3, § 323 c, Rn. 5. 141  Freund, in: MüKo, StGB, Bd. 5, § 323 c, Rn. 59; Schneider, in: MüKo, StGB, Bd. 4, Vor. § 211, Rn. 84; Spendel, in: LK, StGB, Bd. 11, § 323 c, Rn. 50 ff. 137  Rengier,



A. Behandlungspflichten des Arztes131

(γ) A  nalyse der in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Lösungsansätze Geschehenlassen eines freiverantwortlichen Suizids und §§ 212, 13 StGB Die Analyse der rechtlichen Bewertung des Geschehenlassens eines freiverantwortlichen Suizids durch einen Garanten durch die herrschende Lehre bestätigt die Ergebnisse, die im Zusammenhang mit der Untersuchung der rechtlichen Bewertung der passiven Sterbehilfe beim einwilligungsfähigen Patienten gewonnen wurden (vgl. Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (2) (a) (aa)). Denn auch im Fall des Geschehenlassens eines freiverantwortlichen Selbstmords gelangt die herrschende Meinung zur Ablehnung einer Strafbarkeit nach §§ 212, 13 StGB, indem sie auf der Ebene der Garantenpflicht dem verfassungsrechtlich verbürgten Selbstbestimmungsrecht des Patienten bzw. Suizidenten (Erhaltungsgut) den Vorrang gegenüber dem demselben Rechtsgutsträger zustehenden Rechtsgut Leben (Eingriffsgut) einräumt, in das durch ein (lebensverkürzendes) Unterlassen eingegriffen wurde. Wie bei der passiven Sterbehilfe beim entscheidungsfähigen Patienten, verzichtet die Literatur auf eine explizite Auseinandersetzung mit der nahe liegenden Fragestellung, wie sich die Posteriorisierung des Rechtsguts Leben, die in der Ablehnung einer auf Lebenserhaltung gerichteten Garantenpflicht zu erblicken ist, mit dem Dogma der Höchstwertigkeit des menschlichen Lebens vereinbaren lässt. Dies bestätigt die obige These (vgl. Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (2) (a) (aa) (γ)), dass nicht nur bei restriktiver Interpretation des Höchstwertigkeitsdogmas (i. e. Höchstwertigkeitsdogma als Verbot der Erzwingung der solidarischen Aufopferung des eigenen Lebens) der Anwendungsbereich dieses Prinzips nicht eröffnet ist, sofern das Rechtsgut Leben durch ein Unterlassen beeinträchtigt wird. Vielmehr ist auch unter Zugrundelegung der herrschenden Auslegung des Höchstwertigkeitsdogmas (i. e. Leben als Höchstwert, der allenfalls durch einen anderen Verfassungshöchstwert überwogen werden kann) der Anwendungsbereich dieses Prinzips im Falle eine lebensverkürzenden Unterlassens nicht eröffnet. Auch ist die strafrechtliche Bewertung des Geschehenlassens eines freiverantwortlichen Suizids ein weiteres Beispiel für eine verfassungskonforme Auslegung des Strafrechts. Denn die herrschende Lehre lehnt eine auf Lebenserhaltung gerichtete Garantenpflicht mit der Begründung ab, dass eine Strafbarkeit des Geschehenlassens eines freiverantwortlichen Suizids das Selbstbestimmungsrecht des Patienten (Art. 2 Abs. 2 S. 1, Art. 1 Abs. 1 GG) verletzen würde, was aus verfassungsrechtlicher Perspektive zutreffend ist (näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (b) (bb)). Insofern beruht die von der herrschenden Lehre befürwortete Zulässigkeit des Geschehenlassens eines

132

Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

freiverantwortlichen Selbstmords in der Sache auf einer (verfassungskonformen) Auslegung der „Garantenpflicht“ im Licht des verfassungsrechtlich verbürgten Selbstbestimmungsrechts. Geschehenlassen eines freiverantwortlichen Suizids und § 323 c StGB Die Analyse der Meinungen, die sich mit dem Geschehenlassens eines freiverantwortlichen Selbstmords und § 323 c StGB befassen, belegt ebenfalls die obige These, dass die herrschende Meinung den Anwendungsbereich des Höchstwertigkeitsdogmas im Hinblick auf Interessenkonflikte zwischen dem (als Eingriffsgut berührten) Rechtsgut Leben und anderen Rechtsgütern oder Interessen dann als nicht eröffnet betrachtet, wenn das Rechtsgut Leben lediglich durch ein Unterlassen beeinträchtigt wird. Denn die herrschende Lehre, die eine Strafbarkeit des Geschehenlassens eines freiverantwortlichen Suizids gemäß § 323 c StGB am Tatbestandsmerkmal „Unglücksfall“ bzw. „Zumutbarkeit“ scheitern lässt, wirft die Frage, wie sich diese Posteriorisierung des menschlichen Lebens mit dem Höchstwertigkeitsdogma in Einklang bringen lässt, noch nicht einmal auf. Dies betätigt die obige These (vgl. Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (2) (a) (aa) (γ)), dass neben den Vertretern einer restriktiven Interpretation des Höchstwertigkeitsdogmas auch die Vertreter der herrschenden Lehre den Anwendungsbereich des Höchstwertigkeitsdogmas in Fällen, in denen das (als Eingriffsgut berührte) Rechtsgut Leben lediglich durch ein Unterlassen beeinträchtigt wird, nicht als eröffnet betrachten. Außerdem ist diese Konstellation ein weiteres Beispiel für eine verfassungskonforme Auslegung des Strafrechts. Denn die herrschende Lehre begründet die Straflosigkeit des Geschehenlassens eines freiverantwortlichen Suizids – aus verfassungsrechtlicher Perspektive zutreffend (näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (b) (bb)) – mit dem Argument, dass eine Strafbarkeit gegen das verfassungsrechtlich verbürgte Selbstbestimmungsrecht des Patienten verstoßen würde und lehnt damit entweder das Vorliegen eines „Unglücksfalls“ oder aber die „Zumutbarkeit der Hilfeleistung“ ab. Das Tatbestandsmerkmal des „Unglücksfalls“ ist zwar kein wertungsoffenes Tatbestandsmerkmal und kann daher nicht im Licht jedes beliebigen Grundrechts ausgelegt und dazu eingesetzt werden, eine durch ein beliebiges Grundrecht gebotene Zulässigkeit nach § 323 c StGB zu begründen. Jedoch kann argumentiert werden, dass auf einer freiverantwortlichen Selbstgefährdung beruhende Leibes- oder Lebensgefahren keinen „Unglücksfall“ darstellen, da sie bewusst in Kauf genommen wurden. Das Tatbestandsmerkmal des „Unglücksfalls“ eröffnet daher die Möglichkeit, eine Strafbarkeit nach § 323 c



A. Behandlungspflichten des Arztes133

StGB zu verneinen, wenn das verfassungsrechtlich verbürgte Selbstbestimmungsrecht die Straflosigkeit eines Unterlassens gebietet, das sich grundsätzlich unter § 323 c StGB subsumieren lässt. (cc) U  nterlassen einer lebensrettenden Zwangsheilung beim entscheidungsfähigen Patienten (α) Falldarstellung Ein voll zurechnungsfähiger Patient verweigert aus Glaubensgründen – er / sie gehört den Zeugen Jehovas an – eine überlebensnotwendige Bluttransfusion. Nach einem erfolglosen Versuch, den Patienten umzustimmen und unter Hinweis auf die tödlichen Folgen des Behandlungsverzichts, befolgt der behandelnde Arzt den Willen des Patienten. Daraufhin verstirbt der Patient, der durch die Vornahme der Bluttransfusion mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu retten gewesen wäre. (β) D  arstellung der in Literatur und Rechtsprechung ­vertretenen Lösungsansätze Nach Auffassung der ganz herrschenden Meinung142 handelt der behandelnde Arzt in der beschriebenen Konstellation straflos, selbst wenn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststeht, dass die Vornahme der Bluttransfusion das Leben des Patienten gerettet hätte. Insbesondere scheidet nach herrschender Meinung eine Strafbarkeit gemäß §§ 212, 13 StGB sowie § 323 c StGB aus. Die meisten Literaturvertreter143 lehnen – im Hinblick auf §§ 212, 13 StGB – eine auf Lebensverlängerung gerichtete Garantenstellung des Arztes bzw. eine auf Vornahme einer lebensrettenden Bluttransfusion gerichtete Garantenpflicht sowie – im Hinblick auf § 323 c StGB – die Erforderlichkeit der Hilfeleistung mit der Argumentation ab, dass es im Fall der wirksamen Behandlungsverweigerung eines entscheidungsfähigen Patienten, aufgrund des andernfalls verletzten Selbstbestimmungsrechts des Patienten, bereits an einem Behandlungsrecht des Arztes und damit erst recht an einer entsprechenden Behandlungspflicht fehle. Die Straflosigkeit des Verzichts auf die Vornahme einer lebensrettenden Bluttransfusion bei einem Behandlungsveto durch einen entscheidungsfähigen Patienten wird 142  Hillenkamp, Festschrift für Küper, S. 123 (133 ff.); Neumann, in: StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 35 a; Roxin, in: Roxin/Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 75 (93); Ulsenheimer, Festschrift für Eser, S. 1225 (1228). 143  Hillenkamp, Festschrift für Küper, S. 123 (133  f.); Ulsenheimer, in: Laufs/ Kern, Handbuch des Arztrechts, § 141, Rn. 41 f.

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

somit mit den gleichen Argumenten wie die Straflosigkeit der passiven Sterbehilfe beim entscheidungsfähigen Patienten begründet (vgl. Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (2) (a) (aa) (β)). (γ) A  nalyse der in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Lösungsansätze Die Analyse der strafrechtlichen Diskussion um den Verzicht auf eine lebensrettende Bluttransfusion bei entscheidungsfähigen Patienten bestätigt die Ergebnisse, die im Zusammenhang mit der Untersuchung der strafrechtlichen Debatte um die passive Sterbehilfe beim einwilligungsfähigen Patienten gewonnen wurden (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (2) (a) (aa) (γ)). Denn auch im Fall des Verzichts auf die Vornahme einer lebensrettenden Bluttransfusion bei entscheidungsfähigen Patienten gelangt die herrschende Meinung zur Straflosigkeit, indem sie im Rahmen der §§ 212, 13 StGB auf der Ebene der „Garantenstellung“ bzw. der „Garantenpflicht“ und im Rahmen des § 323 c StGB auf der Ebene der „Erforderlichkeit der Hilfeleistung“ dem andernfalls verletzten Selbstbestimmungsrecht des Patienten (Erhaltungsgut) den Vorrang gegenüber dem hiermit kollidierenden, demselben Rechtsgutsträger zuzuordnenden Rechtsgut Leben (Eingriffsgut) einräumt, in das durch ein (lebensverkürzendes) Unterlassen eingegriffen wird. Wie bei der passiven Sterbehilfe beim entscheidungsfähigen Patienten und beim Geschehenlassen eines freiverantwortlichen Suizids verzichtet die Literatur auf jegliche Auseinandersetzung mit der nahe liegenden Fragestellung, wie sich die hierin liegende Posteriorisierung des durch ein Unterlassen verletzten Rechtsguts Leben (Eingriffsgut) mit dem Dogma der Höchstwertigkeit des menschlichen Lebens vereinbaren lässt. Dies bestätigt noch einmal mehr die obige These (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (2) (a) (aa) (γ)), wonach – neben den Vertretern einer restriktiven Interpretation des Höchstwertigkeitsdogmas (i. e. Höchstwertigkeitsdogma als Verbot der Erzwingung der solidarischen Aufopferung des eigenen Lebens) – auch die Vertreter der herrschenden extensiven Deutung des Höchstwertigkeitsdogmas (i. e. Leben als Höchstwert, der allenfalls durch einen anderen Verfassungshöchstwert überwogen werden kann) den Anwendungsbereich dieses Prinzips nicht als eröffnet betrachten, sofern das Rechtsgut Leben lediglich durch ein Unterlassen beeinträchtigt wird. Darüber hinaus ist der Verzicht auf die Vornahme einer lebensrettenden Bluttransfusion bei einem entscheidungsfähigen Patienten ein weiteres Beispiel für eine verfassungskonforme Auslegung des Strafrechts: Die herrschende Lehre verneint im Rahmen der §§ 212, 13 StGB den unbestimmten Rechtsbegriff der „Garantenpflicht“ oder der „Garantenstellung“ bzw. im



A. Behandlungspflichten des Arztes135

Rahmen des § 323 c StGB den unbestimmten Rechtsbegriff der „Erforderlichkeit der Hilfeleistung“. Sie begründet dies mit dem Argument, dass es im Falle der wirksamen Behandlungsverweigerung aufgrund des verfassungsrechtlich verbürgten Selbstbestimmungsrechts des Patienten bereits an einem Behandlungsrecht (und damit erst recht an einer Behandlungspflicht) fehlt, was aus verfassungsrechtlicher Perspektive zutreffend ist (näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (2) (b) (cc)). Somit nimmt die herrschende Lehre in der Sache eine Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe „Garantenpflicht“, „Garantenstellung“ bzw. „Erforderlichkeit der Hilfeleistung“ im Licht des Selbstbestimmungsrechts des Patienten (Art. 2 Abs. 2 S. 1, Art. 1 Abs. 1 GG) vor. (b) K  ollision zwischen unterschiedlichen Trägern ­zuzuordnenden Rechtsgütern / Interessen (aa) D  em Garanten unzumutbare Lebensrettung („Nierenspende-Fall“) (α) Falldarstellung144 Ein Garant verzichtet auf die Vornahme einer ihm physisch möglichen Lebensrettung, weil er hierdurch sein eigenes Leben oder seine eigene körperliche Unversehrtheit erheblich gefährden würde. Zur Illustration soll hier der fiktive Fall einer verweigerten Nierenlebendspende dienen: Ein Kind leidet unter akutem Nierenversagen und kann nur noch durch eine Nierentransplantation gerettet werden. Obwohl der Vater des kranken Kindes aus medizinischer Perspektive einen geeigneten Lebendspender für das Kind abgeben würde und durch die Lebend(organ)spende über das Operationsrisiko hinaus nicht gefährdet wäre (weshalb einer Lebendspende des Vaters auch § 8 TPG nicht entgegenstünde), weigert sich der Vater, seinem Kind eine Niere zu spenden. Da dem Kind aufgrund der Knappheit an Spenderorganen auch keine postmortal gespendete Niere zur Verfügung gestellt werden kann, verstirbt das Kind an Nierenversagen. (β) D  arstellung der in Literatur und Rechtsprechung ­vertretenen Lösungsansätze Nach der Auffassung von Erb und Gropp – die sich zu dem vorliegenden „Nierenspende-Fall“ explizit äußern – verwirklicht der Vater durch die Verweigerung der lebensrettenden Lebend(organ)spende keinen Straftatbestand 144  Identischer

Fall bei: Gropp, Strafrecht AT, § 11, Rn. 52.

136

Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

(§§ 212, 13 StGB; §§ 222, 13 StGB), obwohl der Vater gegenüber seinem Kind eine auf den Schutz vor Leibes- und Lebensgefahren gerichtete Garantenstellung aus natürlicher Verbundenheit besitzt.145 Die Vornahme einer Lebend(organ)spende sei dem Vater nicht zumutbar, da die Rechtsordnung einen derart massiven Eingriff in höchstpersönliche Rechtsgüter nicht erzwingen könne.146 Die aus der Garantenstellung folgende Pflicht zur Erfolgsverhinderung habe eine sozialethische Grenze in Form einer Opfergrenze, was bedeute, dass die Garantenpflichten nicht nur durch das tatsächlich Mögliche, sondern auch durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip begrenzt werden.147 Zum gleichen Ergebnis hinsichtlich des beschriebenen „NierenspendeFalls“ gelangt man unter Zugrundelegung der herrschenden Meinung148, die ohne nähere Begründung annimmt, dass die Vornahme einer Rettungshandlung einem (Lebensschutz-)Garanten – zumindest dann, wenn diesen keine besonderen Gefahrtragungspflichten treffen – unzumutbar ist, wenn er durch die Vornahme der Rettungshandlung von der Rechtsordnung gebilligte eigene Interessen in erheblichem Umfang gefährden würde. Hiervon sei u. a. dann auszugehen, wenn die Rettungshandlung mit konkreten Lebens- oder erheblichen Leibesgefahren für den (Lebensschutz-)Garanten verbunden ist.149 Dies führt dazu, dass das Unterlassen einer konkret lebensgefährdenden oder mit erheblichen Gesundheitsgefahren verbundenen Rettungshandlung entweder schon nicht tatbestandsmäßig oder aber gerechtfertigt oder entschuldigt ist, je nachdem, ob man ein unzumutbares Unterlassen im Sinne der §§ 212, 13 StGB, §§ 223, 13 StGB mit der wohl herrschenden Meinung150 als nicht tatbestandsmäßig betrachtet oder mit einer Mindermeinung der Unzumutbarkeit rechtfertigende151 oder entschuldigende152 Wirkung beimisst. 145  Erb,

in: MüKo, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 197; Gropp, Strafrecht AT, § 11, Rn. 53. in: MüKo, StGB, § 34, Rn. 197; Gropp, Strafrecht AT, § 11, Rn. 53. 147  Gropp, Strafrecht AT, § 11, Rn. 53. 148  Fischer, StGB, § 13, Rn. 82; Rengier, Strafrecht AT, § 49, Rn. 49; Stree/ Bosch, in: Schönke/Schröder, StGB, Vor §§ 13 ff., Rn. 156; Weigend, in: LK, StGB, Bd. 1, § 13, Rn. 69. 149  Fischer, StGB, § 13, Rn. 82; Rengier, Strafrecht AT, § 49, Rn. 49; Stree/ Bosch, in: Schönke/Schröder, StGB, Vor §§ 13 ff., Rn. 156; Weigend, in: LK, StGB, Bd. 1, § 13, Rn. 69. 150  OLG Hamburg StV 1996, 437 (438); Fischer, StGB, § 13, Rn. 81; Krey/Esser, Deutsches Strafrecht AT, § 16, Rn. 1172; Rn. 155; Lenckner/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, Vor §§ 32 ff., Rn. 125; Weigend, in: LK, StGB, Bd. 1, Vor. § 13, Rn. 68; Wohlers/Gaede, in: NK, StGB, Bd. 1, § 13, Rn. 17; wohl auch: BGH NJW 1994, 1357. 151  Gropp, Strafrecht AT, § 11, Rn. 55; Küper, Grund- und Grenzfragen der rechtfertigenden Pflichtenkollision im Strafrecht, S. 97 ff. 152  Kühl, Strafrecht AT, § 18, Rn. 33; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, Rn. 739. 146  Erb,



A. Behandlungspflichten des Arztes137

(γ) A  nalyse der in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Lösungsansätze Die ganz herrschende Lehre erkennt – speziell bezogen auf den obigen „Nierenspende-Fall“, aber auch generell – konkrete Lebensgefahren oder erhebliche Leibesgefahren als (Opfer-)Grenze einer strafbewehrten Garantenpflicht (mit der Folge der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens) an, auch wenn dies für die in Not befindliche Person, gegenüber der die (Lebensschutz-)Garantenstellung besteht, den sicheren Tod bedeutet. Die herrschende Lehre räumt also der (als Erhaltungsgut berührten) körperlichen Unversehrtheit des Garanten den Vorrang vor dem (einem anderen Rechtsgutsträger zuzuordnenden) Rechtsgut Leben (Eingriffsgut) ein, in dessen Integrität durch ein Unterlassen eingegriffen wird. Wie diese Posteriorisierung des menschlichen Lebens mit dem Dogma der Höchstwertigkeit des menschlichen Lebens in Einklang zu bringen ist, wird von der herrschenden Lehre nicht thematisiert. Dies bestätigt die obige These (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (2) (a) (aa) (γ)), wonach – neben den Vertretern einer restriktiven Interpretation des Höchstwertigkeitsdogmas (i. e. Höchstwertigkeitsdogma als Verbot der Erzwingung der solidarischen Aufopferung des eigenen Lebens) – auch die Vertreter der herrschenden extensiven Deutung des Höchstwertigkeitsdogmas (i. e. Leben als Höchstwert, der allenfalls durch einen anderen Verfassungshöchstwert überwogen werden kann) den Anwendungsbereich dieses Prinzips nicht als eröffnet betrachten, sofern das Rechtsgut Leben lediglich durch ein Unterlassen beeinträchtigt wird. Außerdem ist die Posteriorisierung des Rechtsguts Leben, die die herrschende Meinung im „Nierenspende-Fall“ und vergleichbaren Fallkonstellationen befürwortet, ein weiteres Beispiel für eine verfassungskonforme Auslegung des Strafrechts, wenngleich dies aus den einschlägigen Literaturstellungnahmen nicht explizit hervorgeht. Die Straflosigkeit des Garanten im sog. „Nierenspende-Fall“ und in vergleichbaren Konstellationen wird nämlich mit dem Argument begründet, dass die Rechtsordnung einen derart intensiven Eingriff in höchstpersönliche Rechtsgüter des (Lebensschutz-) Garanten (Leben bzw. Gesundheit) nicht erzwingen könne. Jedoch wird nicht präzisiert, aus welchem Rechtsprinzip oder Verfassungswert sich dies ergibt. Richtigerweise lässt sich eine solche Opfergrenze für Garantenpflichten jedoch nur im Wege der verfassungskonformen Auslegung des Strafrechts begründen: Dass keine auf eine Lebend(organ)spende gerichtete Garantenpflicht existieren kann, selbst wenn eine solche Lebendspende zur Lebensrettung erforderlich ist, ergibt sich aus dem / der – im Falle einer staatlich erzwungenen Lebend(organ)spende verletzten – Selbstbestimmungsrecht bzw. Menschenwürdegarantie, das / die zugunsten des unfreiwilligen Spenders eingreift, sowie aus den Verfassungsgrundsätzen vom Vorbe-

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

halt des Gesetzes und vom Vorrang des Gesetzes (näher zur verfassungsrechtlichen Perspektive: Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (b) (dd)). Unabhängig von der hier in Frage stehenden Transplantationskonstellation, ergibt sich die Opfergrenze der strafbewehrten Garantenpflicht, die die herrschende Meinung im Falle konkreter Lebens- und erheblicher Gesundheitsgefahren für den (Lebensschutz-)Garanten anerkennt, aus dem Menschenwürdekern des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit bzw. aus der Menschenwürdegarantie. Denn könnte ein (Lebensschutz-) Garant mittels Strafdrohung dazu gezwungen werden, sein Leben oder bedeutende Gesundheitswerte solidarisch zur Rettung eines anderen Menschen aufzuopfern, so läge hierin – zumindest falls den Garanten keine besonderen Gefahrtragungspflichten treffen – eine Degradierung des Garanten zum Objekt staatlichen Handelns und damit eine Verletzung des Menschenwürdekerns des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit bzw. sogar der Menschenwürdegarantie (näher zur verfassungsrechtlichen Perspektive: Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (b) (dd)). Für dieses Ergebnis spricht auch die Argumentation der herrschenden Meinung im ähnlich gelagerten „Zwangsblutspende-Fall“, wonach eine Notstandsrechtfertigung einer erzwungenen Blutspende (und damit eine Pflicht zur Duldung einer Zwangsblutentnahme) aufgrund der Degradierung des unfreiwilligen Spenders zur lebenden Blutbank, die Menschenwürde des unfreiwilligen Blutspenders verletzen würde (näher Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (3) (b) (aa) (β)). Damit stellt sich die Posteriorisierung des Rechtsguts Leben hinter den Rechtsgütern Leben und körperliche Unversehrtheit, für die die herrschende Meinung im „Nierenspende-Fall“ und für vergleichbare Fallkonstellationen einer für den (Lebensschutz-)Garanten mit Lebensgefahren oder erheblichen Leibesgefahren einhergehenden Lebensrettung eintritt, als verfassungsrechtlich geboten dar. Die von der herrschenden Meinung befürwortete Straflosigkeit eines Garanten, der auf eine lebensgefährliche oder mit erheblichen Gesundheitsgefahren verbundene Rettungshandlung verzichtet, beruht somit auf der Auslegung der „Garantenpflicht“ bzw. der „Zumutbarkeit normgemäßen Verhaltens“ im Licht andernfalls verletzter Grundrechte (sowie Verfassungsgrundsätze).



A. Behandlungspflichten des Arztes139

(3) Zur Bewahrung menschlichen Lebens durchgeführte Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsguts (Rechtsgut Leben als Erhaltungsgut) (a) Rechtsgüterbinnenkollision (aa) L  ebensrettende Zwangsheilung beim entscheidungsfähigen Patienten (α) Falldarstellung Ein voll zurechnungsfähiger Patient verweigert aus Glaubensgründen – er / sie gehört den Zeugen Jehovas an – eine überlebensnotwendige Bluttransfusion. Nachdem der Patient auch nach Aufklärung über die tödlichen Folgen eines Behandlungsverzichts nicht umzustimmen war, nimmt der behandelnde Arzt schließlich entgegen dessen Willen die Bluttransfusion vor und rettet den Patienten hierdurch. (β) D  arstellung der in Literatur und Rechtsprechung ­vertretenen Lösungsansätze Mit der Durchführung einer Zwangsheilung an einem zurechnungsfähigen Patienten macht sich der behandelnde Arzt nach §§ 223 ff. StGB in Idealkonkurrenz mit §§ 239, 240 StGB strafbar; das gilt jedenfalls sofern man mit der Rechtsprechung153 und einer Literaturmeinung154 auch eine lege artis vorgenommene Heilbehandlung als tatbestandsmäßige Körperverletzung betrachtet, die der Rechtfertigung durch Einwilligung bedarf. Zwar ist umstritten, ob der Arzt (zur Vermeidung einer Strafbarkeit gemäß § 223 ff. StGB in Idealkonkurrenz mit §§ 239, 240 StGB) den einer Bluttransfusion entgegenstehenden Willen des Patienten befolgen muss, wenn der Patient – wegen Bewusstlosigkeit / Narkose etc. – nicht mehr entscheidungsfähig ist155. Jedoch besteht in der Literatur Einigkeit dahingehend, dass ein Arzt, der entgegen dem Willen eines bis zuletzt entscheidungsfähigen Patienten 153  StRspr.

seit RGSt 25, 375 (380). Arztstrafrecht, 1. Kap., Rn. 1 ff.; Knauer/Brose, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 223 StGB, Rn. 26; Paeffgen, in: NK, StGB, Bd. 2, § 228, Rn.  56 ff.; Schroth, in: Roxin/Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 21 (23 ff.). 155  Für eine Strafbarkeit: Hillenkamp, Festschrift für Küper, S. 123 (136 ff.); Neumann, in: NK, StGB, § 34, Rn. 35 a; gegen eine Strafbarkeit (und für eine Rechtfertigung nach § 34 StGB): Ulsenheimer, Festschrift für Eser, S. 1225 (1228); ders., in: Laufs/Kern, Handbuch des Arztrechts, § 141, Rn. 42, 62. 154  Frister/Lindemann/Peters,

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

eine Bluttransfusion vornimmt, sich gemäß § 223 ff. StGB in Idealkonkurrenz mit §§ 239, 240 StGB strafbar macht156. Eine Notstandsrechtfertigung der Zwangsheilung müsse ausscheiden, obwohl die Zwangsbehandlung zur Rettung des unmittelbar bedrohten Lebens des Patienten erforderlich sei, da eine Zwangsbehandlung gegen das verfassungsrechtlich verbürgte Selbstbestimmungsrecht des Patienten verstoße157. (γ) A  nalyse der in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Lösungsansätze Die herrschende Lehre lehnt eine (Notstands-)Rechtfertigung der als Körperverletzung zu qualifizierenden Zwangsheilung ab und räumt so dem als Eingriffsgut betroffenen verfassungsrechtlich verbürgten Selbstbestimmungsrecht des Patienten und der (ebenfalls als Eingriffsgut tangierten) körperlichen Unversehrtheit des Patienten den Vorrang vor dem als Erhaltungsgut berührten Rechtsgut Leben ein, das demselben Rechtsgutsträger (Rechtsgüterbinnenkollision) zuzuordnen ist. Diese Posteriorisierung des Rechtsguts Leben begründet die herrschende Lehre im Wege der verfassungskonformen Auslegung des Strafrechts. Aus verfassungsrechtlicher Perspektive zutreffend (siehe näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (c) (aa)) wird argumentiert, dass eine Notstandsrechtfertigung der Zwangsbehandlung, selbst wenn diese die einzige Möglichkeit zur Rettung des akut bedrohten Lebens des Patienten darstellt, aufgrund des andernfalls verletzten Selbstbestimmungsrechts des Patienten ausscheiden müsse. Mit dieser Begründung räumt die herrschende Meinung im Rahmen der Interessenabwägung des § 34 StGB dem verfassungsrechtlich verbürgten Selbstbestimmungsrecht den Vorrang vor dem als Erhaltungsgut berührten Rechtsgut Leben ein. Hierin liegt in der Sache eine verfassungskonforme Auslegung des in § 34 StGB enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffs des „überwiegenden Interesses“. Zur naheliegenden Fragestellung, wie die Ablehnung der (Notstands-) Legitimierung einer lebensrettenden Zwangsheilung beim entscheidungsfähigen Patienten und die hiermit einhergehende Posteriorisierung des Lebens hinter dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten mit dem Höchstwertigkeitsdogma zu vereinbaren ist, finden sich keine Stellungnahmen. Das menschliche Leben kann im Anwendungsbereich des Höchstwertigkeitsdogmas jedoch allenfalls durch Verfassungshöchstwerte (Menschenwürde etc.) 156  Hillenkamp, Festschrift für Küper, S. 123 (129); Neumann, in: NK, StGB, § 34, Rn. 35 a; Rosenau, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, § 34, Rn. 34; Ulsenheimer, in: Laufs/Kern, Handbuch des Arztrechts, § 141, Rn. 42, 62. 157  Rosenau, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, § 34, Rn. 34; Ulsenheimer, in: Laufs/Kern, Handbuch des Arztrechts, § 141, Rn. 42.



A. Behandlungspflichten des Arztes141

überwogen werden, nicht jedoch durch das Selbstbestimmungsrecht des Patienten, selbst wenn eine Binnenrechtsgüterkollision vorliegt (siehe Kap. 6 II. 2. a) bb) (1) (a) (bb) (β)). Deshalb kann dies nur so interpretiert werden, dass der Anwendungsbereich des Höchstwertigkeitsdogmas im Hinblick auf die Problematik der lebensrettenden Zwangsheilung beim entscheidungsfähigen Patienten nicht nur nach Auffassung derjenigen nicht eröffnet ist, die das Höchstwertigkeitsdogma restriktiv als Verbot der Erzwingung der solidarischen Aufopferung des eigenen Lebens begreifen. Vielmehr betrachten wohl auch die Vertreter der vorherrschenden, extensiven Interpretation des Höchstwertigkeitsdogmas den Anwendungsbereich dieses Prinzips im Hinblick auf die lebensrettende Zwangsheilung beim entscheidungsfähigen Patienten nicht als eröffnet. Der Grund hierfür dürfte weniger darin zu suchen zu sein, dass die Problematik der Zwangsheilung durch eine Rechtsgüterbinnenkollision zwischen dem Rechtsgut Leben und dem demselben Rechtsgutsträger zuzurechnenden Selbstbestimmungsrecht des Patienten gekennzeichnet ist. Denn die Analyse der zur indirekten Sterbehilfe (Kap. 6 II. 2. a) bb) (1) (a) (aa) (γ)) und zum technischen Behandlungsabbruch durch Nicht-Ärzte (Kap. 6 II. 2. a) bb) (1) (a) (bb) (γ)) vertretenen Auffassungen hat gezeigt, dass das Vorliegen einer Binnenkollision aus Perspektive der herrschenden Lehre nicht per se zur Unanwendbarkeit des Höchstwertigkeitsdogma führt. Die fehlende Eröffnung des Anwendungsbereichs des Höchstwertigkeitsdogmas hinsichtlich der Problematik der Zwangsheilung dürfte vielmehr darauf zurückzuführen sein, dass das Rechtsgut Leben in dieser (Notstands-)Fallkonstellation lediglich als Erhaltungsgut berührt ist. Dies bestätigen die Kommentierungen und Literaturstellungnahmen zu § 34 StGB, die sich zwar in der Regel ohne Einschränkungen zum Höchstwertigkeitsdogma bekennen. Allerdings wird dieses Prinzip häufig nur für solche Fallgestaltungen konkretisiert, in denen ein lebensverkürzendes aktives Tun gegeben ist – also solche Konstellationen, in denen das Rechtsgut ­Leben nicht als Erhaltungsgut, sondern als Eingriffsgut berührt ist – und es wird konstatiert, dass eine Notstandsrechtfertigung einer Tötung eines Unschuldigen unter allen denkbaren Umständen am Höchstwertigkeitsdogma scheitern müsse158. Im Hinblick auf die Bedeutung des Höchstwertigkeitsdogmas für Fallkonstellationen, in denen das Rechtsgut Leben im Rahmen des § 34 StGB lediglich als Erhaltungsgut berührt ist, finden sich in den Kommentierungen und Stellungnahmen zu § 34 StGB in der Regel keine expliziten Ausführungen159 bzw. werden sogar offene Zweifel an der Gel158  Vgl. etwa: Fischer, StGB, § 34, Rn. 14 ff.; Neumann, in: NK, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 73 ff.; Roxin, Strafrecht AT, Bd. 1, § 16, Rn. 33 ff.; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, Rn. 316. 159  Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, § 34, Rn. 7 f.; Rosenau, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, § 34, Rn. 20 ff.; Zieschang, in: LK, StGB, Bd. 2, § 34, Rn. 56.

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

tung des Höchstwertigkeitsdogmas für diese Konstellation geäußert160. Außerdem bekennt sich die ganz herrschende Meinung zur Auslegungsregel, dass eine Notstandsrechtfertigung unter allen Umständen – und damit auch, sofern die Notstandshandlung die einzige Möglichkeit zur Rettung eines unmittelbar bedrohten Menschenlebens (Erhaltungsgut) darstellt – ausscheiden müsse, sofern durch eine Notstandsrechtfertigung gesetzliche Regelungen161 oder rechtlich geordnete Verfahren162, in welche die Notstandslage als Folge einkalkuliert ist, unterlaufen würden; ebenfalls sei kein Raum für eine Notstandsrechtfertigung, sofern durch die Notstandsrechtfertigung die Menschenwürde163, unantastbare Freiheitsrechte, wie das Autonomieprinzip164 oder fundamentale Wertprinzipen der (Gesamt-)Rechtsordnung165 verletzt würden. Umstritten ist lediglich, ob eine Notstandsrechtfertigung in diesen Fällen aufgrund fehlender Angemessenheit166 oder bereits im Rahmen der Interessenabwägung167 scheitert. 160  Erb, in: MüKo, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 116; Neumann, in: NK, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 73. 161  Erb, in: MüKo, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 180, 196 ff.; Kühl, Strafrecht AT, § 8, Rn.  175 ff.; Neumann, in: NK, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 117; Perron, in: Schönke/ Schröder, StGB, § 34, Rn. 35; Rengier, Strafrecht AT, § 19, Rn. 56; Roxin, Strafrecht AT, Bd. 1, § 16, Rn. 51 ff.; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, Rn. 318 a; Zieschang, in: LK, StGB, Bd. 2, § 34, Rn. 38. 162  Erb, in: MüKo, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 180, 184 ff.; Günther, in: SK, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 52 (33. Lfg., 7. Aufl. 2000); Kühl, Strafrecht AT, § 8, Rn. 175 ff.; Neumann, in: NK, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 119 f.; Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, § 34, Rn. 41; Rengier, Strafrecht AT, § 19, Rn. 57; Rosenau, in: Satzger/ Schluckebier/Widmaier, StGB, § 34, Rn. 33; Roxin, Strafrecht AT, Bd. 1, § 16, Rn.  51 ff.; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, Rn. 318 a; Zieschang, in: LK, StGB, Bd. 2, § 34, Rn. 38. 163  Erb, in: MüKo, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 180, 199; Kühl, Strafrecht AT, § 8, Rn. 171; Neumann, in: NK, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 118; Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, § 34, Rn. 41 e; Rengier, Strafrecht AT, § 19, Rn. 59; Rosenau, in: Satzger/ Schluckebier/Widmaier, StGB, § 34, Rn. 34; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, Rn. 319; Zieschang, in: LK, StGB, Bd. 2, § 34, Rn. 39. 164  Erb, in: MüKo, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 180, 196 ff.; Günther, in: SK, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 51 (33. Lfg., 7. Aufl. 2000); Kühl, Strafrecht AT, § 8, Rn. 168 ff.; Neumann, in: NK, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 118; Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, § 34, Rn. 38; Rengier, Strafrecht AT, § 19, Rn. 59; Rosenau, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, § 34, Rn. 34; Roxin, Strafrecht AT, Bd. 1, § 16, Rn. 46 ff.; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, Rn. 319; Zieschang, in: LK, StGB, Bd. 2, § 34, Rn. 68. 165  Erb, in: MüKo, StGB, Bd.  1, § 34, Rn. 180; Kühl, Strafrecht AT, § 8, Rn.  166 ff.; Neumann, in: NK, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 118; Perron, in: Schönke/ Schröder, StGB, § 34, Rn. 40; Rengier, Strafrecht AT, § 19, Rn.  59; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, Rn. 318; Zieschang, in: LK, StGB, Bd. 2, § 34, Rn. 69. 166  Kühl, Strafrecht AT, § 8, Rn. 166; Rengier, Strafrecht AT, § 19, Rn. 49; Rosenau, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, § 34, Rn. 32.



A. Behandlungspflichten des Arztes143

Dies kann nur so gedeutet werden, dass nach Auffassung der herrschenden Meinung das Höchstwertigkeitsdogma keine Geltung beansprucht, wenn das Rechtsgut Leben im Rahmen des § 34 StGB als Erhaltungsgut berührt ist, mit der Folge, dass eine Posteriorisierung des Rechtsguts Leben in diesen Konstellationen nicht von vorn herein ausgeschlossen ist. Zwar ließe sich ein auf die Menschenwürde und den Bestand des Staates beschränkter Vorrang dieser Rechtsgüter und Interessen vor dem Rechtsgut Leben noch als Ausnahmetatbestände einer grundsätzlichen Geltung des Höchstwertigkeitsdogmas für diese Konstellationen begreifen. Denn diese Interessen werden durch unsere Rechtsordnung bzw. Verfassung ebenfalls – selbst bei abstrakter Betrachtungsweise – als Höchstwerte angesehen. Deshalb würde ein auf diese beiden (Verfassungs-)Höchstwerte beschränkter Vorrang vor dem menschlichen Leben einer Geltung des Höchstwertigkeitsdogmas nicht zwingend entgegenstehen. Schließlich liegt dem Höchstwertigkeitsdogma die Annahme zugrunde, dass der Wert des menschlichen Lebens abstraktgenerell zu bestimmen ist und somit für jede denkbare Rechtsgüter- und Interessenkollision (unter Beteiligung des Rechtsguts Leben) – und daher auch für die Interessenabwägung des § 34 StGB – Geltung beansprucht, weil das Grundrecht auf Leben in der Verfassungsordnung das „höchste Individualrechtsgut“168 ist. Jedoch befürwortet die herrschende Lehre eine Notstandssperre (was die Posteriorisierung des im Rahmen des § 34 StGB als Erhaltungsgut berührten Rechtsguts Leben mit sich bringen kann) auch dann, wenn eine solche erforderlich ist, um eine Verletzung von unantastbaren Freiheitsrechten (also eine Verletzung des Kernbereichs der Grundrechte) zu vermeiden, sowie um zu verhindern, dass gesetzliche Regelungen und gesetzliche geregelte Verfahren, in welche die Notstandslage einkalkuliert ist, unterlaufen werden. Dies spricht entschieden dagegen, dass aus der Perspektive der herrschenden Lehre das Höchstwertigkeitsdogma für Fallkonstellationen Geltung beansprucht, in denen das Rechtsgut Leben im Rahmen des § 34 StGB als Erhaltungsgut berührt ist. Mit der Anerkennung der Freiheitsrechte, gesetzlicher Regelungen sowie gesetzlich geregelter Verfahren neben der Menschenwürde und dem Bestand des Staates als absolute Grenzen der Notstandsrechtfertigung tritt die herrschende Lehre vielmehr für eine verfassungskonforme bzw. verfassungsorientierte Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe „überwiegendes Interesse“ bzw. „Angemessenheit“ ein. Hierdurch wird dem Höchstwertigkeitsdogma für Konstellationen, in denen das Rechtsgut Leben im Rahmen der Interessenabwägung des § 34 StGB als Erhaltungsgut berührt ist, eine Absage erteilt. 167

167  Erb, in: MüKo, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 175  ff.; Neumann, in: NK, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 117 ff.; Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, § 34, Rn. 46 f.; Roxin, Strafrecht AT, Bd. 1, § 16, Rn. 46 ff. 168  Kühl, Strafrecht AT, § 8, Rn. 113.

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

Denn wie in Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (c) näher zu begründen sein wird, verpflichtet das Grundrecht auf Leben den Staat nicht dazu, jede zur Bewahrung menschlichen Lebens erforderliche Verletzung strafrechtlich geschützter Rechtsgüter (durch Notstand) zu legitimieren. Zwar besitzt der Staat Schutzpflichten zugunsten des menschlichen Lebens nicht nur im Falle privater Übergriffe, sondern auch in den – für den Notstand typischen – Fallkonstellationen „gegnerloser Not“, also bei objektiven Lebensgefahren aufgrund von Krankheit, Naturkatastrophen, Selbstverschulden etc. Jedoch kommt dem Staat bei der Erfüllung seiner Schutzpflichten – auch solcher zugunsten des menschlichen Lebens – ein weiter Gestaltungsspielraum zu, der sich regelmäßig nicht dahingehend verdichtet, dass nur eine ganz bestimmte gesetzliche Regelung oder staatliche Maßnahme rechtmäßig wäre. Außerdem bedarf auch der Staat auch bei der Erfüllung grundrechtlicher (Lebens-)Schutzpflichten, wenn er dabei in Rechte Dritter eingreift, einer gesetzlichen Grundlage, die den Anforderungen der Verfassung genügt und insbesondere dem Verhältnismäßigkeitsprinzip Rechnung trägt, das aus der Abwehrdimension der Grundrechte (die nicht zwingend Verfassungshöchstwerte repräsentieren müssen) resultiert. Dies kann dazu führen, dass der Staat die einzige Maßnahme unterlassen muss, die die Bewahrung des zu schützenden Rechtsguts gestattet. Für die Auslegung des § 34 StGB bedeutet die beschriebene Dogmatik grundrechtlicher Schutzpflichten, dass das Grundrecht auf Leben es nicht gebietet, jede zur Bewahrung menschlichen Lebens erforderliche Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsguts zu legitimieren. Vielmehr erzwingt die Verfassung die Existenz absoluter Grenzen für die Notstandsrechtfertigung, die auch dann gelten, wenn die Notstandshandlung unverzichtbar war, um ein andernfalls verlorenes Menschenleben zu retten. Zu diesen absoluten Notstandsgrenzen zählt neben den Verfassungshöchstwerten (Menschenwürde etc.) auch der (unabwägbare) Kernbereich der (Freiheits-) Grundrechte, die insbesondere zugunsten des Notstandsopfers oder zugunsten der durch die Strafnorm zu schützenden Person eingreifen können. Auch gesetzliche Regelungen, in die die Notstandslage einkalkuliert ist und gesetzlich geregelte Verfahren zur Bewältigung der Notstandslage dürfen durch eine Notstandsrechtfertigung auch dann nicht unterlaufen werden, wenn die Notstandshandlung zur Rettung eines unmittelbar gefährdeten Lebens unerlässlich war. Dies folgt aus der Dogmatik grundrechtlicher Schutzpflichten und dem – in Art. 20 Abs. 3 GG normierten und auch für die Judikative verbindlichen – Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes. Auch der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes, in der Gestalt, die dieses Prinzip durch die Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG gefunden hat, kann einer Notstandsrechtfertigung (einer zur Rettung menschlichen Lebens begangenen Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsguts) entgegen-



A. Behandlungspflichten des Arztes145

stehen, etwa wenn eine Notstandsrechtfertigung so stark in Grundrechte des Notstandsopfers oder anderer Grundrechtsträger (z. B. in Grundrechte der durch die Strafnorm zu schützenden Person) eingreifen würde, dass hierfür eine – tatsächlich nicht vorhandene – explizite gesetzliche Ermächtigung erforderlich wäre. Die allgemein anerkannte Auslegungsregel, wonach als äußerste Grenze der Notstandsrechtfertigung (die auch gilt, wenn die Notstandshandlung zur Rettung eines andernfalls verlorenen Menschenlebens erforderlich ist) nicht nur die Menschenwürde und das Interesse am Bestand des Staates anzuerkennen sind, sondern auch der unabwägbare Kernbereich der Grundrechte sowie gesetzlich geregelte Verfahren bzw. gesetzliche Regelungen, in die die Notstandslage einkalkuliert ist, genügt daher nicht nur den Anforderungen des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG (und ist somit verfassungsrechtlich zulässig). Vielmehr wird diese Auslegungsregel durch das Gebot der verfassungskonformen Auslegung des Strafrechts sogar erzwungen (für eine detailliertere Begründung sowie Rechtsprechungs- und Literaturnachweise, vgl. Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (c)). (b) Interessenkollision zwischen unterschiedlichen Trägern zuzuordnenden Rechtsgütern / Interessen (aa) „Zwangsblutspende-Fall“ (α) Falldarstellung Im „Zwangsblutspende-Fall“ entnimmt ein Arzt – in Ermangelung eines freiwilligen geeigneten Blutspenders – einem anderen Menschen gegen dessen Willen Blut, um einem Schwerverletzten das Leben zu retten. Diese Zwangsspende stellt die einzig verfügbare Möglichkeit dar, um den Schwerverletzten zu retten. (β) D  arstellung der in Literatur und Rechtsprechung ­vertretenen Lösungsansätze In strafrechtsdogmatischer Hinsicht stellt sich im „ZwangsblutspendeFall“ die Frage, ob in der zwangsweisen Blutentnahme eine rechtswidrige Körperverletzung (§ 223 StGB) zu Lasten des unfreiwilligen Blutspenders zu sehen ist oder ob die durch den Arzt begangene Körperverletzung im Wege des rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB) legitimiert werden kann, zumal die zwangsweise Blutentnahme das mildeste Mittel zur Rettung des unmittelbar bedrohten Lebens des Schwerverletzten darstellt.

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

Die herrschende Meinung169 bejaht im „Zwangsblutspende-Fall“ eine Strafbarkeit nach § 223 StGB, obwohl die Zwangsblutspende nur geringfügig in die körperliche Unversehrtheit des Spenders eingreift und dem schwerverletzten Empfänger das Leben rettet. Die erzwungene Blutspende sei einer Notstandsrechtfertigung (§ 34 StGB) nicht zugänglich; die zwangsweise Instrumentalisierung des Körpers, die in der Degradierung des unfreiwilligen Spenders zur lebenden Blutbank liege, verstoße gegen die Menschenwürde und / oder das Autonomie- oder Freiheitsprinzip170, die in ihrer Eigenschaft als fundamentale Rechtsprinzipien der Rechtsordnung die Grenzen der (Notstands-)Rechtfertigung darstellten171. Allerdings ist unter den Vertretern dieser Auffassung umstritten, ob die benannten Verstöße gegen fundamentale Rechtsprinzipien der Rechtsordnung auf der Ebene der Inte­ ressenabwägung172 oder auf der Ebene der Angemessenheit173 zu berücksichtigen sind und die Notstandsrechtfertigung somit am fehlenden „überwiegenden Interesse“ oder an der fehlenden „Angemessenheit“ scheitert. Erb174 teilt zwar das Ergebnis der herrschenden Meinung, wonach eine erzwungene Blutspende keiner Rechtfertigung zugänglich ist. Jedoch betrachtet er die erzwungene Blutspende nicht deshalb als „unangemessen“, weil sie gegen die Menschenwürde, unantastbare Freiheitsrechte oder andere fundamentale Prinzipien der Rechtsordnung verstößt, sondern weil die erzwungene Blutspende offensichtlich der Intention des geltenden Rechts widerspreche.175 Schließlich sehe die Rechtsordnung keine Möglichkeit vor, 169  Erb, in: MüKo, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 193 ff.; Günther, in: SK, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 51 (33. Lfg., 7. Aufl. 2000); Jäger, Strafrecht AT, Rn. 161; Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, § 34, Rn. 41 e; Meißner, Die Interessenabwägungsformel in der Vorschrift über den rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB), S. 211 f.; Neumann, in: NK, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 118; Rengier, Strafrecht AT, § 19, Rn. 59 ff.; Rosenau, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, § 34, Rn. 34; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, § 8, Rn. 318  ff.; a.  A. Roxin, Strafrecht AT, Bd. 1, § 16, Rn. 48; Zieschang, in: LK, StGB, Bd. 2, § 34, Rn. 80. 170  Jäger, Strafrecht AT, § 4, Rn. 161; Lenckner/Perron, in: StGB, § 34, Rn. 41 e; Meißner, Die Interessenabwägungsformel in der Vorschrift über den rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB), S. 211 f.; Neumann, in: NK, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 118; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, § 8, Rn. 318 ff.; a. A. Roxin, Strafrecht AT, Bd. 1, § 16, Rn. 48; Zieschang, in: LK, StGB, Bd. 2, § 34, Rn. 80. 171  Meißner, Die Interessenabwägungsformel in der Vorschrift über den rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB), S. 212; Neumann, in: NK, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 118; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, § 8, Rn. 319; im Ergebnis auch: Erb, in: MüKo, StGB, § 34, Rn. 183 f.; Zieschang, in: LK, StGB, Bd. 2, § 34, Rn. 80. 172  Lenckner/Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, § 34, Rn. 41 e. 173  Erb, in: MüKo, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 195; Jäger, Strafrecht AT, § 4, Rn. 161; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, § 8, Rn. 317 ff. 174  Erb, in: MüKo, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 193 ff. 175  Erb, in: MüKo, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 194.



A. Behandlungspflichten des Arztes147

die Blutspende ggf. mit hoheitlicher Gewalt zu erzwingen, obwohl die Inanspruchnahme polizeilicher Hilfe in einschlägigen Konstellationen naheliegend wäre.176 Hierin sei keine planwidrige Regelungslücke zu erblicken, die man über die polizeiliche Befugnisgeneralklausel schließen könne, da die Problematik seit langem bekannt sei.177 Dies habe zur Folge, dass das Eingriffsgut als Mittel zur Bewältigung fremder Not abwägungsfest sei und nicht durch eine Notstandsrechtfertigung unterlaufen werden dürfe.178 Lediglich Roxin179 bewertet die in der erzwungenen Blutspende liegende Körperverletzung zu Lasten des Spenders als durch Notstand (§ 34 StGB) gerechtfertigt. Die Zwangsblutspende verstoße nicht gegen fundamentale Prinzipien der Rechtsordnung, da der in der erzwungenen Blutspende liegende Zwangseingriff die Menschenwürde des Spenders gerade nicht verletze. Geringe körperliche Zwangseingriffe zum Schutz anderer Rechtsgüter verletzten nicht unter allen Umständen die Menschenwürde.180 Zu Recht betrachte das BVerfG die §§ 81 a Abs. 1 S. 2, 81 c StPO; § 372 a ZPO als verfassungsgemäß, wonach zwangsweise Blutentnahmen sogar zur Aufklärung geringfügiger Delikte bzw. zur Feststellung der Abstammung zulässig seien.181 Der in der erzwungenen Blutspende liegende Eingriff, der im Vergleich zu den durch die ZPO und die StPO legitimierten Zwangsblutentnahmen auch nicht invasiver ist und anders als diese der Rettung eines Menschenlebens diene, könne daher erst recht keine Menschenwürdeverletzung darstellen.182 (γ) A  nalyse der in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Lösungsansätze Die herrschende Lehre lehnt eine Notstandsrechtfertigung der als tatbestandsmäßige Körperverletzung zu qualifizierenden Zwangsblutspende ab und entscheidet so die Interessenkollision zwischen dem als Erhaltungsgut berührten Rechtsgut Leben des Schwerverletzten und der dem unfreiwilligen Spender (und somit einem personenverschiedenen Rechtsgutsträger) zustehenden körperlichen Unversehrtheit (Eingriffsgut) zugunsten letzterer. Diese Posteriorisierung des als Erhaltungsgut berührten Rechtsguts Leben wird damit begründet, dass die Menschenwürde und das Autonomieprinzip absolute Grenzen jeder Notstandsrechtsrechtfertigung darstellen und eine 176  Erb,

in: MüKo, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 194. in: MüKo, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 194. 178  Erb, in: MüKo, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 194. 179  Roxin, Strafrecht AT, Bd. 1, § 16, Rn. 49. 180  Roxin, Strafrecht AT, Bd. 1, § 16, Rn. 49. 181  Roxin, Strafrecht AT, Bd. 1, § 16, Rn. 49. 182  Roxin, Strafrecht AT, Bd. 1, § 16, Rn. 49. 177  Erb,

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

Notstandsrechtfertigung der Zwangsblutspende mit der zugunsten des unfreiwilligen Spenders eingreifenden Menschenwürde und / oder dem Autonomieprinzip nicht zu vereinbaren wäre; aus verfassungsrechtlicher Perspek­ tive ist diese Auffassung – wonach eine (Notstands-)Legitimierung einer Zwangsblutspende an entgegenstehenden Grundrechten des unfreiwilligen Spenders scheitert –zumindest im Ergebnis – zutreffend (näher zur verfassungsrechtlichen Perspektive: Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (c) (dd)). Die Posteriorisierung des als Erhaltungsgut berührten Rechtsguts Leben beruht im „Zwangsblutspende-Fall“ somit auf einer verfassungskonformen Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe „Angemessenheit“ bzw. „überwiegendes Interesse“. Auch die von Erb vertretene Auffassung, wonach eine Notstandsrechtfertigung der Zwangsblutspende alleine schon deshalb unangemessen ist, weil die Rechtsordnung keine Ermächtigungsgrundlage zur Verfügung stellt, die es gestattet, die Blutspende notfalls mit hoheitlicher Gewalt zu erzwingen, stellt eine verfassungskonforme Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der „Angemessenheit“ dar. Denn wie unter Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (c) (dd) näher zu begründen sein wird, steht in Ermangelung einer den Spender explizit zur Duldung der Zwangsblutspende verpflichtenden Ermächtigungsgrundlage der (Verfassungs-)Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes, in der Gestalt, die dieses Prinzip durch die Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG gefunden hat, einer Auslegung des § 34 StGB dahingehend entgegen, dass die Zwangsblutspende gerechtfertigt ist. Wie die mit der Strafbarkeit der Zwangsblutspende einhergehende Posteriorisierung des Rechtsguts Leben mit dem Dogma der Höchstwertigkeit des menschlichen Lebens zu vereinbaren ist, wird durch die herrschende Lehre nicht thematisiert. Dies bestätigt erneut die obige These (siehe Kap. 6 II. 2. a) bb) (2) (a) (aa)), dass selbst die Vertreter der herrschenden extensiven Interpretation des Höchstwertigkeitsdogmas (i. e. Leben als Höchstwert, der allenfalls durch andere (Verfassungs-)Höchstwerte überwogen werden kann) den Anwendungsbereich dieses Prinzips im Hinblick auf solche Notstandskonstellationen als nicht eröffnet betrachten, in denen – wie bei der Zwangsblutspende – das Rechtsgut Leben lediglich als Erhaltungsgut berührt ist, mit der Folge, dass eine Posteriorisierung des Rechtsguts Leben, hinter Rechtsgütern, die keine Verfassungshöchstwerte repräsentieren, in diesen Konstellationen nicht von vorn herein ausgeschlossen ist. Vielmehr entscheidet die herrschende Meinung die Interessenabwägung zwischen dem als Erhaltungsgut berührten Rechtsgut Leben und einem hiermit kollidierenden Rechtsgut bzw. Interesse unter Beachtung der Vorgaben, die die Verfassung für die strafrechtliche Bewertung der in Frage stehenden Kollisionssituation vorgibt; dies gilt auch dann, wenn die Verfassung im konkreten Fall eine Posteriorisierung des Rechtsguts Leben hinter einem Rechtsgut, das keinen Verfassungshöchstwert darstellt, gebieten sollte.



A. Behandlungspflichten des Arztes149

(bb) Erzwungene Lebend(organ)spende (α) Falldarstellung Neben der erzwungenen Blutspende wird in der Literatur häufig auch die vergleichbare Problematik diskutiert, ob eine gegen oder ohne den Willen des lebenden Organspenders erfolgende (und somit hinter den Explanta­ tionsvoraussetzungen des § 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 b) TPG zurückbleibende) Organentnahme stets nach § 19 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 b) TPG und § 223 StGB strafbar sei. Es stellt sich nämlich die Frage, ob eine erzwungene Lebend(organ)spende durch Notstand gerechtfertigt werden kann, sofern es sich um die einzige Möglichkeit zur Rettung eines akut bedrohten Menschenlebens handelt und der unfreiwillige Organspender durch die Organentnahme keinen nennenswerten gesundheitlichen Gefahren oder dauerhaften Beeinträchtigungen ausgesetzt ist. (β) D  arstellung der in Literatur und Rechtsprechung ­vertretenen Lösungsansätze Nach einhelliger Meinung kann eine gegen oder ohne den Willen des Spenders erfolgende Lebend(organ)spende unter keinen Umständen durch § 34 StGB gerechtfertigt werden; daher macht sich der Täter auch dann nach § 19 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 b) TPG (nach einer Literaturmeinung in Tateinheit mit § 223 StGB183) strafbar, wenn diese Vorgehensweise die einzige Möglichkeit zur Rettung einer an akutem Organversagen leidenden Person darstellt und die erzwungene Lebendspende den Spender keinen wesentlichen Gesundheitsgefahren bzw. keinen nennenswerten gesundheitlichen Einschränkungen aussetzen würde.184 Zur Begründung wird hauptsächlich angeführt, dass eine Notstandsrechtfertigung einer Organentnahme gegen oder ohne den Willen des Lebendspenders gegen Grundprinzipien der Rechtsordnung – nämlich gegen das Selbstbestimmungsrecht des Patienten bzw. sogar die Menschenwürde185 – verstoßen 183  Für Tateinheit: BT-Drs. 13/4355, 31; Kühl, Strafrecht AT, §  8, Rn. 174; Schroth, in: Schroth et al., TPG, § 19, Rn. 163 ff.; Bernsmann/Sickor, in: Höfling, TPG, § 19, Rn. 98 ff. 184  Erb, in: MüKo, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 197; Kühl, Strafrecht AT, § 8, Rn. 174; Neumann, in: NK, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 118 b; Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, § 34, Rn. 41 e; Rosenau, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, § 34, Rn. 34; Schroth, in: Schroth et al., TPG, § 19, Rn. 197; Ulsenheimer, in: Laufs/Kern, Handbuch des Arztrechts, § 131, Rn. 14. 185  Kühl, Strafrecht AT, § 8, Rn. 174; Rosenau, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, § 34, Rn. 34; Ulsenheimer, in: Laufs/Kern, Handbuch des Arztrechts, § 131, Rn. 14.

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

würde und daher die „Angemessenheit der Tat“ abzulehnen sei. Zusätzlich zu diesem Argument oder alternativ wird darauf verwiesen, dass eine Notstandsrechtfertigung die Regelung des § 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 b) TPG unterlaufen würde, die zwingend die Einwilligung des Spenders in die Lebend(organ)spende verlangt.186 (γ) A  nalyse der in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Lösungsansätze Die herrschende Lehre lehnt eine Notstandsrechtfertigung sowohl der als Körperverletzung zu qualifizierenden erzwungenen Lebend(organ)spende als auch des Verstoßes gegen § 19 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 b) TPG ab. Die hierin liegende Posteriorisierung des als Erhaltungsgut berührten menschlichen Lebens begründet die herrschende Lehre (im Rahmen der Notstandsvoraussetzung der „Angemessenheit“) mit dem Argument, dass eine Notstandsrechtfertigung das Selbstbestimmungsrecht des Patienten bzw. die Menschenwürdegarantie verletzen würde und die Regelung des § 8 TPG unterlaufen würde. Diese Argumentation beruht auf einer verfassungskonformen Auslegung der unbestimmten Notstandsvoraussetzung der „Angemessenheit“. Denn wie unter Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (c) (bb) näher darzulegen sein wird, erzwingt das Grundrecht auf Leben die Legitimierung einer zur Bewahrung menschlichen Lebens erforderlichen Lebendspende gegen oder ohne den Willen des Spenders nicht; vielmehr wäre eine Notstandsrechtfertigung des Verstoßes gegen § 19 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 b) TPG, die die Lebendspende gegen oder ohne den Willen des Spenders explizit unter Strafe stellen, wegen Verstoßes gegen den (in Art. 20 Abs. 3 GG normierten und auch für die Judikative geltenden) Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes verfassungswidrig. Zudem würde eine solche (Notstands-)Legitimierung das (zugunsten des Spenders eingreifende) verfassungsrechtlich verbürgte Selbstbestimmungsrecht bzw. sogar die Menschenwürde verletzen, da diese Grundrechte einer Legitimierung einer entgegen oder ohne den Willen des Spenders erfolgenden Lebend(organ)spende zwingend entgegenstehen (näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (c) (bb)). Die Frage, wie die Ablehnung einer Notstandsrechtfertigung der erzwungenen Lebend(organ)spende und die hiermit einhergehende Posteriorisierung des menschlichen Lebens mit dem Dogma vom Höchstwert des menschlichen Lebens zu vereinbaren ist, wirft die herrschende Lehre auch in diesem Zusammenhang noch nicht einmal auf. Dies sowie die Tatsache, dass eine Pos­ teriorisierung des menschlichen Lebens hinter dem Selbstbestimmungsrecht 186  Neumann, in: NK, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 118; Kühl, Strafrecht AT, § 8, Rn. 174.



A. Behandlungspflichten des Arztes151

des Patienten mit einer konsequenten Anwendung des Höchstwertigkeitsdogmas unter keinen Umständen zu vereinbaren wäre, bestätigt erneut die obige These (Kap. 6 II. 2. a) bb) (2) (a) (aa)). Danach ist der Anwendungsbereich des Höchstwertigkeitsdogmas in Notstandskonstellationen, in denen das Rechtsgut Leben – wie bei der erzwungenen Lebendorganspende – im Rahmen des § 34 StGB lediglich als Erhaltungsgut berührt ist, nicht eröffnet. Dies gilt nicht nur dann, wenn man das Höchstwertigkeitsdogma mit einer Mindermeinung restriktiv als Verbot zum Zwang der solidarischen Aufopferung des eigenen Lebens interpretiert, sondern selbst unter Zugrundelegung der von der herrschenden Meinung vertretenen extensiven Interpretation des Höchstwertigkeitsdogmas, wonach das Leben einen Höchstwert darstellt, der allenfalls durch andere Verfassungshöchstwerte (Menschenwürde etc.) überwogen werden kann. Denn die herrschende Meinung wendet das Höchstwertigkeitsdogma auf Notstandskonstellationen, in denen das Leben als Erhaltungsgut berührt ist, nicht an. Vielmehr trägt die herrschende Meinung bei der Entscheidung dieser Interessenkollisionen zwischen dem als Erhaltungsgut berührten Rechtsgut Leben und einem hiermit kollidierenden Rechtsgut oder Interesse den Vorgaben Rechnung, die die Verfassung für die strafrechtliche Bewertung dieser konkreten Interessenkollision macht. Das gilt selbst wenn die Verfassung eine Posteriorisierung des Rechtsguts Leben hinter einem Rechtsgut gebietet, das keinen Verfassungshöchstwert repräsentiert. (cc) P  ostmortale Organentnahme entgegen dem Willen des Spenders (α) Falldarstellung In dieser Konstellation entnimmt ein Arzt einem Hirntoten, der einer postmortalen Entnahme seiner Organe zu Lebzeiten explizit die Zustimmung verweigert hatte und somit unter Verletzung der Vorschrift des §§ 3 Abs. 2 Nr. 1 TPG, wonach eine postmortale Organentnahme bei lebzeitigem Widerspruch des Spenders unzulässig ist, ein oder mehrere Organe. Diese Vorgehensweise stellt in Ermangelung eines passenden verfügbaren Spenderorgans die einzige Möglichkeit dar, um einem an akutem Organversagen leidenden Patienten das Leben zu retten. (β) D  arstellung der in Literatur und Rechtsprechung ­vertretenen Lösungsansätze In strafrechtsdogmatischer Hinsicht stellt sich in dieser Fallkonstellation die Frage, ob sich der Arzt nach § 19 Abs. 2 in Verbindung mit § 3 Abs. 2 Nr. 1 TPG strafbar macht, wonach eine postmortale Organentnahme entge-

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

gen dem expliziten, lebzeitigen Widerspruch des Spenders unzulässig ist, oder ob der Arzt über Notstand (§ 34 StGB) gerechtfertigt werden kann, da der Normverstoß das mildeste Mittel zur Rettung eines unmittelbar bedrohten Menschenlebens darstellt. Wenngleich einige Literaturvertreter eine Notstandsrechtfertigung in Fallkonstellationen erwägen, in denen eine legitime Explantation ausschließlich am Arztvorbehalt des § 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 TPG scheitert, lehnt die ganz herrschende Meinung187 (jedenfalls seit Inkrafttreten des TPG) eine (Notstands-)Rechtfertigung ab, sofern der Spender der postmortalen Entnahme seiner Organe zu Lebzeiten explizit widersprochen hatte. Die Zwangsorganentnahme stelle kein angemessenes Mittel zur Gefahrenabwehr im Sinne des § 34 S. 2 StGB dar. Dies begründet ein Teil der Lehre188 mit dem Argument, dass die Organentnahme zu Transplantationszwecken durch die §§ 3 ff. TPG abschließend geregelt werde und durch eine Anwendbarkeit des § 34 StGB unterlaufen würde. Andere Autoren rekurrieren zur Begründung der fehlenden Angemessenheit auf den Vorrang des (einer „Zwangsorganspende“ entgegenstehenden) postmortalen Selbstbestimmungsrechts bzw. postmortalen Persönlichkeitsrechts des Organspenders vor dem Rechtsgut Leben des zu Rettenden.189 (γ) A  nalyse der in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Lösungsansätze Die herrschende Lehre im Strafrecht verneint bezüglich der Problematik der postmortalen Organentnahme entgegen dem (lebzeitigen) Willen des Spenders eine Notstandsrechtfertigung und gelangt so zu einer Strafbarkeit gem. § 19 Abs. 2 in Verbindung mit § 3 Abs. 2 Nr. 1 TPG. Die hierin liegende Posteriorisierung des als Erhaltungsgut berührten Rechtsguts Leben wird im Wege der verfassungskonformen Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der „Angemessenheit“ begründet. Denn die herrschende Lehre argumentiert, dass eine (den Lebensschutz realisierende) Notstandsrechtfertigung der postmortalen Organentnahme entgegen dem lebzeitig geäußer187  Erb, in: MüKo, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 198; Neumann, in: NK, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 118 b; Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, § 34, Rn. 41 e; Rosenau, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, § 34, Rn. 34; Schroth, in: Schroth et al., TPG, § 19, Rn. 22; Tag, in: MüKo, StGB, Bd. 6, § 19 TPG, Rn. 14; Fischer, StGB, § 168, Rn. 15; Ulsenheimer, in: Laufs/Kern, Handbuch des Arztrechts, § 131, Rn. 14. 188  Erb, in: MüKo, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 198; Tag, in: MüKo, StGB, Bd. 6, § 19 TPG, Rn. 14; Fischer, StGB, § 168, Rn. 15. 189  Fischer, StGB, § 168, Rn. 15; Rosenau, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, § 34, Rn. 34; Ulsenheimer, in: Laufs/Kern, Handbuch des Arztrechts, § 131, Rn. 14.



A. Behandlungspflichten des Arztes153

ten Willen des Spenders das postmortale Persönlichkeitsrecht des Organspenders bzw. das postmortal zu achtende Selbstbestimmungsrecht des Patienten verletzen würde und / oder die abschließenden §§ 3 ff. TPG unterlaufen würde und verneint mit dieser Argumentation die „Angemessenheit“ der Notstandshandlung. In dieser Argumentation liegt eine verfassungskonforme Auslegung. Denn wie unter Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (c) (cc) näher darzulegen sein wird, erzwingt das Grundrecht auf Leben die Legitimierung einer entgegen dem Willen des Spenders erfolgenden postmortalen Organentnahme selbst dann nicht, wenn diese zur Bewahrung menschlichen Lebens unausweichlich war; vielmehr würde eine Notstandsrechtfertigung des Verstoßes gegen § 19 Abs. 2 in Verbindung mit § 3 Abs. 2 Nr. 1 TPG – die die postmortale Organentnahme gegen den Willen des Spenders explizit unter Strafe stellen – gegen den (in Art. 20 Abs. 3 GG normierten und auch für die Judikative geltenden) Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes verstoßen; zudem würde eine solche (Notstands-)Legitimierung das – zugunsten des unfreiwilligen Spenders eingreifende – postmortal zu achtende Persönlichkeitsrecht bzw. die postmortal zu achtende Menschenwürde verletzen. Da eine Posteriorisierung des menschlichen Lebens hinter dem postmortalen Persönlichkeitsrecht des Organspenders mit dem Dogma der Höchstwertigkeit des menschlichen Lebens unter keinen Umständen zu vereinbaren wäre und sich in den Literaturstellungnahmen zur strafrechtlichen Behandlung der postmortalen Organentnahme entgegen dem Willen des Spenders auch keinerlei Äußerungen zum Höchstwertigkeitsdogma finden, wird zudem die oben (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (3) (b) (aa) (γ)) aufgestellte These bestätigt. Danach ist der Anwendungsbereich des Höchstwertigkeitsdogmas in Notstandskonstellationen, in denen das Rechtsgut Leben – wie bei der postmortalen Organentnahme entgegen dem Willen des Spenders – im Rahmen des § 34 StGB lediglich als Erhaltungsgut berührt ist, nicht eröffnet. Dies gilt nicht nur dann, wenn man das Höchstwertigkeitsdogma mit einer Mindermeinung restriktiv als Verbot zum Zwang der solidarischen Aufopferung des eigenen Lebens interpretiert, sondern selbst unter Zugrundelegung der von der herrschenden Meinung vertretenen extensiven Interpretation des Höchstwertigkeitsdogmas, wonach das Leben einen Höchstwert darstellt, der allenfalls durch andere Verfassungshöchstwerte (Menschenwürde etc.) überwogen werden kann. Denn die herrschende Meinung wendet das Höchstwertigkeitsdogma auf Notstandskonstellationen, in denen das Leben als Erhaltungsgut berührt ist, nicht an. Vielmehr trägt die herrschende Meinung bei der Entscheidung dieser Interessenkollisionen zwischen dem als Erhaltungsgut berührten Rechtsgut Leben und einem hiermit kollidierenden Rechtsgut oder Interesse den Vorgaben Rechnung, die die Verfassung für die strafrechtliche Bewertung dieser konkreten Interessenkollision macht,

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

selbst wenn die Verfassung eine Posteriorisierung des Rechtsguts Leben hinter einem Rechtsgut gebietet, das keinen Verfassungshöchstwert repräsentiert. (dd) „Millionärs-Fall“ (α) Falldarstellung Der „Millionärs-Fall“ ist ebenso wie der Fall der erzwungenen Blutspende ein sog. Schul-Fall; ihm liegt folgender fiktiver Sachverhalt zugrunde: Ein mittelloser Schwerkranker entwendet einem Millionär Geld für eine für ihn sonst nicht finanzierbare, lebensrettende Behandlung. Der hierdurch verursachte Diebstahl zu Lasten des Millionärs stellt das mildeste Mittel zur Rettung des unmittelbar bedrohten Lebens des Patienten dar. (β) D  arstellung der in Literatur und Rechtsprechung ­vertretenen Lösungsansätze Aus strafrechtlicher Perspektive stellt sich im „Millionärs-Fall“ die Frage, ob der von dem mittellosen Schwerkranken zu Lasten des Millionärs begangene Diebstahl (§ 242 StGB) nach § 34 StGB gerechtfertigt werden kann, weil die Diebstahlstat unerlässlich war, um das unmittelbar bedrohte Leben (Erhaltungsgut) des Diebstahlstäters zu bewahren, während der bestohlene Millionär durch die Tat lediglich in seinem Eigentum (Eingriffsgut) verletzt wird. Die ganz herrschende Meinung lehnt eine Notstandsrechtfertigung des Diebstahlstäters ab und gelangt zur Strafbarkeit.190 Die Ablehnung der Notstandsrechtfertigung wird zumeist auf die Argumentation gestützt, dass die Behebung von Notlagen, wie dem „Millionärs-Fall“ zugrundeliegend, alleine Aufgabe der Sozialgemeinschaft sei und dem Einzelnen in dem Fall, dass die Sozialgemeinschaft sich gegen die Behebung einer solchen Notlage entscheide, keine weitergehenden Pflichten als Sonderopfer auferlegt werden dürften.191 Mit dieser Begründung wird von einem Teil der Autoren die 190  Erb, in: MüKo, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 185; Freund, Strafrecht AT, § 3, Rn. 73; Hirsch, in: LK, StGB, Bd. 2, § 34, Rn. 69; Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, S. 161; ders., GA 1985, 295 (297); Neumann, in: NK, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 40; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, Rn. 317 ff.; Zieschang, in: LK, StGB, Bd. 2, § 34, Rn. 69. 191  Freund, Strafrecht AT, § 3, Rn. 73; Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, S. 161; Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, § 34, Rn. 41 e; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, Rn. 317.



A. Behandlungspflichten des Arztes155

„Angemessenheit“ der Notstandshandlung192 und von anderen das „überwiegende Interesse“193 an der Rettung des Rechtsguts Leben abgelehnt, je nachdem, ob der Angemessenheitsklausel des § 34 StGB gegenüber der Interessenabwägung (§ 34 StGB) eine eigenständige Bedeutung zugemessen wird oder nicht. Hingegen lassen Hirsch und Zieschang eine Notstandsrechtfertigung im „Millionärs-Fall“ scheitern, indem sie auf der Ebene der Interessenabwägung auf den Allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) rekurrieren: Eine Notstandsrechtfertigung im „Millionärs-Fall“ sei abzulehnen, weil aufgrund des Allgemeinen Gleichheitssatzes – der als verfassungsrechtlich verankertes Rechtsprinzip eine absolute Grenze der Notstandsrechtfertigung darstelle – über eine Notstandsrechtfertigung keine Besserstellung Einzelner gegenüber der Allgemeinheit, die auf die Möglichkeiten der staatlichen Krankenversorgung beschränkt ist, herbeigeführt werden dürfe.194 (γ) A  nalyse der in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Lösungsansätze Im „Millionärs-Fall“ räumt die ganz herrschende Meinung im Rahmen der Interessenabwägung des § 34 StGB bzw. auf der Ebene der Angemessenheitsprüfung (§ 34 S. 2 StGB) dem als Eingriffsgut tangierten Eigentum (des bestohlenen Millionärs) Vorrang vor dem als Erhaltungsgut berührten Rechtsgut Leben (des Diebs) ein und verneint infolgedessen eine Notstandsrechtfertigung des Diebstahls. Diese Posteriorisierung des menschlichen Lebens wird von einem Teil der Literatur mit der Begründung gerechtfertigt, es sei Aufgabe der Sozialgemeinschaft und nicht des Einzelnen, Notlagen, wie die dem „Millionärs-Fall“ zugrundeliegende, zu beseitigen. Einem Einzelnen dürften – sofern sich die Sozialgemeinschaft gegen die Behebung dieser Notlage entscheide – keine, über Beiträge zu den sozialen Sicherungssystemen hinausgehende, Sonderopfer auferlegt werden. Andere argumentieren, es sei mit dem Allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) nicht zu vereinbaren, dass Einzelne im Wege des Diebstahls eine Besserstellung gegenüber der, auf die Möglichkeiten der staatlichen Krankenversorgung beschränkten, Allgemeinheit erlangen. Die Auffassung, die auf den einer Notstandsrechtfertigung entgegenstehenden Allgemeinen Gleichheitssatz verweist, begründet die, in der Ablehnung der Notstands192  Freund,

Strafrecht AT, § 3, Rn. 73; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, Rn. 317. in: Schönke/Schröder, StGB, § 34, Rn. 41 e; Zieschang, in: LK, StGB, Bd. 2, § 34, Rn. 69. 194  Hirsch, in: LK, StGB, Bd. 2, § 34, Rn. 69. 193  Perron,

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

rechtfertigung liegende Posteriorisierung des als Erhaltungsgut berührten menschlichen Lebens hinter dem Rechtsgut Eigentum (Eingriffsgut) explizit im Wege der verfassungskonformen Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs des „überwiegenden Interesses“. Die von einer anderen Literaturmeinung angeführte Argumentation, die auf die Existenz von einer Notstandsrechtfertigung entgegenstehenden sozialen Sicherungssystemen verweist, sowie darauf, dass auch einem Millionär (im Wege der Notstandsrechtfertigung eines Diebstahls) kein über die Beiträge zu den sozialen Sicherungssystemen hinausgehendes Sonderopfer auferlegt werden dürfe, stellt in der Sache ebenfalls eine verfassungskonforme Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe dar. Denn den Rechtsgrund dafür, dass im „Millionärs-Fall“ eine (Notstands-)Rechtfertigung ausscheiden muss, weil eine derartige Diebstahlsrechtfertigung für das Diebstahlsopfer ein unzumutbares Sonderopfer bedeuten würde, liefern die Eigentumsfreiheit und der Allgemeine Gleichheitssatz (näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (c) (ee)). Mit der Frage, wie sich die mit der Ablehnung einer Notstandsrechtfertigung im „Millionärs-Fall“ einhergehende Posteriorisierung des menschlichen Lebens hinter dem Eigentumsrecht (des Millionärs) mit dem Dogma der Höchstwertigkeit des menschlichen Lebens vereinbaren lässt, setzen sich die Stellungnahmen zum „Millionärs-Fall“ nicht auseinander. Dies und die Tatsache, dass die im „Millionärs-Fall“ allgemein befürwortete Posteriorisierung des menschlichen Lebens hinter dem Eigentum mit einer konsequenten Geltung des Höchstwertigkeitsdogmas unter keinen Umständen in Einklang zu bringen wäre, bestätigt die oben (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (3) (a) (aa) (α)) aufgestellte These. Danach ist selbst unter Zugrundelegung der herrschenden extensiven Interpretation des Höchstwertigkeitsdogmas (i. e. Leben als Höchstwert, der allenfalls durch andere Verfassungshöchstwerte überwogen werden kann) der Anwendungsbereich dieses Prinzips in Notstandskonstellationen, in denen das Rechtsgut Leben – wie im „MillionärsFall“ – lediglich als Erhaltungsgut berührt ist, nicht eröffnet. Dies hat zur Folge, dass in diesen Fallgestaltungen eine Posteriorisierung des Rechtsguts Leben hinter Rechtsgütern, die keine Verfassungshöchstwerte repräsentieren, nicht von vorn herein ausgeschlossen ist. Vielmehr wird die Interessenabwägung zwischen dem als Erhaltungsgut berührten Rechtsgut Leben und dem hiermit kollidierenden Rechtsgut unter Beachtung der Vorgaben entschieden, die die Verfassung für die strafrechtliche Bewertung der konkreten Kollisionssituation vorgibt. Das gilt selbst dann, wenn die Verfassung eine Posteriorisierung des Lebens hinter einem Rechtsgut erzwingt, das keinen Verfassungshöchstwert darstellt. Auch finden sich in der Literatur zum „Millionärs-Fall“ keinerlei Stellungnahmen zu der Frage, wie sich die bezüglich des „Millionärs-Falls“



A. Behandlungspflichten des Arztes157

allgemein befürwortete Posteriorisierung des Rechtsguts Leben (Erhaltungsgut) hinter dem Rechtsgut Eigentum (Eingriffsgut) mit dem Grundsatz vereinbaren lässt, wonach Personenwerten grundsätzlich Vorrang vor Sach­ interessen zukommt. Zu diesem Grundsatz bekennt sich die ganz herrschende Lehre unter Berufung auf Art. 1 Abs. 1 GG in ihren Kommentierungen zur Interessenabwägung des § 34 StGB195, ohne diesen Grundsatz explizit auf bestimmte Fallkonstellationen zu beschränken. Einen Ausnahmetatbestand vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen erkennt die herrschende Lehre explizit nur für die Fallkonstellation an, dass immense Sachwerte auf dem Spiel stehen und Personenwerten nur geringe Einbußen in Form von geringfügigen Gesundheits- oder Freiheitseinbußen drohen196. Dieser Ausnahmetatbestand, der voraussetzt, dass der Personenwert (Gesundheit bzw. Freiheit) im Rahmen der Interessenabwägung des § 34 StGB als Eingriffsgut berührt und das Sachinteresse als Erhaltungsgut tangiert ist, ist auf den „Millionärs-Fall“, wo das Sachinteresse Eingriffsgut und der Personenwert Erhaltungsgut ist, offenkundig nicht anwendbar. Die im „Millionärs-Fall“ allgemein befürwortete Posteriorisierung des Personenwerts hinter dem Sachinteresse kann daher nur so gedeutet werden, dass die herrschende Meinung den Anwendungsbereich des Grundsatzes vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen in Notstandskonstellationen, in denen der Personenwert als Erhaltungsgut und das Sachinteresse als Eingriffsgut berührt ist, nicht als eröffnet betrachtet oder dieses Prinzip in derartigen Konstellationen zumindest nicht konsequent anwendet. Hierfür spricht auch der Umstand, dass die herrschende Meinung – wie in Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (3) (a) (aa) (γ) näher dargestellt – gesetzlich geregelte Verfahren und gesetzliche Regelungen, in welche die Notstandslage einkalkuliert ist, unverzichtbare Freiheitsrechte (wie das Autonomieprinzip) sowie fundamentale Wertprinzipien der Rechtsordnung als absolute Grenzen der Notstandsrechtfertigung anerkennt und somit für die Anerkennung der Verfassung – die neben den Grundrechten auch den Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes garantiert – als absolute Grenze der Notstandsrechtfertigung plädiert. Denn ein strikter Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen, der auch für solche Notstandskonstellationen Geltung beansprucht, in denen der Personenwert lediglich als Erhaltungsgut (und das Sachinteresse als Eingriffsgut) berührt ist, 195  Kühl, Strafrecht AT, § 8, Rn. 113; Maurach/Zipf, Strafrecht AT, TeilBd. 1, § 27, Rn. 29; Neumann, in: NK, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 72; Perron, in: Schönke/ Schröder, StGB, § 34, Rn. 23; Rengier, Strafrecht AT, § 19, Rn. 28; Rosenau, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, § 34, Rn. 18; Roxin, Strafrecht AT, Bd. 1, § 16, Rn. 29; Zieschang, in: LK, StGB, Bd. 2, § 34, Rn. 56. 196  Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT, § 17, Rn. 69 f.; Perron, in: Schönke/ Schröder, StGB, § 34, Rn. 26; Rengier, Strafrecht AT, § 19, Rn. 28; Rosenau, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, § 34, Rn. 19; Roxin, Strafrecht AT, Bd. 1, § 16, Rn. 31.

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

wäre mit den beschriebenen absoluten Notstandsgrenzen nicht zu vereinbaren. Denn hierzu zählt auch der Kernbereich der Grundrechte und somit auch der Kernbereich der Grundrechte zum Schutz von Eigentum (Art. 14 GG) und Vermögen (das nach herrschender Meinung durch die allgemeine Handlungsfreiheit, Art. 2 Abs. 1 GG, geschützt wird197) sowie der Allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG). Diese Garantien können einem Vorrang des Personenwerts vor dem Sachinteresse in Bezug auf solche (Notstands-)Fallkonstellationen zwingend entgegenstehen, in denen der Personenwert lediglich als Erhaltungsgut berührt ist. Dies belegt insbesondere der „Millionärs-Fall“, bei dem die Eigentumsfreiheit, der Allgemeine Gleichheitssatz sowie der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes eine Notstandslegitimierung des in diesem Fall verwirklichten Diebstahls verbieten, obwohl dieser zur Bewahrung eines unmittelbar bedrohten Lebens (Erhaltungsgut) erforderlich ist (näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (c) (ee)). b) Ergebnis der Analyse: Bewertung des Rechtsguts Leben (im Verhältnis zu kollidierenden Rechtsgütern / Interessen) und von Personenwerten im Verhältnis zu kollidierenden Sachinteressen durch die herrschende Strafrechtsdogmatik Unter Zugrundelegung der obigen Analyse der Fallkonstellationen, in denen Literatur und / oder Rechtsprechung für eine Posteriorisierung des Rechtsguts Leben (hinter kollidierenden Rechtsgütern bzw. Interessen) bzw. für eine Posteriorisierung von Personenwerten hinter Sachinteressen eintreten (Kap. 6 A. II. 2. a) bb)), ergibt sich im Hinblick auf die Bewertung des Rechtsguts Leben (im Verhältnis zu kollidierenden Rechtsgütern bzw. Interessen) sowie im Hinblick auf die Bewertung von Personenwerten im Verhältnis zu Sachinteressen durch die herrschende Strafrechtsdogmatik folgendes Bild: aa) Dogma vom Höchstwert des menschlichen Lebens Hinsichtlich der Fragestellung, inwieweit dem Rechtsgut Leben der Rang eines Höchstwertes zukommt, ist zwischen zwei Auffassungen zu differenzieren, die sich in der Theorie weitaus deutlicher unterscheiden, als wenn man – wie hier geschehen – ihre Anwendung in der Praxis in die Analyse einbezieht: 197  BVerfGE 95, 267 (300); BVerwGE 87, 324 (330); Axer, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 14, Rn. 55; Bryde, in: von Münch/Kunig, GG, Bd. 1, Art. 14, Rn. 23; Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14, Rn. 161 ff. (59. Aufl. 2010).



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(1) Herrschende Meinung Die herrschende Meinung, die für eine extensive Interpretation des Dogmas der Höchstwertigkeit des menschlichen Lebens eintritt, begründet dieses Prinzip mit dem (vermeintlichen) Rang bzw. Wert des menschlichen Lebens als verfassungsrechtlichem Höchstwert und folgert hieraus, dass das Rechtsgut Leben abwägungsresistent ist bzw. allenfalls durch weitere Verfassungshöchstwerte überwogen werden kann, wie die Menschenwürde, das Interesse am Bestand des Staates oder das Interesse an der freiheitlichen demokratischen Grundordnung – also durch Verfassungswerte, deren Rang sogar bei abstrakter Betrachtungsweise noch oberhalb des menschlichen Lebens anzusiedeln ist. Der von der herrschenden Meinung vertretenen Auslegung des Höchstwertigkeitsdogmas liegt also die Prämisse zugrunde, dass den Grundrechten und damit auch dem Grundrecht auf Leben innerhalb der Werteordnung des Grundgesetzes ein bestimmter abstrakter Rang im Verhältnis zu anderen Grundrechten und Verfassungswerten zukommt und dass die Entscheidung jeder beliebigen – und somit auch jeder strafrechtlich relevanten – Interessenkollision zwischen dem menschlichen Leben und anderen Rechtsgütern bzw. Interessen dieses abstrakte Rangverhältnis widerspiegeln muss. Die theoretischen Aussagen der herrschenden Meinung zum Anwendungsbereich des Höchstwertigkeitsdogmas sind nur wenig erhellend: Die herrschende Meinung198 bekennt sich in den Stellungnahmen zu § 34 StGB zum Höchstwert des menschlichen Lebens, ohne den Anwendungsbereich dieses Prinzips jedoch explizit auf § 34 StGB zu begrenzen. Auch limitiert die herrschende Meinung den Anwendungsbereich dieses Prinzips nicht explizit auf Notstandskonstellationen, in denen das menschliche Leben (Eingriffsgut) durch ein aktives Tun verletzt wird. Allerdings konkretisiert sie dieses Prinzip in der Regel nur für solche (Notstands-)Fallkonstellationen, in denen ein lebensverkürzendes aktives Tun gegeben ist, das sich nicht als erforderliche Verteidigungshandlung gegen einen gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff im Sinne des § 32 StGB darstellt. Aus dem Fehlen einer expliziten Beschränkung des Anwendungsbereichs des Höchstwertigkeitsdogmas auf § 34 StGB (bzw. bestimmte im Rahmen des § 34 StGB relevante Konstellationen) sowie aus der Herleitung dieses Prinzips aus dem abstrakten Rang des Lebens in der verfassungsrechtlichen Wertordnung könnte der Schluss zu ziehen sein, dass unter Zugrundelegung der herrschenden Meinung dem menschlichen Leben stets der Vorrang vor 198  Fischer, StGB, § 34, Rn. 14; Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, § 34, Rn. 7 f.; Rosenau, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, § 34, Rn. 20; Roxin, Strafrecht AT, Bd. 1, § 16, Rn. 33.

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

hiermit kollidierenden Rechtsgütern oder Interessen einzuräumen ist, zumindest sofern letztere unterhalb von Verfassungshöchstwerten (Menschenwürde etc.) anzusiedeln sind. Dies hätte zur Folge, dass jedes lebensverkürzende Tun bzw. Unterlassen als rechtswidriger Totschlag zu qualifizieren wäre und jede zur Bewahrung menschlichen Lebens erforderliche Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsguts als zulässig (i. e. tatbestandslos oder durch Notwehr, Notstand, Einwilligung etc. gerechtfertigt) einzuordnen wäre, sofern die Menschenwürde oder ein anderer Verfassungshöchstwert nicht ausnahmsweise ein anderes Ergebnis gebietet. Die Untersuchung der obigen Fallkonstellationen (Kap. 6 A. II. 2. a) bb)) hat jedoch gezeigt, dass die herrschende Meinung eine derart konsequente Anwendung des Dogmas vom Höchstwert des menschlichen Lebens gerade nicht befürwortet. Die herrschende Meinung erkennt nicht nur die oben beschriebenen Ausnahmetatbestände vom Höchstwertigkeitsdogma an – wonach das Leben durch andere Verfassungshöchstwerte, wie die Menschenwürde, überwogen werden kann – sondern beschränkt den Anwendungsbereich dieses Prinzips zudem stark. Dies hat zur Folge, dass das Höchstwertigkeitsdogma für viele als strafrechtlich relevant in Betracht kommende Interessenkollisionen zwischen dem Rechtsgut Leben und anderen Rechtsgütern bzw. Interessen nicht anwendbar ist, mit der Folge, dass eine Posteriorisierung des Rechtsguts Leben hinter Rechtsgütern, die keine Verfassungshöchstwerte repräsentieren, nicht von vorn herein ausgeschlossen ist bzw. sich das Höchstwertigkeitsdogma im Ergebnis nicht niederschlägt. (a) Anwendungsbereich Die Untersuchung der strafrechtlichen Bewertung der obigen Fallkonstellationen (Kap. 6 A. II. 2. a) bb)) hat gezeigt, dass das Höchstwertigkeitsdogma nach Auffassung der herrschenden Meinung keineswegs für alle Fallkonstellationen Geltung beansprucht, die durch eine (als strafrechtlich relevant in Betracht kommende) Interessenkollision zwischen dem Rechtsgut Leben und einem hiermit kollidierenden Rechtsgut oder Interesse charakterisiert sind. Eine konsequente Berufung auf das Höchstwertigkeitsdogma durch die herrschende Meinung ist ausschließlich in Bezug auf Interessenkollisionen zwischen dem durch ein aktives Tun verletzten Rechtsgut Leben (Eingriffsgut) und einem hiermit kollidierenden Rechtsgut oder Interesse (Erhaltungsgut) zu verzeichnen, die im Rahmen des § 34 StGB (Notstand) im Wege eines Abwägungsvorgangs entschieden werden. In den oben geschilderten Fallkonstellationen beruft sich die herrschende Meinung lediglich in Bezug auf die indirekte Sterbehilfe und den technischen Behandlungsabbruch durch Nicht-Ärzte („Fall Putz“) – zwei Fallkonstellati-



A. Behandlungspflichten des Arztes161

onen, die durch ein lebensverkürzendes Tun gekennzeichnet sind, das nicht der Abwehr eines Angriffs im Sinne des § 32 StGB dient – im Rahmen des rechtfertigenden Notstands auf die Geltung des Höchstwertigkeitsdogmas: Eine Notstandsrechtfertigung des technischen Behandlungsabbruchs durch Nicht-Ärzte lässt die herrschende Meinung am Höchstwertigkeitsdogma scheitern (siehe Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (1) (a) (bb)). Die Notstandsrechtfertigung der indirekten Sterbehilfe scheitert nur deshalb nicht am Höchstwertigkeitsdogma, weil sich das als Erhaltungsgut berührte Schmerzlinderungsinteresse des Patienten in der Menschenwürde verankern lässt und die Menschenwürde in der verfassungsrechtlichen Wertordnung – selbst bei abstrakter Betrachtungsweise – noch oberhalb des Höchstwerts Lebens anzusiedeln ist (siehe Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (1) (a) (aa)). Ohne Relevanz für die Eröffnung des Anwendungsbereichs des Höchstwertigkeitsdogmas ist hingegen, ob das Rechtsgut Leben mit einem Rechtsgut oder Interesse kollidiert, das einem vom Träger des Rechtsguts Leben personenverschiedenen Rechtsgutträger zuzuordnen ist oder eine Rechtsgüterbinnenkollision vorliegt. Der Eröffnung des Anwendungsbereichs des Höchstwertigkeitsdomgas steht nach Auffassung der herrschenden Meinung das Vorliegen einer Rechtsgüterbinnenkollision nicht entgegen. Dies zeigen die auf das Höchstwertigkeitsdogma rekurrierenden Stellungnahmen der herrschenden Meinung zur indirekten Sterbehilfe und zum technischen Behandlungsabbruch durch Nicht-Ärzte („Fall Putz“), die durch eine Binnenkollision zwischen dem Rechtsgut Leben und der / dem demselben Träger zustehenden Menschenwürde bzw. Selbstbestimmungsrecht gekennzeichnet sind. Im Hinblick auf Interessenkollisionen zwischen dem Rechtsgut Leben und einem anderen Rechtsgut oder Interesse, die nicht auf der Ebene des § 34 StGB (Notstand), sondern etwa auf der Tatbestandsebene (z. B. im Rahmen der objektiven Zurechnung) oder auf der Ebene eines anderen Rechtfertigungstatbestands (Bsp.: Einwilligung) im Wege eines Abwägungsvorgangs aufgelöst werden, sieht sich die herrschende Meinung selbst in solchen Fallkonstellationen nicht zwingend an das Höchstwertigkeitsdogma gebunden, in denen das Rechtsgut Leben (Eingriffsgut) durch ein aktives Tun (das nicht als zulässige Notwehrhandlung zu qualifizieren ist) beeinträchtigt wird. Dies offenbart insbesondere die strafrechtliche Bewertung des als aktive Tötungshandlung zu qualifizierenden technischen Behandlungsabbruchs durch Nicht-Ärzte („Fall Putz“, siehe Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (1) (a) (bb)). Die herrschende Meinung begründet die Straflosigkeit des technischen Behandlungsabbruchs durch Nicht-Ärzte, indem sie auf der Ebene der Einwilligungsrechtfertigung (BGH und herrschende Lehre) bzw. auf der Ebene der objektiven Zurechnung (Literaturmeinung), dem andernfalls in seinem Menschenwürdekern verletzten Selbstbestimmungsrecht des Patienten den Vor-

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

rang vor dem menschlichen Leben einräumt. Dagegen lehnt sie eine Notstandsrechtfertigung des technischen Behandlungsabbruchs mit dem Argument ab, dass ein Vorrang des Selbstbestimmungsrechts des Patienten vor dem menschlichen Leben mit dem Dogma vom Höchstwert des menschlichen Lebens nicht zu vereinbaren wäre. An dieser Argumentation wird deutlich, dass die Beschränkung des Anwendungsbereichs des Höchstwertigkeitsdogmas auf § 34 StGB zur Konsequenz haben kann, dass dieses Prinzip im Ergebnis bedeutungslos wird. Denn es ist irrelevant, ob eine Notstandsrechtfertigung am Höchstwertigkeitsdogma scheitert, wenn man eine Zulässigkeit eines lebensverkürzenden Tuns (das sich nicht als zulässige Notwehrhandlung darstellt) auch im Wege der Ablehnung der objektiven Zurechnung oder über die Bejahung einer Einwilligungsrechtfertigung begründen kann, für die das Höchstwertigkeitsdogma nicht gilt bzw. nicht so strikt Geltung beansprucht. Auch für die Auslegung und Anwendung des § 32 StGB findet das Höchstwertigkeitsdogma nach herrschender Notwehrdogmatik keine Anwendung, jedenfalls nicht für Konstellationen, in denen das menschliche Leben als Eingriffsgut berührt ist. Deshalb ist eine Posteriorisierung des Rechtsguts Leben hinter Rechtsgütern, die keine Verfassungshöchstwerte repräsentieren, in diesen Fallgestaltungen nicht schon von vorn herein ausgeschlossen (siehe Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (1) (b) (aa)): Zur Abwehr eines gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriffs auf die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung und die Freiheit (Erhaltungsgüter) sind ganz unstrittig sogar solche Notwehrmaßnahmen zulässig, die das Leben des Angreifers (Eingriffsgut) gefährden, wenn sie zur Abwehr des Angriffs erforderlich sind. Die herrschende Meinung bejaht zudem auch die Zulässigkeit das Leben gefährdender Notwehrmaßnahmen zur Abwehr gegenwärtiger, rechtswidriger Angriffe auf Sachwerte, sofern nicht ausnahmsweise ein zur Ablehnung der Gebotenheit der Notwehr führendes grobes Missverhältnis zwischen angegriffenem Rechtsgut und Verteidigungshandlung zu bejahen ist, weil der Sachwert unbedeutend ist. Dass die herrschende Notwehrdogmatik somit für eine Posteriorisierung des als Eingriffsgut berührten menschlichen Lebens hinter den dem Angreifer zustehenden – als Erhaltungsgüter tangierten – Rechtsgütern körperliche Unversehrtheit, sexuelle Selbstbestimmung, Freiheit und sogar Eigentum eintritt, zeigt, dass das Höchstwertigkeitsdogma für die Auslegung des § 32 StGB im Hinblick auf Konstellationen, in denen das menschliche Leben als Eingriffsgut berührt ist, keine Anwendung findet. Denn wie bereits dargelegt wurde, kann das menschliche Leben im Anwendungsbereich des Höchstwertigkeitsdogmas nur durch andere Verfassungshöchstwerte überwogen werden, wozu weder die körperliche Unversehrtheit, noch die sexuelle Selbstbestimmung, noch die Freiheit und schon gar nicht das Eigentum zu zählen sind.



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Auch in Fällen, in denen eine Interessenkollision zwischen dem durch ein Unterlassen beeinträchtigten Rechtsgut Leben (Eingriffsgut) und einem hiermit kollidierenden Rechtsgut oder Interesse vorliegt, die – im Rahmen der §§ 212, 13 StGB – auf der Ebene der unbestimmten Rechtsbegriffe „Garantenstellung“, „Garantenpflicht“ bzw. „Zumutbarkeit“ und – im Rahmen des § 323 c StGB – auf der Ebene der unbestimmten Rechtsbegriffe „Möglichkeit bzw. Erforderlichkeit der Hilfeleistung“ bzw. „Zumutbarkeit“ im Wege eines Abwägungsvorgangs aufgelöst wird, sieht sich die herrschende Meinung an das Höchstwertigkeitsdogma nicht gebunden. Eine Posterio­ risierung des Rechtsguts Leben ist in diesen Fallgestaltungen daher nicht von vorn herein ausgeschlossen. Dies zeigt die Auswertung der Stellungnahmen der herrschenden Meinung zur passiven Sterbehilfe bei entscheidungsfähigen Patienten (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (2) (a) (aa)), zum Geschehenlassen eines freiverantwortlichen Suizids („Wittig-Fall“, Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (2) (a) (bb)), zum Unterlassen einer lebensrettenden Zwangsheilung beim entscheidungsfähigen Patienten (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (2) (a) (cc)) und zur dem Garanten unzumutbaren Lebensrettung („Nierenspende-Fall“, Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (2) (b) (aa)). In all diesen Fallkonstellationen erwähnt die herrschende Meinung das Höchstwertigkeitsdogma noch nicht einmal und lehnt eine Strafbarkeit des Garanten nach §§ 212, 13 StGB ab, indem sie auf der Ebene der Garantenpflicht, Garantenstellung oder Zumutbarkeit normgemäßen Verhaltens dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten den Vorrang vor dem (durch ein Unterlassen tangierten) Rechtsgut Leben (Eingriffsgut) einräumt. Diese Posteriorisierung des Rechtsguts Leben wäre mit einer Anwendung des Höchstwertigkeitsdogmas auf die Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe „Garantenpflicht“ / „Garantenstellung“ / „Zumutbarkeit“ nicht vereinbar. Denn das Selbstbestimmungsrecht des Patienten wird von der herrschenden Meinung nicht als Verfassungshöchstwert gesehen, der sich gegen das menschliche Leben durchzusetzen vermag. Wie die Argumentation der herrschenden Meinung zum technischen Behandlungs­ abbruch zeigt, gilt dies selbst dann, wenn das Selbstbestimmungsrecht in seinem Menschenwürdekern berührt ist (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (1) (a) (bb) (β)). Auch in Fallkonstellationen, in denen das Rechtsgut Leben im Rahmen des § 34 StGB lediglich als Erhaltungsgut berührt ist – also wenn die (Notstands-)Rechtfertigung einer zu Lebensrettungszwecken bewirkten Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsguts in Frage steht, die nicht der Abwehr eines Angriffs im Sinne des § 32 StGB dient – betrachtet die herrschende Meinung den Anwendungsbereich des Höchstwertigkeitsdogmas nicht als eröffnet. Dies offenbart die Auswertung der Auffassungen, die zur lebensrettenden Zwangsheilung beim entscheidungsfähigen Patienten (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (3) (a) (aa)), zum „Zwangsblutspende-Fall“ (Kap. 6

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

A. II. 2. a) bb) (3) (b) (aa)), zur erzwungenen Lebend(organ)spende (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (3) (b) (bb)), zur postmortalen Spende entgegen dem Willen des Spenders (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (3) (b) (cc)) und zum „MillionärsFall“ (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (3) (b) (dd)) vertreten werden. Die herrschende Meinung räumt in diesen Fällen auf der Ebene der Notstandsrechtfertigung – ohne das Höchstwertigkeitsdogma auch nur zu erwähnen – dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten (lebensrettende Zwangsheilung beim entscheidungsfähigen Patienten) / dem Autonomieprinzip bzw. der Menschenwürde („Zwangsblutspende-Fall“) / dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten bzw. der Menschenwürde (erzwungene Lebendorganspende) / dem Selbstbestimmungsrecht bzw. postmortalen Persönlichkeitsrecht (postmortale Organentnahme entgegen dem Willen des Spenders) / dem Eigentum („Millionärs-Fall“), den Vorrang vor dem als Erhaltungsgut berührten menschlichen Leben ein und gelangt (mangels Eingreifen eines Rechtfertigungsgrundes) zu einer Strafbarkeit. Die Vorgehensweise, das Rechtsgut Leben als nachrangig gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten, dem postmortalen Persönlichkeitsrecht, dem Autonomieprinzip bzw. dem Eigentum zu behandeln, wäre mit einer Geltung des Höchstwertigkeitsdogmas nicht in Einklang zu bringen. Denn im Anwendungsbereich des Höchstwertigkeitsdogmas kann das Rechtsgut Leben allenfalls durch andere Verfassungshöchstwerte, wie die Menschenwürde und das Interesse am Bestand des Staates bzw. der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, überwogen werden. Bestätigt wird das Ergebnis, dass der Anwendungsbereich des Höchstwertigkeitsdogmas nach herrschender Meinung nicht eröffnet ist, sofern das Rechtsgut Leben (im Rahmen des § 34 StGB) als Erhaltungsgut berührt ist, durch Stellungnahmen im Schrifttum zu den objektiven Grenzen der Notstandsrechtfertigung, die sich in den Kommentierungen zur „Angemessenheit“ und zur „Interessenabwägung“ finden. Danach muss eine Notstandsrechtfertigung in jedem Fall – und somit auch, wenn die Notstandshandlung zur Rettung eines unmittelbar bedrohten Lebens (Erhaltungsgut) erforderlich war – ausscheiden, sofern eine Notstandsrechtfertigung gesetzliche Regelungen, in welche die Notstandslage als Folge einkalkuliert ist oder rechtlich geordnete Verfahren, die der Bewältigung der Notstandslage dienen, unterlaufen würde oder die Menschenwürde, unantastbare Freiheitsrechte (wie das Autonomieprinzip) oder fundamentale Wertprinzipen der Rechtsordnung verletzen würde. Zwar ist umstritten, ob eine Notstandsrechtfertigung in diesen Fällen aufgrund fehlender Angemessenheit oder bereits im Rahmen der Interessenabwägung des § 34 StGB scheitert. Jedoch liegt hierin in jedem Fall eine Absage an die Geltung des Höchstwertigkeitsdogmas für Fallkonstellationen, in denen das Rechtsgut Leben im Rahmen der Interessenabwägung des § 34 StGB als Erhaltungsgut berührt ist. Zwar wäre die



A. Behandlungspflichten des Arztes165

Anerkennung der Menschenwürde als absolute Grenze der Notstandsrechtfertigung mit einer Geltung des Höchstwertigkeitsdogmas für die beschriebenen Konstellationen noch zu vereinbaren, da diese – selbst bei abstrakter Betrachtungsweise – einen über dem menschlichen Leben anzusiedelnden Wert darstellt. In der Anerkennung des unantastbaren Kerns der Freiheitsrechte, gesetzlicher Regelungen sowie gesetzlich geregelter Verfahren als absolute Grenze der Notstandsrechtfertigung ist jedoch eine klare Absage an die Geltung des Höchstwertigkeitsdogmas für Fallkonstellationen zu erblicken, in denen das Rechtsgut Leben im Rahmen der Interessenabwägung des § 34 StGB als Erhaltungsgut tangiert ist. (b) Folgen der Eröffnung des Anwendungsbereichs Eine Eröffnung des Anwendungsbereichs des Höchstwertigkeitsdogmas bedeutet nicht, dass die herrschende Meinung jedem lebensverkürzenden Tun zwingend die Notstandsrechtfertigung versagt und erst recht nicht, dass sie jedes lebensverkürzende Tun, das keine zulässige Notwehrhandlung darstellt, als rechtswidrige Tötung qualifiziert: Die Analyse der obigen Fallkonstellationen – insbesondere die Analyse der zur indirekten Sterbehilfe vertretenen Meinungen (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (1) (a) (aa) (γ)) – bestätigt die bereits aus den theoretischen Stellungnahmen zum Höchstwertigkeitsdogma bekannte Erkenntnis, dass sich das menschliche Leben gegenüber Verfassungswerten, die auch bei abstrakter Betrachtungsweise in der verfassungsrechtlichen Wertordnung noch oberhalb des Grundrechts auf Leben anzusiedeln sind (Menschenwürde, Interesse am Bestand des Staates etc.), nicht durchzusetzen vermag. Die Bedeutung der Eröffnung des Anwendungsbereichs des Höchstwertigkeitsdogmas darf noch aus einem weiteren Grund nicht überschätzt werden: Neben § 34 StGB, bei dessen Auslegung das Höchstwertigkeitsdogma nach herrschender Meinung zu beachten ist, sofern ein lebensverkürzendes Tun gegeben ist, existieren im Regelfall weitere strafrechtsdogmatisch gangbare Wege, um die Zulässigkeit eines lebensverkürzenden Tuns zu begründen, das keine zulässige Verteidigungshandlung im Sinne des § 32 StGB repräsentiert. Zu denken ist etwa an die Annahme eines Zurechnungsausschlusses oder unter besonderen Umständen auch an die Bejahung einer Einwilligungsrechtfertigung. Dies hat zur Folge, dass ein (nicht als zulässige Notwehrhandlung einzuordnendes) lebensverkürzendes Tun selbst dann nicht zwingend als rechtswidrige Tötung zu qualifizieren ist, wenn eine Notstandsrechtfertigung aufgrund des Höchstwertigkeitsdogmas ausgeschlossen ist, weil für die Straflosigkeit dieses lebensverkürzenden Tuns

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

kein Höchstwert, wie die Menschenwürde, streitet. Dies offenbart die strafrechtliche Behandlung des – durch aktives Tun verwirklichten – technischen Behandlungsabbruchs durch Nicht-Ärzte („Fall Putz“, siehe Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (1) (a) (bb) (β)). Denn Rechtsprechung und herrschende Lehre betrachten aufgrund des Höchstwertigkeitsdogmas zwar eine Notstandsrechtfertigung des technischen Behandlungsabbruchs als ausgeschlossen. Eine den Lebensschutz realisierende Strafbarkeit wegen (durch aktives Tun verwirklichten) Totschlags wird im Ergebnis aber dennoch abgelehnt, indem unter Berufung auf das andernfalls verletzte, verfassungsrechtlich verbürgte Selbstbestimmungsrecht des Patien­ten (für einen bestimmten Personenkreis) eine Einwilligungsrechtfertigung angenommen (BGH, herrschende Lehre) oder mit der gleichen Argumentation die objektive Zurechnung abgelehnt wird (im Vordringen befindliche Auffassung im Schrifttum). (c) Folgen der fehlenden Eröffnung des Anwendungsbereichs Sofern der Anwendungsbereich des Höchstwertigkeitsdomas nicht eröffnet ist, kann das Rechtsgut Leben – auch nach Auffassung der herrschenden, extensiven Interpertation des Höchstwertigkeitsdogmas – auch durch solche (mit dem Leben konfligierenden) Rechtsgüter und Interessen überwogen werden, die keinen verfassungsrechtlichen Höchstwert (Menschenwürde, Interesse am Bestand des Staates etc.) repräsentieren, sondern denen die Verfassung – unter Zugrundelegung einer abstrakten Betrachtungsweise – sogar einen geringeren Rang als dem menschlichen Leben zuweist. Vielmehr orientiert sich die herrschende Meinung an den Wertentscheidungen, die die Verfassung im Hinblick auf die konkrete, hinsichtlich ihrer strafrechtlichen Relevanz in Frage stehende, Interessenkollision zwischen dem Leben und dem hiermit kollidierenden Rechtsgut oder Interesse vorgibt. (aa) Beispielsfälle Die herrschende Meinung entscheidet außerhalb des Anwendungsbereichs des Höchstwertigkeitsdogmas liegende Interessenkollisionen, zwischen dem Rechtsgut Leben und hiermit kollidierenden Rechtsgütern oder Interessen, unter Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Wertentscheidungen, die eine Posteriorisierung des Lebens hinter einem Rechtsgut bzw. Interesse gestatten oder sogar erzwingen können, das keinen Verfassungshöchstwert repräsentiert und – bei abstrakter Betrachtungsweise – sogar unterhalb des menschlichen Lebens anzusiedeln ist. Dies zeigt die Analyse der Stellungnahmen der herrschenden Meinung zum technischen Behandlungsabbruch durch Nicht-Ärzte („Fall Putz“, Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (1) (a) (bb)), zur



A. Behandlungspflichten des Arztes167

Fallkonstellation der Notwehr zur Verteidigung gegen nicht-lebensbedrohliche Angriffe mit tödlichen Folgen für den Angreifer (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (1) (b) (aa)), zur passiven Sterbehilfe beim entscheidungsfähigen Patienten (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (2) (a) (aa)), zum tatenlosen Geschehenlassen eines freiverantwortlichen Suizids („Wittig-Fall“, Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (2) (a) (bb)), zur unterlassenen Zwangsheilung beim entscheidungsfähigen Patienten (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (2) (a) (cc)), zur dem Garanten unzumutbaren Lebensrettung („Nierenspende-Fall“, Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (2) (b) (aa)), zur Zwangsheilung eines entscheidungsfähigen Patienten (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (3) (a) (aa)), zum „Zwangsblutspende-Fall“ (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (3) (b) (aa)), zur erzwungenen Lebend(organ)spende (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (3) (b) (bb)), zur postmortalen Organentnahme entgegen dem Willen des Spenders (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (3) (b) (cc)) und zum „Millionärs-Fall“ (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (3) (b) (dd)). Im Einzelnen: (α) § 32 StGB Die als unstrittig anzusehende Notwehrdogmatik, wonach zur Abwehr eines gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriffs auf die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung und die Freiheit (Erhaltungsgüter) notfalls sogar das Leben des Angreifers (Eingriffsgut) gefährdende Notwehrmaßnahmen zulässig sind, stellt sich in der Sache als verfassungskonforme Auslegung der Notwehrvoraussetzungen (insbesondere des unbestimmten Rechtsbegriffs der Gebotenheit) dar. Denn obwohl diese Rechtsauffassung zu einer Posteriorisierung des (als Eingriffsgut berührten) Rechtsguts Leben hinter (als Erhaltungsgut tangierten) Personenwerten führt, die bei abstrakter Betrachtung unter dem menschlichen Leben rangieren, steht sie zu Recht nicht im Verdacht staatliche (Lebens-)Schutzpflichten zu verletzen und wird nach einer überzeugenden Literaturauffassung sogar durch die andernfalls verletzten Grundrechte des Angriffsopfers (aus dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit, dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht etc.) erzwungen. Vergleichbares gilt in Bezug auf die als herrschend zu qualifizierende Notwehrdogmatik, wonach auch zur Verteidigung von Sachwerten notfalls sogar tödliche Notwehrmaßnahmen zulässig sind, sofern nicht ausnahmsweise ein (zur Ablehnung der Gebotenheit der Notwehr führendes) grobes Missverhältnis zwischen angegriffenem Rechtsgut und Verteidigungshandlung zu bejahen ist, weil der Sachwert unbedeutend ist. Auch die hierin liegende Posteriorisierung des (als Eingriffsgut berührten) Rechtsguts Leben hinter dem (als Erhaltungsgut tangierten) Rechtsgut Eigentum im Rahmen der Gebotenheit der Notwehr (mit der Folge der Bejahung der Notwehr)

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

stellt sich zumindest als verfassungsorientierte, wenn nicht sogar als verfassungskonforme Auslegung des Notwehrparagraphen dar. Denn die Zulassung tödlicher Notwehrrechte zur Verteidigung von Sachwerten verletzt nach zutreffender herrschender Meinung keine grundrechtlichen (Lebens-) Schutzpflichten und wird nach einer überzeugenden Literaturauffassung sogar durch die andernfalls verletzte (zugunsten des Angriffsopfers eingreifende) Eigentumsfreiheit geboten (zumindest, wenn unersetzbare Sachwerte betroffen sind) (näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (bb)). (β) Leben als Erhaltungsgut im Rahmen des § 34 StGB Im Hinblick auf die lebensrettende Zwangsheilung beim entscheidungsfähigen Patienten (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (3) (a) (aa)), den „Zwangsblutspende-Fall“ (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (3) (b) (aa)), die erzwungene Lebend(organ)­ spende (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (3) (b) (bb)), die postmortale Organentnahme gegen den Willen des Spenders (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (3) (b) (cc)) und den „Millionärs-Fall“ (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (3) (b) (dd)) – also Fallkonstellationen, in denen der Anwendungsbereich des Höchstwertigkeitsdogmas unter Zugrundelegung der herrschenden Meinung deshalb nicht eröffnet ist, weil das Rechtsgut Leben im Rahmen des § 34 StGB lediglich als Erhaltungsgut berührt ist – gelangt die überwiegend vertretene Auffassung zur Strafbarkeit, indem sie auf Notstandsebene (§ 34 StGB) das Rechtsgut Leben (Erhaltungsgut) als nachrangig gegenüber Rechtsgütern bzw. Interessen bewertet, die nicht zwingend Verfassungshöchstwerte repräsentieren: Im Falle der lebensrettenden Zwangsheilung beim entscheidungsfähigen Patienten lässt die herrschende Meinung eine Notstandsrechtfertigung (der als vollendete Körperverletzung zu qualifizierenden) lebensrettenden Zwangsheilung scheitern, indem sie dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten Priorität vor dem (demselben Rechtsgutsträger zuzuordnenden) Rechtsgut Leben (Erhaltungsgut) einräumt. Im „Millionärs-Fall“ wird das Rechtsgut Leben (Erhaltungsgut) hinter dem andernfalls verletzten Art. 3 Abs. 1 GG (Allgemeiner Gleichheitssatz) bzw. dem Rechtsgut Eigentum (Eingriffsgut) posteriorisiert und somit eine Notstandsrechtfertigung des zur Finanzierung einer lebensrettenden Behandlung begangenen Diebstahls abgelehnt. Im „Zwangsblutspende-Fall“ räumt die herrschende Meinung im Rahmen des § 34 StGB dem Autonomie- bzw. Freiheitsprinzip und / oder der Menschenwürde des unfreiwilligen Blutspenders den Vorrang vor dem als Erhaltungsgut berührten Rechtsgut Leben des Schwerverletzten ein und lehnt mit dieser Argumentation eine (Notstands-)Legitimierung der zu Lasten des unfreiwilligen Blutspenders begangegen vollendeten Körperverletzung ab. Im Fall der erzwungenen Lebend(organ)spende wird das durch die erzwungene Organentnahme bewahrte Rechtsgut Leben des Organempfängers



A. Behandlungspflichten des Arztes169

(Erhaltungsgut) als nachrangig gegenüber dem / der – zugunsten des Lebend­ spenders eingreifenden – verfassungsrechtlich verbürgten Selbstbestimmungsrecht bzw. Menschenwürde bewertet und eine Notstandsrechtfertigung der gegen § 19 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 b) TPG sowie gegen § 223 StGB verstoßenden Zwangsorganentnahme verneint. Bei der postmortalen Organentnahme gegen den Willen des Patienten wird dem postmortalen Persönlichkeitsrecht bzw. Selbstbestimmungsrecht des toten Spenders der Vorrang vor dem als Erhaltungsgut berührten Rechtsgut Leben des Organempfängers eingeräumt und mit dieser Begründung eine (Notstands-)Legitimerung des Verstoßes gegen § 19 Abs. 2 in Verbindung mit § 3 Abs. 2 Nr. 1 TPG verworfen. Die Entscheidung gegen eine (Notstands-)Legitimierung und damit gegen den strafrechtlichen Lebensschutz wird also bezüglich beinahe aller dieser Fallkonstellationen (zumindest von einem Teil des Schrifttums) explizit damit begründet, dass eine Rechtfertigung die – die nicht zwingend Verfassungshöchstwerte repräsentierenden – Grundrechte des Notstandsopfers verletzen würde, was aus Perspektive der Verfassungsdogmatik – zumindest im Ergebnis – auch zutreffend ist (Kap. 6 A. II. 3. a) aa)). Die Ablehnung der Notstandsrechtfertigung beruht somit auf einer verfassungskonformen Auslegung der unbestimmten Rechtfertigungstatbestandsmerkmale „Angemessenheit“ bzw. „überwiegendes Interesse“. (γ) Lebensverkürzendes Unterlassen Für eine Posteriorisierung des menschlichen Lebens hinter einem bei abstrakter Betrachtungsweise unterhalb dem Rechtsgut Leben rangierenden Rechtsgut (mit der Folge der Verneinung einer Strafbarkeit nach §§ 212 (216), 13 StGB) plädiert die herrschende Meinung auch in Bezug auf die passive Sterbehilfe beim entscheidungsfähigen Patienten (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (2) (a) (aa)), bezüglich des tatenlosen Geschehenlassens eines freiverantwortlichen Suizids („Wittig-Fall“, Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (2) (a) (bb)), bezüglich der unterlassenen lebensrettenden Zwangsheilung beim entscheidungsfähigen Patienten (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (2) (a) (cc) und im Hinblick auf die dem Garanten unzumutbare Lebensrettung („Nierenspende-Fall“, Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (2) (b) (aa)), also in Bezug auf Fallkonstellationen, in denen ein lebensverkürzendes Unterlassen gegeben ist. In Bezug auf die passive Sterbehilfe beim entscheidungsfähigen Patienten, das Geschehenlassen eines freiverantwortlichen Suizids („Wittig-Fall“), die unterlassene Zwangsheilung beim entscheidungsfähigen Patienten sowie die dem Garanten unzumutbare Lebensrettung („Nierenspende-Fall“) gelangt die herrschende Lehre zur Straflosigkeit, indem diese – unter Verweis

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

auf das lebensverlängernden Maßnahmen entgegenstehende Selbstbestimmungsrecht (des Patienten) – im Rahmen der §§ 212 (216), 13 StGB eine auf Lebensverlängerung gerichtete Garantenpflicht (bzw. eine entsprechende Garantenpflicht) ablehnt (bzw. eine Einwilligungs- oder Notstandsrechtfertigung bejaht). Die Straflosigkeit des in den beschiebenen Fällen gegebenen lebensverkürzenden Unterlassens beruht somit auf einer verfassungskonformen Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der „Garantenpflicht“ (bzw. „Garantenstellung“) (bzw. der unbestimmten Rechtsbegriffe in der Einwilligung bzw. im rechtfertigenden Notstand). (δ) L  egitimierung eines lebensverkürzenden Tuns durch Einwilligung bzw. Zurechnungsausschluss Im Hinblick auf den (mittels lebensverkürzenden Tuns verursachten) technischen Behandlungsabbruch durch Nicht-Ärzte („Fall Putz“), lehnen BGH und herrschende Lehre zwar eine Notstandsrechtfertigung ab. Dies wird mit dem Argument begründet, dass eine Posteriorisierung des durch ein aktives Tun beeinträchtigten Rechtsguts Leben (Eingriffsgut) hinter dem (den Behandlungsabbruch erzwingenden) Selbstbestimmungsrecht des Patienten (Erhaltungsgut) am Höchstwertigkeitsdogma scheitere, das für die Auslegung des § 34 StGB Geltung beanspruche. Dennoch legitimieren BGH und herrschende Lehre den aktiv lebensverkürzenden Behandlungsabbruch durch Nicht-Ärzte. Denn diese räumen auf der Ebene der Einwilligungsrechtfertigung (bzw. auf der Ebene der objektiven Zurechnung), dem verfassungsrechtlich verbürgten Selbstbestimmungsrecht des Patienten – das durch die §§ 1901 a ff. BGB in verfassungskonformer Weise konkretisiert wird – den Vorrang vor dem (durch ein aktives Tun tangierten) Rechtsgut Leben ein. Die Straflosigkeit des technischen Behandlungsabbruchs durch Nicht-Ärzte, für die die herrschende Meinung eintritt, erreicht diese somit im Wege einer verfassungskonformen Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe in den Einwilligungsvoraussetzungen bzw. des unbestimmten Rechtsbegriffs der objektiven Zurechnung. Durch diese Vorgehensweise wird das für die Auslegung des § 34 StGB geltende Höchstwertigkeitsdogma konterkariert. (bb) B  ewertung des Rechtsguts Leben (im Verhältnis zu kollidierenden Rechtsgütern / Interessen) außerhalb des Anwendungsbereichs des Höchstwertigkeitsdogmas Außerhalb des Anwendungsbereichs des Höchstwertigkeitsdogmas bestimmt die herrschende Meinung den Wert und Rang des menschlichen Lebens unter Berücksichtigung der Vorgaben, welche die Verfassung – die



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die Wertigkeit des menschlichen Lebens kontextbezogen bestimmt – für die Entscheidung der konkreten Interessenkollision zwischen dem Leben und dem hiermit kollidierenden Rechtsgut oder Interesse vorsieht. Dies zeigen die obigen Beispielsfälle (Kap. 6 A. II. 2. b) aa) (1) (c) (aa)), in denen die herrschende Meinung für eine Posteriorisierung des Rechtsguts Leben plädiert, weil ein Verfassungswert – der nicht zwingend einen Verfassungshöchstwert repräsentieren muss – im Hinblick auf den konkreten, strafrechtlichen Interessenkonflikt eine Posteriorisierung des menschlichen Lebens hinter einem hiermit kollidierenden Rechtsgut oder Interesse erzwingt oder zumindest gestattet. Bestätigt werden die Ergebnisse der Analyse der obigen Beispielsfälle nicht zuletzt durch die herrschende Notstandsdogmatik. Diese erkennt als absolute Grenzen der Notstandsrechtfertigung – die somit auch für solche Fallkonstellationen gelten, in denen das Rechtsgut Leben im Rahmen des § 34 StGB als Erhaltungsgut berührt ist – (neben Verfassungshöchstwerten) den Kernbereich der Grundrechte an, sowie gesetzliche Regelungen bzw. gesetzlich geregelte Verfahren, in welche die Notstandslage einkalkuliert ist. Hierin liegt in Bezug auf Konstellationen, in denen das menschliche Leben im Rahmen des § 34 StGB als Erhaltungsgut berührt ist, eine Absage an das Dogma vom Höchstwert des menschlichen Lebens und zugleich ein Bekenntnis zur verfassungskonformen Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe „Angemessenheit“ bzw. „überwiegendes Interesse“. Denn wie in Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (c) näher zu begründen sein wird, verpflichtet das Grundrecht auf Leben den Staat nicht dazu, jede zur Bewahrung menschlichen Lebens erforderliche Verletzung strafrechtlich geschützter Rechtsgüter (durch Notstand) zu legitimieren. Zwar besitzt der Staat Schutzpflichten zugunsten des menschlichen Lebens nicht nur im Fall privater Übergriffe, sondern auch in den – für den Notstand typischen – Fallkonstellationen „gegnerloser Not“, also bei objektiven Lebensgefahren aufgrund von Krankheit, Naturkatastrophen, Selbstverschulden etc. Jedoch kommt dem Staat bei der Erfüllung seiner Schutzpflichten – auch solcher zugunsten des menschlichen Lebens – ein weiter Gestaltungsspielraum zu, der sich regelmäßig nicht dahingehend verdichtet, dass nur eine ganz bestimmte gesetzliche Regelung oder staatliche Maßnahme rechtmäßig wäre. Außerdem bedarf auch der Staat auch bei der Erfüllung grundrechtlicher (Lebens-)Schutzpflichten, wenn er dabei in Rechte Dritter eingreift, einer gesetzlichen Grundlage, die den Anforderungen der Verfassung genügt und insbesondere dem Verhältnismäßigkeitsprinzip Rechnung trägt, das aus der Abwehrdimension der Grundrechte (die nicht zwingend Verfassungshöchstwerte repräsentieren müssen) resultiert. Dies kann dazu führen, dass der Staat die einzige Maßnahme unterlassen muss, die die Bewahrung des zu schützenden Rechtsguts gestattet.

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

Für die Auslegung des § 34 StGB bedeutet die beschriebene Dogmatik grundrechtlicher Schutzpflichten, dass das Grundrecht auf Leben es nicht gebietet, jede zur Bewahrung menschlichen Lebens erforderliche Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsguts zu legitimieren. Vielmehr erzwingt die Verfassung die Existenz absoluter Grenzen für die Notstandsrechtfertigung, die auch dann gelten, wenn die Notstandshandlung unverzichtbar war, um ein andernfalls verlorenes Menschenleben zu retten. Zu diesen absoluten Notstandsgrenzen zählt neben den Verfassungshöchstwerten (wie der Menschenwürde) auch der (unabwägbare) Kernbereich der (Freiheits-)Grundrechte, die insbesondere zugunsten des Notstandsopfers oder zugunsten der durch die Strafnorm zu schützenden Person eingreifen können. Auch gesetzliche Regelungen, in die die Notstandslage einkalkuliert ist und gesetzlich geregelte Verfahren zur Bewältigung der Notstandslage, dürfen durch eine Notstandsrechtfertigung auch dann nicht unterlaufen werden, wenn die Notstandshandlung zur Lebensrettung unerlässlich war, was aus der Dogmatik grundrechtlicher Schutzpflichten und dem (in Art. 20 Abs. 3 GG normierten und auch für die Judikative verbindlichen) Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes folgt. Auch der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes, in der Gestalt, die dieses Prinzip durch die Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG gefunden hat, kann einer Notstandsrechtfertigung (einer zur Lebensrettung begangenen Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsguts) entgegenstehen. Das ist etwa dann der Fall, wenn eine Notstandsrechtfertigung so stark in Grundrechte des Notstandsopfers oder anderer Grundrechtsträger (z. B. in Grundrechte der durch die Strafnorm zu schützenden Person) eingreifen würde, dass hierfür eine – tatsächlich nicht vorhandene – explizite gesetzliche Ermächtigung erforderlich wäre. Die Auffassung der herrschenden Meinung im Strafrecht, wonach als äußerste Grenze der Notstandsrechtfertigung (die auch gilt, wenn die Notstandshandlung zur Lebensrettung erforderlich ist) nicht nur die Menschenwürde und das Interesse am Bestand des Staates anzuerkennen sind, sondern auch der unabwägbare Kernbereich der Grundrechte sowie gesetzlich geregelte Verfahren bzw. gesetzliche Regelungen, in die die Notstandslage einkalkuliert ist, ist daher nicht nur mit Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG vereinbar (und somit verfassungsrechtlich zulässig). Vielmehr wird diese als herrschend anzusehende Notstandsdogmatik durch das Gebot der verfassungskonformen Auslegung des Strafrechts sogar erzwungen (für eine detailliertere Begründung sowie Rechtsprechungs- und Literaturnachweise, vgl. Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (c)).



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(2) Im Vordringen befindliche Literaturauffassung Im Gegensatz zur herrschenden Meinung definieren Erb, Merkel und Neumann den Anwendungsbereich des Dogmas der Höchstwertigkeit bzw. der Unabwägbarkeit des menschlichen Lebens sehr restriktiv und betrachten das Rechtsgut Leben (auf der Ebene der Notstandsrechtfertigung) nur insofern als Höchstwert, als niemand zur solidarischen Aufopferung seines Lebens gezwungen werden kann.199 Unter Zugrundelegung dieser Auffassung ist der Anwendungsbereich des Höchstwertigkeitsdogmas nicht eröffnet, wenn das Rechtsgut Leben durch ein lebensverkürzendes Unterlassen beeinträchtigt wird, sofern das Rechtsgut Leben im Rahmen des § 34 StGB als Erhaltungsgut berührt ist200 oder mit einem Rechtsgut bzw. Interesse kollidiert, das demselben Rechtsgutsträger zuzuordnen ist (sog. Rechtsgüterbinnenkollision). Dies hat zur Folge, dass eine Posteriorisierung des menschlichen Lebens in diesen Fallkonstellationen nicht von vorn herein ausgeschlossen ist. Auch für Fallkonstellationen, in denen das (dem Angreifer zuzuordnende) Rechtsgut Leben (Eingriffsgut) zum Zwecke der Abwehr eines gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriffs durch ein Tun oder Unterlassen verletzt wird, ist der Anwendungsbereich des Höchstwertigkeitsdogmas nicht eröffnet, weshalb das Höchstwertigkeitsdogma für die Auslegung des § 32 StGB keine Geltung beansprucht, sofern das Rechtsgut Leben als Eingriffsgut berührt ist. (3) Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen herrschender Meinung und im Vordringen befindlicher Literaturauffassung Die im Vordringen befindliche Literaturauffassung, die das Höchstwertigkeitsdogma restriktiv als Verbot zum Zwang der solidarischen Aufopferung des eigenen Lebens definiert und die herrschende Interpretation des Höchstwertigkeitsdogmas, wonach das Leben einen Höchstwert darstellt, der allenfalls durch andere Verfassungshöchstwerte überwogen werden kann, unterscheiden sich im Ergebnis weniger voneinander, als man prima facie vermuten würde. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass sich die herrschende Meinung konsequent auf die Geltung des Höchstwertigkeitsdogmas nur in Bezug auf solche Interessenkonflikte beruft, in denen das Rechtsgut Leben durch ein aktives Tun beeinträchtigt wird (Eingriffsgut) und die auf der Ebene des § 34 StGB im Wege eines Abwägungsvorgangs aufgelöst werden. 199  Erb, in: MüKo, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 116; Neumann, in: NK, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 73; in diese Richtung auch: Merkel, JZ 1996, 1145 ff.; Ch. Schneider, Tun und Unterlassen beim Abbruch lebenserhaltender medizinischer Behandlung, S. 249 f. 200  Erb, in: MüKo, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 114; Neumann, in: NK, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 73.

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

Zudem lässt die herrschende Lehre Ausnahmen vom Dogma der Höchstwertigkeit des menschlichen Lebens zu (z. B. wenn das Rechtsgut Leben mit einem anderen Verfassungshöchstwert kollidiert). Dies hat zur Folge, dass sich die herrschende Meinung und die im Vordringen befindliche, restriktive Interpretation des Höchstwertigkeitsdogmas im Ergebnis und argumentativ kaum unterscheiden, was nicht zuletzt die obigen strafrechtlichen Beispielsfälle (Kap. 6 A. II. 2. a) bb)) zeigen. Denn bezüglich dieser Fallkonstellationen wird unisono für eine Posteriorisierung des Rechtsguts Leben hinter einem hiermit kollidierenden Rechtsgut oder Interesse plädiert, und zwar unabhängig davon, ob das Höchstwertigkeitsdogma restriktiv, im Sinne ­eines Verbots zum Zwang der Aufopferung des eigenen Lebens, interpretiert oder extensiv ausgelegt wird. Unterschiede zwischen beiden Auffassungen ergeben sich im Hinblick auf die Ebene des Verbrechensaufbaus (Deliktsebene) bzw. den unbestimmten Rechtsbegriff, auf der bzw. im Rahmen dessen die Interessenabwägung zwischen dem Grundrecht auf Leben und einem hiermit kollidierenden Interesse oder Rechtsgut vorgenommen wird. Dies lässt sich besonders deutlich am Beispiel des technischen Behandlungsabbruchs durch Nicht-Ärzte („Fall Putz“) demonstrieren (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (1) (a) (bb)): Die in diesem Fall vorliegende aktive Tötungshandlung ist sowohl unter Zugrundelegung der herrschenden extensiven Interpretation des Höchstwertigkeitsdogmas als auch bei restriktiver Auslegung des Höchstwertigkeitsdogmas (im Sinne eines Verbots zum Zwang der solidarischen Aufopferung des eigenen Lebens) zulässig, weil eine Strafbarkeit des technischen Behandlungsabbruchs durch Nicht-Ärzte das Selbstbestimmungsrecht des Patienten verletzen würde. Allerdings vermag nur die im Vordringen befindliche restriktive Auffassung eine Notstandsrechtfertigung zu begründen, da dem menschlichen Leben unter Zugrundelegung dieser Auffassung in der konkreten Situation nicht der Rang eines (die Notstandsrechtfertigung sperrenden) Höchstwerts zukommt. Denn die vom Willen des Opfers gedeckte aktive Tötung, die im Fall des technischen Behandlungsabbruchs durch Nicht-Ärzte vorliegt, stellt sich nicht als Zwang zur solidarischen Aufopferung des eigenen Lebens dar. Im Gegensatz hierzu ist der herrschenden Meinung die Notstandsrechtfertigung der aktiven Tötung, die im Fall des technischen Behandlungsabbruchs durch Nicht-Ärzte gegeben ist, durch das Höchstwertigkeitsdogma versperrt. Denn das für die Zulässigkeit des technischen Behandlungsabbruchs durch Nicht-Ärzte streitende Selbstbestimmungsrecht des Patienten repräsentiert keinen Verfassungshöchstwert. Jedoch trägt die herrschende Meinung den Vorgaben der Verfassung dennoch Rechnung, indem sie die Einwilligungsvoraussetzungen im Licht des Selbstbestimmungsrechts auslegt und bejaht bzw. die objektive Zurechnung im Licht des Selbstbestimmungsrechts interpretiert und verneint. Sie gelangt



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somit mit dem gleichen Auslegungsmodus (i. e. Auslegung im Licht des andernfalls verletzten Selbstbestimmungsrechts des Patienten) zum gleichen Ergebnis wie die im Vordringen befindliche Auffassung, nämlich zur Legitimität des technischen Behandlungsabbruchs durch Nicht-Ärzte. bb) Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen Die ganz herrschende Lehre201 bekennt sich in ihren Kommentierungen zu § 34 StGB – zumindest in der Theorie – zu dem Prinzip, dass wegen Art. 1 Abs. 1 GG bzw. aufgrund der verfassungsrechtlichen Wertordnung Personenwerten stets der Vorrang gegenüber Sachinteressen zukommt. Ausnahmen von diesem Prinzip erkennt die herrschende Lehre nur unter der Voraussetzung an, dass dem Rechtsgut Gesundheit oder Freiheit nur geringe Einbußen drohen, während immense Sachwerte auf dem Spiel stehen (wie z. B. bei einer vorübergehenden Freiheitsberaubung zum Schutz erheblicher Sachwerte)202. Da die herrschende Lehre den Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen in Art. 1 Abs. 1 GG bzw. der verfassungsrechtlichen Wertordnung verankert und den Geltungsbereich dieses Grundsatzes auch nicht explizit auf die Interessenabwägung des § 34 StGB beschränkt (und schon gar nicht auf Fallkonstellationen, in denen der Personenwert als Eingriffsgut und das Sachinteresse als Erhaltungsgut berührt ist), könnte aus dem Bekenntnis der herrschenden Lehre zu diesem Prinzip zu folgern sein, dass dieses nicht nur bei der Auslegung des § 34 StGB zu berücksichtigen ist. Vielmehr könnte dieser Grundsatz auch im Rahmen der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe in den objektiven Tatbeständen der Straftatbestände zum Schutz von Personenwerten (§§ 211 ff. (13) StGB; §§ 223 ff. (13) StGB; §§ 240 StGB ff.) und Sachwerten (§ 242 StGB; § 303 StGB etc.) sowie im Rahmen der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe in anderen Rechtfertigungsgründen, wie z. B. § 32 StGB, zu beachten sein. Dies hätte zur Folge, dass diese Straftatbestände und Rechtfertigungsgründe dahingehend zu interpretieren wären, dass jede durch ein Tun oder Unterlassen bewirkte Verlet201  Maurach/Zipf, Strafrecht AT, TeilBd. 1, § 27, Rn. 29; Kühl, Strafrecht AT, § 8, Rn. 113; Neumann, in: NK, StGB, § 34, Rn. 72; Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, § 34, Rn. 23; Rengier, Strafrecht AT, § 19, Rn. 28; Rosenau, in: Satzger/ Schluckebier/Widmaier, StGB, § 34, Rn. 18; Roxin, Strafrecht AT, Bd. 1, § 16, Rn. 29; Zieschang, in: LK, StGB, Bd. 2, § 34, Rn. 56; a. A. Jakobs, Strafrecht AT, 13/25. 202  Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT, § 17, Rn. 69 f.; Perron, in: Schönke/ Schröder, StGB, § 34, Rn. 26; Rengier, Strafrecht AT, § 19, Rn. 28; Roxin, Strafrecht AT, Bd. 1, § 16, Rn. 31, Rosenau, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, § 34, Rn. 19.

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

zung eines strafrechtlich geschützten Personenwerts (Leben, körperliche Unversehrtheit, Freiheit etc.), die zur Bewahrung eines Sachinteresses erforderlich ist, strafbar ist, sofern nicht der oben beschriebene Ausnahmetatbestand – dem Rechtsgut Gesundheit oder Freiheit drohen nur geringe Einbußen, während immense Sachwerte auf dem Spiel stehen – eingreift. Des Weiteren wären unbestimmte Rechtsbegriffe in den Straftatbeständen zum Schutz von Sachinteressen (wie in den §§ 242 (13) StGB; §§ 303 (13) StGB etc.) sowie in den Rechtfertigungsgründen (wie z. B. in den §§ 32, 34 StGB etc.) so auszulegen, dass jede zum Zweck der Bewahrung eines Personenwerts notwendige Verletzung strafrechtlich geschützter Sachinteressen zulässig ist. (1) Anwendungsbereich Für eine derart konsequente Anwendung des Grundsatzes vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen tritt die herrschende Meinung jedoch gerade nicht ein. Dies zeigt die obige Analyse der Auffassungen, die zur tödlichen Notwehr zur Verteidigung von (nicht unbedeutenden) Sachwerten (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (1) (b) (aa)), zum hier in Frage stehenden ökonomischen Behandlungsverzicht durch auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätige Ärzte (Kap. 6 A. I. 1.) und zum „Millionärs-Fall“ (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (3) (b) (dd)) vertreten werden. Die Analyse legt nahe, dass die herrschende Lehre den Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen wirklich konsequent nur auf solche Konstellationen anwendet, in denen – zur Bewahrung eines Sachinteresses (Erhaltungsgut) – ein Personenwert (Eingriffsgut) durch ein aktives Tun beeinträchtigt wird, das keine zulässige Verteidigung gegen einen gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff darstellt. Mit anderen Worten scheint dieses Prinzip nur bei der Auslegung des § 34 StGB konsequent beachtet zu werden, sofern der Personenwert als Eingriffsgut und das Sachinteresse als Erhaltungsgut berührt ist. Dagegen ist der Anwendungsbereich dieses Grundsatzes für die Auslegung des § 32 StGB – zumindest für Notwehrkonstellationen, in denen der Personenwert Eingriffsgut und der Sachwert Erhaltungsgut ist – nicht eröffnet. Dies beweist die als herrschend anerkannte Notwehrdogmatik (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (1) (b) (aa)). Diese betrachtet den Eingriff in Personenwerte (Leben, körperliche Unversehrtheit etc.) zur Abwehr von gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriffen auf Sachwerte als durch Notwehr gerechtfertigt, sofern der Eingriff in den Personenwert zur Angriffsabwehr geeignet und erforderlich ist (Ausnahme: tödliche Notwehr zur Verteidigung unwesentlicher Sachwerte). Hierin spiegelt sich wider, dass die herrschende Lehre den Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen bei der Auslegung des § 32 StGB – zumindest für Konstellationen, in denen der Personenwert Eingriffsgut und das ­Sachinteresse Erhaltungsgut ist – gerade nicht berücksichtigt.



A. Behandlungspflichten des Arztes177

Auch auf solche Fallgestaltungen, in denen der Personenwert durch ein Unterlassen tangiert und der Sachwert als Erhaltungsgut berührt wird, wendet die herrschende Meinung diesen Grundsatz nicht konsequent an. Dies zeigen die Auffassungen, die zum ökonomischen Behandlungsverzicht durch auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätige Ärzte vertreten werden. Danach ist der wirtschaftliche Behandlungsverzicht nicht als Tötung durch Unterlassen strafbar. Aufgrund der einer Strafbarkeit entgegenstehenden ökonomischen Interessen des auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätigen Arztes sei eine auf Lebensverlängerung gerichtete Garantenpflicht zu verneinen bzw. die Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens zu bejahen (Kap. 6 A. I. 1.). Diese (auf der Ebene der Garantenpflicht bzw. der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens vorgenommene) Posteriorisierung des durch ein Unterlassen verkürzten menschlichen Lebens (Eingriffsgut) hinter den (als Erhaltungsgut berührten) ökonomischen Interessen des Einzelnen, wäre mit einer konsequenten Anwendung des Grundsatzes vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen nicht zu vereinbaren. Dies gilt insbesondere, weil im Hinblick auf den ökonomischen Behandlungsverzicht die Voraussetzungen des oben beschriebenen Ausnahmetatbestands nicht vorliegen, wonach der Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen nicht gilt, sofern nur eine geringe Beeinträchtigung der Rechtsgüter Gesundheit bzw. Freiheit droht, während immense Sachwerte auf dem Spiel stehen. Denn der ökonomische Behandlungsverzicht bringt nicht bloß eine geringfügige Beeinträchtigung der Rechtsgüter Gesundheit oder Freiheit mit sich, sondern schädigt das Rechtsgut Leben irreparabel. Dies kann – insbesondere weil die herrschende Lehre im Hinblick auf den ökonomischen Behandlungsverzicht jede Auseinandersetzung mit dem Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen vermissen lässt – nur so gedeutet werden, dass die herrschende Lehre den Anwendungsbereich dieses Prinzips für Fallkonstellationen, in denen ein Personenwert (Eingriffsgut) zum Zwecke der Bewahrung eines Sachinteresses (Erhaltungsgut) durch ein Unterlassen beeinträchtigt wird, als nicht eröffnet betrachtet bzw. diesen Grundsatz auf diese Konstellationen nicht konsequent anwendet. Zudem sieht die herrschende Meinung den Anwendungsbereich des Grundsatzes vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen auch in solchen (Notstands-)Fallkonstellationen nicht als eröffnet an, wenn zur Bewahrung eines Personenwerts (Erhaltungsgut) ein Sachinteresse (Eingriffsgut) beeinträchtigt wird (ohne dass diese Beeinträchtigung als zulässige Abwehr eines gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriffs zu qualifizieren ist). Zumindest wendet sie diesen Grundsatz auf diese Fallgestaltungen nicht konsequent an. Dies zeigt die Diskussion um die strafrechtliche Bewertung des „Millionärs-Falls“ (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (3) (b) (dd)). Hier vertritt die herrschende Meinung eine mit dem Grundsatz vom Vorrang von Personen-

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

werten vor Sachinteressen nicht vereinbare Auffassung: Sie lehnt eine (Notstands-)Rechtfertigung eines zu Lasten eines Millionär begangenen Diebstahls (§ 242 StGB) ab, obwohl die Begehung dieses Delikts zur Finanzierung einer lebenserhaltenden Behandlung erforderlich war und räumt somit dem als Eingriffsgut berührten Eigentum (Sachinteresse) den Vorrang vor dem als Erhaltungsgut tangierten menschlichen Leben (Personenwert) ein. Der hierin liegende Bruch mit dem Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen lässt sich auch nicht durch den oben beschriebenen, allgemein anerkannten Ausnahmetatbestand von diesem Prinzip erklären, wonach Personenwerten ausnahmsweise dann kein Vorrang vor Sach­ interessen zukommt, sofern dem Rechtsgut Gesundheit bzw. Freiheit nur geringe Einbußen drohen, während im Gegenzug beachtliche Sachwerte auf dem Spiel stehen. Denn in der Fallkonstellation des „Millionärs-Falls“ steht ein Menschenleben auf dem Spiel und es droht somit ein Totalverlust an einem Personenwert, während die mit dem Diebstahl verbundenen Eigentumseinbußen für das Opfer – den Millionär – leicht zu verschmerzen sind. Da die herrschende Meinung auch in Bezug auf den „Millionärs-Fall“ nicht offenlegt, weshalb sie sich in dieser Konstellationen über den Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen hinwegsetzt, kann dies nur so interpretiert werden, dass nach Auffassung der herrschenden Meinung der Anwendungsbereich dieses Prinzips für Notstandskonstellationen, in denen der Sachwert als Eingriffsgut und der Personenwert als Erhaltungsgut berührt ist, nicht eröffnet ist bzw. dieser Grundsatz auf derartige Fallkonstellationen keine konsequente Anwendung findet. Hierfür spricht auch der Umstand, dass die herrschende Meinung gesetzlich geregelte Verfahren, gesetzliche Regelungen, unverzichtbare Freiheitsrechte (wie das Autonomieprinzip) sowie fundamentale Wertprinzipien der Rechtsordnung als absolute Grenzen der Notstandsrechtfertigung anerkennt. Denn ein strikter Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen, der auch dann Geltung beansprucht, sofern der Personenwert lediglich als Erhaltungsgut und das Sachinteresse als Eingriffsgut berührt ist (ohne dass die Verletzung des Sachinteresses als Abwehr eines gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriffs zu qualifizieren ist), wäre mit den beschriebenen absoluten Notstandsgrenzen nicht in Einklang zu bringen. Zu den absoluten Notstandsgrenzen zählen nämlich insbesondere auch der Kernbereich der Grundrechte und daher auch der Kernbereich der Grundrechte zum Schutz von Eigentum (Art. 14 GG) und Vermögen (Art. 2 Abs. 1 GG203) sowie der Allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG). Diesen Garantien können einem Vorrang des 203  BVerfGE 95, 267 (300); BVerwGE 87, 324 (330); Axer, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 14, Rn. 55; Bryde, in: von Münch/Kunig, GG, Bd. 1, Art. 14, Rn. 23; Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14, Rn. 161 ff. (59. Aufl. 2010).



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Personenwerts vor dem Sachinteresse in Bezug auf Fallkonstellationen, in denen der Personenwert im Rahmen des § 34 StGB lediglich als Erhaltungsgut berührt ist, zwingend entgegenstehen. Dies belegt insbesondere der „Millionärs-Fall“, bei dem die Eigentumsfreiheit, der Allgemeine Gleichheitssatz sowie der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes eine (Notstands-) Legitimierung des in diesem Fall verwirklichten Diebstahls untersagen, obwohl dieser zur Bewahrung eines unmittelbar bedrohten Menschenlebens (Erhaltungsgut) erforderlich war (näher Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (3) (b) (dd) (γ)). (2) Folgen der Eröffnung des Anwendungsbereichs Die Eröffnung des Anwendungsbereichs des Grundsatzes vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen hat nach Auffassung der herrschenden Meinung zur Folge, dass eine Notstandsrechtfertigung ausscheiden muss, wenn zur Bewahrung eines Sachinteresses (Erhaltungsgut) ein Personenwert (Eingriffsgut) durch ein aktives Tun verletzt wird, das sich nicht als erforderliche Verteidigungsmaßnahme gegen einen gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff darstellt. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz gilt ausschließlich für die Fallkonstellation, dass dem Rechtsgut Gesundheit bzw. Freiheit nur geringe Einbußen drohen, während im Gegenzug beachtliche Sachwerte auf dem Spiel stehen. (3) Folgen der fehlenden Eröffnung des Anwendungsbereichs Außerhalb des Bereichs, innerhalb dessen die herrschende Meinung für eine strikte Anwendung des Grundsatzes vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen plädiert, orientiert sich die herrschende Meinung an den Vorgaben, die die Verfassung für die Entscheidung der konkreten, hinsichtlich ihrer strafrechtlichen Bewertung in Frage stehenden Interessenkollision zwischen einem Personenwert und einem Sachinteresse vorgibt, was im Einzelfall zu einer Posteriorisierung des Personenwerts hinter dem Sachinteresse führen kann. Allerdings wird dieser Rekurs auf verfassungsrechtliche Wertungen durch Rechtsprechung und Schrifttum nicht immer explizit offengelegt. (a) Beispielsfälle Als Ergebnis einer Orientierung an verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen stellen sich die von der herrschenden Meinung vertretenen Auffassungen zur Fallkonstellation der tödlichen Notwehr zur Verteidigung von

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(nicht unbedeutenden) Sachwerten (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (1) (b) (aa)), zum ökonomischen Behandlungsverzicht durch auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätige Ärzte (Eingangsfragestellung, Kap. 6 A. I. 1.) und zum „Millionärs-Fall“ (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (3) (b) (dd)) dar. (aa) T  ödliche Notwehrmaßnahmen zur Verteidigung von (nicht unbedeutenden) Sachwerten Bezüglich der Fallkonstellation tödlicher Notwehrmaßnahmen zur Verteidigung von nicht unbedeutenden Sachwerten (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (1) (b) (aa)) – eine Fallkonstellation, in der der Anwendungsbereich des Grundsatzes vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen nicht eröffnet ist, weil der Personenwert im Rahmen des § 32 StGB als Eingriffsgut berührt ist – gelangt die herrschende Meinung zu einer Rechtfertigung, indem sie auf der Ebene des § 32 StGB dem als Erhaltungsgut berührten Eigentum Vorrang vor dem als Eingriffsgut tangierten menschlichen Leben einräumt. U. a. wird dieses Ergebnis – aus verfassungsrechtlicher Perspektive zutreffend (Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (a) (bb)) – mit dem Argument begründet, dass die Schutzpflichtdimension des Grundrechts auf Leben es nicht gebietet, jemanden, der rechtswidrig fremdes Eigentum angreift, vor tödlichen Verteidigungsmaßnahmen zu bewahren (jedenfalls, sofern der Angriff nicht lediglich unbedeutenden Sachwerten gilt). Von einer überzeugenden Literaturansicht wird sogar – zumindest in Bezug auf unersetzliche Sachwerte – vertreten, dass es nicht nur verfassungsrechtlich zulässig, sondern, aufgrund der andernfalls verletzten Eigentumsgarantie (Art. 14 GG), sogar verfassungsrechtlich zwingend geboten sei, das Leben des Angreifers gefährdende Abwehrmaßnahmen zur Verteidigung von Sachwerten (durch Notwehr) zu legitimieren. Die von der herrschenden Meinung befürwortete Posteriorisierung des menschlichen Lebens (Eingriffsgut) hinter dem Eigentum (Erhaltungsgut) in der Fallkonstellation tödlicher Notwehrmaßnahmen zur Verteidigung von Angriffen auf (nicht unbedeutende) Sachgüter beruht somit auf einer verfassungskonformen, zumindest aber verfassungsorientierten Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe des § 32 StGB (insbesondere des unbestimmten Rechtsbegriffs der „Gebotenheit“). (bb) Ö  konomischer Behandlungsverzicht durch auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätige Ärzte Der ökonomische Behandlungsverzicht durch auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätige Ärzte (Eingangsfragestellung, Kap. 6 A. I. 1.) stellt eine Konstellation dar, in der der Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor



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Sachgütern von der herrschenden Meinung nicht strikt angewendet wird, weil der Personenwert durch ein Unterlassen tangiert wird. Die herrschende Meinung verneint in Bezug auf den ökonomischen Behandlungsverzicht durch auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätige Ärzte eine auf Lebensverlängerung gerichtete Garantenpflicht bzw. bejaht die Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens und gelangt so zur Posteriorisierung des als Eingriffsgut berührten Personenwerts (Rechtsgut Leben bzw. körperliche Unversehrtheit des Patienten) hinter dem als Erhaltungsgut tangierten Sachwert (Eigentum bzw. Vermögen des auf eigene Rechnung tätigen Arztes). Da die Straflosigkeit des durch auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätige Ärzte begangenen ökonomischen Behandlungsverzichts durch die andernfalls verletzten Grundrechte des Arztes aus Art. 12 GG, Art. 14 GG und Art. 3 GG erzwungen wird (siehe Kap. 6 A. II. 1.), beruht die Poste­riorisierung des Personenwerts hinter dem Sachinteresse in dieser Fallkonstellation auf einer verfassungskonformen Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der Garantenpflicht bzw. des unbestimmten Rechtsbegriffs der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens. (cc) „Millionärs-Fall“ Im „Millionärs-Fall“ (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (3) (b) (dd)) – einer Fallkonstellation, in der der Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen keine strikte Anwendung findet, weil der Personenwert im Rahmen des § 34 StGB lediglich als Erhaltungsgut berührt ist – lehnt die herrschende Meinung eine Notstandsrechtfertigung des zur Finanzierung einer lebensrettenden Behandlung begangenen Diebstahls ab und gelangt so im Rahmen des § 34 StGB zu einer Posteriorisierung des als Erhaltungsgut berührten Personenwertes (Rechtsgut Leben) hinter dem als Eingriffsgut tangierten Sachinteresse (Rechtsgut Eigentum). Die in der Ablehnung der Notstandsrechtfertigung liegende Posteriorisierung des menschlichen Lebens begründet die herrschende Meinung unter Verweis auf die Existenz von (einer Notstandsrechtfertigung entgegenstehenden) sozialen Sicherungssystemen sowie unter Verweis darauf, dass auch einem Millionär kein über die Beiträge zu den sozialen Sicherungssystemen hinausgehendes Sonderopfer auferlegt werden dürfe. Da der Rechtsgrund für die Unzulässigkeit der Belastung des Eigentümers mit einem Sonderopfer in den Artt. 14 und 3 Abs. 1 GG zu erblicken ist, stellt sich die Posteriorisierung des Personenwerts hinter dem Sachwert im „Millionärs-Fall“ als verfassungskonforme Auslegung der §§ 242, 34 StGB dar (näher Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (3) (b) (dd) (γ)).

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

(b) R  egeln für die Bewertung von Personenwerten im Verhältnis zu kollidierenden Sachinteressen außerhalb des Anwendungsbereichs des Grundsatzes vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen Außerhalb des Bereichs einer strikten Anwendung des Grundsatzes vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen entscheidet die herrschende Meinung (hinsichtlich ihrer strafrechtlichen Bewertung in Frage stehende) Interessenkollisionen zwischen Personenwerten und Sachinteressen unter Beachtung der Vorgaben der Verfassung, die im Einzelfall einen Vorrang von Sachinteressen vor Personenwerten gestatten oder sogar erzwingen kann. Dies zeigt nicht nur die Analyse der obigen Beispielsfälle, sondern wird auch durch die herrschende Notstandsdogmatik bestätigt. Denn Rechtsprechung und herrschende Lehre erkennen als absolute Grenzen der Notstandsrechtfertigung – die somit auch dann gelten, wenn im Rahmen des § 34 StGB Personenwerte als Erhaltungsgüter und Sachinte­ressen als Eingriffsgüter berührt sind – nicht nur Verfassungshöchstwerte an, sondern auch den Kernbereich der Grundrechte sowie gesetzliche Regelungen und gesetzlich geregelte Verfahren, in welche die Notstandslage einkalkuliert ist. Hierin liegt ein Bekenntnis zur verfassungskonformen Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe „überwiegendes Interesse“ bzw. „Angemessenheit“ und zugleich eine Relativierung der Geltung des Grundsatzes von Personenwerten vor Sachinteressen für Fälle, in denen der Personenwert im Rahmen des § 34 StGB als Erhaltungsgut berührt ist. Denn wie unter Kap. 6 A. II. 3. a) bb) näher dargelegt werden soll, ergibt sich aus der Verfassung weder die Verpflichtung noch auch nur die Berechtigung, jede zur Bewahrung eines Personenwerts erfolgte Verletzung eines strafrechtlich geschützten S ­ achinteresses (durch Notstand) zu legitimieren. Zwar treffen den Staat Schutzpflichten zugunsten des menschlichen Lebens, der körperlichen Unversehrtheit und anderer Personenrechtsgüter nicht nur im Falle privater Übergriffe, sondern auch in den – für den Notstand typischen – Fallkonstellationen „gegnerloser Not“, also bei objektiven Lebensund Gesundheitsgefahren aufgrund von Krankheit, Naturkatastrophen, Selbstverschulden etc. Jedoch kommt dem Staat bei der Erfüllung seiner Schutzpflichten – selbst solcher zugunsten des menschlichen Lebens und der ­körperlichen Unversehrtheit – ein weiter Gestaltungsspielraum zu, der sich regelmäßig nicht dahingehend verdichtet, dass nur eine bestimmte gesetzliche Regelung oder staatliche Maßnahme rechtmäßig wäre. Außerdem bedarf der Staat auch bei der Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten, wenn er dabei in Rechte Dritter eingreift, einer gesetzlichen Grundlage, die den Anforderungen der Verfassung genügt und insbesondere dem Verhältnismäßigkeitsprinzip ­Rechnung trägt, das aus der Abwehrdimension der Grundrechte resultiert. Es kann deshalb die Situation eintreten, dass der Staat die einzige Maßnahme unterlassen muss, die die Bewahrung des zu schützenden Rechtsguts gestattet.



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Für die Auslegung des § 34 StGB bedeutet die beschriebene Dogmatik grundrechtlicher Schutzpflichten, dass die Verfassung es weder gebietet noch gestattet, jede zur Bewahrung eines Personenwerts erforderliche Verletzung eines strafrechtlich geschützten Sachinteresses zu legitimieren. Vielmehr erzwingt die Verfassung die Existenz absoluter Notstandsgrenzen. Hierzu gehört der unabwägbare Kernbereich von grundrechtlichen Verbürgungen und damit auch der Kernbereich der Grundrechte zum Schutz von Sachinteressen (Eigentumsfreiheit, Allgemeine Handlungsfreiheit, die nach herrschender Meinung das Vermögen schützt, Allgemeiner Gleichheitssatz etc.), die etwa zugunsten des Notstandsopfers eingreifen können. Auch gesetzliche Regelungen, in die die Notstandslage einkalkuliert ist und gesetzlich geregelte Verfahren zur Bewältigung der Notstandslage, dürfen durch die Notstandsrechtfertigung nicht unterlaufen werden, was aus der Dogmatik grundrechtlicher Schutzpflichten (staatlicher Spielraum bei der Erfüllung der Schutzpflichten, selbst solcher zugunsten des Lebens; Bindung an das Gesetzlichkeitsprinzip und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, wenn der Staat zur Erfüllung der Schutzpflichten in Grundrechte Dritter eingreift) und dem (in Art. 20 Abs. 3 GG normierten und auch für die Judikative verbindlichen) Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes folgt. Folglich stellt sich die herrschende Notstandsdogmatik, die als absolute Grenzen der Notstandsrechtfertigung neben Verfassungshöchstwerten auch den Kernbereich der Grundrechte und gesetzlich geregelte Verfahren bzw. gesetzliche Regelungen, in die die Notstandsgefahr einkalkuliert ist, anerkennt, als verfassungskonforme Auslegung des § 34 StGB dar und zugleich als Relativierung des Grundsatzes vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen für Notstandskonstellationen, in denen der Personenwert als Erhaltungsgut und das Sachinteresse als Eingriffsgut berührt ist. cc) Bedeutung der verfassungskonformen Auslegung für die Bewertung des menschlichen Lebens (im Verhältnis zu kollidierenden Rechtsgütern / Interessen) bzw. von Personenwerten im Verhältnis zu kollidierenden Sachinteressen (1) P  osteriorisierung des Rechtsguts Leben (hinter kollidierenden Rechtsgütern / Interessen) sowie von Personenwerten hinter kollidierenden Sachinteressen infolge verfassungskonformer Auslegung Die herrschende Strafrechtsdogmatik vermag es, verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Entscheidung von Interessenkollisionen zwischen dem Rechtsgut Leben und hiermit kollidierenden Rechtsgütern oder Interessen

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

bzw. zwischen Personenwerten und hiermit konfligierenden Sachinteressen Rechnung zu tragen. Dies gilt unabhängig davon, ob die Verfassung im konkreten Fall eine bestimmte Auslegung einer strafrechtlichen Norm erzwingt und damit auch jede strafrechtliche Abwägungsentscheidung obsolet macht, weil jede andere Interpretation die Verfassung verletzen würde (sog. verfassungskonforme Auslegung204) oder ob die Verfassung eine bestimmte Auslegung lediglich nahelegt, weil eine Auslegung verfassungsrechtlichen Vorgaben eher entspricht als eine andere, die jedoch deshalb nicht verfassungswidrig ist (sog. verfassungsorientierte Auslegung205). Obwohl Rechtsprechung und Lehre das Höchstwertigkeitsdogma und den Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen anerkennen, können sie verfassungsrechtliche Vorgaben bei der Auslegung der strafrechtlichen Normen auch berücksichtigen, wenn die Verfassung es gebietet, das Rechtsgut Leben hinter einem kollidierenden Rechtsgut oder Interesse zurücktreten zu lassen oder es erzwingt, dem Sach­interesse den Vorrang vor dem hiermit kollidierenden Personenwert einzuräumen. Die Analyse der obigen Beispielsfälle (Kap. 6 A. II. 2. a) bb)) hat ergeben, dass Fallkonstellationen existieren, bezüglich derer Rechtsprechung und Lehre – im Widerspruch zu einer konsequenten Anwendung der Grundsätze vom Höchstwert des menschlichen Lebens und vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen – für eine Posteriorisierung des Rechtsguts Leben (hinter kollidierenden Rechtgütern oder Interessen) bzw. für eine Posteriorisierung von Personenwerten hinter Sachinteressen eintreten und hierdurch verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen Rechnung tragen. Wenngleich Schrifttum und Rechtsprechung damit im Ergebnis den Vorgaben des Grundgesetzes folgen, hat sich gezeigt, dass die verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen, die eine Posteriorisierung des Rechtsguts Leben (hinter kollidierenden Rechtsgütern bzw. Interessen) bzw. eine Posteriorisierung eines Personenwerts hinter einem Sachinteresse im Einzelfall erzwingen oder zumindest gestatten, nicht immer so explizit offengelegt werden, wie beispielsweise beim technischen Behandlungsabbruch durch NichtÄrzte („Fall Putz“). Dessen Zulässigkeit bzw. Straflosigkeit begründen BGH und herrschende Lehre unter explizitem Hinweis darauf, dass eine Pönalisierung das verfassungsrechtlich verbürgte Selbstbestimmungsrecht des Patienten verletzen würde und somit verfassungswidrig wäre, weshalb die §§ 212 (216) StGB verfassungskonform dahingehend auszulegen sind, dass der technische Behandlungsabbruch durch Nicht-Ärzte (mangels Zurechenbarkeit des Erfolgs) tatbestandslos oder durch Einwilligung gerechtfertigt ist (siehe Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (1) (a) (bb)). 204  Dannecker, 205  Dannecker,

in LK, StGB, Bd. 1, § 1, Rn. 326 ff. in: LK, StGB, Bd. 1, § 1, Rn. 332.



A. Behandlungspflichten des Arztes185

Vielmehr existieren zahlreiche Fallkonstellationen, in denen Rechtsprechung und Lehre die die Posteriorisierung des menschlichen Lebens erzwingende Verfassungsnorm nicht explizit offenlegen. Daher bleibt in diesen Fällen auch der zwingende, aus der Normenhierarchie folgende Charakter des Prinzips bzw. Arguments verborgen, welches die Posteriorisierung des Rechtsguts Leben vorgibt. So wird im „Millionärs-Fall“ eine Notstandsrechtfertigung des zu Finanzierung einer lebensrettenden Operation begangenen Diebstahls zu Lasten eines Millionärs von der herrschenden Meinung mit dem Argument abgelehnt, dass eine Legitimierung eines solchen Diebstahls dem Opfer ein „unzumutbares Sonderopfer“ abverlangen würde (vgl. Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (3) (b) (dd) (β)). Jedoch wird von der ganz überwiegenden Anzahl der Literaturvertreter nicht offenbart, dass sich die Grenze für eine zulässige Sozialbindung des Eigentums, die die Einforderung derartiger Sonderopfer verbietet, aus Art. 14 GG und Art. 3 Abs. 1 GG ergibt (näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (c) (ee)). Das gleiche gilt für die Fallkonstellation der für den Garanten mit Lebens- bzw. erheblichen Gesundheitsgefahren verbundenen Lebensrettung („Nierenspende-Fall“, Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (2) (b) (bb)). Auch bezüglich dieser Fallgruppe verschweigen Schrifttum und Rechtsprechung, aus welchen Verfassungsgrundsätzen sich die, bei konkreten Gefahren für das Leben oder bedeutende Gesundheitswerte, anzuerkennende Zumutbarkeitsgrenze ergibt, auf die sich der zur Bewahrung des Rechtsguts Leben auf Posten gestellte Garant berufen kann. Es wird pauschal auf „unverfügbare Rechtspositionen“ verwiesen, anstelle auf das Selbstbestimmungsrecht des Patienten (bzw. die Menschenwürde) abzustellen, woraus sich die bei konkreten Lebens- oder erheblichen Gesundheitsgefahren zu ziehende Opfergrenze für den (Lebensrettungs-)Garanten ergibt, wenn die Lebensrettung es erforderlich macht, dass sich der Garant einem gravierenden medizinischen Eingriff unterzieht (wie im „Nierenspende-Fall“) oder auf den Menschenwürdekern des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit (bzw. die Menschenwürdegarantie) zu rekurrieren, woraus die beschriebene Grenze der Zumutbarkeit für den (Lebensschutz-)Garanten folgt, wenn die Lebensrettung keinen medizinischen Eingriff (am Garanten) erfordert (näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (b) (dd)). Auch die allgemein anerkannte Auslegungsregel, wonach zu den absoluten Grenzen der Notstandsrechtfertigung nicht nur Verfassungshöchstwerte – wie die Menschenwürde – zählen, sondern auch der (unabwägbare) Kernbereich der (Freiheits-)Grundrechte sowie gesetzlich geregelte Verfahren zur Bewältigung der Notstandslage und gesetzliche Regelungen, in die die Notstandslage einkalkuliert ist, wird nicht in der Dogmatik grundrechtlicher Schutzpflichten (staatlicher Spielraum bei der Erfüllung der Schutzpflichten, selbst solcher zugunsten des Lebens; Bindung an das Gesetzlichkeitsprinzip

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, wenn der Staat zur Erfüllung der Schutzpflichten in Grundrechte Dritter eingreift) und dem (in Art. 20 Abs. 3 GG normierten und auch für die Judikative verbindlichen) Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes verankert. Dabei wäre eine solche dogmatische Fundierung zutreffend (näher Kap. 6 A. II. 2. b) aa) (1) (c) (bb)). Der Verzicht auf Offenlegung des verfassungsrechtlichen Fundaments dieses Auslegungsgrundsatzes hat den Nachteil, dass der zwingende Charakter dieser Auslegungsregel verborgen bleibt. Infolgedessen bleibt auch unklar, warum die herrschende Meinung unter Verweis auf diese Auslegungsregel eine Notstandsrechtfertigung auch dann ablehnt, wenn diese zur Posteriorisierung des (als Erhaltungsgut berührten) Rechtsguts Leben führt. Diese Problematik wird verdeutlicht durch die Argumentation, mit welcher die herrschende Meinung die (allgemein für richtig erachtete) Strafbarkeit der erzwungenen Lebend(organ)spende und der postmortalen Organentnahme entgegen den Willen des Spenders begründet: Verstößt jemand zur Rettung eines andernfalls verlorenen Menschenlebens gegen § 19 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 b) TPG bzw. gegen § 19 Abs. 2 in Verbindung mit § 3 Abs. 2 Nr. 1 TPG, lehnt die herrschende Meinung eine Notstandsrechtfertigung ab. Dies begründet sie u. a. mit dem Argument, dass über eine Notstandsrechtfertigung die Strafvorschriften des TPG unterlaufen würden, die die erzwungene Organentnahme beim lebenden Spender bzw. die Organentnahme bei einem toten Spender entgegen dessen Willen explizit unter Strafe stellen und in welche die Lebensgefahr für den durch die Notstandshandlung geretteten Organempfänger einkalkuliert ist. Jedoch verzichtet die herrschende Meinung darauf hervorzuheben, dass § 19 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 b) TPG bzw. § 19 Abs. 2 in Verbindung mit § 3 Abs. 2 Nr. 1 TPG zwischen den (eventuell zugunsten des potentiellen Organempfängers bestehenden) Schutzpflichten aus dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit auf der einen Seite und dem Selbstbestimmungsrecht (bzw. der Menschenwürde) des unfreiwilligen Lebend­ spenders bzw. dem postmortalen Persönlichkeitsrecht (bzw. der postmortal zu achtenden Menschenwürde) des toten Spenders auf der anderen Seite, einen aus verfassungsrechtlicher Perspektive nicht zu beanstandenden Ausgleich schaffen und dass der Strafrichter diese (straf-)gesetzgeberische Ent­ scheidung – aufgrund des Verfassungsgrundsatzes vom Vorrang des Gesetzes – zu akzeptieren hat (und nicht über eine Notstandsrechtfertigung unterlaufen darf). In der Konsequenz wird nicht hinreichend deutlich, dass die Regelungen des TPG über die Organentnahme auch dann einzuhalten sind, wenn der Verstoß gegen diese Vorschriften die einzige Möglichkeit zur Rettung eines andernfalls verlorenen Menschenlebens darstellt (siehe Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (3) (b) (bb) (γ) bzw. Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (3) (b) (cc) (γ)).



A. Behandlungspflichten des Arztes187

(2) Verfassungskonforme Auslegung und Höchstwertigkeitsdogma (a) Herrschende Meinung Die herrschende Meinung vermag trotz ihres Bekenntnisses zum Höchstwertigkeitsdogma einer durch die Verfassung gestatteten oder erzwungenen Posteriorisierung des Rechtsguts Leben stets zu entsprechen. Zwar ist das Höchstwertigkeitsdogma, sofern man es mit der herrschenden Meinung extensiv interpretiert, mit dem Gebot der verfassungskonformen Auslegung nicht zu vereinbaren. Das gilt zumindest dann, wenn man eine theoretische Perspektive einnimmt. Denn das Höchstwertigkeitsdogma wird von der herrschenden Meinung mit dem Argument begründet, dass das Grundrecht auf Leben einen (Verfassungs-)Höchstwert darstelle, der sich gegenüber kollidierenden Rechtsgütern und Interessen stets durchzusetzen vermag, sofern diese nicht ihrerseits Verfassungshöchstwerte (Menschenwürde, Interesse am Bestand des Staates etc.) repräsentieren. Aus verfassungsdogmatischer Perspektive ist dies jedoch unzutreffend. Wie in Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) näher zu begründen sein wird, stellt das menschliche Leben keinen Verfassungshöchstwert dar, der allenfalls durch andere Verfassungshöchstwerte überwogen werden kann. Vielmehr beurteilt die Verfassung die Wertigkeit des menschlichen Lebens kontextbezogen. Daher kann auch der Rang, der dem Leben in einer Interessenkollision zukommt, nur kontextbezogen beurteilt werden. Dies gilt auch für strafrechtlich relevante Interessenkollisionen zwischen dem Rechtsgut Leben und einem hiermit kollidierenden Rechtsgut bzw. Interesse. Zwar treffen den Staat Schutzpflichten zugunsten des menschlichen Lebens, die umfassend gelten und bei Übergriffen durch Private ebenso Geltung beanspruchen wie bei objektiven Gefährdungen (durch Selbstgefährdungen, Erkrankungen etc.). Jedoch besitzt der Staat bei der Erfüllung seiner Schutzpflichten – selbst solcher zugunsten des menschlichen Lebens – einen erheblichen Spielraum, der erst überschritten ist, wenn die ergriffenen Maßnahmen gänzlich ungeeignet oder völlig unzureichend sind. Sofern der Gesetzgeber zur Erfüllung der Schutzpflichten in grundrechtliche Betätigungen privater Dritter eingreift, bedarf der Staat – nachdem die Schutzpflicht keine eigenständige Handlungsbefugnis gewährt – einer gesetzlichen Grundlage, die den Anforderungen der Verfassung genügt und insbesondere dem aus der Abwehrdimension der Grundrechte resultierenden Verhältnismäßigkeitsprinzip Rechnung trägt. Aus der beschriebenen Dogmatik grundrechtlicher Schutzpflichten folgt, dass der Staat durch Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nicht dazu verpflichtet ist, jedes lebensverkürzende Tun oder Unterlassen zu pönalisieren und jede zur Bewahrung menschlichen Lebens erforderliche Verletzung eines strafrechtlich

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

geschützten Rechtsguts zu legitimieren. Vielmehr existieren Konstellationen, in denen der Staat hierzu noch nicht einmal berechtigt wäre. Für die Strafrechtsauslegung bedeutet dies, dass das Grundrecht auf Leben es nicht erzwingt, die §§ 212 (13), (34) StGB (§ 323 c StGB) so auszulegen, dass jedes lebensverkürzende Tun und jedes lebensverkürzende Unterlassen unzulässig ist und jede zur Bewahrung mensch­lichen Lebens erforderliche Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsguts – etwa über eine Notstandsrechtfertigung etc. – zu legitimieren. Vielmehr existieren Fallkonstellationen, in denen die Grundrechte – auch solche, die ihrerseits keine Verfassungshöchstwerte repräsentieren – oder andere Verfassungsprinzipien (strafrechtliches Analogieverbot, Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes, Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes) einer derartigen Norminterpretation zwingend entgegenstehen (näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (a)). Insofern ist das strafrechtliche Höchstwertigkeitsdogma selbst dann aus verfassungsrechtlicher Perspektive nicht haltbar und kollidiert mit dem Gebot der verfassungskonformen Auslegung, wenn man das Höchstwertigkeitsdogma auf die Aussage reduzieren würde, dass aktive Tötungen, die sich nicht als erforderliche Verteidigung gegen einen Angriff im Sinne des § 32 StGB darstellen, unzulässig sind, sofern nicht ein Verfassungshöchstwert eine andere Bewertung rechtfertigt. Die herrschende Meinung verschließt sich dieser Erkenntnis nicht, obwohl sie das Höchstwertigkeitsdogma aus dem (vermeintlichen) Rang des Grundrechts auf Leben als Verfassungshöchstwert ableitet. Denn angesichts dieser dogmatischen Herleitung des Höchstwertigkeitsdogmas, müssten die §§ 212 (13) StGB dahingehend ausgelegt werden, dass jedes lebensverkürzende Tun und Unterlassen unzulässig ist und jede zur Bewahrung eines unmittelbar gefährdeten Menschenlebens erforderliche Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsguts wäre über eine entsprechende Auslegung der Rechtfertigungsgründe zu legitimieren, sofern nicht ein Verfassungshöchstwert ausnahmsweise für das gegenteilige Ergebnis streitet. Allerdings tritt die herrschende Meinung für eine derart konsequente Anwendung des Höchstwertigkeitsdogmas gerade nicht ein. Dies beweist nicht zuletzt die Analyse der obigen strafrechtlichen Beispielsfälle, woraus sich ergibt, dass – selbst aus der Perspektive der herrschenden Strafrechtsdogmatik – Fallkonstellationen existieren, in denen die Verfassung eine Posteriorisierung des Rechtsguts Leben hinter Rechtsgütern und Interessen erzwingt, die im Rang unter Verfassungshöchstwerten rangieren (Kap. 6 A. II. 2. a) bb)). So befürworten Rechtsprechung und herrschende Lehre im Fall des technischen Behandlungsabbruchs durch Nicht-Ärzte („Fall Putz“) neuestens die Zulässigkeit eines lebensverkürzenden aktiven Tuns mit dem Argument, dass eine Qualifizierung des technischen Behandlungsabbruchs durch



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Nicht-Ärzte als rechtswidrig, das verfassungsrechtlich verbürgte Selbstbestimmungsrecht des Patienten verletzen würde und somit verfassungswidrig wäre (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (1) (a) (bb)). Im Fall der passiven Sterbehilfe beim entscheidungsfähigen Patienten, des Geschehenlassens eines freiverantwortlichen Suizids („Wittig-Fall“) und der unterlassenen Zwangsheilung beim entscheidungsfähigen Patienten, gelangt die herrschende Meinung, ebenfalls unter Rekurs auf das andernfalls verletzte Selbstbestimmungsrecht des Pa­ tienten, zur Zulässigkeit eines lebensverkürzenden Unterlassens (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (2) (a) (aa) / Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (2) (a) (bb) / Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (2) (a) (cc)). Im Fall der postmortalen Organentnahme gegen den Willen des Spenders wird, unter Verweis auf das andernfalls verletzte postmortale Persönlichkeitsrecht bzw. Selbstbestimmungsrecht, eine Notstandsrechtfertigung des Verstoßes gegen § 19 Abs. 2 in Verbindung mit § 3 Abs. 2 Nr. 1 TPG abgelehnt, obwohl die Organentnahme gegen den (lebzeitigen) Willen des Spenders die einzige Möglichkeit darstellt, um ein unmittelbar bedrohtes Menschenleben zu retten (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (3) (b) (bb)). Obwohl das Gebot der verfassungskonformen Auslegung des einfachen Rechts mit dem strafrechtlichen Höchstwertigkeitsdogma aus theoretischer Perspektive nicht in Einklang zu bringen ist – zumindest wenn man das Höchstwertigkeitsdogma mit der herrschenden Meinung extensiv interpretiert – vermeidet die herrschende Strafrechtsdogmatik verfassungswidrige Ergebnisse (näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (2)). Der herrschenden Meinung gelingt die Vereinbarung dieser, in der Theorie eigentlich nicht in Einklang zu bringenden Prinzipien (Höchstwertigkeitsdogma und verfassungskonforme Auslegung), indem sie den Anwendungsbereich des Höchstwertigkeitsdogmas auf der einen Seite stark beschränkt und zudem Ausnahmen von diesem Prinzip anerkennt: Ganz konsequent beruft sich die herrschende Mei­ nung nur in Bezug auf solche Interessenkollisionen zwischen dem Rechtsgut Leben und einem hiermit kollidierenden Rechtsgut bzw. Interesse auf das Höchstwertigkeitsdogma, die im Rahmen des § 34 StGB im Wege eines Abwägungsvorgangs entschieden werden und in denen das Rechtsgut Leben (Eingriffsgut) durch ein aktives Tun beeinträchtigt wird. Zudem erkennt die herrschende Meinung einen Ausnahmetatbestand von diesem Prinzip für den Fall an, dass das (als Eingriffsgut berührte) Rechtsgut Leben mit der Menschenwürdegarantie (oder einem anderen Verfassungshöchstwert) kollidiert. Auf diese Weise vermeidet die herrschende Meinung Konflikte zwischen dem Höchstwertigkeitsdogma und dem Gebot der verfassungskonformen Auslegung, ohne eines dieser Prinzipen aufgeben zu müssen: In Fallkonstellationen, in denen die Verfassung die (Notwehr-)Legitimierung aktiver Tötungen erzwingt, die zur Abwehr gegenwärtiger, rechtswidriger Angriffe auf hochwertige Individualrechtsgüter (körperliche Unver-

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

sehrtheit etc.) erforderlich sind, kommt es zu keinem Konflikt zwischen dem Höchstwertigkeitsdogma und dem Gebot der verfassungskonformen Auslegung des Strafrechts. Denn die herrschende Meinung betrachtet das Höchstwertigkeitsdogma bei der Auslegung des § 32 StGB – für Fallkonstellationen, da das Rechtsgut Leben des Angreifers als Eingriffsgut berührt ist – als nicht anwendbar. Sofern die Verfassung die Zulässigkeit eines lebensverkürzenden Unterlassens erzwingt – wie bei der passiven Sterbehilfe beim entscheidungsfähigen Patienten etc. – oder die Zulässigkeit eines lebensverkürzenden Unterlassens zumindest gestattet, kollidieren das Höchstwertigkeitsdogma und das Gebot der verfassungskonformen Auslegung deshalb nicht, weil der Anwendungsbereich des Höchstwertigkeitsdogmas im Falle eines lebensverkürzenden Unterlassens nicht eröffnet ist und für die Auslegung der §§ 212, 13 StGB bzw. § 323 c StGB daher Abwägungsspielräume, ohne Beschränkungen auf Verfassungshöchstwerte, offenstehen. Das gleiche gilt für Fallkonstellationen, in denen die Verfassung es verbietet, die Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsguts zu legitimieren, obwohl die Rechtsgutsverletzung zur Bewahrung eines unmittelbar bedrohten Menschenlebens (Erhaltungsgut) erforderlich war, wie z. B. im Falle der lebensrettenden Zwangsheilung beim entscheidungsfähigen Patienten, der erzwungenen Lebend(organ)spende etc. Auch in diesen Fallkonstellationen gerät das Höchstwertigkeitsdogma nicht in Konflikt mit dem Gebot der verfassungskonformen Auslegung, denn der Anwendungsbereich des Höchstwertigkeitsdogmas ist in (Notstands-)Fallgestaltungen, in denen das Rechtsgut Leben (außerhalb des § 32 StGB) als Erhaltungsgut berührt ist, auch nach herrschender Meinung nicht eröffnet. In Fallkonstellationen, in denen – wie im Fall der indirekten Sterbehilfe – ein Verfassungshöchstwert, wie die Menschenwürde, die Zulässigkeit einer aktiven Tötung (die keine zulässige Notwehrhandlung darstellt) erzwingt, greift der anerkannte Ausnahmetatbestand vom Höchstwertigkeitsdogma ein, wonach das Rechtsgut Leben durch andere Verfassungshöchstwerte überwogen werden kann. Aber auch wenn der Anwendungsbereich des Höchstwertigkeitsdogmas eröffnet ist und die Voraussetzungen des Ausnahmetatbestands nicht erfüllt sind, gelingt es der herrschenden Meinung, eine Kollision zwischen dem Höchstwertigkeitsdogma und dem Gebot der verfassungskonformen Auslegung aufzulösen, ohne eines dieser Prinzipien aufzugeben. Denn neben dem unbestimmten Rechtsbegriff des „überwiegenden Interesses“ in § 34 StGB – für dessen Auslegung das Höchstwertigkeitsdogma nach herrschender Meinung Geltung beansprucht, sofern ein lebensverkürzendes Tun gegeben ist (das keine nach § 32 StGB zulässige Verteidigungshandlung darstellt) –



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existiert noch eine Reihe weiterer unbestimmter Rechtsbegriffe, die einer verfassungskonformen Auslegung zugänglich sind. Diese finden sich u. a. im objektiven Tatbestand des § 212 StGB (wie z.  B. der unbestimmte Rechtsbegriff „objektive Zurechnung“) und im Rechtfertigungstatbestand der Einwilligung (wie z. B. der unbestimmte Rechtsbegriff der „Disponibilität des verletzten Rechtsguts“) und unterfallen dem Anwendungsbereich des Höchstwertigkeitsdogmas, den die herrschende Meinung auf § 34 StGB beschränkt, somit nicht. Dies hat zur Folge, dass unter Zugrundelegung der herrschenden extensiven Interpretation des Höchstwertigkeitsdogmas – ohne das Höchstwertigkeitsdogma aufgeben zu müssen – sogar dann einer durch das Grundgesetz erzwungenen Posteriorisierung des Rechtsguts Leben Rechnung getragen werden kann, wenn der Anwendungsbereich des Höchstwertigkeitsdogmas eröffnet ist und kein Ausnahmetatbestand eingreift. Denn aus verfassungsrechtlicher Perspektive ist irrelevant, ob eine grundgesetzlich gebotene Posteriorisierung des durch ein aktives Tun verletzten Rechtsguts Leben durch Bejahung einer Notstandsrechtfertigung, durch Ablehnung des objektiven Tatbestands des § 212 StGB oder durch Bejahung einer (rechtfertigenden) Einwilligung erreicht wird. Zur Verdeutlichung sei in diesem Zusammenhang die strafrechtliche Bewertung des technischen Behandlungsabbruchs durch Nicht-Ärzte („Fall Putz“, Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (1) (a) (bb)) erwähnt: Obwohl nach Auffassung des BGH und der herrschenden Lehre der technische Behandlungsabbruch durch Nicht-Ärzte aufgrund des, einer Strafbarkeit entgegenstehenden, Selbstbestimmungsrechts des Patienten zulässig bzw. straflos zu sein hat, lassen BGH und herrschende Lehre speziell eine Notstandsrechtfertigung am Höchstwertigkeitsdogma scheitern. Stattdessen begründen BGH und herrschende Lehre das durch die Verfassung gebotene Ergebnis der Zulässigkeit des technischen Behandlungsabbruchs, indem sie die Einwilligungsvoraussetzungen, insbesondere die Einwilligungsvoraussetzung der „Disponibilität des verletzten Rechtsguts“, im Licht des andernfalls verletzten Selbstbestimmungsrechts interpretieren und bejahen. Eine Literaturauffassung gelangt zur Zulässigkeit, indem sie die Tatbestandsvoraussetzung der objektiven Zurechenbarkeit im Licht des Selbstbestimmungsrechts des Patienten auslegt und so den objektiven Tatbestand der §§ 212 (216) StGB verneint. (b) Im Vordringen befindliche Literaturauffassung Eine im Vordringen befindliche, insbesondere von Erb, Neumann und Merkel vertretene Literaturauffassung interpretiert das Höchstwertigkeitsdogma sehr restriktiv als Verbot eines Zwangs zur solidarischen Aufopferung des eigenen Lebens. Schließt man sich dieser Auffassung an, bedarf es

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keiner dogmatischen Kunstgriffe, um verfassungswidrige Ergebnisse zu vermeiden, während im Gegensatz hierzu die herrschende Meinung verfassungswidrige Ergebnisse nur dadurch zu umgehen vermag, dass sie über eine willkürlich erscheinende Beschränkung des Anwendungsbereichs des Höchstwertigkeitsdogmas es ermöglicht, dieses Prinzip jederzeit zu unterlaufen, wenn die Anwendung dieses Grundsatzes verfassungswidrige Ergebnisse produzieren würde (näher Kap. 6 A. II. 2. b) cc) (2) (a)). Wie unter Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (2) (b) näher darzustellen sein wird, beschränkt die im Vordringen befindliche Literaturauffassung den Anwendungsbereich des Höchstwertigkeitsdogmas auf bestimmte strafrechtlich relevante Konstellationen, in denen der unabwägbare Menschenwürdekern des Grundrechts auf Leben berührt ist und in denen das Rechtsgut Leben somit tatsächlich einen unabwägbaren Höchstwert repräsentiert. Die Vorzüge einer restriktiven Interpretation des Höchstwertigkeitsdogmas als Verbot eines Zwangs zur solidarischen Aufopferung des eigenen Lebens, demonstrieren nicht zuletzt die obigen strafrechtlichen Fallkonstellationen (Kap. 6 A. II. 2. a) bb)). Denn in keiner dieser Konstellationen geht es um einen Zwang zur solidarischen Aufopferung des eigenen Lebens, weshalb das Rechtsgut Leben, unter Zugrundelegung der im Vordringen befindlichen Auffassung, dort nicht als Höchstwert tangiert ist. Somit kann den Vorgaben der Verfassung, die in den obigen Fällen eine Posteriorisierung des Rechtsguts Leben gestatten oder sogar erzwingen, widerspruchsfrei und ohne dogmatische Kunstgriffe entsprochen werden. (3) Verfassungskonforme Auslegung des Strafrechts und Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen Auch das Bekenntnis zum Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen hindert die herrschende Meinung nicht daran, einer im Einzelfall durch das Grundgesetz erzwungenen Posteriorisierung von Personenwerten hinter Sachinteressen Rechnung zu tragen. Zwar wäre der Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen bei konsequenter Anwendung nicht mit dem Gebot der verfassungskonformen Auslegung vereinbar. Denn wie unter Kap. 6 A. II. 3. a) bb) näher begründet werden soll, wird ein pauschaler Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen (in Bezug auf strafrechtlich relevante Interessenkollisionen) durch die Verfassung weder geboten noch auch nur gestattet. Aus verfassungsrechtlicher Perspektive vertretbar ist dieser Grundsatz lediglich dann, wenn man seinen Anwendungsbereich auf solche (Notstands-)Konstellationen beschränkt, in denen der Personenwert (Eingriffsgut) zum Zweck der Bewahrung eines Sachinteresses (Erhaltungsgut) durch ein aktives Tun be-



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einträchtigt wird, ohne dass sich diese Beeinträchtigung als erforderliche Verteidigungshandlung gegen einen gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff im Sinne des § 32 StGB darstellt; dies gilt insbesondere, wenn man einen Ausnahmetatbestand für solche (Notstands-)Fallkonstellationen annimmt, in denen den Rechtsgütern Gesundheit bzw. Freiheit nur geringe Einbußen drohen, während im Gegenzug erhebliche Sachwerte auf dem Spiel stehen. Dieser Erkenntnis verschließt sich auch die herrschende Meinung im Strafrecht nicht, obwohl sie konsequenterweise eine – verfassungsrechtlich problematische – konsequente Anwendung des Grundsatzes vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen auf alle denkbaren strafrechtlichen Interessenkollisionen zwischen Personenwerten und Sachinteressen befürworten müsste. Denn die Menschenwürde, aus der die herrschende Meinung den Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen irrtümlicherweise ableitet, ist nach herrschender Verfassungsdogmatik unter keinen Umständen einer Abwägung zugänglich ist. Dies offenbart nicht zuletzt die strafrechtliche Bewertung des ökonomischen Behandlungsverzichts durch auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätige Ärzte (Kap. 6 A. II. 1.) und des „Millionärs-Falls“ (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (3) (b) (dd)) sowie die herrschende Notwehrdogmatik (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (1) (b) (aa)). Denn die herrschende Meinung plädiert im Hinblick auf diese Fallkonstellationen für eine – mit einer strikten Anwendung des Vorrangs von Personenwerten vor Sachinteressen nicht in Einklang zu bringende – Posteriorisierung von Personenwerten hinter Sachinteressen. Im Einzelnen: Im Hinblick auf den ökonomischen Behandlungsverzicht durch auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätige Ärzte, tritt die herrschende Lehre mit ihrem Plädoyer für eine Straflosigkeit für eine – mit einer konsequenten Anwendung des Grundsatzes vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen unvereinbare – Posteriorisierung des Lebens (Personenwert) hinter finanziellen Interessen des Arztes (Sachinteresse) ein, die – nach der hier vertretenen Auffassung – durch die Grundrechte des auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätigen Arztes (aus den Artt. 12, 14 und 3 Abs. 1 GG) erzwungen wird (näher Kap. 6 A. II. 1.). Das gleiche gilt für den „Millionärs-Fall“. Die allgemein befürwortete Strafbarkeit des im „Millionärs-Fall“ zur Finanzierung einer lebensrettenden Behandlung begangenen Diebstahls wäre mit einer konsequenten Anwendung des Grundsatzes vom Vorrang von Personenwerten vor ­Sachinteressen nicht in Einklang zu bringen, wird jedoch durch die zugunsten des Diebstahlopfers eingreifenden Grundrechte aus den Artt. 14 und 3 Abs. 1 GG erzwungen (näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (c) (ee)). Auch die herrschende Notwehrdogmatik, wonach zur Verteidigung von unersetzbaren Sachwerten selbst tödliche Notwehrmaßnahmen zulässig sind – ebenfalls eine mit dem Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor

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Sachinteressen unvereinbare Position – wird nach einer überzeugenden Literaturauffassung im Hinblick auf das verfassungsrechtlich geschützte Eigentum als zwingend betrachtet (Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (a) (bb)). Die Analyse der vorliegenden Fallkonstellationen offenbart somit, dass die herrschende Meinung den Vorgaben der Verfassung für die Entscheidung von strafrechtlichen Interessenkollisionen zwischen Personenwerten und Sachinteressen Rechnung zu tragen vermag, obwohl sie unzutreffenderweise der Menschenwürde einen pauschalen Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen entnimmt. Der herrschenden Meinung gelingt dies, indem sie den Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen – was angesichts der Ableitung dieses Prinzips aus der unabwägbaren Menschenwürde freilich inkonsequent ist – strikt nur auf solche (Notstands-)Konstellationen anwendet, in denen – zur Bewahrung eines Sachinteresses (Erhaltungsgut) – ein Personenwert durch ein aktives Tun beeinträchtigt wird (Eingriffsgut), das sich nicht als nach § 32 StGB zulässige Verteidigungshandlung darstellt; mit anderen Worten beachtet die herrschende Meinung dieses Prinzip ganz konsequent nur innerhalb eines Bereichs, innerhalb dessen durch die Anwendung dieses Grundsatzes keine verfassungswidrigen Ergebnisse herbeigeführt werden. Dagegen betrachtet die herrschende Meinung den Anwendungsbereich dieses Prinzips für die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe in § 32 StGB (insbesondere „Gebotenheit“) – zumindest im Hinblick auf Notwehrkonstellationen, in denen der Personenwert als Eingriffsgut berührt ist – als nicht eröffnet. Daher kommt es in Bezug auf solche Fallgestaltungen, in denen die Verfassung die Legitimierung aktiver Tötungen oder Körperverletzungen etc. erzwingt, die zur Abwehr gegenwärtiger, rechtswidriger Angriffe auf (unersetzliche) Eigentumswerte erforderlich sind, zu keiner verfassungswidrigen Auslegung des § 32 StGB, da der Auslegungsgrundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen für diese Konstella­ tionen keine Geltung beansprucht. Auch in Bezug auf Fallkonstellationen, in denen die Verfassung die Zulässigkeit eines zur Bewahrung eines Sachinteresses erforderlichen lebensverkürzenden oder gesundheitsschädigenden Unterlassens gebietet – wie beim ökonomischen Behandlungsverzicht durch auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätige Ärzte – kommt es zu keinem Konflikt zwischen dem Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen und dem Gebot der verfassungskonformen Auslegung. Denn die herrschende Meinung wendet den Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen nicht konsequent an, wenn der Personenwert durch ein Unterlassen tangiert (Eingriffsgut) und das Sachinteresse als Erhaltungsgut berührt ist.



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Das gleiche gilt für Fälle, in denen die Verfassung es verbietet, eine Verletzung eines strafrechtlich geschützten Sachinteresses (§ 242 StGB etc.) zu legitimieren, die zum Zwecke der Bewahrung menschlichen Lebens bzw. menschlicher Gesundheit durchgeführt wurde, wie z. B. im „MillionärsFall“. Auch in diesen Fallkonstellationen gerät der Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen mit dem Gebot der verfassungskonformen Auslegung des Strafrechts nicht in Konflikt. Denn die herrschende Meinung betrachtet den Anwendungsbereich dieses Prinzips auch dann nicht als eröffnet, sofern zur Rettung eines Personenwerts (Erhaltungsgut) ein strafrechtlich geschütztes Sachinteresse beeinträchtigt wird (ohne dass diese Beeinträchtigung als erforderliche Abwehr eines Angriffs im Sinne des § 32 StGB zu qualifizieren ist) bzw. wendet diesen Grundsatz zumindest für diese Konstellation nicht strikt an. dd) Zwischenfazit: Bewertung des Rechtsguts Leben (im Verhältnis zu kollidierenden Rechtsgütern / Interessen) bzw. von Personenwerten im Verhältnis zu kollidierenden Sachinteressen durch die herrschende Strafrechtsdogmatik Die Analyse der Dogmatik des strafrechtlichen Lebensschutzes (Kap. 6 A. II. 2.) hat gezeigt, dass die herrschende Strafrechtsdogmatik – trotz ihres Bekenntnisses zum Höchstwertigkeitsdogma und zum Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen – den Vorgaben des Grundgesetzes im Ergebnis Rechnung zu tragen vermag; dies gilt auch für solche Fallkonstellationen, in denen eine Verfassungsgarantie, die keinen Verfassungshöchstwert repräsentiert, es im Einzelfall gestattet oder erzwingt das Rechtsgut Leben als nachrangig gegenüber kollidierenden Rechtsgütern oder Interessen bzw. Personenwerte als nachrangig gegenüber kollidierenden Sachinteressen zu behandeln. Das Höchstwertigkeitsdogma steht einer durch die Verfassung gestatteten oder erzwungenen Posteriorisierung des Rechtsguts Leben im Strafrecht weder entgegen, wenn man dieses mit einer im Vordringen befindliche Literaturmeinung restriktiv als Verbot zum Zwang der solidarischen Aufopferung des eigenen Lebens definiert, noch, wenn man dieses Prinzip mit der herrschenden Meinung extensiv auslegt. Sofern man das Höchstwertigkeitsdogma als Verbot zum Zwang der Aufopferung des eigenen Lebens betrachtet, kann einer im konkreten Fall durch die Verfassung gestatteten oder erzwungenen Posteriorisierung des Rechtsguts Leben sogar ohne dogmatische Kunstgriffe entsprochen werden. Denn diese restriktive Interpretation des Höchstwertigkeitsdogmas verengt den Anwendungsbereich dieses Prinzips auf bestimmte strafrechtlich relevante

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

Konstellationen, in denen das Grundrecht auf Leben nicht bloß in seinem (einer Abwägung zugänglichen) Randbereich tangiert ist, sondern der Menschenwürdekern des Grundrechts auf Leben berührt ist und das Rechtsgut Leben daher tatsächlich unabwägbar ist. Insofern sind unter Zugrundelegung dieser restriktiven Interpretation des Höchstwertigkeitsdogmas Verwerfungen zwischen dem Höchstwertigkeitsdogma und dem Gebot der verfassungskonformen Auslegung von vorn herein ausgeschlossen (siehe Kap. 6 A. II. 2. b) aa) (2) / Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (2) (b)). Die herrschende Meinung vertritt eine extensive Interpretation des Höchstwertigkeitsdogmas, indem sie dieses Prinzip aus dem angeblichen Wert bzw. Rang des Lebens als (Verfassungs-)Höchstwert ableitet und hieraus folgert, dass das Rechtsgut Leben allenfalls durch andere Verfassungshöchstwerte (Menschenwürde etc.) überwogen werden könne. Diese Grundgesetzauslegung ist jedoch nach herrschender Verfassungsdogmatik weder grundsätzlich noch im Hinblick auf strafrechtlich relevante Interessenkollisionen haltbar. Das Leben stellt noch nicht einmal in Bezug auf solche Interessenkollisionen einen unabwägbaren bzw. ausschließlich gegen andere Verfassungshöchstwerte abwägbaren Höchstwert dar, in denen ein lebensverkürzendes Tun gegeben ist, das sich nicht als zulässige Verteidigungshandlung im Sinne des § 32 StGB darstellt (Bsp.: BGHSt 55, 191 ff.; „Fall Putz“). Trotz der verfassungsdogmatisch unvertretbaren Prämisse (Leben als Verfassungshöchstwert), auf der die herrschende extensive Interpretation des Höchstwertigkeitdogmas beruht, vermögen deren Anhänger jeder beliebigen, durch die Verfassung gestatteten oder erzwungenen Posteriorisierung des Rechtsguts Leben hinter kollidierenden Rechtsgütern oder Interessen Rechnung zu tragen und somit eine verfassungskonforme Strafrechtsanwendung zu gewährleisten. Die herrschende Meinung vermeidet verfassungswidrige Ergebnisse dadurch, indem sie den Anwendungsbereich des Höchstwertigkeitsdogmas faktisch auf den Notstand (§ 34 StGB) begrenzt und zusätzlich auf (Notstands-)Konstellationen, in welchen das Rechtsgut Leben durch ein aktives Tun beeinträchtigt wird, wenngleich dies, angesichts der dogmatischen Ableitung des Höchstwertigkeitsdogmas aus dem Grundrecht auf Leben als angeblicher Verfassungshöchstwert, freilich willkürlich restriktiv erscheint. Außerdem erkennt die herrschende Meinung einen Ausnahmetatbestand für Fallkonstellationen an, in denen das Rechtsgut Leben mit einem Verfassungshöchstwert, wie der Menschenwürde, kollidiert. Durch diese starke Beschränkung des Anwendungsbereichs des Höchstwertigkeitsdogmas sowie durch die Anerkennung des beschriebenen Ausnahmetatbestands kann den Vorgaben der Verfassung in allen denkbaren Konstellationen entsprochen werden:



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Sofern die Verfassung die Zulässigkeit eines lebensverkürzenden Unterlassens gebietet, kann den Vorgaben der Verfassung Rechnung getragen werden, weil der Anwendungsbereich des Höchstwertigkeitsdogmas in diesen Fallkonstellationen nicht eröffnet ist und einer Auslegung der §§ 212, 13 StGB im Licht der andernfalls verletzten Verfassungsgarantie daher nichts entgegensteht. Sofern die Verfassung die Zulässigkeit einer aktiven Tötung erzwingt, die zur Verteidigung gegen einen gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff im Sinne des § 32 StGB erforderlich war, kann den Vorgaben der Verfassung problemlos entsprochen werden. Denn das Höchstwertigkeitsdogma findet – selbst nach Auffassung der Anhänger der herrschenden extensiven Interpretation dieses Prinzips – für die Auslegung des § 32 StGB keine Anwendung, zumindest im Hinblick auf solche Konstellationen, in denen das Rechtsgut Leben als Eingriffsgut berührt ist. Auch in (Notstands-)Fällen, in denen die Verfassung der Legitimierung einer zur Lebensrettung erforderlichen Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsguts (die keine nach § 32 StGB zulässige Verteidigungshandlung darstellt) zwingend entgegensteht, kann den Wertentscheidungen der Verfassung Rechnung getragen werden. Denn das Höchstwertigkeitsdogma beansprucht – selbst nach Meinung der Vertreter der herrschenden extensiven Interpretation dieses Grundsatzes – für die Auslegung des § 34 StGB keine Geltung, sofern das Rechtsgut Leben lediglich als Erhaltungsgut berührt ist. Auch einer durch die Verfassung erzwungenen Zulässigkeit einer aktiven Tötung, die nicht als nach § 32 StGB zulässige Verteidigungshandlung zu qualifizieren ist, vermag die herrschende Lehre zu entsprechen. Sofern die Menschenwürde oder das Interesse am Bestand des Staates die Zulässigkeit des lebensverkürzenden Tuns erzwingt, greift der von der herrschenden Meinung anerkannte Ausnahmetatbestand vom Höchstwertigkeitsdogma ein, wonach das Rechtsgut Leben durch andere Verfassungshöchstwerte überwogen werden kann. Aber auch in solchen Fällen, in denen eine unterhalb der Verfassungshöchstwerte anzusiedelnde Verfassungsgarantie (Selbstbestimmungsrecht des Patienten etc.) ausnahmsweise die Zulässigkeit eines lebensverkürzenden Tuns erzwingt, steht das Höchstwertigkeitsdogma einer verfassungskonformen Interpretation der §§ 211 ff. StGB nicht entgegen. Denn die herrschende Meinung beschränkt das Höchstwertigkeitsdogma – wenn auch unausgesprochen – auf § 34 StGB. Daher können die Wertentscheidungen der Verfassung zwar nicht im Wege einer Notstandsrechtfertigung berücksichtigt werden, jedoch über einen (ebenfalls zur Rechtmäßigkeit des lebendverkürzenden Tuns führenden) Ausschluss der objektiven Zurechnung oder über eine Einwilligungsrechtfertigung, wenngleich diese

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

Vorgehensweise zur Konsequenz hat, dass das Höchstwertigkeitsdogma faktisch leerläuft. Zusammenfassend lässt sich somit festhalten, dass das Höchstwertigkeitsdogma einer grundgesetzkonformen Auslegung nicht entgegensteht, wenngleich die herrschende Meinung von einer – aus verfassungsrechtlicher Perspektive – zu extensiven Interpretation dieses Prinzips ausgeht und verfassungskonforme Ergebnisse nur über dogmatische Kunstgriffe sicherzustellen vermag (siehe Kap. 6 A. II. 2. b) aa) (1) / Kap. 6 A. II. 2. b) cc) (2)). Auch einer durch das Grundgesetz erzwungenen Posteriorisierung von Personenwerten hinter Sachinteressen, vermögen Rechtsprechung und Lehre zu entsprechen, obwohl sich diese zum Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen bekennen, den sie aus der Menschenwürde ableiteten. Zwar wird ein pauschaler Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen im Hinblick auf strafrechtlich relevante Interessenkollisionen durch das Grundgesetz weder geboten noch auch nur gestattet. Aus verfassungsrechtlicher Perspektive vertretbar ist dieser Grundsatz lediglich dann, wenn man seinen Anwendungsbereich auf solche (Notstands-)Konstellationen beschränkt, in denen ein Personenwert (Eingriffsgut) zum Zwecke der Bewahrung eines Sachinteresses (Erhaltungsgut) durch ein aktives Tun beeinträchtigt wird (ohne dass sich diese Beeinträchtigung als erforderliche Verteidigungshandlung gegen einen Angriff im Sinne des § 32 StGB darstellt); dies gilt insbesondere, wenn man einen Ausnahmetatbestand für solche (Notstands-)Fallkonstellationen annimmt, in denen den Rechtsgütern Freiheit und Gesundheit nur geringe Einbußen drohen, während im Gegenzug erhebliche Sachwerte auf dem Spiel stehen (näher Kap. 6 A. II. 3. a) bb)). Jedoch berücksichtigt die herrschende Meinung im Strafrecht den (Auslegungs-)Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen in konsequenter Weise lediglich in Bezug auf den soeben beschriebenen, verfassungsrechtlich unbedenklichen Bereich. In allen anderen Fallkonstellationen, in denen die strafrechtliche Bewertung einer Interessenkollision zwischen Personenwerten und Sachinteressen in Frage steht, wendet die herrschende Meinung dieses Prinzip zumindest nicht konsequent an (bzw. betrachtet den Anwendungsbereich dieses Prinzips schon nicht als eröffnet). Dies hat zur Folge, dass eine Posteriorisierung des Personenwerts hinter dem Sachinteresse nicht von vorn herein ausgeschlossen ist und Abwägungsspielräume eröffnet sind. Diese Begrenzung des Anwendungsbereichs des Grundsatzes vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen erscheint, angesichts der Ableitung dieses Prinzips aus der keiner Abwägung zugänglichen Menschenwürde, willkürlich. Jedoch werden hierdurch verfassungswidrige Ergebnisse vermieden, da einer im Einzelfall durch das Grundgesetz erzwungenen



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Posteriorisierung von Personenwerten hinter Sachinteressen Rechnung getragen werden kann (Kap. 6 A. II. 2. b) bb) / Kap. 6 A. II. 2. b) cc) (3)).

ee) Ökonomischer Behandlungsverzicht durch auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätige Ärzte aus Perspektive der herrschenden Strafrechtsdogmatik Die herrschende Strafrechtsdogmatik gestattet es, die §§ 212, 13 StGB sowie die §§ 223, 13 StGB (§ 323 c StGB) im Licht der (andernfalls verletzten) Grundrechte aus Artt. 12, 14 und 3 Abs. 1 GG verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass ein auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätiger Arzt (im heutigen System: niedergelassener Vertragsarzt) rechtmäßig handelt, wenn er medizinische Leistungen vorenthält, die ihm weder durch die öffentliche Gesundheitsversorgung noch durch den Patienten vergütet werden; er begeht also weder einen rechtswidrigen Totschlag durch Unterlassen noch eine rechtswidrige Körperverletzung durch Unterlassen noch eine rechtswidrige Unterlassene Hilfeleistung. Obgleich diese Norminterpretation darauf hinausläuft, den wirtschaftlichen Interessen des auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätigen Arztes den Vorrang vor den Patientenrechtsgütern Leben und Gesundheit einzuräumen, erfordert diese keinen Bruch mit dem strafrechtsdogmatischen Grundsatz vom Höchstwert des menschlichen Lebens und mit dem Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sach­ interessen. Denn beide (Auslegungs-)Prinzipien finden keine Anwendung, wenn – wie beim ökonomischen Behandlungsverzicht – die strafrechtliche Bewertung eines lebensverkürzenden Unterlassens zur Debatte steht. Sofern man das Höchstwertigkeitsdogma mit einer Mindermeinung restriktiv, als Verbot zum Zwang der solidarischen Aufopferung des eigenen Lebens, interpretiert, beansprucht das Höchstwertigkeitsdogma für die hier in Frage stehende Fallkonstellation keine Geltung, weil Fallkonstellationen, die – wie der ökonomische Behandlungsverzicht – durch ein lebensverkürzendes Unterlassen gekennzeichnet sind, diesem Prinzip nicht unterfallen (Kap. 6 A. II. 2. b) aa) (2)). Nichts anderes gilt, wenn man mit der herrschenden Meinung für eine extensive Interpretation dieses Prinzips eintritt und das Leben als (Verfassungs-)Höchstwert betrachtet, das allenfalls durch andere Verfassungshöchstwerte überwogen werden kann. Auch unter Zugrundelegung dieser Auffassung findet das Höchstwertigkeitsdogma auf Fälle, in denen – wie beim ökonomischen Behandlungsverzicht – die strafrechtliche Bewertung eines lebensverkürzendes Unterlassen in Frage steht, keine Anwendung, mit der Folge, dass Abwägungsspielräume, ohne Beschränkung auf Verfassungs-

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höchstwerte, eröffnet sind. Denn trotz der dogmatischen Fundierung des Höchstwertigkeitsdogmas im menschlichen Leben als Verfassungshöchstwert, wendet die herrschende Meinung dieses Prinzips faktisch nur innerhalb eines sehr engen Anwendungsbereichs konsequent an, nämlich ausschließlich in Bezug auf Interessenkollisionen zwischen dem durch ein aktives Tun verletzten Rechtsgut Leben (Eingriffsgut) und einem hiermit kollidierenden Rechtsgut oder Interesse (Erhaltungsgut), die im Rahmen des Notstands im Wege eines Abwägungsvorgangs entschieden werden (Kap. 6 A. II. 2. b) aa) (1)). Auch den Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen handhabt die herrschende Meinung im Hinblick auf Konstellationen, in denen – wie beim ökonomischen Behandlungsverzicht – ein Personenwert durch ein Unterlassen beeinträchtigt wird, nicht strikt, weshalb in diesen Fällen eine Posteriorisierung eines Personenwerts hinter einem Sachinteresse nicht von vorn herein ausgeschlossen ist (Kap. 6 A. II. 2. b) bb) (3)).

3. Eigener Ansatz: Konsequente verfassungskonforme Auslegung des Strafrechts Es konnte gezeigt werden, dass sich die herrschende Strafrechtsdogmatik im Hinblick auf die Bewertung des Rechtsguts Leben (im Verhältnis zu kollidierenden Rechtsgütern bzw. Interessen) bzw. hinsichtlich der Bewertung von Personenwerten im Verhältnis zu Sachinteressen im Ergebnis zwar an den Wertentscheidungen der Verfassung orientiert, die Argumentation, mit der Rechtsprechung und herrschende Lehre ein durch die Verfassung erzwungenes Ergebnis begründen, jedoch nicht immer konsequent und widerspruchsfrei erscheint (siehe Kap. 6 A. II. 2. b)) Daher soll hier dafür eingetreten werden, die verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Strafrechtsauslegung – insbesondere auch argumentativ – konsequenter zu berücksichtigen, als Rechtsprechung und Lehre dies bislang tun; dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Bewertung des Rechtsguts Leben im Verhältnis zu kollidierenden Rechtsgütern bzw. Interessen bzw. hinsichtlich der Bewertung von Personenwerten im Verhältnis zu Sachinteressen im Strafrecht. Zur Begründung eines derartigen Ansatzes soll in Kap. 6 A. II. 3. a) zunächst dargestellt werden, aus welchen Grundrechten und Verfassungsprinzipien sich unter Zugrundelegung der herrschenden Verfassungsdogmatik Vorgaben für die Bewertung des Rechtsguts Leben (im Verhältnis zu kollidierenden Rechtsgütern bzw. Interessen) und für die Bewertung von Personenwerten im Verhältnis zu Sachinteressen im Strafrecht ergeben können. Zur



A. Behandlungspflichten des Arztes201

Veranschaulichung werden die obigen strafrechtlichen Beispielsfälle für eine von strafrechtlicher Rechtsprechung und / oder Lehre befürwortete Posteriorisierung des Rechtsguts Leben (hinter kollidierenden Rechtsgütern bzw. Interessen) bzw. für eine Posteriorisierung eines Personenwerts hinter einem ­Sachinteresse (vgl. Kap. 6 A. II. 2. a) bb)) aus verfassungsdogmatischer Per­ spektive beleuchtet (Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) bzw. Kap. 6 A. II. 3. a) bb) (1)). Sodann soll kritisch hinterfragt werden, inwiefern die herrschende Dogmatik des strafrechtlichen Lebensschutzes, die insbesondere durch das Bekenntnis zum Grundsatz vom Höchstwert des menschlichen Lebens und zum Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen charakterisiert ist, diesen verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen Rechnung trägt (Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (2) bzw. Kap. 6 A. II. 3. a) bb) (2)). Angesichts der aufgezeigten Begründungsdefizite und Inkonsistenzen wird dafür eingetreten, verfassungsrechtliche Wertentscheidungen bei der Strafrechtsauslegung – insbesondere auch argumentativ – konsequent zu berücksichtigen. Dies beinhaltet insbesondere eine restriktive, verfassungskonforme Interpretation des Höchstwertigkeitsdogmas sowie des Grundsatzes vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen sowie die Berücksichtigung des Grundsatzes vom Vorrang des Gesetzes und des Grundsatzes vom Vorbehalt des Gesetzes bei der Interpretation des Strafrechts (Kap. 6 A. II. 3. b) aa) (1)). Im Anschluss hieran soll untersucht werden, auf welcher Ebene des Verbrechensaufbaus (Deliktsebene) und im Rahmen der Auslegung welcher wertungsoffener Rechtsbegriffe auf der Tatbestands- oder der Rechtfertigungsebene, den verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen aus der Perspektive der Strafrechtsdogmatik am stimmigsten Rechnung getragen werden kann (Kap. 6 A. II. 3. b) aa) (2)). Sodann werden die erarbeiteten Vorgaben für eine konsequente Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Wertungen bei der Strafrechtsauslegung auf die oben analysierten strafrechtlichen Beispielsfälle (Kap. 6 A. II. 3. b) bb)) sowie auf den hier in Frage stehenden ökonomischen Behandlungsverzicht (Kap. 6 A. II. 3. b) cc)) angewendet.

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

a) Bewertung des Rechtsguts Leben (im Verhältnis zu kollidierenden Rechtsgütern / Interessen) und von Personenwerten im Verhältnis zu kollidierenden Sachinteressen im Strafrecht im Licht der Grundrechtsdogmatik aa) Bewertung des Rechtsguts Leben (im Verhältnis zu kollidierenden Rechtsgütern / Interessen) im Strafrecht im Licht der Grundrechtsdogmatik (1) V  erfassungsrechtlich gebotener und zulässiger strafrechtlicher Lebensschutz Das Grundrecht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) und die menschliche Würde (Art. 1 GG) sind nicht vollständig kongruent, was nicht zuletzt darin zum Ausdruck kommt, dass das Grundrecht auf Leben unter einem Gesetzesvorbehalt (Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG) steht; daher gebietet die Verfassung keinen absoluten Schutz des menschlichen Lebens.206 Für den hier zu untersuchenden Lebensschutz durch das Strafrecht bedeutet dies, dass sich aus dem Grundrecht auf Leben weder die Verpflichtung ergibt, jedes das menschliche Leben verkürzende aktive Tun eines privaten Dritten unter Strafe zu stellen, noch jedes durch Private begangene lebensverkürzende Unterlassen zu pönalisieren, noch die Verpflichtung, jede zur Bewahrung menschlichen Lebens begangene Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsguts zu legitimieren. Im Einzelnen stellt sich der verfassungsrechtlich zulässige und gebotene Lebensschutz durch das Strafrecht wie folgt dar: (a) K  eine verfassungsrechtliche (Schutz-)Pflicht zur Pönalisierung jedes lebensverkürzenden Tuns Eine Verpflichtung, jedes das menschliche Leben aktiv verkürzende Tun eines privaten Dritten zu pönalisieren, kann der Verfassung nicht entnommen werden. Vielmehr existieren sowohl Konstellationen, in denen die Verfassung es dem Staat freistellt, ob er bestimmte, von einem Privaten ausgehende Angriffe auf das Leben eines anderen Menschen unter Strafe stellen möchte, als auch Konstellationen, in denen grundgesetzliche Garantien (und zwar 206  Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 37 (43.  Lfg. 2004); Dreier, in: Dreier, GG, Art. 1 Abs. 1, Rn. 68; Lang, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 2, Rn. 57.



A. Behandlungspflichten des Arztes203

nicht nur Verfassungshöchstwerte, wie die Menschenwürde) der Pönalisierung eines solchen Verhaltens sogar zwingend entgegenstehen. Zwar trifft den Staat eine aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG abgeleitete Schutzpflicht, das menschliche Leben und die körperliche Unversehrtheit zu schützen oder zu fördern207, die „ihren Grund nicht allein in Art. 1 Abs. 1 GG (hat), sondern Ausdruck auch des hohen Gewichts des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG in der Wertordnung des Grundgesetzes“208 ist. Diese Schutzpflicht gilt umfassend.209 Sie gilt nicht nur für Konstellationen, in denen vom Staat Lebensgefahren ausgehen, sondern beansprucht insbesondere auch für Übergriffe durch – ebenfalls grundrechtsberechtigte – Private Geltung210 und verlangt insofern nach staatlichen Maßnahmen zur Gefahrenabwehr (Pönalisierung etc.)211. Hierüber hinausgehend können staatliche Schutzpflichten nach zutreffender herrschender Meinung212 jedoch auch bei objektiven Gefährdungen des menschlichen Lebens und der körperlichen Unversehrtheit durch Erkrankungen, Umweltgefahren, Selbstgefährdung etc. – Leisner spricht treffend von Situationen „gegnerloser Not“213 – bestehen, die durch 207  BVerfGE 39, 1 (36 ff., 42); 45, 187 (254 f.); 46, 160 (164 f.); 49, 89 (132, 141 f.). 208  Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2, Rn. 76 unter Berufung auf BVerfGE 88, 203 (251) sowie BVerfGE 46, 160 (164); 45, 187 (254 f.); zustimmend: Sodan, in: Sodan, GG, Vorb. Art. 1, Rn. 25. 209  BVerfGE 39, 1 (42); 46, 160 (164); 77, 170 (214); 88, 203 (251); 115, 320 (346); Calliess, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. 2, § 44, Rn. 1 ff.; Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, § 191, Rn. 146 ff.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 91; Kunig, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 2, Rn. 54 f.; Lang, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 2, Rn. 74 ff.; Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 188; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2, Rn.  76 ff. 210  BVerfGE 39, 1 (42); 46, 160 (164); 77, 170 (214); 88, 203 (251); 115, 320 (346); Calliess, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. 2, § 44, Rn. 1 ff.; Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, § 191, Rn. 146 ff.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 91; Kunig, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 2, Rn. 54 f.; Lang, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 2, Rn. 74 ff.; Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 188; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2, Rn.  76 ff. 211  Lorenz, in: BK, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 525 (157. Aktualisierung 2012). 212  BVerfGE 115, 25 (49); Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 45 ff. (43. Lfg. 2004); Lang, in: Epping/Hillgruber, Beck’scher Online-Kommentar, GG, Art. 2, Rn. 75 (1.9.2014); Lorenz, in: BK, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 516 ff. (157. Aktualisierung 2012); Sachs, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 38; SchulzeFielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2, Rn. 76; Steiner, in: Spickhoff, Medizinrecht, Art. 2, Rn. 13; a. A. Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, § 191, Rn.  192 ff.; Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 188. 213  Leisner, Das Lebensrecht, S. 27.

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

die sozialstaatlich eingebundene Gewährung von Leistungen214 bzw. durch legislative und judizielle grundrechtsschützende Rechtsgestaltung215 erfüllt werden. Gegen die von der herrschenden Meinung abgelehnte Verengung der Schutzpflicht auf private Übergriffe, spricht nicht zuletzt der Wortlaut des die Schutzpflichtenlehre normativ tragenden Art. 1 Abs. 2 GG, wonach die Menschenwürde zu achten und zu schützen ist216, sowie die Tatsache, dass das BVerfG die Schutzpflichtenlehre zwar für die Konstellation privater Übergriffe entwickelt hat, jedoch auch das BVerfG davon ausgegangen ist, dass grundrechtliche Schutzpflichten nicht nur im Falle durch Dritte (Störer) geschaffener Gefahrenlagen in Betracht kommen, sondern auch bei objektiven Gefährdungen217. Der durch die Schutzpflicht verlangte Lebensschutz wird umfassend und bezogen auf das einzelne Leben, und nicht nur in Bezug auf das menschliche Leben allgemein, geboten.218 Allerdings ist er nicht in dem Sinne absolut, dass das menschliche Leben ausnahmslos gegenüber jedem anderen Rechtsgut Vorrang genießt; noch nicht einmal vor Rechtsgütern, die unterhalb eines Verfassungshöchstwerts (Menschenwürde etc.) oder des menschlichen Lebens anzusiedeln sind, genießt das menschliche Leben zwingend Vorrang.219 Hier zeigt sich die „Kontextabhängigkeit der grundrechtlichen Wertordnung, die niemals abstrakt am Reißbrett entworfen, sondern die sich in der Anschauung des einzelnen Falles zu bewähren und zu konkretisieren hat“220. Dies ergibt sich bereits aus Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG, worin ein auch für das Grundrecht auf Leben Geltung beanspruchender Gesetzesvorbehalt normiert ist.221 Der Staat besitzt bei der Erfüllung dieser Schutzpflichten – da in der Regel mehrere verschiedene effektive Schutzmöglichkeiten existieren – einen erheblichen Spielraum, im Hinblick auf das „Ob“ und „Wie“ einer Regelung unter Berücksichtigung öffentlicher und privater Belange.222 214  Lorenz,

in: BK, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 525 (157. Aktualisierung

215  Lorenz,

in: BK, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 525 (157. Aktualisierung

2012). 2012).

216  Lang, in: Epping/Hillgruber, Beck’scher Online-Kommentar, GG, Art. 2, Rn. 75 (1.9.2014). 217  Lang, in: Epping/Hillgruber, Beck’scher Online-Kommentar, GG, Art. 2, Rn. 75 (1.9.2014) unter Berufung auf BVerfGE 58, 208 (224). 218  BVerfGE 88, 203 (252). 219  BVerfGE 88, 203 (253 f.); Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 37 (43. Lfg. 2004); Kunig, in: von Münch/Kunig, GG, Bd. 1, Art. 2, Rn. 57. 220  Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 37 (43.  Lfg. 2004). 221  BVerfGE 88, 203 (253 f.). 222  BVerfGE 46, 160 (164); 56, 54 (80 f.); 77, 381 (405); 79, 174 (200); 85, 191 (212); 92, 26 (46); 96, 56 (64); Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, § 191, Rn. 293 ff.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 92;



A. Behandlungspflichten des Arztes205

Dieser Spielraum ist erst überschritten, wenn die Maßnahmen gänzlich ungeeignet oder völlig unzureichend sind223, weshalb der Gesetzgeber im Hinblick auf die Wahrnehmung der Schutzpflichten an das sog. Untermaßverbot gebunden ist.224 Sofern der Gesetzgeber zur Erfüllung der Schutzpflichten in grundrechtliche Betätigungen privater Dritter eingreift, bedarf der Staat – nachdem die Schutzpflicht keine eigenständige Handlungsbefugnis gewährt – einer gesetzlichen Grundlage225, die den Anforderungen der Verfassung genügt und insbesondere dem aus der Abwehrdimension der Grundrechte resultierenden Verhältnismäßigkeitsprinzip Rechnung trägt226. Dies bedeutet, dass sich der Gesetzgeber bei der Erfüllung von grundrechtlichen Schutzpflichten in einem Korridor bewegen muss, der auf der einen Seite durch das Untermaßverbot beschränkt wird (das bei der Erfüllung der Schutzpflichten zu wahren ist) und auf der anderen Seite durch das Übermaßverbot limitiert wird (das bei Eingriffen in die Abwehrdimension der Grundrechte eingehalten werden muss) und innerhalb dessen er die kollidierenden Belange abzuwägen und zum Ausgleich zu bringen hat.227 Der weite Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers verdichtet sich regelmäßig nicht dahin, dass nur eine ganz bestimmte gesetzliche Regelung oder staatliche Maßnahme zur Gefahrenabwehr rechtmäßig wäre.228 Nur im Ausnahmefall verengt sich die grundrechtliche Schutzpflicht zu speziellen Handlungspflichten, nämlich wenn das menschliche Leben ausschließlich durch diese eine Maßnahme sachgerecht geschützt werden kann und die ergriffenen Maßnahmen gänzlich ungeeignet oder zur Erreichung des geboKlein, NJW 1989, 1633 (1637); Lang, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 2, Rn. 76 f.; Lorenz, in: BK, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 522 (157. Aktualisierung 2012); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2, Rn. 86; Stern, DÖV 2010, 241 (247 f.). 223  BVerfGE 77, 170 (215); 79, 174 (202); 85, 191 (212 f.). 224  Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 41 (43.  Lfg. 2004); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 92; Lang, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 2, Rn. 76. 225  BVerfG NJW 1989, 3269; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 92; Lorenz, in: BK, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 542 (157. Aktualisierung 2012). 226  Calliess, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. 2, § 44, Rn. 18 ff.; 29 ff.; Klein, NJW 1989, 1633 (1638); Lang, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 2, Rn. 76; Lorenz, in: BK, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 528 (157. Aktualisierung 2012); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2, Rn. 86. 227  Calliess, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. 2, § 44, Rn. 33 Lang, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 2, Rn. 76. 228  BVerfGE 46, 160 (165); 56, 54 (80); 77, 170 (214); 79, 174 (202); 115, 118 (160); 121, 317 (360); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 92; Lorenz, in: BK, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 522 (157. Aktualisierung 2012); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 2 Abs. 2, Rn. 90.

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

tenen Schutzziels völlig unzulänglich sind.229 Allerdings bedeutet dies nicht, dass der Staat in diesen Fällen ausnahmslos verpflichtet oder auch nur berechtigt ist, diese einzig effektive Maßnahme zu ergreifen.230 Aufgrund der Tatsache, dass die Schutzbedürfnisse in einem freiheitlichen Staatswesen auf gegenläufige grundrechtliche Prinzipien stoßen, steht die Erfüllung der Schutzpflicht unter dem Vorbehalt des rechtlich und tatsächlich Möglichen.231 Ob der Staat verpflichtet oder auch nur berechtigt ist, das menschliche Leben durch die einzig effektive Maßnahme zu schützen, beurteilt sich anhand einer Abwägung der kollidierenden Rechte.232 Die mit dem zu schützenden Leben kollidierenden Rechte können dem Schutzbedürftigen selbst zustehen, dem Störer oder Täter und / oder einem unbeteiligten Dritten233 und resultieren beim Störer bzw. Täter und beim unbeteiligten Dritten aus der Abwehrdimension der Grundrechte234, während sie beim Opfer aus der Abwehrdimension oder der Schutzpflichtdimension der Grundrechte stammen können235. Als Beispiel für eine Kollision von staatlichen (Lebens-)Schutzpflichten zugunsten des Opfers einerseits und zugunsten unbeteiligter Dritter andererseits, die dazu führt, dass sich der staatliche Spielraum bei der Erfüllung der Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nicht auf die einzige effektive Schutzmaßnahme verengt, sei der vom BVerfG entschiedene „SchleyerFall“ genannt. Dort hatte das BVerfG die Frage zu entscheiden, ob den Staat eine aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG abgeleitete Verpflichtung trifft, zur Verhinderung der Tötung einer von Terroristen an einen unbekannten Ort entführten Geisel, nämlich des damaligen Arbeitgeberpräsidenten Martin Schleyer, Gesinnungsgenossen der Terroristen aus dem Gefängnis freizulassen und so den Forderungen der Terroristen zu entsprechen, wenn es die einzige effektive Möglichkeit zur Rettung des Lebens der Geisel darstellt. Das BVerfG hatte eine derartige Verpflichtung jedoch mit der Argumentation abgelehnt, dass der Staat bei Annahme einer derartigen, auf ein bestimmtes Mittel (Freilassung der Gefangenen) festgelegten Schutzpflicht berechenbar würde und hierdurch hinter seinen zugunsten anderer Bürger bestehenden Lebensschutzpflichten zurückbliebe; schließlich würde durch die 229  BVerfGE 79, 174 (202); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 92; Lorenz, in: BK, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 522 (157. Aktualisierung 2012); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2, Rn. 90. 230  Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, § 191, Rn. 274 f. 231  Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, § 191, Rn. 274 f. 232  Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, § 191, Rn.  274 ff., 316 ff. 233  Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, § 191, Rn. 316 ff. 234  Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, § 191, Rn. 318. 235  Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, § 191, Rn. 320 ff.



A. Behandlungspflichten des Arztes207

Bejahung einer solchen, auf ein bestimmtes Mittel festgelegten Schutzpflicht für Terroristen geradezu ein Anreiz für weitere (lebensgefährdende) Entführungen und Erpressungen des Staates geschaffen.236 Das BVerfG löst somit die im „Schleyer-Fall“ bestehende Kollision unterschiedlicher Schutzpflichten zugunsten des menschlichen Lebens dadurch auf, dass es die Entscheidung darüber, ob der Staat der Erpressung nachgeben und das Leben der Geisel retten oder der Erpressung unter Inkaufnahme eines tödlichen Ausgangs für die Geisel standhalten soll, an die zuständigen politischen Organe delegiert.237 Speziell bezogen auf das Strafrecht und die hier in Frage stehende Problematik, ob sich aus dem Grundgesetz eine staatliche Verpflichtung ergibt, lebensverkürzendes Tun stets zu pönalisieren (zumindest sofern kein Verfassungshöchstwert, wie die Menschenwürde, entgegensteht), ergibt sich aus dem soeben Dargelegten, dass diese Frage zu verneinen ist. Ob für lebensverkürzende Verhaltensweisen eine Pönalisierungspflicht zu bejahen ist, kann nur anhand des konkreten Einzelfalls entschieden werden und ist u. a. abzulehnen, wenn der Staat sich statt der Pönalisierung für ein anderes, hinreichend wirksames Mittel zum Schutz des durch einen Privaten bedrohten Lebens entschieden hat, wie es der Staat z. B. bezüglich des ungeborenen Lebens getan hat, das durch einen Schwangerschaftsabbruch bedroht wird. (aa) Schwangerschaftsabbruch In seiner zweiten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch238 hatte das BVerfG zu entscheiden, ob das Beratungs- und Fristenkonzept des Gesetzgebers den Anforderungen der verfassungsrechtlichen Schutzpflicht für das ungeborene Leben genügt. Das BVerfG hatte diese Frage (unter Zustimmung des überwiegenden Teils der Lehre) bejaht: Es genüge dem Einschätzungs-, Bewertungs-, und Gestaltungsspielraum, der dem Gesetzgeber bei der Erfüllung seiner Schutzpflichten für das menschliche Leben, das auch den Schutz des ungeborenen Lebens umfasst, zukommt, wenn der Gesetzgeber in der Frühphase der Schwangerschaft in Schwangerschaftskonflikten den Schwerpunkt auf die Beratung der schwangeren Frau legt, um sie für das Austragen des Kindes zu gewinnen und dabei auf eine indikationsbe236  BVerfGE 46, 160 (165); zustimmend: Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, § 191, Rn. 310; Küper, Darf sich der Staat erpressen lassen?, S.  134 ff.; Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 197. 237  Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, § 191, Rn. 310. 238  BVerfGE 88, 203 ff.

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

stimmte Strafdrohung und die Feststellung von Indikationstatbeständen durch einen Dritten verzichtet.239 Eine Pflicht zur Pönalisierung eines lebensverkürzenden Tuns kann aber nicht nur an dem weiten Spielraum scheitern, der dem Staat bei der Erfüllung staatlicher Schutzpflichten zukommt. Ebenfalls ausgeschlossen ist eine staatliche Pflicht zur Pönalisierung eines lebensverkürzenden Tuns, wenn hierdurch in eine grundrechtlich geschützte Position des Störers, eines unbeteiligten Dritten oder des zu Schützenden unverhältnismäßig eingegriffen wird. Aus der soeben beschriebenen Dogmatik grundrechtlicher Schutzpflichten folgt für die Strafrechtsauslegung, dass die Strafgerichte weder verpflichtet noch auch nur berechtigt sind, jedes lebensverkürzende Tun als unzulässig zu bewerten, auch wenn einer derartigen Gesetzesauslegung kein Verfassungshöchstwert (wie die Menschenwürde) entgegensteht: Die Verfassung erzwingt keine Auslegung der Strafnormen (insbesondere der §§ 211 StGB ff.) dahingehend, dass ein lebensverkürzendes Tun unzulässig ist, es sei denn, dass eine auf die Pönalisierung dieser Verhaltensweise verengte Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG existiert oder – dies folgt aus dem (in Art. 20 Abs. 3 GG normierten und auch für die Judikative verbindlichen240) Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes – der Gesetzgeber eine explizite Entscheidung für die Strafbarkeit getroffen hat (wie z. B. bei der Tötung auf Verlangen, § 216 StGB, deren Pönalisierung durch Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG zwar nicht geboten wird241, jedoch verfassungsrechtlich zulässig ist242). Eindeutig verboten ist den Strafgerichten die Einordnung eines lebensverkürzenden Tuns als unzulässig, wenn der Gesetzgeber sogar eine explizite Entscheidung für die Legalität dieser Verhaltensweise getroffen hat, wie er dies z. B. bei der keine Güterabwägung vorsehenden Notwehr (§ 32 StGB) getan hat. Dies folgt aus dem in Art. 103 Abs. 2 GG normierten Analogieverbot, das nach zutreffender herrschender Meinung243 nicht nur auf die 239  BVerfGE 88, 203 (264); zustimmend: Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, § 191, Rn. 268; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 104; Kunig, in: von Münch/Kunig, GG, Bd. 1, Art. 2, Rn. 58 ff. 240  Hillgruber, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 97, Rn. 26 (52.  Lfg. 2008). 241  Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 100; Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 212 a; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2, Rn. 85; a. A. Lindner, JZ 2006, 373 (381). 242  Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 100; Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 212 a; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2, Rn. 85. 243  Lenckner/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, Vor §§ 32 ff., Rn. 25 mit weiteren Nachw.



A. Behandlungspflichten des Arztes209

Deliktstatbestände des Besonderen Teils, sondern auch auf Rechtfertigungstatbestände anwendbar ist, da es für den Täter irrelevant sei, ob eine Strafbarkeit durch gesetzesüberschreitende richterliche Ausdehnung eines Delikts­ tatbestandes oder durch eine den Gesetzeswortlaut unterschreitende (und damit verlassende) Einengung eines Zurechnungsausschlussgrundes des Allgemeinen Teils, wozu auch die Rechtfertigungsgründe zählen, erzielt werde. Auch der Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes kann einer Bewertung eines lebensverkürzenden Tuns als unzulässig entgegenstehen, nämlich dann, wenn sich die gesetzgeberische Entscheidung für die Zulässigkeit eines lebensverkürzenden Tuns aus Gesetzesnormen ergibt, die nicht zum Haupt- und Nebenstrafrecht gehören, sondern dem öffentlichen Recht und dem Zivilrecht zuzuordnen sind (was eine Anwendung des in Art. 103 Abs. 2 GG normierten Analogieverbots ausschließt). Insbesondere aber auch in solchen Fallkonstellationen, in denen die Pönalisierung eines lebensverkürzenden Tuns einen unverhältnismäßigen Eingriff in (nicht zwingend Verfassungshöchstwerte repräsentierende) grundrechtliche Positionen des Störers, des zu Schützenden oder eines unbeteiligten Dritten bedeuten würde (und somit verfassungswidrig wäre), ist es dem – an das Gebot zur verfassungskonformen Auslegung des (Straf-)Rechts gebundenen – Strafrichter untersagt ein lebensverkürzendes Tun als strafrechtlich verboten zu qualifizieren. Die Bewertung eines lebensverkürzenden Tuns als illegal kann den Strafgerichten aber auch schon dann versperrt sein, wenn diese Auslegung zwar einen Grundrechtseingriff (in Rechte des zu Schützenden etc.) bewirken würde, jedoch – in Ermangelung hinreichender Eingriffsintensität – keine Grundrechtsverletzung: Nach dem (aus dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip abgeleiteten244 und auch für die Judikative verbindlichen245) Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes, bedürfen staatliche Eingriffe in grundrechtliche Betätigungen Privater – selbst wenn sie der Erfüllung staatlicher Schutzpflichten dienen – stets einer gesetzlichen Grundlage246. Daher ist die Norminterpretation, wonach ein lebensverkürzendes Tun unzulässig ist, bereits verboten, wenn diese Auslegung in die Grundrechte einer Person (z. B. in Grundrechte des zu Schützenden) auch nur eingreift und es an einer diesen Eingriff deckenden gesetzlichen Grundlage fehlt. Nichts anderes gilt, wenn zwar eine gesetzliche Grundlage vorhanden ist, diese jedoch ange244  BVerfGE 101, 1 (34); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 20, Rn. 46; SchulzeFielitz, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 20, Rn. 106 ff.; differenzierend: Herzog/Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20, Rn. 72 (71.  Lfg. 2014). 245  Hillgruber, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 97, Rn. 26 (52.  Lfg. 2008). 246  BVerfG NJW 1989, 3269; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 92; Lorenz, in: BK, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 542 (157. Aktualisierung 2012).

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

sichts der Intensität des Grundrechtseingriffs nicht bestimmt genug ist, um diesen legitimieren zu können. Denn die Anforderungen an gesetzliche Grundlagen zur Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen ergeben sich aus dem Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes, in der Ausprägung, die dieser durch die Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG gefunden hat. Danach ist das Parlament verpflichtet, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen, soweit diese einer Normierung zugänglich sind, selbst und durch Gesetz zu regeln, wobei die Regelungen umso bestimmter sein müssen, je größer die Intensität der Grundrechtsbetroffenheit ist.247 Zur Verdeutlichung des Einflusses der Dogmatik grundrechtlicher Schutzpflichten zugunsten des menschlichen Lebens auf die Strafrechtsauslegung sollen die folgenden Beispielsfälle dienen: (bb) Notwehr Die herrschende Notwehrdogmatik (§ 32 StGB) steht – zumindest im Hinblick auf weite Teile ihres Anwendungsbereichs – nicht im Verdacht, die (aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG abgeleitete) staatliche Schutzpflicht zugunsten des menschlichen Lebens zu verletzen. Dabei legitimiert die herrschende Meinung im Strafrecht tödliche Verteidigungshandlungen sogar dann, wenn diese zur Abwehr von gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriffen auf Rechtsgüter erforderlich sind, die bei abstrakter Betrachtungsweise unterhalb des menschlichen Lebens anzusiedeln sind, wie z. B. tödliche Verteidigungsmaßnahmen zur Abwehr von Angriffen auf die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, die Freiheit und sogar auf das Eigentum. Aus verfassungsrechtlicher Perspektive wohl unbestritten ist, dass durch die im Strafrecht allgemein befürwortete Notwehrrechtfertigung tödlicher Gegenwehr zur Verteidigung gegen Angriffe auf das menschliche Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung oder die Freiheit, keine staatlichen Schutzpflichten zugunsten des menschlichen Lebens verletzt werden.248 Denn je höherwertiger die bedrohten Rechtsgüter sind, desto eher wird in der Literatur sogar eine staatliche Verpflichtung zur Gestattung solch tödlicher Verteidigungsmaßnahmen bejaht. So geht Erb249 von einer staatlichen Pflicht zur Legitimierung tödlicher Verteidigungsmaßnahmen zur Abwehr gegenwärtiger, rechtswidriger Angriffe auf das mensch247  Sachs,

in: Sachs, GG, Art. 20, Rn. 117. Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 37 (43.  Lfg. 2004); Dreier, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 1 Abs. 1, Rn. 147; ders., JZ 2007, 261 (263); Erb, NStZ 2005, 593 (597); Günther, in: SK, StGB, Bd. 1, § 32, Rn. 117 (31. Lfg. 7. Aufl. 1999). 249  Erb, NStZ 2005, 593 (597). 248  Di



A. Behandlungspflichten des Arztes211

liche Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung oder die Freiheit aus, die er mit überzeugender Argumentation der Abwehrdimension der entsprechenden Grundrechte (Grundrecht auf Leben, Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit etc.) entnimmt: Ein strafbewehrtes Notwehrverbot besäße gegenüber dem Notwehrtäter (i. e. Opfer des gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriffs) Eingriffscharakter (und bleibe nicht bloß hinter staatlichen Schutzpflichten zurück), weil der Staat durch die Verhängung von Strafe – die im Falle der Tötung des Angreifers exorbitante Ausmaße erreiche – mit massiven staatlichen Zwang darauf hinwirke, dass die Verteidigung tatsächlich unterbleibe und es zu einer Verletzung der Rechtsgüter des Angegriffenen komme.250 Vor diesem Hintergrund stelle es einen nicht zu rechtfertigenden staatlichen Eingriff in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit, das allgemeine Persönlichkeitsrecht etc. und somit eine Verletzung dieser Grundrechte dar, dem Angegriffenen oder einem Dritten zum Tode führende Notwehrmittel zu versagen, obwohl diese erforderlich sind, um sich gegen einen gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff auf die körperliche Unversehrtheit, das sexuelle Selbstbestimmungsrecht etc. effektiv zur Wehr zu setzen.251 Auch Di Fabio252 ist der Auffassung, dass das Leben eines rechtswidrig handelnden Angreifers gegen andere durch den rechtswidrigen Angriff bedrohte Rechtsgüter abwägungsfähig ist und der Staat sogar zur Abwägung verpflichtet sein kann, wenn hochwertige Rechtsgüter, wie die körperliche Unversehrtheit oder die sexuelle Selbstbestimmung, bedroht sind. Eine Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe in § 32 StGB (insbesondere der „Gebotenheit“) dahingehend, dass sich das als Eingriffsgut berührte Rechtsgut Leben gegen das als Erhaltungsgut tangierte Rechtsgut Leben, die körperliche Unversehrtheit oder die sexuelle Selbstbestimmung durchsetzt (mit der Folge der Verneinung einer Rechtfertigung), wird durch das Grundrecht auf Leben daher nicht geboten. Vielmehr würde eine derartige Norminterpretation gegen das – zugunsten des Angriffsopfers eingreifende – Grundrecht auf Leben, Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit etc. verstoßen. Eine Verletzung staatlicher Schutzpflichten zugunsten des menschlichen Lebens wird von der überwiegenden Anzahl der Autoren noch nicht einmal im Hinblick auf die herrschende Notwehrdogmatik angenommen, die im Grundsatz sogar zur Verteidigung von Sachwerten tödlich wirkende Notwehrbefugnisse zulässt (Ausnahme: grobes Missverhältnis zwischen ange250  Erb,

NStZ 2005, 593 (594). NStZ 2005, 593 (597). 252  Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 37 (43.  Lfg. 2004). 251  Erb,

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

griffenem Rechtsgut und Verteidigungshandlung, wie bei tödlichen Notwehrmitteln zur Verteidigung geringer Sachwerte).253 Lediglich eine Mindermeinung vertritt die Auffassung, dass die Zubilligung tödlicher Notwehrbefugnisse zur Verteidigung gegen Eigentumsangriffe grundsätzlich staatliche Schutzpflichten zugunsten des menschlichen Lebens verletze.254 Die herrschende Meinung hingegen teilt diese Bedenken nicht. Erb255, Günther256 und Krey / Esser257 betrachten tödliche Notwehrbefugnisse zum Schutz des Eigentums nicht nur als verfassungsrechtlich zulässig, sondern sogar als verfassungsrechtlich zwingend geboten. Nach dieser Auffassung geht es im Hinblick auf den durch Art. 14 GG gebotenen Eigentumsschutz zu weit, dem Eigentümer grundsätzlich das Recht zu verweigern, sein Eigentum notfalls mit tödlichen Notwehrmitteln zu verteidigen: Gerade wo „unersetzliche Werte betroffen sind, ist keine Legitimation ersichtlich, diese durch ein Notwehrverbot de facto zu konfiszieren, um den Angreifer vor Beeinträchtigungen zu schützen, die er durch seinen rechtswidrigen Angriff letzten Endes selbst zu verantworten hat – selbst wenn es dabei um sein Leben geht“258. Ob diese Auffassung, wonach die Legitimierung tödlicher Gegenwehr zur Verteidigung von Sachwerten durch Art. 14 GG in seiner Abwehrdimension erzwungen wird, von einem breiten Konsens getragen wird, ist unklar. Zumindest aber vertritt die herrschende Meinung die Auffassung, dass der Staat mit der Einräumung tödlicher Notwehrrechte zur Verteidigung von nennenswerten Sachwerten nicht hinter seinen Schutzpflichten zugunsten des menschlichen Lebens zurückbleibt und die Einräumung solch invasiver Notwehrbefugnisse insofern verfassungsrechtlich zulässig ist.259 Für die Auslegung des § 32 StGB ergibt sich hieraus Folgendes: Wenn man die herrschende Auffassung teilt, dass die Zubilligung lebensgefährdender Notwehrrechte zur Verteidigung von (bedeutenden) Sachwerten nicht gegen Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verstößt (oder sogar durch Art. 14 GG erzwungen wird) und somit verfassungsgemäß ist, gebietet das Grundrecht auf Leben gerade keine Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe in § 32 StGB (insbesondere „Gebotenheit“) dahingehend, dass das Leben des An253  Erb, NStZ 2005, 593 (597); Dreier, JZ 2007, 261 (263); Günther, in: SK, StGB, Bd. 1, § 32, Rn. 117 (31. Lfg. 7. Aufl. 1999). 254  Bernsmann, ZStW 104 (1992), 290 (315, 323); Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, § 32, Rn. 50. 255  Erb, NStZ 2005, 593 (597). 256  Günther, in: SK, StGB, § 32, Rn. 116 (31. Lfg. 7. Aufl. 1999). 257  Krey/Esser, Deutsches Strafrecht AT, § 14, Rn. 546. 258  Erb, NStZ 2005, 593 (597). 259  Günther, in: SK, StGB, Bd. 1, § 32, Rn. 117 (31. Lfg. 7. Aufl. 1999).



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greifers gefährdende Notwehrmaßnahmen zur Verteidigung von Sachwerten (Ausnahme: unbedeutende Sachwerte) nicht gerechtfertigt sind. Vielmehr steht die Verfassung einer solchen Auslegung des § 32 StGB sogar zwingend entgegen, da sie gegen das in Art. 103 Abs. 2 GG normierte – und nach zutreffender herrschender Auffassung260 auch auf die Rechtfertigungsgründe anwendbare – Analogieverbot verstoßen würde. Denn der Gesetzgeber hat eine explizite Entscheidung dahingehend getroffen, das Leben des Angreifers gefährdende Notwehrhandlungen zur Verteidigung von Sachwerten zuzulassen, was nicht zuletzt darin zum Ausdruck kommt, dass der Gesetzgeber in § 32 StGB (anders als in § 34 StGB) keine Interessenabwägung vorsieht und trotz der jahrzehntelangen Debatte um die Zulässigkeit tödlicher Notwehrrechte zur Verteidigung von Sachwerten, auf eine explizite Einschränkung der Notwehrrechte verzichtet. (cc) Indirekte Sterbehilfe Dem Lebensschutz entgegenstehenden grundgesetzlich geschützten Positionen (des durch die Strafnorm zu Schützenden) ist auch die Zulässigkeit der indirekten Sterbehilfe geschuldet. Denn in der verfassungsrechtlichen Literatur wird überwiegend vertreten, dass die Zulässigkeit der indirekten Sterbehilfe (also der zum Zwecke der Schmerzlinderung billigend in Kauf genommenen und dem Willen des Patienten entsprechenden Lebensverkürzung) nicht nur den Anforderungen des grundrechtlichen Lebensschutzes genügt, sondern überdies auch durch die einer Strafbarkeit entgegenstehende Menschenwürdegarantie zwingend geboten wird.261 Ein strafrechtliches Verbot der indirekten Sterbehilfe würde einen nicht zu rechtfertigenden Eingriff in die Menschenwürde des Moribunden bedeuten: Die Menschenwürde gewährleistet in ihrer Abwehrdimension u. a. ein Recht auf einen

260  Lenckner/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, Vor §§ 32 ff., Rn. 25 mit weiteren Nachw. 261  Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 39 (43.  Lfg. 2004); Dreier, JZ 2007, 317 (322); Hufen, NJW 2001, 849 (851); Lindner, JZ 2006, 373 (381); Müller-Terpitz, in: Spickhoff, Medizinrecht, Art. 1 GG, Rn. 12; Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 212; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 2 Abs. 2, Rn. 63; im Ergebnis auch: Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 84 f., wonach die staatliche Anerkennung eines Selbsttötungswillens bei Moribunden – unabhängig vom Vorhandensein eines (lebensverkürzenden) Schmerzlinderungsinteresses – durch das „Recht auf einen menschenwürdigen Tod“ als Ausfluss des allgemeinen Persönlichkeitsrecht geboten sein soll; sowie Lorenz, JZ 2009, 57 (61), der den Vorrang der Schmerzfreiheit vor dem Lebensschutz aus dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit ableitet.

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

menschenwürdigen Tod262 bzw. das Recht, nicht qualvoll sterben zu müssen263. Würde der Staat eine im Einverständnis des Patienten erfolgende lebensverkürzende Schmerztherapie bei moribunden Patienten verhindern, so wäre der Patient gezwungen, mit unerträglichen Schmerzen weiterzuleben und wäre hierdurch zum bloßen Objekt einer für ihn als sinnlos empfundenen Lebensverlängerung degradiert, was mit seiner Menschenwürde nicht zu vereinbaren wäre.264 Wenn die Menschenwürde aber ein Recht auf einen menschenwürdigen (i. e. erträglichen) Tod gewährleistet, muss die Ausstrahlungswirkung der Menschenwürde so weit reichen, dass es dem Gesetzgeber verwehrt ist, Privatpersonen, die in der Lage sind, dem Patienten die gewünschte Erleichterung beim Sterben zu verschaffen (Ärzte), durch Androhung von Strafsanktionen von dieser Hilfeleistung abzuhalten; andernfalls würde das durch die Menschenwürde geschützte Recht auf einen menschenwürdigen Tod im Ergebnis aufgehoben, da gerade solche Personen, die dem Patienten zu helfen vermögen und deren Hilfe für den Patienten zur Realisierung seines Rechts auf einen menschenwürdigen Tod daher unverzichtbar ist, praktisch gezwungen wären, den Patienten im Stich zu lassen.265 Daher scheidet nicht nur eine auf Pönalisierung der indirekten Sterbehilfe gerichtete staatliche Schutzpflicht, sondern sogar ein entsprechendes Recht zum „Lebensschutz um jeden Preis“ aus.266 Das Grundrecht auf Leben gebietet daher keine Auslegung der §§ 212, 216 (34) StGB dahingehend, dass die indirekte Sterbehilfe eine rechtswidrige Tötung darstellt. Vielmehr würde eine derartige Auslegung gegen die Menschenwürdegarantie verstoßen.

262  Müller-Terpitz,

in: Spickhoff, Medizinrecht, Art. 1 GG, Rn. 12. NJW 2001, 849 (852). 264  Hufen, NJW 2001, 849 (851); Müller-Terpitz, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 7, § 147, Rn. 102. 265  Identische Argumentationsstruktur bei: H. Schiedermair, in: Fischer/Schiedermair, Die Sache mit dem Teufel, S. 65 (72 f.), bezogen auf die Frage, weshalb die Glaubensfreiheit einer Unterlassungsstrafbarkeit eines Garanten entgegensteht, wenn sich ein voll zurechnungsfähiger Kranker unter Berufung auf seine Glaubensfreiheit gegen einen medizinischen Eingriff entscheidet. 266  Hufen, NJW 2001, 849 (851); im Ergebnis auch: Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 39 (43. Lfg. 2004); Lindner, JZ 2006, 373 (381); Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 212; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 2 Abs. 2, Rn. 63; im Ergebnis auch: Lorenz, JZ 2009, 57 (61), der den Vorrang der Schmerzfreiheit vor dem Lebensschutz aus dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit ableitet. 263  Hufen,



A. Behandlungspflichten des Arztes215

(dd) T  echnischer Behandlungsabbruch durch Nicht-Ärzte („Fall Putz“) Auch durch den Verzicht auf eine Pönalisierung eines (durch Tun oder Unterlassen bewirkten) Behandlungsabbruchs, der dem tatsächlichen, mutmaßlichen oder antezipiert erklärten Willen des Patienten entspricht und dem natürlichen Krankheits- oder Sterbeprozess seinen Lauf lässt (im Gegensatz zu einer den natürlichen Sterbeprozess beschleunigenden bzw. erst in Gang setzenden Todesspritze), verletzt der Staat keine aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG folgenden Schutzpflichten für das menschliche Leben267 und zwar – jedenfalls nach herrschender Meinung – unabhängig davon, ob der Sterbeprozess schon eingesetzt hat.268 Vielmehr wäre der Staat noch nicht einmal berechtigt einen solchen Behandlungsabbruch zu bestrafen, da eine solche (als Grundrechtseingriff zu Lasten des Patienten zu qualifizierende269) Pönalisierung den Patienten zur Duldung invasiver, lebensverlängernder Maßnahmen (und damit zum Weiterleben gegen den eigenen Willen) zwingen würde, die mit dem allgemein anerkannten verfassungsrechtlich verbürgten Selbstbestimmungsrecht des Patienten nicht zu vereinbaren wäre270. Zwar ist umstritten, ob das (körperbezogene) Selbstbestimmungsrecht des Patienten aus dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit oder aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht abzuleiten ist.271 Jedoch besteht Einigkeit dahingehend, dass das Selbstbestimmungsrecht des Patienten Freiheitsschutz im Bereich der leiblich-seelischen Integrität des Menschen garantiert und somit auch dem (zurechnungsfähigen) Kranken die volle Selbstbestimmung über seine leiblich-seelische Integrität gewährt272. Staatliche Eingriffe in die körperliche Integrität, die ohne Einwilligung des Patienten erfolgen, lassen sich nur dann rechtfertigen, wenn der Patient nicht entscheidungsfähig ist und seine Zustimmung unterstellt werden kann oder wenn der Patient an 267  Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2, Rn. 205 (39.  Lfg. 2001); Dreier, JZ 2007, 317 (323); Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 84 f.; Hufen, NJW 2001, 849 (854); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 100; Lorenz, JZ 2009, 57 (61); Müller-Terpitz, in: Spickhoff, Medizinrecht, Art. 1 GG, Rn. 12; Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 212 f.; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 2 Abs. 2, Rn. 63, wohl auch: Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 39 (43. Lfg. 2004). 268  Dreier, JZ 2007, 317 (323); Hufen, NJW 2001, 849 (852); Müller-Terpitz, in: Spickhoff, Medizinrecht, Art. 1 GG, Rn. 13. 269  Lorenz, in: BK, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 551, 576 (157. Aktualisierung 2012). 270  Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2, Rn. 205 (39.  Lfg. 2001); MüllerTerpitz, in: Spickhoff, Medizinrecht, Art. 1 GG, Rn. 12. 271  Näher zur verfassungsrechtlichen Fundierung: Hufen, NJW 2001, 849 (851). 272  BVerfGE 52, 131 (174).

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

einer Erkrankung leidet, die das Leben und / oder die Gesundheit anderer konkret gefährdet.273 Geht von dem Gesundheitszustand des Patienten jedoch keine unmittelbare erhebliche Gefahr für andere aus, so sind gesetz­ liche Regelungen, die therapeutische Eingriffe gegen oder ohne den (mutmaßlichen) Willen des Patienten gestatten, verfassungsrechtlich unzulässig; das gleiche gilt für experimentelle Eingriffe gegen oder ohne den Willen des Patienten.274 Denn gesetzliche Regelungen, die im vermeintlichen Interesse des Betroffenen oder anderer, therapeutische oder experimentelle Eingriffe gegen oder ohne den Willen des Betroffenen gestatten (oder sogar durch Androhung von Strafe erzwingen), verstoßen gegen den Menschenwürdekern des Selbstbestimmungsrechts des Patienten, da der Patient hierdurch zum bloßen Objekt des Therapeuten oder eines Forschers gemacht wird.275 Hieraus folgt, dass der durch Art. 1 GG geschützte, unantastbare Kernbereich des Selbstbestimmungsrechts des Patienten, insbesondere auch das Recht zur Ablehnung oder zum Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen (selbst wenn diese medizinisch indiziert sein sollten) umfasst276. Nahezu unbestritten ist dies für Fallkonstellationen, in denen der Patient zur Willensbildung und zur Willensäußerung zum relevanten Zeitpunkt in der Lage ist277 sowie für Konstellationen, in denen der Patient zum Zeitpunkt des Behandlungsabbruchs bzw. des Verzichts auf die Aufnahme lebenserhaltender Maßnahmen nicht mehr fähig ist, eine Meinung zu bilden oder zu äußern, jedoch eine auf einen Behandlungsverzicht bzw. -abbruch gerichtete, antezipierte Willensäußerung in Form einer Patientenverfügung vorliegt278. Aber auch unter der Voraussetzung, dass auf den mutmaßlichen Willen zu rekurrieren ist (da der Patient zur Meinungsbildung und / oder 273  Lang, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 2, Rn. 72 unter Berufung auf BVerfGE 91, 1 (29 f.); Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 206. 274  Hufen, NJW 2001, 849 (851); Müller-Terpitz, in: Spickhoff, Medizinrecht, Art. 1 GG, Rn. 9. 275  Hufen, NJW 2001, 849 (851); Müller-Terpitz, in: Spickhoff, Medizinrecht, Art. 1 GG, Rn. 9. 276  Dreier, JZ 2007, 317 (322  f.); Höfling, JuS 2000, 111 (114); Hufen, NJW 2001, 849 (851); Lorenz, JZ 2009, 57; Müller-Terpitz, in: Spickhoff, Medizinrecht, Art. 1 GG, Rn. 8, 13. 277  Di Fabio, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 39 (43. Lfg. 2004), Art. 2 Abs. 1, Rn. 205 (39. Lfg. 2001); Dreier, JZ 2007, 317 (322); Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 84 f.; Hufen, NJW 2001, 849 (852); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 100; Lorenz, JZ 2009, 57 (61); Müller-Terpitz, in: Spickhoff, Medizinrecht, Art. 1 GG, Rn. 12; Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 212 f.; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2, Rn. 63. 278  Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 39 (43.  Lfg. 2004); Dreier, JZ 2007, 317 (323 ff.); Müller-Terpitz, in: Spickhoff, Medizinrecht, Art. 1 GG, Rn. 14; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2, Rn. 63.



A. Behandlungspflichten des Arztes217

Meinungsäußerung nicht bzw. nicht mehr in der Lage ist und keine Patientenverfügung vorliegt) und der mutmaßliche Wille auf den Verzicht auf lebensverlängernde Behandlungen gerichtet ist, wird wohl überwiegend vertreten, dass der Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen auch in diesem Fall nicht unterbunden werden darf.279 Aus der Abwehrdimension des verfassungsrechtlich verbürgten Selbstbestimmungsrechts resultiert daher, dass der Staat nicht verhindern darf, dass lebenserhaltende Maßnahmen abgebrochen oder unterlassen werden, mit deren Durchführung der Patient tatsächlich oder mutmaßlich nicht einverstanden ist oder denen er antezipiert widersprochen hat. Hieraus folgt, dass es dem Gesetzgeber untersagt ist, Private (durch Strafdrohung) dazu zu zwingen, das Leben eines Patienten gegen dessen tatsächlichen, mutmaß­ lichen oder antezipiert erklärten Willen zu verlängern, weshalb die §§ 212, 216 (13), (34) StGB verfassungskonform dahingehend auszulegen sind, dass der Verzicht oder der Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen entweder schon nicht tatbestandsmäßig oder aber gerechtfertigt ist, sofern der Patient der Durchführung dieser Maßnahmen tatsächlich, mutmaßlich oder antezipiert die erforderliche Einwilligung versagt hat. Das verfassungsrechtlich verbürgte Selbstbestimmungsrecht des Patienten verpflichtet den Gesetzgeber jedoch nicht, jeden durch Tun oder Unterlassen begangenen Behandlungsabbruch (bei äußerungsunfähigen Patienten) zu legitimieren, nur weil sich der Täter (Ärzte etc.) auf eine auf einen Behandlungsabbruch gerichtete Willensäußerung des Patienten beruft. Denn den Staat trifft auch eine aus dem Grundrecht auf Leben abgeleitete Schutzpflicht, Missbrauch (im Sinne einer entgegen dem Patientenwillen erfolgenden Zwangseuthanasie) zu verhindern, der durch die Schaffung von Verfahrensregelungen zur Ermittlung des wirklichen Patientenwillens verhindert werden kann.280 Dem Staat kommt bei der Erfüllung von grundrechtlichen Schutzpflichten ein erheblicher Gestaltungsspielraum zu, der nur durch das Untermaßverbot begrenzt wird. Dies bedeutet, dass dem Gesetzgeber in Bezug auf das Verfahren zur Ermittlung des Patientenwillens ein nennenswerter Spielraum zusteht, der nach unten durch das aus dem Grundrecht auf Leben abgeleitete Untermaßverbot begrenzt wird, das verletzt ist, wenn das Verfahren zur Ermittlung des Patientenwillens offenkundig ungeeignet ist, um eine Zwangseuthanasie nicht äußerungsfähiger Patienten sicher zu verhindern; nach oben wird dieser Spielraum durch den Menschenwürdekern 279  Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 39 (43.  Lfg. 2004); Dreier, JZ 2007, 317 (323); Hufen, NJW 2001, 849 (852); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2, Rn. 63; a. A.: Lorenz, JZ 2009, 57 (61 f.). 280  Müller-Terpitz, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 7, § 147, Rn. 102.

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

des Selbstbestimmungsrechts des Patienten (Übermaßverbot) begrenzt.281 Diesen Anforderungen ist der Gesetzgeber mit der Schaffung der §§ 1901 a ff. BGB gerecht geworden282, die eine verfahrensmäßige Absicherung für die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts von äußerungsunfähigen Patienten gewährleisten und u. a. regeln, dass der tatsächliche oder mutmaßliche, etwa in konkreten Behandlungswünschen zum Ausdruck gekommene Wille eines aktuell einwilligungsunfähigen Patienten – unabhängig von Art und Stadium seiner Erkrankung – verbindlich sein und den Betreuer sowie den behandelnden Arzt binden soll (§ 1901 a Abs. 3 BGB); außerdem enthalten diese Rechtsnormen Verfahrensregelungen zur Ermittlung des wirklichen oder mutmaßlichen Willens. Einen entsprechend den §§ 1901 a ff. BGB ermittelten und maßgeblichen mutmaßlichen Patientenwillen hat auch der Strafrichter (bei der Auslegung und Anwendung der §§ 212, 216 (13), (34) StGB) anzuerkennen. Er darf sich nicht darauf berufen, dass nach seiner Auffassung bei entscheidungsunfähigen Patienten in jedem Fall lebensverlängernde Maßnahmen zu ergreifen sind oder der mutmaßliche Patientenwille auf eine andere Weise (als in den §§ 1901 a ff. BGB vorgegeben wird) zu ermitteln ist und diese Vorgehensweise zu einem anderen Ergebnis führen würde. Die Bindungswirkung dieser Vorschriften für den Strafrichter ergibt sich allerdings nicht – wie vom BGH im „Fall Putz“ vertreten283 – aus der Einheit der Rechtsordnung. Denn die Einheit der Rechtsordnung weist keine verfassungsrechtliche Fundierung auf und stellt nach zutreffender herrschender Meinung ein bloßes Postulat dar.284 Vielmehr ergibt sich die Bindungswirkung der §§ 1901 a ff. BGB für den Strafrichter aus dem auch für die Rechtsprechung verbindlichen285 Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes, der aus der Bindung von Exekutive und Judikative an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) folgt286. Gegen eine Bindungswirkung der §§ 1901 a ff. BGB kann auch deren zivilrechtlicher Charakter nicht eingewendet werden. Denn diese Vorschriften sichern, bezogen auf medizinische Eingriffe, (auf verfassungskonforme Weise) die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts 281  Müller-Terpitz, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 7, § 147, Rn. 102. 282  Müller-Terpitz, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 7, § 147, Rn. 102. 283  BGHSt 55, 191 (198 ff.) = NJW 2010, 2963 (2966) unter Bezugnahme auf Reus, JZ 2010, 80 (82 f.). 284  Eingehend dazu: Felix, Einheit der Rechtsordnung, S. 401. 285  Hillgruber, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 97, Rn. 26 (52.  Lfg. 2008); Huster/ Rux, Beck’scher Online-Kommentar, GG, Art. 20, Rn. 169, 171. 286  BVerfGE 101, 1 (34); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 20, Rn. 46; SchulzeFielitz, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 20, Rn. 106 ff.



A. Behandlungspflichten des Arztes219

von äußerungsunfähigen Patienten verfahrensmäßig ab und machen so eine grundrechtlich geschützte Position operationalisierbar. Der Staat darf Verhaltensweisen, die gegen das verfassungsrechtlich verbürgte Selbstbestimmungsrecht des Patienten verstoßen, ebenso wenig durch Einsatz von Strafdrohungen erzwingen, wie er dem Betreuer diese gestatten darf.287 Außerdem sollen die betreuungsrechtlichen Vorschriften Orientierungssicherheit und Rechtssicherheit schaffen288, was nur möglich ist, wenn diese Vorschriften auch im Strafrecht angewendet werden, sofern dem Selbstbestimmungsrecht der Patienten und dem Patientenwillen dort Relevanz zukommt289. Das Grundrecht auf Leben gebietet daher keine Auslegung der §§ 212, 216 (13), (34) StGB dahingehend, dass der Verzicht oder Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen als rechtswidrige Tötung (§§ 212, 216 StGB) zu qualifizieren ist, sofern der Patient nicht mehr äußerungsfähig war und sein gemäß den §§ 1901 a ff. BGB ermittelter und hiernach maßgeblicher mutmaßlicher Wille auf einen Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen gerichtet war. Vielmehr würde eine solche Auslegung gegen den Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes und gegen das verfassungsrechtlich verbürgte Selbstbestimmungsrecht des Patienten verstoßen. Dies gilt nicht nur dann, wenn die lebensverlängernde Maßnahme durch eine Person beendet wird, die bei der Ermittlung des mutmaßlichen Patientenwillens gemäß § 1901 a ff. zu beteiligen ist (Arzt, Betreuer, etc.); solange die Verfahrensvorschriften des §§ 1901 a ff. BGB eingehalten wurden, darf sich jedermann zum Vollstrecker des Patientenwillens aufschwingen und die lebensverlängernden Maßnahmen beenden.290 (b) K  eine verfassungsrechtliche (Schutz-)Pflicht zur ­Pönalisierung jedes lebensverkürzenden Unterlassens Ebenso wie eine staatliche Pflicht zur Pönalisierung jedes lebensverkürzenden Tuns abzulehnen ist, trifft den Staat auch keine Verpflichtung, jedes lebensverkürzende Unterlassen – selbst wenn dieses durch einen (Lebensschutz-)Garanten begangen wurde – unter Strafe zu stellen. Vielmehr existieren sowohl Konstellationen, in denen die Verfassung es dem Staat freistellt, ob er ein lebensverkürzendes Unterlassen unter Strafe stellen möchte, 287  Eidam,

GA 2011, 232 (237). in: Spickhoff, Medizinrecht, § 1901 a BGB, Rn. 1. 289  Mit ähnlicher Argumentation: BGHSt 55, 191 (198 ff.) = NJW 2010, 2963 (2966). 290  Engländer, JZ 2011, 513 (519); Verrel, NStZ 2010, 671 (674); a. A. BGHSt 55, 191 (205 f.) = NJW 2010, 2963 (2968). 288  Spickhoff,

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

als auch solche Fallkonstellationen, in denen verfassungsrechtliche Garan­ tien (und zwar nicht nur Verfassungshöchstwerte, wie die Menschenwürde) der Pönalisierung eines solchen Verhaltens sogar zwingend entgegensteht. Dies folgt nicht schon aus dem Umstand, dass es in Fällen des lebensverkürzenden Unterlassens (auch wenn dieses durch einen Garanten begangen wird) – zumindest sehr häufig – an einem die Lebensgefahr begründenden privaten Übergriff fehlt, weil der Fallgruppe des lebensverkürzenden Unterlassens insbesondere auch Fälle „gegnerloser Not“291 unterfallen (passive Sterbehilfe292 etc.). Denn die herrschende Meinung293 bejaht aus dem Grundrecht auf Leben folgende Schutzpflichten – im Gegensatz zu einer Mindermeinung, die grundrechtliche Schutzpflichten ausschließlich bei privaten Übergriffen annimmt294 – nicht nur im Falle durch private Dritte geschaffener Lebensgefahren, sondern darüberhinausgehend auch bei objektiven Gefährdungen, also bei Gefahren, die z. B. auf Erkrankungen, Naturkatastrophen oder Selbstgefährdungen beruhen. Dem ist zuzustimmen. Gegen die Verengung der Schutzpflicht auf private Übergriffe spricht der Wortlaut des die Schutzpflichtenlehre normativ tragenden Art. 1 Abs. 2 GG, wonach die Menschenwürde zu achten und zu schützen ist295, sowie die Tatsache, dass das BVerfG die Schutzpflichtenlehre zwar für die Konstellation privater Übergriffe entwickelt hat, jedoch auch das BVerfG davon ausgegangen ist, dass grundrechtliche Schutzpflichten nicht nur im Falle durch Dritte (Störer) geschaffener Gefahrenlagen in Betracht kommen, sondern auch bei objektiven Gefährdungen296. Dennoch besteht keine Verpflichtung des Staates jedes lebensverkürzende Unterlassen (eines Lebensschutzgaranten) zu bestrafen. Dies folgt aus der Dogmatik grundrechtlicher Schutzpflichten, wonach dem Staat bei der Erfüllung seiner Schutzpflichten – selbst solcher zugunsten des menschlichen Le291  Leisner,

Das Lebensrecht, S. 27. Menschenwürde am Lebensanfang und am Lebensende und strafrechtlicher Lebensschutz, S. 101. 293  BVerfGE 115, 25 (49); Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 45 ff. (43. Lfg. 2004); Lang, in: Epping/Hillgruber, Beck’scher Online-Kommentar, GG, Art. 2, Rn. 75 (1.9.2014); Lorenz, in: BK, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 516 ff. (157. Aktualisierung 2012); Sachs, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 38; SchulzeFielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2, Rn. 76; Steiner, in: Spickhoff, Medizinrecht, Art. 2, Rn. 13; a. A. Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, § 191, Rn.  192 ff.; Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 188. 294  Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, § 191, Rn. 192 ff.; Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 188. 295  Lang, in: Epping/Hillgruber, Beck’scher Online-Kommentar, GG, Art. 2, Rn. 75 (1.9.2014). 296  Lang, in: Epping/Hillgruber, Beck’scher Online-Kommentar, GG, Art. 2, Rn. 75 (1.9.2014) unter Berufung auf BVerfGE 58, 208 (224). 292  Rohrer,



A. Behandlungspflichten des Arztes221

bens – ein weiter (nur durch das Untermaßverbot beschränkter) Einschätzungs-, Wertungs-, und Gestaltungsspielraum zukommt297, der sich regelmäßig nicht dahin verdichtet, dass nur eine ganz bestimmte gesetzliche Regelung oder staatliche Maßnahme rechtmäßig wäre298. Außerdem bedarf der Staat auch bei der Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten (selbst solcher zugunsten des menschlichen Lebens), wenn er dabei in Rechte Dritter eingreift, einer gesetzlichen Grundlage299, die den Anforderungen der Verfassung genügt und insbesondere dem Verhältnismäßigkeitsprinzip Rechnung trägt, das aus der Abwehrdimension der (nicht zwingend Verfassungshöchstwerte repräsentierenden) Grundrechte resultiert300. Es kann deshalb die Situation eintreten, dass der Staat die einzige Maßnahme unterlassen muss, die die Bewahrung des zu schützenden Rechtsguts gestattet. Hieraus folgt für die hier in Frage stehende Problematik, dass der Staat noch nicht einmal dazu berechtigt ist, jedes lebensverkürzende Unterlassen unter Strafe zu stellen. Für die Strafrechtsauslegung ergibt sich aus der soeben beschriebenen Dogmatik grundrechtlicher Schutzpflichten, dass die Strafgerichte nicht verpflichtet sind, jedes lebensverkürzende Unterlassen (eines Lebensschutzgaranten) als unzulässig zu bewerten; vielmehr existieren sogar Konstella­ tionen, in denen grundgesetzliche Garantien (und zwar nicht nur Verfassungshöchstwerte, wie die Menschenwürde) einer derartigen Strafrechtsinterpretation sogar zwingend entgegenstehen: Die Verfassung erzwingt keine Auslegung der Strafnormen (insbesondere der §§ 211, 13 StGB ff. sowie des § 323 c StGB) dahingehend, dass ein lebensverkürzendes Unterlassen unzulässig ist, es sei denn, dass eine auf die Pönalisierung dieser Verhaltensweise verengte Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG existiert oder der Gesetzgeber – dies ergibt sich aus dem (in Art. 20 Abs. 3 GG normierten und auch für die Judikative verbindli297  BVerfGE 46, 160 (164); 56, 54 (80 f.); 77, 381 (405); 79, 174 (200); 85, 191 (212); 92, 26 (46); 96, 56 (64); Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, § 191, Rn. 293 ff.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 92; Klein, NJW 1989, 1633 (1637); Lang, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 2, Rn. 76 f.; Lorenz, in: BK, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 522 (157. Aktualisierung 2012); SchulzeFielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2, Rn. 86; Stern, DÖV 2010, 241 (247 f.). 298  BVerfGE 46, 160 (165); 56, 54 (80); 77, 170 (214); 79, 174 (202); 115, 118 (160); 121, 317 (360); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 92; Lorenz, in: BK, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 522 (157. Aktualisierung 2012); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 2 Abs. 2, Rn. 90. 299  BVerfG NJW 1989, 3269; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 92; Lorenz, in: BK, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 542 (157. Aktualisierung 2012). 300  Calliess, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. 2, § 44, Rn. 18 ff.; 29 ff.; Klein, NJW 1989, 1633 (1638); Lang, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 2, Rn. 76; Lorenz, in: BK, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 528 (157. Aktualisierung 2012); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2, Rn. 86.

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

chen301) Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes – eine explizite Entscheidung für die Strafbarkeit getroffen hat. Eindeutig verboten ist den Strafgerichten die Einordnung eines lebensverkürzenden Unterlassens als unzulässig, wenn der Gesetzgeber sogar eine explizite Entscheidung für die Legalität eines lebensverkürzenden Unterlassens getroffen hat. Dies folgt aus dem in Art. 103 Abs. 2 GG normierten Analogieverbot, das nach zutreffender herrschender Meinung nicht nur auf die Deliktstatbestände des Besonderen Teils, sondern auch auf Rechtfertigungstatbestände anwendbar ist, da es für den Täter irrelevant sei, ob eine Strafbarkeit durch gesetzesüberschreitende richterliche Ausdehnung eines Deliktstatbestandes oder durch eine den Gesetzeswortlaut unterschreitende (und damit verlassende) Einengung eines Zurechnungsausschlussgrundes des Allgemeinen Teils, wozu auch die Rechtfertigungsgründe zählen, erzielt werde.302 Auch der (aus Art. 20 Abs. 3 GG folgende und auch für die Judikative verbindliche303) Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes kann einer Bewertung eines lebensverkürzenden Unterlassens als unzulässig entgegenstehen, nämlich dann, wenn sich die gesetzgeberische Entscheidung für die Zulässigkeit eines lebensverkürzenden Unterlassens aus Gesetzesnormen ergibt, die nicht zum Haupt- und Nebenstrafrecht gehören (was eine Anwendung des in Art. 103 Abs. 2 GG normierten Analogieverbots ausschließt). Insbesondere aber auch in solchen Fallkonstellationen, in denen die Pönalisierung eines lebensverkürzenden Unterlassens einen unverhältnismäßigen Eingriff in (nicht zwingend Verfassungshöchstwerte repräsentierende) grundrechtliche Positionen der durch die Strafnorm zu schützenden Person, des Adressanten der Strafnorm etc. bedeuten würde (und somit verfassungswidrig wäre), ist es dem – an das Gebot zur verfassungskonformen Auslegung des (Straf-)Rechts gebundenen – Strafrichter untersagt, ein lebensverkürzendes Unterlassen als strafrechtlich verboten zu qualifizieren. Die Bewertung eines lebensverkürzenden Unterlassens als unzulässig, kann den Strafgerichten aber auch schon dann versperrt sein, wenn diese Auslegung zwar einen Grundrechtseingriff (in Rechte des durch die Strafnorm zu Schützenden etc.) bewirken würde, jedoch – in Ermangelung hinreichender Eingriffs­intensität – keine Grundrechtsverletzung: Nach dem (aus dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip abgeleiteten304 und auch für die 301  Hillgruber,

in: Maunz/Dürig, GG, Art. 97, Rn. 26 (52.  Lfg. 2008). in: Schönke/Schröder, StGB, Vor §§ 32 ff., Rn. 25 mit weiteren Nachw. 303  Hillgruber, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 97, Rn. 26 (52.  Lfg. 2008). 304  BVerfGE 101, 1 (34); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 20, Rn. 46; SchulzeFielitz, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 20, Rn. 106 ff.; differenzierend: Herzog/Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20, Rn. 72 (71.  Lfg. 2014). 302  Lenckner/Sternberg-Lieben,



A. Behandlungspflichten des Arztes223

Judikative verbindlichen305) Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes, bedürfen staatliche Eingriffe in grundrechtliche Betätigungen Privater – selbst wenn sie der Erfüllung staatlicher Schutzpflichten dienen – stets einer gesetzlichen Grund­lage306. Daher ist die Norminterpretation, wonach ein lebensverkürzendes Unterlassen unzulässig ist, bereits verboten, wenn diese Auslegung in die Grundrechte einer Person (z. B. in Grundrechte des durch die Strafnorm zu Schützenden) auch nur eingreift und es an einer diesen Eingriff deckenden gesetzlichen Grundlage fehlt. Nichts anderes gilt, wenn zwar eine gesetzliche Grundlage vorhanden ist, diese jedoch angesichts der Intensität des Grundrechtseingriffs nicht bestimmt genug ist, um diesen legitimieren zu können. Denn die Anforderungen an gesetzliche Grundlagen zur Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen ergeben sich aus dem Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes, in der Ausprägung, die dieser durch die Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG gefunden hat. Danach ist das Parlament verpflichtet, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen, soweit diese einer Normierung zugänglich sind, selbst und durch Gesetz zu regeln, wobei die Regelungen umso bestimmter sein müssen, je größer die Intensität der Grundrechtsbetroffenheit ist.307 Zur Illustrierung sollen folgende Beispiele dienen: (aa) Passive Sterbehilfe beim entscheidungsfähigen Patienten Wie bereits dargelegt wurde (siehe Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (a) (dd)), verletzt der Verzicht auf die Pönalisierung eines durch Unterlassen bewirkten Behandlungsabbruchs, der dem tatsächlichen Willen eines zurechnungsfähigen Patienten entspricht, Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nicht308 und zwar unabhängig davon, ob der Sterbeprozess schon eingesetzt hat309; vielmehr wäre der Staat noch nicht einmal berechtigt einen solchen Verzicht auf die Durchführung lebensverlängernder Maßnahmen zu bestrafen, da eine solche (als Grund305  Hillgruber,

in: Maunz/Dürig, GG, Art. 97, Rn. 26 (52.  Lfg. 2008). NJW 1989, 3269; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 92; Lorenz, in: BK, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 542 (157. Aktualisierung 2012). 307  Sachs, in: Sachs, GG, Art. 20, Rn. 117. 308  Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 1, Rn. 205 (39. Lfg. 2001); Dreier, JZ 2007, 317 (323); Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S.  84 f.; Hufen, NJW 2001, 849 (854); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 100; Lorenz, JZ 2009, 57 (61); Müller-Terpitz, in: Spickhoff, GG, Art. 1 GG, Rn. 13; Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 212 f.; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 2 Abs. 2, Rn. 63, wohl auch: Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 39 (43. Lfg. 2004). 309  Dreier, JZ 2007, 317 (323); Hufen, NJW 2001, 849 (852); Müller-Terpitz, in: Spickhoff, GG, Art. 1 GG, Rn. 13. 306  BVerfG

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

rechtseingriff zu qualifizierende310) staatliche Maßnahme den Patienten zur Duldung invasiver, lebensverlängernder Maßnahmen (und damit zum Weiterleben gegen den eigenen Willen) zwingen würde, die mit dem allgemein anerkannten Selbstbestimmungsrecht des Patienten aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren wäre311. Insofern wird eine Auslegung der §§ 212 (216), 13 (34) StGB dahingehend, dass die passive Sterbehilfe beim entscheidungsfähigen Patienten eine rechtswidrige Tötung darstellt, durch das Grundrecht auf Leben nicht geboten. Vielmehr steht einer solchen Norminterpretation das verfassungsrechtlich verbürgte Selbstbestimmungsrecht des Patienten zwingend entgegen (zur Situation bei äußerungsunfähigen Patienten, siehe Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (a) (dd)). Auch gegen den (aus dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip abge­ leiteten312 und auch für die Judikative verbindlichen313) Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes, in der Ausprägung, die dieser durch die Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG gefunden hat, würde eine derartige Aus­ legung verstoßen. Danach ist das Parlament verpflichtet, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen, soweit diese einer Normierung zugänglich sind, selbst und durch Gesetz zu regeln, wobei die Regelungen umso bestimmter sein müssen, je größer die Intensität der Grundrechtsbetroffenheit ist.314 Eine Auslegung der §§ 212 (216), 13 (34) StGB dahingehend, dass ein Arzt (durch Strafdrohung) gezwungen ist, einen entscheidungsfähigen Patienten zum Weiterleben gegen dessen Willen zu zwingen, würde zu einer Rechtslage führen, die sehr intensiv in das verfassungsrechtlich verbürgte Selbstbestimmungsrecht des Patienten eingreift (und dieses auch verletzen würde). Eine solche Rechtslage wäre mit den soeben beschriebenen Anforderungen des Grundsatzes vom Vorbehalt des Gesetzes nur dann vereinbar, wenn eine gesetzliche Regelung vorhanden wäre, welche den Patienten explizit zur Duldung der (mit einer solchen Auslegung der §§ 212 (216), 13 (34) StGB verbundenen) Beeinträchtigung seines Selbstbestimmungsrechts verpflichten würde – die der Gesetzgeber aber natürlich nicht erlassen dürfte, weil er hierdurch den Menschenwürde310  Lorenz, in: BK, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 551, 576 (157. Aktualisierung 2012). 311  Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2, Rn. 205 (39.  Lfg. 2001); MüllerTerpitz, in: Spickhoff, Medizinrecht, Art. 1 GG, Rn. 12. 312  BVerfGE 101, 1 (34); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 20, Rn. 46; SchulzeFielitz, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 20, Rn. 106 ff.; differenzierend: Herzog/Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20, Rn. 72 (71.  Lfg. 2014). 313  Hillgruber, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 97, Rn. 26 (52.  Lfg. 2008). 314  Sachs, in: Sachs, GG, Art. 20, Rn. 117.



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kern des Selbstbestimmungsrechts des Patienten verletzen würde. Eine solch hohen Bestimmtheitsanforderungen genügende Ermächtigungsgrundlage ist jedoch nicht vorhanden. Auch § 216 StGB genügt diesen Anforderungen nicht, da diese Norm nach herrschender Lehre315 durch ein Unterlassen nicht verwirklicht werden kann und zudem nicht hinreichend bestimmt wäre, da diese Vorschrift keinerlei Hinweise auf Zwangsbefugnisse der Ärzteschaft zu Lasten behandlungsunwilliger Patienten enthält. (bb) G  eschehenlassen eines freiverantwortlichen Suizids („Wittig-Fall“) Es besteht keine aus dem Grundrecht auf Leben abgeleitete staatliche Verpflichtung zur Rettung eines eigenverantwortlich handelnden Suizidenten (sog. Bilanzselbstmörder), weshalb auch der Verzicht auf die Pönalisierung des Unterlassens von Handlungen, die auf die Rettung eines freiverantwortlich handelnden Selbstmörders gerichtet sind, nicht hinter Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG zurückbleibt.316 Zwar ist eine staatliche Schutzpflicht im Hinblick auf Suizidversuche, die in einem, eine freiverantwortliche Selbstgefährdung ausschließenden, psychischen Ausnahmezustand begangen werden, zu bejahen317. Jedoch besitzt der Staat nach vorzugswürdiger Auffassung318 weder die Verpflichtung noch auch nur die Berechtigung, einen einsichts- und entscheidungsfähigen Erwachsenen von der Selbsttötung abzuhalten. Dies folgt in Fallkonstellationen, in denen – wie im „Wittig-Fall“ – der Suizident nur durch einen (invasiven) medizinischen Eingriff gerettet werden 315  Momsen, in: Satzger/Schmitt/Widmaier, StGB, § 216, Rn. 11; Wessels/Hettinger, Strafrecht BT, Bd. 1, Rn. 161. 316  Lorenz, in: BK, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 546 (157. Aktualisierung 2012). 317  Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 48 (43.  Lfg. 2004); Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 88; Lorenz, in: BK, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 550 (157. Aktualisierung 2012); Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 210; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2, Rn. 85; Schwabe, JZ 1998, 66 (70); im Ergebnis auch: Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, § 191, Rn. 244 ff., welcher in dieser Situation zwar ebenfalls eine Verpflichtung zum Schutz des Grundrechtsträgers vor sich selbst annimmt, diese Pflicht jedoch nicht als Anwendungsfall der Schutzpflicht, sondern der „Grundrechtsfürsorge“ bezeichnet, da es für die Eröffnung der Schutzpflichtdimension eines privaten, rechtswidrigen Eingriffs bedürfe, welcher bei einer Selbstgefährdung naturgemäß fehle. 318  Dreier, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 1, Rn. 157; Fink, Selbstbestimmung und Selbsttötung, S.  115 ff.; Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S.  78 ff.; Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, § 191, Rn. 244; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 100; Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 211.

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kann, aus dem andernfalls verletzten Selbstbestimmungsrecht (des Patienten)319 und ansonsten aus dem (Abwehr-)Recht auf selbstbestimmte Lebensbeendigung (das von manchen Autoren aus der Abwehrdimension des Grundrechts auf Leben320 abgeleitet wird und von anderen Literaturvertretern in der Abwehrdimension der allgemeinen Handlungsfreiheit321 oder der Menschenwürde322 verankert wird) (näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (b) (aa) / Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (b) (cc)). Denn die Bejahung einer staatlichen Pflicht bzw. Berechtigung zur Rettung des Lebens eines Suizidenten gegen dessen Willen, liefe auf eine Rechtspflicht zum Weiterleben gegenüber der staatlichen Gemeinschaft hinaus, die mit der Menschenwürde (in ihrer Abwehrdimension) nicht zu vereinbaren wäre, da die Menschenwürde die für das Staats- und Grundrechtsverständnis wesentliche Aussage enthält, dass der Staat um des Menschen willen da ist und nicht umgekehrt.323 Außerdem würde die Annahme einer aus dem „Grundrecht auf Leben abgeleiteten Grundpflicht zum Leben aus dem berechtigten Rechtssubjekt den ­beanspruchten Pflichtenadressaten“324 werden lassen. Dies wäre mit Legitimationsgrund und Funktion der grundrechtlichen Schutzpflichten nicht vereinbar, da hierin gerade „keine Verstärkung der grundrechtlichen Freiheitsgewährung, sondern ihre Verkürzung“325 und damit „der völlige Bruch mit dem überkommenen liberal-rechtsstaatlichen Grundrechtsver­ständnis“326, geradezu eine „Pervertierung der Grundrechte“327 läge. Hieraus folgt, dass es dem Staat verwehrt ist, Private (Ärzte etc.) durch Strafdrohung dazu zu 319  Achenbach, Jura 2002, 542, 544; Fischer, StGB, Vor §§ 211–216, Rn. 24; Hillenkamp, in: Anderheiden/Eckart, Handbuch Sterben und Menschenwürde, Bd. 2, S.  1033 (1048 f.); Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, Vor. § 211, Rn. 15; Rengier, Strafrecht BT, Bd. 2, § 8, Rn. 14; H. Schneider, in: MüKo, StGB, Bd. 4, Vor. § 211 ff., Rn.  74 ff. 320  Fink, Selbstbestimmung und Selbsttötung, S. 110. 321  Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 78 ff.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 100; Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 211; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2, Rn. 32; Schwabe, JZ 1998, 66 (69). 322  Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 47 (43.  Lfg. 2004); Dreier, JZ 2007, 317 (319); ders., in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 1, Rn. 157. 323  Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 82 unter Verweis auf die ursprüngliche Formulierung des Art. 1 Abs. 1 im Herrenchiemseer Entwurf, JöR, Bd. 1 (1951), S. 48; Dreier, JZ 2007, 317 (319); im Ergebnis auch: Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 47 (43.  Lfg. 2004). 324  Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 82. 325  Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 82; zustimmend: Schwabe, JZ 1998, 66 (69 f.). 326  Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 82 f.; zustimmend: Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, § 191, Rn. 244; Schwabe, JZ 1998, 66 (69 f.). 327  Schwabe, JZ 1998, 66 (70).



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zwingen, das Leben eines entscheidungsfähigen Suizidenten gegen dessen tatsächlichen Willen zu verlängern. Das Grundrecht auf Leben gebietet daher keine Auslegung der §§ 212 (216), 13 (34) StGB bzw. §§ 323 c (34) StGB dahingehend, dass der Verzicht auf die Rettung eines freiverantwortlich handelnden Suizidenten eine rechtswidrige Tötung oder eine rechtswidrige Unterlassene Hilfeleistung darstellt. Vielmehr würde eine solche Norminterpretation gegen das (aus dem Grundrecht auf Leben, der allgemeinen Handlungsfreiheit bzw. der Menschenwürde abgeleiteten) (Abwehr-)Recht auf selbstbestimmte Lebensbeendigung verstoßen bzw. das Selbstbestimmungsrecht des Patienten verletzen, sofern das Leben des Suizidenten nur durch einen medizinischen Eingriff zu retten ist (wie im „Wittig-Fall“). In Anbetracht der Tatsache, dass die Rechtsordnung keine Ermächtigungsgrundlage enthält, die die Ärzteschaft explizit zur Vornahme von Zwangstherapien zugunsten freiverantwortlich handelnder Suizidenten ermächtigt, würde eine derartige Auslegung zudem auch den Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes, in der Gestalt, die dieses Prinzip durch die Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG gefunden hat, verletzen (näher: Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (b) (aa)). (cc) U  nterlassen einer lebensrettenden Zwangsheilung beim entscheidungsfähigen Patienten Auch besteht keine aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG abgeleitete staatliche Verpflichtung dahingehend, den Verzicht auf die Durchführung einer dem Willen eines entscheidungsfähigen Patienten zuwiderlaufenden (ausschließlich im vermeintlichen Patienteninteresse liegenden) „Zwangsheilung“ zu pönalisieren328. Das gilt selbst dann, wenn der Patient lebensbedrohlich erkrankt ist und die ärztliche Therapie auch noch so medizinisch indiziert und erfolgversprechend ist.329 Dies folgt aus dem Umstand, dass den Staat nach zutreffender herrschender Meinung330 keine aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG folgende Schutzpflicht trifft, die darauf gerichtet ist, freiverantwortlich handelnde Personen einer (lebensrettenden) zwangsweisen Heilbehandlung zum eigenen Schutz zu unterziehen; vielmehr wäre der Staat hierzu noch nicht 328  Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 91 ff.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 101; Lorenz, in: BK, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 576 (157. Aktualisierung 2012); Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 206. 329  Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 91 ff.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 101; Lorenz, in: BK, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 577 (157. Aktualisierung 2012). 330  Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 91 ff.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 101; Lorenz, in: BK, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 576 (157. Aktualisierung 2012); Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 206.

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

einmal befugt. Denn eine durch staatliche Stellen angeordnete (lebensrettende) Zwangsbehandlung, die es bezweckt, einen freiverantwortlich handelnden Patienten vor sich selbst zu schützen, würde einen nicht zu rechtfertigenden Eingriff in Grundrechte des „Zwangsbehandelten“ darstellen und wäre somit verfassungswidrig (anders jedoch bei einer im Interesse der Volksgesundheit angeordneten Zwangsbehandlung).331 Die Verfassungswidrigkeit folgt aus den gleichen Verfassungsprinzipien, die auch für die Zulässigkeit des Geschehenlassens eines freiverantwortlichen Suizids (Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (b) (bb) streiten. Denn wenn die Verfassung dem Patienten sogar ein (Abwehr-)Recht auf selbstbestimmte Lebensbeendigung zubilligt (das in der Literatur aus der Abwehrdimension des Grundrechts auf Leben, der allgemeinen Handlungsfreiheit oder der Menschenwürde abgeleitet wird, vgl. Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (b) (bb)), dann gewährt sie umso mehr das Recht auf einen Therapieverzicht, dessen Folgen mit geringerer Wahrscheinlichkeit tödlich sind. Eine staatliche Verpflichtung bzw. Berechtigung, die auf die Pönalisierung des Unterlassens einer lebensrettenden (ausschließlich im vermeintlichen Interesse des entscheidungsfähigen Patienten liegenden) Zwangsbehandlung gerichtet ist, scheitert jedoch nicht nur an der fehlenden Befugnis des Staates, eine zurechnungsfähige Person zum Weiterleben gegen ihren Willen zu zwingen, sondern darüber hinaus auch an dem invasiven Charakter von medizinischen Zwangsbehandlungen. Denn eine (strafbewehrte) ärztliche Pflicht zur Durchführung der hier in Frage stehenden lebensrettenden Zwangsbehandlung bei einem entscheidungsfähigen Patienten würde, aufgrund der invasiven Wirkung einer derartigen Zwangsbehandlung, das verfassungsrechtlich verbürgte Selbstbestimmungsrecht des Patienten verletzen332, das Freiheitsschutz im Bereich der leiblich-seelischen Integrität des Menschen garantiert und somit auch dem (zurechnungsfähigen) Kranken die volle Selbstbestimmung über seine leiblich-seelische Integrität gewährt333 (näher hierzu Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (a) (dd) sowie Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (b) (aa)). Das Grundrecht auf Leben gebietet daher keine Auslegung der §§ 212 (216), 13 (34) StGB bzw. §§ 323 c (34) StGB mit dem Inhalt, dass der Verzicht auf die Durchführung einer Zwangsheilung bei einem entscheidungsfähigen Patienten eine rechtwidrige Tötung oder eine rechtswidrige Unterlassene Hilfeleistung darstellt; vielmehr würde eine derartige Normin331  Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 94 f.; Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 206, 209. 332  Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2, Rn. 205 (39.  Lfg. 2001); Lorenz, in: BK, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 577 (157. Aktualisierung 2012); Müller-Terpitz, in: Spickhoff, Medizinrecht, Art. 1 GG, Rn. 12. 333  BVerfGE 52, 131 (174).



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terpretation gegen die oben genannten Grundrechte (Abwehrrecht auf selbstbestimmte Lebensbeendigung aus Art. 2 Abs. 2 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 1 GG bzw. Art. 1 Abs. 1 GG; Selbstbestimmungsrecht des Patienten) verstoßen.334 Zudem würde eine derartige Auslegung den Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes, in der Gestalt, die dieses Prinzip durch die Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG gefunden hat, verletzen, da die Rechtsordnung keine Ermächtigungsgrundlage bereitstellt, die die Ärzteschaft explizit zur Vornahme lebensrettender Zwangstherapien zugunsten entscheidungsfähiger Patienten ermächtigt (näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (b) (aa)). (dd) D  em Garanten unzumutbare Lebensrettung ­(„Nierenspende-Fall“) Den Staat trifft keine aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG folgende Schutzpflicht, die darauf gerichtet ist, jemanden zu bestrafen, wenn dieser sich weigert, einer an Organversagen leidenden Person im Wege der Lebend(organ)spende ein Organ zu spenden. Dies gilt selbst in einer Situation, wie sie dem „Nierenspende-Fall“ zugrunde liegt, nämlich wenn der unfreiwillige Spender gegenüber der kranken Person eine (Lebensschutz-)Garantenstellung (aus natürlicher Verbundenheit) besitzt, die Lebend(organ)spende die einzige Rettungsmöglichkeit darstellt und der (unfreiwillige) Spender durch die erzwungene Lebend(organ)spende keiner (einer Lebendorganspende nach § 8 Abs. 1 Nr. 1 c TPG entgegenstehenden) nennenswerten Lebens- oder Gesundheitsgefahr ausgesetzt wird. Gegen die Annahme einer derartigen Pönalisierungspflicht spricht bereits: Es ist sehr fraglich, ob sich aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG überhaupt eine staatliche Pflicht zur Schaffung eines bedarfsgerechten Transplantationssystems ergibt, aus welcher sich für den Einzelnen ein – durch den Vorbehalt des rechtlich und tatsächlich Möglichen begrenzter – originärer Leistungsanspruch auf Zuteilung eines Organs ergibt335 oder ob lediglich ein (aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG und dem So­ zialstaatsprinzip abgeleiteter) derivativer Teilhabeanspruch am vorhandenen 334  Hillgruber,

Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 94 f. solche Pflicht bejahend: Brech, Triage und Recht, S. 238; Holznagel, DVBl. 1997, 393 (399), wonach die aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG abgeleitete Schutzpflicht es gebietet, zur Vermittlung der Spenderorgane ein „möglichst effektives Allo­ kationssystem zu etablieren“; Junghanns, Verteilungsgerechtigkeit in der Transplantationsmedizin, S.  45 ff.; Seewald, VerwArch 88 (1997), 199 (205 ff.), wonach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG es zwingend gebietet, eine bedarfsgerechte Transplantationsquote anzustreben. 335  Eine

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

Organaufkommen existiert, wie von der herrschenden Meinung vertreten wird336. Aber selbst wenn man eine aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG folgende staatliche Pflicht zur Schaffung eines bedarfsgerechten Transplantationssystems und einen hieraus folgenden originären Leistungsanspruch auf Zuteilung eines Spenderorgans anerkennen würde, ließe sich hieraus keine staatliche Verpflichtung ableiten, die Verweigerung einer Lebend(organ)spende (durch einen Lebensschutz-Garanten) zu pönalisieren. Dies folgt aus der Dogmatik grundrechtlicher Schutzpflichten, wonach dem Staat bei der Erfüllung seiner Schutzpflichten – selbst solcher zugunsten des menschlichen Lebens – ein weiter (nur durch das Untermaßverbot beschränkter) Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zusteht337, der sich regelmäßig nicht dahin verdichtet, dass nur eine ganz bestimmte gesetzliche Regelung oder staat­ liche Maßnahme rechtmäßig wäre338, es sei denn, dass das Schutzgut ausschließlich durch diese eine Maßnahme sachgerecht geschützt werden kann und die ergriffenen Maßnahmen gänzlich ungeeignet oder zur Erreichung des gebotenen Schutzziels völlig unzulänglich sind339. Die in den letzten Jahren zur Steigerung des Organaufkommens unternommenen gesetzgeberischen Maßnahmen340 – wozu neben der Verbesserung des versicherungsrechtlichen Status des Lebendspenders341 insbesondere die Einführung der „Entscheidungslösung“342 gehört, die die postmortale 336  So die h. M.: Bader, Organmangel und Organverteilung, S. 297 ff.; Gutmann/ Fateh-Moghadam, in: Gutmann et al., Grundlagen einer gerechten Organverteilung, S. 59 (68); Gutmann, in: Schroth et al., TPG, § 12, Rn. 43; ders., in: Höfling, Die Regulierung der Transplantationsmedizin in Deutschland, S. 113 (116). 337  BVerfGE 46, 160 (164); 56, 54 (80 f.); 77, 381 (405); 79, 174 (200); 85, 191 (212); 92, 26 (46); 96, 56 (64); Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, § 191, Rn. 293 ff.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 92; Klein, NJW 1989, 1633 (1637); Lang, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 2, Rn. 76 f.; Lorenz, in: BK, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 522 (157. Aktualisierung 2012); SchulzeFielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2, Rn. 86; Stern, DÖV 2010, 241 (247 f.). 338  BVerfGE 46, 160 (165); 56, 54 (80); 77, 170 (214); 79, 174 (202); 115, 118 (160); 121, 317 (360); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 92; Lorenz, in: BK, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 522 (157. Aktualisierung 2012); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 2 Abs. 2, Rn. 90. 339  BVerfGE 79, 174 (202); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 92; Lorenz, in: BK, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 522 (157. Aktualisierung 2012); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2, Rn. 90. 340  „Gesetz zur Änderung des Transplantationsgesetzes“ vom 21.07.2012 (BGBl. I, S. 1601) sowie „Gesetz zur Regelung der Entscheidungslösung im Transplanta­ tionsgesetz“ vom 12.07.2012 (BGBl. I, S. 1504). 341  Näher hierzu: Dannecker/Streng, in: Festschrift für Wolf Schiller, S. 127 (129 ff.); Neft, MedR 2013, 82 (87 ff.).



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Organentnahme zwar keinen geringeren Anforderungen als die zuvor geltende „erweiterte Zustimmungslösung“ unterwirft, jedoch gewährleistet, dass um die lebzeitige Zustimmung des Spenders intensiver geworben wird als bisher343 – können jedoch schwerlich als völlig ungeeignet oder völlig unzureichend qualifiziert werden, wenngleich sich die gewünschten Erfolge aufgrund des Transplantationsskandals, der das Vertrauen der Bevölkerung in die Transplantationsmedizin erschüttert hat, bislang noch nicht eingestellt haben. Außerdem gäbe es neben der Maßnahme, eine (durch einen Lebensschutz-Garanten verweigerte) Lebend(organ)spende unter Strafe zu stellen, noch andere effektive Möglichkeiten, Spenderorgane in hinreichender Zahl zu generieren. So ließe sich die Organknappheit wohl beheben (jedenfalls aber die Zahl der postmortalen Organspenden ganz erheblich steigern), wenn man die geltende „Entscheidungslösung“ durch eine verfassungsgemäß ausgestaltete344 „Widerspruchslösung“ (i. e. bei fehlendem lebzeitigen Widerspruch gegen die postmortale Organentnahme gilt die Zustimmung zur postmortalen Organspende – zumindest im Regelfall – als erteilt) ersetzen und zusätzlich den Einsatz von Transplantationskoordinatoren optimieren würde345. Auch über die Abschaffung der für die Lebend(organ)spende geltenden Spenderkreisbeschränkungen des § 8 Abs. 1 S. 2 TPG346, wonach ausschließlich bestimmte Verwandte des Organempfängers oder dem Organempfänger in besonderer Verbundenheit nahestehende Personen zur Lebendspende berechtigt sind, ließe sich die Organknappheit verringern. Somit ist der Staat aufgrund des Gestaltungsspielraums, der ihm bei der Wahrnehmung seiner grundrechtlichen Schutzpflichten zukommt – selbst bei Unterstellung einer aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG folgenden Pflicht zur Schaffung eines bedarfsgerechten Transplantationssystems, aus welcher sich für den Einzelnen ein (durch den Vorbehalt des Möglichen begrenzter) originärer Leistungsanspruch auf Zuteilung eines Organs ergibt – nicht verpflichtet, 342

342  Eingeführt durch das „Gesetz zur Regelung der Entscheidungslösung im Transplantationsgesetz“ vom 12.07.2012 (BGBl. I, S. 1504). 343  Dannecker/Streng, in: Festschrift für Wolf Schiller, S. 127 (134). 344  Im Grundsatz gilt die Einführung einer Widerspruchslösung als verfassungsrechtlich zulässiger Weg zur Steigerung des Organaufkommens (Bader, Organmangel und Organverwaltung, S. 48 ff.; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 1, Rn. 206 (39. Lfg. 2001); Kluth/Sander, DVBl. 1996, 1285 (1291); Neft, MedR 2013, 82 (84). 345  Die hohen Zahlen an postmortalen Organspenden, die in Spanien zu verzeichnen sind, werden nicht ausschließlich auf die dort geltende Widerspruchslösung zurückgeführt, sondern insbesondere auch auf die hervorragende Organisation des Einsatzes von Transplantationskoordinatoren (Klinkhammer/Hibbeler, DÄBl. 104 (2007), A -1464). 346  Näher zur Verfassungsmäßigkeit der Spenderkreisbeschränkungen: Esser, in: Höfling, TPG, § 8, Rn. 87 ff.; Gutmann, in: Schroth et al., TPG, § 8, Rn. 27 ff.

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

die Verweigerung einer Lebend(organ)spende (durch einen LebensschutzGaranten) zu pönalisieren. Vielmehr wäre der Staat hierzu noch nicht einmal befugt. Denn der Staat bedarf auch bei der Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten, wenn er dabei in Rechte Dritter eingreift, einer gesetzlichen Grundlage347, die den Anforderungen der Verfassung genügt und insbesondere dem aus der Abwehrdimension der Grundrechte resultierenden Verhältnismäßigkeitsprinzip Rechnung trägt348. Eine (strafbewehrte) Verpflichtung zur Lebend(organ)­ spende würde jedoch das – zugunsten des unfreiwilligen Spenders eingreifende – Selbstbestimmungsrecht (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG)349 verletzten und nach anderer Auffassung sogar gegen die Menschenwürdegarantie350 verstoßen, da in dem staatlichen Zwang zur solidarischen Aufopferung des eigenen Lebens oder bedeutender eigener Gesundheitswerte eine Degradierung des Menschen zum Objekt staatlichen Handelns liegt351. Für die strafrechtliche Bewertung des „Nierenspende-Falls“ und vergleichbarer Konstellationen folgt hieraus, dass das Grundrecht auf Leben gerade keine Auslegung der §§ 212, 13 (34) StGB, §§ 323 c (34) StGB mit dem Inhalt gebietet, dass sich eine eine Lebensschutz-Garantenstellung besitzende Person einer rechtswidrigen Tötung durch Unterlassen bzw. einer rechtswidrigen Unterlassenen Hilfeleistung strafbar macht, wenn diese es unterlässt, einem an Organversagen leidenden Menschen ein überlebenswichtiges Organ zu spenden. Vielmehr steht die Verfassung einer derartigen Norminterpreta­ tion sogar zwingend entgegen, da eine solche das Selbstbestimmungsrecht des unfreiwilligen Spenders und nach anderer Auffassung sogar dessen Menschenwürde verletzen würde. Außerdem würde eine derartige Auslegung auch gegen den (aus dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip abgeleiteten352 und auch für die Judi347  BVerfG NJW 1989, 3269; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 92; Lorenz, in: BK, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 542 (157. Aktualisierung 2012). 348  Calliess, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. 2, § 44, Rn. 18 ff.; 29 ff.; Klein, NJW 1989, 1633 (1638); Lang, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 2, Rn. 76; Lorenz, in: BK, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 528 (157. Aktualisierung 2012); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2, Rn. 86. 349  Augsberg, in: Höfling, TPG, § 8, Rn. 9; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2, Rn. 206 (39. Lfg. 2001); Schroth, in: Schroth et al., TPG, § 19, Rn. 46; im Ergebnis auch: Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 207. 350  Dreier, in: Dreier, GG, Art. 1 Abs. 1, Rn. 145 wohl auch: Erb, in: MüKo, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 197. 351  Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Art. 1, Rn. 96 (55.  Lfg. 2009). 352  BVerfGE 101, 1 (34); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 20, Rn. 46; SchulzeFielitz, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 20, Rn. 106 ff.; differenzierend: Herzog/Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20, Rn. 72 (71.  Lfg. 2014).



A. Behandlungspflichten des Arztes233

kative verbindlichen353) Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes, in der Ausprägung, die dieser durch die Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG gefunden hat, verstoßen. Danach ist das Parlament verpflichtet, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen, soweit diese einer Normierung zugänglich sind, selbst und durch Gesetz zu regeln, wobei die Regelungen umso bestimmter sein müssen, je größer die Intensität der Grundrechtsbetroffenheit ist.354 Eine Auslegung der §§ 212, 13 (34) StGB; §§ 323  c (34) StGB dahingehend, dass die Verweigerung einer Lebend(organ)­spende durch einen Lebensschutzgaranten einen rechtswidrigen Totschlag durch Unterlassen oder eine rechtswidrige Unterlassene Hilfeleistung darstellt, würde zu einer Rechtslage führen, die massiv in das Selbstbestimmungsrecht bzw. Menschenwürde des Spenders (= Garanten) eingreift (und diese Grundrechte auch verletzen würde). Eine solche Rechtslage wäre mit den soeben beschriebenen Anforderungen des Grundsatzes vom Vorbehalt des Gesetzes nur vereinbar, wenn eine gesetzliche Regelung vorhanden wäre, welche den Strafnormadressaten explizit zur Duldung einer gegen seinen Willen erfolgenden Organentnahme verpflichten würde. Eine solch hohen Bestimmtheitsanforderungen genügende Gesetzesnorm existiert jedoch nicht – und dürfte angesichts ihrer Verfassungswidrigkeit auch nicht erlassen werden. Insofern steht einer Auslegung der §§ 212, 13 (34), §§ 323 c (34) StGB dahingehend, dass die Verweigerung einer Lebend(organ)­spende durch einen Lebensschutz-Garanten einen rechtwidrigen Totschlag bzw. eine rechtswidrige unterlassene Hilfeleistung darstellt, nicht nur das Selbstbestimmungsrecht bzw. die Menschenwürdegarantie entgegen, sondern auch der (Verfassungs-)Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes. Zudem würde eine Strafrechtsauslegung, wonach eine durch einen Lebensschutz-Garanten verweigerte Lebend(organ)spende strafbar ist, gegen den Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes verstoßen, da § 19 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 b) TPG eine gegen oder ohne den Willen des Spenders erfolgende Lebend(organ)entnahme explizit unter Strafe stellen. Aus den soeben beschriebenen Verfassungsgrundsätzen ist jedoch nicht nur abzuleiten, dass niemand (mittels Strafrecht) zu einer Lebend(organ)­ spende gezwungen werden kann. Vielmehr folgt aus diesen zwingend auch der im Strafrecht überwiegend355 anerkannte allgemeine Auslegungsgrund353  Hillgruber,

in: Maunz/Dürig, GG, Art. 97, Rn. 26 (52.  Lfg. 2008). in: Sachs, GG, Art. 20, Rn. 117. 355  Fischer, StGB, § 13, Rn. 82; Rengier, Strafrecht AT, § 49, Rn. 49; Stree/ Bosch, in: Schönke/Schröder, StGB, Vor §§ 13 ff., Rn. 156; Weigend, in: LK, StGB, Bd. 1, § 13, Rn. 69. 354  Sachs,

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

satz, wonach niemand – noch nicht einmal eine Person mit LebensschutzGarantenstellung und erst recht keine Person, die lediglich Hilfspflichten nach § 323 c StGB treffen – gezwungen werden darf, sein Leben oder bedeutende Gesundheitswerte solidarisch zur Rettung eines anderen Menschen aufzuopfern, zumindest sofern keine besonderen Gefahrtragungspflichten zu bejahen sind: Einer (strafbewehrten) Verhaltenspflicht, die es beinhaltet, das eigene Leben oder bedeutende eigene Gesundheitswerte im Interesse der Rettung eines anderen zu riskieren, steht das andernfalls in seinem Menschenwürdekern verletzte Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit entgegen und nach anderer Auffassung sogar die Menschenwürdegarantie. Denn in dem staatlichen Zwang zur solidarischen Aufopferung des eigenen Lebens oder bedeutender Gesundheitswerte, liegt eine Degradierung des Menschen zum Objekt staatlichen Handelns356. (c) Keine verfassungsrechtliche (Schutz-)Pflicht zur Legitimierung jeder zur Bewahrung menschlichen Lebens erforderlichen Verletzung strafrechtlich geschützter Rechtsgüter Es trifft den Staat keine pauschale Pflicht, jede Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsguts, die zur Bewahrung menschlichen Lebens erforderlich ist, zu legitimieren. Eine solche pauschale Legitimierungsverpflichtung kann zwar nicht mit dem Argument abgelehnt werden, dass staatliche (Lebens-)Schutzpflichten auf private Übergriffe (auf das Leben anderer) limitiert sind und der hier in Frage stehenden Fallgruppe (zur Lebensrettung erforderliche Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsguts) nicht nur Konstellationen unterfallen, in denen das, im Wege der Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsguts, gerettete Leben durch einen Angriff im Sinne des § 32 StGB bedroht worden war (i. e. Notwehrkonstellationen), sondern insbesondere auch – regelmäßig im Rahmen des Notstands diskutierte – Fallkonstellationen unterfallen, in denen die Verletzung des strafrechtlich geschützten Rechtsgut unausweichlich war, um ein durch eine objektive Gefährdung (i. e. Erkrankung, Selbstverschulden etc.) bedrohtes Leben zu retten. Denn nach zutreffender herrschender Meinung357 bestehen staatliche Schutzpflichten zugunsten des menschlichen 356  Herdegen,

in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Art. 1, Rn. 96 (55.  Lfg. 2009). 115, 25 (49); Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 45 ff. (43. Lfg. 2004); Lang, in: Epping/Hillgruber, Beck’scher Online-Kommentar, GG, Art. 2, Rn. 75 (1.9.2014); Lorenz, in: BK, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 516 ff. (157. Aktualisierung 2012); Sachs, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 38; SchulzeFielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2, Rn. 76; Steiner, in: Spickhoff, Medizinrecht, Art. 2, Rn. 13; a. A. Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, § 191, Rn.  192 ff.; Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 188. 357  BVerfGE



A. Behandlungspflichten des Arztes235

Lebens nicht nur im Falle durch private Dritte geschaffener Lebensgefahren, sondern darüberhinausgehend auch bei objektiven Gefährdungen, also bei Lebensgefahren, die z. B. auf Erkrankungen, Naturkatastrophen oder Selbstgefährdungen beruhen. Dass den Staat keine Verpflichtung trifft, jede Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsguts zu legitimieren, die zur Bewahrung mensch­ lichen Lebens unerlässlich ist, resultiert vielmehr aus der Dogmatik grundrechtlicher Schutzpflichten. Danach kommt dem Staat bei der Erfüllung seiner Schutzpflichten – selbst solcher zugunsten des menschlichen Lebens – ein weiter (nur durch das Untermaßverbot beschränkter) Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu358, der sich regelmäßig nicht dahin verdichtet, dass nur eine ganz bestimmte gesetzliche Regelung oder staat­ liche Maßnahme rechtmäßig wäre359. Außerdem bedarf der Staat auch bei der Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten (selbst solcher zugunsten des menschlichen Lebens), wenn er dabei in Rechte Dritter eingreift, einer gesetzlichen Grundlage360, die den Anforderungen der Verfassung genügt und insbesondere dem Verhältnismäßigkeitsprinzip Rechnung trägt, das aus der Abwehrdimension der (nicht zwingend Verfassungshöchstwerte repräsentierenden) Grundrechte resultiert361. Es kann deshalb die Situation eintreten, dass der Staat die einzige Maßnahme unterlassen muss, die die Bewahrung des zu schützenden Rechtsguts gestattet. Dies bedeutet, dass der Staat weder jede zur Lebensrettung begangene Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsguts gestatten muss, noch dazu auch nur befugt ist.

358  BVerfGE 46, 160 (164); 56, 54 (80 f.); 77, 381 (405); 79, 174 (200); 85, 191 (212); 92, 26 (46); 96, 56 (64); Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, § 191, Rn. 293 ff.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 92; Klein, NJW 1989, 1633 (1637); Lang, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 2, Rn. 76 f.; Lorenz, in: BK, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 522 (157. Aktualisierung 2012); SchulzeFielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2, Rn. 86; Stern, DÖV 2010, 241 (247 f.). 359  BVerfGE 46, 160 (165); 56, 54 (80); 77, 170 (214); 79, 174 (202); 115, 118 (160); 121, 317 (360); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 92; Lorenz, in: BK, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 522 (157. Aktualisierung 2012); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 2 Abs. 2, Rn. 90. 360  BVerfG NJW 1989, 3269; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 92; Lorenz, in: BK, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 542 (157. Aktualisierung 2012). 361  Calliess, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. 2, § 44, Rn. 18 ff.; 29 ff.; Klein, NJW 1989, 1633 (1638); Lang, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 2, Rn. 76; Lorenz, in: BK, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 528 (157. Aktualisierung 2012); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2, Rn. 86.

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

Für die Strafrechtsauslegung folgt aus der soeben beschriebenen Dogmatik grundrechtlicher Schutzpflichten, dass die Strafgerichte weder verpflichtet noch auch nur berechtigt sind, jede zur Rettung menschlichen Lebens be­ gangene Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsguts – etwa über entsprechende Auslegung der Rechtfertigungsgründe (§ 34 StGB etc.) – zu legitimieren: Die Verfassung erzwingt keine Gesetzesinterpretation (insbesondere des § 34 StGB) dahingehend, dass jede Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsguts, die zur Lebensrettung erforderlich war, zulässig ist. Etwas anderes gilt nur, sofern ausnahmsweise eine auf die Legitimierung dieser Verhaltensweise verengte Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG existiert (wie dies z. B. der Fall ist bei tödlich wirkenden Notwehr- bzw. Nothilfemaßnahmen zur Verteidigung gegen lebensbedrohliche Angriffe, siehe Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (a) (bb)) oder der Gesetzgeber eine explizite Entscheidung für die Legitimierung dieser Verhaltensweise getroffen hat. Letzteres folgt aus dem in Art. 103 Abs. 2 GG normierten Analogieverbot, das nach zutreffender herrschender Meinung362 nicht nur auf die Deliktstatbestände des Besonderen Teils, sondern auch auf Rechtfertigungstatbestände anwendbar ist bzw. aus dem Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes, sofern sich die Zulässigkeit einer zur Lebensrettung erforderlichen Verletzung ­eines strafrechtlich geschützten Rechtsguts aus Gesetzesnormen ergibt, die nicht zum Haupt- und Nebenstrafrecht gehören, sondern dem öffentlichen Recht und dem Zivilrecht zuzuordnen sind (näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (a)). Eindeutig verboten ist den Strafgerichten die Einordnung einer zur Bewahrung menschlichen Lebens begangenen Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsguts als zulässig, wenn durch eine derartige Auslegung eine explizite (straf-)gesetzgeberische Entscheidung unterlaufen wird, die z. B. in einer rechtlichen Regelung oder einem rechtlich geregelten Verfahren zum Ausdruck kommt, in welche die Lebensgefahr einkalkuliert war. Dies ergibt sich aus dem Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes. Insbesondere aber, wenn die Bewertung einer zur Lebensrettung erforderlichen Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsguts als zulässig, einen unverhältnismäßigen Eingriff in (nicht zwingend Verfassungshöchstwerte repräsentierende) grundrechtliche Positionen des Geretteten, der durch die (verletzte) Strafnorm geschützten Person oder eines unbeteiligten Dritten etc., bedeuten würde (und somit verfassungswidrig wäre), ist dem – an das Gebot zur verfassungskonformen Auslegung des (Straf-)Rechts gebundenen – Strafrichter eine derartige Rechtsauslegung untersagt. Ein Verfassungsverstoß, 362  Lenckner/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, Vor §§ 32 ff., Rn. 25 mit weiteren Nachw.



A. Behandlungspflichten des Arztes237

der die Legitimierung einer im Interesse der Lebensrettung durchgeführten Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsgut sperrt, kann sich insbesondere in Konstellationen ergeben, in denen eine Notstandsrechtfertigung zur Diskussion steht. Denn nach der überzeugenden, von Erb363 vertretenen Auffassung, berührt eine Notstandsrechtfertigung die Grundrechte des Notstandsopfers nicht bloß in ihrer Schutzpflichtendimen­ sion, sondern stellt vielmehr einen Grundrechtseingriff dar: Durch die Rechtfertigung einer gegen das Notstandsopfer gerichteten Notstandshandlung verpflichte der Staat einen Unbeteiligten (Notstandsopfer) dazu, sich seines Eigentums, seiner Freiheit, seiner körperlichen Unversehrtheit oder sogar seines Lebens berauben zu lassen364. Hierdurch wirke der Staat wissentlich darauf hin, dass eine Verteidigung unterbleibe und das Rechtsgut verletzt werde und übernehme infolgedessen eine Mitverantwortung für die Rechtsgutsverletzung, die es rechtfertige, die Verpflichtung zur Duldung einer privaten Rechtsgutsverletzung als staatlichen Eingriff zu qualifizieren.365 Die Qualifizierung einer zur Rettung menschlichen Lebens begangenen Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsguts als rechtmäßig, kann den Strafgerichten aber auch bereits dann versperrt sein, wenn diese Auslegung zwar (in Ermangelung hinreichender Eingriffsintensität) keine Grundrechtsverletzung bewirken würde, jedoch einen Grundrechtseingriff: Nach dem (aus dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip abgeleiteten366 und auch für die Judikative verbindlichen367) Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes bedürfen staatliche Eingriffe in grundrechtliche Betätigungen Privater – selbst wenn sie der Erfüllung staatlicher Schutzpflichten dienen – stets einer gesetzlichen Grundlage368. Daher ist die Norminterpretation, wonach eine zur Lebensrettung begangene Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsguts zulässig ist, bereits verboten, wenn diese Auslegung in die Grundrechte einer Person (z. B. in Grundrechte des durch die Rechtsgutsverletzung Geretteten, der durch die Strafnorm zu schützenden Person oder eines unbeteiligten Dritten, wie z. B. des Notstandsopfers) auch nur eingreift und es an einer diesen Eingriff deckenden gesetzlichen Grundlage fehlt. Nichts anderes gilt, wenn zwar eine gesetzliche Grundlage vorhanden ist, diese jedoch angesichts der Intensität des Grundrechtseingriffs nicht be363  Erb,

NStZ 2005, 593 (594 f.). NStZ 2005, 593 (595). 365  Erb, NStZ 2005, 593 (594 f.). 366  BVerfGE 101, 1 (34); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 20, Rn. 46; SchulzeFielitz, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 20, Rn. 106 ff.; differenzierend: Herzog/Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20, Rn. 72 (71.  Lfg. 2014). 367  Hillgruber, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 97, Rn. 26 (52.  Lfg. 2008). 368  BVerfG NJW 1989, 3269; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 92; Lorenz, in: BK, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 542 (157. Aktualisierung 2012). 364  Erb,

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

stimmt genug ist, um diesen legitimieren zu können. Denn die Anforderungen an gesetzliche Grundlagen zur Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen ergeben sich aus dem Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes, in der Ausprägung, die dieser durch die Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG gefunden hat. Danach ist das Parlament verpflichtet, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen, soweit diese einer Normierung zugänglich sind, selbst und durch Gesetz zu regeln, wobei die Regelungen umso bestimmter sein müssen, je größer die Intensität der Grundrechtsbetroffenheit ist.369 Zur Verdeutlichung sollen folgende Beispiele dienen: (aa) Lebensrettende Zwangsheilung beim entscheidungsfähigen Patienten Es besteht keine aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG abgeleitete staatliche Pflicht zur Legitimierung eines (lebensrettenden) ärztlichen Heileingriffs in die körperliche Integrität eines Patienten, sofern der Patient dem (ausschließlich zu seinem Schutz vorgenommenen) Eingriff in einem Zustand der Zurechnungsfähigkeit widersprochen hat370. Eine solche staatliche Verpflichtung besteht selbst dann nicht, wenn eine lebensbedrohliche Erkrankung vorliegt und die ärztliche Therapie auch noch so medizinisch indiziert und erfolgversprechend ist (Bsp.: durch Zeugen Jehovas verweigerte Bluttransfusion). Denn den Staat trifft nach zutreffender herrschender Meinung371 keine Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, die darauf gerichtet ist, einen freiverantwortlich handelnden Patienten einer Zwangsbehandlung zu unterziehen, die ausschließlich dem Schutz des Patienten dient (anders bei im Interesse der Volksgesundheit vorgenommen Zwangsbehandlungen). Der Staat wäre noch nicht einmal berechtigt, den Patienten in der beschriebenen Situation vor sich selbst zu retten, sei es durch eine durch staatliche Stellen angeordnete Zwangsheilung (z. B. durch Pönalisierung des ärztlichen Unterlassens einer lebensrettenden Zwangsheilung, siehe Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (b) (cc)), sei es durch die hier in Frage stehende (Notstands-) Legitimierung einer (§ 223 StGB unterfallenden) ärztlichen Zwangsheilung. Denn beide Maßnahmen würden gegen das verfassungsrechtlich garantierte (Abwehr-)Recht auf selbstbestimmte Lebensbeendigung verstoßen, das in der Literatur teils aus der Abwehrdimension des Grundrechts auf Leben, 369  Sachs,

in: Sachs, GG, Art. 20, Rn. 117. in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 206. 371  Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 91 ff.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 101; Lorenz, in: BK, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 576 (157. Aktualisierung 2012); Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 206. 370  Murswiek,



A. Behandlungspflichten des Arztes239

teils aus dem status negativus der allgemeinen Handlungsfreiheit oder der Abwehrdimension der Menschenwürde abgeleitet wird (vgl. Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (b) (bb)). Dass das (Abwehr-)Recht auf Lebensbeendigung entscheidungsfähige Patienten vor einer durch staatliche Stellen angeordneten Zwangsheilung schützt, die ausschließlich im vermeint­lichen Interesse des entscheidungsfähigen Patienten vorgenommen wird, leuchtet unmittelbar ein. Jedoch steht dieses Abwehrrecht auch einer (Notstands-)Legitimierung einer gegen § 223 StGB verstoßenden, ausschließlich zum Schutz des entscheidungsfähigen Patienten durchgeführten ärztlichen Zwangsheilung entgegen. Denn durch die staatliche Legitimierung einer solchen Zwangsheilung wirkt der Staat bewusst darauf hin, dass sich der Patient gegen den privaten (ärztlichen) Übergriff auf sein Recht auf Lebensbeendigung nicht verteidigt und dieses Recht verletzt wird und übernimmt infolgedessen eine Mitverantwortung für die Rechtsverletzung, die es rechtfertigt die Verpflichtung zur Duldung dieser Rechtsverletzung als staatlichen Eingriff zu bewerten.372 Eine staatliche Verpflichtung und Berechtigung zur Legitimierung (lebensrettender) ärztlicher Zwangsheileingriffe zum Schutz entscheidungsfähiger Patienten, scheitern jedoch nicht nur am Abwehrrecht auf selbstbestimmte Lebensbeendigung, sondern – angesichts des invasiven Charakters von Zwangsheilungen – auch an dem anderenfalls verletzten Selbstbestimmungsrecht des Patienten, das Freiheitsschutz im Bereich der leiblich-seelischen Integrität des Menschen garantiert und somit auch dem (zurechnungsfähigen) Kranken insoweit die volle Selbstbestimmung gewährt373 (vgl. Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (a) (dd)). Einer staatlichen Verpflichtung und Befugnis zur Legitimierung von Zwangsheilungen, die ausschließlich im vermeintlichen Interesse entscheidungsfähiger Patienten erfolgen, steht zudem auch entgegen, dass nach herrschender Meinung374 aus der Schutzpflichtdimension des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit sogar eine Pflicht zur Sanktionierung (invasiver) ärztlicher Eingriffe folgt, die nicht durch eine Einwilligung des Patienten gedeckt sind375. Das Grundrecht auf Leben gebietet daher nicht die §§ 223 (34) StGB sowie die §§ 239, 240 (34) StGB so auszulegen, dass eine (lebensrettende) Zwangsheilung, die vorgenommen wurde, um einen entscheidungsfähigen 372  Angelehnt an Erb, NStZ 2005, 593 (594 f.), worin eine Notstandsrechtfertigung einen Grundrechtseingriff in der Notlage unbeteiligten Notstandsopfers darstellt. 373  BVerfGE 52, 131 (174). 374  Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 206; Starck, Starck, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2, Rn. 237. 375  Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 206; Starck, Starck, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2, Rn. 237.

begründet wird, weshalb Rechtspositionen des an in: von Mangoldt/Klein/ in: von Mangoldt/Klein/

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

Patienten vor sich selbst zu retten, zulässig ist. Vielmehr würde eine solche Norminterpretation gegen die oben genannten, zugunsten des Patienten eingreifenden Grundrechte ((Abwehr-)Recht auf selbstbestimmte Lebensbe­ endigung, das die Literatur aus der Abwehrdimension des Grundrechts auf Leben, der allgemeinen Handlungsfreiheit oder der Menschenwürde ableitet; Selbstbestimmungsrecht des Patienten) verstoßen. Auch der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes, in der Gestalt, die dieses Prinzip durch die Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG gefunden hat, steht einer solchen Auslegung entgegen, da die Rechtsordnung keine Ermächtigungsgrundlage zur Verfügung stellt, die die Ärzteschaft explizit zur Vornahme lebensrettender Zwangstherapien zugunsten entscheidungsfähiger Patienten ermächtigt (näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (b) (aa)).

(bb) Erzwungene Lebend(organ)spende Auch trifft den Staat keine (aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG abgeleitete) Pflicht, eine Lebend(organ)entnahme zu legitimieren, der der Organspender – entgegen § 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 b) TPG – nicht zugestimmt hatte und die daher den Körperverletzungstatbestand (§ 223 StGB) erfüllt sowie gegen § 19 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 b) TPG verstößt. Das gilt selbst dann, wenn die erzwungene Organentnahme aufgrund akuter Knappheit an Spenderorganen die einzige Möglichkeit darstellen würde, ein akut bedrohtes Menschenleben zu retten und der (unfreiwillige) Spender durch die erzwungene Lebend(organ)spende keiner nennenswerten Lebensgefahr oder unzumutbaren Gesundheitsgefahren ausgesetzt wird. Gegen die Annahme einer staatlichen Verpflichtung zur Gestattung einer Organentnahme gegen den Willen des Spenders spricht bereits, dass sehr fraglich ist, ob sich aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG überhaupt eine staatliche Pflicht zur Schaffung eines bedarfsgerechten Transplantationssystems ergibt, aus welcher sich für den Einzelnen ein – durch den Vorbehalt des rechtlich und tatsächlich Möglichen begrenzter – originärer Leistungsanspruch auf Zuteilung eines Organs ergibt376 oder ob lediglich ein (aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip abgeleiteter) 376  Eine solche Pflicht bejahend: Brech, Triage und Recht, S. 238; Holznagel, DVBl. 1997, 393 (399), wonach die aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG abgeleitete Schutzpflicht es gebietet, zur Vermittlung der Spenderorgane ein „möglichst effektives ­Allokationssystem zu etablieren“; Junghanns, Verteilungsgerechtigkeit in der Transplantationsmedizin, S.  45 ff.; Seewald, VerwArch 88 (1997), 199 (205 ff.), wonach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG es zwingend gebietet, eine bedarfsgerechte Transplantationsquote anzustreben; Junghanns, Verteilungsgerechtigkeit in der Transplantationsmedizin, S.  45 ff.



A. Behandlungspflichten des Arztes241

derivativer Teilhabeanspruch am vorhandenen Organaufkommen existiert, wie von der herrschenden Meinung vertreten wird377. Aber selbst wenn man eine aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG folgende staatliche Pflicht zur Schaffung eines bedarfsgerechten Transplantationssystems und einen hieraus folgenden originären Leistungsanspruch auf Zuteilung eines Organs anerkennen würde, ließe sich hieraus keine staatliche Verpflichtung ableiten, eine zur Rettung eines andernfalls verlorenen Menschenlebens erfolgende Zwangsorganentnahme zu legitimieren. Dies folgt aus der Dogmatik grundrechtlicher Schutzpflichten. Danach kommt dem Staat bei der Erfüllung seiner Schutzpflichten – selbst solcher zugunsten des menschlichen Lebens – ein weiter (nur durch das Untermaßverbot beschränkter) Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu378, der sich regelmäßig nicht dahin verdichtet, dass nur eine ganz bestimmte gesetzliche Regelung oder staatliche Maßnahme rechtmäßig wäre379, es sei denn, dass das Schutzgut ausschließlich durch diese eine Maßnahme sachgerecht geschützt werden kann und die ergriffenen Maßnahmen gänzlich ungeeignet oder zur Erreichung des gebotenen Schutzziels völlig unzulänglich sind380. Die in den letzten Jahren zur Steigerung des Organaufkommens unternommenen gesetzgeberischen Maßnahmen381 – wozu neben der Verbesserung des versicherungsrechtlichen Status des Lebendspenders382 insbesondere die Ein-

377  So die h. M.: Bader, Organmangel und Organverteilung, S. 297 ff.; Gutmann/ Fateh-Moghadam, in: Gutmann et al., Grundlagen einer gerechten Organverteilung, S. 59 (68); Gutmann, in: Schroth et al., TPG, § 12, Rn. 43; ders., in: Höfling, Die Regulierung der Transplantationsmedizin in Deutschland, S. 113 (116). 378  BVerfGE 46, 160 (164); 56, 54 (80 f.); 77, 381 (405); 79, 174 (200); 85, 191 (212); 92, 26 (46); 96, 56 (64); Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, § 191, Rn. 293 ff.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 92; Klein, NJW 1989, 1633 (1637); Lang, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 2, Rn. 76 f.; Lorenz, in: BK, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 522 (157. Aktualisierung 2012); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2, Rn. 86; Stern, DÖV 2010, 241 (247 f.). 379  BVerfGE 46, 160 (165); 56, 54 (80); 77, 170 (214); 79, 174 (202); 115, 118 (160); 121, 317 (360); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 92; Lorenz, in: BK, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 522 (157. Aktualisierung 2012); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 2 Abs. 2, Rn. 90. 380  BVerfGE 79, 174 (202); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 92; Lorenz, in: BK, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 522 (157. Aktualisierung 2012); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2, Rn. 90. 381  „Gesetz zur Änderung des Transplantationsgesetzes“ vom 21.07.2012 (BGBl. I, S. 1601) sowie „Gesetz zur Regelung der Entscheidungslösung im Transplanta­ tionsgesetz“ vom 12.07.2012 (BGBl. I, S. 1504). 382  Näher hierzu: Dannecker/Streng, in: Festschrift für Wolf Schiller, S. 127 (129 ff.); Neft, MedR 2013, 82 (87 ff.).

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

führung der „Entscheidungslösung“383 gehört, die die postmortale Organentnahme zwar keinen geringeren Anforderungen als die zuvor geltende „erweiterte Zustimmungslösung“ unterwirft, jedoch gewährleistet, dass um die lebzeitige Zustimmung des Spenders intensiver geworben wird als bisher384 – können jedoch schwerlich als völlig ungeeignet oder unzureichend qualifiziert werden, wenngleich sich die gewünschten Erfolge aufgrund des Transplantationsskandals, der das Vertrauen der Bevölkerung in die ­Transplantationsmedizin erschüttert hat, bislang noch nicht eingestellt haben. Außerdem gäbe es neben der Legitimierung einer erzwungenen Le­ bend(organ)­spen­de noch andere effektive Möglichkeiten, Spenderorgane in hinreichender Zahl zu generieren. So ließe sich die Organknappheit wohl beheben (jedenfalls aber die Zahl der postmortalen Organspenden ganz erheblich steigern), wenn man die geltende „Entscheidungslösung“ durch eine verfassungsgemäß ausgestaltete385 „Widerspruchslösung“ (i. e. bei fehlendem Widerspruch gegen die Organspende gilt die Zustimmung zur postmortalen Organspende – zumindest im Regelfall – als erteilt) ersetzen und zusätzlich den Einsatz von Transplantationskoordinatoren optimieren würde386. Auch über die Abschaffung der für die Lebend(organ)spende geltenden Spenderkreisbeschränkungen des § 8 Abs. 1 S. 2 TPG387, wonach ausschließlich bestimmte Verwandte des Organempfängers oder dem Organempfänger in besonderer Verbundenheit nahestehende Personen zur Lebendspende berechtigt sind, ließe sich die Organknappheit verringern. Somit ist der Staat aufgrund des Gestaltungsspielraums, der ihm bei der Wahrnehmung seiner grundrechtlichen Schutzpflichten zukommt – selbst bei Unterstellung einer aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG folgenden Pflicht zur Schaffung eines bedarfsgerechten Transplantationssystems, aus welcher sich für den Einzelnen ein (durch den Vorbehalt des Möglichen begrenzter) originärer Leistungsanspruch auf Zuteilung eines Organs ergibt – nicht verpflichtet, 383  Eingeführt durch das „Gesetz zur Regelung der Entscheidungslösung im Transplantationsgesetz“ vom 12.07.2012 (BGBl. I, S. 1504). 384  Dannecker/Streng, in: Festschrift für Wolf Schiller, S. 127 (134). 385  Im Grundsatz gilt die Einführung einer Widerspruchslösung als verfassungsrechtlich zulässiger Weg zur Steigerung des Organaufkommens (Bader, Organmangel und Organverwaltung, S. 48 ff.; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 1, Rn. 206 (39. Lfg. 2001); Kluth/Sander, DVBl. 1996, 1285 (1291); Neft, MedR 2013, 82 (84). 386  Die hohen Zahlen an postmortalen Organspenden, die in Spanien zu verzeichnen sind, werden nicht ausschließlich auf die dort geltende Widerspruchslösung zurückgeführt, sondern insbesondere auch auf die hervorragende Organisation des Einsatzes von Transplantationskoordinatoren (Klinkhammer/Hibbeler, DÄBl. 104 (2007), A-1464). 387  Näher zur Verfassungsmäßigkeit der Spenderkreisbeschränkungen: Esser, in: Höfling, TPG, § 8, Rn. 87 ff.; Gutmann, in: Schroth et al., TPG, § 8, Rn. 27 ff.



A. Behandlungspflichten des Arztes243

eine erzwungene Lebend(organ)spende zu legitimieren, auch wenn diese zur Rettung eines andernfalls verlorenen Menschenlebens erforderlich ist. Vielmehr wäre der Staat zur Legitimierung einer Zwangsorganentnahme noch nicht einmal befugt. Denn der Staat bedarf auch bei der Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten, wenn er dabei in Rechte Dritter eingreift, einer gesetzlichen Grundlage388, die den Anforderungen der Verfassung genügt und insbesondere dem aus der Abwehrdimension der Grundrechte resultierenden Verhältnismäßigkeitsprinzip Rechnung trägt389. Eine (Notstands-)Legitimierung einer erzwungenen Lebend(organ)entnahme würde indes das Selbstbestimmungsrecht390 des (an der Notlage des Organempfängers unbeteiligten) unfreiwilligen Spenders verletzen und nach anderer Auffassung sogar dessen Menschenwürde391, da in dem staatlichen Zwang zur solidarischen Aufopferung des eigenen Lebens oder bedeutender eigener Gesundheitswerte eine Degradierung des Menschen zum Objekt staatlichen Handelns liegt392. (Zur Begründung, weshalb die Abwehrdimension tangiert ist, wenn der Staat dem an der Notlage des Notstands­täters unbeteiligten Notstandopfer durch die Notstandsrechtfertigung Duldungspflichten auferlegt, siehe Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (c)). Das Grundrecht auf Leben gebietet daher keine Auslegung des § 19 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 b) TPG (§ 34 StGB) sowie der §§ 223 (34) StGB mit dem Inhalt, dass eine erzwungene Lebend(organ)spende zulässig ist, selbst dann nicht, wenn die erzwungene Lebend(organ)spende die einzige Möglichkeit zur Rettung eines andernfalls verlorenen Menschenlebens darstellt. Vielmehr steht das – zugunsten des unfreiwilligen Spenders eingreifende – Selbstbestimmungsrecht bzw. die Menschenwürdegarantie einer derartigen Norminterpretation zwingend entgegen.

388  BVerfG NJW 1989, 3269; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 92; Lorenz, in: BK, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 542 (157. Aktualisierung 2012). 389  Calliess, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. 2, § 44, Rn. 18 ff.; 29 ff.; Klein, NJW 1989, 1633 (1638); Lang, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 2, Rn. 76; Lorenz, in: BK, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 528 (157. Aktualisierung 2012); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2, Rn. 86. 390  Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2, Rn. 206 (39.  Lfg. 2001); Schroth, in: Schroth et al., TPG, § 19, Rn. 46; im Ergebnis auch: Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 207; a. A. Dreier, in: Dreier, GG, Art. 1 Abs. 1, Rn. 145, der sogar eine Menschenwürdeverletzung annimmt. 391  Dreier, in: Dreier, GG, Art. 1 Abs. 1, Rn. 145 wohl auch: Erb, in: MüKo, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 197. 392  Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Art. 1, Rn. 96 (55.  Lfg. 2009).

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

Zudem würde eine derartige Auslegung gegen den aus dem Rechtsstaatsund Demokratieprinzip abgeleiteten393 und auch für die Judikative verbindlichen394 Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes verstoßen. Nach diesem Prinzip bedürfen staatliche Eingriffe in grundrechtliche Betätigungen Privater (selbst wenn sie der Erfüllung staatlicher Schutzpflichten dienen) stets einer gesetzlichen Grundlage395, die nach der Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG umso bestimmter zu sein hat, je größer die Intensität der Grundrechtsbetroffenheit ist396. Eine Legitimierung einer unfreiwilligen Lebend(organ)spende würde massiv in das / die – zugunsten des unfreiwilligen Spenders eingreifende – Selbstbestimmungsrecht bzw. Menschenwürde eingreifen, weshalb den geschilderten Anforderung nur eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage genügen würde, die den unfreiwilligen Spender explizit zur Duldung der mit der unfreiwilligen Organspende verbundenen Beeinträchtigungen verpflichtet. Aufgrund des Fehlens einer derartigen Regelung (die wegen Verstoßes gegen das Selbstbestimmungsrecht bzw. die Menschenwürdegarantie auch nicht erlassen werden dürfte), würde eine Norminterpretation, wonach die erzwungene Lebendorganspende zulässig ist, den Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes verletzen. Auch ein Verstoß gegen den Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes läge in einer Gesetzesauslegung, die lautet, dass eine erzwungene Organentnahme zulässig ist, da § 19 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 b) TPG eine gegen oder ohne den Willen des Spenders erfolgende Lebendorganentnahme explizit unter Strafe stellt. (cc) Postmortale Organentnahme entgegen dem Willen des Spenders Den Staat trifft keine aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG abgeleitete Pflicht, die postmortale Organentnahme (i. e. Organentnahme bei einer hirntoten Person) zu legitimieren, wenn die Explantationsvoraussetzungen des TPG nicht gegeben sind. Nach dem TPG ist die Organentnahme nur zulässig, wenn der Organspender der Organentnahme zu seinen Lebzeiten zugestimmt hatte oder – sofern keine entsprechende Erklärung des Organspenders vorliegt – die Organentnahme durch eine entsprechende Zustimmung der Angehörigen des Spenders gedeckt ist, die bei ihrer Entscheidung den mutmaßlichen 393  BVerfGE 101, 1 (34); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 20, Rn. 46; SchulzeFielitz, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 20, Rn. 106 ff.; differenzierend: Herzog/Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20, Rn. 72 (71.  Lfg. 2014). 394  Hillgruber, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 97, Rn. 26 (52.  Lfg. 2008). 395  BVerfG NJW 1989, 3269; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 92; Lorenz, in: BK, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 542 (157. Aktualisierung 2012). 396  Sachs, in: Sachs, GG, Art. 20, Rn. 117.



A. Behandlungspflichten des Arztes245

Willen des Organspenders zu beachten haben (§ 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 TPG bzw. § 4 Abs. 1 S. 2 u. 4 TPG, sog. „Entscheidungslösung“397). Dies gilt auch dann, wenn die postmortale „Zwangsorganentnahme“ die einzige Möglichkeit zur Rettung eines andernfalls verlorenen Menschenlebens darstellt. Gegen die Annahme einer staatlichen Verpflichtung zur Legitimierung einer postmortalen Organentnahme gegen den Willen des Spenders spricht bereits Folgendes: Es ist sehr fraglich, ob sich aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG überhaupt eine staatliche (Schutz-)Pflicht zur Schaffung eines bedarfsgerechten Transplantationssystems ableiten lässt, aus welcher sich für den Einzelnen ein – durch den Vorbehalt des rechtlich und tatsächlich Möglichen begrenzter – originärer Leistungsanspruch auf Zuteilung eines Organs ergibt398 oder ob lediglich ein (aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip abgeleiteter) derivativer Teilhabeanspruch am vorhandenen Organaufkommen existiert, wie von der herrschenden Meinung vertreten wird399. Aber selbst wenn man eine derartige Schutzpflicht bejahen würde, müsste eine staatliche Verpflichtung zur Gestattung einer Organentnahme gegen den (lebzeitigen) Willen des toten Spenders dennoch abgelehnt werden. Dies folgt aus den gleichen Gründen, aus denen auch eine staat­liche Verpflichtung zur Legitimierung einer erzwungenen Lebend(organ)­entnahme abzulehnen ist (Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (c) (bb)). Dem Staat kommt bei der Erfüllung seiner Schutzpflichten – selbst solcher zugunsten des menschlichen Lebens – ein weiter (nur durch das Untermaßverbot beschränkter) Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu400, der sich regelmäßig nicht 397  Eingeführt durch das am 01.11.2012 in Kraft getretene „Gesetz zur Regelung der Entscheidungslösung im Transplantationsgesetz“ vom 12.07.2012, BGBl. I S. 1504. Die „Entscheidungslösung“ ersetzt die vorher geltende „erweiterte Zustimmungslösung“, unterwirft die postmortale Organentnahme jedoch keinen anderen, insbesondere keinen geringeren Anforderungen als die „erweiterte Zustimmungs­ lösung“ (Dannecker/Streng/Ganten, in: Kräusslich/Schluchter, Marsiliuskolleg 2011/ 2012, 31 (31); Neft, MedR 2013, 82 (83). 398  Eine solche Pflicht bejahend: Brech, Triage und Recht, S. 238; Holznagel, DVBl. 1997, 393 (399), wonach die aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG abgeleitete Schutzpflicht es gebietet, zur Vermittlung der Spenderorgane ein „möglichst effektives ­Allokationssystem zu etablieren“; Junghanns, Verteilungsgerechtigkeit in der Transplantationsmedizin, S.  45 ff.; Seewald, VerwArch 88 (1997), 199 (205 ff.), wonach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG es zwingend gebietet, eine bedarfsgerechte Transplantationsquote anzustreben; Junghanns, Verteilungsgerechtigkeit in der Transplantationsmedizin, S.  45 ff. 399  So die h. M.: Bader, Organmangel und Organverteilung, S. 297 ff.; Gutmann/ Fateh-Moghadam, in: Gutmann et al., Grundlagen einer gerechten Organverteilung, S. 59 (68); Gutmann, in: Schroth et al., TPG, § 12, Rn. 43; ders., in: Höfling, Die Regulierung der Transplantationsmedizin in Deutschland, S. 113 (116). 400  BVerfGE 46, 160 (164); 56, 54 (80 f.); 77, 381 (405); 79, 174 (200); 85, 191 (212); 92, 26 (46); 96, 56 (64); Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staats-

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

dahin verdichtet, dass nur eine ganz bestimmte gesetzliche Regelung oder staatliche Maßnahme rechtmäßig wäre401 und der erst überschritten ist, wenn die ergriffenen Maßnahmen völlig ungeeignet oder unzureichend sind402. Die innerhalb der letzten Jahre ergriffenen gesetzgeberischen Maßnahmen zur Steigerung des Organaufkommens sind jedoch nicht völlig in­effektiv; außerdem stehen dem Gesetzgeber mit der Möglichkeit der Einführung einer „Widerspruchslösung“ (ggf. in Verbindung mit der Optimierung des Einsatzes von Transplantationskoordinatoren) und der Möglichkeit der Abschaffung der für die Lebend(organ)spende geltenden Spenderkreisrestriktionen (§ 8 Abs. 1 S. 2 TPG) auch für die Zukunft noch sehr effektive Maßnahmen zur Beseitigung der Organknappheit zur Verfügung (näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (c) (bb)). Somit ist der Staat aufgrund des Gestaltungsspielraums, der ihm bei der Wahrnehmung seiner Schutzpflichten zukommt – selbst bei Unterstellung einer aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG folgenden Pflicht zur Schaffung eines bedarfsgerechten Transplanta­tionssystems, aus welcher sich für den Einzelnen ein originärer Leistungsanspruch auf Zuteilung eines Organs ergibt – durch Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nicht verpflichtet, eine postmortale Zwangsorganentnahme zu legitimieren, auch nicht, wenn diese zur Rettung eines andernfalls verlorenen Menschenlebens erforderlich ist. Vielmehr wäre der Staat zur Legitimierung einer postmortalen Organentnahme entgegen dem (lebzeitigen) Willen des Spenders noch nicht einmal befugt. Der Staat bedarf auch bei der Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten, wenn er dabei in Rechte Dritter eingreift, einer gesetzlichen Grundlage403, die den Anforderungen der Verfassung genügt und insbesondere dem aus der Abwehrdimension der Grundrechte resultierenden Verhältnismäßigkeitsprinzip Rechnung trägt404. Jedoch würde eine durch staatliche Stellen angeordnete „Zwangsorganentnahme“ nach zutreffender herrschenrechts, Bd. 9, § 191, Rn. 293 ff.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 92; Klein, NJW 1989, 1633 (1637); Lang, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 2, Rn. 76 f.; Lorenz, in: BK, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 522 (157. Aktualisierung 2012); SchulzeFielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2, Rn. 86; Stern, DÖV 2010, 241 (247 f.). 401  BVerfGE 46, 160 (165); 56, 54 (80); 77, 170 (214); 79, 174 (202); 115, 118 (160); 121, 317 (360); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 92; Lorenz, in: BK, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 522 (157. Aktualisierung 2012); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 2 Abs. 2, Rn. 90. 402  BVerfGE 77, 170 (215); 79, 174 (202); 85, 191 (212 f.). 403  BVerfG NJW 1989, 3269; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 92; Lorenz, in: BK, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 542 (157. Aktualisierung 2012). 404  Calliess, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. 2, § 44, Rn. 18 ff.; 29 ff.; Klein, NJW 1989, 1633 (1638); Lang, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 2, Rn. 76; Lorenz, in: BK, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 528 (157. Aktualisierung 2012); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2, Rn. 86.



A. Behandlungspflichten des Arztes247

der Meinung den hirntoten Spender zum Objekt degradieren405 und einen unverhältnismäßigen (und somit nicht zu rechtfertigenden) Eingriff in das postmortal zu achtende Persönlichkeitsrecht406 des Spenders darstellen bzw. sogar dessen postmortal zu achtende Menschenwürde407 verletzen. Nichts anderes gilt für die (Notstands-)Legitimierung einer solchen „Zwangsorganentnahme“ durch Private (Ärzte etc.)408. (Zur Begründung, weshalb die Abwehrdimension der Grundrechte tangiert ist, wenn der Staat dem an der Notlage des Notstandstäters unbeteiligten Notstandsopfer durch die Notstandsrechtfertigung Duldungspflichten auferlegt, siehe Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (c)). Gegen die oben genannten Grundrechte verstößt nach überwiegend vertretener Auffassung auch die durch staatliche Stellen angeordnete postmortale Organentnahme bzw. die Legitimierung einer postmortalen Organentnahme, über die – mangels lebzeitiger Erklärung des hirntoten Organspenders – gem. § 4 Abs. 1 S. 2 u. 4 TPG die Angehörigen des Organspenders unter Beachtung des mutmaßlichen Willens des Organspenders zu entscheiden und ihr widersprochen hatten.409 Das Grundrecht auf Leben erzwingt daher keine Auslegung des § 19 Abs. 2 in Verbindung mit § 3 Abs. 2 Nr. 1 TPG (§ 34 StGB) bzw. des § 19 Abs. 2 in Verbindung mit § 4 Abs. 1 S. 2 TPG (§ 34 StGB) dahingehend, dass eine postmortale Organentnahme entgegen dem Willen des Spenders zulässig ist, selbst wenn diese die einzige Möglichkeit zur Rettung eines andernfalls verlorenen Menschenlebens darstellt. Vielmehr würde eine solche Norminterpretation gegen das, zugunsten des toten Spenders eingreifende, postmortal zu achtende Persönlichkeitsrecht bzw. gegen dessen postmortal zu achtende Menschenwürde verstoßen. Auch mit dem (Verfassungs-)Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes wäre eine solche Auslegung angesichts der expliziten Regelung des § 19 Abs. 2 in Verbindung mit § 3 Abs. 2 Nr. 1 TPG bzw. des § 19 Abs. 2 in Verbindung mit § 4 Abs. 1 S. 2 TPG nicht vereinbar.

405  Maurer,

JZ 1980, 7 (12). in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 1, Rn. 75; Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 207; Schroth, in: Schroth et al., TPG, § 19, Rn. 17. 407  Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1, Rn. 58 (55.  Lfg. Mai 2009); Hillgruber, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 1, Rn. 26; Maurer, JZ 1980, 7 (12). 408  Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1, Rn. 58 (55.  Lfg. 2009). 409  Dreier, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 1, Rn. 75; Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1, Rn. 58 (55. Lfg. Mai 2009). 406  Dreier,

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

(dd) Zwangsblutspende („Zwangsblutspende-Fall“) Den Staat trifft keine aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG folgende (Schutz-)Pflicht zur Legitimierung einer „Zwangsblutspende“, selbst wenn eine solche, gegen den Willen des Blutspenders erfolgende Blutentnahme in der konkreten Situation die einzige Möglichkeit repräsentiert, ein akut bedrohtes Leben zu retten. Zwar treffen den Staat zur Bewahrung des durch Krankheit bedrohten Lebens Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, jedoch sind diese nur auf allgemeine, nicht offensichtlich ungeeignete Vorkehrungen zum Lebensund Gesundheitsschutz gerichtet410. Insbesondere aber wäre der Staat zur Gestattung von erzwungenen Blutspenden noch nicht einmal berechtigt.411 Denn der Staat bedarf auch bei der Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten, wenn er dabei in Rechte Dritter eingreift, einer gesetzlichen Grundlage412, die den Anforderungen der Verfassung genügt und insbesondere dem aus der Abwehrdimension der Grundrechte resultierenden Verhältnismäßigkeitsprinzip Rechnung trägt413. Eine (Notstands-)Legitimierung einer erzwungenen Blutspende würde jedoch nach herrschender Meinung unverhältnismäßig in das – zugunsten des (an der Notlage des Unfallopfers unbeteiligten) Zwangsblutspenders eingreifende – Selbstbestimmungsrecht414 bzw. das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit415 eingreifen und dieses somit verletzen. (Zur Begründung, weshalb die Abwehrdimension der Grundrechte tangiert ist, wenn der Staat einem – an der durch die Notstandshandlung zu beseitigenden Notlage – Unbeteiligten durch die Notstandsrechtfertigung auferlegt, sich seiner Rechtsgüter berauben zu lassen, siehe Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (c)). Für die strafrechtliche Bewertung des „Zwangsblutspende-Falls“ bedeutet dies, dass Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gerade keine Auslegung der §§ 223, 34 StGB dahingehend gebietet, dass eine erzwungene Blutspende zulässig ist, selbst wenn diese die einzige Möglichkeit zur Bewahrung eines unmittelbar 410  Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 45 (43.  Lfg. 2004); Lorenz, in: BK, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 661 (157. Aktualisierung 2012); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2, Rn. 96. 411  Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 1, Rn. 204, Fn. 23 (39.  Lfg. 2001). 412  BVerfG NJW 1989, 3269; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 92; Lorenz, in: BK, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 542 (157. Aktualisierung 2012). 413  Calliess, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. 2, § 44, Rn. 18 ff.; 29 ff.; Klein, NJW 1989, 1633 (1638); Lang, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 2, Rn. 76; Lorenz, in: BK, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 528 (157. Aktualisierung 2012); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2, Rn. 86. 414  Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 1, Rn. 204, Fn. 23 (39. Lfg. 2001). 415  Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 206.



A. Behandlungspflichten des Arztes249

bedrohten Menschenlebens darstellt; vielmehr würde eine solche Norminterpretation das – zugunsten des unfreiwilligen Spenders eingreifende – Selbstbestimmungsrecht bzw. Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit verletzen. Zudem würde eine solche Auslegung gegen den (auch von der Judikative zu beachtenden, aus dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip abgeleiteten416) Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes, in der Ausprägung, die dieser Grundsatz durch die Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG erfahren hat, verstoßen. Nach diesem Prinzip ist das Parlament verpflichtet, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen, soweit diese einer Normierung zugänglich sind, selbst und durch Gesetz zu regeln, wobei die Regelungen umso bestimmter sein müssen, je größer die Intensität der Grundrechtsbetroffenheit ist.417 Angesichts der mit der Zwangsblutentnahme verbundenen massiven Eingriffe in das Selbstbestimmungsrecht bzw. die körperliche Unversehrtheit des unfreiwilligen Spenders – unabhängig davon, ob diese Eingriffe nun verfassungswidrig sind oder nicht – wäre den Anforderungen des Grundsatzes vom Vorbehalt des Gesetzes daher nur Genüge getan, wenn eine gesetzliche Regelung vorhanden wäre, die den unfreiwilligen Blutspender explizit zur Duldung der mit der Zwangsblutspende verbundenen Beeinträchtigungen verpflichtet. Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass eine Zwangsblutentnahme ohne die Inanspruchnahme polizeilicher Hilfe kaum denkbar ist und die polizeiliche Befugnisgeneralklausel mangels planwidriger Regelungslücke – schließlich ist die Problematik der Zwangsblutspende seit langem bekannt – nicht anwendbar ist.418 Da eine solche Regelung, die eine Duldungspflicht des unfreiwilligen Spenders hinreichend explizit statuiert, nicht existiert, würde eine Auslegung der §§ 223, 34 StGB, wonach die Zwangsblutspende zulässig ist, den Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes verletzen und wäre somit verfassungswidrig. (ee) „Millionärs-Fall“ Auch besteht keine aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG folgende staatliche Verpflichtung, den eigenmächtigen, privaten Zugriff auf fremdes Eigentum zu legitimieren, selbst wenn ein solcher Diebstahl (§ 242 StGB) – wie im „Millionärs-Fall“ (Kap. 6 A. II. 2. a) aa) (3) (b) (dd)) – die einzige Möglichkeit zur Finanzierung einer lebensrettenden medizinischen Behandlung 416  BVerfGE 101, 1 (34); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 20, Rn. 46; SchulzeFielitz, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 20, Rn. 106 ff.; differenzierend: Herzog/Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20, Rn. 72 (71.  Lfg. 2014). 417  Sachs, in: Sachs, GG, Art. 20, Rn. 117. 418  Erb, in: MüKo, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 194.

250

Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

darstellen sollte. Zwar treffen den Staat zur Bewahrung des durch Krankheit bedrohten Lebens aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG folgende Schutzpflichten, die auf allgemeine, nicht offensichtlich ungeeignete Vorkehrungen zum Lebensund Gesundheitsschutz gerichtet sind419 und die sich nach zutreffender herrschender Meinung420 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip zu einem Anspruch auf ein medizinisches Existenzminimum verdichten (näher Kap. 2 B.). Es besteht jedoch kein Zweifel daran, dass der Staat mit der Bereitstellung der GKV diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen vollauf genügt.421 Denn „das Gesundheitssystem der Bundesrepublik Deutschland ist so gut ausgestattet, dass der Gesetzgeber in beschränktem Umfang auch Verschlechterungen in Kauf nehmen könnte, ohne dass hierdurch gegen verfassungsrechtliche Pflichten verstoßen würde“422. Dies gilt insbesondere auch für den Bereich der, von der GKV bei lebensbedrohlichen Erkrankungen zur Verfügung gestellten Leistungen: Bei lebensbedrohlichen Erkrankungen können gesetzlich Versicherte nämlich nicht nur – wie in § 2 Abs. 1 S. 3 SGB V vorgesehen – dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen beanspruchen, sondern unter bestimmten Voraussetzungen auch nicht-standardgemäße Leistungen. Nach der – als Reaktion auf den „Nikolaus-Beschluss“ des BVerfG (näher Kap. 2 B.) geschaffenen und am 01.01.2014 in Kraft getretenen – Vorschrift des § 2 Abs. 1 a S. 1 SGB V können Versicherte, die an einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung leiden, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, auch eine von Absatz 1 Satz 3 abweichende Leistung – i. e. eine nichtstandardgemäße Leistung – beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt 419  Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 45 (43.  Lfg. 2004); Lorenz, in: BK, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 661 (157. Aktualisierung 2012); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2, Rn. 96. 420  Brech, Triage und Recht, S. 185 ff.; Däubler, NJW 1972, 1105 (1109); Ebsen, NDV 1997, 109 (120); Heinig, in: Bahr/Heinig, Menschenwürde in der säkularen Verfassungsordnung, S. 251 (293 f.); ders., Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, S.  446 ff.; Huster, in: Mazouz/Werner/Wiesing, Krankheitsbegriff und Mittelverteilung, S. 157 (167); Lang, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 2, Rn. 82; Nettesheim, VerwArch 93 (2002), 315 (337); Neumann, NZS 1998, 401 (419); Schmidt-Aßmann, NJW 2004, 1689 (1691); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2, Rn. 96; Schwabe, NJW 1969, 2274 (2275); Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, Art. 2, Rn. 213; Taupitz, in: Wolter et al., Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, Öffentliche Recht und das Strafrecht, S. 113 (121 f.); Wiedemann, in: Umbach/Clemens, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2, Rn. 376; a. A. Di Fabio, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 94 (43. Lfg. 2004); Kirchhof, in: Festschrift für Laufs, S. 931 (944 ff.). 421  Nettesheim, VerwArch 93 (2002), 315 (325). 422  Nettesheim, VerwArch 93 (2002), 315 (325).



A. Behandlungspflichten des Arztes251

liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Nach zutreffender herrschender Auffassung sind nicht-standardgemäße Leistungen jedoch selbst dann nicht vom medizinischen Existenzminimum umfasst, wenn sie der Behandlung lebensbedrohlicher Erkrankungen dienen (näher Kap. 2 B.). Folglich ist davon auszugehen, dass der Staat durch die Bereitstellung der GKV seine, aus dem Grundrecht auf Leben folgenden, Pflichten zugunsten des durch Krankheit bedrohten Lebens nicht nur erfüllt, sondern sogar „übererfüllt“. Aber selbst wenn durch die öffentliche Gesundheitsversorgung kein medizinisches Existenzminimum gewährleistet wird, ist der Staat durch Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nicht verpflichtet, Diebstahlstaten zu gestatten, die der Finanzierung lebenserhaltender Behandlungen dienen. Denn dem Staat ­ kommt bei der Erfüllung seiner Schutzpflichten – selbst solcher zugunsten des menschlichen Lebens – ein weiter Spielraum zu423, der sich regelmäßig nicht dahin verdichtet, dass nur eine ganz bestimmte gesetzliche Regelung oder staatliche Maßnahme rechtmäßig wäre424 und der erst überschritten ist, wenn die ergriffenen staatlichen Maßnahmen völlig ungeeignet oder unzureichend sind425. Es gäbe jedoch neben der Legitimierung eines zur Finanzierung einer lebensrettenden Behandlung durchgeführten Diebstahls noch wesentlich effektivere Maßnahmen zur Gewährleistung eines medizinischen Existenzminimums für Bedürftige, so etwa die – notfalls über Steuererhöhungen zu finanzierende – Aufstockung der durch die öffentliche Gesundheitsversorgung bereitgestellten Gesundheitsleistungen. Daher besteht für den Staat unter keinen denkbaren Umständen eine (aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG folgende) Verpflichtung, die auf die Legitimierung von Diebstahlstaten gerichtet ist, die zur Finanzierung lebensrettender Behandlungen erforderlich sind. Der Staat wäre zur Gestattung eines Diebstahls, der zur Finanzierung einer lebensrettenden Behandlung begangen wurde, noch nicht einmal berechtigt: Denn der Staat bedarf auch bei der Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten, wenn er dabei in Rechte Dritter eingreift, einer gesetzlichen 423  BVerfGE 46, 160 (164); 56, 54 (80 f.); 77, 381 (405); 79, 174 (200); 85, 191 (212); 92, 26 (46); 96, 56 (64); Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, § 191, Rn. 293 ff.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 92; Klein, NJW 1989, 1633 (1637); Lang, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 2, Rn. 76 f.; Lorenz, in: BK, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 522 (157. Aktualisierung 2012); SchulzeFielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2, Rn. 86; Stern, DÖV 2010, 241 (247 f.). 424  BVerfGE 46, 160 (165); 56, 54 (80); 77, 170 (214); 79, 174 (202); 115, 118 (160); 121, 317 (360); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 92; Lorenz, in: BK, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 522 (157. Aktualisierung 2012); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 2 Abs. 2, Rn. 90. 425  BVerfGE 77, 170 (215); 79, 174 (202); 85, 191 (212 f.).

252

Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

Grundlage426, die den Anforderungen der Verfassung genügt und insbesondere dem aus der Abwehrdimension der Grundrechte resultierenden Verhältnismäßigkeitsprinzip Rechnung trägt427. Indes würde die (mit der Diebstahlsrechtfertigung nach § 34 StGB im „Millionärs-Fall“ einhergehende) rechtliche Verpflichtung, als vermögende Person den eigenmächtigen (und entschädigungslosen) Zugriff durch einen Privaten auf das eigene Eigentum zu dulden, selbst wenn dieser zur Finanzierung einer lebensrettenden medizinischen Behandlung erforderlich ist, die so Verpflichteten in ihren Grundrechten aus Art. 3 Abs. 1 GG und Art. 14 GG verletzen: Die (Notstands-) Legitimation eines Zugriffs auf fremdes Eigentum zur Finanzierung einer lebensrettenden Behandlung würde es gestatten, eine dem Sozialstaat obliegende Aufgabe (Gesundheitsfürsorge) im Wege der Selbsthilfe wahrzunehmen und würde damit in der Sache auf nichts anderes hinauslaufen, als auf eine Inpflichtnahme Privater für öffentliche Zwecke durch den (Sozial-) Staat. Daher beurteilt sich die Fragestellung, ob der Staat dazu befugt ist, einen zur Finanzierung einer lebensrettenden Behandlung begangenen Diebstahl (durch Notstand) zu legitimieren, nach Maßgabe der gleichen Verfassungsgrenzen, anhand welcher auch zu entscheiden ist, ob und in welchem Umfang Private mit ihrem Eigentum zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben herangezogen werden dürfen. Dies ist zumindest dann der Fall, wenn man der überzeugenden Auffassung von Erb428 folgt. Danach berührt eine Notstandsrechtfertigung die Grundrechte des Notstandsopfers nicht bloß in ihrer Schutzpflichtendimension, sondern stellt vielmehr einen Grundrechtseingriff dar. Denn der Staat verpflichte durch die Rechtfertigung einer gegen das Notstandsopfer gerichteten Notstandshandlung einen Unbeteiligten (Notstandsopfer) dazu, sich seines Eigentums, seiner Freiheit, seiner körperlichen Unversehrtheit oder sogar seines Lebens berauben zu lassen429 und wirke dadurch wissentlich darauf hin, dass eine Verteidigung unterbleibe und das Rechtsgut verletzt werde, wodurch der Staat eine Mitverantwortung für die Rechtsgutsverletzung übernehme, die es rechtfertige, die Verpflichtung zur Duldung einer privaten Rechtsgutsverletzung als staatlichen Eingriff zu qualifizieren430.

426  BVerfG NJW 1989, 3269; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 92; Lorenz, in: BK, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 542 (157. Aktualisierung 2012). 427  Calliess, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. 2, § 44, Rn. 18 ff.; 29 ff.; Klein, NJW 1989, 1633 (1638); Lang, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 2, Rn. 76; Lorenz, in: BK, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 528 (157. Aktualisierung 2012); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2, Rn. 86. 428  Erb, NStZ 2005, 593 (595). 429  Erb, NStZ 2005, 593 (595). 430  Erb, NStZ 2005, 593 (594 f.).



A. Behandlungspflichten des Arztes253

Folgt man dieser überzeugenden Argumentation, hat der Staat im Hinblick auf die (Notstands-)Legitimierung eines, zur Finanzierung einer lebensrettenden Behandlung begangenen, Diebstahls die gleichen Verfassungsgrenzen zu beachten, wie im Falle der (staatlichen) Inpflichtnahme Privater für öffentliche Zwecke. Für die Inpflichtnahme Privater (mit ihrem Eigentum) für öffentliche Zwecke gilt das Prinzip der Lastengleichheit, mit dem Sonderbelastungen bestimmter Personen oder Gruppen nur vereinbar sind, wenn diese Personen oder Gruppen wegen ihrer sozialen und / oder rechtlichen Besonderheiten eine ganz spezifische Sachnähe zum normativen Eingriffszweck aufweisen.431 Fehlt es an der spezifischen Sachnähe der Betroffenen zum Eingriffszweck, müssen wegen Art. 3 Abs. 1 GG alle Bürger zu den öffentlichen Aufgaben und Lasten beitragen.432 Eine ausschließliche Belastung Privater stellt einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG dar.433 Die Indienstnahme Privater für öffentliche bzw. staatliche Zwecke ist dann, als unentgeltliche oder entschädigungsfreie Inanspruchnahme, eine unzulässige Sozialbindung des Eigentums.434 Orientiert man sich an diesen Vorgaben, so stehen Art. 14 GG und Art. 3 Abs. 1 GG einer (Notstands-)Legitimierung des Zugriffs auf das Eigentum des Millionärs im „Millionärs-Fall“ entgegen. Denn da der Millionär keine, auf sozialen oder rechtlichen Besonderheiten beruhende, spezifische Sachnähe zu der gesundheitlichen Notlage des Diebes aufweist, würde eine Pflicht zur Duldung des privaten Zugriffs auf sein Eigentum eine unzulässige Sozialbindung des Eigentums darstellen. Insofern besteht nicht nur keine Verpflichtung des Staates, den eigenmächtigen Zugriff auf fremdes Privateigentum zu legitimieren, selbst wenn dieser die einzige Möglichkeit zur Finanzierung einer lebensrettenden Behandlung darstellt, sondern auch keine entsprechende Berechtigung. Für die strafrechtliche Bewertung des „Millionärs-Falls“ bedeutet dies, dass Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gerade keine Auslegung der §§ 242, 34 StGB dahingehend gebietet, dass der zum Zweck der Finanzierung einer lebensrettenden Maßnahme begangene Diebstahl zu Lasten des Millionärs gerechtfertigt ist. Vielmehr stehen Art. 14 GG und Art. 3 Abs. 1 GG einer solchen Norminterpretation zwingend entgegen. Zudem würde eine derartige Auslegung auch gegen den (aus dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip abgeleiteten435 und auch für die Judikative 431  Papier,

in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14, Rn. 378 j (59.  Lfg. 2010). in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14, Rn. 378 j (59.  Lfg. 2010). 433  Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14, Rn. 378 j (59.  Lfg. 2010). 434  Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14, Rn. 378 j (59.  Lfg. 2010). 435  BVerfGE 101, 1 (34); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 20, Rn. 46; SchulzeFielitz, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 20, Rn. 106 ff.; differenzierend: Herzog/Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20, Rn. 72 (71.  Lfg. 2014). 432  Papier,

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

verbindlichen436) (Verfassungs-)Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes verstoßen, wonach staatliche Eingriffe in grundrechtliche Betätigungen Privater (selbst wenn sie der Erfüllung staatlicher Schutzpflichten dienen) stets einer gesetzlichen Grundlage437 bedürfen, die nach der Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG umso bestimmter zu sein hat, je größer die Intensität der Grundrechtsbetroffenheit ist438. Denn eine (Notstands-)Legitimierung eines zur Finanzierung einer lebensrettenden Behandlung begangenen Diebstahls würde massiv in die – zugunsten des Notstandsopfers eingreifende – Eigentumsfreiheit eingreifen. Den geschilderten Anforderungen würde daher nur eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage genügen, die das Diebstahlsopfer explizit zur Duldung der Beeinträchtigungen seines Eigentums verpflichtet, welche mit dem Diebstahl einhergehen. Aufgrund des Fehlens einer derartigen Regelung (die wegen Verstoßes gegen Art. 14 GG sowie Art. 3 Abs. 1 GG nicht erlassen werden dürfte) ist dem, an das Gebot der verfassungskonformen Auslegung des einfachen Rechts gebundenen, Strafrichter im „Millionärs-Fall“ eine (Notstands-)Legitimierung des zur Finanzierung einer lebensrettenden Behandlung begangenen Diebstahls ­untersagt. (2) Bewertung des strafrechtlichen Dogmas vom Höchstwert des menschlichen Lebens im Licht der Grundrechtsdogmatik (a) Herrschende Meinung Die obige Untersuchung (Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1)) hat gezeigt, dass die von der herrschenden Meinung im Strafrecht vertretene extensive Interpretation des Höchstwertigkeitsdogmas, wonach das Leben einen (Verfassungs-) Höchstwert darstellt, der allenfalls durch andere Verfassungshöchstwerte (Menschenwürde etc.) überwogen werden kann, aus verfassungsrechtlicher Perspektive nicht haltbar ist. Dies gilt selbst dann, wenn man den Anwendungsbereich des Höchstwertigkeitsdogmas auf Fallkonstellationen verengt, in denen ein lebensverkürzendes Tun gegeben ist, das sich nicht als zulässige Verteidigungshandlung im Sinne des § 32 StGB darstellt (Bsp.: BGHSt 55, 191 ff.: „Fall Putz“; siehe Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (a) (dd)). Letztlich unstreitig kann die Wertigkeit bzw. der Rang, die / den die Verfassung dem menschlichen Leben zuschreibt, nur kontextbezogen beurteilt 436  Hillgruber,

in: Maunz/Dürig, GG, Art. 97, Rn. 26 (52.  Lfg. 2008). NJW 1989, 3269; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 92; Lorenz, in: BK, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 542 (157. Aktualisierung 2012). 438  Sachs, in: Sachs, GG, Art. 20, Rn. 117. 437  BVerfG



A. Behandlungspflichten des Arztes255

werden.439 Dies gilt generell, insbesondere aber auch für strafrechtlich relevante Interessenkollisionen zwischen dem Rechtsgut Leben und einem hiermit kollidierenden Rechtsgut bzw. Interesse. Zwar treffen den Staat Schutzpflichten zugunsten des menschlichen Lebens, die umfassend gelten440 und bei Übergriffen durch Private441 ebenso Geltung beanspruchen wie bei objektiven Gefährdungen442 (durch Selbstgefährdungen, Erkrankungen etc.). Jedoch besitzt der Staat bei der Erfüllung seiner Schutzpflichten – selbst solcher zugunsten des menschlichen Lebens – einen erheblichen Spielraum, im Hinblick auf das „Ob“ und „Wie“ einer Regelung unter Berücksichtigung öffentlicher und privater Belange443, der erst überschritten ist, wenn die Maßnahmen gänzlich ungeeignet oder völlig unzureichend sind444. Sofern der Gesetzgeber zur Erfüllung der Schutzpflichten in grundrechtliche Betätigungen privater Dritter eingreift, bedarf der Staat – nachdem die Schutzpflicht keine eigenständige Handlungsbefugnis gewährt – einer gesetzlichen Grundlage445, die den Anforderungen der Verfassung 439  Di

Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 37 (43.  Lfg. 2004). 39, 1 (42); 46, 160 (164); 77, 170 (214); 88, 203 (251); 115, 320 (346); Calliess, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. 2, § 44, Rn. 1 ff.; Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, § 191, Rn. 146 ff.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 91; Kunig, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 2, Rn. 54 f.; Lang, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 2, Rn. 74 ff.; Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 188; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2, Rn.  76 ff. 441  BVerfGE 39, 1 (42); 46, 160 (164); 77, 170 (214); 88, 203 (251); 115, 320 (346); Calliess, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. 2, § 44, Rn. 1 ff.; Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, § 191, Rn. 146 ff.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 91; Kunig, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 2, Rn. 54 f.; Lang, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 2, Rn. 74 ff.; Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 188; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2, Rn.  76 ff. 442  BVerfGE 115, 25 (49); Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 45 ff. (43. Lfg. 2004); Lang, in: Epping/Hillgruber, Beck’scher Online-Kommentar, GG, Art. 2, Rn. 75 (1.9.2014); Lorenz, in: BK, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 516 ff. (157. Aktualisierung 2012); Sachs, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 38; SchulzeFielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2, Rn. 76; Steiner, in: Spickhoff, Medizinrecht, Art. 2, Rn. 13; a. A. Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, § 191, Rn.  192 ff.; Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 188. 443  BVerfGE 46, 160 (164); 56, 54 (80 f.); 77, 381 (405); 79, 174 (200); 85, 191 (212); 92, 26 (46); 96, 56 (64); Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 9, § 191, Rn. 293 ff.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 92; Klein, NJW 1989, 1633 (1637); Lang, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 2, Rn. 76 f.; Lorenz, in: BK, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 522 (157. Aktualisierung 2012); SchulzeFielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2, Rn. 86; Stern, DÖV 2010, 241 (247 f.). 444  BVerfGE 77, 170 (215); 79, 174 (202); 85, 191 (212 f.). 445  BVerfG NJW 1989, 3269; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 92; Lorenz, in: BK, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 542 (157. Aktualisierung 2012). 440  BVerfGE

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

genügt und insbesondere dem aus der Abwehrdimension der Grundrechte resultierenden Verhältnismäßigkeitsprinzip Rechnung trägt446. Es kann deshalb die Situation eintreten, dass der Staat die einzige Maßnahme unterlassen muss, die die Bewahrung des zu schützenden Rechtsguts gestattet. Aus der beschriebenen Dogmatik grundrechtlicher Schutzpflichten folgt, dass der Staat durch Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nicht dazu verpflichtet ist, jedes lebensverkürzende Tun oder Unterlassen zu pönalisieren und jede zur Lebensrettung erforderliche Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsguts zu legitimieren. Vielmehr existieren Konstellationen, in denen der Staat hierzu noch nicht einmal berechtigt wäre, da er andernfalls grundrechtliche Verbürgungen, die nicht zwingend Verfassungshöchstwerte repräsentieren müssen, verletzen würde. Für die Strafrechtsauslegung bedeutet dies, dass das Grundrecht auf Leben es nicht erzwingt, die §§ 212 (13), (34) StGB (§ 323 c StGB) so auszulegen, dass jedes lebensverkürzende Tun und jedes lebensverkürzende Unterlassen illegitim ist und jede zur Bewahrung mensch­lichen Lebens erforderliche Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsguts – etwa über eine Notstandsrechtfertigung etc. – zu legitimieren. Vielmehr gibt es Fallkonstellationen, in denen die Grundrechte – auch solche, die ihrerseits kei­ ne Verfassungshöchstwerte repräsentieren (Selbstbestimmungsrecht etc.) – oder andere Verfassungsprinzipien (strafrechtliches Analogieverbot, Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes, Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes etc.) einer derartigen Norminterpretation zwingend entgegenstehen (näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (a)). So wurde u. a. dargelegt, dass unter Zugrundelegung der herrschenden Verfassungsdogmatik das Selbstbestimmungsrecht (des Patienten) – also eine unterhalb der Verfassungshöchstwerte rangierende Verfassungsgarantie – sowie der (Verfassungs-)Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes, die Zulässigkeit des, als aktive Tötung einzuordnenden, technischen Behandlungsabbruchs durch Nicht-Ärzte („Fall Putz“, Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (a) (dd)) erzwingt. Im Fall der erzwungenen Lebend(organ)spende steht das verfassungsrechtlich verbürgte Selbstbestimmungsrecht (bzw. die Menschenwürdegarantie) sowie der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes und der Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes, einer (Notstands-)Legitimierung einer Zwangsorganentnahme selbst dann entgegen, wenn diese die einzige Möglichkeit zur Rettung eines unmittelbar bedrohten Menschenlebens (Erhaltungsgut) darstellt (Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (c) (bb)). Es existieren 446  Calliess, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. 2, § 44, Rn. 18 ff.; 29 ff.; Klein, NJW 1989, 1633 (1638); Lang, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 2, Rn. 76; Lorenz, in: BK, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 528 (157. Aktualisierung 2012); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2, Rn. 86.



A. Behandlungspflichten des Arztes257

sogar Fallkonstellationen, in denen die Verfassung den Vorrang wirtschaftlicher Interessen vor dem Rechtsgut Leben erzwingt. Dies zeigt der – durch ein lebensverkürzendes bzw. gesundheitsgefährdendes Unterlassen verwirklichte – ökonomische Behandlungsverzicht durch auf eigenes wirtschaft­ liches Risiko tätige Ärzte, dessen Zulässigkeit durch die Berufsfreiheit, die Eigentumsfreiheit und den Allgemeinen Gleichheitssatz geboten wird (Kap. 6 A. II. 3. b) cc)). Ein weiteres Beispiel ist die Fallkonstellation eines zur Finanzierung einer lebensrettenden Behandlung begangenen Diebstahls („Millionärs-Fall“), dessen (Notstands-)Legitimierung durch die – zugunsten des Diebstahlsopfers eingreifenden – Grundrechte aus Art. 14 GG (Eigentumsfreiheit) und Art. 3 Abs. 1 GG (Allgemeiner Gleichheitssatz) sowie durch den Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes untersagt wird (Kap. 6 A. II. 3. b) bb) (3) (b) (dd)). Die herrschende extensive Auslegung des Höchstwertigkeitsdogmas ist daher zu verwerfen. Zwar verschließt sich die herrschende Meinung – zumindest im Ergebnis – der Erkenntnis nicht, dass das Leben keinen (bzw. bei weitem nicht in allen denkbaren Konstellationen einen) Verfassungshöchstwert repräsentiert und somit nicht ausschließlich durch Verfassungshöchstwerte, wie die Menschenwürde, überwogen werden kann, obwohl sie ihre Interpretation des Höchstwertigkeitsdogmas auf eine aus verfassungsrechtlicher Sicht unhaltbare Prämisse (Leben als Verfassungshöchstwert, der allenfalls durch andere Verfassungshöchstwerte überwogen werden kann) stützt. Vielmehr hat die obige Untersuchung (Kap. 6 A. II. 2. b) cc) (2) (a)) gezeigt, dass die herrschende Meinung, trotz ihres Bekenntnisses zum Höchstwertigkeitsdogma, den Wertentscheidungen des Verfassungsrechts stets Rechnung zu tragen vermag. Dies gelingt der herrschenden Meinung sogar dann, wenn die Verfassung in der konkreten Fallkonstellation eine Posteriorisierung des Lebens hinter einem unterhalb der Verfassungshöchstwerte anzusiedelnden Rechtsgut bzw. Interesse (Selbstbestimmungsrecht, Eigentumsfreiheit, Berufsfreiheit, Allgemeiner Gleichheitssatz etc.) oder Verfassungsgrundsatz (strafrechtliches Analogieverbot, Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes, Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes etc.) erzwingt. Dies bewerkstelligt die herrschende Meinung, indem sie den Anwendungsbereich des Höchstwertigkeitsdogmas restriktiv interpretiert und zudem Ausnahmetatbestände von diesem Prinzip anerkennt: Konsequent beruft sich die herrschende Meinung ausschließlich in Bezug auf solche Fallkonstellationen auf das Höchstwertigkeitsdogma, in denen eine Interessenkollision zwischen dem, durch aktives Tun beeinträchtigten, Rechtsgut Leben (Eingriffsgut) und einem hiermit kollidierenden Rechtsgut bzw. Interesse gegeben ist, die im Rahmen des § 34 StGB im Wege eines Abwägungsvorgangs entschieden wird. Außerdem erkennt die herrschende Meinung auch für diese Konstellation einen Ausnahmetatbestand vom Höchstwertigkeitsdog-

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

ma unter der Voraussetzung an, dass das menschliche Leben mit einem anderen Verfassungshöchstwert, wie der Menschenwürde oder dem Interesse am Bestand des Staates, kollidiert. Diese Vorgehensweise erlaubt es der herrschenden Meinung stets, den verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen Rechnung zu tragen, selbst wenn diese im konkreten Fall eine Posteriorisierung des Rechtsguts Leben, gestatten oder erzwingen. Dies gilt sogar dann, wenn eine unterhalb der Verfassungshöchstwerte anzusiedelnde Verfassungsgarantie die Zulässigkeit einer aktiven Tötung erzwingt, die sich nicht als erforderliche Verteidigung gegen einen Angriff im Sinne des § 32 StGB darstellt (siehe Kap. 6 A. II. 2. b) cc) (2)). Zwar scheitert unter Zugrundelegung der herrschenden Meinung in diesem Fall eine Notstandsrechtfertigung am Höchstwertigkeitsdogma. Jedoch lässt sich das durch die Verfassung gebotene Ergebnis (Zulässigkeit der aktiven Tötungshandlung) über eine verfassungskonforme Auslegung der objektiven Zurechnung (und deren anschließende Ablehnung) oder über eine verfassungskonforme Auslegung der Einwilligungsvoraussetzungen (und deren anschließende Be­ jahung) erreichen, da das Höchstwertigkeitsdogma nach Auffassung der herrschenden Meinung hierfür keine Geltung beansprucht. Dies wird auf plastische Weise durch die strafrechtliche Behandlung des technischen ­Behandlungsabbruchs durch Nicht-Ärzte („Fall Putz“) durch die herrschende Meinung ­demonstriert (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (1) (a) (bb)): Dem (als aktive Tötungshandlung zu qualifizierenden) technischen Behandlungsabbruch durch Nicht-Ärzte, versagt die herrschende Meinung unter Verweis auf das Höchstwertigkeitsdogma zwar die Notstandsrechtfertigung. Jedoch gelangt die herrschende Meinung schlussendlich über die rechtfertigende Einwilligung bzw. über die Ablehnung der objektiven Zurechnung zur Beurteilung des technischen Behandlungsabbruchs als rechtmäßig und straflos und setzt auf diese Weise die verfassungsrechtlichen Vorgaben um, die es im Hinblick auf den technischen Behandlungsabbruch durch Nicht-Ärzte gebieten, dem verfassungsrechtlich verbürgten Selbstbestimmungsrecht des Patienten den Vorrang vor dem strafrechtlichen Lebensschutz einzuräumen. Wenngleich die Vorgehensweise der herrschenden Meinung, den Anwendungsbereich des Höchstwertigkeitsdogmas stark zu beschränken und zudem Ausnahmetatbestände von diesem Prinzip anzuerkennen, es ermöglicht, (zwingenden) Wertentscheidungen der Verfassung bei der Strafrechtsauslegung in allen denkbaren Konstellationen Rechnung zu tragen und somit verfassungswidrige Ergebnisse zu vermeiden, ist diese Vorgehensweise zu kritisieren: Gerade die Beschränkung des Anwendungsbereich des Höchstwertigkeitsdogmas auf Interessenkollisionen zwischen dem durch aktives Tun beeinträchtigten Leben und hiermit kollidierenden Rechtsgütern bzw. Interessen, die im Rahmen des § 34 StGB im Wege eines Abwägungsvorgangs entschieden werden, ist inkonsequent und dogmatisch nicht überzeu-



A. Behandlungspflichten des Arztes259

gend. Dies gilt insbesondere angesichts der von der herrschenden Meinung gewählten Verankerung des Höchstwertigkeitsdogmas in der Verfassung, die dem menschlichen Leben angeblich den Rang bzw. Wert eines Verfassungshöchstwerts zuweist. Denn wäre das Leben wirklich ein Verfassungshöchstwert, so könnte dieses allenfalls durch andere Verfassungshöchstwerte überwogen werden und müsste für jede beliebige Interessenkollision zwischen dem Leben und einem anderen Rechtsgut bzw. Interesse Geltung beanspruchen und nicht nur für den Anwendungsbereich, den die herrschende Meinung für das Höchstwertigkeitsdogma vorsieht. Insbesondere durch die Beschränkung des Anwendungsbereichs des Höchstwertigkeitsdogmas auf die Auslegung des § 34 StGB wird die Geltung dieses Prinzips per se in Frage gestellt. Das Höchstwertigkeitsdogma verliert praktisch jegliche Bedeutung, wenn es lediglich im Rahmen der Interessenabwägung des § 34 StGB Geltung beansprucht, für die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe des Tatbestands sowie unbestimmter Rechtsbegriffe anderer Rechtfertigungsgründe, wie der Einwilligung, jedoch gerade nicht. Denn es stellt eine rein rechtstechnische Fragestellung dar, ob man dem menschlichen Leben nun auf der Tatbestands­ebene (mit der Folge der Tatbestandslosigkeit eines gegen das Leben gerichteten Tuns) oder auf der Rechtfertigungsebene (mit der Folge der Rechtfertigung bzw. Rechtmäßigkeit eines lebensverkürzenden Tuns) den Schutz verweigert, während dies im Hinblick auf den strafrechtlichen Lebensschutz gerade keinen Unterschied macht, wie die strafrecht­ liche Bewertung des technischen Behandlungsabbruchs durch Nicht-Ärzte („Fall Putz“) zeigt. Damit bleibt festzuhalten, dass das Höchstwertigkeitsdogma, wie es durch die herrschende Meinung gehandhabt wird, nicht hält, was es verspricht. Obwohl es für sich in Anspruch nimmt, eine Antwort auf die Frage nach der absoluten und relativen Wertigkeit des Rechtsguts Leben zu haben und so für strafrechtliche Abwägungsvorgänge verbindlich vorgeben zu können, unter welchen Voraussetzungen der strafrechtliche Lebensschutz Vorrang vor dem Schutz anderer Rechtsgüter bzw. Interessen hat, wird es diesem Anspruch nicht gerecht. Denn auch Vertreter der herrschenden Meinung befolgen den vom Höchstwertigkeitsdogma vorgegebenen Vorrang des strafrechtlichen Lebensschutzes – völlig zu Recht – nicht, sofern die Verfassung für die in concreto in Frage stehende Rechtsgüter- bzw. Interessenkollision ein Zurücktreten des strafrechtlichen Lebensschutzes hinter kollidierenden Rechtsgütern bzw. Interessen erzwingt bzw. gestattet. Angesichts dieser starken inhaltlichen Relativierung, welche das Höchstwertigkeitsdogma selbst durch seine Anhänger erfährt, sollte es – jedenfalls so wie die herrschende Meinung dieses Prinzip begreift – aufgegeben werden bzw. sollte das Höchstwertigkeitsdogma – worauf unter Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (2) (b) einzugehen sein wird – mit der im Vordringen befindlichen Auffas-

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

sung verfassungskongruent restriktiv definiert werden. Hierdurch würden Missverständnisse vermieden. Diese beruhen darauf, dass das Höchstwertigkeitsdogma den Eindruck vermittelt, die Vorgaben des Grundrechts auf Leben für den strafrechtlichen Lebensschutz zu definieren und damit verbindliche Vorgaben für die Bewertung des Rechtsguts Leben im Strafrecht zu machen. Dabei liefert dieses Prinzip, wenn man es mit der herrschenden Auffassung extensiv interpretiert, tatsächlich nicht mehr als eine unverbindliche bzw. vorläufige Einschätzung der Wertigkeit des menschlichen Lebens in einem strafrechtlich relevanten Rechtsgüter- bzw. Interessenkonflikt, die unter dem Vorbehalt ihrer Vereinbarkeit mit grundrechtlichen Wertungen steht und daher jederzeit revidierbar ist. (b) Im Vordringen befindliche Literaturauffassung Die insbesondere von Erb, Neumann und wohl auch von Merkel und Ch. Schneider vertretene, sehr restriktive Interpretation des Höchstwertigkeitsdogmas, wonach das Rechtsgut Leben (im Rahmen der Auslegung des § 34 StGB) nur insofern als Höchstwert zu behandeln ist, als niemand zur solidarischen Aufopferung seines Lebens gezwungen werden darf, ist aus verfassungsrechtlicher Perspektive nicht zu beanstanden: Eine (Notstands-) Legitimierung einer solidarischen Aufopferung eines (unschuldigen) Menschen, also die aktive Tötung eines Menschen zur Bewahrung von (ggf. höchstwertigen) Rechtsgütern anderer Menschen würde – unabhängig davon, ob diese durch Hoheitsträger447 oder einen Privaten durchgeführt wurde – den Menschenwürdekern des Grundrechts auf Leben verletzen und wäre daher verfassungswidrig; dies würde nach herrschender Meinung sogar dann gelten, wenn die geopferte Person nur noch kurz zu leben hätte und durch ihre Tötung eine Vielzahl von Menschen gerettet werden könnte.448 Nach herrschender Meinung verstößt die staatliche (also die durch den Staat durchgeführte oder angeordnete) Tötung eines Menschen, sofern dieser unschuldig und an der Notlage unbeteiligt ist, stets gegen den Menschenwürdekern des Grundrechts auf Leben; nach überwiegender Auffassung ist dies selbst dann der Fall, wenn der Betroffene ohnehin nur noch 447  Zur Anwendbarkeit des § 34 StGB auf hoheitliche Maßnahmen: Erb, in: MüKo, StGB, Bd. 1, § 34, Rn. 42 ff. 448  In diesem Sinne: Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 171; siehe nur die Literatur zur Abschussermächtigung im Luftsicherheitsgesetz: BVerfG NJW 2006, 751 ff.; zustimmend: Dreier, JZ 2007, 261 (265 ff.); Höfling/S. Augsberg, JZ 2005, 1080 ff.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 96; Merkel, JZ 2007, 373 ff.; Pawlik, JZ 2004, 1045 ff.; Roxin, ZIS 2011, 552 ff.; F. Streng, Festschrift für Stöckel, S.  135 ff.; a. A. Hillgruber, JZ 2005, 209 (216 f.); H. J. Hirsch, Festschrift für Küper, S.  149 ff.; Isensee, Festschrift für Günther Jakobs, S. 205 ff.



A. Behandlungspflichten des Arztes261

kurz und / oder bei schlechter Lebensqualität zu leben hätte und durch seine „Opferung“ eine Vielzahl anderer Menschen gerettet werden könnte.449 Aber nicht nur die solidarische Opferung eines Menschen durch den Staat, sondern auch die (Notstands-)Legitimierung eines entsprechenden privaten Tuns ist im Hinblick auf Art. 2 Abs. 2 S. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG verfassungswidrig. Dies bedarf keiner weiteren Begründung, wenn man wie Erb450, Dreier451 und Merkel452 davon ausgeht, dass die Eingriffsdimension und nicht nur die Schutzpflichtdimension des Grundrechts auf Leben berührt ist, wenn der Staat einen Unbeteiligten durch die Rechtfertigung einer gegen ihn gerichteten Notstandshandlung dazu verpflichtet, sich töten zu lassen. Erb begründet dies mit dem Argument, dass der Staat durch die Notstandsrechtfertigung einer gegen das Notstandsopfer gerichteten Notstandshandlung einen Unbeteiligten (Notstandsopfer) dazu verpflichte, sich seiner Rechtsgüter berauben zu lassen453. Hierdurch wirke der Staat wissentlich darauf hin, dass eine Verteidigung unterbleibe und das Rechtsgut verletzt werde und übernehme infolgedessen eine Mitverantwortung für die Rechtsgutsverletzung, die es rechtfertige, die Verpflichtung zur Duldung einer privaten Rechtsgutsverletzung als staat­ lichen Eingriff zu qualifizieren.454 Dreier stellt darauf ab, dass durch eine Notstandsrechtfertigung einer Tötung durch einen Privaten ein staatliches (Rechtfertigungs-)Zertifikat ausgestellt werde, weshalb die Notstandsrechtfertigung als Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG zu werten sei455. Dagegen argumentiert Merkel, die Billigung privater Tötungshandlungen durch das Recht sei aufgrund der staatlichen Schutzpflicht für das menschliche Leben alleine Sache des Staates, weshalb dem Staat die Legitimierung einer durch einen Privaten begangenen Tötungshandlung als Eingriff zuzurechnen sei. Folgt man den von Erb, Dreier und Merkel vertretenen Prämissen, wonach die Eingriffsdimension und nicht nur die Schutzpflichtdimension des Grundrechts auf Leben berührt ist, wenn der Staat einen Unbeteiligten durch die Rechtfertigung einer gegen ihn gerichteten Notstandshandlung dazu verpflichtet, sich töten zu lassen, so ist die (Notstands-)Legitimierung einer solidarischen Opferung 449  Dreier, JZ 2007, 261 (265); Höfling/S. Augsberg, JZ 2005, 1080 (1083); Merkel, JZ 2007, 373 (381); Pawlik, JZ 2004, 1045 (1049 f.); Roxin, ZIS 2011, 552 (553 ff.); kritisch: Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1, Rn. 96 m. w. Nachw. (55. Lfg. Mai 2009); a. A. Isensee, Festschrift für Günther Jakobs, S. 205 (228). 450  Erb, NStZ 2005, 593 (595). 451  Dreier, JZ 2007, 261 (266). 452  Merkel, JZ 2007, 373 (376). 453  Erb, NStZ 2005, 593 (595). 454  Erb, NStZ 2005, 593 (594 f.). 455  Dreier, JZ 2007, 261 (264, 266).

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

eines Menschenlebens durch einen Privaten nicht anders zu bewerten als die solidarische Tötung durch den Staat, nämlich als Verletzung des Grundrechts auf Leben in seinem Menschenwürdekern. Aber auch wenn man die Schutzpflichtdimension als berührt betrachten würde, würde die (Notstands-)Legitimierung der solidarischen Tötung eines Menschen (im Interesse der Rettung anderer) durch private Dritte ebenfalls gegen die Verfassung verstoßen, da hierdurch dem geopferten Menschen­ leben ein geringerer Wert zugemessen wird als dem (durch das „Menschenopfer“) geretteten Menschenleben. Diese würde gegen Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit der Lebenswertindifferenzkonzeption des Grundgesetzes verstoßen, die ihre Grundlage im egalitären Charakter des Grundrechts auf Leben und der Menschenwürde hat456 und besagt, dass „jedes menschliche Leben (…) als solches gleich wertvoll (ist) und (…) deshalb keiner irgendwie gearteten unterschiedlichen Bewertung oder gar zahlenmäßigen Abwägung unterworfen werden“457 kann. Insofern lässt sich konstatieren, dass die im Vordringen befindliche, sehr enge Auslegung des Höchstwertigkeitsdogmas als Verbot der Erzwingung der solidarischen Aufopferung des eigenen Lebens, aus der Perspektive der herrschenden Verfassungsdogmatik, die den Wert des menschlichen Lebens kontextbezogen bestimmt, nicht zu beanstanden ist. Unter Zugrundelegung dieser sehr restriktiven Interpretation des Dogmas vom Höchstwert des menschlichen Lebens beschreibt dessen Anwendungsbereich – Situationen, in denen ein Mensch zur solidarischen Aufopferung seines Lebens gezwungen ist – daher einen strafrechtlich relevanten Bereich, in dem dem Leben tatsächlich der Rang eines unabwägbaren Höchstwerts zukommt. Er konkretisiert somit den unabwägbaren Kernbereich des menschlichen Lebens für das Strafrecht und erspart für Situationen, die unter den Anwendungsbereich dieser sehr restriktiven Interpretation des Höchstwertigkeitsdogmas fallen, eine Konsulta­tion der Verfassung hinsichtlich der Wertigkeit des menschlichen Lebens im Verhältnis zu hiermit kollidierenden Rechtsgütern bzw. Interessen.

456  Gutmann/Fateh-Moghadam, in: Gutmann et al., Grundlagen einer gerechten Organverteilung, S. 59 (78). 457  BVerfGE 39, 1 (59).



A. Behandlungspflichten des Arztes263

bb) Bewertung von Personenwerten im Verhältnis zu kollidierenden Sachinteressen im Strafrecht im Licht der Grundrechtsdogmatik (1) V  erfassungsrechtlich gebotenes und zulässiges Verhältnis zwischen Personenwerten und kollidierenden Sachinteressen im Strafrecht Die Verfassung erzwingt weder einen pauschalen Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen, noch gestattet sie diesen. Für das Strafrecht bedeutet dies, dass sich aus dem Grundgesetz weder eine Verpflichtung noch auch nur eine Berechtigung ergibt, jede durch Tun oder Unterlassen verwirklichte Verletzung eines Personenwerts zu pönalisieren, die der Bewahrung eines Sachinteresses dient. Ebensowenig lässt sich der Verfassung eine Rechtspflicht oder Befugnis entnehmen, jede Verletzung strafrechtlich geschützter Sachinteressen zu legitimieren, die zur Rettung eines Personenwerts erforderlich ist. Im Einzelnen: (a) K  eine verfassungsrechtliche (Schutz-)Pflicht zur Pönalisierung jeder, zur Bewahrung eines Sachinteresses erforderlichen, durch aktives Tun verwirklichten Verletzung eines Personenwerts Der Verfassung kann keine Verpflichtung entnommen werden, jede durch aktives Tun durchgeführte Verletzung eines Personenwerts, die zur Bewahrung eines Sachinteresses erforderlich ist, zu pönalisieren. Zwar treffen den Staat Schutzpflichten zugunsten des menschlichen Lebens, der körperlichen Unversehrtheit und anderer Personenwerte, die umfassend gelten und den Staat insbesondere auch zum Schutz vor privaten Übergriffen verpflichten. Jedoch besitzt der Staat bei der Erfüllung seiner Schutzpflichten – selbst solcher zugunsten des menschlichen Lebens – einen erheblichen Spielraum, der erst überschritten ist, wenn die Maßnahmen gänzlich ungeeignet oder völlig unzureichend sind. Sofern der Gesetzgeber zur Erfüllung der Schutzpflichten in grundrechtliche Betätigungen privater Dritter eingreift, bedarf der Staat – nachdem die Schutzpflicht keine eigenständige Handlungsbefugnis gewährt – einer gesetzlichen Grundlage, die den Anforderungen der Verfassung genügt und insbesondere dem, aus der Abwehrdimension der Grundrechte resultierenden, Verhältnismäßigkeitsprinzip Rechnung trägt (näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (a)). Insofern ist der Staat weder dazu verpflichtet, noch auch nur dazu berechtigt, jede durch aktives Tun durchgeführte Verletzung eines Personenwerts, die zur Rettung eines Sachinteresses notwendig ist, zu pönalisieren. Aus der Dogmatik grundrechtlicher Schutzpflichten folgt daher, dass eine Auslegung der §§ 212, 223 etc. StGB sowie der §§ 32, 34 etc. StGB dahin-

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gehend, dass jede Verletzung eines strafrechtlich geschützten Personenwerts, die zur Bewahrung eines Sachinteresses unternommen wurde, eine rechtswidrige Tötung, rechtswidrige Körperverletzung etc. darstellt, durch die Schutzpflichtdimension des Grundrechts auf Leben, körperliche Unversehrtheit etc. gerade nicht geboten wird. Aufgrund des, dem Gesetzgeber bei der Wahrnehmung dieser grundrechtlichen Schutzpflichten zustehenden, Spielraums sowie der Verpflichtung, bei der Wahrnehmung dieser Schutzpflichten entgegenstehende Grundrechte (sowie das hieraus resultierende Übermaßverbot) zu achten, kann eine derartige Norminterpretation sogar gegen Verfassungsprinzipien, wie das Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG, verstoßen und / oder Grundrechte, wie z. B. Art. 14 GG, verletzen. Zwar dürfte der Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen für solche (Notstands-)Fallkonstellationen verfassungsrechtlich haltbar sein, in denen der Personenwert (Eingriffsgut) zum Zweck der Bewahrung eines Sachinteresses (Erhaltungsgut) durch ein aktives Tun beeinträchtigt wird, das sich nicht als erforderliche Verteidigungshandlung gegen einen Angriff im Sinne des § 32 StGB darstellt. Das dürfte zumindest dann gelten, wenn man einen Ausnahmetatbestand für solche Fallkonstellationen annimmt, in denen den Rechtsgütern Freiheit bzw. Gesundheit nur geringe Einbußen drohen, während im Gegenzug erhebliche Sachwerte auf dem Spiel stehen. Jedoch ist dieser Grundsatz für bestimmte Notwehrkonstellationen nicht haltbar. (aa) Notwehr Die Diskussion der verfassungsrechtlichen Dimension der Notwehr hat gezeigt, dass nach herrschender Meinung Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG in seiner Schutzpflichtdimension durch die Zubilligung das Leben des Angreifers gefährdender Notwehrbefugnisse zur Verteidigung gegen Angriffe auf Sachwerte nicht verletzt wird. Dies wird zumindest in Bezug auf nicht unerhebliche Sachwerte vertreten. Vielmehr vertritt eine überzeugende Literatur­ meinung sogar, dass die Zubilligung tödlicher Notwehrrechte zur Verteidigung von Angriffen auf unersetzliche Sachwerte durch Art. 14 GG erzwungen wird (siehe Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (a) (bb)). Schließt man sich der soeben geschilderten, von der herrschenden Meinung vertretenen Auffassung an, ist eine Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe in § 32 StGB geboten, die – falls erforderlich – auch tödliche Notwehrmaßnahmen zur Verteidigung von Sachwerten (Ausnahme: Angriff auf unbedeutende Sachwerte) rechtfertigt. Dies folgt aus dem Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG (bzw. nach der geschilderten Literaturmeinung zusätzlich aus Art. 14 GG). Denn der Gesetzgeber hat entschieden, das Leben des Angreifers gefährdende Notwehrhandlungen zur Verteidigung



A. Behandlungspflichten des Arztes265

von Sachwerten grundsätzlich zulassen zu wollen. Dies kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck, dass der Gesetzgeber in § 32 StGB (anders als in § 34 StGB) keine Interessenabwägung vorsieht und trotz der jahrzehntelangen Debatte um die Zulässigkeit lebensgefährlicher Notwehrrechte zur Verteidigung von Sachwerten auf eine explizite Einschränkung der Notwehrrechte verzichtet (siehe Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (a) (bb)). Die Verfassung erzwingt somit – zumindest in Bezug auf (Notwehr-) Fallkonstella­tionen, in denen der Personenwert als Eingriffsgut tangiert und das Sach­interesse als Erhaltungsgut berührt ist – gerade keine Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe in § 32 StGB im Licht des Grundsatzes vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen. Das gilt jedenfalls solange das Sachinteresse nicht nur von unerheblichem Wert ist. Vielmehr steht die Verfassung (jedenfalls das Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG) einer solchen Auslegung sogar zwingend entgegen (und gebietet stattdessen für diese Konstellation den Vorrang von Sachinteressen vor Personenwerten). Denn wenn sogar die Zubilligung tödlicher Notwehrmaßnahmen zur Verteidigung von Sachwerten durch die Verfassung (Vorrang des Gesetzes, ggf. Art. 14 GG) erzwungen wird, gilt dies erst recht für solche Notwehrmaßnahmen, die nur die körperliche Unversehrtheit oder die Freiheit des Angreifers tangieren. (b) K  eine verfassungsrechtliche (Schutz-)Pflicht zur Pönalisierung jeder, zur Bewahrung eines Sachinteresses erforderlichen, durch Unterlassen verwirklichten Verletzung eines Personenwertes Der Staat ist weder dazu verpflichtet, noch auch nur dazu befugt, jede durch Unterlassen verwirklichte Verletzung eines Personenwerts zu pönalisieren, die zur Bewahrung eines Sachinteresses notwendig war. Dies folgt zwar nicht schon aus dem Umstand, dass der hier in Frage stehenden Fallgruppe (durch Unterlassen begangene Verletzung eines Personenwerts, die zur Rettung eines Sachinteresses erforderlich war) vor allem solche Fallkonstellationen unterfallen, in denen der Personenwert, dessen Rettung im Interesse der Bewahrung eines Sachinteresses unterlassen worden war, durch Krankheit oder eine andere objektive Gefährdungslage bedroht war. Denn zu Recht bejaht die herrschende Meinung aus dem Grundrecht auf Leben, dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit etc. folgende Schutzpflichten nicht nur im Falle durch privater Dritter geschaffener Gefahren für Personenwerte, sondern auch bei objektiven Gefährdungen, also bei Gefahren, die z.  B. aus Erkrankungen, Naturkatastrophen oder Selbstgefährdungen resultieren (näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (b)). Dass der Staat weder dazu verpflichtet noch dazu berechtigt ist, jede durch Un-

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terlassen verwirklichte Verletzung eines Personenwerts, die zur Rettung eines Sachinteresses erforderlich war, unter Strafe zu stellen, beruht auf der Dogmatik grundrechtlicher Schutzpflichten. Danach steht dem Staat bei der Erfüllung seiner Schutzpflichten – selbst solcher zugunsten des menschlichen Lebens – ein weiter (nur durch das Untermaßverbot beschränkter) Spielraum zu, der sich regelmäßig nicht dahin verdichtet, dass nur eine ganz bestimmte gesetzliche Regelung oder staatliche Maßnahme rechtmäßig wäre. Außerdem bedarf der Staat auch bei der Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten, wenn er dabei in Rechte Dritter eingreift, einer gesetzlichen Grundlage, die den Anforderungen der Verfassung genügt und insbesondere dem, aus der Abwehrdimension der Grundrechte resultierenden, Verhältnismäßigkeitsprinzip Rechnung trägt (näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (b)). Für die Strafrechtsauslegung folgt hieraus, dass sich aus der Verfassung keine Verpflichtung ergibt, die Straftatbestände zum Schutz von Personenwerten (§§ 212, 13 StGB; §§ 223, 13 StGB etc.) so auszulegen, dass jede zur Bewahrung eines Sachinteresses, durch ein Unterlassen verwirklichte und erforderliche Verletzung eines Personenwerts eine rechtswidrige Tötung bzw. rechtswidrige Körperverletzung etc. darstellt. Vielmehr existieren auch innerhalb dieser Fallgruppe Konstellationen, in denen die Verfassung eine derartige Auslegung nicht gebietet oder noch nicht einmal gestattet und infolgedessen einen Vorrang von Sachinteressen vor Personenwerten erzwingt. Derartige Vorgaben können sich aus den Grundrechten, insbesondere aus der Berufsfreiheit (Art. 12 GG), der Eigentumsfreiheit (Art. 14 GG) und dem Allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG), sowie aus Verfassungsprinzipien, wie dem Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes, ergeben. Dies zeigt der folgende Beispielsfall: (aa) Ö  konomischer Behandlungsverzicht durch auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätige Ärzte Die Beleuchtung der verfassungsrechtlichen Dimension des hier in Frage stehenden ökonomischen Behandlungsverzichts durch auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätige Ärzte hat gezeigt, dass der Staat – trotz seiner aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG folgenden Schutzpflichten zugunsten des durch Krankheit bedrohten Lebens und der Gesundheit, die sich nach zutreffender herrschender Meinung in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und dem Sozial­ staatsprinzip zu einem Anspruch auf ein medizinisches Existenzminimum verdichten (näher Kap. 2 B.) – nicht dazu verpflichtet ist, auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätige Ärzte zu bestrafen, wenn diese ihren Patienten Leistungen vorenthalten, die weder durch die öffentliche Gesundheitsversorgung bereitgestellt (bezogen auf das gegenwärtige System: Leistungen, die nicht im GKV-Leistungskatalog enthalten sind) noch durch den Patienten



A. Behandlungspflichten des Arztes267

privat finanziert werden – auch dann nicht, wenn die öffentliche Gesundheitsversorgung Bedürftigen kein medizinisches Existenzminimum sichert. Vielmehr wäre der Staat zur Pönalisierung eines ökonomischen Behandlungsverzichts, der durch auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätige Ärzte verübt wird, noch nicht einmal berechtigt. Denn die strafbewehrte Verpflichtung, Leistungen, die durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) finanziert werden, notfalls umsonst zu erbringen, würde die auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätige Ärzteschaft in ihren Grundrechten aus Art. 12 GG (Berufsfreiheit) und Art. 14 GG (Eigentumsfreiheit) verletzen und gegen Art. 3 Abs. 1 GG (Allgemeiner Gleichheitssatz) verstoßen (Kap. 6 A. II. 1. / Kap. 6 A. II. 3. b) cc)). Die Verfassung erzwingt somit in Bezug auf den hier in Frage stehenden ökonomischen Behandlungsverzicht gerade keine Berücksichtigung des Grundsatzes vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen bei der Auslegung der §§ 212, 13 StGB; §§ 223, 13 StGB sowie des § 323 c StGB (mit der Folge, dass der, durch auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätige Ärzte begangene, ökonomische Behandlungsverzicht eine rechtswidrige Tötung bzw. Körperverletzung durch Unterlassen oder eine rechtswidrige Unterlassene Hilfeleistung darstellen würde). Vielmehr würde eine solche Norminterpretation gegen die Artt. 12, 14 und 3 Abs. 1 GG verstoßen und – angesichts der sozialrechtlichen Vorschriften, welche die vorenthaltene Leistung aus dem Leistungsprogramm der öffentlichen Gesundheitsversorgung herausnehmen und der privaten Absicherung durch den Patienten überlassen – den Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes verletzen (näher Kap. 6 A. II. 3. b) cc)). (c) K  eine verfassungsrechtliche (Schutz-)Pflicht zur Legitimierung jeder zur Bewahrung eines Personenwerts erforderlichen Verletzung strafrechtlich geschützter Sachinteressen Der Verfassung kann weder die Verpflichtung noch auch nur die Berechtigung entnommen werden, jede zur Bewahrung eines Personenwerts erforderliche – durch Tun oder Unterlassen verwirklichte – Verletzung eines strafrechtlich geschützten Sachinteresse (z. B. § 242 StGB) zu legitimieren. Dies folgt zwar nicht schon aus dem Umstand, dass es in den hier in Frage stehenden Fallkonstella­ tionen (zur Bewahrung eines Personenwerts erforderliche Verletzung strafrechtlich geschützter Sachinteressen) – zumindest häufig – an einem privaten Übergriff fehlt, weil dieser Fallgruppe auch Fälle „gegnerloser Not“ unterfallen. Denn zu Recht bejaht die herrschende Meinung aus dem Grundrecht auf Leben, dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit etc. folgende Schutzpflichten nicht nur im Fall durch priva-

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

te Dritte geschaffener Gefahren für Personenwerte, sondern auch bei objektiven Gefährdungen durch Erkrankungen, Naturkatastrophen, Selbstgefährdungen etc. (näher Kap. 6 A. II 3. a) aa) (1) (c)). Dass der Staat weder dazu verpflichtet noch dazu berechtigt ist, jede zur Rettung eines Personenwertes erforderliche Verletzung eines strafrechtlich geschützten Sachinteresses zu legitimieren, beruht vielmehr auf der Dogmatik grundrechtlicher Schutzpflichten. Danach steht dem Staat bei der Erfüllung seiner Schutzpflichten – selbst solcher zugunsten des menschlichen Lebens – ein weiter (nur durch das Untermaßverbot beschränkter) Spielraum zu, der sich regelmäßig nicht dahin verdichtet, dass nur eine ganz bestimmte gesetzliche Regelung oder staatliche Maßnahme rechtmäßig wäre, es sei denn, dass das zu schützende Rechtsgut ausschließlich durch diese eine Maßnahme sachgerecht geschützt werden kann und die ergriffenen Maßnahmen gänzlich ungeeignet oder zur Erreichung des gebotenen Schutzziels völlig unzulänglich sind; außerdem bedarf der Staat auch bei der Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten, wenn er dabei in Rechte Dritter eingreift, einer gesetzlichen Grundlage, die den Anforderungen der Verfassung genügt und insbesondere dem aus der Abwehrdimension der Grundrechte resultierenden Verhältnismäßigkeitsprinzip Rechnung trägt (näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (c)). Für die hier relevante Fallgruppe – zur Bewahrung eines Personenwertes erforderliche Verletzung strafrechtlich geschützter Sachinteressen – folgt aus der beschriebenen Dogmatik grundrechtlicher Schutzpflichten für die Untergruppe, dass der Personenwert durch einen Angriff im Sinne des § 32 StGB bedroht wird, der ausschließlich durch Zugriff auf strafrechtlich geschützte Sachinteressen des Angreifers abwendbar ist, dass der Staat verpflichtet sein dürfte, die gegen das strafrechtlich geschützte Sachinteresse gerichtete Abwehrmaßnahme zu legitimieren. Denn diese Maßnahme repräsentiert das einzige Mittel, das einen effektiven Schutz von Personenwerten gewährleistet, die durch einen gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff bedroht werden. Deshalb gilt für die Auslegung des § 32 StGB das Prinzip, dass Personenwerte, solange diese als Erhaltungsgut berührt sind, Vorrang vor den (als Eingriffsgüter berührten) Sachinteressen haben. Jedoch beinhaltet die hier in Frage stehende Fallgruppe nicht ausschließlich solche Konstellationen, in denen der Personenwert durch einen Angriff im Sinne des § 32 StGB bedroht wird, der ausschließlich durch Zugriff auf Sachwerte des Angreifers abgewehrt werden kann. Vielmehr sind auch (Notstands-)Konstellationen umfasst, in denen der (durch Verletzung strafrechtlich geschützter Sachinteressen zu rettende) Personenwert schicksalshaft, aufgrund eigenen Verschuldens des Rechtsgutsträgers oder aufgrund des Angriffs einer, mit dem Inhaber des verletzten Sachinteresses nicht identischen Person, in Gefahr ist. Innerhalb dieser (Notstands-)Konstellatio-



A. Behandlungspflichten des Arztes269

nen existieren Fallgestaltungen, in denen der Staat – aufgrund seines Spielraums bei der Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten – nicht darauf festgelegt ist, seinen Schutzpflichten zugunsten des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit etc. gerade dadurch zu genügen, dass er einem Privaten (zum Zwecke der Bewahrung des gefährdeten Personenwerts) den eigenmächtigen Zugriff auf strafrechtlich geschützte Sachinteressen gestattet. In anderen Fällen ist der Staat hierzu noch nicht einmal berechtigt. Denn er würde durch die Legitimierung der (zur Bewahrung des gefährdeten Personenwerts erforderlichen) Verletzung strafrechtlich geschützter Sachinteressen unverhältnismäßig in – zugunsten des Inhabers des Sachinteresses eingreifende – grundrechtliche Verbürgungen (Eigentumsfreiheit, Allgemeine Handlungsfreiheit, die nach herrschender Meinung458 das Vermögen schützt, Allgemeiner Gleichheitssatz etc.) eingreifen und diese somit verletzen. (Zur Begründung, weshalb die Abwehrdimension tangiert ist, wenn der Staat einem – an der durch die Notstandshandlung zu beseitigenden Notlage – Unbeteiligten durch die Notstandsrechtfertigung auferlegt, sich seiner Rechtsgüter berauben zu lassen, siehe Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (c)). Das Grundrecht auf Leben, das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit etc. erzwingt daher keine Auslegung der Straftatbestände zum Schutz von Sachinteressen (§ 242 StGB etc.) sowie der Rechtfertigungsgründe (insbesondere § 34 StGB) im Licht des (Auslegungs-)Grundsatzes vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen mit der Folge, dass jede zur Bewahrung eines Personenwerts (Erhaltungsgut) durchgeführte und erforderliche Verletzung eines strafrechtlich geschützten Sachinteresses (Eingriffsgut) zulässig ist. Vielmehr können die Grundrechte (Eigentumsfreiheit, Allgemeine Handlungsfreiheit, Allgemeiner Gleichheitssatz etc.) sowie Verfassungsgrundsätze, wie der Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes und der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes, einer derartigen Auslegung sogar zwingend entgegenstehen und einen Vorrang von Sachinteressen vor Personenwerten erzwingen. Dies zeigt der „Millionärs-Fall“. (aa) „Millionärs-Fall“ Die Untersuchung der verfassungsrechtlichen Vorgaben für die strafrechtliche Bewertung des „Millionärs-Falls“ hat ergeben, dass sich aus dem Grundrecht auf Leben (Schutzpflichtdimension) keine Verpflichtung des Staates ergibt, einen Diebstahl zu erlauben, selbst wenn dieser die einzige Möglichkeit zur Finanzierung einer lebensrettenden Behandlung darstellt 458  BVerfGE 95, 267 (300); BVerwGE 87, 324 (330); Axer, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 14, Rn. 55; Bryde, in: von Münch/Kunig, GG, Bd. 1, Art. 14, Rn. 23; Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14, Rn. 161 ff. (59. Aufl. 2010).

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

und das Diebstahlsopfer sehr vermögend ist. Vielmehr würde eine Legitimierung eines solchen Diebstahls das Diebstahlsopfer in seinen Grundrechten aus Art. 14 GG (Eigentumsfreiheit) und Art. 3 Abs. 1 GG (Allgemeiner Gleichheitssatz) verletzen. Die Verfassung gebietet somit gerade keine Berücksichtigung des Grundsatzes vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen bei der Auslegung der §§ 242, 34 StGB (mit der Folge, dass der zum Zweck der Finanzierung einer lebenserhaltenden Behandlung begangene Diebstahl gerechtfertigt ist). Vielmehr stehen die Eigentumsfreiheit und der Allgemeine Gleichheitssatz solchen Norminterpretation sogar zwingend entgegen. Auch mit dem (Verfassungs-)Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes, in der Gestalt, die dieses Prinzip durch die Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG gefunden hat, wäre eine solche Strafrechtsauslegung nicht vereinbar. Denn die Rechtsordnung enthält keine Ermächtigungsgrundlage, die das Diebstahls­ opfer explizit zur Duldung der massiven Eigentumsbeeinträchtigungen verpflichtet, die mit einem zur Finanzierung einer lebensrettenden Behandlung begangenen Diebstahl einhergehen (näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (c) (ee)). (2) Bewertung des strafrechtlichen Grundsatzes vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen im Licht der Grundrechtsdogmatik Die obige Untersuchung des verfassungsrechtlich zulässigen und gebotenen Verhältnisses zwischen Personenwerten und Sachinteressen (Kap. 6 A. II. 3. a) bb) (1)) hat gezeigt, dass die von der herrschenden Meinung im Strafrecht vertretene Auffassung unzutreffend ist, wonach sich aus der Menschenwürde ein pauschaler und somit auch für das Strafrecht geltender, pauschaler Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen ergibt. Ob die Verfassung eine Präferenz von Personenwerten vor Sachinteressen gebietet oder auch nur gestattet, kann nach herrschender Verfassungsdogmatik ausschließlich kontextbezogen beurteilt werden. Dies gilt generell, insbesondere aber auch im Hinblick auf strafrechtlich relevante Interessenkollisionen zwischen Personenwerten und Sachinteressen. Zwar treffen den Staat Schutzpflichten zugunsten des menschlichen Lebens, der körperlichen Unversehrheit und anderer Personenwerte, die umfassend gelten und bei Übergriffen durch Private ebenso Geltung beanspruchen wie bei objektiven Gefährdungen (durch Selbstgefährdungen, Erkrankungen etc.). Jedoch besitzt der Staat bei der Erfüllung seiner Schutzpflichten – selbst solcher zugunsten des Lebens – einen erheblichen Spielraum, der erst überschritten ist, wenn die ergriffenen Maßnahmen gänzlich ungeeignet oder völlig unzureichend sind. Außerdem bedarf der Staat, sofern er zur Erfüllung der Schutzpflich-



A. Behandlungspflichten des Arztes271

ten in grundrechtliche Betätigungen privater Dritter eingreift, einer gesetzlichen Grundlage, die den Anforderungen der Verfassung genügt und insbesondere dem aus der Abwehrdimension der Grundrechte resultierenden Verhältnismäßigkeitsprinzip Rechnung trägt. Es kann daher die Situation eintreten, dass der Staat die einzige Maßnahme unterlassen muss, die die Bewahrung des zu schützenden Rechtsguts gestattet. Hieraus folgt, dass der Staat durch das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit etc. weder verpflichtet noch auch nur berechtigt ist, jede durch Tun oder Unterlassen verwirklichte Verletzung eines Personenwertes, die zur Bewahrung eines Sachinteresses erforderlich ist, zu pönalisieren und jede Verletzung eines strafrechtlich geschützten Sachinteresses, die im Interesse der Rettung eines Personenwertes unumgänglich ist, zu legitimieren. Für die Strafrechtsauslegung bedeutet dies, dass das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit etc. es nicht erzwingen, die §§ 212 (13), §§ 223 (13) StGB etc. sowie die §§ 32, 34 StGB etc. so auszulegen, dass jede durch Tun oder Unterlassen verwirklichte Verletzung eines Personenwertes (Eingriffsgut), die zur Rettung eines Sachinteresses (Erhaltungsgut) begangen wurde, unzulässig ist und die Straftatbestände zum Schutz von ­Sachinteressen (§ 242 StGB etc.) sowie die Rechtfertigungsgründe dahin­ gehend zu interpretieren, dass jede zur Bewahrung eines Personenwertes (Erhaltungsgut) durchgeführte und erforderliche Verletzung eines strafrechtlich geschützen Sachinteresses (Eingriffsgut) zulässig ist. Vielmehr können die Grundrechte – insbesondere die Eigentumsfreiheit, die Berufsfreiheit und der Allgemeine Gleichheitssatz – sowie Verfassungsgrundsätze, wie das Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG, der Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes und der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes, im Einzelfall einer derartigen Norminterpretation zwingend entgegenstehen und einen Vorrang von Sachinteressen vor Personenwerten gebieten. Dies zeigt nicht zuletzt die Fallgruppe der tödlichen Notwehrmaßnahmen zur Verteidung von Angriffen auf Sachwerte, deren Zulässigkeit bzw. Straflosigkeit durch das andernfalls verletzte Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG erzwungen wird (und nach einer Literaturauffassung auch durch die Eigentumsfreiheit geboten wird, näher Kap. 6 A. II. 3. a) bb) (1) (a) (aa)). Ein weiteres Beispiel für einen durch die Verfassung diktierten Vorrang von Sachinteressen vor Personenwerten, ist der ökonomische Behandlungsverzicht durch auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätige Ärzte. Denn dieser ist zulässig und insbesondere nicht als Totschlag oder Körperverletzung durch Unterlassen oder als Unterlassene Hilfeleistung strafbar, weil eine Pönalisierung des ökonomischen Behandlungsverzichts die Ärzte in ihren Grundrechten aus Art. 12 GG und Art. 14 GG verletzen und gegen Art. 3 Abs. 1 GG sowie gegen den Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes verstoßen würde (näher

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

Kap. 6 A. II. 3. a) bb) (1) (b) (aa)). Auch der dem „Millionärs-Fall“ zugrundeliegende Diebstahl zu Lasten eines Millionärs, der zur Finanzierung einer lebensrettenden Behandlung begangen wird, ist – entgegen einer konsequenten Anwendung des (Auslegungs-)Grundsatzes vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen – strafbar, da eine (Notstands-)Legitimierung der Diebstahlstat das Diebstahlsopfer in Art. 14 GG verletzen würde und gegen Art. 3 Abs. 1 GG und den Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes verstoßen würde (näher Kap. 6 A. II. 3. a) bb) (1) (c) (aa)). Ein pauschaler Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen ist aus verfassungsrechtlicher Perspektive allenfalls dann vertretbar, wenn man ihn auf solche (Notstands-)Fallkonstellationen beschränkt, in denen der Personenwert (Eingriffsgut) zur Bewahrung eines Sachinteresses (Erhaltungsgut) durch ein aktives Tun beeinträchtigt wird, das sich nicht als erforderliche Verteidigungshandlung gegen einen Angriff im Sinne des § 32 StGB darstellt459 und einen Ausnahmetatbestand für Fallkonstellationen annimmt, in denen den Rechtsgütern Freiheit bzw. Gesundheit nur geringe Einbußen drohen, während im Gegenzug erhebliche Sachwerte auf dem Spiel stehen. Wie die obige Untersuchung der Bewertung von Personenwerten im Verhältnis zu Sachinteressen durch die Strafrechtsdogmatik (Kap. 6 A. II. 2. b) bb) / Kap. 6 A. II. 2. b) cc) (3)) gezeigt hat, verschließt sich die herrschende Meinung im Strafrecht dieser, aus der Dogmatik grundrechtlicher Schutzpflichten folgenden, Erkenntnis nicht und vermeidet somit eine verfassungswidrige Strafrechtsanwendung. Denn diese beruft sich auf den Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen konsequent ausschließlich im Hinblick auf den oben definierten verfassungsrechtlich unbedenklichen Anwendungsbereich (i. e. Notstandskonstellationen, in welchen der Personenwert zur Rettung eines Sachinteresses durch aktives Tun beeinträchtigt wird). Hierdurch vermag die herrschende Meinung den verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen stets Rechnung zu tragen, selbst wenn diese es in bestimmten Konstellationen gebieten, dem Sachinteresse Priorität vor dem Personenwert einzuräumen. Wenngleich diese Engführung des An­ wendungsbereichs des Grundsatzes vom Vorrang von Personenwerten vor 459  Ebenfalls keine verfassungsrechtlichen Einwände bestehen gegen dieses Auslegungsprinzip (Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen), wenn man dieses im Rahmen des § 32 StGB anwendet und dort auf Konstellationen beschränkt, in denen der Personenwert als Erhaltungsgut berührt ist und das Sachinteresse als Eingriffsgut berührt ist. Jedoch hat dieses Auslegungsprinzips in derartigen Notwehrkonstellationen weniger Relevanz, da sich in diesem Zusammenhang der Vorrang des als Erhaltungsgut berührten Personenwerts vor dem als Eingriffsgut berührten Sachinteresses bereits aus dem Gesetzeswortlaut ergibt, zumal § 32 StGB im Gegensatz zu § 34 StGB keine Interessenabwägung vorsieht, die der Ausfüllung durch Auslegungsgrundsätze bedarf.



A. Behandlungspflichten des Arztes273

Sachinteressen in Interesse einer verfassungskonformen Strafrechtsauslegung zu begrüßen ist, erscheint sie willkürlich, wenn man bedenkt, dass die herrschende Meinung im Strafrecht den Vorrang von Personenwerten vor Sach­ interessen aus der Menschenwürde ableitet. Denn da die Menschenwürde keiner Abwägung zugänglich ist460, müsste der Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen konsequenterweise bei der Auslegung aller Straftatbestände zum Schutz von Personenwerten und Sachinteressen und aller Rechtfertigungsgründe berücksichtigt werden. Die Folge wäre eine verfassungswidrige Rechtslage. Denn nach dem oben Gesagten, ist es mit der Verfassung gerade nicht vereinbar, jede – durch Tun oder Unterlassen verwirklichte – Verletzung eines strafrechtlich geschützten Personenwerts (Eingriffsgut), die zum Zweck der Rettung eines Sachinteresses (Erhaltungsgut) unternommen wurde, als Körperverletzungs- oder Tötungsdelikt etc. zu bestrafen und jede – durch Tun oder Unterlassen verwirklichte – Verletzung eines strafrechtlich geschützten Sachinteresses (§ 242 StGB etc.), die zur Bewahrung eines Personenwerts (Leben, Gesundheit, Freiheit etc.) durchgeführt wurde, (durch Notstand etc.) zu legitimieren. Die von der herrschenden Meinung im Strafrecht vertretene dogmatische Fundierung des Grundsatzes vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen in der unabwägbaren Menschenwürde, sollte somit aufgegeben werden. Denn sie ist nicht nur aus verfassungsdogmatischer Perpektive unhaltbar. Viel schwerer wiegt, dass hierdurch die Gefahr einer verfassungswidrigen Rechtsanwendung geschaffen wird. Denn durch die Verankerung des Grundsatzes vom Personenwerten vor Sachinteressen in der keiner Abwägung zugänglichen Menschenwürde, wird der unzutreffende Eindruck erweckt wird, dass die herrschende Meinung im Strafrecht dieses Prinzip auf alle denkbaren (strafrechtlichen) Interessenkollisionen zwischen Personenwerten vor Sachinteressen anwendet und insofern für eine – aus verfassungsrechtlicher Perspektive – zu extensive Interpretation dieses Prinzips eintritt. cc) Strafrechtsdogmatische Bedeutung der verfassungskonformen Auslegung aus Perspektive der Grundrechtsdogmatik Betrachtet man die Bewertung des Rechtsguts Leben (im Verhältnis zu kollidierenden Rechtsgütern bzw. Interessen) und von Personenwerten im Verhältnis zu kollidierenden Sachinteressen durch die herrschende Straf460  BVerfGE 75, 369 (380); 93, 266 (293); 115, 320 (358 f.); Hillgruber, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 1, Rn. 10 f.; Höfling, in: Sachs, GG, Art. 1, Rn. 11; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 1, Rn. 16; Kunig, in: von Münch/Kunig, GG, Bd. 1, Art. 1, Rn. 26; Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, Art. 1 Abs. 1, Rn. 34; weniger restriktiv: Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1, Rn. 46 ff. (55. Lfg. 2009).

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

rechtsdogmatik im Licht des Verfassungsrechts, so ist zu konstatieren, dass sich die herrschende Meinung im Strafrecht nicht nur in der Theorie zum Gebot der verfassungskonformen Auslegung des Strafrechts461 bekennt, das aus dem Vorrang der Verfassung vor dem einfachen Recht abgeleitet wird. Vielmehr zeigt sich, dass die herrschende Strafrechtsdogmatik regelmäßig zu den von der Verfassung gebotenen Ergebnissen gelangt. Das gilt sogar dann, wenn das verfassungsrechtlich erzwungene Ergebnis mit dem von der herrschenden Meinung anerkannten Dogma vom Höchstwert des menschlichen Lebens, bzw. mit dem allgemein akzeptierten Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen, nicht zu vereinbaren ist. Zur Verdeutlichung sei in diesem Zusammenhang nur auf die strafrechtliche Bewertung des technischen Behandlungsabbruchs durch Nicht-Ärzte („Fall Putz“) durch BGH und herrschende Lehre verwiesen. Der als aktive Tötungshandlung zu qualifizierende technische Behandlungsabbruch durch Nicht-Ärzteist, nach Auffassung von BGH und herrschender Lehre, einer Notstandsrechtfertigung aufgrund des andernfalls verletzten Höchstwertigkeitsdogmas nicht zugänglich. Allerdings bejahen BGH und herrschende Lehre die Zulässigkeit des technischen Behandlungsabbruchs durch Nicht-Ärzte im Ergebnis dennoch, indem sie diesen – unter Verweis auf das die Zulässigkeit des technischen Behandlungsabbruchs erzwingende, verfassungsrechtlich verbürgte Selbstbestimmungsrecht des Patienten – als tatbestandslos oder als durch Einwilligung gerechtfertigt betrachten (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (1) (a) (bb)). Wenngleich die herrschende Meinung im Strafrecht im Ergebnis regelmäßig zu verfassungsgemäßen Ergebnissen gelangt (zumindest bezüglich der unter Kap. 6 A. II. 3. a) bb) dargestellten Beispielsfälle), ist zu konstatieren, dass die herrschende Meinung teilweise widersprüchlich argumentiert und zudem die Vorgaben der Verfassung für die Strafrechtsauslegung argumentativ nicht vollständig ausschöpft.

461  Dannecker, in: LK, StGB, Bd. 1, § 1, Rn. 326; Hassemer/Kargl, in: NK, StGB, Bd. 1, § 1, Rn. 110; Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht, S.  526 ff.; Kudlich, JZ 2003, 127 ff.; Kuhlen, Die Verfassungskonforme Auslegung von Strafgesetzen; Lenckner/Eser/Stree/Eisele/Heine/Perron/ Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, § 1, Rn. 50; Rengier, Strafrecht AT, § 5, Rn. 24; Satzger, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, § 1, Rn. 45; Schmitz, in: MüKo, StGB, Bd. 1, § 1, Rn. 83; von Heintschel-Heinegg, in: Beck’scher OnlineKommentar, StGB, § 1, Rn. 21 ff. (Stand: 01.03.2010).



A. Behandlungspflichten des Arztes275

(1) Unzureichende Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Vorgaben bei der Strafrechtsauslegung Rechtsprechung und Lehre bedienen sich der verfassungskonformen Auslegung in deutlich weniger Fallkonstellationen, als der Verfassung verbindliche Vorgaben für die Interpretation strafrechtlicher Normen zu entnehmen sind. Dies scheint eine Folge dessen zu sein, dass meistens nicht systematisch überprüft wird, ob die Verfassung Wertentscheidungen enthält, die für die Bewertung von Verhaltensweisen, deren strafrechtliche Einordnung in Frage steht, angesichts des Vorrangs der Verfassung vor dem einfachen Recht relevant und somit bei der Strafrechtsauslegung zu berücksichtigen sind. Das Grundgesetz scheint vielfach nur herangezogen zu werden, wenn sich ein, durch gesellschaftlichen Konsens erzwungenes, Ergebnis unter Zugrundelegung der herrschenden Strafrechtsdogmatik nicht begründen lässt und an der verfassungskonformen Auslegung des Strafrechts daher kein Weg vorbeigeht. Man denke in diesem Zusammenhang an den technischen Behandlungsabbruch durch Nicht-Ärzte („Fall Putz“). Dessen Straflosigkeit wird über eine verfassungskonforme Auslegung der Einwilligungsvoraussetzungen bzw. der objektiven Zurechnung begründet. Denn dieser Weg stellt, unter Zugrundelegung der herrschenden Strafrechtsdogmatik, die eine extensive Interpretation des Dogmas von der Höchstwertigkeit des mensch­lichen Lebens vertritt (was einer Notstandsrechtfertigung des technischen Behandlungsabbruchs durch Nicht-Ärzte entgegensteht), die einzige Möglichkeit dar, um zu dem ethisch gebotenen und gesellschaftlich erwünschten Ergebnis der Straflosigkeit zu gelangen (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (1) (a) (bb)). In Fällen jedoch, in denen sich das für richtig erachtete Ergebnis auch anders – also ohne Rückgriff auf verfassungsrechtliche Wertungen – begründen lässt, wird nicht selten verkannt oder zumindest nicht aufgedeckt, dass das favorisierte Ergebnis auch durch die Verfassung erzwungen wird. So wird im „Millionärs-Fall“ eine Notstandsrechtfertigung des Diebstahls zu Lasten des Millionärs ganz überwiegend mit dem Argument abgelehnt, dass eine Legitimierung eines solchen Diebstahls dem Opfer ein „unzumutbares Sonderopfer“ abverlangen würde (vgl. Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (3) (b) (dd)). Jedoch wird von der ganz überwiegenden Anzahl der Literaturvertreter nicht offengelegt, dass dieses Ergebnis auch durch die Eigentumsfreiheit (Art. 14 GG) und durch den Allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) erzwungen wird, welche die Grenzen der Sozialbindung des Eigentums normieren und die Einforderung von so extremen Sonderopfern verbieten, wie sie für das Diebstahlsopfer mit der Legitimierung des im „MillionärsFall“ vorliegenden Diebstahl verbunden wären (näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (c) (ee)).

276

Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

Das gleiche gilt für die Fallkonstellation, der für den Garanten mit konkreten Lebens- bzw. erheblichen Gesundheitsgefahren verbundenen Lebensrettung („Nierenspende-Fall“, Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (2) (b) (bb)). Auch bezüglich dieser Fallgruppe verschweigen Schrifttum und Rechtsprechung, aus welchen Verfassungsgrundsätzen sich die, bei konkreten Gefahren für das Leben oder bedeutende Gesundheitswerte, anzuerkennende Zumutbarkeitsgrenze ergibt, auf die sich der zur Bewahrung des Rechtsguts Leben auf Posten gestellte Garant berufen kann. Es wird pauschal auf „unverfügbare Rechtspositionen“ verwiesen, anstelle auf das Selbstbestimmungsrecht des Patienten (bzw. die Menschenwürde) abzustellen, woraus sich die bei konkreten Lebens- oder erheblichen Gesundheitsgefahren zu ziehende Opfergrenze für den (Lebensrettungs-)Garanten ergibt, wenn die Lebensrettung es erfordert, dass sich der Garant einem gravierenden medizinischen Eingriff unterzieht (wie im „Nierenspende-Fall“), oder auf den Menschenwürdekern des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit (bzw. die Menschenwürdegarantie) zu rekurrieren, woraus die beschriebene Zumutbarkeitsgrenze folgt, wenn die Lebensrettung dem Garanten keinen medizinischen Eingriff abverlangen würde (näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (b) (dd)). Es ist jedoch keineswegs irrelevant, ob die Strafbarkeit bzw. die Zulässigkeit eines Verhaltens auf rein strafrechtlichen Wertungen beruht oder durch die Verfassung geboten wird. Denn in der ersten Variante lässt sich mit entsprechender strafrechtlicher Argumentation durchaus auch das gegenteilige Ergebnis (Zulässigkeit oder Strafbarkeit) begründen, während in der zweiten Variante aufgrund der Normenhierarchie (Vorrang der Verfassung vor einfachem Recht) nur dann das gegenteilige Ergebnis vertretbar ist, wenn die einschlägige Verfassungsnorm auch die gegenteilige Auslegung zulässt. (2) Unzureichende Berücksichtigung des (Verfassungs-)Grundsatzes vom Vorrang des Gesetzes bei der Strafrechtsauslegung Neben der unzureichenden und zu wenig systematisierten Überprüfung der Grundrechte auf Vorgaben, die bei der Auslegung des Strafrechts zu berücksichtigen sind, ist zu kritisieren, dass Rechtsprechung und Lehre dem – in Art. 20 Abs. 3 GG normierten und auch für die Judikative verbindlichen462 – (Verfassungs-)Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes bei der Auslegung strafrechtlicher Normen zu wenig Beachtung schenken: So betrachten BGH463 462  Hillgruber, 463  BGHSt

in: Maunz/Dürig, GG, Art. 97, Rn. 26 (52.  Lfg. 2008). 55, 191 (198 ff.) = NJW 2010, 2963 (2966).



A. Behandlungspflichten des Arztes277

und Lehre464 die §§ 1901 a ff. BGB für die Bestimmung der strafrechtlichen Grenzen des Behandlungsabbruchs beim entscheidungsunfähigen Patienten zwar als maßgeblich. Jedoch leiten sie die Bindungswirkung dieser betreuungsrechtlichen Vorschriften, mit denen der Gesetzgeber – bezogen auf medizinische Eingriffe – das Selbstbestimmungsrecht des Patienten verfahrensmäßig absichern und Rechtssicherheit und Orientierungssicherheit schaffen wollte, nicht – was zutreffend wäre – aus dem Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes ab. Vielmehr wird die Relevanz dieser Vorschriften für das Strafrecht mit dem Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung begründet, der jedoch als bloßes Postulat ohne verfassungsrechtliche Fundierung keinerlei Bindungswirkung zu entfalten vermag (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (1) (a) (bb) / Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (a) (dd)). Das gleiche gilt für die von der herrschenden Meinung anerkannte Auslegungsregel für den unbestimmten Rechtsbegriff in § 34 StGB „überwiegendes Interesse“ bzw. „Angemessenheit“, wonach über eine Notstandsrechtfertigung nicht nur die Menschenwürde und der Kernbereich der Grundrechte keinesfalls verletzt werden dürfen, sondern auch unter keinen Umständen gesetzlich geregelte Verfahren bzw. gesetzliche Regelungen, in denen die Notstandsgefahr einkalkuliert ist, unterlaufen werden dürfen. Obwohl die herrschende Meinung diese Auslegungsregel sogar für Fallkonstellationen als anwendbar betrachtet, in denen die Notstandshandlung zur Rettung eines Menschenlebens erforderlich ist, legt sie das verfassungsrechtliche Fundament dieser Auslegungsregel nicht offen. Dieses besteht in der Dogmatik grundrechtlicher Schutzpflichten – wonach der Staat bei der Wahrnehmung grundrechtlicher Schutzpflichten (selbst solcher zugunsten des Lebens) einen weiten Gestaltungsspielraum hat und (auch bei der Erfüllung seiner Schutzpflichten) an das Gesetzlichkeits- und Verhältnismäßigkeitsprinzip gebunden ist, sofern er in Rechte Dritter eingreift – sowie im (Verfassungs-)Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes (Kap. 6. A. II. 2. a) bb) (3) (b) (bb) / Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (3) (b) (cc)). Die Benennung des verfassungsrechtlichen Fundaments der soeben beschriebenen Auslegungsregel ist jedoch unverzichtbar. Denn andernfalls erschließt sich nicht, weshalb gesetzlich geregelte Verfahren bzw. gesetzliche Regelungen, in welche die Notstandsgefahr einkalkuliert ist, durch eine Notstandsrechtfertigung auch dann nicht unterlaufen werden dürfen, sofern die Notstandshandlung der Rettung eines anderenfalls verlorenen Menschenlebens dient.

464  Reus,

JZ 2010, 80 (82 f.).

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

(3) Unzureichende Berücksichtigung des (Verfassungs-)Grundsatzes vom Vorbehalt des Gesetzes bei der Strafrechtsauslegung Auch der – aus dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip465 folgende und auch für die Judikative geltende466 – (Verfassungs-)Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes wird bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe im Strafrecht – trotz des Bekenntnisses der herrschenden Meinung zum Gebot der verfassungskonformen Auslegung des Strafrechts – vernachlässigt. Das zeigt z. B. die strafrechtliche Beurteilung der passiven Sterbehilfe beim entscheidungsfähigen Patienten, des Geschehenlassens eines freiverantwortlichen Suizids („Wittig-Fall“) und des Unterlassens einer lebensrettenden Zwangsheilung beim entscheidungsfähigen Patienten. Denn die herrschende Meinung, die in diesen Fällen für die Straflosigkeit des Verzichts auf lebensverlängernde bzw. lebensrettende Maßnahmen eintritt, begründet ihr Ergebnis ausschließlich unter Verweis auf einer Strafbarkeit entgegenstehende Grundrechte, nämlich das Selbstbestimmungsrecht des Patienten etc. (vgl. Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (2) (a) (aa) / Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (2) (a) (bb) / Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (2) (a) (cc)). Jedoch wird dieses Ergebnis nicht nur durch die Grundrechte erzwungen, sondern auch durch den Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes, in der Ausprägung, die dieses Prinzip durch die Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG gefunden hat. Danach ist das Parlament verpflichtet, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen, soweit diese einer Normierung zugänglich sind, selbst und durch Gesetz zu regeln, wobei die Regelungen umso bestimmter sein müssen, je größer die Intensität der Grundrechtsbetroffenheit ist.467 Eine Auslegung der §§ 212 (216), 13 StGB (§ 323 c StGB), die besagt, dass ein Arzt (durch Strafdrohung) gezwungen ist, einen freiverantwortlich handelnden Patienten bzw. Suizidenten (der nur durch einen invasiven medizinischen Eingriff zu retten ist) zum Weiterleben gegen seinen Willen zu zwingen, würde zu einer Rechtslage führen, die sehr intensiv in das verfassungsrechtlich verbürgte Selbstbestimmungsrecht des Patienten eingriffe (und dieses auch verletzen würde). Eine solche Rechtslage wäre mit den beschriebenen Anforderungen des Grundsatzes vom Vorbehalt des Gesetzes nur dann vereinbar, wenn eine gesetzliche Regelung vorhanden wäre, die den Patienten bzw. Suizidenten explizit zur Duldung der (mit einer solchen Auslegung der §§ 212 (216), 13 StGB; § 323 c StGB verbundenen) Beeinträchtigung seines Selbstbestimmungsrechts verpflichten würde (die der Gesetzgeber aber na465  BVerfGE 101, 1 (34); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 20, Rn. 46; SchulzeFielitz, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 20, Rn. 106 ff.; differenzierend: Herzog/Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20, Rn. 72 (71.  Lfg. 2014). 466  Hillgruber, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 97, Rn. 26 (52.  Lfg. 2008). 467  Sachs, in: Sachs, GG, Art. 20, Rn. 117.



A. Behandlungspflichten des Arztes279

türlich nicht erlassen dürfte, weil er das Selbstbestimmungsrecht des Patienten verletzen würde). Eine diesen Bestimmtheitsanforderungen genügende Ermächtigungsgrundlage existiert jedoch nicht. Insbesondere genügt § 216 StGB diesen Anforderungen nicht. Denn nach herrschender Lehre468 kann dieser durch Unterlassen nicht verwirklicht werden kann und wäre zudem nicht hinreichend bestimmt, da diese Vorschrift keinerlei Hinweise auf Zwangsbefugnisse der Ärzteschaft zu Lasten sterbewilliger bzw. behandlungsunwilliger Patienten enthält. Insofern wird eine Auslegung der §§ 212 (216), 13 StGB; § 323 c StGB dahingehend, dass die passive Sterbehilfe beim entscheidungsfähigen Patienten / das Geschehenlassen eines freiverantwortlichen Suizids („Wittig-Fall“) / das Unterlassen einer lebensrettenden Zwangsheilung zugunsten eines entscheidungsfähigen Patienten zulässig ist, nicht nur durch das Selbstbestimmungsrecht des Patienten geboten, sondern vielmehr auch durch den andernfalls verletzten Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes (siehe Kap. 6 A. II. 3. a) aa (1) (b) (aa) / Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (b) (bb) / Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (b) (cc)). b) Eigener Ansatz und Anwendung auf die geschilderten Beispielsfälle aa) Konsequente verfassungskonforme Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe im Strafrecht Obwohl sich die herrschende Meinung469 zu dem aus der Normenhierarchie folgenden Gebot der verfassungskonformen Auslegung des Strafrechts bekennt und verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen zumindest im Ergebnis Rechnung zu tragen vermag, ist, aufgrund der aufgezeigten Inkonsistenzen im Hinblick auf die Bewertung des Rechtsguts Leben durch die herrschende Strafrechtsdogmatik sowie aufgrund der obigen Kritik an der unzureichenden Ausschöpfung verfassungsrechtlicher Vorgaben für die Strafrechtsauslegung (Kap. 6 A. II. 3. a)), für eine – insbesondere auch argumentativ – konsequente Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Wertentscheidungen bei der Strafrechtsauslegung zu plädieren. Diese hat folgende Grundsätze zu beachten: 468  Momsen, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, § 216, Rn. 11; Wessels/ Hettinger, Strafrecht BT, Bd. 1, Rn. 161. 469  Dannecker, in: LK, StGB, Bd. 1, § 1, Rn. 326; Hassemer/Kargl, in: NK, StGB, Bd. 1, § 1, Rn. 110; Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht, S.  526 ff.; Kudlich, JZ 2003, 127 ff.; Kuhlen, Die Verfassungskonforme Auslegung von Strafgesetzen; Lenckner/Eser/Stree/Eisele/Heine/Perron/ Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, § 1, Rn. 50; Rengier, Strafrecht AT, § 5, Rn. 24; Satzger, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, § 1, Rn. 45; Schmitz, in: MüKo, Bd. 1, § 1, Rn. 83; von Heintschel-Heinegg, in: Beck’scher Online-Kommentar StGB, § 1, Rn. 21 ff. (Stand: 01.03.2010).

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

(1) Vorgaben für eine konsequente verfassungskonforme Auslegung strafrechtlicher Normen Bezüglich jeder, als strafrechtlich relevant in Betracht kommenden, Fallgestaltung muss überprüft werden, ob der Verfassung – also den Grundrechten und anderen Verfassungsprinzipen, wie dem strafrechtlichen Analogieverbot, dem Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes oder dem Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes – zwingende Vorgaben für die strafrechtliche Bewertung dieser konkreten Fallkonstellation zu entnehmen sind. Die Konsultation der Verfassung ist auch dann nicht entbehrlich, wenn die strafrechtliche Bewertung eines lebensverkürzenden Tuns oder Unterlassens bzw. die strafrechtliche Bewertung einer zur Bewahrung menschlichen Lebens erforderlichen Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsguts in Frage steht. Das gleiche gilt für die Fälle, in denen die strafrechtliche Relevanz einer (durch Tun oder Unterlassen verwirklichten und) zur Bewahrung eines Sachinteresses erforderlichen Verletzung eines Personenwerts zu beurteilen ist oder für Fälle, in denen es um die rechtliche Beurteilung der Verletzung eines strafrechtlich geschützten Sachinteresses geht, die zur Rettung eines Personenwerts erforderlich ist. Weder die Existenz des Höchstwertigkeitsdogmas, zumindest wenn man die von der herrschenden Meinung befürwortete extensive Interpretation dieses Prinzips vertritt, noch die Existenz des Grundsatzes vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen, macht es in derartigen Konstellationen entbehrlich, auf die Verfassung zu rekurrieren und zu untersuchen, ob sich aus dieser Vorgaben für die Entscheidung des konkret in Frage stehenden Konflikts zwischen dem Leben und einem kollidierenden Rechtsgut bzw. Interesse, bzw. zwischen einem Personenwert und einem hiermit kollidierenden Sachinteresse, ergeben. (a) V  erfassungskonforme Auslegung und Dogma vom Höchstwert des menschlichen Lebens Vertritt man mit der herrschenden Meinung eine extensive Interpretation des Höchstwertigkeitsdogmas und betrachtet das menschliche Leben als (Verfassungs-)Höchstwert, der allenfalls durch andere Verfassungshöchstwerte (wie die Menschenwürde oder das Interesse am Bestand des Staates) überwogen werden kann, liefert dieses Prinzip keine zuverlässig verfassungsrechtlich haltbaren Vorgaben zur Entscheidung strafrechtlicher Interessenkollisionen zwischen dem Rechtsgut Leben und hiermit kollidierenden Rechtsgütern bzw. Interessen. Dies gilt auch dann, wenn man den Anwendungsbereich des Höchstwertigkeitsdogmas auf Fallkonstellationen verengt, in denen ein lebensverkürzendes Tun gegeben ist, das sich nicht als zulässige Verteidigungshandlung im Sinne des § 32 StGB darstellt. Dies beweist nicht zuletzt



A. Behandlungspflichten des Arztes281

die strafrechtliche Bewertung des (als aktive Tötungshandlung zu qualifizierenden) technischen Behandlungsabbruchs durch Nicht-Ärzte („Fall Putz“), dessen Zulässigkeit unstrittig – in Abweichung vom Höchstwertigkeitsdogma – durch das verfassungsrechtlich verbürgte Selbstbestimmungsrecht des Patienten (sowie, nach der hier vertretenen Auffassung, durch den Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes) erzwungen wird (näher Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (1) (a) (bb) / Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (a) (dd)). Erst recht zu, aus verfassungsrechtlicher Perspektive, unhaltbaren Ergebnissen kann es kommen, wenn man das Höchstwertigkeitsdogma auf Fallgestaltungen anwendet, in denen das Rechtsgut Leben durch ein Unterlassen beeinträchtigt wird, auf Notstandskonstellationen, in denen das Rechtsgut Leben als Erhaltungsgut berührt ist oder auf Notwehrkonstellationen, in denen das Leben als Eingriffsgut berührt ist. Denn die Verfassungsordnung weist dem Leben – entgegen der Verfassungsinterpretation, die der herrschenden extensiven Interpretation des Höchstwertigkeitsdogmas zugrunde liegt – gerade nicht den Rang eines Höchstwerts zu, der allenfalls durch andere Verfassungshöchstwerte, wie die Menschenwürde oder das Interesse am Bestand des Staates, überwogen werden kann. Letztlich unstreitig kann die Wertigkeit bzw. der Rang, die / den die Verfassung dem menschlichen Leben zuschreibt, nur kontextbezogen beurteilt werden. Dies gilt generell, insbesondere aber auch für strafrechtlich relevante Interessenkollisionen zwischen dem menschlichen Leben und einem hiermit kollidierenden Rechtsgut bzw. Interesse. Zwar treffen den Staat Schutzpflichten zugunsten des menschlichen Lebens, die umfassend gelten und bei Übergriffen durch Private ebenso Geltung beanspruchen wie bei objektiven Gefährdungen (durch Selbstgefährdungen, Erkrankungen etc.). Jedoch besitzt der Staat bei der Erfüllung seiner (Lebens-)Schutzpflichten einen erheblichen Spielraum, der erst überschritten ist, wenn die ergriffenen Maßnahmen gänzlich ungeeignet oder völlig unzureichend sind. Außerdem bedarf der Staat, sofern er zur Erfüllung der Schutzpflichten in grundrechtliche Betätigungen privater Dritter eingreift, einer gesetzlichen Grundlage, die den Anforderungen der Verfassung genügt und insbesondere dem aus der Abwehrdimension der Grundrechte resultierenden Verhältnismäßigkeitsprinzip Rechnung trägt. Es kann daher die Situa­tion eintreten, dass der Staat die einzige Maßnahme unterlassen muss, die die Bewahrung des zu schützenden Rechtsguts gestattet. Daher ist der Staat durch Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG (Grundrecht auf Leben) nicht dazu verpflichtet, jedes lebensverkürzende Tun oder Unterlassen zu pönalisieren und jede zur Bewahrung menschlichen Lebens erforderliche Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsguts zu legitimieren. Vielmehr kann ihm dies im Einzelfall sogar untersagt sein, da er andernfalls grundrechtliche Verbürgungen, die nicht zwingend Verfassungshöchstwerte darstellen müssen (Selbstbestimmungsrecht etc.), verletzen würde.

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

Für die Strafrechtsauslegung bedeutet dies, dass das Grundrecht auf Leben es nicht erzwingt, die §§ 212 (13), (34) StGB (§ 323 c StGB) so auszulegen, dass jedes lebensverkürzende Tun und jedes lebensverkürzende Unterlassen unzulässig ist und jede zur Bewahrung menschlichen Lebens erforderliche Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsguts – etwa über eine Notstandsrechtfertigung etc. – zu legitimieren. Vielmehr existieren Fallkonstellationen, in denen die Grundrechte – auch solche, die ihrerseits keine Verfassungshöchstwerte repräsentieren – oder andere Verfassungsprinzipien (strafrechtliches Analogieverbot, Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes, Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes) einer derartigen Norminterpretation zwingend entgegenstehen (näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa)). Die herrschende extensive Auslegung des Höchstwertigkeitsdogmas ist daher abzulehnen. Zwar gelingt es den Vertretern dieser Auffassung stets den Wertentscheidungen der Verfassung Rechnung zu tragen, indem sie Ausnahmen vom Höchstwertigkeitsdogma anerkennen und insbesondere den Anwendungsbereich dieses Prinzips so stark beschränken, dass dieses im Interesse einer verfassungskonformen Strafrechtsanwendung jederzeit unterlaufen werden kann (näher Kap. 6 A. II. 2. b) aa) / Kap. 6 A. II. 2. b) cc) (2)). Jedoch birgt die extensive Interpretation des Höchstwertigkeitdogmas die Gefahr einer, aus verfassungsrechtlicher Sicht, zu weiten Anwendung dieses strafrechtlichen (Auslegungs-)Grundsatzes. Denn hierdurch wird der unzutreffende Eindruck vermittelt, dass das Höchstwertigkeitsdogma die Vorgaben des Grundrechts auf Leben für den strafrechtlichen Lebensschutz konkretisiert und somit verbindliche Vorgaben für die Bewertung des Rechtsguts Leben im Strafrecht macht. Dabei liefert dieses Prinzip tatsächlich nicht mehr als eine abstrakte bzw. vorläufige Einschätzung der Wertigkeit des Rechtsguts Leben in einem strafrechtlich relevanten Rechtsgüterbzw. Interessenkonflikt, die unter dem Vorbehalt ihrer Vereinbarkeit mit grundrechtlichen Wertungen steht und somit jederzeit revidierbar ist (näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) / Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (2) (a)). Lediglich dann, wenn man das Dogma vom Höchstwert des menschlichen Lebens – wie insbesondere von Erb, Neumann und Merkel vertreten – sehr restriktiv, als Verbot zum Zwang der solidarischen Aufopferung des eigenen Lebens, interpretiert, ist dieser Grundsatz aus verfassungsrechtlicher Perspektive nicht zu beanstanden. Denn unter Zugrundelegung dieser sehr engen Auslegung des Höchstwertigkeitsdogmas, beschreibt dessen Anwendungsbereich – Situationen, in denen ein Mensch zur solidarischen Aufopferung des eigenen Lebens gezwungen ist – einen strafrechtlich relevanten Bereich, in welchen dem menschlichem Leben tatsächlich der Rang eines unabwägbaren Höchstwerts zukommt. Die im Vordringen befindliche restriktive Interpretation des Höchstwertigkeitsdogmas konkretisiert somit den unabwägba-



A. Behandlungspflichten des Arztes283

ren Kernbereich des menschlichen Lebens für das Strafrecht und erspart für Situationen, die unter den Anwendungsbereich dieser sehr engen Auslegung des Höchstwertigkeitsdogmas fallen, eine Konsultation der Verfassung hinsichtlich der Wertigkeit des Rechtsguts Leben im Verhältnis zu hiermit kollidierenden Rechtsgütern bzw. Interessen. Näher Kap. 6 A. II. 3. b) aa) (2) (b) / Kap. 6 A. II. 3. b) aa) (1) (a)). (b) V  erfassungskonforme Auslegung und Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen Auch der allgemein anerkannte strafrechtliche (Auslegungs-)Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen, den die herrschende Meinung aus Art. 1 Abs. 1 GG ableitet, ersetzt die Überprüfung verfassungsrechtlicher Vorgaben für als strafrechtlich relevant in Betracht kommende Rechtsgüter- bzw. Interessenkollisionen zwischen Personenwerten und Sachinteressen nicht für alle Konstellationen, in denen eine solche Kollision gegeben ist (näher Kap. 6 A. II. 3. a) bb) (2)). Ein pauschaler Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen ist aus verfassungsrechtlicher Perspektive allenfalls dann vertretbar, wenn man ihn auf solche (Notstands-)Fallkonstellationen beschränkt, in denen der Personenwert (Eingriffsgut) zum Zweck der Bewahrung eines Sachinteresses (Erhaltungsgut) durch ein aktives Tun beeinträchtigt wird, das sich nicht als erforderliche Verteidigungshandlung gegen einen Angriff im Sinne des § 32 StGB darstellt (Ausnahme: wenn den Rechtsgütern Freiheit bzw. Gesundheit nur geringe Einbußen drohen, während im Gegenzug erhebliche Sachwerte auf dem Spiel stehen). Das gleiche gilt für Notwehrkonstellationen, in denen das Sachinteresse als Eingriffsgut und der Personenwert als Erhaltungsgut berührt ist. Für alle anderen Interessenkollisionen zwischen Personenwerten und Sachinteressen, deren strafrechtliche Beurteilung in Frage steht, liefert dieses strafrechtliche Auslegungsprinzip hingegen nicht zuverlässig verfassungskonforme Ergebnisse. Denn entgegen der herrschenden Auffassung im Strafrecht lässt sich weder Art. 1 Abs. 1 GG noch anderen Verfassungsprinzipen entnehmen, dass Personenwerten stets Priorität vor Sachinteressen zuzukommen hat. Nach herrschender Verfassungsdogmatik gilt dies sowohl generell als auch für das Strafrecht. Ob die Verfassung einen Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen im Hinblick auf eine Interessenkollision, deren strafrechtliche Beurteilung in Frage steht, erzwingt oder auch nur gestattet, kann vor dem Hintergrund der Dogmatik grundrechtlicher Schutzpflichten (staatlicher Spielraum bei der Erfüllung der Schutzpflichten, selbst solcher zugunsten des Lebens; Bindung an das Gesetzlichkeitsprinzip und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, wenn der

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

Staat zur Erfüllung der Schutzpflichten in Grundrechte Dritter eingreift) nicht generell, sondern ausschließlich kontextbezogen beurteilt werden. Daher sind im Einzelfall sogar Fallkonstellationen denkbar, in denen die Verfassung (insbesondere die Grundrechte, wie Art. 12 GG, Art. 14 GG, Art. 3 Abs. 1 GG und der das Vermögen schützende Art. 2 Abs. 1 GG sowie Verfassungsprinzipien, wie das strafrechtliche Analogieverbot, der Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes und der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes) einen Vorrang von Sachinteressen vor Personenwerten erzwingt (Bsp.: tödliche Notwehrmaßnahmen zur Verteidigung von nicht unerheblichen Sachwerten, Diebstahl zur Finanzierung einer lebensrettenden Behandlung, ökonomischer Behandlungsverzicht durch auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätige Ärzte etc.). Näher Kap. 6 A. II. 3. a) bb).

(c) V  erfassungskonforme Auslegung und (Verfassungs-)Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes Neben den Grundrechten ist insbesondere auch der – aus dem Rechtstaats- und Demokratieprinzip folgende und auch für die Judikative verbindliche – Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes bei der Strafrechtsauslegung zu berücksichtigen. Nach diesem Grundsatz, in der Ausprägung, die dieses Prinzip durch die Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG gefunden hat, ist das Parlament verpflichtet, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen, soweit diese einer Normierung zugänglich sind, selbst und durch Gesetz zu regeln, wobei die Regelungen umso bestimmter sein müssen, je größer die Intensität der Grundrechtsbetroffenheit ist.470 Insofern verbietet es der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes, im Wege der Strafrechtsauslegung zu einer Rechtslage zu gelangen, die in die Grundrechte der durch die Strafnorm zu schützenden Person oder anderer Grundrechtsträger (z. B. des Notstandsopfers) so stark eingreift, dass die Verfassungsmäßigkeit dieser Rechtslage nicht zuletzt von der Existenz einer, den Belasteten explizit zur Duldung des Grundrechtseingriffs verpflichtenden Ermächtigungsgrundlage abhängt, sofern die Rechtsordung eine solche nicht zur Verfügung stellt; dies gilt auch dann, wenn die durch die Verbotsnorm verursachte Grundrechtsbeeinträchtigung nicht die Intensität einer Grundrechtsverletzung erreicht. Bsp.: Eine Auslegung der §§ 212 (216), 13 StGB (§ 323 c StGB), die besagt, dass eine passive Sterbehilfe zugunsten eines entscheidungsfähigen Patienten, das Geschehenlassen eines freiverantwortlichen Suizids („WittigFall“) oder der Verzicht auf eine lebensrettende Zwangsheilung eines ent470  Sachs,

in: Sachs, GG, Art. 20, Rn. 117.



A. Behandlungspflichten des Arztes285

scheidungsfähigen Patienten unzulässig bzw. strafbar ist, scheitert nach der hier vertretenen Auffassung nicht nur an dem, einer solchen Auslegung zwingend entgegenstehenden, verfassungsrechtlich verbürgten Selbstbestimmungsrecht des Patienten. Vielmehr steht einer solchen Norminterpretation auch der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes, in der Gestalt, die dieses Prinzip durch die Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG gefunden hat, entgegen. § 216 StGB ist nicht hinreichend bestimmt, um einen so massiven Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht des Patienten zu legitimieren, wie er mit einer Verpflichtung eines entscheidungsfähigen Patienten zur Duldung einer lebensverlängernden Zwangsbehandlung verbunden wäre. Schließlich enthält diese Norm keine (expliziten) Hinweise auf Zwangsbefugnisse der Ärzteschaft zu Lasten entscheidungsfähiger Patienten. Näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (b) (aa)). Im „Zwangsblutspende-Fall“ scheitert eine Notstandsrechtfertigung der erzwungenen Blutspende nicht nur an den einer Legitimierung der erzwungenen Blutspende entgegenstehenden Grundrechten (Selbstbestimmungsrecht bzw. Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit), sondern auch am Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes. Denn angesichts der mit einer Zwangsblutspende verbundenen massiven Eingriffe in das Selbstbestimmungsrecht bzw. das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit, macht der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes, in der Gestalt, die dieses Prinzip durch die Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG gefunden hat, die Verfassungsmäßigkeit einer Zwangsblutspende nicht zuletzt vom Vorhandensein einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage abhängig, die den unfreiwilligen Spender explizit zur Duldung der mit der Zwangsblutspende verbundenen Beeinträchtigungen verpflichtet. Eine solche Regelung existiert jedoch nicht und der Rückgriff auf die polizeiliche Befugnisgeneralklausel ist auch ausgeschlossen. Daher ist § 34 StGB im Licht des Grundsatzes vom Vorbehalt des Gesetzes dahingehend auszulegen, dass eine Notstandsrechtfertigung der Zwangsblutspende ausscheidet (näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (c) (dd)). (d) V  erfassungskonforme Auslegung und (Verfassungs-)Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes Bezogen auf den – in Art. 20 Abs. 3 GG normierten und auch für die Judikative verbindlichen – Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes ist zu überprüfen, ob der Gesetzgeber die Frage, ob ein bestimmtes Verhalten (Tun bzw. Unterlassen) strafbar zu sein hat, explizit selbst entschieden hat. Hat der Strafgesetzgeber das hinsichtlich seiner strafrechtlichen Relevanz in Frage stehende Verhalten explizit unter Strafe gestellt, so darf diese gesetz-

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

geberische Entscheidung für die Strafbarkeit, aufgrund des (Verfassungs-) Grundsatzes vom Vorrang des Gesetzes, nicht über eine entsprechende Auslegung der Rechtfertigungsgründe unterlaufen werden. Das gilt jedenfalls, sofern der Gesetzgeber die Interessenkollision zwischen den durch die Strafnorm geschützten Rechtsgütern und denjenigen, denen durch die Anwendung der Rechtfertigungsregelungen (insbesondere Notstand) Rechnung getragen werden könnte, bei seiner Entscheidung für die Strafbarkeit berücksichtigt hatte. Ein weiterer Anwendungsbereich für den Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes besteht im Hinblick auf solche Fallkonstellationen, in denen sich die Entscheidung für die Zulässigkeit einer Verhaltensweise aus Gesetzesnormen ergibt, die nicht zum Haupt- oder Nebenstrafrecht gehören (was eine Anwendung des in Art. 103 Abs. 2 GG normierten Analogieverbots ausschließt). Folgt die Zulässigkeit einer bestimmten Verhaltensweise aus öffentlich-rechtlichen oder zivilrechtlichen Gesetzesnormen, so darf diese gesetzgeberische Entscheidung nicht über eine entsprechende Auslegung der Strafvorschriften bzw. Rechtfertigungsgründe unterlaufen werden (Bsp.: §§ 1901 a ff. BGB, die die Wahrnehmung des verfassungsrechtlich verbürgten Selbstbestimmungsrechts durch äußerungsunfähige Patienten verfahrensmäßig absichern und somit die Auslegung der §§ 212, 216 StGB beeinflussen). Dies folgt aus dem – auch für die Judikative geltenden – (Verfassungs-) Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes und nicht aus dem Prinzip der Einheit der Rechtsordnung, das als reines Postulat über kein verfassungsrechtliches Fundament verfügt und dem somit keinerlei Bindungswirkung für die Judikative zukommt. Näher Kap. 6 A. II. 3. b) aa) (1) (d)). (e) B  edeutung der verfassungskonformen Auslegung im Verhältnis zu anderen Auslegungsmethoden und Argumenten Sofern sich aus der Verfassung für den Strafrichter zwingend zu beachtende Wertentscheidungen für die Bewertung eines als strafrechtlich relevant in Betracht kommenden Verhaltens ergeben, so ist im Rahmen der Begründung für oder gegen eine Strafbarkeit explizit offenzulegen, dass die Zulässigkeit bzw. Strafbarkeit dieser Verhaltensweise durch ein (andernfalls verletztes) Grundrecht bzw. Verfassungsprinzip erzwungen wird. Das gilt auch dann, wenn sich das durch die Verfassung erzwungene Ergebnis (Zulässigkeit bzw. Strafbarkeit) auch ohne Rekurs auf die Verfassung überzeugend begründen lässt, etwa über eine teleologische Auslegung der Norm etc. Denn aufgrund der Normenhierarchie, wonach die Verfassung über dem einfachen Recht steht, verbietet eine verfassungsrechtlich gebotene Strafbarkeit bzw. Straflosigkeit jede weitere Diskussion (es sei denn, die Verfassungsnorm lässt verschiedene Deutungen zu), was im Hinblick auf alle



A. Behandlungspflichten des Arztes287

anderen strafrechtlichen Argumente, die für und gegen eine Strafbarkeit vorgebracht werden können, nicht zutrifft. Zur Verdeutlichung sei auf den „Millionärs-Fall“ verwiesen: Die in der strafrechtlichen Debatte gegen eine Notstandsrechtfertigung des Diebstahls vorgebrachte Argumentation ist zwar überzeugend, wonach es Sache der Sozialgemeinschaft und nicht des Einzelnen sei, so­ziale Notlagen, wie die dem „Millionärs-Fall“ zugrunde liegende, zu beheben und dem Einzelnen in dem Fall, dass die Sozialgemeinschaft sich gegen die Behebung einer derartigen Notlage entscheide, keine weitergehenden Pflichten als Sonderopfer auferlegt werden dürften. Zwingend ist diese Argumentation jedoch nicht, weshalb auch eine hieraus gefolgerte Strafbarkeit wegen Diebstahls nicht zwingend ist. Zwingend ist die allgemein befürwortete Strafbarkeit jedoch, wenn man argumentiert, dass die (Notstands-)Legitimierung des Diebstahls das Notstandsopfer in seinem verfassungsrechtlich verbürgten Eigentumsrecht (Art. 14 GG) verletzten würde sowie gegen den Allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) verstoßen würde, weil hierdurch dem Millionär (= Diebstahlsopfer) ein unzumutbares Sonderopfer auferlegt würde (Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (c) (ee)). (2) Implementierung der verfassungsrechtlichen Vorgaben in den strafrechtlichen Deliktsaufbau Mit der Erkenntnis, dass sich aus dem Vorrang der Verfassung vor dem einfachen Recht das Gebot zur grundrechtskonformen Auslegung des Strafrechts ergibt, ist jedoch noch nicht gesagt, auf welcher Ebene des Verbrechensaufbaus (Deliktsebene) bzw. im Rahmen der Auslegung welchem Tatbestands- oder Rechtfertigungstatbestandsmerkmals bzw. im Rahmen der Auslegung welchen allgemeinen Verbrechensmerkmals, die verfassungskonforme Auslegung durchzuführen ist. Zwar würde eine verfassungskonforme Auslegung eines in einem Schuldausschließungsgrund enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffs – mit der Folge der Verneinung der Schuldhaftigkeit der Tat – keinen gangbaren Weg zur Herbeiführung einer grundrechtlich gebotenen Straflosigkeit eines aktiven Tuns bzw. Unterlassens darstellen: Denn ein Verhalten, das sich im Rahmen der durch die Rechtsordnung gezogenen Schranken eines Grundrechts (oder einer anderen verfassungsrechtlichen Verbürgung) hält, kann strafrechtlich nicht rechtswidrig sein.471 Die rechtstechnische472 Fragestellung jedoch, ob die verfassungskonforme Auslegung besser auf der Ebene des Tatbestands (etwa durch Tatbestandsverengung) oder auf der Rechtswidrigkeitsebene durchzuführen ist und welches 471  Rönnau,

in: LK, StGB, Bd. 2, Vor. § 32, Rn. 60. in: Schönke/Schröder, StGB28, Vor. § 1, Rn. 34.

472  Eser/Hecker,

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

unbestimmte Tatbestands-, Rechtfertigungstatbestandsmerkmal oder allgemeine Verbrechensmerkmal sich aus strafrechtsdogmatischer Perspektive am besten dazu eignet, es einer verfassungskonformen Auslegung zu unterziehen, sperrt sich einer generellen Beantwortung. Hängt doch die Beantwortung dieser Frage von einer Vielzahl von Faktoren ab, so z. B. ob im Hinblick auf das in Frage stehende Verhalten ein echtes / unechtes Unterlassungs- oder ein Begehungsdelikt in Betracht kommt, welches Grundrecht bzw. Verfassungsprinzip die Strafbarkeit bzw. Zulässigkeit gebietet etc. Im Folgenden soll der Versuch einer Systematisierung unternommen werden, allerdings nur in Bezug auf die Straftatbestände, Normen und Verfassungsprinzipien, die im Hinblick auf die oben analysierten Fallkonstellationen relevant sind. (a) V  erfassungsrechtlich gebotene Legitimierung eines lebensverkürzenden Tuns Sofern die Verfassung (Grundrechte, Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes, Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes, strafrechtlichen Analogieverbot etc.) die Zulässigkeit eines lebensverkürzenden Tuns gebietet, stellt sich aus strafrechtsdogmatischer Perspektive zunächst die grundsätzliche Frage, ob das verfassungsrechtlich gebotene Ergebnis auf der Ebene des Tatbestands des § 212 StGB oder auf der Ebene der Rechtswidrigkeit herbeizuführen ist. Die Verfassung enthält diesbezüglich keine Vorgaben. Zwar ist es nicht möglich, eine durch die Verfassung gebotene Zulässigkeit eines lebensverkürzenden Tuns über eine verfassungskonforme Auslegung eines in einem Schuldausschließungsgrund enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffs (mit der Folge der Verneinung der Schuldhaftigkeit der Tat) zu begründen (näher Kap. 6 A. II. 3. b) aa) (2)).473 Jedoch stellt es aus verfassungsrechtlicher Perspektive eine rein rechtstechnische474 Fragestellung dar, ob ein lebensverkürzendes Tun, dessen Zulässigkeit durch die Verfassung geboten wird, deshalb nicht als Tötungsdelikt strafbar ist, weil schon der Tatbestand des § 212 StGB nicht vorliegt oder weil ein Rechtfertigungsgrund eingreift. Dementsprechend wird in Fallkonstellationen, in denen das Grundgesetz die Legitimierung eines lebensverkürzenden Tuns erzwingt, das durch die Verfassung gebotene Ergebnis der Straflosigkeit von manchen Literaturvertretern durch eine verfassungskonforme Auslegung der objektiven Zurechnung, also im Rahmen des objektiven Tatbestands des § 212 StGB, und von anderen durch eine verfassungskonforme Interpretation der unbestimmten Rechtsbegriffe in den Rechtfertigungstatbeständen herbeigeführt. Dies de473  Rönnau,

in: LK, StGB, Bd. 2, Vor. § 32, Rn. 60. in: Schönke/Schröder, StGB28, Vor. § 1, Rn. 34.

474  Eser/Hecker,



A. Behandlungspflichten des Arztes289

monstriert nicht zuletzt die Literaturdebatte um die strafrechtliche Behandlung der indirekten Sterbehilfe (vgl. Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (1) (a) (aa)). Die durch die Menschenwürde erzwungene Zulässigkeit der indirekten Sterbehilfe, wird von manchen Autoren mit dem Argument begründet, dass die medikamentös bedingte Lebensverkürzung vom erlaubten Risiko gedeckt sei bzw. außerhalb des Schutzbereichs der Norm liege und es insofern an der objektiven Zurechenbarkeit des tödlichen Erfolgs fehle. Von der herrschenden Meinung wird die durch das Grundgesetz gebotene Straflosigkeit der indirekten Sterbehilfe nicht schon über eine Verneinung des Tatbestands begründet, sondern über die Bejahung einer Notstandsrechtfertigung. Diese wird auf das Argument gestützt, dass – im Rahmen der Interessenabwägung des § 34 StGB – das durch den verfassungsrechtlichen Höchstwert Menschenwürde geschützte Schmerzlinderungsinteresse, das Lebensverlängerungsinteresse überwiege. Auch die Debatte um den technischen Behandlungsabbruch durch Nicht-Ärzte („Fall Putz“) bestätigt, dass sich eine durch die Verfassung gebotene Straflosigkeit sowohl über eine verfassungskonforme Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der objektiven Zurechnung, als auch über eine grundgesetzkonforme Interpretation unbestimmter Rechtsbegriffe in den Rechtfertigungsgründen herbeiführen lässt: Eine im Vordringen befindliche Literaturmeinung begründet die durch das Selbstbestimmungsrecht des Patienten (sowie nach der hier vertretenen Auffassung durch den Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes) gebotene Zulässigkeit des technischen Behandlungsabbruchs durch Nicht-Ärzte, im Wege der verfassungskonformen Auslegung der objektiven Zurechnung. Im Gegensatz hierzu interpretieren der BGH und die herrschende Lehre die Einwilligungsvoraussetzungen (insbesondere den unbestimmten Rechtsbegriffs der „Disponibilität des verletzten Rechtsguts“) verfassungskonform und bejahen eine Einwilligungsrechtfertigung (siehe Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (1) (a) (bb)). Für eine verfassungskonforme Auslegung des § 212 StGB bietet sich im Tatbestand dieser Norm ausschließlich die objektive Zurechnung an, wie u. a. die zum technischen Behandlungsabbruch durch Nicht-Ärzte vertretene Literaturauffassung demonstriert. Denn diese lehnt unter Verweis auf das andernfalls verletzte Selbstbestimmungsrecht des Patienten, die objektive Zurechnung ab – mit der Folge der Tatbestandslosigkeit des technischen Behandlungsabbruchs durch Nicht-Ärzte. Auch im Hinblick auf die indirekte Sterbehilfe, deren Zulässigkeit durch die Menschenwürde erzwungen wird, vertreten manche Autoren, dass die medikamentös bedingte Lebensverkürzung vom erlaubten Risiko gedeckt sei bzw. außerhalb des Schutzbereichs der Norm liege und es insofern an der objektiven Zurechenbarkeit des tödlichen Erfolgs fehle. Wenngleich es aus der Perspektive des Verfassungsrechts irrelevant ist, ob das verfassungsrechtlich gebotene Ergebnis der Zulässigkeit eines aktiv le-

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

bensbeendenden Tuns, im Wege der verfassungskonformen Auslegung des Merkmals der objektiven Zurechnung (mit der Folge der Tatbestandslosigkeit) oder im Wege der grundgesetzkonformen Interpretation eines Rechtfertigungsgrundes (mit der Folge der Rechtfertigung) herbeigeführt wird, so ist aus strafrechtsdogmatischer Perspektive – zumindest in einer Vielzahl von Fällen – die zweite Alternative die überzeugendere. Hierfür spricht zum einen, dass eine verfassungsrechtlich gebotene Zulässigkeit bzw. Straflosigkeit eines aktiv lebensverkürzenden Tuns, das Resultat einer Abwägung zwischen dem menschlichen Leben und einem anderen verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgut bzw. Interesse darstellt und eine solche Abwägung explizit gemacht werden muss und nicht unter der unspezifischen und viel zu groben Tatbestandskategorie der objektive Zurechnung spurlos verschwinden darf.475 Außerdem ist Anknüpfungspunkt für einen Ausschluss der objektiven Zurechnung immer die Qualität des Täterverhaltens, während der Zustand der geschützten Rechtsgüter und die Einstellung des Rechtsgutsträgers zur Rechtsgutsverletzung keine Rolle spielt.476 So werden etwa unter der Rubrik des erlaubten Risikos Fallkonstellationen erfasst, in denen eine Erfolgszurechnung deshalb ausgeschlossen ist, weil das in Frage stehende Verhalten ganz generell, also unabhängig von den Umständen des Einzelfalls, zu geringes Gefahrenpotential bzw. generell deutlich größere Vorteile als Nachteile hat, als dass die Rechtsordnung es verbieten würde. Im Gegensatz hierzu liegt die Ursache dafür, dass ein im Normalfall strafbewehrtes lebensverkürzendes Tun aufgrund verfassungsrechtlicher Vorgaben ausnahmsweise legitim zu sein hat, zumeist darin begründet, dass sich das lebensverkürzende Tun aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls – insbesondere solcher, die im Zustand des zu schützenden Rechtsguts, des Rechtsgutsträgers und / oder in der inneren Einstellung des Rechtsgutsträgers zur Rechtsgutsverletzung liegen –, ausnahmsweise nicht als sozialschädlich darstellt, sondern vielmehr das einzige Mittel ist, um bestimmte schutzwürdige Interessen bzw. Rechte eines Individuums zu wahren. Man betrachte nur den Beispielsfall der indirekten Sterbehilfe und den technischen Behandlungsabbruch durch Nicht-Ärzte („Fall Putz“). Die Straflosigkeit der indirekten Sterbehilfe und des technischen Behandlungsabbruchs durch Nicht-Ärzte, die durch die Verfassung erzwungen wird, beruht nicht in irgendeiner Weise auf dem Täterverhalten oder dessen Qualität (etwa in der Form, dass dieses nur eine als Bagatelle zu vernachlässigende Lebensverkürzung bewirkt), weshalb ein Zurechnungsausschluss wenig überzeugend 475  Merkel, JZ 1996, 1145 (1149); Roxin, in: Roxin/Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 75 (87 f.). 476  Merkel, JZ 1996, 1145 (1149).



A. Behandlungspflichten des Arztes291

wäre.477 Die grundgesetzlich gebotene Straflosigkeit basiert in diesen Fällen vielmehr auf dem Zustand des zu schützenden Rechtsguts oder dem Zustand des Rechtsguts­trägers bzw. auf einer bestimmten Einstellung des Rechtsgutsträgers zur Rechtsgutsverletzung: Nur aufgrund der Tatsache, dass der Patient unerträgliche und nicht ohne mögliche Lebensverkürzung zu lindernde Schmerzen leidet und daher eine – möglicherweise lebensverkürzende – Morphiumbehandlung wünscht, gebietet die Menschenwürde die Straflosigkeit der indirekten Sterbehilfe. Hätte der Patient Schmerzen, die sich auch anderweitig lindern ließen, so wäre eine lebensverkürzende Injektion als aktive Sterbehilfe zu qualifizieren und somit strafbar. Beim technischen Behandlungsabbruch durch Nicht-Ärzte basiert die durch das Selbstbestimmungsrecht des Patienten gebotene Straflosigkeit auf dem Einverständnis des Patienten mit dem tödlichen Behandlungsabbruch. Ohne dieses Einverständnis wäre der Behandlungsabbruch als aktive Sterbehilfe strafbar. Für eine Favorisierung der Rechtfertigungslösung(en) gegenüber der / den Tatbestandslösung(en) spricht zudem, dass die Rechtfertigungslösung(en) dem Regel-Ausnahme-Verhältnis, in welchem Tatbestandsmäßigkeit und Rechtfertigung zueinander stehen – was sich in dem Satz „Der Tatbestand indiziert die Rechtswidrigkeit“ widerspiegelt – besser Rechnung trägt / tragen.478 Denn der Gesetzgeber legt im Tatbestand einer Strafnorm fest, welche Rechtsgüter er (grundsätzlich) für so schützenswert hält, dass er Angriffe gegen diese pönalisiert.479 Dagegen wird in den Rechtfertigungstatbeständen den außergewöhnlichen Umständen Rechnung getragen, welche im Einzelfall die Straflosigkeit eines Rechtsgüterangriffs zu legitimieren vermögen480. Die Straflosigkeit eines lebensverkürzenden aktiven Tuns ist jedoch nur im absoluten Ausnahmefall verfassungsrechtlich geboten, nämlich in den sehr selten vorkommenden Fällen, in denen die Pönalisierung eines aktiv lebensbeendenden Tuns gegen die Verfassung vorstoßen würde, was bislang eigentlich nur bezüglich der indirekten Sterbehilfe (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (1) (a) (aa)), des technischen Behandlungsabbruchs durch Nicht-Ärzte („Fall Putz“; Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (2) (a) (bb)) und für bestimmte Notwehrkonstellationen (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (2) (b) (aa)) aner477  Hauck,

GA 2012, 202 (214). Schneider, Tun und Unterlassen beim Abbruch lebenserhaltender Behandlungen, S. 291 f. (bezogen auf den technischen Behandlungsabbruch durch NichtÄrzte). 479  Ch. Schneider, Tun und Unterlassen beim Abbruch lebenserhaltender Behandlungen, S. 291 f. (bezogen auf den technischen Behandlungsabbruch durch NichtÄrzte). 480  Ch. Schneider, Tun und Unterlassen beim Abbruch lebenserhaltender Behandlungen, S. 291 f. (bezogen auf den technischen Behandlungsabbruch durch NichtÄrzte). 478  Ch.

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

kannt ist. In den allermeisten Fallkonstellationen ist eine aktive Verkürzung des menschlichen Lebens strafbar. Die Strafbarkeit beruht entweder darauf, dass der Staat seine Schutzpflichten für das menschliche Leben nur durch eine Pönalisierung dieser Verhaltensweise erfüllen kann, oder – ohne dazu verpflichtet zu sein – von seiner Berechtigung Gebrauch gemacht hat, ein lebensverkürzendes Tun unter Strafe zu stellen, wie z. B. durch die Schaffung des § 216 StGB, der die aktive Tötung im Einverständnis mit dem Opfer unter Strafe stellt, zu deren Pönalisierung der Staat nach herrschender Meinung zwar nicht verpflichtet481, jedoch berechtigt ist482. Insofern entspricht es dem Regel-Ausnahme-Verhältnis von Tatbestand und Rechtswidrigkeit, die Straflosigkeit eines verfassungsrechtlich gebotenen aktiv lebensverkürzenden Tuns im Wege der Rechtfertigung herbeizuführen und nicht über die Verneinung des Tatbestands herbeizuführen. Ebenfalls gegen eine Tatbestandslösung spricht, dass sich die Frage, ob die Verfassung die Zulässigkeit eines lebensverkürzenden Tuns gebietet, gelegentlich erst mit Blick auf die in den Rechtfertigungsgründen getroffenen Regelungen entscheiden lässt. Die (verfassungsrechtlich gebotene) Zulässigkeit tödlicher Notwehrmaßnahmen zur Verteidigung von gegenwärtigen und rechtswidrigen Angriffen auf Sachgüter wird, unter Zugrundelegung der herrschenden Meinung, nicht durch Art. 14 GG oder andere Grundrechte erzwungen483. Vielmehr folgt die Zulässigkeit aus dem in Art. 103 Abs. 2 GG normierten (und auch auf die Rechtfertigungsgründe anwendbaren484) Analogieverbot und dem Umstand, dass der Gesetzgeber das Leben gefährdende Notwehrrechte zur Verteidigung von Angriffen auf Sachwerte zulassen wollte. Dies kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck, dass der Gesetzgeber in § 32 StGB – anders als in § 34 StGB – keine Interessenabwägung vorsieht und eine das Leben verletzende Notwehr zur Verteidigung von Sachwerten nicht verboten hat, obwohl die Zulässigkeit solch einschneidender Notwehrrechte zur Verteidigung von Sachwerten seit Jahrzehnten debattiert wird. 481  Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 100; Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 212 a; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2, Rn. 85; a. A. Lindner, JZ 2006, 373 (381). 482  Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 100; Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 212 a; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2 Abs. 2, Rn. 85. 483  A. A. Erb, NStZ 2005, 593 (597), Günther, in: SK, StGB, § 32, Rn. 116 (31. Lfg. 7. Aufl. 1999); Krey/Esser, Deutsches Strafrecht AT, § 14, Rn. 546, wonach tödliche Notwehrrechte zur Verteidigung von Sachwerten durch Art. 14 GG geboten sind, zumindest sofern es sich um unersetzbare Sachwerte handelt (vgl. auch Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (1) (b) (aa)). 484  Lenckner/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, Vor §§ 32 ff., Rn. 25 mit weiteren Nachw.



A. Behandlungspflichten des Arztes293

Vorzugswürdig ist in Fallkonstellationen, in denen das Grundgesetz die Zulässigkeit eines lebensverkürzenden aktiven Tuns (das sich unter § 212 StGB subsumieren lässt) gebietet, daher eine verfassungskonforme Auslegung der Rechtfertigungsgründe. Welcher Rechtfertigungstatbestand einer verfassungskonformen Auslegung zu unterziehen ist, um eine durch die Verfassung erzwungene Legitimität herbeizuführen, entzieht sich einer generellen Beurteilung. Es kann nur unter Berücksichtigung der konkreten Kollisionssituation sowie des die Straflosigkeit des lebensverkürzenden Tuns gebietenden Grundrechts bzw. Verfassungsprinzips entschieden werden: Sofern die Verfassung (Grundrechte; Verfasssungsgrundsätze, wie Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes etc.) die Zulässigkeit bzw. Straflosigkeit eines das Leben eines Angreifers aktiv verkürzenden Tuns gebietet, das der Abwehr eines gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriffs dient, so ist die verfassungsrechtlich gebotene Zulässigkeit des lebensverkürzenden Tuns im Wege der verfassungskonformen Bejahung der Notwehrvoraussetzungen, insbesondere des unbestimmten Rechtsbegriffs der „Gebotenheit“ der Notwehr, herbeizuführen. Gebietet die Verfassung die Legitimierung bzw. Straflosigkeit eines lebensverkürzenden Tuns, das nicht zur Abwehr eines Angriffs im Sinne des § 32 StGB erforderlich ist, ist die Zulässigkeit im Wege der grundrechtskonformen Auslegung der unbestimmten Notstandsvoraussetzungen „überwiegendes Interesse“ und „Angemessenheit“ herbeizuführen (mit der Folge der Bejahung einer Notstandsrechtfertigung). In Fällen, in denen – wie beim technischen Behandlungsabbruch durch Nicht-Ärzte („Fall Putz“) – das verfassungsrechtlich verbürgte Selbstbestimmungsrecht des Patienten die Zulässigkeit eines lebensverkürzenden Tuns gebietet, lässt sich diese darüber hinaus auch dadurch begründen, dass man die Einwilligungsvoraussetzungen (insbesondere die Voraussetzung der „Disponibilität des verletzten Rechtsguts“, die bezüglich des Rechtsguts Leben sonst abgelehnt wird) im Licht des Selbstbestimmungsrechts auslegt und eine Einwilligungsrechtfertigung annimmt. Dies zeigt die Rechtsprechung des BGH und die überwiegend vertretene Literaturauffassung zum technischen Behandlungsabbruch durch Nicht-Ärzte ((Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (2) (a) (bb)). (b) V  erfassungsrechtlich gebotene Legitimierung eines lebensverkürzenden Unterlassens durch einen (Lebensschutz-)Garanten (§§ 211 ff., 13 StGB) Erzwingt das Grundgesetz die Legitimierung eines lebensverkürzenden Unterlassens, das durch einen Garanten begangen wurde und sich somit unter die §§ 211, 13 ff. StGB (unechtes Unterlassungsdelikt) subsumieren

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

lässt, so stehen zur Herbeiführung des verfassungsrechtlich gebotenen Ergebnisses der Straflosigkeit (im Wege der Verneinung des Tatbestands bzw. der Bejahung eines Rechtfertigungsgrunds) eine Reihe unbestimmter Rechtsbegriffe im Tatbestand und in den Rechtfertigungsgründen zur Verfügung: Zu nennen sind in diesem Zusammenhang das unbestimmte Tatbestandsmerkmal der „Garantenstellung“, die unbestimmten Rechtfertigungstatbestandsmerkmale „überwiegendes Interesse“ und „Angemessenheit“ in § 34 StGB sowie der unbestimmte Rechtsbegriff der „Disponibilität des verletzten Rechtsguts“ als Voraussetzung der rechtfertigenden Einwilligung. Auch die „Garantenpflicht“ steht einer verfassungskonformen Auslegung offen, da sie nach herrschender Meinung als allgemeines Verbrechensmerkmal485 oder als Rechtswidrigkeitsmerkmal486 zu qualifizieren ist. Sofern man das Merkmal der „Zumutbarkeit“ mit der wohl herrschenden Meinung487 als ungeschriebenes Merkmal des objektiven Tatbestands des unechten Unterlassungsdelikts ansieht oder mit einer Literaturauffassung488 davon ausgeht, dass fehlende Zumutbarkeit rechtfertigend wirkt (und nicht bloß – wie von einer Mindermeinung489 angenommen – als Entschuldigungsgrund betrachtet), steht beim unechten Unterlassungsdelikt sogar noch ein weiterer, der verfassungskonformen Auslegung zugänglicher unbestimmter Rechtsbegriff zur Verfügung. Die Vielfalt der Möglichkeiten, eine durch die Verfassung erzwungene Zulässigkeit eines lebensverkürzenden Unterlassens zu begründen, zeigt die Debatte um die passive Sterbehilfe beim entscheidungsfähigen Patienten (näher Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (2) (a) (aa)). Deren Strafbarkeit lehnt ein Teil der Literaturvertreter ab, indem diese, unter Verweis auf das andernfalls verletzte Selbstbestimmungsrecht des Patienten, die Garantenstellung verneinen. Eine Mindermeinung legt den unbestimmten Rechtsbegriff des „überwiegenden Interesses“ in § 34 StGB im Licht des Selbstbestimmungsrechts aus und bejaht eine Notstandsrechtfertigung. Auch eine Einwilligungsrechtfertigung der passiven Sterbehilfe beim entscheidungsfähigen Patienten wird von manchen Literaturvertretern 485  Gropp, Strafrecht AT, § 11, Rn. 11; Kühl, Strafrecht AT, § 18, Rn. 129; ders., in: Lackner/Kühl, StGB, § 15, Rn. 7. 486  BGHSt 16, 158; Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT, § 15, Rn. 45; Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 630 f.; Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, § 15, Rn. 2. 487  OLG Hamburg StV 1996, 437 (438); Fischer, StGB, § 13, Rn. 81; Krey/Esser, Deutsches Strafrecht AT, § 16, Rn. 1172; Rn. 155; Lenckner/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, Vor §§ 32 ff., Rn. 125; Weigend, in: LK, StGB, Bd. 1, Vor. § 13, Rn. 68; Wohlers/Gaede, in: NK, StGB, Bd. 1, § 13, Rn. 17; wohl auch: BGH NJW 1994, 1357. 488  Gropp, Strafrecht AT, § 11, Rn. 55; Küper, Grund- und Grenzfragen der rechtfertigenden Pflichtenkollision im Strafrecht, S. 97 ff. 489  Kühl, Strafrecht AT, § 18, Rn. 33; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, Rn. 739.



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mit dieser Argumentation befürwortet. Die meisten Autoren lehnen jedoch, unter Verweis auf das andernfalls verletzte Selbstbestimmungsrecht des Patienten, eine auf Lebensverlängerung gerichtete Garantenpflicht ab. Die Lösung, eine durch die Verfassung gebotene Zulässigkeit eines lebensverkürzenden Unterlassens eines Garanten im Wege der grundgesetzkonformen Interpretation des Merkmals der „Garantenstellung“ herbeizuführen, wäre jedoch aus strafrechtsdogmatischer Perspektive nicht überzeugend. Denn die Verneinung der Garantenstellung würde die Ablehnung aller Garantenpflichten beinhalten, welche sich aus der Garantenstellung ergeben. Dies wäre in den meisten Fällen, in denen die Verfassung die Zulässigkeit bzw. Straflosigkeit eines bestimmten Unterlassens gebietet, jedoch nicht sachgerecht. Denn zumeist erzwingt die Verfassung lediglich die Zulässigkeit des Unterlassens einer ganz bestimmten Handlungsweise, zu deren Vornahme der Garant aufgrund seiner Garantenstellung üblicherweise verpflichtet ist, nicht jedoch die Zulässigkeit des Zurückbleibens hinter allen aus der Garantenstellung folgenden Handlungspflichten. Dies verdeutlicht das Beispiel der passiven Sterbehilfe beim entscheidungsfähigen Patienten. Denn das Selbstbestimmungsrecht gebietet ausschließlich die Zulässigkeit des Verzichts auf lebenserhaltende Maßnahmen, sofern dieser Behandlungsverzicht dem Willen des Patienten entspricht, nicht jedoch die Zulässigkeit des Unterlassens der Erfüllung aller ärztlicher Pflichten, die sich aus der Garantenstellung des Arztes ergeben. Schließlich bleibt trotz des wirksamen Verzichts des Patienten auf lebensverlängernde Maßnahmen, die aus der ärztlichen Garantenstellung folgende Pflicht zur Schmerzlinderung etc. bestehen. Auch die grundgesetzkonforme Auslegung (und Bejahung) der Notstandsbzw. der Einwilligungsvoraussetzungen vermag nicht zu überzeugen, obwohl diese Vorgehensweise den Vorteil hätte, dass die verfassungskonforme Norminterpretation beim Begehungs- und beim unechten Unterlassungsdelikt parallel laufen würde. Gegen diese Rechtfertigungs-Lösung(en) spricht jedoch, dass in Fallkonstellationen, in denen eine bestimmte Handlungspflicht gegen die Verfassung verstößt, der Handlungspflichtige nicht dafür einzutreten hat, dass ein bestimmter Erfolg ausbleibt. Insofern greift es zu kurz, in diesen Fällen lediglich davon auszugehen, dass das Unterlassen der Vornahme der entsprechenden Handlung durch Notstand gerechtfertigt ist. Vielmehr fehlt es in diesen Fallkonstellationen bereits am Vorliegen einer entsprechenden Rechtspflicht. Somit verbleibt in der Regel nur die Lösung, die Garantenpflicht verfassungskonform auszulegen und abzulehnen. Diese stellt nach herrschender Meinung490 ein allgemeines Verbrechensmerkmal (wie die Rechtswidrigkeit 490  Gropp, Strafrecht AT, § 11, Rn. 11; Kühl, Strafrecht AT, § 18, Rn. 129; ders., in: Lackner/Kühl, StGB, § 15, Rn. 7.

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

oder ein gesamttatbewertendes Merkmal) dar. Nach anderer Auffassung491 ist der systematische Standort der Garantenpflicht die Rechtswidrigkeit, während nach einer dritten Auffassung492 die Garantenpflicht weder Tatbestandsmerkmal, noch Rechtswidrigkeitsmoment, noch allgemeines Verbrechensmerkmal ist, sondern an keiner Stelle des Deliktsaufbaus in Erscheinung tritt. Jedoch haben diese unterschiedlichen systematischen Verortungen keine Auswirkungen auf die Irrtumsfolgen: Alle Auffassungen gelangen zu dem Ergebnis, dass der Irrtum über die Verpflichtung zum Eingreifen – trotz Kenntnis der die Garantenstellung bzw. -pflicht begründenden tatsächlichen Umstände – als Verbotsirrtum (§ 17 StGB)493 anzusehen ist, während der Irrtum über die Garantenstellung bzw. -pflicht begründende Umstände – die alle Auffassungen als ungeschriebene Tatbestandsmerkmale494 einordnen – als vorsatzausschließender Tatbestandsirrtum im Sinne des § 16 StGB zu qualifizieren ist. Um ein praxisrelevantes Beispiel zu nennen: Nimmt der Garant irrtümlich einen freiverantwortlichen Suizid an (obwohl es tatsächlich an einer selbstbestimmten Entscheidung des Suizidenten fehlt) und glaubt er somit irrtümlich, dass das Selbstbestimmungsrecht des Patienten seine, auf Lebenserhaltung gerichtete Garantenpflicht suspendiert, so liegt ein Tatbestandsirrtum und kein Verbotsirrtum vor.495 In Fallkonstellationen, in denen – wie bei der dem Garanten unzumutbaren Lebensrettung („Nierenspende-Fall“) (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (2) (b) (aa) / Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (b) (dd)) – das, die Zulässigkeit eines lebensverkürzenden Unterlassens gebietende, Grundrecht die Interessen des Normadressaten schützt, kann das verfassungsrechtlich gebotene Ergebnis alternativ auch durch eine verfassungskonforme Auslegung des Merkmals der „Zumutbarkeit“ erreicht werden. Dies ist jedoch nur möglich, sofern man die „Zumutbarkeit“ nicht mit einer Mindermeinung496 auf der Schuld­ ebene verortet, sondern mit der herrschenden Meinung497 als Tatbestandsmerkmal 491  Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT, § 15, Rn. 45; Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S.  630 f. 492  Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, S. 306 ff. 493  Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT, § 15, Rn. 45; Gropp, Strafrecht AT, § 11, Rn. 11; A. Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, S. 308; Kühl, Strafrecht AT, § 18, Rn. 29; Sternberg-Lieben/Schuster, in: Schönke/Schröder, StGB, § 15, Rn. 96. 494  A. Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, S. 307 f.; Kühl, Strafrecht AT, § 18, Rn. 128; Neumann, in: NK, StGB, Bd. 2, Vor. § 211, Rn. 89; Sternberg-Lieben/Schuster, in: Schönke/Schröder, StGB, § 15, Rn. 96. 495  Neumann, in: NK, StGB, Bd. 2, Vor. § 211, Rn. 89. 496  Kühl, Strafrecht AT, § 18, Rn. 33; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, Rn. 739. 497  OLG Hamburg StV 1996, 437 (438); Fischer, StGB, § 13, Rn. 81; Krey/Esser, Deutsches Strafrecht AT, § 16, Rn. 1172; Rn. 155; Lenckner/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, Vor §§ 32 ff., Rn. 125; Weigend, in: LK, StGB, Bd. 1, Vor.



A. Behandlungspflichten des Arztes297

betrachtet oder mit einer Literaturmeinung498 als Rechtfertigungselement qualifiziert. Dagegen verbietet sich dieser Weg, sofern das die Straflosigkeit des lebensverkürzenden Unterlassens erzwingende Grundrecht Interessen von Personen schützt, die vom Normadressaten verschieden sind, wie z. B. Opferinteressen. Denn unter dem Aspekt der Unzumutbarkeit werden Handlungspflichten nur dann ausgeschieden, wenn diese Handlung billigenswerte Interessen des Normadressaten in erheblichem Umfang beeinträchtigen würde und diese Interessen in einem angemessenen Verhältnis zu dem drohenden Schaden stehen499. In Fällen, in denen – wie bei der passiven Sterbehilfe beim entscheidungsfähigen Patienten (Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (2) (a) (aa) / Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (b) (aa)) – das verfassungsrechtlich verbürgte Selbstbestimmungsrecht die Zulässigkeit eines lebensverkürzenden Unterlassens erzwingt, bietet sich zudem die Möglichkeit an, die Einwilligungsvoraussetzungen (insbesondere die Voraussetzung der „Disponibilität des verletzten Rechtsguts“) im Licht des verfassungsrechtlich verbürgten Selbstbestimmungsrechts auszulegen und so zu einer Einwilligungsrechtfertigung zu gelangen. Allerdings erscheint der Weg, die Garantenpflicht abzulehnen, gegenüber einer Einwilligungsrechtfertigung vorzugswürdig. Denn die Annahme einer wirksamen Einwilligung setzt denklogisch voraus, dass eine Garantenpflicht zu bejahen ist und eine solche lässt sich aus oben genannten Gründen kaum bejahen. (c) V  erfassungsrechtlich gebotene Legitimierung eines lebensverkürzenden Unterlassens im Sinne des § 323 c StGB Erzwingt die Verfassung die Legitimierung bzw. Straflosigkeit eines unter § 323 c StGB subsumtionsfähigen, lebensverkürzenden Unterlassens, lässt sich das durch die Verfassung gebotene Ergebnis dadurch erreichen, dass einer der beiden unbestimmten Rechtsbegriffe im Tatbestand des § 323 c StGB („Möglichkeit der Hilfeleistung“ bzw. „Zumutbarkeit der Hilfeleistung“) verfassungskonform ausgelegt und abgelehnt wird. In besonders gelagerten Konstellationen ermöglicht es auch das Tatbestandsmerkmal des „Unglücksfalls“, zu einer durch die Verfassung gebotenen Zulässigkeit zu gelangen (siehe unten). Ein aus verfassungsrechtlicher Perspektive gleichwertiger Weg zur Begründung einer durch die Verfassung gebotenen Zuläs§ 13, Rn. 68; Wohlers/Gaede, in: NK, StGB, Bd. 1, § 13, Rn. 17; wohl auch: BGH NJW 1994, 1357. 498  Gropp, Strafrecht AT, § 11, Rn. 55; Küper, Grund- und Grenzfragen der rechtfertigenden Pflichtenkollision im Strafrecht, S. 97 ff. 499  Schuhr, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 323 c StGB, Rn. 41.

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

sigkeit eines unter § 323 c StGB subsumtionsfähigen, lebensverkürzenden Unterlassens, stellt die verfassungskonforme Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe in den Rechtfertigungstatbeständen (Notwehr, Einwilligung etc.) und die anschließende Bejahung dieser Rechtfertigungsgründe dar. Wenngleich es aus verfassungsrechtlicher Perspektive irrelevant ist, ob eine durch die Verfassung gebotene Zulässigkeit bzw. Straflosigkeit eines unter § 323 c StGB subsumtionsfähigen, lebensverkürzenden Unterlassens auf der Ebene des Tatbestands oder der Rechtfertigung herbeigeführt wird, ist aus strafrechtsdogmatischer Perspektive eine Tatbestandslösung vorzuziehen. Dies folgt aus den gleichen Gründen, aus denen in Fällen, in denen die Verfassung die Legitimierung bzw. Straflosigkeit eines §§ 212, 13 StGB unterfallenden lebensverkürzenden Unterlassens diktiert, eine Tatbestandslösung gegenüber einer Rechtfertigungslösung vorzuziehen ist (siehe Kap. 6 A. II. 3. b) aa) (2) (b)). Der Tatbestand des § 323 c StGB enthält mit dem objektiven Tatbestandsmerkmal „Möglichkeit der Hilfeleistung“ einen unbestimmten Rechtsbegriff, welcher sich in jeder denkbaren Fallkonstellation, in denen die Verfassung die Legitimierung eines lebensverkürzenden Unterlassens im Sinne des § 323 c StGB erzwingt, dazu eignet, ihn im Licht des die Straflosigkeit gebietenden Grundrechts bzw. Verfassungsprinzips auszulegen und abzulehnen. Sofern das Grundgesetz der Strafbarkeit eines lebensverkürzenden Unterlassens entgegensteht, lässt sich nämlich sagen, dass eine Hilfeleistung aus rechtlichen Gründen unmöglich ist. Im Gegensatz hierzu kommt das objektive Tatbestandsmerkmal „Unglücksfall“ und der unbestimmte Rechtsbegriff der „Zumutbarkeit der Hilfeleistung“, der nach zutreffender herrschender Meinung500 ebenfalls ein objektives Tatbestandsmerkmal darstellt, nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen in Betracht, um eine durch das Grundgesetz erzwungene Straflosigkeit zu begründen: Wird die Straflosigkeit eines lebensverkürzenden Unterlassens im Sinne des § 323 c StGB durch das zugunsten des Opfers eingreifende Selbstbestimmungsrecht des Patienten oder das – aus der Abwehrdimension des Grundrechts auf Leben501, der allgemeinen Handlungsfreiheit502 oder der Menschenwürde503 abgeleite500  BGHSt 17, 166 (171) = NJW 1962, 1212 (1213); Fischer, StGB, § 323 c, Rn. 20; Freund, in: MüKo, StGB, Bd. 5, § 323 c, Rn. 90; Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, § 323 c, Rn. 7; Rengier, Strafrecht BT, Bd. 2, § 42, Rn. 13; Sternberg-Lieben/ Hecker, in: Schönke/Schröder, StGB, Vor § 323 c, Rn. 18. 501  Fink, Selbstbestimmung und Selbsttötung, S. 110. 502  Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 78 ff.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 100; Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 211; Schultze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 2, Rn. 32; Schwabe, JZ 1998, 66 (69). 503  Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 47 (43.  Lfg. 2004); Dreier, JZ 2007, 317 (319); ders., in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 1, Rn. 157.



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te – (Abwehr-)Recht auf selbstbestimmte Lebensbeendigung geboten (Bsp.: Geschehenlassen eines freiverantwortlichen Suizids, „Wittig-Fall“, Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (b) (bb)), kann den Vorgaben der Verfassung Rechnung getragen werden, indem das Tatbestandsmerkmals „Unglücksfall“ verneint wird, das überwiegend als „plötzlich eintretendes Ereignis, das erhebliche Gefahren für Personen oder bedeutende Sachwerte mit sich bringt“504 definiert wird. Denn anders als der Begriff des „Unglücksfalls“ und die von der herrschenden Meinung gewählte Definition dieses Begriffs nahelegen, stellt sich die für den Unglücksfall konstitutive Leibes- oder Lebensgefahr im Falle einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung der durch § 323 c StGB zu schützenden Person nicht als Ereignis dar, welches diese unvorbereitet trifft und ihr unwillkommen ist, und dessen Folgen sie – unter Zuhilfenahme solidarischer Hilfe – von sich abwenden will. In Fällen, in denen – wie im „Nierenspende-Fall“ (Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (b) (dd)) – die Zulässigkeit bzw. Straflosigkeit eines lebensverkürzenden Unterlassens durch ein den Normadressaten schützendes Grundrecht diktiert wird, lässt sich eine Strafbarkeit nach § 323 c StGB überzeugend dadurch ablehnen, dass der unbestimmte Rechtsbegriff der „Zumutbarkeit“ im Licht der die Straflosigkeit erzwingenden Verfassungsnorm ausgelegt und abgelehnt wird. Aber auch in Fällen, in denen das verfassungsrechtlich verbürgte Selbstbestimmungsrecht des Patienten die Zulässigkeit bzw. Straflosigkeit eines lebensverkürzenden Unterlassens gebietet (Geschehenlassen eines freiverantwortlichen Suizids, „Wittig-Fall“, Kap. 6 A. II. 2. a) bb) (2) (a) (bb)), lehnen manche Literaturvertreter505, unter Rekurs auf das die Hilfeleistungspflicht des § 323 c StGB begrenzende Selbstbestimmungsrecht des Patienten, die Zumutbarkeit der Hilfeleistung ab. (d) V  erfassungswidrigkeit der Legitimierung einer zur Bewahrung menschlichen Lebens erforderlichen Verletzung strafrechtlich geschützter Rechtsgüter Stehen die Grundrechte der Legitimierung einer zu Lebensrettungszwecken erforderlichen Verletzung strafrechtlich geschützter Rechtsgüter entgegen, so sind die unbestimmten Rechtsbegriffe im Tatbestand sowie in den als einschlägig in Betracht kommenden Rechtfertigungstatbeständen (§§ 32, 34 StGB etc.) verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass die Verletzung des strafrechtlich geschützten Rechtsguts sowohl tatbestandsmäßig als auch rechtswidrig ist (Bsp.: „Millionärs-Fall“, Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (c) (ee)). 504  Rengier, 505  Rengier,

Strafrecht BT, Bd. 2, § 42, Rn. 3. Strafrecht BT, Bd. 2, § 8, Rn. 20.

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

Die gleiche Vorgehensweise ist aufgrund des – in Art. 20 Abs. 3 GG normierten und auch für die Judikative verbindlichen – Grundsatzes vom Vorrang des Gesetzes geboten, sofern der (zum Zweck der Bewahrung menschlichen Lebens) verletzten Strafnorm entnommen werden kann, dass der Gesetzgeber durch ihren Erlass bewusst den Lebensschutz hinten angestellt hat und die hinsichtlich ihrer strafrechtlichen Bewertung in Frage stehende Interessenkollision, zwischen dem als Erhaltungsgut berührten Leben und dem hiermit kollidierenden strafrechtlich geschützten Interesse somit gezielt einkalkuliert hatte. Auch in diesem Fall sind die unbestimmten Rechtsbegriffe im Tatbestand sowie in dem / den als einschlägig in Betracht kommenden Rechtfertigungstatbestand / -tatbeständen im Licht des (Verfassungs-)Grundsatzes vom Vorrang des Gesetzes auszulegen und die Tatbestandsmäßigkeit sowie die Rechtswidrigkeit des (hinsichtlich seiner strafrechtlichen Bewertung in Frage stehenden) Verhaltens ist zu bejahen. Dies gilt auch dann, wenn die Grundrechte eine derartige Auslegung nur gestatten, aber nicht erzwingen. Nichts anderes gilt für Konstellationen, in denen zum Zweck der Lebensrettung ein strafrechtlich geschütztes Rechtsgut verletzt wurde und die in Betracht kommenden Rechtfertigungsgründe keine, im Hinblick auf den Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes und die Wesentlichkeitstheorie, hinreichend bestimmte Ermächtigungsgrundlagen für die Grundrechtsbeeinträchtigung darstellen, die mit der Legitimierung der, zu Lebensrettungszwecken vorgenommenen, Verletzung strafrechtlich geschützter Rechtsgüter (für den Inhaber des verletzten Rechtsguts) verbunden sind. Auch in dieser Konstellation sind die unbestimmten Rechtsbegriffe, in den als einschlägig in Betracht kommenden Rechtfertigungsgründen, im Licht des andernfalls verletzten (Verfassungs-)Grundsatzes vom Vorbehalt des Gesetzes verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass eine Rechtfertigung ausscheidet (Bsp.: „Zwangsblutspende-Fall“, Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (c) (dd)). bb) Lösung der Fallbeispiele nach eigenem Ansatz (1) Lebensverkürzendes Tun (a) Rechtsgüterbinnenkollision (aa) Indirekte Sterbehilfe Es besteht keine aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG (Grundrecht auf Leben) abgeleitete staatliche Schutzpflicht, die auf die Pönalisierung der indirekten Sterbehilfe gerichtet ist. Vielmehr wäre der Staat noch nicht einmal dazu



A. Behandlungspflichten des Arztes301

berechtigt, die indirekte Sterbehilfe unter Strafe zu stellen, da er durch diese Maßnahme das aus der Menschenwürdegarantie folgende (Abwehr-) Recht auf einen menschenwürdigen Tod verletzen würde, das zugunsten des Moribunden eingreift (siehe Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (a) (cc)). Das durch die Menschenwürdegarantie diktierte Ergebnis (der Zulässigkeit bzw. Straflosigkeit der durch ein aktives Tun bewirkten indirekten Sterbehilfe) ist über eine Notstandsrechtfertigung herbeizuführen: Der unbestimmte Rechtsbegriff des „überwiegenden Interesses“ in § 34 StGB ist verfassungskonform im Licht des andernfalls verletzten Art. 1 Abs. 1 GG auszulegen. Der für die Lebensverkürzung streitenden Menschenwürde ist der Vorrang vor dem durch die indirekte Sterbehilfe verkürzten Rechtsgut Leben einzuräumen. Denn gebietet – wie vorliegend – die Verfassung die Zulässigkeit eines aktiv lebensverkürzenden Tuns, das nicht als (gegen einen Angreifer gerichtete) Verteidigungshandlung zur Abwehr eines Angriffs im Sinne des § 32 StGB zu qualifizieren ist, ist das durch die Verfassung gebotene Ergebnis im Wege der Notstandsrechtfertigung herbeizuführen. Vertritt man mit BGHSt 55, 191 ff. („Fall Putz“), dass die Zulässigkeit der indirekten Sterbehilfe durch das Selbstbestimmungsrecht des Patienten erzwungen wird, kommt – zusätzlich zur Notstandslösung – eine Einwilligungsrechtfertigung in Betracht (siehe Kap. 6 A. II. 3. b) aa) (2) (a)). (bb) T  echnischer Behandlungsabbruch durch Nicht-Ärzte („Fall Putz“) Es besteht keine aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG abgeleitete staatliche Schutzpflicht, einen durch einen Nicht-Arzt durchgeführten technischen Behandlungsabbruch bei einem aktuell entscheidungsunfähigen Menschen, dessen auf Behandlungsabbruch gerichteter (antezipierter) Wille gemäß den §§ 1901 a ff. BGB ermittelt wurde, zu pönalisieren. Vielmehr erzwingen das verfassungsrechtlich verbürgte Selbstbestimmungsrecht des Patienten, das durch die §§ 1901 a ff. BGB in verfassungskonformer Weise konkretisiert wird, und der Vorrang des Gesetzes die Zulässigkeit eines solchen (durch aktives Tun begangenen) technischen Behandlungsabbruchs (näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (a) (dd)). Eine durch das verfassungsrechtlich verbürgte Selbstbestimmungsrecht des Patienten gebotene Straflosigkeit eines aktiv lebensverkürzenden Tuns, ist auf der Ebene der Einwilligungsrechtfertigung herbeizuführen (siehe Kap. 6 A. II. 3. b) aa) (2) (a)). Der Rechtfertigungstatbestand der Einwilligung bzw. – genauer gesagt – die ungeschriebene Einwilligungsvoraussetzung der „Disponibilität des verletzten Rechtsguts“, ist daher im Licht des andernfalls verletzten Selbstbestimmungsrechts des Patienten und – angesichts der §§ 1901 a ff. BGB – im Licht des andernfalls

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

verletzten (Verfassungs-)Grundsatzes vom Vorrang des Gesetzes dahingehend auszulegen, dass ein entsprechend dem Willen eines entscheidungsunfähigen Pa­ tienten durchgeführter Behandlungsabbruch durch Einwilligung gerechtfertigt ist (und somit keinen rechtswidrigen Totschlag darstellt), sofern der Patientenwille entsprechend der §§ 1901 a ff. BGB ermittelt wurde (siehe Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (a) (dd)). (b) K  ollision zwischen unterschiedlichen Trägern zuzuordnenden Rechtsgütern / Interessen (aa) N  otwehr zur Verteidigung nicht-lebensbedrohlicher Angriffe mit tödlichen Folgen für den Angreifer Durch die Zubilligung das Leben des Angreifers gefährdender Notwehrrechte zur Abwehr gegenwärtiger, rechtswidriger Angriffe auf die Rechtsgüter Leben und körperliche Unversehrtheit sowie auf die sexuelle Selbstbestimmung, bleibt der Staat hinter seinen aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG folgenden Schutzpflichten nach ganz herrschender Auffassung nicht zurück; vielmehr wird die Legitimierung solch schneidiger Verteidigungsmaßnahmen sogar durch die (andernfalls verletzten) Grundrechte auf Leben, körperliche Unversehrtheit und das allgemeine Persönlichkeitsrecht erzwungen. Eine überwiegend vertretene Auffassung sieht auch in der Gestattung tödlicher Notwehrrechte zur Abwehr von Angriffen auf Sachwerte keine Verletzung staatlicher Schutzpflichten zugunsten des menschlichen Lebens, sofern die verteidigten Sachwerte nicht unbedeutend sind (Bagatellangriff). Nach einer Literaturmeinung wird die Zubilligung tödlicher Notwehrbefugnisse zur Verteidigung gegen Angriffe auf Sachwerte sogar durch die Abwehrdimension des (andernfalls verletzten) Art. 14 GG erzwungen, zumindest sofern es sich um unersetzbare Sachwerte handelt (näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (a) (bb)). Die unbestimmten Rechtsbegriffe (insbesondere der unbestimmte Rechtsbegriff der „Gebotenheit“) in § 32 StGB sind somit im Licht des Grundrechts auf Leben, des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts so auszulegen, dass das Leben des Angreifers gefährdende Notwehrmaßnahmen zur Abwehr gegenwärtiger, rechtswidriger Angriffe auf die Rechtsgüter Leben und körperliche Unversehrtheit sowie die sexuelle Selbstbestimmung gerechtfertigt sind. Ist man mit der herrschenden Meinung der Auffassung, dass durch die Zubilligung tödlicher Notwehrrechte zur Verteidigung von (bedeutenden) Sachwerten keine staatlichen Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verletzt werden (oder hierdurch sogar einem aus der Abwehrdimension des



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Art. 14 GG folgenden Gebot entsprochen wird, wie eine Literaturmeinung vertritt), ist eine Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe in § 32 StGB dergestalt geboten, dass das Leben des Angreifers gefährdende Notwehrrechte zur Verteidigung von Sachwerten durch Notwehr gerechtfertigt sind (Ausnahme: Angriff auf unbedeutende Sachwerte). Dies folgt aus dem Gebot der verfassungskonformen Auslegung in Verbindung mit dem Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG (bzw. nach der geschilderten Mindermeinung zusätzlich aus Art. 14 GG). Denn der Gesetzgeber wollte das Leben des Angreifers gefährdende Notwehrhandlungen zur Verteidigung von Sachwerten zulassen. Das kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck, dass der Gesetzgeber in § 32 StGB – anders als in § 34 StGB – keine Interessenabwägung vorsieht und trotz der jahrzehntelangen Debatte um die Zulässigkeit tödlicher Notwehrrechte zur Verteidigung von Sachwerten auf eine explizite Einschränkung der Notwehrrechte verzichtet (siehe Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (a) (bb)). (2) Lebensverkürzendes Unterlassen (a) Rechtgüterbinnenkollision (aa) Passive Sterbehilfe beim entscheidungsfähigen Patienten Es besteht keine aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG abgeleitete staatliche (Schutz-) Pflicht, die passive Sterbehilfe beim entscheidungsfähigen Patienten unter Strafe zu stellen. Vielmehr wäre der Staat zur Pönalisierung der passiven Sterbehilfe beim entscheidungsfähigen Patienten noch nicht einmal berechtigt, da eine solche staatliche Maßnahme gegen das verfassungsrechtlich verbürgte Selbstbestimmungsrecht verstoßen würde (Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (b) (aa)). Gebietet – wie im vorliegenden Fall der passiven Sterbehilfe beim entscheidungsfähigen Patienten – eine Verfassungsnorm, die nicht dem Schutz der Interessen des Strafnormadressaten dient, die Zulässigkeit bzw. Straflosigkeit eines lebensverkürzenden Unterlassens im Sinne der §§ 212 (216), 13 StGB, so ist das verfassungsrechtlich gebotene Ergebnis über eine verfassungskonforme Auslegung und anschließende Verneinung der „Garantenpflicht“ herbeizuführen (näher Kap. 6 A. II 3. b) aa) (2) (b)). Ein passive Sterbehilfe bei einem entscheidungsfähigen Patienten übender Arzt, macht sich daher weder nach §§ 212, 13 StGB noch nach §§ 216, 13 StGB strafbar, da der unbestimmte Rechtsbegriff der „Garantenpflicht“ verfassungskonform im Licht des andernfalls verletzten Selbstbestimmungsrechts auszulegen und eine auf Lebensverlängerung gerichtete Garantenpflicht abzu-

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

lehnen ist. Die gleiche Auslegung gebietet auch der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes, in der Ausprägung, die dieser durch die Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG gefunden hat, da die Rechtsordnung keine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage enthält, die die Ärzteschaft explizit zur Vornahme von Zwangstherapien zugunsten moribunder Patienten ermächtigt (näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (b) (aa)). (bb) T  atenloses Geschehenlassen eines freiverantwortlichen Suizids („Wittig-Fall“) Es besteht keine aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG abgeleitete staatliche Verpflichtung zur Rettung eines freiverantwortlich handelnden Suizidenten (sog. Bilanzselbstmörder); vielmehr wäre der Staat in der beschriebenen Situation noch nicht einmal dazu berechtigt, einen Selbstmörder vor sich selbst zu retten, da er hierdurch das – zugunsten des Suizidenten eingreifende – (Abwehr-)Recht auf selbstbestimmte Lebensbeendigung (das die Lehre aus dem Grundrecht auf Leben, der allgemeinen Handlungsfreiheit oder aus der Menschenwürde ableitet) verletzen würde, bzw. – sofern der Suizident nur durch einen (invasiven) medizinischen Eingriff zu retten ist (wie im „Wittig-Fall“) – gegen das Selbstbestimmungsrecht des Patienten verstoßen würde. Hieraus folgt, dass der Staat weder dazu verpflichtet noch auch nur dazu befugt wäre, das tatenlose Geschehenlassen eines freiverantwortlichen Suizids unter Strafe zu stellen (näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (b) (bb)). Für die strafrechtliche Bewertung des „Wittig-Falls“ und vergleichbarer Konstellationen eines Bilanzsuizids bedeutet dies, dass sich ein Arzt (oder ein anderer (Lebensschutz-)Garant), der einen freiverantwortlichen Suizid tatenlos geschehen lässt, weder nach §§ 212, 13 StGB noch nach §§ 216, 13 StGB strafbar macht, da der unbestimmte Rechtsbegriff der (ärztlichen) Garantenpflicht verfassungskonform im Licht des andernfalls verletzten Selbstbestimmungsrecht des Patienten bzw. des (Abwehr-)Rechts auf Lebensbeendigung auszulegen und eine auf Lebensverlängerung gerichtete Garantenpflicht abzulehnen ist. Denn gebietet – wie in der vorliegenden Fallkonstellation des Geschehenlassens eines freiverantwortlichen Suizids – eine Verfassungsnorm, die nicht dem Schutz von Interessen des Strafnormadressaten dient, die Straflosigkeit eines lebensverkürzenden Unterlassens im Sinne der §§ 212 (216), 13 StGB, so ist das verfassungsrechtlich gebotene Ergebnis über eine verfassungskonforme Auslegung und anschließende Verneinung der „Garantenpflicht“ herbeizuführen (näher Kap. 6 A. II 3. b) aa) (2) (b)).



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Die gleiche Norminterpretation der §§ 212 (216), 13 StGB wird im „Wittig-Fall“ und vergleichbaren Bilanzsuizid-Konstellationen auch durch den Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes in der Ausprägung, die dieser durch die Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG gefunden hat, diktiert. Denn die Rechtsordnung enthält keine Ermächtigungsgrundlage, die die Ärzteschaft explizit zur Vornahme von Zwangstherapien zugunsten freiverantwortlich handelnder Suizidenten ermächtigt (näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (b) (bb)). Aufgrund der oben genannten, einer Strafbarkeit des Geschehenlassens eines freiverantwortlichen Suizids entgegenstehenden, Grundrechte und Verfassungsprinzipien, ist im „Wittig-Fall“ und vergleichbaren Fallkonstellationen eines Bilanzselbstmords auch eine Strafbarkeit nach § 323 c abzulehnen. Das durch die Verfassung erzwungene Ergebnis der Straflosigkeit ist entweder über eine verfassungskonforme Auslegung und anschließende Ablehnung des unbestimmten Tatbestandsmerkmals der „Möglichkeit der Hilfeleistung“ herbeizuführen oder – mit Blick auf das zugunsten des Suizidenten eingreifende Selbstbestimmungsrecht des Patienten bzw. (Abwehr-) Recht auf selbstbestimmte Lebensbeendigung – über die Ablehnung eines „Unglücksfalls“ im Sinne des § 323 c StGB. Denn eine verfassungsrechtlich gebotene Legitimierung eines lebensverkürzenden Unterlassens im Sinne des § 323 c StGB kann in allen denkbaren Konstellationen über eine verfassungskonforme Auslegung und anschließende Ablehnung des unbestimmten Tatbestandsmerkmals „Möglichkeit der Hilfeleistung“ begründet werden; in Fällen, in denen die Zulässigkeit eines lebensverkürzenden Unterlassens im Sinne des § 323 c StGB durch das, zugunsten des Opfers eingreifende, Selbstbestimmungsrecht oder das Recht auf selbstbestimmte Lebensbeendigung erzwungen wird, kann den Vorgaben des Grundgesetzes alternativ auch über die Verneinung des Tatbestandsmerkmals „Unglücksfall“ Rechnung getragen werden (näher Kap. 6 A. II. 3. b) aa) (2) (c)). (cc) U  nterlassen einer lebensrettenden Zwangsheilung beim entscheidungsfähigen Patienten Es besteht keine aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG folgende staatliche (Schutz-) Pflicht, die darauf gerichtet ist, einen zurechnungsfähigen Patienten zu dessen eigenem Schutz einer lebensrettenden Zwangsbehandlung zu unterziehen, weshalb der Staat auch nicht dazu verpflichtet ist, den Verzicht auf die Vornahme einer lebensrettenden Zwangsheilung bei einem entscheidungsfähigen Patienten unter Strafe zu stellen. Vielmehr wäre der Staat in der beschriebenen Situation zur Ergreifung derartiger (Straf-)Maßnahmen noch nicht einmal berechtigt, da er hierdurch das (Abwehr-)Recht auf selbstbe-

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

stimmte Lebensbeendigung (das die Literatur in der Abwehrdimension des Grundrechts auf Leben, der Allgemeinen Handlungsfreiheit oder der Menschenwürde verankert) sowie das Selbstbestimmungsrecht des Patienten verletzen würde (siehe Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (b) (cc)). Das Grundrecht auf Leben gebietet daher keine Auslegung der §§ 212 (216), 13 (34) StGB bzw. des §§ 323 c (34) StGB mit dem Inhalt, dass der Verzicht auf die Durchführung einer lebensrettenden Zwangsheilung bei einem entscheidungsfähigen Patienten (zu dessen eigenen Schutz) eine rechtwidrige Tötung oder eine rechtswidrige Unterlassene Hilfeleistung darstellt; vielmehr würde eine derartige Norminterpretation gegen die oben genannten Grundrechte (Abwehrrecht auf selbstbestimmte Lebensbeendigung; Selbstbestimmungsrecht des Patienten) verstoßen.506 Gebietet – wie im vorliegenden Fall des Unterlassens einer lebensrettenden Zwangsheilung beim entscheidungsfähigen Patienten – eine Verfassungsnorm, die nicht dem Schutz von Interessen des Strafnormadressaten dient, die Zulässigkeit bzw. Straflosigkeit eines lebensverkürzenden Unterlassens im Sinne der §§ 212 (216), 13 StGB, so ist – aus in Kap. 6 A. II 3. b) aa) (2) (a) näher beschriebenen Gründen – das verfassungsrechtlich gebotene Ergebnis über eine verfassungskonforme Auslegung und anschließende Verneinung der „Garantenpflicht“ herbeizuführen. Der behandelnde Arzt, der bei einem zurechnungsfähigen Patienten auf die Durchführung einer (ausschließlich im vermeintlichen Patienteninteresse liegenden) lebensrettenden Zwangsheilung verzichtet, macht sich daher weder nach §§ 212, 13 StGB noch nach §§ 216, 13 StGB strafbar, da der unbestimmte Rechtsbegriff der „Garantenpflicht“ im Lichte des verfassungsrechtlich verbürgten Selbstbestimmungsrechts des Patienten sowie des (Abwehr-)Rechts auf selbstbestimmte Lebensbeendigung auszulegen und eine auf Lebensverlängerung gerichtete Garantenpflicht abzulehnen ist. Die gleiche Norminterpretation wird durch den Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes, in der Ausprägung, die dieser durch die Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG gefunden hat, geboten, da die Rechtsordnung keine Ermächtigungsgrundlage enthält, die die Ärzteschaft explizit zur Vornahme lebensrettender Zwangstherapien im vermeintlichen Interesse entscheidungsfähiger Patienten ermächtigt (siehe Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (b) (cc)). Auch eine Strafbarkeit nach § 323 c StGB ist, aufgrund der oben genannten, einer Strafbarkeit des Unterlassens einer (lebensrettenden) Zwangsheilung entgegenstehenden, Grundrechte und Verfassungsprinzipien abzulehnen. Das verfassungsrechtlich gebotene Ergebnis der Straflosigkeit ist entweder im Wege einer verfassungskonformen Auslegung und anschließenden 506  Hillgruber,

Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 94 f.



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Ablehnung des unbestimmten Tatbestandsmerkmal der „Möglichkeit der Hilfeleistung“ zu bewirken oder – mit Blick auf das zugunsten des Suizidenten eingreifende Selbstbestimmungsrecht des Patienten sowie das (Abwehr-)Recht auf selbstbestimmte Lebensbeendigung – über die Verneinung eines „Unglücksfalls“ im Sinne des § 323 c StGB. Denn aus unter Kap. 6 A. II. 3. b) aa) (2) (c)) näher definierten Gründen, ist eine durch das Grundgesetz diktierte Legitimierung eines lebensverkürzenden Unterlassens im Sinne des § 323 c StGB stets über eine verfassungskonforme Auslegung und anschließende Ablehnung des unbestimmten Tatbestandsmerkmals „Möglichkeit der Hilfeleistung“ erreichbar; in Fällen, in denen die Zulässigkeit eines lebensverkürzenden Unterlassens im Sinne des § 323 c StGB durch das zugunsten des Opfers eingreifende Selbstbestimmungsrecht oder das Recht auf selbstbestimmte Lebensbeendigung erzwungen wird, kann den verfassungsrechtlichen Vorgaben alternativ auch über die Ablehnung des Tatbestandsmerkmals „Unglücksfall“ Rechnung getragen werden. (b) K  ollision zwischen unterschiedlichen Trägern zustehenden Rechtsgütern / Interessen (aa) D  em Garanten unzumutbare Lebensrettung („Nierenspende-Fall“) Den Staat trifft keine aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG folgende (Schutz-)Pflicht, die darauf abzielt, jemanden dafür zu bestrafen, wenn dieser es unterlässt einem an Organversagen leidenden Menschen, im Wege der Lebend(organ)­ spende, ein Organ zu spenden. Dies gilt auch in einer Situation, wie sie dem „Nierenspende-Fall“ zugrunde liegt, nämlich wenn der unfreiwillige Spender gegenüber der in Lebensgefahr befindlichen Person eine (Lebensschutz-) Garantenstellung (aus natürlicher Verbundenheit) besitzt, die Lebend(organ)­ spende die einzige Rettungsmöglichkeit darstellt und der (unfreiwillige) Spender durch die erzwungene Lebend(organ)spende keinen nennenswerten (einer Organspende nach § 8 Abs. 1 Nr. 1 c TPG entgegenstehenden) Lebens- oder Gesundheitsgefahren ausgesetzt wird. Es ist bereits sehr zweifelhaft, ob den Staat überhaupt eine aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG folgende (Schutz-)Pflicht zur Schaffung eines bedarfsgerechten Transplantationssystems trifft, aus dem für den Einzelnen ein originärer Leistungsanspruch auf Zuteilung eines Organs folgt. Außerdem besitzt der Staat bei der Erfüllung seiner grundrechtlichen Schutzpflichten einen weiten Spielraum, den der Staat durch den Verzicht auf die Pönalisierung einer verweigerten Lebend(organ)spende nicht verletzt. Denn die bereits ergriffenen gesetzgeberischen Maßnahmen zur Steigerung des Organauf-

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

kommens sind nicht völlig ineffizient und es existiert noch eine Vielzahl an sehr effektiven Maßnahmen, mit denen der Gesetzgeber das Spenderorganaufkommen in Zukunft noch erheblich steigern könnte (Einführung einer verfassungsgemäß ausgestalteten Widerspruchslösung etc.). Insbesondere aber wäre der Staat zur Pönalisierung einer verweigerten Lebend(organ)spende (durch einen Lebensschutz-Garanten) noch nicht einmal befugt, da er hierdurch das – zugunsten des unfreiwilligen Spenders eingreifende – Selbstbestimmungsrecht bzw. nach anderer Ansicht sogar dessen Menschenwürde verletzen würde (Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (b) (dd)). Für die strafrechtliche Bewertung des „Nierenspende-Falls“ bedeutet dies, dass sich ein (Lebensschutz-)Garant (aus natürlicher Verbundenheit) keines Totschlags durch Unterlassen schuldig macht, wenn dieser eine Lebend(organ)­ spende zugunsten einer an Organversagen leidenden Person verweigert. Der unbestimmte Rechtsbegriff der „Garantenpflicht“ oder der unbestimmte Rechtsbegriff der „Zumutbarkeit normgemäßen Tuns“, ist im Licht des andernfalls verletzten Selbstbestimmungsrechts des unfreiwilligen Spenders bzw. der Menschenwürdegarantie so auszulegen, dass der (Lebensschutz-) Garant durch die Verweigerung der Lebend(organ)spende seine Garantenpflichten nicht verletzt oder aber die „Zumutbarkeit normgemäßen Verhaltens“ abzulehnen ist. Denn erzwingt – wie im „Nierenspende-Fall“ – eine Verfassungsnorm, die die Interessen des (Straf-)Normadressaten schützt, die Straflosigkeit eines lebensverkürzenden Unterlassens im Sinne der §§ 212, 13 StGB, so ist das verfassungsrechtlich gebotene Ergebnis im Wege der verfassungskonformen Auslegung und anschließenden Ablehnung des unbestimmten Rechtsbegriffs der „Garantenpflicht“ oder der „Zumutbarkeit normgemäßen Verhaltens“ (sofern man die Zumutbarkeit mit der vorzugswürdigen herrschenden Meinung als Tatbestandsmerkmal oder als Rechtfertigungselement qualifiziert und nicht als Entschuldigungsgrund einordnet) herbeizuführen (siehe Kap. 6 A. II. 3. b) aa) (2) (b)). Die gleiche Auslegung der §§ 212, 13 StGB wird durch den Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes, in der Gestalt, die dieses Prinzip durch die Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG gefunden hat, geboten. Denn die Rechtsordnung enthält keine Ermächtigungsgrundlage, die den Strafnorm­ adressaten explizit zur Duldung einer gegen seinen Willen erfolgenden Organentnahme verpflichtet. Zudem würde eine Strafrechtsauslegung, wonach eine (durch einen Lebensschutz-Garanten) verweigerte Lebend(organ)spende strafbar ist, gegen den Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes verstoßen, da § 19 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 b) TPG eine gegen oder ohne den Willen des Spenders erfolgende Lebend(organ)entnahme explizit unter Strafe stellt (näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (b) (dd)).



A. Behandlungspflichten des Arztes309

Für die Auslegung des § 323 c StGB gilt nichts anderes. Das unbestimmte Tatbestandsmerkmal der „Möglichkeit der Hilfeleistung“ oder der „Zumutbarkeit der Hilfeleistung“ ist im Licht der oben genannten Verfassungsprinzipien (Selbstbestimmungsrecht bzw. Menschenwürde, Vorbehalt des Gesetzes, Vorrang des Gesetzes) dahingehend auszulegen, dass die Verweigerung einer (lebensrettenden) Lebend(organ)spende nicht als Unterlassene Hilfeleistung strafbar ist. Denn gebietet eine den (Straf-)Normadressaten schützende Verfassungsnorm die Zulässigkeit eines lebensverkürzenden Unterlassens im Sinne des § 323 c StGB – so wie im „Nierenspende-Fall“ die Zulässigkeit der verweigerten Lebend(organ)spende u. a. durch das zugunsten des unfreiwilligen Spenders eingreifende Selbstbestimmungsrecht erzwungen wird – so ist das verfassungsrechtlich gebotene Ergebnis im Wege einer verfassungskonformen Auslegung und anschließenden Ablehnung des unbestimmten Tatbestandsmerkmals der „Möglichkeit der Hilfeleistung“ oder der „Zumutbarkeit der Hilfeleistung“ (sofern man die Zumutbarkeit mit der vorzugswürdigen herrschenden Auffassung im Tatbestand und nicht in der Schuld verortet) zu bewerkstelligen (näher Kap. 6 A. II. 3. b) aa) (2) (c)). (3) Zur Bewahrung menschlichen Lebens durchgeführte Verletzung strafrechtlich geschützter Rechtsgüter (a) Rechtsgüterbinnenkollision (aa) L  ebensrettende Zwangsheilung beim entscheidungsfähigen Patienten Es besteht keine eine aus dem Grundrecht auf Leben abgeleitete staat­ liche Verpflichtung zur Legitimierung einer lebensrettenden Zwangsheilung, sofern diese ausschließlich darauf zielt, einen freiverantwortlich handelnden Patienten vor sich selbst zu schützen. Vielmehr wäre der Staat zur Legitimierung einer lebensrettenden Zwangsheilung in der beschriebenen Situa­ tion noch nicht einmal berechtigt. Denn er würde hierdurch gegen das verfassungsrechtlich verbürgte (Abwehr-)Recht auf selbstbestimmte Lebensbeendigung (das die Literatur in der Abwehrdimension des Grundrechts auf Leben, der Allgemeinen Handlungsfreiheit oder Menschenwürde verankert) verstoßen, sowie das verfassungsrechtlich verbürgte Selbstbestimmungsrecht des Patienten verletzen und hinter der aus dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit abgeleiteten Schutzpflicht zurückbleiben, die es gebietet, jeden entgegen dem Willen eines entscheidungsfähigen Patienten erfolgenden ärztlichen Eingriff zu pönalisieren (näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (c) (aa)).

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

Das Grundrecht auf Leben gebietet daher keine Auslegung der §§ 223 (34) StGB sowie der §§ 239, 240 (34) StGB dahingehend, dass eine lebensrettende Zwangsheilung, die (ausschließlich) durchgeführt wurde, um einen entscheidungsfähigen Patienten vor sich selbst zu retten, zulässig ist. Vielmehr stehen die oben genannten Grundrechte ((Abwehr-)Recht auf selbstbestimmte Lebensbeendigung; Selbstbestimmungsrecht des Patienten; Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit) einer derartigen Norminterpretation zwingend entgegen. Auch der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes, in der Gestalt, die dieses Prinzip durch die Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG gefunden hat, verbietet eine derartige Auslegung. Denn die Rechtsordnung stellt keine Ermächtigungsgrundlage zur Verfügung, die die Ärzteschaft explizit zur Vornahme lebensrettender Zwangstherapien zugunsten entscheidungsfähiger Patienten ermächtigt (näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (b) (aa)). (b) K  ollision zwischen unterschiedlichen Trägern zustehenden Rechtsgütern / Interessen (aa) „Zwangsblutspende-Fall“ Den Staat trifft keine eine aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG abgeleitete Schutzpflicht, die darauf gerichtet ist, in einer existenziellen Notlage – wie sie dem „Zwangsblutspende-Fall“ zugrunde liegt – eine Blutentnahme entgegen dem Willen des Spenders zu legitimieren. Zwar treffen den Staat zur Bewahrung des durch Krankheit bedrohten Lebens Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, jedoch sind diese nur auf allgemeine, nicht völlig ungeeignete Vorkehrungen zum Lebens- und Gesundheitsschutz gerichtet. Insbesondere aber wäre der Staat zur Legitimierung von erzwungenen Blutspenden noch nicht einmal berechtigt, da er hierdurch das – zugunsten des unfreiwilligen Spenders eingreifende – Selbstbestimmungsrecht bzw. dessen Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit verletzen würde. Für die strafrechtliche Bewertung des „Zwangsblutsspende-Falls“ bedeutet dies, dass Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gerade keine Auslegung der §§ 223 (34) StGB dahingehend gebietet, dass eine „Zwangsblutspende“ zulässig ist, selbst wenn eine solche die einzige Möglichkeit zur Bewahrung eines unmittelbar bedrohten Menschenlebens darstellt; vielmehr würde eine solche Norminterpretation den unfreiwilligen Spender in seinem verfassungsrechtlich verbürgten Selbstbestimmungsrecht bzw. in seinem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit verletzen. Auch gegen den Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes, in der Gestalt, die dieses Prinzip durch die Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG



A. Behandlungspflichten des Arztes311

gefunden hat, würde eine derartige Strafrechtsauslegung verstoßen. Denn angesichts der massiven Grundrechtsbeeinträchtigungen, die von einer erzwungen Blutspende ausgehen, fordert dieser Verfassungsgrundsatz die Existenz einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage, die den unfreiwilligen Spender explizit zur Duldung der mit der Zwangsblutspende verbundenen Grundrechtsbeeinträchtigungen verpflichtet. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass eine Zwangsblutspende ohne Inanspruchnahme polizeilicher Hilfe kaum denkbar ist und die polizeiliche Befungnisgeneralklausel in Ermangelung einer planwidrigen Regelungslücke nicht anwendbar ist. Eine derartige gesetzliche Regelung, die eine Duldungspflicht des unfreiwilligen Spenders hinreichend explizit statuiert, existiert jedoch nicht (und dürfte auch nicht erlassen werden, weil sie die Grundrechte des unfreiwilligen Spenders verletzen würde). Insofern stehen einer Auslegung der §§ 223 (34 StGB), wonach eine erzwungene Blutspende zulässig ist, nicht nur die Grundrechte des unfreiwilligen Spenders entgegen, sondern auch der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes (näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (c) (dd)). (bb) Erzwungene Lebend(organ)spende Der Staat besitzt keine aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG resultierende (Schutz-) Pflicht, eine gegen oder ohne den Willen eines Lebend(organ)spenders erfolgende Organentnahme zu legitimieren, selbst wenn diese die einzige Möglichkeit zur Rettung eines unmittelbar bedrohten Menschenlebens darstellt. Es ist bereits sehr zweifelhaft, ob den Staat überhaupt eine aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG folgende (Schutz-)Pflicht zur Schaffung eines bedarfsgerechten Transplantationssystems trifft, aus der für den Einzelnen ein originärer Leistungsanspruch auf Zuteilung eines Organs folgt. Außerdem besitzt der Staat bei der Erfüllung seiner grundrechtlichen Schutzpflichten einen weiten Spielraum, den der Staat durch den Verzicht auf die Legitimierung einer postmortalen Organentnahme gegen den Willen des Spenders nicht verletzt. Denn die bereits ergriffenen gesetzgeberischen Maßnahmen zur Steigerung des Organaufkommens sind nicht völlig ineffizient und es existieren noch eine Vielzahl an sehr effektiven Maßnahmen, mit denen der Gesetzgeber das Spenderorganaufkommen in Zukunft noch erheblich steigern könnte (Einführung einer verfassungsgemäß ausgestalteten Widerspruchslösung etc.). Insbesondere aber wäre der Staat zur Legitimierung einer erzwungenen Organspende noch nicht einmal berechtigt, da hierdurch das – zugunsten des unfreiwilligen Spender eingreifende – Selbstbestimmungsrecht bzw. nach anderer Auffassung sogar dessen Menschenwürde verletzt würde (näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (c) (bb)).

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

Das Grundrecht auf Leben gebietet daher keine Auslegung der § 19 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 b) TPG, (§ 34 StGB) sowie der §§ 223 (34) StGB mit dem Inhalt, dass eine erzwungene Lebend(organ)spende zulässig ist, selbst dann nicht, wenn die erzwungene Lebend(organ)spende die einzige Möglichkeit zur Rettung eines andernfalls verlorenen Menschenlebens darstellt. Vielmehr steht das Selbstbestimmungsrecht bzw. die Menschenwürdegarantie einer solchen Norminterpretation zwingend entgegen. Auch der (Verfassungs-)Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes, in der Gestalt, die dieses Prinzip durch die Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG gefunden hat, verbietet eine derartige Strafrechtsauslegung. Denn die Rechtsordnung enthält keine Ermächtigungsgrundlage, die den unfreiwilligen Spender explizit zur Duldung der Grundrechtsbeeinträchtigungen verpflichtet, die mit einer gegen seinen Willen erfolgenden Organentnahme einhergehen. Zudem scheitert eine Norminterpretation, wonach eine erzwungene Lebend(organ)spende zulässig ist, auch am (Verfassungs-)Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes, da § 19 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 b) TPG die gegen oder ohne den Willen des Spenders erfolgende Organentnahme explizit unter Strafe stellt (näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (c) (bb)). (cc) P  ostmortale Organentnahme entgegen dem Willen des Spenders Der Staat besitzt keine aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG folgende (Schutz-) Pflicht, eine gegen den (lebzeitigen) Willen des Spenders erfolgende postmortale Organentnahme zu legitimieren, selbst wenn diese „Zwangsorganentnahme“ die einzige Möglichkeit zur Rettung eines unmittelbar bedrohten Menschenlebens darstellt. Es ist bereits sehr zweifelhaft, ob den Staat überhaupt eine aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG folgende (Schutz-)Pflicht zur Schaffung eines bedarfsgerechten Transplantationssystems trifft, aus der für den Einzelnen ein originärer Leistungsanspruch auf Zuteilung eines Organs folgt. Außerdem besitzt der Staat bei der Erfüllung seiner grundrechtlichen Schutzpflichten einen weiten Spielraum, den der Staat durch den Verzicht auf die Legitimierung einer postmortalen Organentnahme gegen den Willen des Spenders nicht verletzt, da die bereits ergriffenen gesetzgeberischen Maßnahmen zur Steigerung des Organaufkommens nicht völlig ineffizient sind und noch eine Vielzahl an sehr effektiven Maßnahmen existiert, mit denen der Gesetzgeber das Spenderorganaufkommen in Zukunft noch er-



A. Behandlungspflichten des Arztes313

heblich steigern könnte (Einführung einer verfassungsgemäß ausgestalteten Widerspruchslösung etc.). Vielmehr wäre der Staat zur Legitimierung einer postmortalen Organentnahme gegen den (lebzeitigen) Willen des Spenders noch nicht einmal berechtigt, da er hierdurch das postmortal zu achtende Persönlichkeitsrecht des Spenders bzw. dessen postmortal zu achtende Menschenwürde verletzen würde. Dies gilt insbesondere, sofern der Spender der Organentnahme zu Lebzeiten explizit widersprochen hatte, nach überwiegend vertretener Meinung aber auch, wenn – mangels lebzeitiger Erklärung des hirntoten Spenders – gemäß § 4 Abs. 1 S. 2 u. 4 TPG die Angehörigen über die Organentnahme unter Beachtung des mutmaßlichen Willen des Spenders zu entscheiden und ihr widersprochen hatten (näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (c) (cc)). Für das Strafrecht folgt hieraus, dass das Grundrecht auf Leben keine Auslegung des § 19 Abs. 2 in Verbindung mit § 3 Abs. 2 Nr. 1 TPG (§ 34 StGB) bzw. des § 19 Abs. 2 in Verbindung mit § 4 Abs. 1 S. 2 TPG (§ 34 StGB) dahingehend gebietet, dass eine postmortale Organentnahme entgegen dem Willen des Spenders zulässig ist. Das gilt selbst dann, wenn diese die einzige Möglichkeit zur Rettung eines andernfalls verlorenen Menschenlebens darstellt. Vielmehr würde eine solche Norminterpretation gegen das – zugunsten des toten Spenders eingreifende – postmortal zu achtende Persönlichkeitsrecht bzw. gegen dessen postmortal zu achtende Menschenwürde verstoßen. Auch mit dem (Verfassungs-)Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes wäre eine solche Strafrechtsauslegung angesichts der expliziten Regelung des § 19 Abs. 2 in Verbindung mit § 3 Abs. 2 Nr. 1 TPG bzw. des § 19 Abs. 2 in Verbindung mit § 4 Abs. 1 S. 2 TPG nicht vereinbar. (dd) „Millionärs-Fall“ Es besteht keine aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG abgeleitete staatliche (Schutz-) Pflicht, einen zum Zweck der Finanzierung einer lebensrettenden Behandlung durchgeführten Diebstahl zu legitimieren. Zwar treffen den Staat Schutzpflichten zugunsten des durch Krankheit bedrohten Lebens und der Gesundheit, die sich nach herrschender Meinung zu einem Anspruch auf das medizinische Existenzminimum verdichten. Jedoch erfüllt der Staat diese Pflichten aktuell vollauf durch die Bereitstellung der GKV. Außerdem steht ihm bei der Erfüllung seiner Schutzpflichten ein weiter Gestaltungsspielraum zu, der einer staatlichen Verpflichtung, zur Finanzierung lebensrettender Behandlungen begangene Diebstahlstaten zu gestatten, unter allen denkbaren Umständen entgegensteht.

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

Der Staat wäre noch nicht einmal dazu berechtigt, einen zur Finanzierung einer lebensrettenden Behandlung begangenen Diebstahl zu erlauben. Denn hierdurch würde er dem Diebstahlsopfer ein durch nichts zu rechtfertigendes Sonderopfer auferlegen, welches seine Eigentumsfreiheit (Art. 14 GG) verletzen und gegen den Allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) verstoßen würde (näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (c) (ee)). Für die strafrechtliche Bewertung des „Millionärs-Fall“ bedeutet dies, dass Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gerade keine Auslegung der §§ 242, 34 StGB mit dem Inhalt gebietet, dass der zur Finanzierung einer lebensrettenden Behandlung begangene Diebstahl zu Lasten eines Millionärs zulässig ist. Vielmehr stehen die Art. 14 GG und Art. 3 Abs. 1 GG einer derartigen Norm­ interpretation zwingend entgegen. Auch mit dem (Verfassungs-)Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes, in der Gestalt, die dieses Prinzip durch die Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG gefunden hat, wäre eine solche Norminterpretation nicht vereinbar. Denn die Rechtsordnung enthält keine Ermächtigungsgrundlage, die das Diebstahlsopfer explizit zur Duldung der massiven Eigentumsbeeinträchtigungen verpflichtet, die mit einem zur Finanzierung einer lebenserhaltenden Maßnahme begangenen Diebstahl einhergehen (Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (c) (ee)). cc) Ökonomischer Behandlungsverzicht durch auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätige Ärzte unter Zugrundelegung des eigenen Ansatzes Trotz der aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ableitbaren staatlichen Schutzpflichten zugunsten des durch Krankheit bedrohten Lebens und der Gesundheit, die sich nach zutreffender herrschender Meinung in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip zu einem Anspruch auf ein medizinisches Existenzminimum verdichten (näher Kap. 2 B.), besteht keine staatliche Verpflichtung, einen auf eigenes wirtschaftliches Risiko handelnden Arzt (im gegenwärtigen System der GKV: niedergelassenen Vertragsarzt) zu bestrafen, wenn dieser es unterlässt, einem Patienten medizinisch notwendige Maßnahmen angedeihen zu lassen, die weder durch die öffentliche Gesundheitsversorgung noch durch den Patienten privat finanziert werden. Vielmehr wäre der Staat zur Ergreifung derartiger (Straf-)Maßnahmen noch nicht einmal berechtigt. Denn eine Verhaltensnorm, die auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätige Ärzte zur Erbringung der beschriebenen medizinischen Leistungen auf eigene Kosten verpflichten würde, würde diese Ärzte in ihrer Eigentums- (Art. 14 GG) und Berufsfreiheit (Art. 12 GG) verletzen und gegen den Allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) verstoßen.



A. Behandlungspflichten des Arztes315

Dies gilt unabhängig davon, ob Bedürftigen durch die öffentliche Gesundheitsversorgung ein medizinisches Existenzminimum zur Verfügung gestellt wird (näher zur verfassungsrechtlichen Dimension, vgl. Kap. 6 A. II. 1.). Sofern – wie im vorliegenden Fall – die Zulässigkeit eines lebensverkürzenden bzw. gesundheitsgefährdenden Unterlassens im Sinne der §§ 212, 13 StGB bzw. §§ 223, 13 StGB durch eine die Interessen des Normadressaten schützende Verfassungsnorm erzwungen wird, ist das durch das Grundgesetz gebotene Ergebnis über eine verfassungskonforme Auslegung und anschließende Ablehnung des unbestimmten Rechtsbegriffs der Garantenpflicht oder der Zumutbarkeit normgemäßen Verhaltens (sofern man die Zumutbarkeit mit der vorzugswürdigen herrschenden Meinung als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal einordnet oder davon ausgeht, dass fehlende Zumutbarkeit rechtfertigend und nicht bloß entschuldigend wirkt) herbeizuführen (näher Kap. 6 A. II. 3. b) aa) (2) (b)). Die §§ 212, 13 StGB, §§ 223, 13 StGB sind daher im Licht der andernfalls verletzten Grundrechte aus Artt. 12, 14 und 3 Abs. 1 GG so auszulegen, dass es auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätigen Ärzten an einer Garantenpflicht fehlt, die auf die Durchführung von Maßnahmen gerichtet sind, die weder von der öffentlichen Gesundheitsversorgung noch durch den Patienten finanziert werden, bzw. dass die Zumutbarkeit normgemäßen Verhaltens abzulehnen ist. Die gleiche Norminterpretation wird angesichts der sozialrechtlichen Vorschriften, welche die vorenthaltenen Leistungen aus dem Versorgungsprogramm der öffentlichen Gesundheitsversorgung herausnehmen und der privaten Absicherung durch den Patienten überlassen, auch durch den (in Art. 20 Abs. 3 GG normierten und auch für die Judikative verbindlichen) Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes geboten. Denn die Ratio dieser Vorschriften würde unterlaufen, wenn die Ärzteschaft bei Strafdrohung verpflichtet wäre, solche Leistungen, die durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht mehr zur Verfügung gestellt werden, auch dann zu erbringen, wenn der Patient diese Leistungen privat nicht bezahlen kann / will. Diese sozialrechtlichen Vorschriften bezwecken nämlich, ohne Gefährdung einer effizienten Krankenversorgung, Kosten im öffentlichen Gesundheitswesen dadurch einzusparen, dass bestimmte Leistungen aus der (durch die öffentliche Gesundheitsversorgung bereitgestellten) medizinischen Grundversorgung herausgenommen und der privaten Absicherung durch den Patienten überlassen werden, anstelle – wie in der Vergangenheit – zum Zwecke der Kostendämpfung an der Vergütung der Leistungserbringer anzusetzen (Budgetierung etc.). Überzeugt einen diese Argumentation (verfassungskonforme Auslegung der §§ 212, 13 StGB, §§ 223, 13 StGB) nicht, so kann hilfsweise darauf verwiesen werden, dass ein auf eigenes wirtschaftliches Risiko arbeitender

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

Arzt in der beschriebenen Situation schon deshalb keine(n) rechtswidrige(n) Totschlag bzw. Körperverletzung durch Unterlassen begeht, weil ein Patient nicht berechtigterweise darauf vertrauen kann, mit medizinischen Leistungen versorgt zu werden, die weder durch die öffentliche Gesundheitsversorgung bereitgestellt, noch durch ihn selbst finanziert werden. Im Einzelnen: Die Verneinung der Verpflichtung, den Patienten mit den beschriebenen Leistungen zu versorgen, folgt aus dem Legitimationsgrund der ärztlichen (Garanten-)Pflicht zum Handeln. Die ärztliche Garantenpflicht beruht nach zutreffender herrschender Meinung weder auf der Stellung des Arztes im öffentlichen Gesundheitssystem507, noch auf dem wirksamen Abschluss eines (zivilrechtlichen) Behandlungsvertrags, sondern auf der tatsächlichen Übernahme der Behandlung (im Hinblick auf die konkrete Erkrankung)508. Die durch tatsächliche Übernahme der Behandlung entstehende ärztliche Garantenstellung ist als Obhuts- bzw. Beschützergarantenpflicht zu qualifizieren. Legitimationsgrund für die Obhuts- bzw. Beschützergarantenpflichten (und somit auch für die ärztliche Garantenstellung) ist das Vertrauensprinzip, also das berechtigte Vertrauen des Rechtsgutsinhabers auf den Garanten, welches den Rechtsgutsträger zum Verzicht auf eigene bzw. anderweitige Schutzmaßnahmen verleitet.509 Bezogen auf die ärztliche Garantenstellung bedeutet dies, dass den Arzt, ab dem Zeitpunkt der tatsächlichen Übernahme der Behandlung, eine Rechtspflicht zum Handeln trifft, weil dieser mit der Übernahme der Behandlung den Eindruck erweckt, dass er dem Patienten unter Einsatz seiner ärztlichen Kenntnisse und Fähigkeiten beistehen, ihm helfen und notfalls weitere Hilfsmaßnahmen, zu denen er selbst nicht in der Lage ist, übernehmen werde und der Patient hierauf vertraut und nicht mehr versuchen wird, anderweitig Hilfe zu erlangen.510 Dieser Legitimationsgrund (berechtigtes Vertrauen des Rechtsgutsträgers) begründet nicht nur die Obhuts- bzw. Beschützergarantenstellung (und so507  Lenckner,

in: Forster, Praxis der Rechtsmedizin, S. 570, 572. NJW 1995, 204 ff.; OLG Celle NJW 1961, 1939; Brammsen, Die Entstehungsvoraussetzungen der Garantenpflichten, S. 207  ff.; Fischer, StGB, § 13, Rn. 41; Knauer/Brose, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 212 StGB, Rn. 7; Kühl, Strafrecht AT, § 18, Rn. 68 ff., 72; ders., in: Lackner/Kühl, StGB, § 13, Rn. 9; Lenckner, in: Forster, Praxis der Rechtsmedizin, S. 570 (572); Rengier, Strafrecht AT, § 50, Rn.  28, 30 f.; Roxin, Strafrecht AT, Bd. 2, § 32, Rn. 70; Stree/Bosch, in: Schönke/ Schröder, StGB, § 13, Rn. 28 f.; Tag, Der Körperverletzungstatbestand im Spannungsfeld zwischen Patientenautonomie und lex artis, S. 407; Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, Rn. 34 ff.; Weigend, in: LK, StGB, Bd. 1, § 13, Rn. 36; Wohlers/Gaede, in: NK, StGB, Bd. 1, § 13, Rn. 39. 509  Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT, § 15, Rn. 59; Lenckner, in: Forster, Praxis der Rechtsmedizin, S. 570 (573); Rudolphi, NStZ 1984, 148 (151 f.); Tag, Der Körperverletzungstatbestand im Spannungsfeld zwischen Patientenautonomie und lex artis, S. 407; Wohlers/Gaede, in: NK, StGB, Bd. 1, § 13, Rn. 34. 510  BGH NJW 1979, 1249. 508  BGH



A. Behandlungspflichten des Arztes317

mit auch die ärztlichen Garantenpflichten), sondern begrenzt auch die aus der Garantenstellung folgenden Garantenpflichten.511 Insofern ist eine Garantenpflicht, die dahin geht, medizinische Leistungen zu erbringen, welche weder durch die öffentliche Gesundheitsversorgung bereitgestellt noch durch den Patienten privat finanziert werden, abzulehnen. Denn niemand kann damit rechnen, mit Leistungen versorgt zu werden, die durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht zur Verfügung gestellt werden und deren privaten Zukauf man sich entweder nicht leisten kann oder nicht leisten will. Dies resultiert aus dem Umstand, dass die Vorenthaltung notwendiger medizinischer Leistungen in einem öffentlichen Gesundheitssystem (wie der GKV) eines formellen Gesetzes bedarf (siehe Kap. 2 A.) und Einschränkungen in der gesundheitlichen Versorgung stets auf ein reges Interesse seitens der Öffentlichkeit stoßen, was sich auch stark in der Medienberichterstattung spiegelt. Aber selbst wenn manche Patienten erwarten würden, diese Leistungen zu erhalten, so wäre dieses Vertrauen aufgrund der (sozial-)gesetzlichen Regelung, wodurch die entsprechenden Leistungen von der öffentlichen Gesundheitsversorgung ausgenommen werden und der privaten Absicherung überlassen werden, nicht schutzwürdig. Der in Frage stehende ökonomische Behandlungsverzicht ist auch nicht nach § 323 c StGB strafbar. Denn gebietet – wie im vorliegenden Fall – eine den Normadressaten schützende Verfassungsnorm die Zulässigkeit eines lebensverkürzenden Tuns im Sinne des § 323 c StGB, so ist das verfassungsrechtlich gebotene Ergebnis über eine verfassungskonforme Auslegung und Ablehnung entweder des unbestimmten Tatbestandsmerkmals der „Möglichkeit der Hilfeleistung“ oder der „Zumutbarkeit der Hilfeleistung“ zu bewerkstelligen (näher Kap. 6 A. II. 3. b) aa) (2) (c)). Insofern ist das unbestimmte Tatbestandsmerkmal der „Möglichkeit der Hilfeleistung“ oder das unbestimmte Tatbestandsmerkmal der „Zumutbarkeit der Hilfeleistung“ im Licht der Artt. 12, 14 GG und 3 Abs. 1 GG sowie des (Verfassungs-) Grundsatzes vom Vorrang des Gesetzes zu interpretieren und abzulehnen, sofern ein auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätiger Arzt in einer als „Unglücksfall“ im Sinne des § 323 c StGB zu qualifizierenden medizinischen Krisensituation auf Durchführung einer medizinisch notwendigen Therapie verzichtet, weil diese weder durch die öffentliche Gesundheitsversorgung noch durch den Patienten privat finanziert wird. Die gleiche Norminterpretation gebietet eine teleologische Auslegung der Norm. Denn der Tatbestand des § 323 c StGB normiert das Zurückbleiben hinter einer unter Mitmenschen billigerweise zu erwartenden Mindestsolidarität512. Der Ratio dieser 511  Stree/Bosch, in: Schönke/Schröder, StGB, § 13, Rn. 28 a; Lenckner, in: Forster, Praxis der Rechtsmedizin, S. 570 (573). 512  Wohlers/Gaede, in: NK, StGB, Bd. 3, § 323 c, Rn. 1.

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

Vorschrift steht daher eine Auslegung entgegen, wonach der Verzicht auf die Erbringung solcher medizinischer Leistungen strafbar ist, die durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht mehr finanziert werden und der privaten Absicherung überlassen sind. Exkurs: Behandlungspflichten des niedergelassenen Vertragsarztes (GKV-System) Während der Verzicht auf die Erbringung medizinischer Leistungen, die weder durch die öffentliche Gesundheitsversorgung noch durch den Patienten bezahlt werden, zulässig ist, stellt sich eine andere Spielart des ökonomischen Behandlungsverzichts als strafrechtlich relevant dar513, nämlich die implizite Rationierung medizinischer Leistungen, für welche die gegenwärtigen Strukturen der vertragsärztlichen Vergütung (Budgetierung, Regelleistungsvolumina etc.) Anreize bieten: Der behandelnde Arzt ist verpflichtet, alle Leistungen, die im Leistungskatalog der GKV enthalten sind, zu erbringen, sofern diese medizinisch indiziert sind; andernfalls kommt eine Strafbarkeit nach den §§ 212, 13 StGB, §§ 223, 13 StGB (§ 323 c StGB) in Betracht. Dies gilt auch dann, wenn eine solche Leistung, aufgrund von an der ärztlichen Vergütung ansetzenden Kostendämpfungsmaßnahmen (Budgetierung, Regelleistungsvolumina etc.), nicht rentabel ist oder noch nicht einmal mehr kostendeckend entlohnt wird. Denn die Verfassung gebietet die Zulässigkeit bzw. Straflosigkeit der Vorenthaltung von im GKV-Katalog enthaltenen Leistungen selbst dann nicht, wenn diese Maßnahmen (aufgrund von an der Vergütung der Leistungserbringer ansetzenden Kostendämpfungsmaßnahmen) nicht kostendeckend vergütet werden. Das gilt zumindest unter Zugrundelegung der herrschenden Meinung, wonach die vorgegebenen Strukturen des vertragsärztlichen Vergütungssystems verfassungsgemäß sind und insbesondere den niedergelassenen Vertragsarzt nicht in seiner Berufsfreiheit verletzen (näher Kap. 6 A. II. 1. b) (aa) Exkurs). Vielmehr steht der (Verfassungs-) Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes einer Auslegung der §§ 212, 13 (34) StGB, §§ 223, 13 (34) StGB, § 323 c (34) StGB, die besagt, dass der in Frage stehende ökonomische Behandlungsverzicht zulässig ist (i. e. tatbestandslos oder gerechtfertigt ist), sogar zwingend entgegen. Denn das SGB V (insbesondere § 87 b SGB V sowie die Regelungen über die Versichertenansprüche) enthält die gesetzgeberische Wertentscheidung, dass der Arzt und nicht der Patient die Nachteile zu tragen hat, die sich aus der nicht gerechtfertigten Überschreitung des Richtgrößenvolumens für Arznei- und 513  Näher

hierzu: Dannecker/Streng, MedR 2011, 131 (137).



B. Behandlungspflichten der in öffentl. Trägerschaft angestellten Ärzte319

Verbandsmittel oder des arzt- oder praxisbezogenen Regelleistungsvolumens ergeben.514 Exkurs Ende

B. Behandlungspflichten der in einem Krankenhaus in öffentlicher Trägerschaft angestellten Ärzte Trotz der aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG folgenden staatlichen Schutzpflichten zugunsten des durch Krankheit bedrohten Lebens und der Gesundheit, die sich nach zutreffender herrschender Meinung zu einem Anspruch auf das medizinische Existenzminimum verdichten (näher Kap. 2 B.), ist der Staat nicht dazu verpflichtet, bei öffentlichen Krankenhausträgern (Land, Kreis, Kommune etc.) angestellte Ärzte zu bestrafen, wenn diese ihren Patienten medizinisch indizierte Leistungen vorenthalten, die weder durch die öffentliche Gesundheitsversorgung noch durch den Patienten privat finanziert werden. Das gilt auch dann, wenn die öffentliche Gesundheitsversorgung Bedürftigen kein medizinisches Existenzminimum sichert. Der Staat besitzt bei der Erfüllung seiner grundrechtlichen Schutzpflichten einen weiten Spielraum. Dieser steht einer staatlichen Verpflichtung, den ökonomischen Behandlungsverzicht unter Strafe zu stellen, selbst dann entgegen, sofern durch die öffentliche Gesundheitsversorgung kein medizinisches Existenzminimum gewährleistet wird. Denn neben der Pönalisierung des ökonomischen Behandlungsverzichts gäbe es andere, noch weitaus effektivere Maßnahmen zur Gewährleistung eines medizinischen Existenzminimums für Bedürftige, etwa die – notfalls über Steuererhöhungen zu finanzierende – Aufstockung der durch die öffentliche Gesundheitsversorgung bereitgestellten Gesundheitsleistungen (näher Kap. 6 A. II. 1.). Insofern erzwingt Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG keine Auslegung der §§ 212, 13 StGB, §§ 223, 13 StGB (323 c StGB) dahingehend, dass der durch Krankenhausärzte in öffentlichen Kliniken begangene ökonomische Behandlungsverzicht unzulässig ist. Vielmehr steht die Verfassung einer derartigen Norm­ interpretation sogar zwingend entgegen. Zwar würde die (strafbewehrte) Verpflichtung zur Erbringung von Leistungen, die weder durch die öffentliche Gesundheitsversorgung noch durch den Patienten privat finanziert werden, den Krankenhausarzt nicht in seinen Grundrechten, insbesondere nicht in seiner Berufsfreiheit (Art. 12 GG) oder seiner Eigentumsfreiheit (Art. 14 GG) verletzen. Denn weder ist die Entlohnung eines Krankenhausarztes (zumindest nicht überwiegend) davon abhängig, ob die Behandlung eines Patienten dem Krankenhausträger etwas einbringt, weshalb eine Verletzung 514  Dannecker/Streng,

MedR 2011, 131 (137).

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

des Arztes in Art. 12 GG ausscheidet, noch stehen die zur Behandlung eines Patienten eingesetzten Ressourcen (Geräte, Medikamente etc.) im Eigentum des Krankenhausarztes, weshalb auch eine Verletzung seiner Eigentumsfreiheit abzulehnen ist. Auch der öffentliche Krankenhausträger (Land, Kreis, Kommune etc.) selbst würde nicht in seinen Grundrechten verletzt, wenn die bei ihm angestellten Krankenhausärzte verpflichtet wären, medizinische Leistungen zu erbringen, die weder durch die öffentliche Gesundheitsversorgung noch durch den Patienten selbst finanziert werden. Zwar würde eine derartige Verpflichtung das Vermögen sowie das Eigentum des Krankenhausträgers beeinträchtigen. Denn der Krankenhausträger wäre durch die strafbewehrte Verpflichtung der bei ihm angestellten Ärzte, derartige Leistungen zu erbringen, mittelbar gezwungen, seine personellen und sachlichen Ressourcen unentgeltlich in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen. Jedoch kann sich der Krankenhausträger als juristische Person des öffentlichen Rechts nicht auf das Grundrecht auf Eigentum (Art. 14 GG) oder die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), die nach zutreffender herrschender Meinung515 das Vermögen schützt, berufen. Juristische Personen des öffentlichen Rechts, wie etwa Gemeinden etc., können sich weder dann, wenn diese öffentliche Aufgaben wahrnehmen, noch außerhalb der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben auf die Grundrechte berufen, da es an einer grundrechtstypischen Gefährdungslage fehlt.516 Sie sind Verpflichtete und nicht Träger der Grundrechte, denn Art. 14 GG schützt nicht das Privateigentum, sondern das Eigentum Privater.517 Jedoch wird die Zulässigkeit des, durch Krankenhausärzte in öffentlichen Kliniken begangenen, ökonomischen Behandlungsverzichts durch den Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes erzwungen. Denn die Ratio der (so­ zialrechtlichen) Vorschriften, die die vorenthaltenen Leistungen aus dem Versorgungsprogramm der öffentlichen Gesundheitsversorgung herausnehmen und der privaten Absicherung durch den Patienten überlassen, würde unterlaufen, wenn die Ärzteschaft bei Strafdrohung verpflichtet wäre, solche Leistungen auch dann zu erbringen, wenn der Patient diese Leistungen privat nicht finanzieren kann. Denn diese sozialrechtlichen Vorschriften bezwecken, ohne Gefährdung einer effizienten Krankenversorgung, Kosten im 515  BVerfGE 95, 267 (300); BVerwGE 87, 324 (330); Axer, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 14, Rn. 55; Bryde, in: von Münch/Kunig, GG, Bd. 1, Art. 14, Rn. 23; Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14, Rn. 161 ff. (59. Aufl. 2010). 516  BVerfGE 61, 82 (100 ff.); 68, 193 (206); 75, 192 (196); Axer, in: Epping/ Hillgruber, GG, Art. 14, Rn. 39; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 19, Rn. 24 ff. 517  BVerfGE 61, 82 (105 ff.); Axer, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 14, Rn. 39; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 19, Rn. 24.



B. Behandlungspflichten der in öffentl. Trägerschaft angestellten Ärzte321

öffentlichen Gesundheitswesen dadurch einzusparen, dass bestimmte Leistungen aus der (durch die öffentliche Gesundheitsversorgung bereitgestellten) medizinischen Grundversorgung herausgenommen und der privaten Absicherung durch den Patienten überlassen werden, statt – wie in der Vergangenheit – zum Zwecke der Kostendämpfung an der Vergütung der Leistungserbringer anzusetzen (Budgetierung etc.). Den Vorgaben des Grundsatzes vom Vorrang des Gesetzes ist Rechnung zu tragen, indem die §§ 212, 13 StGB, §§ 223, 13 StGB im Licht dieses Verfassungsprinzips dahingehend auszulegen sind, dass einen bei einem öffentlichen Krankenhausträger angestellten Arzt keine Garantenpflicht trifft, die auf die Erbringung von Gesundheitsleistungen gerichtet ist, welche weder durch die öffentliche Gesundheitsversorgung noch durch den Patienten finanziert werden. Denn wird – wie im vorliegenden Fall – die Zulässigkeit eines lebensverkürzenden bzw. gesundheitsschädigenden Unterlassens im Sinne des §§ 212, 13 StGB bzw. §§ 212, 13 StGB durch eine Verfassungsnorm erzwungen, die nicht dem Schutz der Interessen des Norm­adressaten dient, so ist – aus in Kap. 6 A. II 3. b) aa) (2) (a) näher beschriebenen Gründen – das verfassungsrechtlich gebotene Ergebnis über eine verfassungskonforme Auslegung und anschließende Verneinung der „Garantenpflicht“ herbeizuführen. Auch eine Strafbarkeit nach § 323 c StGB ist abzulehnen, sofern ein bei einem öffentlichen Träger angestellter Krankenhausarzt in einer als „Unglücksfall“ im Sinne des § 323 c StGB zu qualifizierenden medizinischen Krisensituation auf die Durchführung einer medizinisch notwendigen Therapie verzichtet, weil diese weder durch die öffentliche Gesundheitsversorgung bereitgestellt, noch durch den Patienten privat finanziert wird. Die Strafbarkeit wegen Unterlassener Hilfeleistung scheitert am Tatbestandsmerkmal der Möglichkeit der Hilfeleistung. Denn gebietet eine Verfassungsnorm, die weder die Interessen des Strafnormadressaten noch des Opfers schützt, die Zulässigkeit eines lebensverkürzenden bzw. gesundheitsschädigenden Unterlassenes im Sinne des § 323 c StGB – wie vorliegend der Verfassungsgrundsatz vom Vorrang des Gesetzes –, so ist das unbestimmte Tatbestandsmerkmal der „Möglichkeit der Hilfeleistung“ zu verneinen (näher Kap. 6 A. II. 3. b) aa) (2) (c)). Überzeugt einen diese Argumentation (verfassungskonforme Auslegung der §§ 212, 13 StGB, §§ 223, 13 StGB, § 323 c StGB) nicht, kann ergänzend darauf verwiesen werden, dass ein in einem Krankenhaus in öffent­ licher Trägerschaft angestellter Arzt in der beschriebenen Situation schon deshalb nicht wegen Körperverletzung bzw. Totschlags durch Unterlassen bestraft werden darf, weil ein Patient nicht berechtigterweise darauf vertrauen kann, mit den besagten Leistungen versorgt zu werden und infolgedessen

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

keine auf die Erbringung derartiger Leistungen gerichtete ärztliche Garantenpflicht existiert (näher Kap. 6 A. II. 3. b) cc)). Gegen eine Strafbarkeit gemäß § 323 c StGB kann – über die verfassungsrechtliche Argumentation hinausgehend – eingewandt werden, dass diese Vorschrift eine unter Mitmenschen billigerweise zu erwartende Mindestsolidarität normiert518 und daher nicht dazu verwendet werden darf, die Ärzteschaft zur Erbringung von Leistungen zu zwingen, die durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht mehr finanziert werden.

C. Behandlungspflichten der in einem Krankenhaus in privater Trägerschaft angestellten Ärzte Den Staat trifft keine aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG folgende Verpflichtung, die darauf gerichtet ist, in Krankenhäusern in privater Trägerschaft angestellte Ärzte zu bestrafen, wenn diese ihren Patienten medizinisch indizierte Leistungen vorenthalten, die durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) bereitgestellt werden und auch durch den Patienten nicht privat finanziert werden. Das gilt auch dann, wenn die öffentliche Gesundheitsversorgung Bedürftigen kein medizinisches Existenzminimum sichert. Zwar treffen den Staat (aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG folgende) Schutzpflichten zugunsten des durch Krankheit bedrohten Lebens und der Gesundheit, die sich nach zutreffender herrschender Meinung zu einem Anspruch auf das medizinische Existenzminimum verdichten (näher Kap. 2 B.). Jedoch besitzt der Staat bei der Erfüllung seiner grundrechtlichen Schutzpflichten einen weiten Spielraum, der einer staatlichen Verpflichtung, den ökonomischen Behandlungsverzicht unter Strafe zu stellen, selbst dann entgegensteht, sofern durch die öffentliche Gesundheitsversorgung kein medizinisches Existenzminimum gewährleistet wird. Denn neben der Pönalisierung des ökonomischen Behandlungsverzichts gäbe es andere, noch weitaus effektivere Maßnahmen zur Gewährleistung eines medizinischen Existenzminimums für Bedürftige, etwa die – notfalls über Steuererhöhungen zu finanzierende – Aufstockung der durch die öffentliche Gesundheitsversorgung bereitgestellten Leistungen (näher Kap. 6 A. II. 1.). Insofern erzwingt Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG keine Auslegung der §§ 212, 13 StGB, §§ 223, 13 StGB (§ 323 c StGB) dahingehend, dass der durch Ärzte in Privatkliniken begangene ökonomische Behandlungsverzicht unzulässig ist. Vielmehr steht die Verfassung einer derartigen Norminterpretation sogar zwingend entgegen, weil diese zwar nicht die Grundrechte des angestellten 518  Wessels/Hettinger, Strafrecht BT, Bd. 1, Rn. 1042; Wohlers/Gaede, in: NK, StGB, Bd. 3, § 323 c, Rn. 1.



C. Behandlungspflichten der in privater Trägerschaft angestellten Ärzte  323

Arztes, jedoch die Eigentumsfreiheit (Art. 14 GG) und die Vermögensfreiheit des privaten Trägers (Art. 2 Abs. 1 GG) verletzen würde und gegen den Allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) sowie gegen den Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) verstoßen würde. Eine Verletzung der Grundrechte des angestellten Arztes, insbesondere der Eigentumsfreiheit (Art. 14 GG) und der Berufsfreiheit (Art. 12 GG) sowie des Allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG), scheidet dagegen aus. Eine Verletzung der Berufsfreiheit ist deshalb abzulehnen, weil der Arzt durch den Klinikträger entlohnt wird und die Höhe dieser Entlohnung davon unabhängig ist, ob die durch den Arzt erbrachte Leistung durch den Klinikträger abgerechnet werden kann. Auch eine Verletzung des angestellten Arztes in seiner Eigentumsfreiheit kommt nicht in Betracht, weil die zur Behandlung des Patienten eingesetzten Ressourcen nicht im Eigentum des Arztes, sondern im Eigentum des privaten Krankenhausträgers stehen. Da die Behandlung eines zahlungsunfähigen oder -unwilligen Patienten mit Leistungen, die durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) bereitgestellt werden, für den in einer Privatklinik angestellten Arzt keinerlei wirtschaftliche Nachteile mit sich bringen würde, würde eine Pönali­ sierung des ökonomischen Behandlungsverzichts einen solchen Arzt auch nicht in seinen Rechten aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzen. Jedoch würde der private Träger in seiner Eigentumsfreiheit (Art. 14 GG), in seiner Allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), die nach herrschender Meinung519 das Vermögen schützt und in Art. 3 Abs. 1 GG (Allgemeiner Gleichheitssatz) verletzt, wenn die bei ihm angestellten Ärzte strafrechtlich verpflichtet wären, medizinische Leistungen zu erbringen, die weder durch die öffentliche Gesundheitsversorgung bereitgestellt, noch durch den Patienten privat finanziert werden. Eine derartige (strafbewehrte) Behandlungspflicht würde den privaten Klinikträger dazu zwingen, sein Vermögen und sein Eigentum unentgeltlich zur Behandlung zahlungsunwilliger oder -unfähiger Patienten einzusetzen und somit nicht zu rechtfertigende Sonderopfer zugunsten der Allgemeinheit zu erbringen. Denn er müsste dulden, dass die bei ihm angestellten und von ihm bezahlten Ärzte Leistungen erbringen, die ihm nichts einbringen und wodurch die Ärzte zudem von der Erbringung abrechenbarer Leistungen abgehalten werden. Dagegen könnte er sich auch nicht durch entsprechende Gestaltung der Arbeitsverträge zur Wehr setzen. Denn eine arbeitsvertragliche Regelung, wonach ein Arzt (zivilrechtlich) verpflichtet ist, eine Behandlung abzulehnen, zu deren Vornahme er strafrechtlich verpflichtet wäre, ist nach § 134 BGB nichtig. 519  BVerfGE 95, 267 (300); BVerwGE 87, 324 (330); Axer, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 14, Rn. 55; Bryde, in: von Münch/Kunig, GG, Bd. 1, Art. 14, Rn. 23; Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14, Rn. 161 ff. (59. Aufl. 2010).

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Kap. 6: Behandlungspflichten hinsichtlich alternativloser Leistungen

Außerdem müsste der private Klinikträger dulden, dass seine angestellten Ärzte – in Erfüllung ihrer strafbewehrten Behandlungspflicht – sein Eigentum (Klinikimmobilie, medizinische Gerätschaften etc.) zur Erbringung von Leistungen einsetzen, die nicht liquidiert werden können, weil sie weder durch die öffentliche Gesundheitsversorgung bereitgestellt, noch privat durch den Patienten finanziert werden. Daher würde eine strafbewehrte Pflicht, die bei privaten Krankenhausträgern angestellte Ärzte zur Erbringung der hier behandelten Leistungen verpflichtet, den privaten Klinikträger in seiner Eigentumsfreiheit und in seiner allgemeinen Handlungsfreiheit (unter dem Aspekt des Vermögensschutzes) verletzen und gegen den Allgemeinen Gleichheitssatz verstoßen. Die §§ 212, 13 StGB, §§ 223, 13 StGB sind daher im Licht der Artt. 14, 2 Abs. 1 und 3 Abs. 1 GG (verfassungskonform dahingehend) auszulegen, dass einen bei einem privaten Krankenhausträger angestellten Arzt keine Garantenpflicht trifft, die darauf gerichtet ist, medizinische Leistungen zu erbringen, die weder durch die öffentliche Gesundheitsversorgung zur Verfügung gestellt noch durch den Patienten privat finanziert werden. Denn wird – wie vorliegend – die Zulässigkeit eines lebensverkürzenden bzw. gesundheitsschädigenden Unterlassens im Sinne des §§ 212, 13 StGB bzw. §§ 212, 13 StGB durch Verfassungsnormen diktiert, die nicht dem Schutz der Interessen des Strafnormadressaten dienen, so ist das verfassungsrechtlich gebotene Ergebnis über eine verfassungskonforme Auslegung und anschließende Verneinung der „Garantenpflicht“ herbeizuführen (Kap. 6 A. II. 3. b) aa) (2) (a)). Auch eine Strafbarkeit wegen Unterlassener Hilfeleistung (§ 323 c StGB) scheidet in der hier in Frage stehenden Fallkonstellation aus, da der unbestimmte Rechtsbegriff der „Möglichkeit der Hilfeleistung“ im Licht der andernfalls verletzten Artt. 14, 2 Abs. 1 und 3 Abs. 1 GG auszulegen und abzulehnen ist. Denn gebietet – wie im vorliegenden Fall – eine Verfassungsnorm, die weder die Interessen des Strafnormadressaten noch des Opfers schützt, die Zulässigkeit eines lebensverkürzenden bzw. gesundheitsschädigenden Unterlassenes im Sinne des § 323 c StGB, so ist das unbestimmte Tatbestandsmerkmal der „Möglichkeit der Hilfeleistung“ abzulehnen (Kap. 6 A. II. 3. b) aa) (2) (c)). Die gleiche Auslegung der §§ 212, 13 StGB, §§ 223, 13 StGB, § 323 c StGB wird angesichts der sozialrechtlichen Vorschriften, welche die vorenthaltenen Therapien aus dem Versorgungsprogramm der öffentlichen Gesundheitsversorgung herausnehmen und der privaten Absicherung durch den Patienten überlassen, auch durch den (Verfassungs-)Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes geboten. Die Ratio dieser Vorschriften würde unterlaufen, wenn die Ärzteschaft bei Strafdrohung verpflichtet wäre, solche Leistungen



C. Behandlungspflichten der in privater Trägerschaft angestellten Ärzte  325

auch dann zu erbringen, wenn der Patient diese Leistungen privat nicht finanzieren kann. Denn diese sozialrechtlichen Vorschriften bezwecken, ohne Gefährdung einer effizienten Krankenversorgung, Kosten im öffentlichen Gesundheitswesen dadurch einzusparen, dass bestimmte Leistungen aus der (durch die öffentliche Gesundheitsversorgung bereitgestellten) medizinischen Grundversorgung herausgenommen und der privaten Absicherung durch den Patienten überlassen werden, anstelle – wie in der Vergangenheit – zum Zwecke der Kostendämpfung an der Vergütung der Leistungserbringer anzusetzen (Budgetierung etc.). Sollte diese Begründung (verfassungskonforme Auslegung der §§ 212, 13 StGB, §§ 223, 13 StGB) nicht überzeugen, kann hilfsweise auf die Argumentation verwiesen werden, dass ein in einem Krankenhaus in privater Trägerschaft angestellter Arzt in der beschriebenen Situation schon deshalb nicht wegen Körperverletzung bzw. Totschlags durch Unterlassen strafbar sein kann, weil ein Patient nicht berechtigterweise darauf vertrauen kann, mit medizinischen Leistungen versorgt zu werden, die weder durch die öffentliche Gesundheitsversorgung bereitgestellt, noch durch ihn selbst finanziert werden und infolgedessen keine auf die Erbringung derartiger Leistungen gerichtete ärztliche Garantenpflicht existiert (näher Kap. 6 A. II. 3. b) cc)). Gegen eine Strafbarkeit gemäß § 323 c StGB kann – über die verfassungsrechtliche Argumentation hinaus – eingewandt werden, dass diese Vorschrift eine unter Mitmenschen billigerweise zu erwartende Mindestsolidarität normiert und daher nicht dazu verwendet werden darf, die Ärzteschaft zur Erbringung von Leistungen zu zwingen, die durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht mehr bereitgestellt werden und die der Patient auch privat nicht finanzieren kann oder will.

Kapitel 7

Aufklärungspflichten über durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) bereitgestellte Leistungen gegenüber zahlungsunfähigen oder -unwilligen Patienten Den behandelnden Arzt trifft zwar – zumindest aus Perspektive des Strafrechts – keine Behandlungspflicht im Hinblick auf Leistungen, die durch das öffentliche Gesundheitssystem nicht (mehr) zur Verfügung gestellt werden und die durch den Patienten (oder dessen private Zusatzversicherung) auch nicht privat finanziert werden, da die Annahme einer derartigen strafbewehrten Behandlungspflicht gegen die Verfassung verstoßen würde (vgl. Kap. 6 A. II. 3. b) cc) / Kap. 6 B. / Kap. 6 C.). Damit ist jedoch noch keine Aussage darüber getroffen, ob den Arzt nicht wenigstens die Verpflichtung trifft, den Patienten über die Existenz einer solchen (durch das öffentliche Gesundheitssystem nicht mehr zur Verfügung gestellten) Maßnahme und die Möglichkeit, diese im Wege des privaten Zukaufs zu erlangen, aufzuklären. Zur Untersuchung dieser Fragestellung muss zwischen der Fallkonstellation, dass eine von der öffentlichen Gesundheitsversorgung zur Verfügung gestellte (standardgemäße) Alternative existiert und der Fallkonstellation, dass eine solche Alternative nicht gegeben ist, unterschieden werden.

A. Bei Nicht-Existenz einer durch die öffentliche Gesundheitsversorgung bereitgestellten Behandlungsalternative I. Verpflichtung zur Durchführung einer therapeutischen Aufklärung Existiert zu einer medizinisch indizierten Leistung, die durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) zur Verfügung gestellt wird, keine durch die öffentliche Gesundheitsversorgung bereitgestellte (dem medizinischen Standard entsprechende) Alternative, so hat der behandelnde Arzt seinen Patienten über die Existenz dieser Maßnahme (sowie die Möglichkeit



A. Bei Nicht-Existenz einer Behandlungsalternative327

des privaten Zukaufs) aufzuklären, sofern diese Leistung zum medizinischen Standard gehört.1 Denn zu den, den behandelnden Arzt treffenden Aufklärungspflichten zählt, nach ganz herrschender Meinung – neben der Pflicht zur Aufklärung über die Diagnose (sog. Diagnoseaufklärung)2 und der Pflicht zur Risikoaufklärung3 – auch die Pflicht, den Patienten über die aus ärztlicher Sicht gebotenen Diagnosemethoden und Therapiemaßnahmen zu informieren, um ihn vor vermeidbaren Gesundheitsgefahren zu schützen (sog. „therapeutische Aufklärung“4). Die Verpflichtung zur therapeutischen Aufklärung des Patienten besteht auch dann, wenn die medizinisch indizierte Maßnahme durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) zur Verfügung gestellt wird. Denn die Aufklärung über Diagnose- und Therapie­ möglichkeiten sind für den Patienten in der Regel von erheblicher gesundheitlicher bzw. sogar existenzieller Wichtigkeit, während der behandelnde Arzt für sich keine schützenswerten Interessen in Anspruch nehmen kann, welche gegen eine Pflicht zur Aufklärung über die Existenz (und die Möglichkeit des privaten Zukaufs) einer durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht mehr zur Verfügung gestellten Leistung streiten (siehe Kap. 4 B. III. 1. a)). Diese Aufklärungspflichten bestehen nicht nur gegenüber zahlungswilligen / -fähigen Patienten, sondern auch gegenüber zahlungsunfähigen / -unwilligen Personen. Zwar ergibt für zahlungsunfähige / -unwillige Patienten die Information über privat zukaufbare Gesundheitsleistungen prima facie wenig Sinn. Jedoch kann die im Zweifelsfall existenzentscheidende Frage, ob der Patient willens oder in der Lage ist, eine durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht mehr zur Verfügung gestellte Maßnahme privat zu finanzieren, durch den Arzt nicht sicher beantwortet werden. Denn die Beantwortung dieser Frage verlangt eine Einschätzung der Wichtigkeit der privat zukaufbaren medizinischen Leistung für den Patienten, die sehr subjektive Elemente beinhalten kann. Überdies erfordert sie Einblicke in das Vermögen des Patienten, in das Vermögen der Angehörigen des Patienten sowie in die Qualität der Beziehung des Patienten zu seinen Angehörigen, über die der behandelnde Arzt im Regelfall nicht verfügt. Dagegen kann der behandelnde Arzt von der Aufklärung über privat zukaufbare medizinische Leistungen allenfalls finanziell profitieren. Auf Seiten des Arztes streiten somit keine gewichtigen schutzwürdigen Interessen gegen eine entsprechende Aufklärungspflicht. Daher ist eine entsprechende Auf1  Sternberg-Lieben/Schuster,

in: Schönke/Schröder, StGB, § 15, Rn. 212 g. Schroth, in: Roxin/Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 57 f.; Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, Rn. 63 ff. 3  Hierzu: Schroth, in: Roxin/Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 59; Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, Rn. 64 ff. 4  Schroth, in: Roxin/Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 61 ff.; Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, Rn. 62 ff. 2  Hierzu:

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Kap. 7: Aufklärungspflichten

klärungspflicht auch gegenüber zahlungsunwilligen / -unfähigen Patienten zu bejahen, wenngleich damit freilich noch nichts über die Rechtsfolgen eines Verstoßes hiergegen gesagt ist.

II. Rechtsfolgen der Verletzung der Verpflichtung zur therapeutischen Aufklärung Verletzt der behandelnde Arzt seine Verpflichtung, den Patienten über die Existenz einer alternativlosen, durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) zur Verfügung gestellten (jedoch privat zukaufbaren) Leistung zu informieren und unterbleibt infolgedessen eine Anwendung dieser Diagnosemethode bzw. Behandlung, kommt eine Strafbarkeit wegen vorsätzlicher bzw. fahrlässiger Körperverletzung durch Unterlassen (mit Todesfolge) bzw. wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen in Betracht. Jedoch ist eine solche Strafbarkeit in Fällen, in denen der Patient nicht bereit oder nicht in der Lage ist, die durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) zur Verfügung gestellte Leistung privat zu finanzieren, abzulehnen. Im Einzelnen: 1. Regelfall: Straflosigkeit infolge fehlender Quasikausalität Eine an die Verletzung einer therapeutischen Aufklärungspflicht geknüpfte Unterlassungsstrafbarkeit erfordert, dass der infolge der unterlassenen Aufklärung eingetretene (verdeckte) Behandlungsverzicht als vorsätzliche bzw. fahrlässige Körperverletzung durch Unterlassen (mit Todesfolge) bzw. als fahrlässige Tötung durch Unterlassen zu qualifizieren ist (siehe Kap. 4 B. II.). Dies setzt insbesondere die Bejahung der sog. Quasikausalität voraus. Im Hinblick auf die hier in Frage stehende Fallkonstellation bedeutet dies, dass der tatbestandsmäßige Erfolg bei Durchführung der (infolge der Aufklärungspflichtverletzung) unterlassenen Behandlung, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeblieben wäre. An dieser Voraussetzung wird eine an der Verletzung von Aufklärungspflichten anknüpfende Unterlassungsstrafbarkeit häufig schon scheitern. Denn es ist davon auszugehen, dass eine öffentliche Gesundheitsversorgung mittel- und langfristig gerade solche medizinische Leistungen nicht mehr zur Verfügung stellen wird, die eine geringe Ansprechrate haben. Zudem setzt eine auf die Verletzung der Verpflichtung zur therapeutischen Aufklärung rekurrierende Strafbarkeit voraus, dass der Patient sich, in Kenntnis der privat zu finanzierenden Behandlungsmöglichkeit, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit für diese entschieden hätte und auch in der Lage gewesen wäre, diese zu finanzieren. Dieser Nachweis lässt sich



A. Bei Nicht-Existenz einer Behandlungsalternative329

in der hier in Frage stehenden Fallkonstellationen, dass der Patient nicht willens oder nicht in der Lage ist, die durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) zur Verfügung gestellte Leistung privat zu finanzieren, gerade nicht erbringen, weshalb eine an der Verletzung von Aufklärungspflichten anknüpfende Strafbarkeit scheitert. In Fällen, in denen der Patient vorinformiert war oder bezogen auf privat zukaufbare Gesundheitsleistungen einen Aufklärungsverzicht erklärt hat, kann eine an der Verletzung von Aufklärungspflichten anknüpfende Strafbarkeit zusätzlich auch aus anderen Gründen scheitern. 2. Sonderfall: Straflosigkeit aufgrund Vorinformiertheit des Patienten Ist dem Patienten die medizinische Maßnahme, die Gegenstand der Aufklärungspflicht ist, auch ohne entsprechende Aufklärung durch den Arzt bereits bekannt, so scheidet eine an der Verletzung von Aufklärungspflichten anknüpfende Strafbarkeit – zusätzlich zu den oben genannten Gründen (siehe Kap. 7 A. II. 1.) – auch deshalb aus, weil es an der „Quasikausalität“ der unterlassenen Aufklärung für den eingetretenen Erfolg fehlt. Denn kennt der Patient die Leistung, über deren Existenz er pflichtwidrig nicht aufgeklärt wurde, auch ohne entsprechende Aufklärung, hat das Hinzudenken der unterlassenen Aufklärung nicht zur Folge, dass der tatbestandliche Erfolg entfällt (näher Kap. 4 B. III. 1. a) bb) (2)). 3. Sonderfall: Straflosigkeit infolge Aufklärungsverzichts Zusätzlich zu den oben genannten Gründen (Kap. 7 A. II. 1.), könnte auch ein Verzicht auf die Aufklärung über das Vorhandensein oder die Details einer durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) bereitgestellten Therapie einer Strafbarkeit entgegenstehen. Die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen der Aufklärungsverzicht im Hinblick auf Existenz oder die Details einer durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht mehr zur Verfügung gestellten, alternativlosen Therapie zulässig ist, dürfte von besonderer Praxisrelevanz sein. Denn viele Patienten, die sich den privaten Zukauf einer durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) offerierten Therapie bzw. Diagnosemethode nicht leisten können, werden daran interessiert sein, von der Existenz solcher (privat zukaufbarer) Leistungen bzw. zumindest von den Details derartiger Leistungen gar nicht erst etwas zu erfahren. Es dürfte nämlich leichter fallen, einen nachteiligen gesundheitlichen Zustand zu akzeptieren, wenn man diesen als nicht therapierbar und somit als schicksalsgegeben betrach-

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Kap. 7: Aufklärungspflichten

tet, als wenn man diesen als Ausdruck einer – als ungerecht oder unsozial betrachteten – „Zweiklassenmedizin“ auffasst. a) Möglichkeit und Grenzen des Verzichts auf die ärztliche Aufklärung Die ganz herrschende Meinung5 erkennt die Möglichkeit des Aufklärungsverzichts im Grundsatz an. Sie verankert diese im verfassungsrechtlich verbürgten Selbstbestimmungsrecht (Artt. 1 Abs. 1, 2 Abs. 2 S. 1 GG), das u.a das Recht auf Nichtwissen garantiert und das verletzt wäre, wenn den Arzt in jeder Situa­tion die (strafbewehrte) Pflicht zur umfassenden Aufklärung des Patienten (über dessen Gesundheitszustand) gegen dessen Willen treffen würde.6 Wenngleich Einigkeit darüber herrscht, dass der Patient auf die ärztliche Aufklärung verzichten kann, ist umstritten, welche Grenzen für einen solchen Aufklärungsverzicht existieren und ob das Recht zum Aufklärungsverzicht im Extremfall sogar ein Recht zum Blankoverzicht beinhaltet. Nach einer Ansicht7 kann der Patient wirksam auf jegliche Aufklärung (i. e. auf die Aufklärung über sämtliche aufklärungsbedürftigen Umstände) verzichten, sofern er dies wünscht. Würde man diese Auffassung auf die vorliegende Fallkonstellation anwenden, so könnte der Patient nicht nur darauf verzichten, über die Details einer durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) zur Verfügung gestellten (standardgemäßen) Therapie aufgeklärt zu werden; vielmehr bestünden selbst keine Bedenken gegen einen Verzicht auf die Aufklärung über das Vorhandensein einer solchen Therapie und zwar unabhängig davon, ob der Patient (vor dem Aufklärungsverzicht) über die Diagnose und deren Bedeutung in Kenntnis gesetzt wurde oder 5  Eser, in: Schönke/Schröder, StGB, § 223, Rn. 42 c; Fischer, StGB, §  228, Rn. 13 d; Hirsch, in: LK, StGB, Bd. 6, § 228, Rn. 20; Joecks, in: MüKo, StGB, Bd. 4, § 223, Rn. 96; Knauer/Brose, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 223 StGB, Rn. 78; Lenckner, in: Forster, Praxis der Rechtsmedizin, S. 592, 598; Paeffgen, in: NK, StGB, Bd. 2, § 228, Rn. 81; Roßner, NJW 1990, 2291 ff.; Schmid, NJW 1984, 2601 (2604); Schöch, in: Roxin/Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 51 (71); Tag, Der Körperverletzungstatbestand im Spannungsfeld zwischen Patientenautonomie und lex artis, 2000, S. 361 ff.; Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, Rn. 126; Wolfslast, Jahrbuch für Recht und Ethik 4 (1996), 301 (311). 6  Harmann, NJOZ 2010, 819 (823); Katzenmeier, DÄBl. 103 (2006), A 1054; Schöch, in: Roxin/Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 51 (71); Wolfslast, Jahrbuch für Recht und Ethik, 1996, 301 (311); Tag, Der Körperverletzungstatbestand im Spannungsfeld zwischen Patientenautonomie und lex artis, S. 362. 7  Knauer/Brose, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 223 StGB, Rn. 78; Wolfslast, Jahrbuch für Recht und Ethik, 1996, 301 (311), wohl auch: Schöch, in: Roxin/Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 51 (71).



A. Bei Nicht-Existenz einer Behandlungsalternative331

nicht, also unabhängig davon, ob er die Möglichkeit hatte, die Folgen seines Informationsverzichts abzuschätzen. Nach einer restriktiveren Auffassung8 ist der Aufklärungsverzicht nur innerhalb bestimmter Grenzen zulässig. Ein Totalverzicht wird als unzulässig betrachtet.9 Der Patient könne nur dann auf etwas verzichten, wenn er zumindest in Grundzügen erkennen könne, worum es gehe; ein wirksamer Verzicht setze daher eine vage Vorstellung von den Konturen des Verzichtsgegenstandes voraus.10 Hieran fehle es, wenn der Patient auf eine Aufklärung verzichte, ohne die geringste Vorstellung zu haben, von welcher Bedeutung die durch die Aufklärung zu vermittelnden Informationen für ihn möglicherweise sind.11 Folgt man dieser Auffassung, wäre ein Aufklärungsverzicht unzweifelhaft dann wirksam, wenn der Patient nach Aufklärung über die Diagnose sowie über deren Bedeutung und nach Aufklärung darüber, dass zur Behandlung dieser Erkrankung eine nicht näher konkretisierte, durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) bereitgestellte Therapie existiert, darauf verzichten würde, nähere Informationen über diese privat zukaufbare Leistung zu erhalten, etwa weil der Patient weiß, dass er sich den privaten Zukauf dieser Maßnahme ohnehin nicht leisten kann. Denn aufgrund der Mitteilung der Diagnose, ihrer Bedeutung und der Aufklärung über die Existenz einer nicht näher konkretisierten, im Wege des privaten Zukaufs erhältlichen Leistung, hätte der Patient eine konkrete Vorstellung davon, welche Bedeutung die Informationen haben, auf die er verzichtet. Schließlich wird dem Patienten – mangels Vorhandensein einer durch die öffentliche Gesundheitsversorgung bereitgestellten Maßnahme – durch die Mitteilung der Diagnose und deren Bedeutung ein „worst-case“-Szenario vermittelt, mit dem sich der Patient bewusst abfindet, sofern er auf den Erhalt von Informationen über privat zukaufbare Behandlungsmöglichkeiten verzichtet, obwohl man ihn über die Existenz dieser Behandlungsmöglichkeiten informiert hatte. Auch schreckt die Aufklärung über die Diagnose, über ihre Bedeutung sowie die Mitteilung, dass keine durch die öffentliche Gesundheitsversorgung bereitgestellte Maßnahme existiert – besonders bei gravie8  Harmann, NJOZ 2010, 819 (824); Lenckner, in: Forster, Praxis der Rechtsmedizin, S. 592, 598; Tag, Der Körperverletzungstatbestand im Spannungsfeld zwischen Patientenautonomie und lex artis, S. 363; Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, Rn. 126. 9  Harmann, NJOZ 2010, 819 (824); Lenckner, in: Forster, Praxis der Rechtsmedizin, S. 592, 598; Tag, Der Körperverletzungstatbestand im Spannungsfeld zwischen Patientenautonomie und lex artis, S. 363; Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, Rn. 126. 10  Roßner, NJW 1990, 2291 (2295). 11  Roßner, NJW 1990, 2291 (2295).

332

Kap. 7: Aufklärungspflichten

renden Erkrankungen – Patienten, die in der Regel außerordentlich an ihrer Gesundheit interessiert sind, stark von der Erklärung eines Aufklärungsverzichts ab bzw. verleitet den Patienten geradezu zur Rücknahme eines zuvor erklärten Aufklärungsverzichts. Fraglich ist jedoch, ob unter Zugrundelegung der Meinung, wonach für den Aufklärungsverzicht Grenzen bestehen, nicht nur auf eine Aufklärung über die Details einer, durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht bereitgestellten, Leistung, sondern auch auf die Aufklärung über die Existenz einer solchen Leistung wirksam verzichtet werden könnte. Indes müsste ein derartiger Aufklärungsverzicht zumindest dann zulässig sein, wenn der Patient nicht gleichzeitig auch noch auf die Mitteilung der Diagnose verzichtet. Denn die Bekanntmachung der Diagnose und ihrer Bedeutung verschafft dem Patienten – auch ohne Mitteilung der Existenz einer im Wege des privaten Zukaufs erhältlichen Maßnahme – die erforderliche Vorstellung von der Wichtigkeit der Informationen, auf deren Mitteilung er verzichtet. b) Form des Aufklärungsverzichts Neben der Frage, in welchem Umfang der Verzicht auf Aufklärung über durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht bereitgestellte Therapieund Diagnosemaßnahmen zulässig ist, stellt sich die Problematik der für den Aufklärungsverzicht zulässigen Form. Nach einer Auffassung12 muss jeder Verzicht auf die Aufklärung über aufklärungspflichtige Umstände und somit auch der Verzicht auf die Aufklärung über durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) bereitgestellte Leistungen, explizit geäußert werden. Nach anderer Auffassung13 ist auch ein konkludenter Aufklärungsverzicht wirksam. Allerdings dürften an einen solchen hohe Anforderungen zu stellen sein, weshalb ein konkludenter Aufklärungsverzicht mit Sicherheit nicht schon dann angenommen werden kann, wenn der Patient in der Vergangenheit den Zukauf privat zu finanzierender Therapien bzw. Dia­ gnosemethoden abgelehnt hatte und / oder der Patient irgendwann einmal gegenüber dem Arzt geäußert hatte, wenig Geld zur Verfügung zu haben. Denn einerseits kann die Einkommens- und Vermögenssituation des Patienten (und / oder die finanzielle Situation hilfsbereiter Verwandter bzw. Freunde des Patienten) Schwankungen unterworfen sein und andererseits kann die Wichtigkeit einer medizinischen Leistung für den Patienten und auch die 12  Knauer/Brose, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 223 StGB, Rn. 68; Schöch, in: Roxin/Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 51 (71 f.). 13  Harmann, NJOZ 2010, 819 (824); Roßner, NJW 1990, 2291 (2294); Tag, Der Körperverletzungstatbestand im Spannungsfeld zwischen Patientenautonomie und lex artis, S. 363; Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, Rn. 126.



B. Bei Existenz einer Behandlungsalternative333

beim Patienten (und / oder hilfsbereiten Familienmitgliedern bzw. Freunden) vorhandene Opferbereitschaft von außen nicht immer zuverlässig eingeschätzt werden. Im Zweifel dürfte gelten, dass ein konkludenter Aufklärungsverzicht umso weniger angenommen werden kann, je größer die Bedeutung der privat zukaufbaren Leistung für die Gesundheit des Patienten und / oder je erschwinglicher die Leistung (für den Patienten) ist.

B. Bei Existenz einer durch die öffentliche Gesundheitsversorgung zur Verfügung gestellten Behandlungsalternative I. Existenz und Umfang der Aufklärungspflicht über Behandlungsalternativen Existiert zu der durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht mehr offerierten (jedoch privat zukaufbaren) Diagnosemethode bzw. Therapie­ maßnahme eine, durch die öffentliche Gesundheitsversorgung zur Verfügung gestellte, Alternative, so darf der behandelnde Arzt diese Maßnahme nur dann, ohne vorherige Aufklärung des Patienten über die privat zukaufbare Alternative, anwenden, wenn zwischen beiden Leistungen keine wesent­ lichen Unterschiede in Punkto Belastung des Patienten, Erfolgschancen und / oder Risiken bestehen. Andernfalls hat der behandelnde Arzt den Pa­ tienten zuvor über die Existenz und über die Vor- und Nachteile der durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) zur Verfügung gestellten (und privat zukaufbaren) Maßnahme gegenüber der, durch die öffentliche Gesundheitsversorgung angebotenen Leistung aufzuklären (siehe Kap. 4 B. III. 1. a) aa)). Dies gilt auch dann, wenn der Patient nicht willens oder in der Lage ist, die durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) zur Verfügung gestellte Alternative privat zu finanzieren (Kap. 7 A. I.).

II. Rechtsfolgen der Verletzung der Aufklärungspflicht über Behandlungsalternativen Ist der Patient tatsächlich nicht willens oder in der Lage, eine durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht mehr offerierte und somit privat zuzukaufende Diagnose- bzw. Therapiealternative zu finanzieren, macht sich der behandelnde Arzt mit der Durchführung der durch die öffentliche Gesundheitsversorgung zur Verfügung gestellten (standardgemäßen) Maßnahme keiner vollendeten Körperverletzung, unter dem Aspekt der Verletzung von Aufklärungspflichten, schuldig. Das gilt selbst dann, wenn er es pflichtwidrig unterlassen hatte, den Patienten über die im Wege des privaten

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Kap. 7: Aufklärungspflichten

Zukaufs zu erwerbende Diagnose- bzw. Therapiealternative aufzuklären, die gegenüber der durch die öffentliche Gesundheitsversorgung angebotenen Leistung wesentliche Unterschiede in Punkto Belastung des Patienten / Erfolgsaussichten oder Risiken aufweist. Denn ist der Patient nicht fähig oder nicht willig, die im Wege des privaten Zukaufs zu erwerbende Leistung zu finanzieren, so ist davon auszugehen, dass der Patient der Durchführung der, durch die öffentliche Gesundheitsversorgung zur Verfügung gestellten (standardgemäßen) Maßnahme auch dann zugestimmt hätte, wenn er über die privat zukaufbare Alternative ordnungsgemäß aufgeklärt worden wäre. Dieser Umstand führt, unter Zugrundelegung der von Rechtsprechung und herrschender Lehre zur Problematik der „hypothetischen Einwilligung“ vertretenen Auffassungen, zu einem Ausschluss der Vollendungsstrafbarkeit (näher Kap. 4 B. III. 1. a) bb) (3)). Eine Strafbarkeit wegen Köperverletzung unter dem Aspekt der Verletzung von Aufklärungspflichten wird bei Patienten, die nicht willens oder in der Lage sind, durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) offerierte Leistungen privat zu finanzieren, zudem häufig daran scheitern, dass diese gegenüber ihrem Arzt darauf verzichtet hatten, über derartige Leistungen informiert zu werden (näher Kap. 7 A. II. 3.).

Kapitel 8

Zusammenfassung und Ausblick Kap. 1: Aufgrund des demographischen Wandels und des medizinischtechnischen Fortschritts, wird eine solidarisch finanzierte medizinische Vollversorgung, wie sie die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) heute bereitstellt, nach Auffassung vieler Gesundheitsökonomen und Gesundheitsethiker künftig nicht mehr finanzierbar sein. Eine öffentliche Gesundheitsversorgung wird – zumindest mittel- und langfristig – nicht (mehr) für jedermann alle medizinisch notwendigen Maßnahmen zur Verfügung stellen können. Kap. 2: Dem Vorenthalten medizinisch gebotener Leistungen in einem öffentlichen Gesundheitssystem, wie der GKV, steht die Verfassung nicht kategorisch entgegen. Zwar ist der Gesetzgeber, dem aufgrund des Grundsatzes vom Vorbehalt des Gesetzes die Entscheidung über die Vorenthaltung medizinisch indizierter Leistungen in einem öffentlichen Gesundheitssystem obliegt, an einschlägige verfassungsrechtliche Garantien gebunden. Hierzu zählen, neben den absoluten Differenzierungsverboten in Art. 3 Abs. 3 GG, der Anspruch auf ein medizinisches Existenzminimum (Art. 2 Abs. 2 S. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip), das „gesundheitsrechtlich geschärfte Willkürverbot“ des Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG, die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) bzw. die Eigentumsgarantie (Art. 14 GG) sowie das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG). Diese Garantien stehen der Vorenthaltung medizinisch indizierter Leistungen u. a. aufgrund Geschlecht, Abstammung, Rasse, Behinderung, Alter, Finanzkraft, Social-Worth-Erwägungen sowie Selbstverschulden entgegen. Dies gilt zumindest für Maßnahmen, die dem medizinischen Existenzminimum unterfallen, das unstrittig Notfallmaßnahmen und nach herrschender Meinung auch Leistungen bei lebensbedrohlichen und anderen schwerwiegenden Erkrankungen umfasst. Dagegen stellen die Kriterien Dringlichkeit, Erfolgsaussichten der Behandlung, Kosten-Nutzen-Erwägungen sowie Compliance zulässige Differenzierungskriterien dar. Dies gilt jedenfalls für den Bereich der Behandlung nicht-lebensbedrohlicher Erkrankungen; nach der hier vertretenen Auffassung sind diese Differenzierungskriterien zudem sogar im Bereich der Behandlung lebensbedrohlicher Erkrankungen nicht kategorisch ausgeschlossen. Kap. 3:  Einem denkbaren Rationierungsszenario entspricht es daher, dass Therapien mit geringen Erfolgsaussichten (geringe Ansprechrate, geringe

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Kap. 8: Zusammenfassung und Ausblick

Lebensverlängerung oder geringe Lebensqualitätsverbesserung) und / oder schlechtem Kosten-Nutzen-Verhältnis im Rahmen eines öffentlichen Gesundheitssystems mittel- bzw. langfristig nicht mehr zur Verfügung gestellt werden, selbst wenn dies dazu führt, dass Patienten, die diese Therapien nicht privat finanzieren können oder wollen, keine bzw. eine minderwertige Behandlung erhalten. Kap. 4:  Sofern ein Patient, der eine durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) bereitgestellte medizinische Leistung benötigt, willens und in der Lage ist, eine solche Leistung privat zuzukaufen, treffen den Arzt die gleichen Behandlungs- und Aufklärungspflichten, die ihn auch bezüglich der durch die öffentliche Gesundheitsversorgung zur Verfügung gestellten Leistungen treffen: I.  Vor der tatsächlichen Übernahme der Behandlung, ist die Behandlungsverweigerung mit keinerlei strafrechtlichen Risiken behaftet, sofern nicht ein medizinischer Notfall gegeben ist, der als „Unglücksfall“ im Sinne des § 323 c StGB zu qualifizieren ist. Näher Kap. 4 A. II.  Nach tatsächlicher Übernahme der Behandlung, ist die Behandlungsverweigerung aufgrund der dadurch entstandenen Garantenstellung des behandelnden Arztes und der hieraus erwachsenden Garantenpflichten mit erheblich größeren Haftungsrisiken behaftet. Allerdings kann der Arzt seine Garantenstellung (und die hieraus resultierenden Pflichten) wirksam be­ enden, indem er die Behandlung des Patienten für diesen erkennbar aufgibt, sofern kein medizinischer Notfall vorliegt. Näher Kap. 4 B. I. III. Dagegen kann die verdeckte Behandlungsverweigerung zu einer Strafbarkeit wegen Körperverletzung durch Unterlassen (§§ 223, 13 StGB) führen, wenn das Vorenthalten der Behandlung zu einer Verschlimmerung der Erkrankung oder zumindest zu einer Verzögerung des Heilungsprozesses führt, der Arzt durch die Vorenthaltung der Behandlung hinter dem medizinischen Standard zurückgeblieben ist und nachgewiesen werden kann, dass die Verschlimmerung der Erkrankung, bei Durchführung der standardgemäßen Behandlung, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeblieben oder in wesentlich geringerem Umfang eingetreten wäre, bzw. sich die Erkrankung wesentlich schneller oder wesentlich umfangreicher gebessert hätte. Sofern die Vornahme der medizinisch indizierten Behandlung hingegen nur eine unwesentliche Verbesserung des Gesundheitszustands des Patienten gebracht hätte, muss die Quasikausalität abgelehnt werden. Ein Totschlag durch Unterlassen wird durch die herrschende Meinung nur bejaht, wenn der Tod des Patienten bei Vornahme der standardgemäßen Behandlung für einen wesentlichen Zeitraum (i. e. mindestens einige Stunden) hinausgezögert worden wäre. Für die Körperverletzung durch Unterlassen gelten keine geringeren Anforderungen als für die Tötung durch Unterlas-



Kap. 8: Zusammenfassung und Ausblick337

sen, zumal die Körperverletzung und die Tötung durch Unterlassen konstruktive Ähnlichkeit aufweisen und staatliche Schutzpflichten für das menschliche Leben stärker ausgeprägt sind als für die körperliche Unversehrtheit bzw. Gesundheit. Verschlechtert sich der Zustand des Patienten infolge der verheimlichten Behandlungsverweigerung so stark, dass der Patient sogar verstirbt, so kommt eine fahrlässige Tötung oder eine Körperverletzung mit Todesfolge in Betracht, sofern nachgewiesen werden kann, dass der Tod des Patienten bei Vornahme der standardgemäßen Behandlung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht nur um einen unwesentlichen Zeitraum hinausgezögert worden wäre. Näher Kap. 4 B. II. IV. Die verdeckte suboptimale Behandlung ist mit ähnlich hohen Haftungsrisiken verbunden: Sie ist zum einen in der Form denkbar, dass der Arzt bei dem – über das Vorhandensein höherwertiger, privat zukaufbarer Behandlungsalternativen nicht aufgeklärten – Patienten, eine hinsichtlich der Risiken und / oder Nebenwirkungen suboptimale (durch die öffentliche Gesundheitsversorgung bereitgestellte) Maßnahme anwendet. Zum anderen kommt sie auch in der Variante in Betracht, dass der Arzt – ohne den Patienten über die Existenz der überlegenen, privat zukaufbaren Alternative aufzuklären – eine hinsichtlich der Erfolgsaussichten suboptimale (durch die öffentliche Gesundheitsversorgung zur Verfügung gestellte) Maßnahme anwendet. In beiden Fällen ist sowohl eine an der Verletzung von Aufklärungspflichten ansetzende Verantwortung, als auch eine am Vorliegen eines Behandlungsfehlers anknüpfende Verantwortung denkbar. 1. Der behandelnde Arzt ist zur Aufklärung über Behandlungsalternativen verpflichtet, sofern diese zum medizinischen Standard zu rechnen sind und wesentlich bessere Erfolgsaussichten oder wesentlich geringere Nebenwirkungen oder Belastungen für den Patienten mit sich bringen. Dies gilt auch dann, wenn die überlegene Behandlungsalternative durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) bereitgestellt wird. Denn die Kenntnis einer überlegenen Behandlungsalternative kann für den Patienten von erheblicher, ggf. sogar existenzieller Bedeutung sein, während der Arzt keine nennenswerten, schützenswerten Interessen für sich in Anspruch nehmen kann, die gegen eine Aufklärungspflicht sprechen. Vielmehr dürfte er sogar ein ökonomisches Interesse an der Informierung des Patienten über die privat zukaufbare Maßnahme haben. Verletzt der Arzt diese Aufklärungspflicht, so macht er sich wegen vorsätzlicher Körperverletzung (§ 223 StGB) strafbar, da die unzureichende Aufklärung im Regelfall die Unwirksamkeit der Einwilligung in die durchgeführte medizinische Behandlung bewirkt. Eine Ausnahme gilt jedoch für den Fall, dass der Patient vor­ informiert war bzw. in die durchgeführte suboptimale Behandlung auch in Kenntnis der überlegenen, privat zukaufbaren Leistung eingewilligt hätte

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Kap. 8: Zusammenfassung und Ausblick

(hypothetische Einwilligung). Näher Kap. 4 B. III. 1. a) / Kap. 4 B. III. 2. a). 2.  a)  Hat die durchgeführte Behandlung gegenüber der privat zukaufbaren Maßnahme höhere Risiken bzw. Nebenwirkungen und verwirklichen sich diese, so kommt neben der an der Aufklärungspflichtverletzung ansetzenden Strafbarkeit zudem eine, an einem Behandlungsfehler anknüpfende, Strafbarkeit wegen fahrlässiger bzw. vorsätzlicher Körperverletzung in Betracht. Voraussetzung hierfür ist, dass der Arzt mit der Durchführung der suboptimalen Behandlung hinter dem medizinischen Standard zurückgeblieben ist und nachgewiesen werden kann, dass die eingetretenen Schäden bei Vornahme der standardgemäßen Behandlung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeblieben bzw. in wesentlich geringerem Umfang eingetreten wären. Näher Kap. 4 B. III. 1. b). b)  Sofern die durchgeführte Behandlung gegenüber der privat zukaufbaren Maßnahme geringere Erfolgschancen aufweist und sich diese realisieren, kommt neben der an der Aufklärungspflichtverletzung ansetzenden Strafbarkeit wegen vorsätzlicher Körperverletzung, eine Strafbarkeit wegen vorsätz­ licher bzw. fahrlässiger Körperverletzung durch Unterlassen in Betracht, die an dem in der suboptimalen Behandlung liegenden eventuellen Behandlungsfehler anknüpft. Zwar lässt sich die Durchführung der suboptimalen Behandlung auch als positives Tun qualifizieren, jedoch liegt der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit auf den nicht wahrgenommenen Heilungschancen für den Patienten und somit auf einem Unterlassen. Voraussetzung für eine derartige Strafbarkeit ist jedoch, dass der behandelnde Arzt mit der Durchführung der suboptimalen Behandlung hinter dem medizinischen Standard zurückgeblieben und nachweisbar ist, dass es dem Patienten bei Vornahme der überlegenen (standardgemäßen) Behandlung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht nur unwesentlich besser ergangen wäre. Näher Kap. 4 B. III. 2. b). Kap. 6:  Sofern der Patient entweder nicht willens oder nicht in der Lage ist, die durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) zur Verfügung gestellte Leistung privat zu finanzieren, macht sich der behandelnde Arzt durch das Vorenthalten dieser Leistung weder einer rechtswidrigen Tötung durch Unterlassen (§§ 212, 13 StGB), noch einer rechtswidrigen Körperverletzung durch Unterlassen (§§ 223, 13 StGB), noch einer rechtswidrigen Unterlassenen Hilfeleistung (§ 323 c StGB) schuldig. Näher Kap. 6 A. II. 3. b) cc) / Kap. 6 B. / Kap. 6 C. I.  Ist der behandelnde Arzt auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätig (im gegenwärtigen System der GKV: niedergelassener Vertragsarzt), so ergibt sich die Zulässigkeit des in Frage stehenden ökonomischen Behandlungsverzichts im Wege der verfassungskonformen Auslegung der §§ 212, 13 StGB, §§ 223, 13 StGB, § 323 c StGB.



Kap. 8: Zusammenfassung und Ausblick339

1. Trotz seiner aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG folgenden Schutzpflichten zugunsten des durch Krankheit bedrohten Lebens und der Gesundheit, die sich nach zutreffender herrschender Meinung in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip zu einem Anspruch auf ein medizinisches Existenzminimum verdichten, ist der Staat nicht dazu verpflichtet, auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätige Ärzte (im gegewärtigen System der GKV: niedergelassene Vertragsärzte) zu bestrafen, wenn diese ihren Patienten Leistungen vorenthalten, die weder durch die öffentliche Gesundheitsversorgung bereitgestellt (bezogen auf das gegenwärtige System: Leistungen, die nicht im GKV-Leistungskatalog enthalten sind), noch durch den Patienten privat finanziert werden; dies gilt auch dann, wenn die öffentliche Gesundheitsversorgung Bedürftigen kein medizinisches Existenzminimum sichert. Vielmehr wäre der Staat zur Pönalisierung eines ökonomischen Behandlungsverzichts, der durch auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätige Ärzte verübt wird, noch nicht einmal berechtigt. Denn die strafbewehrte Verpflichtung, Leistungen, die durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) finanziert werden, notfalls umsonst zu erbringen, würde die auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätige Ärzteschaft in ihren Grundrechten aus Art. 12 GG (Berufsfreiheit) und Art. 14 GG (Eigentumsfreiheit) verletzen und gegen Art. 3 Abs. 1 GG (Allgemeiner Gleichheitssatz) verstoßen. Näher Kap. 6 A. II. 1. Das durch die Verfassung erzwungene Ergebnis der Zulässigkeit des, durch auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätige Ärzte begangenen, öko­ nomischen Behandlungsverzichts ist in Bezug auf die §§ 212, 13 StGB, §§ 223, 13 StGB über eine verfassungskonforme Interpretation und anschließende Ablehnung des unbestimmten Rechtsbegriffs der „Garantenpflicht“ bzw. der „Zumutbarkeit normgemäßen Verhaltens“ herbeizuführen und im Hinblick auf § 323 c StGB im Wege einer verfassungskonformen Auslegung und anschließenden Verneinung des unbestimmten Rechtsbegriffs der „Möglichkeit der Hilfeleistung“ bzw. der „Zumutbarkeit der Hilfeleistung“. Näher Kap. 6 A. II. 3. b) cc). 2.  Eine Auslegung der §§ 212, 13 StGB, §§ 223, 13 StGB, § 323 c StGB dahingehend, dass der in Frage stehende ökonomische Behandlungsverzicht durch auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätige Ärzte zulässig bzw. straflos ist, weil den materiellen Gütern des (behandelnden) Arztes (Eigentum bzw. Vermögen) Vorrang vor dem Leben des Patienten bzw. dessen Gesundheit zukommt, entspricht dem Gebot der verfassungskonformen Auslegung des einfachen Rechts, das auch im Strafrecht gilt. Eine solche Gesetzesinterpretation erfordert auch keinen Bruch mit den allgemein anerkannten strafrechtsdogmatischen Prinzipien, dem Dogma vom Höchstwert des menschlichen Lebens und dem Grundsatz vom Vorrang

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Kap. 8: Zusammenfassung und Ausblick

von Personenwerten vor Sachinteressen. Dies gilt, wenn man die herrschende Dogmatik des strafrechtlichen Lebensschutzes zugrunde legt (a.), erst recht aber, wenn man mit der hier vertretenen Auffassung für eine konsequente Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Wertentscheidungen bei der Strafrechtsauslegung und somit auch der §§ 212, 13 StGB, §§ 223, 13 StGB, § 323 c StGB plädiert (b.). a) Die Analyse der Dogmatik des strafrechtlichen Lebensschutzes zeigt, dass die herrschende Strafrechtsdogmatik – trotz ihres Bekenntnisses zum Höchstwertigkeitsdogma und zum Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen – den Vorgaben der Verfassung im Ergebnis Rechnung zu tragen vermag; dies gilt auch dann, wenn eine Verfassungsgarantie, die keinen Verfassungshöchstwert repräsentieren muss, es im Einzelfall gestattet oder erzwingt, das Rechtsgut Leben als nachrangig gegenüber kollidierenden Rechtsgütern oder Interessen, bzw. Personenwerte als nachrangig gegenüber kollidierenden Sachinteressen, zu behandeln. aa) Das Höchstwertigkeitsdogma steht einer durch die Verfassung gestatteten oder erzwungenen Posteriorisierung des Rechtsguts Leben im Strafrecht weder dann entgegen, wenn man dieses Prinzip mit einer im Vordringen befindlichen Literaturmeinung restriktiv im Sinne eines Verbotes definiert, einen anderen Menschen zur solidarischen Aufopferung des eigenen Lebens zu zwingen, noch dann, wenn man dieses Prinzip mit der herrschenden Meinung extensiv auslegt und das Leben als Verfassungshöchstwert betrachtet, der allenfalls durch andere Verfassungshöchstwerte (Menschenwürde etc.) überwogen werden kann. (1) Sofern man das Höchstwertigkeitsdogma – wie Erb, Neumann und Merkel – restriktiv als Verbot zum Zwang der solidarischen Aufopferung des eigenen Lebens definiert, kann einer im konkreten Fall durch die Verfassung gestatteten oder erzwungenen Posteriorisierung des Rechtsguts Leben sogar ohne dogmatische Kunstgriffe entsprochen werden. Denn diese restriktive Interpretation des Höchstwertigkeitsdogmas verengt den Anwendungsbereich dieses Prinzips auf bestimmte, strafrechtlich relevante Konstellationen, in denen das Grundrecht auf Leben nicht bloß in seinem (einer Abwägung zugänglichen) Randbereich tangiert, sondern in seinem Menschenwürdekern berührt wird und das Rechtsgut Leben daher tatsächlich unabwägbar ist. Insofern sind, unter Zugrundelegung dieser restriktiven Interpretation des Höchstwertigkeitsdogmas, Verwerfungen zwischen dem Höchstwertigkeitsdogma und dem Gebot der verfassungskonformen Auslegung von vornherein ausgeschlossen. Näher Kap. 6 A. II. 2. b) aa) (2) / Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (2) (b). (2) Die überwiegend vertretene Meinung im Strafrecht befürwortet eine extensive Interpretation des Höchstwertigkeitsdogmas, indem sie dieses



Kap. 8: Zusammenfassung und Ausblick341

Prinzip aus dem angeblichen Rang des menschlichen Lebens als (Verfassungs-)Höchstwert ableitet und hieraus folgert, dass das Rechtsgut Leben allenfalls durch andere Verfassungshöchstwerte (Menschenwürde, Interesse am Bestand des Staates etc.) überwogen werden kann. Diese Grundgesetzauslegung ist jedoch nach herrschender Verfassungsdogmatik weder grundsätzlich, noch im Hinblick auf strafrechtlich relevante Interessenkollisionen haltbar. Das Leben stellt noch nicht einmal in Bezug auf solche Interessenkollisionen einen unabwägbaren (bzw. ausschließlich gegen andere Verfassungshöchstwerte abwägbaren) Höchstwert dar, in denen ein lebensverkürzendes Tun gegeben ist, das sich nicht als zulässige Verteidigungshandlung im Sinne des § 32 StGB darstellt (Bsp.: BGHSt 55, 191 ff.; „Fall Putz“). Trotz der verfassungsdogmatisch unvertretbaren Prämisse (Leben als Verfassungshöchstwert), auf der die herrschende extensive Interpretation des Höchstwertigkeitdogmas beruht, vermögen deren Anhänger jeder beliebigen, durch die Verfassung gestatteten oder erzwungenen Posteriorisierung des Rechtsguts Leben hinter kollidierenden Rechtsgütern oder Interessen Rechnung zu tragen und somit eine verfassungskonforme Strafrechtsanwendung zu gewährleisten. Denn diese beschränken – wenn auch unausgesprochen – den Anwendungsbereich dieses Prinzips auf den Notstand (§ 34 StGB) und zusätzlich auf (Notstands-)Konstellationen, in welchen das Rechtsgut Leben durch ein aktives Tun beeinträchtigt wird und erkennen außerdem einen Ausnahmetatbestand für Fälle an, in denen das Rechtsgut Leben mit einem Verfassungshöchstwert (Menschenwürde etc.) kollidiert. Dagegen wird das Höchstwertigkeitsdogma auf Fallkonstellationen, in denen ein lebensverkürzendes Unterlassen gegeben ist, auf Notstandskonstellationen, in denen das Rechtsgut Leben als Erhaltungsgut berührt ist, sowie bei Tötungshandlungen zur Verteidung gegen einen gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff im Sinne des § 32 StGB nicht bzw. zumindest nicht konsequent angewendet, wodurch Abwägungsspielräume, ohne Begrenzung auf Verfassungshöchstwerte, eröffnet sind. Diese Engführung des Anwendungsbereichs des Höchstwertigkeitsdogmas erscheint angesichts der, von den Vertretern der extensiven Interpretation des Höchstwertigkeitsdogmas gewählten, dogmatischen Fundierung dieses Prinzips (Leben als Verfassungshöchstwert) zwar willkürlich restriktiv, ist im Interesse einer verfassungskonformen Strafrechtsauslegung jedoch zu begrüßen. Denn hierdurch vermag die herrschende Meinung – trotz des Bekenntnisses zu einer aus verfassungsrechtlicher Perpektive zu extensiven Interpretation des Höchstwertigkeitsdogmas – einer durch die Verfassung gebotenen Posteriorisierung des Rechtsguts Leben hinter kollidierenden Rechtsgütern bzw. Interessen stets Rechnung zu tragen. Das gilt selbst dann, wenn der Anwendungsbereich des Höchstwertigkeitsdogmas eigentlich eröffnet ist (i. e. ein lebensverkürzendes Tun gegeben ist, das sich nicht als zulässige Verteidigungshandlung im Sinne des § 32 StGB

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Kap. 8: Zusammenfassung und Ausblick

darstellt) und der Ausnahmetatbestand von diesem Prinzip nicht eingreift (wonach das Leben durch andere Verfassungshöchstwerte, wie die Menschenwürde, überwogen werden kann), da neben einer Notstandsrechtfertigung auch andere strafrechtsdogmatisch gangbare Wege existieren, um zu einer durch die Verfassung gebotenen Zulässigkeit eines lebensverkürzenden Tuns zu gelangen, so z. B. die Annahme eines Zurechnungsausschlusses bzw. die Bejahung einer Einwilligungsrechtfertigung (Bsp.: BGHSt 55, 191 ff.: „Fall Putz“). Näher Kap. 6 A. II. 2. b) aa) (1) / Kap. 6 A. II. 2. b) cc) (2). bb) Auch einer durch die Verfassung erzwungenen Posteriorisierung von Personenwerten hinter Sachinteressen, vermögen strafrechtliche Rechtsprechung und Lehre zu entsprechen, obwohl sich diese eigentlich zum Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen bekennen, den sie aus der Menschenwürde ableiten. Zwar wird nach herrschender Verfassungsdogmatik ein pauschaler Vorrang von Personenwerten vor Sach­ interessen (in Bezug auf strafrechtlich relevante Interessenkollisionen) weder durch die Menschenwürde, noch durch andere Verfassungsprinzipien erzwungen oder auch nur gestattet (näher Kap. 6 A. II. 3. b) bb) / Kap. 6 A. II. 3. b) cc) (3)). Jedoch beruft sich die herrschende Meinung im Strafrecht in konsequenter Weise lediglich in solchen (Notstands-)Konstellationen auf dieses Prinzip, in denen der Personenwert (Eingriffsgut) zur Bewahrung eines Sachinteresses (Erhaltungsgut) durch ein aktives Tun beeinträchtigt wird, das sich nicht als erforderliche Verteidigung gegen einen Angriff im Sinne des § 32 StGB darstellt (Ausnahme: sofern den Rechtsgütern Freiheit bzw. Gesundheit nur geringe Einbußen drohen, während im Gegenzug erhebliche Sachwerte auf dem Spiel stehen). In allen anderen Fallkonstella­ tionen, in denen die strafrechtliche Bewertung einer Interessenkollision zwischen Personenwerten und Sachinteressen in Frage steht, wendet die herrschende Meinung dieses Prinzip zumindest nicht konsequent an (bzw. betrachtet den Anwendungsbereich dieses Prinzips schon nicht als eröffnet). Dies hat zur Folge, dass eine Posteriorisierung des Personenwerts hinter dem Sachinteresse nicht von vornherein ausgeschlossen ist. Diese Beschränkung des Anwendungsbereichs des Grundsatzes vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen, erscheint angesichts der Ableitung dieses Prinzips aus der, keiner Abwägung zugänglichen, Menschenwürde willkürlich. Jedoch werden hierdurch verfassungswidrige Ergebnisse vermieden, da einer im Einzelfall durch die Verfassung erzwungen Posteriorisierung von Personenwerten hinter Sachinteressen Rechnung getragen werden kann. Näher Kap. 6 A. II. 2. b) bb) / Kap. 6 A. II. 2. b) cc) (3)). b) Obwohl die herrschende Strafrechtsdogmatik den verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen – zumindest im Ergebnis – Rechnung trägt, ist angesichts der aufgezeigten Inkonsistenzen der herrschenden Dogmatik des



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strafrechtlichen Lebensschutzes, für eine konsequente Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Vorgaben bei der Auslegung des Strafrechts zu plädieren. Insbesondere argumentativ sollten die Vorgaben des Grundgesetzes konsequenter beachtet werden. Eine konsequente verfassungskonforme Auslegung des Strafrechts hat folgende Grundsätze zu beachten: aa) In Bezug auf jede denkbare Fallkonstellation, deren strafrechtliche Bewertung in Frage steht, ist zu überprüfen, ob sich der Verfassung (zwingende) Wertentscheidungen für die strafrechtliche Beurteilung des in Frage stehenden Verhaltens entnehmen lassen. Eine Konsultation der Verfassung ist grundsätzlich auch dann nicht entbehrlich, wenn es um die strafrecht­ liche Bewertung einer das menschliche Leben berührenden Interessenkollision oder einer Interessenkollision zwischen einem Personenwert und einem Sachinteresse geht. Die strafrechtlichen Auslegungsgrundsätze vom Dogma vom Höchstwert des menschlichen Lebens und vom Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen, machen eine Analyse (zwingender) verfassungsrechtlicher Vorgaben für die Strafrechtsauslegung nur innerhalb eines engen definierten Anwendungsbereichs obsolet: (1) (a) Vertritt man mit der herrschenden Meinung im Strafrecht eine extensive Interpretation des Höchstwertigkeitsdogmas und betrachtet das menschliche Leben als (Verfassungs-)Höchstwert, der allenfalls durch andere Verfassungshöchstwerte (wie die Menschenwürde oder das Interesse am Bestand des Staates) überwogen werden kann, liefert dieses Prinzip keine zuverlässig verfassungsrechtlich haltbaren Vorgaben zur Entscheidung strafrechtlicher Interessenkollisionen zwischen dem Rechtsgut Leben und anderen Rechtsgütern bzw. Interessen. Dies gilt auch dann, wenn man den Anwendungsbereich des Höchstwertigkeitsdogmas auf Fallkonstellationen ­ verengt, in denen ein lebensverkürzendes Tun gegeben ist, das sich nicht als zulässige Verteidigungshandlung im Sinne des § 32 StGB darstellt (Bsp.: BGHSt 55, 191 ff.: „Fall Putz“). Letztlich unstreitig kann die Wertigkeit bzw. der Rang, die / den die Verfassung dem menschlichen Leben zuschreibt, nur kontextbezogen beurteilt werden. Dies gilt generell, insbesondere aber auch für strafrechtlich relevante Interessenkollisionen zwischen dem menschlichen Leben und einem hiermit kollidierenden Rechtsgut bzw. Interesse. Zwar treffen den Staat Schutzpflichten zugunsten des menschlichen Lebens, die umfassend gelten und bei Übergriffen durch Private ebenso Geltung beanspruchen wie bei objektiven Gefährdungen (durch Selbstgefährdungen, Erkrankungen etc.). Jedoch besitzt der Staat bei der Erfüllung seiner (Lebens-)Schutzpflichten einen erheblichen Spielraum, der erst überschritten ist, wenn die ergriffenen Maßnahmen gänzlich ungeeignet oder völlig unzureichend sind. Außerdem bedarf der Staat, sofern er zur Erfüllung der Schutzpflichten in grundrecht-

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liche Betätigungen privater Dritter eingreift, einer gesetzlichen Grundlage, die den Anforderungen der Verfassung genügt und insbesondere dem, aus der Abwehrdimension der Grundrechte resultierenden, Verhältnismäßigkeitsprinzip Rechnung trägt. Es kann daher die Situation eintreten, dass der Staat die einzige Maßnahme unterlassen muss, die die Bewahrung des zu schützenden Rechtsguts gestattet. Daher ist der Staat durch Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG (Grundrecht auf Leben) nicht dazu verpflichtet ist, jedes lebensverkürzende Tun oder Unterlassen zu pönalisieren und jede zur Bewahrung menschlichen Lebens erforderliche Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsguts zu legitimieren. Vielmehr kann ihm dies im Einzelfall sogar untersagt sein, da er andernfalls grundrechtliche Verbürgungen, die nicht zwingend Verfassungshöchstwerte darstellen müssen (Selbstbestimmungsrecht etc.), verletzen würde. Für die Strafrechtsauslegung bedeutet dies, dass das Grundrecht auf Leben es nicht erzwingt, die §§ 212 (13), (34) StGB (§ 323 c StGB) so auszulegen, dass jedes lebensverkürzende Tun und jedes lebensverkürzende Unterlassen unzulässig ist und jede zur Bewahrung menschlichen Lebens erforderliche Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsguts – etwa über eine Notstandsrechtfertigung etc. – zu legitimieren. Vielmehr existieren Fallkonstellationen, in denen die Grundrechte – auch solche, die ihrerseits keine Verfassungshöchstwerte (Selbstbestimmungsrecht etc.) repräsentieren – oder andere Verfassungsprinzipien (strafrechtliches Analogieverbot, Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes, Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes etc.) einer derartigen Norminterpretation zwingend entgegenstehen. Die herrschende extensive Auslegung des Höchstwertigkeitsdogmas ist daher zu verwerfen. Zwar gelingt es den Vertretern dieser Auffassung stets, den Wertentscheidungen der Verfassung Rechnung zu tragen, indem diese Ausnahmen vom Höchstwertigkeitsdogma anerkennen und insbesondere den Anwendungsbereich dieses Prinzips so stark beschränken, dass dieses im Interesse einer verfassungskonformen Strafrechtsanwendung jederzeit unterlaufen werden kann. Jedoch birgt die extensive Interpretation des Höchstwertigkeitdogmas die Gefahr, einer aus verfassungsrechtlicher Sicht zu weiten Anwendung dieses strafrechtlichen (Auslegungs-)Grundsatzes. Denn hierdurch wird der unzutreffende Eindruck vermittelt, dass das Höchstwertigkeitsdogma die Vorgaben des Grundrechts auf Leben für den strafrechtlichen Lebensschutz konkretisiert und somit verbindliche Vorgaben für die Bewertung des Rechtsguts Leben im Strafrecht macht. Dabei liefert dieses Prinzip tatsächlich nicht mehr als eine abstrakte bzw. vorläufige Einschätzung der Wertigkeit des Rechtsguts Leben in einem strafrechtlich relevanten Rechtsgüter- bzw. Interessenkonflikt, die unter dem Vorbehalt ihrer Verein-



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barkeit mit grundrechtlichen Wertungen steht und jederzeit revidierbar ist. Näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) / Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (2) (a)). (b)  Interpretiert man das Dogma vom Höchstwert des menschlichen Lebens hingegen – mit einer im Vordringen befindlichen Literaturmeinung – sehr restriktiv als „Verbot zum Zwang der solidarischen Aufopferung des eigenen Lebens“, ist dieses Prinzip aus Perspektive der herrschenden Verfassungsdogmatik nicht zu beanstanden. Denn unter Zugrundelegung dieser sehr engen Auslegung des Höchstwertigkeitsdogmas beschreibt dessen Anwendungsbereich – Situationen, in denen ein Mensch zur solidarischen Aufopferung des eigenen Lebens gezwungen ist – einen strafrechtlich relevanten Bereich, in welchen dem menschlichem Leben tatsächlich der Rang eines unabwägbaren Höchstwerts zukommt. Die im Vordringen befindliche restriktive Interpretation des Höchstwertigkeitsdogmas konkretisiert somit den unabwägbaren Kernbereich des menschlichen Lebens für das Strafrecht und erspart für Situationen, die unter den Anwendungsbereich dieser sehr engen Auslegung des Höchstwertigkeitsdogmas fallen, eine Konsultation der Verfassung hinsichtlich der Wertigkeit des Rechtsguts Leben im Verhältnis zu hiermit kollidierenden Rechtsgütern bzw. Interessen. Näher Kap. 6 A. II. 3. b) aa) (2) (b) / Kap. 6 A. II. 3. b) aa) (1) (a)). (2) Auch der allgemein anerkannte strafrechtliche (Auslegungs-)Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen, den die herrschende Meinung aus Art. 1 Abs. 1 GG ableitet, ersetzt die Überprüfung verfassungsrechtlicher Vorgaben für eine, als strafrechtlich relevant in Betracht kommende, Rechtsgüter- bzw. Interessenkollisionen zwischen Personenwerten und Sachinteressen nicht für alle Konstellationen, in denen ein solcher Konflikt gegeben ist (näher Kap. 6 A. II. 3. a) bb) (2)). Ein pauschaler Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen ist aus verfassungsrechtlicher Perspektive allenfalls dann vertretbar, wenn man ihn auf solche (Notstands-)Fallkonstellationen beschränkt, in denen der Personenwert (Eingriffsgut) zum Zweck der Bewahrung eines Sachinteresses (Erhaltungsgut) durch ein aktives Tun beeinträchtigt wird, das sich nicht als erforderliche Verteidigungshandlung gegen einen Angriff im Sinne des § 32 StGB darstellt (Ausnahme: wenn den Rechtsgütern Freiheit bzw. Gesundheit nur geringe Einbußen drohen, während im Gegenzug erhebliche Sachwerte auf dem Spiel stehen). Das gleiche gilt für Notwehrkonstellationen, in denen das Sachinteresse als Eingriffsgut und der Personenwert als Erhaltungsgut berührt sind. Für alle anderen Interessenkollisionen zwischen Personenwerten und Sachinteressen, deren strafrechtliche Beurteilung in Frage steht, liefert dieses strafrechtliche Auslegungsprinzip hingegen nicht zuverlässig verfassungskonforme Ergebnisse. Denn entgegen der herrschenden Auffassung im Strafrecht, lässt sich weder Art. 1 Abs. 1 GG noch an-

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deren Verfassungsprinzipien entnehmen, dass Personenwerten stets Priorität vor Sachinteressen zuzukommen hat. Nach herrschender Verfassungsdogmatik gilt dies sowohl generell als auch für das Strafrecht. Ob die Verfassung einen Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen im Hinblick auf eine Interessenkollision, deren strafrechtliche Beurteilung in Frage steht, erzwingt oder auch nur gestattet, kann vor dem Hintergrund der Dogmatik grundrechtlicher Schutzpflichten (staatlicher Spielraum bei der Erfüllung der Schutzpflichten, selbst solcher zugunsten des Lebens; Bindung an das Gesetzlichkeitsprinzip und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, wenn der Staat zur Erfüllung der Schutzpflichten in Grundrechte Dritter eingreift) nicht generell, sondern ausschließlich kontextbezogen beurteilt werden. Daher sind im Einzelfall sogar Fallkonstellationen denkbar, in denen die Verfassung – insbesondere die Grundrechte, wie Art. 12 GG, Art. 14 GG, Art. 3 Abs. 1 GG und der das Vermögen schützende Art. 2 Abs. 1 GG, sowie Verfassungsprinzipien, wie das strafrechtliche Analogieverbot, der Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes und der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes – einen Vorrang von Sachinteressen vor Personenwerten erzwingt (Bsp.: tödliche Notwehrmaßnahmen zur Verteidigung von Sachwerten, Diebstahl zur Finanzierung einer lebensrettenden Behandlung, ökonomischer Behandlungsverzicht durch auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätige Ärzte etc.). Näher Kap. 6 A. II. 3. a) bb). (3)  Neben den Grundrechten ist insbesondere auch der – aus dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip ableitbare und auch für die Judikative verbindliche – Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes bei der Strafrechtsauslegung zu berücksichtigen. Dieser macht die Verfassungsmäßigkeit eines Grundrechtseingriffs u. a. vom Vorhandensein einer entsprechenden gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage abhängig, die umso bestimmter zu sein hat, je intensiver der Grundrechtseingriff ist (Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG). Der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes verbietet es daher, im Wege der Auslegung zu einer Rechtslage zu gelangen, die in die Grundrechte der durch die Strafnorm zu schützenden Person oder der anderer Grundrechtsträger (z. B. des Notstandsopfers) so massiv eingreift, dass die Verfassungsmäßigkeit dieser Rechtslage nicht zuletzt von der Existenz einer, den Belasteten explizit zur Duldung des Grundrechtseingriffs verpflichtenden, Ermächtigungsgrundlage abhängt, sofern die Rechtsordnung eine solche Ermächtigungsgrundlage nicht zur Verfügung stellt. Bsp.: Eine Auslegung der §§ 212 (216), 13 StGB, die besagt, dass eine passive Sterbehilfe zugunsten eines entscheidungsfähigen Patienten, das Geschehenlassen eines freiverantwortlichen Suizids („Wittig-Fall“) oder der Verzicht auf eine lebensrettende Zwangsheilung eines entscheidungsfähigen Patienten unzulässig ist, scheitert nach der hier vertretenen Auffassung nicht nur an dem, einer solchen Auslegung zwingend entgegenstehenden verfas-



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sungsrechtlich verbürgten Selbstbestimmungsrecht des Patienten. Vielmehr steht einer solchen Norminterpretation auch der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes, in der Gestalt, die dieses Prinzip durch die Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG gefunden hat, entgegen. § 216 StGB ist nicht hinreichend bestimmt, um einen so massiven Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht des Patienten zu legitimieren, wie er mit einer Verpflichtung eines entscheidungsfähigen Patienten zur Duldung einer lebensverlängernden Zwangsbehandlung verbunden wäre. Schließlich enthält diese Norm keine (expliziten) Hinweise auf Zwangsbefugnisse der Ärzteschaft zu Lasten entscheidungsfähiger Patienten. Näher Kap. 6 A. II. 3. a) aa) (1) (b) (aa)). (4)  Bezogen auf den – in Art. 20 Abs. 3 GG normierten und auch für die Judikative verbindlichen – Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes ist zu überprüfen, ob der Gesetzgeber die Frage, ob ein bestimmtes Verhalten (Tun bzw. Unterlassen) strafbar zu sein hat, explizit selbst entschieden hat. Hat der Strafgesetzgeber das hinsichtlich seiner strafrechtlichen Relevanz in Frage stehende Verhalten explizit unter Strafe gestellt, so darf diese gesetzgeberische Entscheidung für die Strafbarkeit aufgrund des (Verfassungs-) Grundsatzes vom Vorrang des Gesetzes nicht über eine entsprechende Auslegung der Rechtfertigungsgründe unterlaufen werden. Das gilt jedenfalls, sofern der Gesetzgeber die Rechtsgüter- bzw. Interessenkollision zwischen den durch die Strafnorm geschützten Rechtsgütern bzw. Interessen und denjenigen, denen durch die Anwendung der Rechtfertigungsregelungen (insbesondere Notstand) Rechnung getragen werden könnte, bei seiner Entscheidung für die Strafbarkeit berücksichtigt hatte. Ein weiterer Anwendungsbereich für den Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes besteht im Hinblick auf solche Fallkonstellationen, in denen sich die Entscheidung für die Zulässigkeit einer Verhaltensweise aus Gesetzesnormen ergibt, die nicht zum Haupt- oder Nebenstrafrecht gehören (was eine Anwendung des in Art. 103 Abs. 2 GG normierten Analogieverbots ausschließt). Folgt die Zulässigkeit einer bestimmten Verhaltensweise aus öffentlich-rechtlichen oder zivilrechtlichen Gesetzesnormen, so darf diese gesetzgeberische Entscheidung nicht über eine entsprechende Auslegung der Strafvorschriften bzw. Rechtfertigungsgründe unterlaufen werden (Bsp.: §§ 1901 a ff. BGB, die die Wahrnehmung des verfassungsrechtlich verbürgten Selbstbestimmungsrechts durch äußerungsunfähige Patienten verfahrensmäßig absichern und somit die Auslegung der §§ 212, 216 StGB beeinflussen). Dies folgt aus dem – auch für die Judikative geltenden – (Verfassungs-) Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes und nicht aus dem Prinzip der Einheit der Rechtsordnung, das als reines Postulat über kein verfassungsrechtliches Fundament verfügt und dem somit keinerlei Bindungswirkung für die Judikative zukommt. Näher Kap. 6 A. II. 3. b) aa) (1) (d)).

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(5) Verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen ist bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe im Strafrecht nicht nur dann Rechnung zu tragen, wenn ein gesellschaftlich erwünschtes, ethisch gebotenes Ergebnis vor dem Hintergrund der herrschenden Strafrechtsdogmatik nicht schlüssig zu begründen ist. Die Vorgaben des Grundgesetzes für die Entscheidung von strafrechtlichen Interessenkollisionen sind vielmehr auch dann zu berücksichtigen, wenn eine verfassungskonforme Auslegung der einschlägigen Normen zu keinem anderen Ergebnis führt als eine oder mehrere andere Auslegungsmethode(n) bzw. eine strafrechtliche Argumentation. Denn der verfassungskonformen Auslegung kommt aufgrund der Normenhierarchie im Verhältnis zu anderen Auslegungsmethoden ein höherer Rang zu. Sie beendet somit jede Debatte um die richtige strafrechtliche Bewertung eines Verhaltens, zumindest sofern es die einschlägige Verfassungsnorm nicht zulässt, auch zum gegenteiligen Ergebnis zu gelangen. Näher Kap. 6 A. II. 3. b) aa) (1) (e). bb) Auf welcher Ebene des Verbrechensaufbaus (Deliktsebene) und im Rahmen der Auslegung welchen unbestimmten Rechtsbegriffs, den Wertentscheidungen des Grundgesetzes im Wege der verfassungskonformen Auslegung Rechnung zu tragen ist, entzieht sich einer pauschalen Beurteilung. Generalisierend lässt sich lediglich feststellen, dass es nicht genügt, ein Verhalten zu entschuldigen, dessen Zulässigkeit durch die Verfassung geboten wird, da ein Verhalten, das sich im Rahmen der durch die Rechtsordnung gezogenen Schranken eines Grundrechts (oder einer anderen verfassungsrechtlichen Verbürgung) hält, strafrechtlich nicht rechtswidrig sein kann. Ob ein unter eine Strafnorm subsumtionsfähiges Verhalten, dessen Zulässigkeit durch die Verfassung erzwungen wird, aus strafrechtlicher Perspektive tatbestandslos oder gerechtfertigt ist, lässt sich nur für den konkreten Einzelfall beurteilen, da die Beantwortung dieser Frage von einer Vielzahl von Faktoren abhängt, so z. B. ob im Hinblick auf das in Frage stehende Verhalten ein echtes oder unechtes Unterlassungs- oder ein Begehungsdelikt in Betracht kommt, welches Grundrecht bzw. Verfassungsprinzip die Strafbarkeit oder die Zulässigkeit gebietet etc. Näher Kap. 6 A. II. 3. b) aa) (2). II.  Verzichtet ein in einem öffentlichen Krankenhaus angestellter Arzt auf die Erbringung von Leistungen, die ihm weder durch die öffentliche Gesundheitsversorgung noch durch den Patienten finanziert werden, so verwirklicht er hierdurch weder eine rechtswidrige Körperverletzung oder Tötung durch Unterlassen (§§ 223, 13 StGB bzw. §§ 223, 13 StGB), noch eine rechtswidrige Unterlassene Hilfeleistung (§ 323 c StGB). Dies folgt aus einer verfassungskonformen Auslegung dieser Vorschriften. Denn die Pönalisierung eines solchen ökonomischen Behandlungsverzichts, wird durch die aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG folgenden staatlichen Schutzpflichten für das durch



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Krankheit bedrohte Leben und die Gesundheit, die sich nach zutreffender herrschender Meinung zu einem Anspruch auf ein medizinisches Existenzminimum verdichten, nicht erzwungen – auch dann nicht, wenn die öffent­ liche Gesundheitsversorgung Bedürftigen kein medizinisches Existenzminimum sichert. Vielmehr würde hierdurch gegen den Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) verstoßen. Die Ratio der sozialrechtlichen Vorschriften, welche die (vorenthaltenen) medizinischen Leistungen aus dem Leistungsprogramm der öffentlichen Gesundheitsversorgung herausnehmen, würde unterlaufen, wenn die Ärzteschaft bei Strafdrohung verpflichtet wäre, derartige Leistungen notfalls auf eigene Kosten zu erbringen. Denn diese sozialrechtlichen Vorschriften bezwecken, ohne Gefährdung einer egalitären und effizienten Krankenversorgung, Kosten im öffentlichen Gesundheitswesen dadurch einzusparen, dass bestimmte Leistungen aus der (durch die öffentliche Gesundheitsversorgung bereitgestellten) medizinischen Grundversorgung herausgenommen und der privaten Absicherung durch den Patienten überlassen werden, anstelle zum Zwecke der Kostendämpfung an der Vergütung der Leistungserbringer anzusetzen (Budgetierung etc.). Einer Strafbarkeit des ökonomischen Behandlungsverzichts nach §§ 212, 13 StGB, §§ 223, 13 StGB kann zusätzlich entgegengesetzt werden – unabhängig davon, ob dieser durch Klinikärzte in öffentlichen Kliniken oder andere Ärzte begangen wird –, dass ein Patient nicht in schutzwürdiger Art und Weise darauf vertrauen kann, mit medizinischen Leistungen versorgt zu werden, die weder durch die öffentliche Gesundheitsversorgung noch durch ihn selbst bezahlt werden, weshalb auch keine Garantenpflicht existiert, ihn mit derartigen Leistungen zu versorgen. Nach § 323 c StGB kann der ökonomische Behandlungsverzicht schon deshalb nicht strafbar sein, weil diese Vorschrift eine unter Mitmenschen zulässigerweise zu erwartende Mindestsolidarität absichert und nicht dazu verwendet werden darf, die Ärzteschaft zur Erbringung von Leistungen zu zwingen, die durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht mehr finanziert werden. Näher Kap. 6 B. III. Ein Arzt, der bei einem Krankenhaus in privater Trägerschaft angestellt ist, verwirklicht weder einen rechtwidrigen Totschlag durch Unterlassen (§§ 212, 13 StGB), noch eine rechtswidrige Körperverletzung durch Unterlassen (§§ 223, 13 StGB), noch eine rechtswidrige Unterlassene Hilfeleistung (§ 323 c StGB), wenn er zahlungsunfähigen und / oder zahlungsunwilligen Patienten medizinisch indizierte Leistungen vorenthält, die durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht mehr bereitgestellt werden. Dies folgt aus dem Gebot der verfassungskonformen Auslegung des Strafrechts. Denn die Pönalisierung eines solchen ökonomischen Behandlungs-

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verzichts wird durch die aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG folgenden staatlichen Schutzpflichten für das durch Krankheit bedrohte Leben und die Gesundheit, die sich nach zutreffender herrschender Meinung zu einem Anspruch auf ein medizinisches Existenzminimum verdichten, nicht geboten – auch dann nicht, wenn die öffentliche Gesundheitsversorgung Bedürftigen kein medizinisches Existenzminimum sichert – und würde den privaten Krankenhausträger in seinen Grundrechten aus Art. 14 GG (Eigentumsfreiheit), Art. 2 Abs. 1 GG (Vermögensfreiheit) und Art. 3 Abs. 1 GG (Allgemeiner Gleichheitssatz) verletzen. Das durch die Verfassung erzwungene Ergebnis der Zulässigkeit des durch Ärzte in Privatkliniken begangenen ökonomischen Behandlungsverzichts, ist in Bezug auf die §§ 212, 13 StGB, §§ 223, 13 StGB, über eine grundgesetzkonforme Norminterpretation und anschließende Verneinung des unbestimmten Rechtsbegriffs der „Garantenpflicht“ und, im Hinblick auf §  323  c StGB, im Wege einer verfassungskonformen Auslegung und anschließenden Verneinung des unbestimmten Tatbestandsmerkmals der ­ „Möglichkeit der Hilfeleistung“ herbeizuführen. Näher Kap. 6 C. Kap. 7: Wenngleich den behandelnden Arzt keine strafbewehrte Verpflichtung trifft, durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) bereitgestellte Leistungen zu erbringen, sofern diese durch den Patienten nicht privat finanziert werden, muss er den Patienten über die Existenz dieser Leistungen und die Möglichkeit des privaten Zukaufs, aufklären, sofern zu diesen Leistungen keine durch die öffentliche Gesundheitsversorgung offerierte (standardgemäße) Alternative existiert. Verletzt der Arzt diese Aufklärungspflicht, so kommt eine Strafbarkeit wegen vorsätzlicher oder fahrlässiger Körperverletzung durch Unterlassen (mit Todesfolge) bzw. wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen in Betracht. Jedoch wird in der Praxis eine derartige Strafbarkeit häufig daran scheitern, dass nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden kann, dass sich der Patient den privaten Zukauf der Leistung hätte leisten können, oder daran, dass der Patient vorinformiert war oder daran, dass der Patient wirksam auf die Aufklärung verzichtet hatte. Näher Kap. 7 A. Sofern zu der durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht mehr angebotenen Leistung eine durch die öffentliche Gesundheitsversorgung bereitgestellte (standardgemäße) Therapie- bzw. Diagnosealternative existiert, trifft den behandelnden Arzt im Regelfall keine Verpflichtung, über Existenz und Möglichkeit des privaten Zukaufs der durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) offerierten Maßnahme aufzuklären. Eine derartige Aufklärungspflicht trifft den Arzt lediglich unter der Voraussetzung, dass die durch die öffentliche Gesundheitsversorgung zur Verfügung gestellte Therapie- bzw. Diagnosealternative im Verhältnis zu der



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privat zukaufbaren Leistung wesentliche Unterschiede in Bezug auf die Belastung des Patienten, Risiken und / oder Erfolgschancen aufweist. Dies gilt auch dann, wenn der Patient weder willens noch in der Lage ist, die durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) bereitgestellte Leistung privat zu finanzieren. Eine an der Verletzung der Aufklärungspflicht über Therapiealternativen anknüpfende Körperverletzungsstrafbarkeit aufgrund der Vornahme der durch die öffentliche Gesundheitsversorgung angebotenen Leistung, wird in Fällen, in denen der Patient die durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) bereitgestellte Leistung nicht privat finanzieren will oder kann, jedoch regelmäßig unter dem Aspekt der „hypothetischen Einwilligung“ abzulehnen sein. Näher Kap. 7 B. Während an der Ärztevergütung ansetzende Kostendämpfungsmaßnahmen (Budgetierung, Regelleistungsvolumina etc.) keine Absenkung der strafrechtlichen Sorgfaltspflichten sowie des zivilrechtlichen Haftungsmaßstabs bewirken, was vielfach zu einer Überforderung der in diesem ökonomisch-juristischen Spannungsfeld agierenden Ärzteschaft führt, ist diese Problematik im Fall der expliziten Rationierung medizinischer Leistungen nicht gegeben. Leistungen, die aus Kostengründen durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) zur Verfügung gestellt werden und die der Patienten auch privat nicht finanzieren kann oder will, dürfen auch nicht im Wege des Medizinstrafrechts von der Ärzteschaft eingefordert werden. Dies gilt insbesondere in Bezug auf Ärzte, die auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätig (im gegenwärtigen System: niedergelassene Vertragsärzte) oder bei einem privaten Klinikbetreiber angestellt sind. Denn eine Verhaltensnorm, die diese Ärzte bei Strafdrohung verpflichtet, durch die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht (mehr) bereitgestellte Leistungen notfalls auch ohne Gegenleistung zu erbringen, würde grundrechtlich geschützte, wirtschaftliche Positionen der Ärzteschaft (Eigentumsfreiheit, Berufsfreiheit) oder des privaten Klinikbetreibers (Eigentumsfreiheit, Vermögensfreiheit) verletzen und wäre deshalb verfassungswidrig. Aus diesem Grund dürfte es im Hinblick auf explizit rationierte medizinische Leistungen auch nicht zu Divergenzen zwischen dem Sozialrecht und dem Arzthaftungsrecht kommen. Denn das Gebot der verfassungskonformen Auslegung beansprucht auch für das Zivilrecht Geltung. Im Hinblick auf die explizite Rationierung medizinischer Leistungen, fungiert das Verfassungsrecht somit als Transformationsriemen und bewirkt eine Harmonisierung von Sozialrecht, Strafrecht und Arzthaftungsrecht, wodurch dem Postulat der Einheit der Rechtsordnung entsprochen wird.

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Sachwortverzeichnis Abtreibung (Schwangerschaftsabbruch)  207 f. Abwägungsentscheidung, strafrechtliche  82 ff., 98, 100 Allgemeine Handlungsfreiheit  31 ff., 41 f., 158, 320, 323 f. – und Grundrecht auf Leben  322 ff. – und Rationierung medizinischer Leistungen  31 ff., 41 f., 31 ff. – und Tötungsdelikte  322 ff. – und wirtschaftlicher / ökonomischer Behandlungsverzicht  320, 323 f. Allgemeiner Gleichheitssatz  93, 155, 199, 266, 270, 314, 323 f. – „Gesundheitsrechtlich geschärftes Willkürverbot“ 40 f. – und Dogma vom Höchstwert des menschlichen Lebens (siehe Grundsatz vom ~) – und Grundrecht auf Leben  249 ff., 257 ff., 313 ff., 322 ff. – und Grundsatz vom Höchstwert des menschlichen Lebens  257 – und Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen  271 – und Lebensschutz  257 – und „Millionärs-Fall“  155 ff., 253 f., 313 f. – und Notstand  256 f. – und Rationierung medizinischer Leistungen  40 f. – und Tötungsdelikte  256 ff. – und wirtschaftlicher / ökonomischer Behandlungsverzicht  93 f., 199 f., 314 ff., 323 ff. Alter, biologisches (als Rationierungskriterium)  43 f.

Analogieverbot, strafrechtliches – und Dogma vom Höchstwert des menschlichen Lebens (siehe Grundsatz vom ~) – und Grundrecht auf Leben  210 ff., 256 f., 302 f. – und Grundsatz vom Höchstwert des menschlichen Lebens  188, 209, 213, 222, 236, 256, 264 f., 271, 282, 285 – und Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen  271 – und Lebensschutz  256 f. – und Notstand  236, 256, 271, 282, 285 – und Notwehr / Nothilfe  213, 264 f., 302 f. – und Tötungsdelikte  188, 209, 222, 256, 264 f., 271, 282 (ärztliche) Aufklärungspflicht  66 ff., 73, 326 ff., 333 f., 326 ff. – Diagnose- 327 – Rechtsfolgen der Verletzung der ~ 68 ff., 73, 328 ff., 333 f. – Risiko- 327 – therapeutische  326 ff. – über Behandlungsalternativen  66 ff., 73, 333 f. – über explizit rationierte Leistungen und private Zukaufsmöglichkeit  326 ff. Aufklärungsverzicht  329 ff. – Form  332 ff. – Grenzen  330 ff. – Möglichkeit des ~s  330 ff. – Rechtsfolgen  329 ff.

368 Sachwortverzeichnis Auslegung, verfassungskonforme – und Dogma vom Höchstwert des menschlichen Lebens (siehe Grundsatz vom ~) – und erzwungene Lebend(organ)spende  149 ff., 240 ff., 311 f. – und „Fall Putz“  111 ff., 215 ff., 301 f. – und Grundsatz vom Höchstwert des menschlichen Lebens  187 ff. – und Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen  192 ff. – und indirekte Sterbehilfe  108 ff., 213 ff., 300 – und lebensrettende Zwangsheilung beim entscheidungsfähigen Patienten  140 ff., 238 ff., 309 f. – und Lebensschutz  256 ff. – und „Millionärs-Fall“  155 ff., 249 ff., 313 f. – und „Nierenspende-Fall“  137 f., 229 ff., 307 ff. – und Notstand  171 f. – und Notwehr  118 ff., 210 ff., 302 f. – und passive Sterbehilfe beim entscheidungsfähigen Patienten  123 ff., 223 ff., 303 f. – und postmortale Organentnahme entgegen dem Spenderwillen  152 ff., 244 ff., 312 f. – und Tötungsdelikte  256 ff. – und Unterlassen einer lebensrettenden Zwangsheilung beim entscheidungsfähigen Patienten  133 ff., 227 ff., 305 ff. – und wirtschaftlicher / ökonomischer Behandlungsverzicht  314 ff., 319 ff., 322 ff. – und „Wittig-Fall“  128 ff., 225 ff., 304 f. – und „Zwangsblutspende-Fall“  146 ff., 248 f., 310 f. Autonomieprinzip 147, 157, 164, 178 Bagatellerkrankungen  22 Basisversorgung, medizinische  28, 32

Bedürftige  28 Befugnisgeneralklausel, polizeiliche  147, 249, 311 Behandlung, (ärztliche) – Pflicht zur  50 ff., 57 ff., 77ff., 79 ff., 314 ff., 318 ff., 319 ff., 322 ff. – suboptimale  65 ff., 73 ff. – tatsächliche Übernahme der ~ (siehe Entstehung Garantenstellung) – Verweigerung der ~ (siehe Behandlungsverweigerung) – wirtschaftlich / ökonomisch motivierter Verzicht auf ~ (siehe Behandlungsverzicht) Behandlungsabbruch, (technischer) – durch einen Nicht-Arzt („Fall Putz“) 109 ff., 215 ff., 301 f. Behandlungsalternative  53, 54, 66 ff., 73 ff., 77 f., 326 ff. – Aufklärungspflichten über ~ (siehe Aufklärungspflicht) Behandlungspflichten des Arztes (siehe Behandlung) Behandlungsverweigerung – offene  61 f. – wirtschaftlich / ökonomisch motiviert (siehe Behandlungsverzicht) – verdeckte / heimliche  62 ff. Behandlungsverzicht, wirtschaftlicher /  ökonomischer  79 ff., 199 f., 319 ff., 322 ff. – durch auf eigenes wirtschaftliches Risiko tätige Ärzte (niedergelassene Vertragsärzte) 79 ff., 199 f., 314 ff. – durch Krankenhausärzte in öffent­ lichen Kliniken  319 ff. – durch Krankenhausärzte in Privat­ kliniken  322 ff. Berufsfreiheit – und Dogma vom Höchstwert des menschlichen Lebens (siehe Grundsatz vom ~) – und gegenwärtiges vertragsärztliches Vergütungssystem der GKV  89 ff. – und GKV-System  91 f.

Sachwortverzeichnis369 – und Grundsatz vom Höchstwert des menschlichen Lebens  257 – und Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen  271 – und Lebensschutz  257 – und Tötungsdelikte  256 ff. – und öffentliches Gesundheitssystem  92 f. – und wirtschaftlicher / ökonomischer Behandlungsverzicht  89 ff., 199 f., 314 ff., 318, 319 f. Bestimmtheitsanforderungen (rechtsstaatliche)  225, 233, 279 Betreuungsrecht, zivilrechtliches  112, 116, 219 Bilanzselbstmord / -suizid  127 ff., 225 ff., 304 f. Blutspende (Zwangsblutspende)  145 ff., 248 ff., 310 f. Budgetierung  21, 23, 81, 83, 84, 318, 321, 325, 351 Compliance (als Rationierungs­kriterium)  48, 50 Deliktsaufbau  287 Demographische Entwicklung  21 Demokratieprinzip 26 Derivativer Teilhabeanspruch (am vorhandenen Organaufkommen) 229 f., 241, 245 – und erzwungene Lebend(organ)spende  240 f., 311 – und „Nierenspende-Fall“  229 f., 307 – und postmortale Organentnahme entgegen dem Willen des Spenders  245, 312 Diebstahl – und „Millionärs-Fall“  154 ff., 249 ff., 314 Differenzierungskriterien (siehe Rationierungskriterien) Dogma vom Höchstwert des mensch­ lichen Lebens (siehe Grundsatz vom ~)

Dringlichkeit der Behandlung (als Rationierungskriterium)  44, 50 Durchschnittsbürger  28 Eigentumsfreiheit – Indienstnahme Privater für öffentliche Aufgaben  88, 253 – Inhalts- und Schrankenbestimmung  88 – Lastengleichheit  88, 156 – Sonderopfer  88, 156, 181, 185, 253, 275, 287, 314, 323 – Sozialbindung  88, 185, 253, 275 – und Dogma vom Höchstwert des menschlichen Lebens (siehe Grundsatz vom ~) – und Grundrecht auf Leben  98 ff., 249 ff., 313 f., 322 ff. – und Grundsatz vom Höchstwert des menschlichen Lebens  98 ff., 257 – und Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen  263 ff. – und Lebensschutz  257 – und „Millionärs-Fall“  252 ff., 314 – und Notstand  156 ff., 183, 249 ff., 254 ff., 269, 252 ff., 314 – und Notwehr  180, 210, 212, 264 ff., 302 f. – und Rationierung medizinischer Leistungen  41 f. – und Tötungsdelikte  256 ff. – und wirtschaftlicher / ökonomischer Behandlungsverzicht  88, 199 f., 323 ff. Eigenverantwortung des Patienten  22 Einheit der Rechtsordnung 218, 277, 286, 347, 351 Einwilligung (des Patienten) in Behandlung – antizipiert erklärte  110, 116, 215, 217, 301 – Disponibilität des verletzen Rechtsguts (Einwilligungsvoraussetzung) 116, 125, 191, 293 ff., 297, 301 f.

370 Sachwortverzeichnis – hypothetische  69, 70 f., 334 – mutmaßliche  103, 116 ff. – und „Fall Putz“  110 ff., 301 f. – und passive Sterbehilfe beim entscheidungsfähigen Patienten  124, 303 f. Einwilligung (des Spenders) in Organentnahme – Lebend(organ)spende  149 – Postmortale Organentnahme  151 f. Erfolgsaussicht der Behandlung (als Rationierungskriterium) – Ansprechwahrscheinlichkeit der Behandlung  51 ff. – Individuelle Erfolgsaussichten beim Patienten  46 – Länge der Lebensverlängerung /  -qualitätsverbesserung  46, 51 f. – und Verfassung  28 ff., 45 ff., 50 ff. Erkrankung – lebensbedrohlich  28, 30 f. 33 ff., 36 ff. – nicht-lebensbedrohlich  36 – tödlich  31 ff. Ermächtigungsgrundlage, gesetzliche (siehe Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes) Erzwungene Lebend(organ)spende  149 ff., 240 ff., 311 f. Euthanasie (siehe Sterbehilfe) Existenzminimum, Allgemeines  28, 35 Existenzminimum, Medizinisches  27 ff. – dogmatische Begrünung 27 ff. – egalitaristische Deutung 28 ff. – freiheitsfunktional-suffizienz­ orientierte Deutung  28 ff. – Umfang  27 ff. – und „Millionärs-Fall“  250 ff., 311 – und „Nikolaus-Beschluss“  des BVerfG  30 ff. – und Rationierung medizinischer Leistungen  27 ff. – und wirtschaftlicher / ökonomischer Behandlungsverzicht  95 ff., 314, 319, 322 – Vorbehalt des Möglichen  29 f., 38 f.

Facharztstandard (medizinischer Standard) 62 f. „Fall Putz“  109 ff., 215 ff., 301 f. „Millionärs-Fall“  154 ff., 249 ff., 269 f., 313 ff. „Nierenspende-Fall“  135 ff., 229 ff., 307 ff. „Schleyer-Fall“  206 f. „Wittig-Fall“  126 ff., 225 ff., 304 f. „Zwangsblutspende-Fall“  145 ff., 248 ff., 310 f., 310 f. Finanzierungsprobleme der GKV  21 ff. Finanzkraft (als Rationierungskriterium) 43 f. Fortschritt, medizinisch-technischer  21 Garant – ärztlicher ~ (siehe Garantenpflicht des Arztes bzw. Garantenstellung, ärztliche) – dem ~en unzumutbare Lebensrettung  136, 138, 233 f. Garantenpflicht (des Arztes) – dogmatische Einordnung 295 f. – einseitige Beendigung  61 f. – Entstehung und Umfang  59 f., 316 f. – Irrtum  76 – Legitimationsgrund  59 f., 316 f. – und „Nierenspende-Fall“  135 ff., 308 – und passive Sterbehilfe beim entscheidungsfähigen Patienten  123 ff., 303 f. – und Unterlassen einer lebensrettenden Zwangsheilung beim entscheidungs­ fähigen Patienten  133 ff., 305 f. – und verfassungskonforme Auslegung  123 ff., 127 ff., 133 ff., 294 ff., 315 ff., 319 ff., 322 ff. – und wirtschaftlicher / ökonomischer Behandlungsverzicht  315 ff., 319 ff., 322 ff. – und „Wittig-Fall“  127 ff., 304 f. – Zumutbarkeit (siehe Zumutbarkeit, unechtes Unterlassungsdelikt)

Sachwortverzeichnis371 Garantenstellung, ärztliche 59 f., 61 f., 124, 295, 316 f. – einseitige Beendigung  59 f. – Entstehungsvoraussetzungen  59 f., 316 f. – Krankenhausarzt  59 f. – Legitimationsgrund  59 f., 316 f. – niedergelassener (Vertrags-)Arzt  59 f. – und verfassungskonforme Auslegung  295 Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) 21 ff., 31 ff., 36 ff. – Finanzierungsprobleme  21 ff., 36 ff. – Kostendämpfungsmaßnahmen  21 ff., 91 f., 318 f. – Leistungskatalog der  21 ff., 36 ff. – und explizite Rationierung medizinischer Leistungen  21 ff., 36 ff. – und Vorenthaltung medizinischer Leistungen (siehe Vorenthaltung medizinischer Leistungen durch den Arzt) – (ärztliche) Vergütung in der ~ 89 ff. Gesundheitsökonomie  21, 51 Gesundheitsversorgung, öffentliche  1 ff. Gesundheitswesen (siehe GKV) Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit – Schutzpflichtdimension  263 ff. – und Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen  263 ff. – und Notwehr / Nothilfe  210 ff., 302 f. – und wirtschaftlicher / ökonomischer Behandlungsverzicht  94 ff., 319 ff., 322 ff. – und „Zwangsblutspende-Fall“  248 ff., 310 Grundrecht auf Leben – Abwehrdimension  25 f. – Schutzpflichtdimension (siehe Schutzpflicht des Staates) – und Dogma vom Höchstwert des menschlichen Lebens (siehe Grundsatz vom ~)

– und erzwungene Lebend(organ)spende  240 ff., 311 f. – und „Fall Putz“  215 ff., 301 f. – und Grundsatz vom Höchstwert des menschlichen Lebens  195 ff., 254 ff. – und indirekte Sterbehilfe  213 f., 300 f. – und lebensrettende Zwangsheilung beim entscheidungsfähigen Patienten  238 ff., 309 f. – und Lebensrettung (siehe Lebens­ rettung) – und lebensverkürzendes Tun bzw. Unterlassen (siehe lebensverkürzendes Tun bzw. Unterlassen) – und medizinisches Existenzminimum  27 ff., 94 f., 199 f., 314, 319, 322 – und „Millionärs-Fall“  249 ff., 313 f. – und „Nierenspende-Fall“  229 ff., 307 f. – und Notstand  236 ff., 256 ff. – und Notwehr / Nothilfe  210 ff., 302 f. – und passive Sterbehilfe beim entscheidungsunfähigen Patienten  223 f., 303 f. – und postmortale Organentnahme entgegen dem Spenderwillen  244 ff., 312 f. – und Rationierung medizinischer Leistungen  27 ff. – und Selbstbestimmungsrecht  215 ff., 223 ff., 225 ff., 227 ff., 229 ff., 238 ff., 240 ff., 244 ff., 248 ff., 256 ff. – und Tötungsdelikte  256 ff. – und Unterlassen einer lebensrettenden Zwangsheilung beim entscheidungs­ fähigen Patienten  238 ff., 305 ff. – und wirtschaftlicher / ökonomischer Behandlungsverzicht  94 ff., 319 ff., 322 ff. – und „Wittig-Fall“  225 ff., 304 f. – und „Zwangsblutspende-Fall“  248 f., 310 f. Grundrechte, soziale  27

372 Sachwortverzeichnis Grundsatz vom Höchstwert / der Unabwägbarkeit des menschlichen Lebens (= Dogma vom Höchstwert des menschlichen Lebens bzw. Höchstwertigkeitsdogma) – Anwendungsbereich  160 ff., 195 f., 257 f. – extensive Auslegung (h. M.) 159 ff., 196 ff., 254 ff. – im Licht der Verfassung  254 ff., 343 f. – restriktive Auslegung (M. M.) 173, 195, 260 f. – und Allgemeiner Gleichheitssatz  98 f., 257 – und Analogieverbot, strafrechtliches  257 – und Berufsfreiheit  98 f., 257 – und Eigentumsfreiheit  98 f., 257 – und Einwilligung  161 f., 170, 197 f. – und erzwungene Lebend(organ)spende  150 f. – und „Fall Putz“  114 ff. – und Grundrecht auf Leben  195 ff., 254 ff. – und Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes  257 – und Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes  257 – und indirekte Sterbehilfe  104 ff. – und lebensrettende Zwangsheilung beim entscheidungsfähigen Patienten  140 ff. – und lebensverkürzendes Tun  160, 165 f. – und lebensverkürzendes Unterlassen  163, 169 f. – und „Millionärs-Fall“  156 – und „Nierenspende-Fall“  137 – und Notstand  160, 163 f., 168 f., 196 f. – und Notwehr / Nothilfe  121, 162, 167 f., 196 – und passive Sterbehilfe beim entscheidungsfähigen Patienten  125 f.

– und postmortale Organentnahme entgegen dem Spenderwillen  153 f. – und Selbstbestimmungsrecht  160 ff., 196 ff., 256 ff. – und Strafrechtsauslegung  158 ff. – und Tötungsdelikte  158 ff. – und Unterlassen einer lebensrettenden Zwangsheilung beim entscheidungs­ fähigen Patienten  134 – und verfassungskonforme Auslegung  187 ff., 196 ff. – und wirtschaftlicher / ökonomischer Behandlungsverzicht  195 f. – und „Wittig-Fall“  131 f. – und Zurechnungsausschluss  161 f., 170 – und „Zwangsblutspende-Fall“  148 Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes – und erzwungene Lebend(organ)spende  244, 312 – und Dogma vom Höchstwert des menschlichen Lebens (und Grundsatz vom ~) – und Grundrecht auf Leben  256 – und Grundsatz vom Höchstwert des menschlichen Lebens  257 – und Lebensschutz  257 – und „Millionärs-Fall“  253 f., 314 – und „Nierenspende-Fall“  232 f., 308 – und Notstand  256 f. – und passive Sterbehilfe beim entscheidungsfähigen Patienten  224 f., 304 – und Strafrechtsauslegung  278 f., 284 f. – und Tötungsdelikte  256 ff. – und Unterlassen einer lebensrettenden Zwangsheilung beim entscheidungs­ fähigen Patienten  229, 306 – und „Wittig-Fall“  227, 305 – und „Zwangsblutspende-Fall“  253 f., 310 f. Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes – und erzwungene Lebend(organ)spende  244, 312

Sachwortverzeichnis373 – und Dogma vom Höchstwert des menschlichen Lebens (siehe Grundsatz vom ~) – und „Fall Putz“  218, 302 – und Grundrecht auf Leben  256 – und Grundsatz vom Höchstwert des menschlichen Lebens  257 – und Lebensschutz  257 – und postmortale Organentnahme entgegen den Willen des Spenders  247, 313 – und Strafrechtsauslegung  276 ff., 285 f. – und Tötungsdelikte  256 ff. – und wirtschaftlicher / ökonomischer Behandlungsverzicht  315, 320, 322 Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen – Anwendungsbereich  176 ff., 198 f. – im Licht der Verfassung  263 ff., 345 f. – und Allgemeiner Gleichheitssatz  271 – und Analogieverbot, strafrechtliches  271 – und Berufsfreiheit  271 – und Eigentumsfreiheit  271 – und Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit  263 ff. – und Grundrecht auf Leben  263 ff. – und Grundsatz vom Höchstwert des menschlichen Lebens  257 – und Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes  271 – und Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes  271 – und Lebensschutz  257 – und Menschenwürde  198 f. – und „Millionärs-Fall“  157 f., 314 – und Notstand  175 ff., 198 – und Notwehr / Nothilfe  121 f. – und verfassungskonforme Auslegung  192 ff., 198 f. – und wirtschaftlicher / ökonomischer Behandlungsverzicht  200

„Harz IV-Urteil“  des BVerfG  35 Heilbehandlung (siehe Behandlung, ärztliche) Hilfeleistung (Unterlassene Hilfeleistung) – Möglichkeit der ~ (siehe Unterlassene Hilfeleistung) – Zumutbarkeit der ~ (siehe Zumutbarkeit) Indikation, fehlende  78 Indirekte Sterbehilfe  103 ff., 213 ff., 300 f. Interessenabwägung (siehe Notstand) Juristische Person des öffentlichen Rechts  322 Körperverletzung (durch aktives Tun) – mit Todesfolge  64 f., 72, 74 – und Aufklärungspflichtverletzung ­(siehe Aufklärungspflicht) – und Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit  263 ff. – und Notwehr / Nothilfe  271 – und suboptimale Behandlung (siehe Behandlung) – und Verfassung  271 – und Verweigerung der Behandlung (siehe Behandlungsverweigerung) Körperverletzung (durch Unterlassen) – fahrlässige  62 – Quasikausalität  63 f. – und Allgemeiner Gleichheitssatz  199 f., 266 f., 314 ff. – und Aufklärungspflichtverletzung  66 ff. – und Berufsfreiheit  199 f., 266 f., 314 ff. – und Eigentumsfreiheit  199 f., 266 f., 314 ff. – und erzwungene Lebend(organ)spende  149 ff., 240 ff., 311 f. – und fehlerhafte Behandlung  71 ff., 73 ff.

374 Sachwortverzeichnis – und Garantenstellung (siehe Garantenstellung, ärztliche) – und Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit  271 ff. – und Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes  271 – und Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes  266 f., 314 f. – und Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen  271 ff. – und offene Behandlungsverweigerung  61 – und suboptimale Behandlung  65 ff., 73 ff. – und verdeckte Behandlungsverweigerung  62 ff. – und wirtschaftlicher / ökonomischer Behandlungsverzicht  199 f., 315 ff., 319 ff., 322 ff. – und „Zwangsblutspende-Fall“  145 ff., 248 f., 310 f. – Verschlimmerung der Erkrankung  63 – Verzögerung des Heilungsprozesses  63 – vorsätzliche  62 – Zurückbleiben hinter dem medizinischen Standard  62 f. Kostendämpfungsmaßnahmen (GKV) 21 ff., 91 f., 318 f. Kosten-Nutzen-Analyse / -Erwägungen (als Rationierungskriterium) 28 ff., 45 ff., 50 ff. Krankenhaus(träger) – öffentlich  319 ff. – privat  322 ff. Krankenversicherung – Gesetzliche (siehe GKV) – Private  42 Lastengleichheit (siehe Eigentumsfreiheit) Leben, menschliches – Dauer (als Rationierungskriterium) 45 ff.

– Dogma vom Höchstwert des ~ (siehe Grundsatz vom Höchstwert des menschlichen Lebens) – Grundrecht auf ~ (siehe Grundrecht auf Leben) – Grundsatz vom Höchstwert des ~ (siehe Grundsatz vom Höchstwert des ~) – Länge (als Rationierungskriterium) 45 ff. – Qualität (QALYs) (als Rationierungskriterium)  52 – Zwang zur solidarischen Aufopferung des eigenen ~ s  173 Leben, Rechtsgut – Dogma vom Höchstwert des menschlichen ~s (siehe Grundsatz vom ~) – Eingriffsgut  103 ff. – Erhaltungsgut  139 ff. – Grundrecht auf ~ (siehe Grundrecht auf ~) – Höchstwert  158 ff., 173 ff., 195 ff. – Rettung (siehe Lebensrettung) – und Allgemeiner Gleichheitssatz  155, 256 f., 314 ff. – und Analogieverbot, strafrechtliches  257 – und Berufsfreiheit  98 f., 257, 314 ff. – und Eigentumsfreiheit  98 f., 257, 314 ff. – und erzwungene Lebend(organ)spende  149 ff., 311 f. – und „Fall Putz“  110 ff., 301 f. – und Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes  257 – und Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes  257 – und lebensrettende Zwangsheilung beim entscheidungsfähigen Patienten  139 ff., 309 f. – und indirekte Sterbehilfe  104 ff., 300 – und „Millionärs-Fall“  155, 249 ff., 313 f. – und „Nierenspende-Fall“  135 ff., 307 ff.

Sachwortverzeichnis375 – und Notstand  159 ff., 195 ff. – und Notwehr / Nothilfe  118 ff., 302 f. – und passive Sterbehilfe beim entscheidungsfähigen Patienten  123 ff., 303 f. – und postmortale Organentnahme entgegen dem Spenderwillen  151 ff., 312 f. – und Unterlassen einer lebensrettenden Zwangsheilung beim entscheidungs­ fähigen Patienten  133 ff., 305 ff. – und wirtschaftlicher / ökonomischer Behandlungsverzicht  80 ff., 199 f., 314 ff., 319 ff., 323 ff. – und „Wittig-Fall“  127 ff., 304 f. – und „Zwangsblutspende-Fall“  145 ff., 310 f. Lebend(organ)spende, erzwungene  149 ff., 240 ff. Lebensbeendigung, (Abwehr-)Recht auf selbstbestimmte  225 ff., 228 f., 238 f., 299, 304 ff. Lebensrettung (durch Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsguts) – strafrechtliche Bewertung  139 ff. – und Dogma vom Höchstwert des menschlichen Lebens (siehe Grundsatz vom ~) – und erzwungene Lebend(organ)spende  149 ff., 240 ff., 311 f. – und Grundsatz vom Höchstwert des menschlichen Lebens  140 ff., 148, 150 f., 155 f., 167 ff., 234 ff., 256 ff. – und Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen  157, 270 ff. – und lebensrettende Zwangsheilung beim entscheidungsfähigen Patienten  139 ff., 238 ff., 309 f. – und „Millionärs-Fall“  154 ff., 249 ff., 313 f. – und postmortale Organentnahme entgegen dem Spenderwillen  151 ff., 244 ff., 312 f. – und Rechtfertigungsgründe  256 ff. – und Strafrechtsauslegung  256 ff.

– und „Zwangsblutspende-Fall“  145 ff., 248 f., 310 f. – verfassungsrechtliche Bewertung  267 ff. Lebensschutz – Dogmatik des strafrechtlichen -es  158 ff., 254 ff., 270 ff. – verfassungsrechtlich gebotener und zulässiger ~ 202 ff. Lebensverkürzendes Tun – strafrechtliche Bewertung  103 ff. – und Dogma vom Höchstwert des menschlichen Lebens (und Grundsatz vom ~) – und „Fall Putz“  109 ff., 215 ff., 301 ff. – und Grundsatz vom Höchstwert des menschlichen Lebens  106 ff., 110 ff., 121 ff., 159 ff., 254 ff. – und Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen  175 ff., 270 ff. – und indirekte Sterbehilfe  103 ff., 213 ff., 300 f. – und Notstand  159 ff., 191 f., 196 ff. – und Notwehr / Nothilfe  117 ff., 210 ff., 302 f. – und Tötungsdelikte  256 ff. – und Verfassung  196 ff., 202 ff., 256 ff. Lebensverkürzendes Unterlassen – strafrechtliche Bewertung  122 ff. – und Dogma vom Höchstwert des menschlichen Lebens (Grundsatz vom ~) – und Grundrecht auf Leben  219 ff. – und Grundsatz vom Höchstwert des menschlichen Lebens  98 ff., 125 f., 131, 134, 137, 199 f., 256 ff. – und Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen  99 f., 175 ff., 199 f., 270 ff. – und „Nierenspende-Fall“  135 ff., 229 ff., 307 ff.

376 Sachwortverzeichnis – und passive Sterbehilfe beim entscheidungsfähigen Patienten  122 ff., 223 ff., 303 f. – und Tötungsdelikte  256 ff. – und Unterlassen einer lebensrettenden Zwangsheilung  133 ff., 227 ff., 305 f. – und Verfassung  197, 219 ff., 256 ff., 265 ff. – und „Wittig-Fall“  126 ff., 225 ff., 304 f. Lebenswertindifferenz  41, 262 Leistungsanspruch, originärer (siehe originärer Leistungsanspruch) Losverfahren  44 Luftsicherheitsgesetz, Abschussermächtigung im  260 ff. Medizinethik  21, 51, 103 Medizinischer Standard (siehe Facharztstandard) Menschenwürde(garantie) – postmortal zu achtende  153, 164, 267, 313 – und Dogma vom Höchstwert des menschlichen Lebens (siehe Grundsatz vom ~) – und erzwungene Lebend(organ)spende  149 ff., 243, 311 – und Grundsatz vom Höchstwert des menschlichen Lebens  104 ff., 159 ff., 254 ff., 260 ff. – und Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen  270, 273 – und indirekte Sterbehilfe  104, 137, 213 ff., 301 – und „Nierenspende-Fall“  146 f., 232 ff., 308 – und postmortale Organentnahme entgegen dem Spenderwillen  247, 313 – und „Zwangsblutspende-Fall“  146 f. „Millionärs-Fall“  154 ff., 249 ff., 269 f., 313 ff.

Mindestversorgung, medizinische 32, 34 Möglichkeit der Hilfeleistung (siehe Unterlassene Hilfeleistung) „Nierenspende-Fall“  135 ff., 229 ff., 307 ff. „Nikolaus-Beschluss“  des BVerfG  30 ff., 47 f., 250 Notfall, medizinischer  60 Notfallbehandlung  43 Notstand – Angemessenheit  164 ff., 294 ff. – Interessenabwägung  294 ff. – und Analogieverbot, strafrechtliches  256 – und erzwungene Lebend(organ)spende  149 ff., 240 ff., 311 f. – und „Fall Putz“  110 – und Grundrecht auf Leben  256 ff. – und Grundsatz vom Höchstwert des menschlichen Lebens  160, 163 f., 168 f., 196 f. – und Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes  256 – und Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes  256 – und Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen  175 ff., 198 – und „Millionärs-Fall“  154, 249 ff., 313 f. – und passive Sterbehilfe beim entscheidungsfähigen Patienten  124, 294 – und postmortale Organentnahme entgegen dem Spenderwillen  151, 244 ff., 312 f. – und verfassungskonforme Auslegung  164 f., 168 f., 236 ff., 294 ff. – und „Zwangsblutspende-Fall“  145 ff., 248 ff., 310 f. Notwehr / Nothilfe – Angriff auf Personenwerte  118 ff., 167, 302 f.

Sachwortverzeichnis377 – Angriff auf Sachwerte  118 ff., 167, 302 f. – Bagatellangriff  120, 302 – Gebotenheit  119, 162, 167 – und Analogieverbot (siehe Analogieverbot, strafrechtliches) – und Dogma vom Höchstwert des menschlichen Lebens (siehe Grundsatz vom ~) – und Eigentumsfreiheit  180, 210, 212, 264 ff., 302 f. – und Grundrecht auf Leben  210 f., 302 f. – und Grundsatz vom Höchstwert des menschlichen Lebens  162, 167 f., 197 – und Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen  176, 180, 198 – und Verfassung  210, 234 ff., 302 f. Öffentliche Trägerschaft, Krankenhaus  319 ff. Organentnahme, postmortale – entgegen dem Spenderwillen  151 ff., 244 ff., 312 f. – Entscheidungslösung  230, 242, 245 – erweiterte Zustimmungslösung  231, 242, 245 – Widerspruchslösung  231, 242, 246 (Lebend-)Organspende, erzwungene  149 ff., 240 ff., 311 f. Organzuteilung – Anspruch auf ~ (siehe Originärer Leistungsanspruch) Originärer Leistungsanspruch (auf Organzuteilung) – und erzwungene Lebend(organ)spende  240 f. – und „Nierenspende-Fall“  229 – und postmortale Organentnahme entgegen dem Willen des Spenders  245 – und Strafrechtsauslegung  229 ff., 240 ff., 244 ff.

Patientenwille (siehe Selbstbestimmungsrecht) Persönlichkeitsrecht – postmortal zu achtendes  152, 164, 169, 186, 186, 189, 247, 313 – und Dogma vom Höchstwert des menschlichen Lebens (siehe Grundsatz vom ~) – und Grundrecht auf Leben  244 ff. – und Grundsatz vom Höchstwert des menschlichen Lebens  153 f. – postmortale Organentnahme entgegen dem Spenderwillen  152, 247, 213, 313 – und Strafrechtsauslegung  152, 247, 313 Pflichtversicherungssystem, öffentlichrechtlich  41 f., 31 ff. Priorisierung medizinischer Leistungen  1 ff. Prioritätsprinzip (als Rationierungskriterium) 45, 50 Private Trägerschaft, Krankenhaus  322 PSA-Test  68 Quasikausalität  56, 63 f., 328 f., 336 Rationierung medizinischer Leistungen – explizite  22 ff., 25 ff. – implizite  21, 23, 92, 318 – und Strafrecht  79 ff., 199 ff., 319 ff., 322 ff. – verfassungsrechtlicher Rahmen  25 ff. Rationierungskriterien – verfassungsrechtlich unbedenkliche  44 ff. – verfassungswidrige  43 f. Rationierungsszenarien (Gesundheits­ wesen) 50 ff. (Grund-)Recht auf Gesundheit  27 Recht auf körperliche Unversehrtheit (siehe Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit) Recht auf Leben (siehe Grundrecht auf Leben)

378 Sachwortverzeichnis (Abwehr-)Recht auf selbstbestimmte Lebensbeendigung (siehe Lebens­ beendigung) Regelleistungsvolumen  319 Risiko, erlaubtes  72 „Schleyer-Fall“  206 f. Schmerzbehandlung / -therapie  103 f., 291 Schutzpflicht des Staates  95 ff., 203 ff., 220 ff. – Ermächtigungsgrundlage bei Eingriffen in Rechte Dritter  205, 221, 235 – gegnerlose Not / objektive Gefähr­ dungen  203 f., 220, 235 – private Übergriffe  204, 220, 235 – Spielraum des Staates bei der Erfüllung von Schutzpflichten  204 f., 221, 235 – Übermaßverbot  205, 221, 235 – und „Fall Putz“  215 ff., 301 ff. – und Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit  263 ff. – und Grundrecht auf Leben  202 ff., 254 ff. – und Grundsatz vom Höchstwert des menschlichen Lebens  255 ff. – und Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen  270 ff. – und indirekte Sterbehilfe  213 f., 300 f. – und „Millionärs-Fall“  249 ff., 313 f. – und „Nierenspende-Fall“  229 ff., 307 f. – und Notwehr / Nothilfe  210 ff. / 302 f. – und Notstand  236 ff., 256 – und passive Sterbehilfe beim entscheidungsfähigen Patienten  223 f., 303 f. – und postmortale Organentnahme entgegen dem Spenderwillen  244 ff., 312 f. – und Unterlassen einer lebensrettenden Zwangsheilung beim entscheidungs­ fähigen Patienten  238 ff., 305 ff.

– und wirtschaftlicher / ökonomischer Behandlungsverzicht  94 ff., 319 ff., 322 ff. – und „Wittig-Fall“  225 ff., 304 ff. – und „Zwangsblutspende-Fall“  248 f., 310 f. – Untermaßverbot  205, 221, 235 Schutzpflichtdimension der Grundrechte (siehe Schutzpflicht des Staates) Schutzzweck der Norm  104, 124 Schwangerschaftsabbruch (siehe Abtreibung) Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit  73 Selbstbestimmungsrecht – Allgemeines  248 f., 256 ff., 308 f., 311 – des Patienten  110 ff., 123 ff., 130 f., 140 f., 150, 161 ff., 170, 174 f., 184 f., 189, 191, 215 ff., 224 ff., 240, 256, 258, 274, 277 f., 285 f., 289, 293 ff., 301, 303 ff., 330 – postmortal zu achtendes  152, 164, 169, 186, 186, 189, 247, 313 – und Dogma vom Höchstwert des menschlichen Lebens (siehe Grundsatz vom ~) – und erzwungene Lebend(organ)spende  150 ff., 243 f., 311 – und „Fall Putz“  110 ff., 215 ff., 301 f. – und Grundrecht auf Leben  215 ff., 223 ff., 225 ff., 227 ff., 229 ff., 238 ff., 240 ff., 244 ff., 248 ff., 256 ff. – und Grundsatz vom Höchstwert des menschlichen Lebens  257 ff. – und lebensrettende Zwangsheilung beim entscheidungsfähigen Patienten  139 ff., 239 ff., 309 f. – und Lebensschutz  257 ff. – und „Nierenspende-Fall“  137, 232 ff., 308 – und Notstand  238 ff., 240 ff., 244ff., 248 ff., 256, 309 f., 310 f., 311 f., 312 f. – und Notwehr / Nothilfe  211, 302

Sachwortverzeichnis379 – und passive Sterbehilfe beim entscheidungsfähigen Patienten  123 ff., 224, 303 f. – und postmortale Organentnahme entgegen dem Spenderwillen  152 ff., 246 f., 311 – und Unterlassen einer lebensrettenden Zwangsheilung beim entscheidungs­ fähigen Patienten  226 ff., 309 – und „Wittig Fall“  128 ff., 225 ff., 304 f. – und „Zwangsblutspende-Fall“  248 f., 310 – postmortal zu achtendes  152, 164, 169, 186, 186, 189, 247, 313 – sexuelles  117 f., 120 f., 162, 167, 210 f., 302 Selbstverschulden des Patienten (als Rationierungskriterium)  43 social worth (als Rationierungskriterium) 43 Solidarität – Mindestsolidarität  28 – und Unterlassene Hilfeleistung  317, 322, 325 Sonderopfer (siehe Eigentumsfreiheit) Sozialbindung (siehe Eigentumsfreiheit) Sozialgesetzbuch V  34, 37, 51 Sozialhilfe  38 Sozialstaatsprinzip – und Rationierung medizinischer Leistungen  42 f. – und wirtschaftlicher / ökonomischer Behandlungsverzicht  93 Spenderkreisbeschränkungen /  -restriktionen  231, 242, 246 Sterbehilfe – indirekte  103 ff., 213 ff., 300 f. – passive  122 ff., 223 ff., 303 f. Sterben in Würde / menschenwürdig ~ 104, 213 f. Suizid – Geschehenlassen eines freiverantwortlichen Suizids (siehe „Wittig-Fall“)

Teilhabeanspruch, derivativer (siehe derivativer Teilhabeanspruch) Therapiefreiheit  66 f. Tod – in Würde / menschenwürdiger ~  104, 213 f. Totschlag (durch aktives Tun) – und Dogma vom Höchstwert des menschlichen Lebens (siehe Grundsatz vom ~) – und „Fall Putz“  110 ff., 215 ff., 301 f. – und Grundrecht auf Leben  202 ff., 254 ff., 300 f., 301 f., 302 f. – und Grundsatz vom Höchstwert des menschlichen Lebens  256 f., 159 ff. – und Grundsatz vom Vorrang von Personenwerten vor Sachinteressen  272 – und indirekte Sterbehilfe  103 ff., 213 ff., 300 f. – und Lebensschutz  208 ff. – und Notstand  159 ff., 191 ff., 196 ff. – und Notwehr / Nothilfe  117 f., 210 ff., 302 f. – und Verfassung  196 ff., 202 ff., 256 ff. Totschlag (durch Unterlassen) – und Dogma vom Höchstwert des menschlichen Lebens  256 f. – und Grundrecht auf Leben  197, 219 ff., 256 ff., 265 ff. – und Lebensschutz  220 ff. – und „Nierenspende-Fall“  135 ff., 229 ff., 307 f. – und passive Sterbehilfe beim entscheidungsfähigen Patienten  122 ff., 223 ff., 303 f. – und Unterlassen einer lebensrettenden Zwangsheilung beim entscheidungs­ fähigen Patienten  133 ff., 227 ff., 305 f. – und Verfassung  219 ff., 256 ff. – und wirtschaftlicher / ökonomischer Behandlungsverzicht  80 ff., 199, 314 ff., 319 ff., 322 ff.

380 Sachwortverzeichnis – und „Wittig-Fall“  126 ff., 225 ff., 304 f. Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) 103 ff., 108, 112 ff., 127, 214, 217 ff., 224 ff. Transplantationsgesetz (TPG) Transplantationssystem  229 ff., 240 ff., 245 f., 307, 311, 312 Triage  24 Überalterung der Gesellschaft (demographische Entwicklung)  21 Übergriff, privat (siehe Schutzpflicht des Staates) Übermaßverbot (siehe Schutzpflicht des Staates) Unaufschiebbarkeit der Behandlung  29 Unglücksfall (Unterlassene Hilfeleistung) – und Unterlassen einer lebensrettenden Zwangsheilung beim entscheidungs­ fähigen Patienten  307 – und verfassungskonforme Auslegung  293 ff., 305, 307 – und „Wittig-Fall“  129 f., 305 Unterlassene Hilfeleistung – Möglichkeit der Hilfeleistung  129, 297 ff., 305, 307, 309 – und Behandlungspflichten des niedergelassenen Vertragsarztes (GKV-System) 318 f. – und Behandlungsverweigerung vor tatsächlicher Übernahme der Behandlung  58 ff. – und „Nierenspende-Fall“  309 – und Unterlassen einer lebensrettenden Zwangsheilung beim entscheidungs­ fähigen Patienten  305 ff. – und Verfassung  297 ff., 305 ff., 209, 317, 319 ff., 322 ff. – und wirtschaftlicher / ökonomischer Behandlungsverzicht  317, 319 ff., 322 ff. – und „Wittig-Fall“  129 f., 132, 305

– Unglücksfall (siehe Unglücksfall) – Unzumutbarkeit der Hilfeleistung (siehe Zumutbarkeit) – Zumutbarkeit der Hilfeleistung (siehe Zumutbarkeit) Untermaßverbot  205, 221, 235 Umweltschutz  30 Unzumutbarkeit (siehe Zumutbarkeit) Verbrechensaufbau  287 Vergütungssystem, vertragsärztliches  91 f., 318 Vermögensfreiheit – und wirtschaftlicher / ökonomischer Behandlungsverzicht  320, 323 ff. Vertragsarzt, niedergelassener  59, 79 ff., 83 f., 199 f., 314 ff., 318 f. Vollversorgung, medizinische  21, 23 Vorbehalt des Gesetzes (siehe Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes) Vorbehalt des Möglichen (siehe Schutzpflicht des Staates) Vorenthalten / Vorenthaltung medizinischer Leistungen – durch den Arzt  57 ff., 79 ff., 199 f., 314 ff., 319 ff., 322 ff. – durch den Gesetzgeber  25 ff. Vorinformiertheit des Patienten  69 f. Vorrang des Gesetzes (siehe Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes) Warteliste  45, 50 Weltgesundheitsorganisation (WHO) 27 Wesentlichkeitstheorie / -rechtsprechung des BVerfG (siehe Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes) Willkürverbot, gesundheitlich ­geschärftes  40  f. Wirksamkeit der Therapie, marginal  38, 40, 52, 54, 56 Wirtschaftlichkeit der Leistung  36 „Wittig-Fall“  126 ff., 225 ff., 304 ff.

Sachwortverzeichnis381 Zahlungsfähigkeit des Patienten  57 ff. Zahlungsunfähigkeit des Patienten  77 f., 79 ff., 314 ff., 319 ff., 322 ff., 326 ff. Zahlungsunwilligkeit des Patienten  77 f., 79 ff., 314 ff., 319 ff., 322 ff., 326 ff. Zahlungswilligkeit des Patienten  57 ff. Zivilrechtliche Haftung (Arzthaftung) 21, 67 f., 80, 351 Zumutbarkeit (unechtes Unterlassungsdelikt) – dogmatische Einordnung  294, 29 – Opfergrenze  136 ff., 276 – und „Nierenspende-Fall“  136, 308 f. – und verfassungskonforme Auslegung  294 ff. – und wirtschaftlicher / ökonomischer Behandlungsverzicht  81, 315 – und „Wittig-Fall“  127 ff. Zumutbarkeit (Unterlassene Hilfeleistung)

– dogmatische Einordnung  298 – und „Nierenspende-Fall“  309 – und verfassungskonforme Auslegung  297 ff., 305, 317 – und wirtschaftlicher / ökonomischer Behandlungsverzicht  317 – und „Wittig-Fall“  129, 305 Zurechnung, objektive – und „Fall Putz“  113, 117 – verfassungskonforme Auslegung  113, 117, 228 ff. Zusatzversicherung, privat  57, 60 f., 89, 326 Zwangsheilung, lebensrettende – Durchführung einer ~ beim entscheidungsfähigen Patienten  139 ff., 238 ff., 309 f. – Unterlassen einer ~ beim entscheidungsfähigen Patienten  133 ff., 227 ff., 305 f. „Zweiklassenmedizin“  57