Strafrecht und unbestrafte Straftaten: Philosophische Überlegungen zur strafenden Gerechtigkeit und ihren Grenzen 351508987X, 9783515089876

Ist in der Vergangenheit viel über die Legitimation des staatlichen Rechts zu strafen diskutiert worden, so blieb die Fr

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German Pages 166 [168] Year 2007

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Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Philosophische Fragen an das Strafrecht
2. Zielsetzung des Buches
3. Aufbau des Buches, Aktualität der Fragestellung und vorausgesetzte Perspektive
Teil I: Strafrecht und Strafe
Kapitel 1: Das Strafrecht
1. Das Strafrecht als Gegenstand unterschiedlicher Wissenschaften
2. Das materielle Strafrecht
3. Das Strafprozessrecht
4. Das Strafzumessungsrecht
5. Das Strafvollzugsrecht
6. Das Strafrecht als System von Strafgesetzen
7. Das Strafrecht als Recht zu strafen
8. Das Strafrecht als „magna Charta des Verbrechers“
9. Strafrecht oder Kriminalrecht?
10. Strafrecht und Kriminalpolitik
Literaturverzeichnis
Kapitel 2: Die Strafe
1. Das StGB und der Begriff der Strafe
2. Die Strafe als außerrechtliches Phänomen
3. Gesetz und Gerechtigkeit
4. Strafe und Gerechtigkeit
5. Defi nitionen der Strafe
6. Die Strafe als Übel
7. Das vorangegangene Unrecht
8. Der persönliche Charakter der Strafe
9. Die Strafe als künstliches Übel
10. Das hierarchische Verhältnis
11. Der Strafzweck als defi nitorisches Element
Literaturverzeichnis
Kapitel 3: Das Recht zu strafen und die Pflicht zu strafen
1. „Das schreckbarste aller Rechte“
2. Der Zusammenhang zwischen dem Recht zu strafen und der Pflicht zu strafen
3. Gottes Recht zu strafen
4. Naturzustand und Recht zu strafen
5. Der Strafkrieg
6. Die Zentralisierung des individuellen Rechts zu strafen
7. Die Zentralisierung des nationalen Rechts zu strafen
8. Strafen als Pflicht gegenüber der Idee der Gerechtigkeit und gegenüberGott
9. Strafen als Pflicht gegenüber dem Opfer und der Gesellschaft
10. Strafen als Pflicht gegenüber dem Verbrecher
Literaturverzeichnis
Kapitel 4: Der Zweck der Strafe
1. Strafzwecktheorien
2. Der Zweck der Wiedervergeltung
3. Vergeltung und Rache
4. Generalprävention als Strafzweck
5. Feuerbachs Unterscheidung zwischen Strafgesetz und Strafe
6. Spezialprävention als Strafzweck
7. Das Problem der Instrumentalisierung des Bestraften
8. Strafe als Wiederherstellung der Autorität und Würde
9. Strafgesetz, Strafprozess, Strafe
10. Die republikanische Strafzwecktheorie
Literaturverzeichnis
Teil II: Straflosigkeit
Kapitel 5: Die strafrechtliche Immunität
1. Der Begriff der Immunität
2. Absolute und relative Immunität
3. Faktische und rechtliche Immunität
4. Immunität hinsichtlich der Strafe
5. Immunisierung des Täters und Immunisierung der Tat
6. Altersbedingte Immunität
7. Immunität der geistesgestörten Personen
8. Notwehr und Notstand als Immunisierungsgründe
9. Die diplomatische Immunität
10. Die parlamentarische Immunität
11. Die politische Immunität des Souveräns
12. Die Immunität der Befehlsunterworfenen
Literaturverzeichnis
Kapitel 6: Die Verjährung
1. Die Verjährung im Bürgerlichen Recht
2. Zwei Arten der strafrechtlichen Verjährung
3. Tod und Verjährung
4. Pragmatische Gründe für die Verjährung
5. Täterzentrierte Verjährungsgründe
6. Opfer- und gemeinschaftszentrierte Verjährungsgründe
7. Die deutsche Verjährungsdebatte
8. Unverjährbare Verbrechen
Literaturverzeichnis
Kapitel 7: Amnestie
1. Der Begriff der Amnestie
2. Amnestiearten
3. Die athenische Amnestie
4. Heinrich IV. und das Ende der Religionskriege
5. Die südafrikanische Amnestie
6. Die Amnestie im Völkerrecht
7. Gerechtigkeit oder Wahrheit?
8. Gerechtigkeit ohne fairen Prozess?
9. Gerechtigkeit oder Heilung?
10. Die Opfer der Amnestie: Die Opfer der Straftaten
11. Die Opfer der Amnestie: Die Amnestierten
12. Amnestie und politische Souveränität
Literatur
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Strafrecht und unbestrafte Straftaten: Philosophische Überlegungen zur strafenden Gerechtigkeit und ihren Grenzen
 351508987X, 9783515089876

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Norbert Campagna

Strafrecht und unbestrafte Straftaten Philosophische Überlegungen zur strafenden Gerechtigkeit und ihren Grenzen

Rechtsphilosophie Franz Steiner Verlag

Grundlagen der Rechtsphilosophie – Band 3

Norbert Campagna Strafrecht und unbestrafte Straftaten

Grundlagen der Rechtsphilosophie

-----------------------------------Herausgegeben von Annette Brockmöller

Band 3

Norbert Campagna

Strafrecht und unbestrafte Straftaten Philosophische Überlegungen zur strafenden Gerechtigkeit und ihren Grenzen

Franz Steiner Verlag Stuttgart 2007

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-08987-6

Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © 2007 Franz Steiner Verlag, Stuttgart. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Printservice Decker & Bokor, München Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis Einleitung ..................................................................................................

9

1. Philosophische Fragen an das Strafrecht ............................................. 9 2. Zielsetzung des Buches ....................................................................... 11 3. Aufbau des Buches, Aktualität der Fragestellung und vorausgesetzte Perspektive ........................................................................................... 12

Teil I: Strafrecht und Strafe Kapitel 1: Das Strafrecht .......................................................................... 17 1. Das Strafrecht als Gegenstand unterschiedlicher Wissenschaften ...... 2. Das materielle Strafrecht ...................................................................... 3. Das Strafprozessrecht .......................................................................... 4. Das Strafzumessungsrecht .................................................................. 5. Das Strafvollzugsrecht .......................................................................... 6. Das Strafrecht als System von Strafgesetzen ...................................... 7. Das Strafrecht als Recht zu strafen ...................................................... 8. Das Strafrecht als „magna charta des Verbrechers“............................. 9. Strafrecht oder Kriminalrecht ................................................................ 10. Strafrecht und Kriminalpolitik ................................................................ Literaturverzeichnis ....................................................................................

17 17 18 19 20 21 22 23 24 25 28

Kapitel 2: Die Strafe .................................................................................. 29 1. Das StGB und der Begriff der Strafe .................................................... 2. Der außerrechtliche Begriff der Strafe .................................................. 3. Gesetz und Gerechtigkeit ..................................................................... 4. Strafe und Gerechtigkeit ....................................................................... 5. Definitionen der Strafe .......................................................................... 6. Strafe als Übel ...................................................................................... 7. Das vorangegangene Unrecht .............................................................. 8. Der persönliche Charakter der Strafe ................................................... 9. Die Strafe als künstliches Übel ............................................................. 10. Das hierarchische Verhältnis ................................................................ Literaturverzeichnis ....................................................................................

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Kapitel 3: Recht zu strafen und Pflicht zu Strafen ................................. 47 1. „Das schreckbarste aller Rechte“ ......................................................... 2. Zusammenhang zwischen dem Recht zu strafen und der Pflicht zu strafen .............................................................................................. 3. Gottes Recht zu strafen ........................................................................ 4. Naturzustand und Recht zu strafen ......................................................

47 48 50 53

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Inhaltsverzeichnis

5. 6. 7. 8.

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Der Strafkrieg ....................................................................................... Die Zentralisierung des individuellen Rechts zu strafen ....................... Die Zentralisierung des nationalen Rechts zu strafen .......................... Strafen als Pflicht gegenüber der Idee der Gerechtigkeit und gegenüber Gott..................................................................................... 9. Strafen als Pflicht gegenüber dem Opfer und der Gemeinschaft ......... 10. Strafen als Pflicht gegenüber dem Verbrecher ..................................... Literaturverzeichnis ....................................................................................

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Kapitel 4: Der Zweck der Strafe ............................................................... 73 1. Strafzwecktheorien ............................................................................... 2. Der Zweck der Wiedervergeltung ......................................................... 3. Vergeltung und Rache .......................................................................... 4. Generalprävention als Strafzweck ........................................................ 5. Feuerbachs Unterscheidung zwischen Strafgesetz und Strafe ............ 6. Spezialprävention als Strafzweck ......................................................... 7. Das Problem der Instrumentalisierung des Bestraften ......................... 8. Strafe als Wiederherstellung der Autorität und Würde .......................... 9. Strafgesetz, Strafprozess, Strafe .......................................................... 10. Die republikanische Strafzwecktheorie ................................................. Literaturverzeichnis ....................................................................................

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Teil II: Straflosigkeit Kapitel 5: Die strafrechtliche Immunität ................................................. 99 1. Der Begriff der Immunität ..................................................................... 2. Absolute und relative Immunität ........................................................... 3. Faktische und rechtliche Immunität ...................................................... 4. Immunität hinsichtlich der Strafe........................................................... 5. Immunisierung des Täters und Immunisierung der Tat ......................... 6. Altersbedingte Immunität ...................................................................... 7. Immunität der geistesgestörten Personen ............................................ 8. Notwehr und Notstand als Immunisierungsgründe ............................... 9. Die diplomatische Immunität ................................................................ 10. Die parlamentarische Immunität ........................................................... 11. Die politische Immunität des Souveräns............................................... 12. Die Immunität der Befehlsunterworfenen ............................................. Literaturverzeichnis ....................................................................................

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Kapitel 6: Die strafrechtliche Verjährung ................................................ 119 1. 2. 3. 4.

Die Verjährung im bürgerlichen Recht .................................................. Zwei Arten der strafrechtlichen Verjährung........................................... Tod und Verjährung............................................................................... Pragmatische Gründe für die Verjährung .............................................

119 121 122 124

Inhaltsverzeichnis

5. Täterzentrierte Verjährungsgründe ....................................................... 6. Opfer- und gemeinschaftszentrierte Verjährungsgründe ...................... 7. Die deutsche Verjährungsdebatte......................................................... 8. Unverjährbare Verbrechen .................................................................... Literaturverzeichnis ....................................................................................

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Kapitel 7: Die strafrechtliche Amnestie .................................................. 135 1. Der Begriff der Amnestie ...................................................................... 2. Amnestiearten ...................................................................................... 3. Die athenische Amnestie ...................................................................... 4. Heinrich IV. und das Ende der Religionskriege..................................... 5. Die südafrikanische Amnestie .............................................................. 6. Die Amnestie im Völkerrecht ................................................................ 7. Gerechtigkeit oder Wahrheit? ............................................................... 8. Gerechtigkeit oder fairer Prozess? ....................................................... 9. Gerechtigkeit oder Heilung? ................................................................. 10. Die Opfer der Amnestie: Die Opfer der Straftaten ................................ 11. Die Opfer der Amnestie: Die Amnestierten........................................... 12. Amnestie und politische Souveränität .................................................. 13. Gerechtigkeit oder Gerechtigkeit? ........................................................ Literaturverzeichnis ....................................................................................

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Einleitung Das Strafrecht, im engen und objektiven Sinn des Wortes, hat die rechtlich genormte und daher der individuellen Willkür entzogene öffentliche Bestrafung bestimmter Formen menschlichen Handelns bzw. Unterlassens zum Gegenstand. Die vom Strafrecht betroffenen Handlungen werden gewöhnlich als Straftaten bezeichnet und sind ausdrücklich im Strafgesetzbuch – und in einigen anderen Gesetzestexten – festgehalten. Das Strafrecht ist also der Teil des allgemeinen Rechtssystems, der für bestimmte Handlungen die Strafe – die ganz unterschiedliche konkrete Formen annehmen kann – als angemessene und zu verwirklichende Rechtsfolge vorsieht. Eine Strafrechtsnorm enthält gewöhnlich neben der Angabe der strafbaren Handlung auch gleichzeitig die Angabe der vorgesehenen Strafe. 1. Philosophische Fragen an das Strafrecht Was dabei genau als Bestrafung zu verstehen ist, wie die Bestrafung sich zu anderen Phänomenen wie etwa der Rache, der Buße, dem Schadensersatz, usw. verhält, welche unter den vielen Formen menschlichen Verhaltens als strafwürdig befunden und warum sie überhaupt als strafwürdig befunden werden, wer das Recht hat, diesen Befund der Strafwürdigkeit zu machen, welche Bedingungen ein Wesen überhaupt zu erfüllen hat, um erstens bestraft werden zu können – semantische Ebene – und um zweitens bestraft werden zu müssen und bestraft werden zu dürfen – normative Ebene –, ob bestimmte Kategorien der Bevölkerung immun gegen Strafen sind und wenn ja warum, ob das Vergehen der Zeit einen Einfluss auf die Strafbarkeit von Straftätern hat und warum, welche konkrete Formen die Bestrafung annehmen kann, soll und darf, wer das Recht hat, die Bestrafung auszuführen und ob diese strafberechtigte auch zugleich eine strafverpflichtete Instanz ist, wem diese eventuelle Pflicht zu strafen eigentlich geschuldet ist, wie die öffentliche sich zu der privaten Bestrafung verhält und warum schließlich überhaupt bestraft wird oder bestraft werden soll, sind nur einige der wichtigsten prinzipiellen Fragen, die sich im Kontext einer philosophischen Betrachtung des Strafrechts stellen. Eine solche philosophische Betrachtung führt uns natürlich auf das Gebiet der Rechtsphilosophie im engen Sinn des Wortes, wo sich in erster Linie die Frage der Gerechtigkeit stellt, und zwar erstens als Frage nach der Gerechtigkeit des Strafens überhaupt – hier ist die Praxis als solche betroffen – und zweitens als Frage nach der gerechten Strafe – hier wird die Gerechtigkeit der Praxis vorausgesetzt und es wird lediglich nach der Gerechtigkeit konkreter, individueller Strafhandlungen gefragt. Diese philosophische Betrachtung führt uns aber auch über das Gebiet der Rechtsphilosophie hinaus und auf das Gebiet der politischen Philosophie. Hier stellt sich die Frage nach dem Ursprung und nach dem Ausmaß des staatlichen Rechts zu strafen. Es geht also hier um die Legitimität der Strafmacht. Das Gebiet der Rechts- und der Staatsphilosophie wird durch die Frage berührt, ob der Staat immer dann bestrafen muss, wenn es die Gerechtigkeit

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Einleitung

verlangt – vorausgesetzt, sie verlangt es überhaupt –, oder ob er im Namen anderer Werte die sich auf den Wert der Gerechtigkeit stützende Forderung nach einer Bestrafung übergehen kann. Es ist nicht von vornherein klar – oder es dürfte es nicht für eine philosophische Betrachtung sein –, warum etwa gegebenenfalls die öffentliche Ordnung, der Frieden, das Wohl des Bestraften und seiner Verwandten auf dem Altar einer nach Bestrafung verlangenden Strafgerechtigkeit geopfert werden sollten. Auch wenn man eventuell zugibt, dass eine politische Gemeinschaft auf die Stimme der Strafgerechtigkeit hören sollte, folgt daraus noch nicht, dass diese Stimme alle anderen Stimmen zu übertönen hat. Wenn wir noch weiter im Bereich der praktischen Philosophie bleiben, kann uns eine philosophische Betrachtung des Strafrechts auch auf das Gebiet der Moralphilosophie führen, etwa mit der Frage nach der Humanität des Strafens überhaupt und nach der humanen Gestaltung konkreter, individueller Strafen – hier finden wir die globale und lokale Perspektive wieder, auf die wir schon bei der Frage nach der Gerechtigkeit aufmerksam gemacht hatten. Auch wenn jede Strafe ein Übel ist, das Menschen anderen Menschen zufügen, kann man doch zwischen humanen und weniger humanen Formen des Strafens unterscheiden. Man kann auch fragen, ob das Ziel, das man mit Hilfe der Strafe erreichen will, nicht auch durch ein humaneres Mittel als die Strafe erreicht werden kann. Einerseits hätte man also eine Humanisierung des Strafrechts, durch welche der Gedanke der Strafe als solcher nicht in Frage gestellt wird, während man andererseits eine Humanisierung des Rechts überhaupt hat, wobei dann das Strafrecht mit der Strafe aus moralischen Gründen in Frage gestellt wird. Als inhuman werden dann nicht mehr bloß bestimmte Strafen betrachtet, wie etwa das Rädern oder Vierteilen, sondern das Strafen selbst erscheint als inhuman. Eine philosophische Betrachtung des Strafrechts kann uns aber auch über den Bereich der praktischen Philosophie hinaus und in den Bereich der theoretischen Philosophie hinein führen. So etwa mit der ontologischen Frage, ob der Mensch überhaupt frei ist, seine Handlungen zu wählen und also frei ist zu wählen, ob er eine Straftat begehen wird oder nicht. Dabei ist sowohl die Dimension der Vergangenheit wie auch diejenige der Zukunft zu beachten: Hat der Täter sich frei für die Straftat entschieden und kann die Bestrafung eines Täters ihn selbst oder andere dazu führen, sich in Zukunft gegen das Begehen einer Straftat zu entscheiden? Wenn Strafe Schuld voraussetzt und wenn Schuld freies Handeln voraussetzt, dann scheint die Strafe nur dort existieren zu können, wo der Mensch frei handeln kann. Den Stein, der sich von der Felswand losgelöst hat und den Bergsteiger erschlagen hat, wird man nicht bestrafen. Aber ist der Mensch frei? Und was meint man genau damit, wenn man den Menschen als ein freies Wesen bezeichnet? Dass sein Wille weder durch Ursachen – mögen sie biologischer oder sozialer oder sonstiger Natur sein – noch durch Gründe bestimmt wird? Dass sein Wille zwar nicht durch Ursachen, wohl aber durch Gründe bestimmt wird? Dass sein Wille zwar durch Gründe bestimmt wird, nicht aber durch unvernünftige Gründe? Es ist dies eine Frage, die schon in der Vergangenheit diskutiert wurde und immer wieder auf der Agenda stand, bloß dass die

2. Zielsetzung des Buches

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Sprache sich ändert – vom Schicksal in der Antike bis zu den neurobiologischen Erklärungen in der Gegenwart.

2. Zielsetzung des Buches Das vorliegende Buch will sich nicht mit allen bisher angeführten Fragen befassen. Es will sich vielmehr auf die Diskussion eines bestimmten Phänomens konzentrieren, nämlich auf die unbestraften Straftaten. Es sind dies Straftaten, die zwar eigentlich und absolut gesehen bestraft werden müssten, zumindest wenn man das Prinzip zu Grunde legt, dass die Gerechtigkeit von der zum Strafen ermächtigten Instanz verlangt, keine Straftat unbestraft zu lassen, bei denen aber von einer Bestrafung des Täters abgesehen wird. Dabei ist zu bemerken, dass die Unterlassung nicht bloß faktischer Natur ist und etwa dadurch bedingt ist, dass der Täter nicht gefasst werden kann, sondern rechtlich fundiert. Anders gesagt: Manchmal sagt das Rechtssystem selbst, dass bestimmte Handlungen, deren Charakter als Straftat in den meisten Fällen niemand abstreiten kann, unbestraft bleiben sollten. Den für die Verhängung und Vollstreckung einer Strafe zuständigen Instanzen wird es somit rechtlich unmöglich gemacht, ihre Aufgabe wahrzunehmen. Wenn nun aber erstens das Rechtssystem der Gerechtigkeit konform und mit sich selbst konsistent sein soll und zweitens die Gerechtigkeit eine ausnahmslose Bestrafung jeder Straftat verlangt, kann das Rechtssystem keine Straflosigkeit im Falle bestimmter Straftaten vorsehen. Ein allgemeines und kategorisches Strafgebot ist mit Straflosigkeit unvereinbar. Es gibt prinzipiell zwei Möglichkeiten, den sich hier zeigenden Widerspruch aufzulösen. Eine erste besteht darin, keine rechtlich fundierte Straflosigkeit mehr zuzulassen und die faktische Straflosigkeit so weit wie möglich zu reduzieren. Eine zweite Möglichkeit besteht darin, das kategorische Strafgebot aufzugeben. Will man eine begründete Wahl zwischen diesen beiden Möglichkeiten treffen, kommt man nicht daran vorbei, sich mit den normativen Fundamenten abzugeben, auf denen einerseits das Strafgebot und andererseits das für bestimmte Fälle geltende Prinzip der Straflosigkeit beruhen. Welche Werte werden durch die Straftat verletzt? Inwiefern kann die Bestrafung des Täters dazu beitragen, diese Werte zu schützen oder, wo sie schon verletzt wurden, wieder herzustellen? Welche Werte werden durch die Strafe verletzt oder bedroht? Sind diese Werte höherrangig als die durch die Strafe geschützten Werte, so dass die Strafe in bestimmten Fällen der Straflosigkeit Platz machen muss? Können die durch die Strafe zu schützenden Werte nicht auch unabhängig von der Strafe geschützt oder wieder hergestellt werden? Bei diesen Fragen geht es letzten Endes um das Problem der Reaktion auf das Begehen von Handlungen, durch die schützenswerte Güter verletzt werden. Dass irgendwie auf die Handlungen reagiert werden muss, wird wohl kaum in Frage gestellt werden können. Genausowenig wird man in Frage stellen können, dass es angebracht ist, die Zahl solcher Verletzungen soweit wie nur möglich zu mindern. Der Streit entbrennt aber sobald nach der Art der Reaktion und nach den angemessenen Mitteln zur Reduzierung solcher Verletzungen gefragt wird. Die einen sagen, man sollte immer strafen – Strafe als summa

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Einleitung

iustitia –, andere sagen, man sollte nur manchmal strafen – Strafe als ultima ratio –, und wieder andere plädieren für ein Abschaffen des Strafens – Strafe als summa et ultima iniustitia, irrationalitas et inhumanitas.

3. Aufbau des Buches, Aktualität der Fragestellung und vorausgesetzte Perspektive Es soll hier der Versuch gemacht werden, einige der wichtigsten Formen der rechtlich fundierten Straflosigkeit vorzustellen und die Gründe zu ermitteln, durch die sie gerechtfertigt werden können. Der im zweiten Teil des Buches erfolgenden Untersuchung dieser Formen sollen im ersten Teil einige allgemeinere Überlegungen vorausgeschickt werden, die die Strafe als solche betreffen. Die beiden ersten Kapitel wollen die zwei für unser Thema zentralen Begriffe des Strafrechts (Kapitel 1) und der Strafe (Kapitel 2) beleuchten. Es folgt dann eine Untersuchung des Rechts zu strafen und der Pflicht zu strafen, wobei sowohl die Frage nach der Begründung wie auch die Frage nach dem Träger dieses Rechts und dieser Pflicht aufgeworfen wird (Kapitel 3). Diesen die Strafe behandelnden allgemeinen Teil des Buches soll eine Diskussion der möglichen Strafzwecke abrunden (Kapitel 4). Der zweite Teil des Buches befasst sich, wie schon angedeutet, mit einigen der wichtigsten Formen der rechtlich fundierten Straflosigkeit. Eine erste solche Form ist die strafrechtliche Immunität im spezifischen Sinn. Sie betrifft bestimmte Kategorien der Bevölkerung, die wegen spezifischer Eigenschaften strafrechtlich nicht belangt werden können (Kapitel 5). Bei der strafrechtlichen Verjährung ist es das Verstreichen der Zeit, dem eine rechtlich relevante Kraft zuerkannt wird, so dass ein Straftäter nach einer bestimmten Frist nicht mehr vor Gericht gestellt werden kann (Kapitel 6). Als letzte Form der rechtlichen Straflosigkeit soll schließlich noch die Amnestie diskutiert werden. In ihrem Fall bestimmt der Gesetzgeber nach dem Begehen bestimmter Straftaten, dass deren Täter nicht strafrechtlich belangt werden dürfen (Kapitel 7). Es wird hier nicht der Anspruch erhoben, alle Formen der rechtlich fundierten Straflosigkeit dargestellt und untersucht zu haben. Es sollten vielmehr die drei wichtigsten und vor allem auch die drei heute aktuellsten und zugleich kontroversesten Formen hervor gehoben und problematisiert werden. Auf eine detaillierte Behandlung der Gnade wurde verzichtet, da die Gnade immer schon die Bestrafung voraussetzt: Begnadigen kann man immer nur jemanden, der schon zu einer Strafe verurteilt wurde. Immunität, Verjàhrung und Amnestie treten ihrerseits aber schon vor der Bestrafung bzw. lassen sie es nicht zu einer Verurteilung und Bestrafung kommen. Insofern greifen sie schon relativ früh in den strafrechtlichen Mechanismus ein un stellen uns vor Probleme, die grundlegender sind als diejenigen, vor die uns die Begnadigung stellt. Genauso wie auf eine detaillierte Diskussion der Gnade wurde auch auf eine detaillierte Diskussion der gesetzlich als Möglichkeit vorgesehenen Strafmilderung verzichtet. Auch die Strafmilderung setzt die Verurteilung und

Aufbau des Buches, Aktualität der Fragestellung und vorausgesetzte Perspektive

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Bestrafung schon voraus. In diesem Buch wollten wir uns aber nur auf diejenigen Phänomene konzentrieren, die der Verurteilung und Bestrafung in einem gewissen Sinn zuvor kommen. Der vorhin erwähnte kontroverse Charakter betrifft die genannten Formen der Straflosigkeit vor allem dann, wenn sie in einem politischen Kontext zur Anwendung kommen. Was erstens die strafrechtliche Immunität betrifft, so gilt heute das Prinzip, dass auch ein Staatsoberhaupt strafrechtlich verantwortbar gemacht werden kann, dass also das Ausüben der politischen Souveränität nicht mehr vor strafrechtlichen Folgen immunisiert. Gegen Slobodan Milosevic und Saddam Hussein, um nur zwei Beispiele zu nennen, liefen schon Strafprozesse. Ob sie den in sie gesteckten Erwartungen gerecht wurden, kann zumindest bezweifelt werden. Was zweitens die Verjährung betrifft, so hat sich seit den Nürnbergern Prozessen der Gedanke durchgesetzt, dass es bestimmte Straftaten gibt, die nie verjähren sollten. Hierzu zählen in allererster Linie die sogenannten Verbrechen gegen die Menschlichkeit/Menschheit. Und auch die dritte hier diskutierte Form der Straflosigkeit, nämlich die Amnestie, steht im Kreuzfeuer der Kritik seitens der Opfer von Militärdiktaturen und bestimmter Menschenrechtsorganisationen – wie etwa Amnesty International (Organisation die, trotz ihres Namens, strikt gegen die gängige Form der strafrechtlichen Amnestie ist). Vor allem in den drei letzten Jahrzehnten haben nämlich viele Länder den Weg der Amnestie beschritten, um einem Bürgerkrieg, einer Diktatur oder einem Unrechtsregime zu entkommen. Argentinien, Südafrika, Guatemala oder Algerien sind nur einige Namen auf einer langen Liste. Dieses Buch will keine fertigen Lösungen vorlegen, sondern zunächst einmal bisher nur wenig belichtete Probleme in den Vordergrund rücken und die normativ wichtigen Aspekte dieser Probleme darstellen. Vor allem soll der Frage nachgegangen werden, ob die Gerechtigkeit wirklich und in erster Linie verlangt, dass ein Straftäter bestraft wird und ob man das Prinzip Fiat iustitia pereat mundus wirklich bis zu seinen letzten, die Grundlagen der Gemeinschaft – und damit auch der Stätte, in der sich Gerechtigkeit allererst manifestieren kann – gefährdenden Konsequenzen verfolgen sollte. Es soll gleich hier gesagt werden, dass m.E. bei der Reaktion auf eine sogenannte Straftat nicht das mögliche Übel im Vordergrund stehen sollte, das man dem Täter zufügen darf oder soll, sondern die Wiederherstellung der Würde und Handlungsmächtigkeit des Opfers. Durch die kriminelle Handlung wird das System der gegenseitigen Anerkennung der Individuen als Freie und Gleiche gestört. Wo die Integrität dieses Systems ohne Bestrafung bewahrt oder wieder hergestellt werden kann, sollte die Bestrafung unterbleiben. Dem schon begangenen sollte somit womöglich kein neues Übel hinzugefügt werden, sondern der angerichtete – materielle, physische, psychische, soziale – Schaden sollte, so weit wie möglich, beglichen werden. PS. Es wurde jedem Kapitel ein eigenes Literaturverzeichnis angehängt, in dem einerseits alle im Text zitierten Bücher angeführt werden und andererseits weitere interessante Literatur zu dem im jeweiligen Kapitel behandelten Thema. Dadurch sind einige Wiederholungen entstanden, die aber auf ein Minimum gehalten wurden. Von einigen Ausnahmen abgesehen, wurden alle Zitate aus fremdsprachigen Werken von mir ins Deutsche übersetzt.

Teil I Strafrecht und Strafe

Kapitel 1 Das Strafrecht 1. Das Strafrecht als Gegenstand unterschiedlicher Wissenschaften. Das Strafrecht kann zum Gegenstand vieler, sehr unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen werden. So kann es etwa zum Gegenstand der Geschichte werden, die das Strafrecht in den unterschiedlichen geschichtlichen Epochen betrachtet und nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten schaut. Eine solche Geschichte des Strafrechts wird es sich u. a. zur Aufgabe setzen müssen zu ermitteln, wann, wieso und wie die Strafe sich als soziale Institution herausgebildet hat. Auch die Soziologie kann sich des Strafrechts annehmen. Im Mittelpunkt steht dabei die Betrachtung der strafrechtlichen Normen, und vor allem der Rolle, der Befolgung, Implementierung und Akzeptanz dieser Normen in einer bestimmten Gesellschaft. Eine vergleichende Soziologie des Strafrechts wird diese Aspekte in zwei oder mehreren Gesellschaften vergleichen. Von der Soziologie, die sich mit dem Strafrecht als einer sozialen Wirklichkeit, also mit der konkreten sozialen Realisierung der Strafrechtsnormen befasst, ist die Strafrechtswissenschaft zu unterscheiden, deren Gegenstand die Strafrechtsnormen als Elemente eines abstrakt betrachteten Systems sind. Insofern sie sich nur mit dem positiven Strafrecht und mit anderen, für das Strafrecht relevanten positiven Rechtsnormen befasst, ist die Strafrechtswissenschaft eine Strafrechtsdogmatik, legt sie doch nur den Inhalt des positiven Rechts in einem rein juristisch-technischen Verfahren dar. Wo die Strafrechtswissenschaft aber einen normativen Gesichtspunkt einnimmt, der über den Inhalt des positiven Rechts hinaus weist, gleitet die Strafrechtswissenschaft in den Bereich der Strafrechtsphilosophie über. Gewissermaßen eine Zwischenstellung zwischen einer reinen Strafrechtsdogmatik und einer normativen Strafrechtsphilosophie nimmt die Suche nach den die strafrechtlichen Normen zu einem einheitlichen System vereinigenden Prinzipien ein. Auch wenn sie einen allgemeinen Teil enthalten, wagen die meisten Strafgesetzbücher sich nicht bis auf die Ebene der Prinzipien, aus denen sich alle partikularen Strafrechtsnormen ableiten lassen. 2. Das materielle Strafrecht. Hinter dem Vokabel „Strafrecht“ verstecken sich ganz unterschiedliche Normenkomplexe, die zwar alle mit der Bestrafung menschlichen Handelns im Zusammenhang stehen, die aber verschiedene Aspekte oder Momente der Bestrafung zum Gegenstand haben. Im Mittelpunkt steht natürlich das Strafrecht im engeren Sinn, das auch noch materielles Strafrecht genannt wird. Hier wird die Materie bestimmt, ohne die es kein Strafrecht, in welcher Form auch immer, geben würde. Das materielle Strafrecht findet seinen Hauptniederschlag im Strafgesetzbuch, aber man findet es auch in bestimmten anderen Gesetzestexten, wie z. B. dem Straßenverkehrgesetz, wieder – man spricht dann manchmal von Nebenstrafrecht. Im Contrat social meint Jean-Jacques Rousseau, die Strafgesetze seien eigentlich keine besondere Art von Gesetzen, also keine Gesetze, die einen besonderen Bereich von menschlichen Handlungen regeln würden, sondern die Sanktion aller anderen Gesetze

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Kapitel 1: Das Strafrecht

(Rousseau 1962: I, XII). Wenn dies auch eine übertriebene Behauptung ist, da viele Gesetze auch ohne strafrechtliche Sanktion auskommen, so spiegelt sich darin der transversale Charakter der strafrechtlichen Gesetze wider. Prinzipiell könnte allerdings jedes Gesetz mit einer strafrechtlichen Drohung flankiert werden, so dass etwa eine nicht in den vorgeschriebenen Formen vorgenommene Eheschließung nicht nur ungültig wäre, sondern auch die Bestrafung aller oder einiger der beteiligten Personen – etwa des Standesbeamten, wenn der Fehler bei ihm liegt – zur Folge hätte. Bei der Reform des französischen Strafgesetzes im Jahre 1994, hat der Gesetzgeber im neuen Code pénal einen besonderen Teil vorgesehen – Buch V –, in das alle noch außerhalb des Code pénal befindlichen strafrechtlichen Normen aufgenommen werden sollten. Damit sollte der Wunsch zum Ausdruck gebracht werden, alle strafrechtlichen Normen in einem einzigen Dokument zusammenzufassen und sie somit alle zu Bestandteilen des Hauptstrafrechts zu machen. Zur Verwirklichung des Wunsches hat bis heute allerdings der Wille gefehlt. Strafrechtliche Normen im engeren Sinn bestimmen einerseits eine bestimmte Verhaltensform als strafwürdig – sie machen also aus ihr eine Straftat –, und sie legen andererseits eine bestimmte Strafe – was immer seltener der Fall ist –, einen mehr oder weniger weiten Strafrahmen, oder ein Strafhöchstmaß fest: wer das strafbare Verhalten an den Tag legt, kann berechtigterweise mit der vorgesehenen Strafe bestraft werden. So stipuliert etwa Paragraph 167a: „Wer eine Bestattungsfeier absichtlich oder wissentlich stört, wird mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft“. Im ersten Teil dieses Satzes wird eine bestimmte sozial unerwünschte Handlung erwähnt, nämlich das absichtliche oder wissentliche Stören einer Bestattungsfeier, während im zweiten Satzteil eine Strafe als zu erwartende Rechtsfolge für das Begehen der Handlung in Aussicht gestellt wird. Die indikative Ausdrucksform darf hier nicht täuschen: Das materielle Strafrecht macht keine Prophezeiungen über das, was de facto geschehen wird, sondern es legt fest, was de jure geschehen darf bzw. geschehen soll. Die eben zitierte materielle Strafrechtsnorm ermächtigt bzw. berechtigt den Staat, den Störer einer Bestattungsfeier zu bestrafen. Sie erlaubt also einen Eingriff in des Störers Freiheitssphäre die über den bloß die Störung unmittelbar verhindernden Eingriff geht – Entfernung, gegebenenfalls manu militari, vom Störungsort. Manche behaupten, dass die materielle Strafrechtsnormen den Staat nicht nur zur Strafe berechtigen, sondern dass sie ihn auch dazu verpflichten. 3. Das Strafprozessrecht. Neben dem materiellen Strafrecht gibt es das Strafprozess- oder Strafverfahrensrecht, das seinen Hauptniederschlag in der Strafprozessordnung gefunden hat. Das erste bedeutende deutsche Strafrechtsdokument – die Carolina – war in erster Linie eine Festlegung des ordentlichen Strafverfahrens, also, wie sie im Deutschen hieß, eine Gerichtsordnung. Im Strafprozessrecht wird festgelegt, wie hinsichtlich einer vorgegebenen Materie, die den Gegenstand des materiellen Strafrechts bildet, vorgegangen werden soll. Es kann materielles Strafrecht ohne explizites Strafprozessrecht geben. Die Strafe für eine begangene Straftat kann dann von jedem, irgendwo, irgendwann und irgendwie vollstreckt werden und es genügt eigentlich schon die bloße

4. Das Strafzumessungsrecht

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Vermutung, dass der Bestrafte auch der Täter ist. In einem Rechtsstaat ist eine solche Form von Lynchjustiz kategorisch ausgeschlossen, d. h. dass kein Straftäter oder vermuteter Straftäter unmittelbar nach seiner Festnahme und ohne weitere Formalitäten bestraft werden kann, wie sehr er diese Strafe auch verdient haben mag und wie wichtig es auch für den öffentlichen Frieden und die öffentliche Ruhe sein mag, dass die Strafe relativ schnell nach der Straftat vollstreckt wird. Wenn eine Strafe unter rechtsstaatlichen Bedingungen zu erfolgen hat, dann kann sie nur nach einem streng geregelten Prozess – die Angelsachsen sprechen von einem due process of law, einem geschuldeten Rechtsverfahren – verhängt und ausgeführt werden, wobei auch geregelt wird, wie mit dem Tatverdächtigen vor dem Prozess vorzugehen ist – ob er z. B. in Gewahrsam gehalten werden darf, wie lange, unter welchen Bedingungen, usw. Legt das Strafrecht im engeren Sinn gewissermaßen den Grundstein, so regelt das Strafprozessrecht alle Angelegenheiten zwischen dem Begehen der Straftat und dem definitiven Urteilsspruch. Steht beim materiellen Strafrecht vor allem die Berechtigung des Strafens im Vordergrund, so geht es dem Strafprozessrecht vor allem um die Verpflichtung, bei der Ausführung der Strafberechtigung, gewisse Formen einzuhalten. Und genauso wie beim materiellen Strafrecht manche Stimmen behaupten, der Staat habe vorrangig ein Recht zu strafen, von dessen Ausübung er aber, wenn er es für nötig oder nützlich findet, absehen kann, also nicht verpflichtet ist, jede Straftat auch mit einer Strafe zu ahnden, gibt es Stimmen die hinsichtlich des Strafprozessrechts behaupten, der Staat habe zwar eine prima facie Verpflichtung, die in der Strafprozessordnung festgehaltenen Formen einzuhalten, aber er dürfe sich manchmal das Recht nehmen, von diesen Formen abzusehen. Die Frage ist also, ob und inwiefern materielles Strafrecht und Strafprozessrecht den Staat absolut verpflichten – das erste, zu strafen, das zweite, nur gemäß bestimmten, oft ganz schwerfälligen und für Formfehler – die oft zur Freilassung des Angeklagten führen – besonders anfällige Formen zu strafen. 4. Das Strafzumessungsrecht. Bei dem am Ende des Strafprozesses zu erfolgenden Urteilsspruch, spielt heute das Strafzumessungs- oder auch noch Strafbemessungsrecht eine immer größere Rolle. Es ließe sich sicherlich ein System ausdenken, das für jede Straftat eine genau bestimmte Strafe zulässt und das es verbietet, die Strafhöhe in irgendeiner Weise, sei es nach oben oder nach unten, zu modulieren. Ein solches System würde von der allgemeinen Äquivalenz bestimmter Straftaten ausgehen und nur die Straftat als solche betrachten. Für viele Autoren der Aufklärungszeit galt ein solches starres System als Ideal, bildete es doch den Gegenpol zu dem oft willkürlich angewandten Strafrecht des Absolutismus. Wichtig war diesen Autoren die Rechtssicherheit und die Gleichheit vor dem Gesetz: Jeder sollte ganz genau wissen, welche Strafe ihn im Falle einer begangenen Straftat erwartete, und jeder der eine bestimmte Straftat beging sollte genau diesselbe Strafe erleiden. Dem richterlichen Ermessen wollte man keinen Platz lassen, hieße das doch, der möglichen Willkür eines Individuums Platz machen. Die meisten modernen Strafrechtsysteme beruhen aber auf einem komplexeren Modell und legen oft einen Strafrahmen fest, innerhalb dessen der

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Kapitel 1: Das Strafrecht

Richter eine Strafe wählen kann. Desöfteren wird nur eine Höchststrafe festgelegt, über die der Richter nicht gehen darf, die er aber, so wie er für es nötig und nützlich achtet, unterschreiten darf. Es gibt auch Normen, die dem Richter die Möglichkeit lassen, zwischen Typen von Strafen zu wählen – meistens zwischen einer Freiheits- und einer Geldstrafe. Manchmal besteht sogar für den Richter die Möglichkeit, ganz von der Bestrafung abzusehen. Der Richter steht demnach nicht mehr vor einem Gesetz, das ihm ganz genau sagt, welche Strafe er anwenden soll, sondern es wird ihm das Recht überlassen, innerhalb eines bestimmten Rahmens selbst zu ermessen, welche Strafe er verhängt. Berücksichtigt wird dabei nicht mehr nur die Straftat als solche, sondern auch der Straftäter und die Gesellschaft insgesamt. Die Bemessung des adäquaten Strafmaßes, also die Bestimmung der gerechten Strafe, erfolgt vor dem Hintergrund der je spezifischen Identität des Straftäters und der je spezifischen gesamtgesellschaftlichen Konstellation. Das Strafzumessungsrecht, dessen Elemente man im Strafgesetzbuch wiederfinden kann – Paragraphen 46 bis 51 –, soll einerseits dem Richter helfen, ein dem Einzelfall in seiner ganzen Komplexität gerechtes Urteil zu fällen, dadurch aber gleichzeitig und andererseits, seine Willkür einschränken. Das Strafzurechnungsrecht spiegelt den Willen einer Individualisierung der strafrechtlichen Reaktion wider. Das Strafzumessungsrecht, zumal wenn es nicht nur einen Strafrahmen definiert, sondern darüber hinaus gehend die Möglichkeit vorsieht, von einer Strafe abzusehen, wirft die Frage nach derjenigen Instanz auf, die letzten Endes über die Bestrafung entscheiden darf. Das Strafzumessungsrecht legt diese Entscheidungskompetenz in die Hände des Richters. 5. Das Strafvollzugsrecht. Ist der Straftäter zu einer bestimmten Strafe verurteilt worden, wird das Strafvollzugsrecht relevant, das seinen Hauptausdruck im Strafvollzugsgesetz findet. Das heutige Strafrecht bleibt also nicht mehr nur bei der Bestimmung der Straftaten und der mit ihnen verbundenen Strafen stehen, sondern es interessiert sich auch für das Schicksal des Bestraften. Der Ablauf der Strafe bzw. die Bedingungen des Strafvollzugs, angefangen beim Vollzug der Freiheitsstrafe, die in den letzten zwei Jahrhunderten zur paradigmatischen Form der Kriminalstrafe geworden ist, sind somit zu einem eigenständigen Rechtsgegenstand geworden. Sorgt das Strafprozessrecht dafür, dass der Beschuldigte bzw. Angeklagte nicht der Willkür der ermittelnden Instanzen und des Gerichtes ausgesetzt ist, so sorgt das Strafvollzugsrecht dafür, dass der Verurteilte nicht der Willkür der strafvollziehenden Instanzen ausgeliefert ist. Besonders wichtig ist im Zusammenhang mit dem Strafvollzugsrecht die Tatsache, dass auch noch während des Vollzugs auf die verhängte Strafe eingewirkt werden kann. Die vom Gericht verhängte Strafe ist nicht mehr das letzte Wort und im Rahmen des Vollzugs kann auch auf sie eingewirkt werden. Eine Verurteilung zu zehn Jahren Freiheitsstrafe bedeutet heute nicht mehr unbedingt, dass man tatsächlich zehn Jahre in einem Gefängnis bleiben wird. So kann man etwa schon nach fünf Jahren wegen guten Benehmens wieder auf freien Fuß gesetzt werden. Neben der Strafzumessung gibt es also auch so etwas wie eine Strafvollstreckungszumessung, bei der es darum geht, im

6. Das Strafrecht als System von Strafgesetzen

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Einzelfall zu bestimmen, wann die Vollstreckung einer von einem ordentlichen Gericht verhängten Strafe unterbrochen werden darf oder gar muss. Eine solche Einwirkung auf den Strafvollzug, und vor allem auf seine Dauer, ist natürlich nicht neu. Seit jeher verfügte der Souverän über das Gnadenrecht, durch das er den Strafvollzug im Einzelfall unterbrechen konnte. Neu ist, dass heute der Souverän mit seinem Gnadenrecht, wenn nicht in den Hintergrund gedrängt wird, so doch Konkurrenz von richterlicher Seite erhält. 6. Das Strafrecht als System von Strafgesetzen. Das Strafrecht, so wurde gesagt, hat die Bestrafung bestimmter Formen menschlichen Handelns bzw. Unterlassens zum Gegenstand. Der Begriff „Recht“ in „Strafrecht“ kann dabei verschiedene Bedeutungen haben, und je nachdem welche Bedeutung man dem Begriff gibt, rückt eine andere Dimension des Strafrechts in den Mittelpunkt. Unter Recht verstehen wir erstens ein System von meist staatlichen Normen, durch welche die zwischenmenschlichen Beziehungen geregelt werden sollen, so dass Ordnung, Sicherheit und Frieden herrschen und jeder ein System von mehr oder weniger zuverlässigen Erwartungen gegenüber seinen Mitmenschen aufbauen kann. So sprechen wir vom Bürgerlichen Recht, vom Arbeitsrecht, vom Verwaltungsrecht, vom Steuerrecht, usw. Jede dieser Rechtsdisziplinen befasst sich mit einem bestimmten Aspekt oder einer bestimmten Dimension des menschlichen Zusammenlebens. So regelt etwa das Arbeitsrecht die Verhältnisse zwischen den am Arbeitsprozess beteiligten Partner. Das Strafrecht, das heutzutage einen Teil des öffentlichen Rechts bildet, ist nicht eigentlich ein Rechtsgebiet neben den anderen, insofern es sich mit einem ganz bestimmten Aspekt des menschlichen Zusammenlebens befassen würde, sondern es greift in die unterschiedlichen Sphären des menschlichen Lebens ein und ist insofern transversal. Wenn etwa ein Ehemann seine Frau oder seine Kinder schlägt, greift nicht (nur) das Familienrecht ein, sondern (auch) das Strafrecht. Und wenn ein Arbeitgeber seine Arbeitnehmer peitscht, damit sie effizienter arbeiten, so ist das kein Fall für die Arbeitsgerichte, sondern für die Strafgerichtsbarkeit. In diesen beiden Beispielen liegt ein Verstoß gegen Paragraph 223 StGB vor: „Wer eine andere Person körperlich mißhandelt oder an der Gesundheit schädigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft“. In allen Rechtsgebieten wo Menschen einander absichtlich oder durch Fahrlässigkeit einen großen Schaden zufügen können, öffnet sich ein Einfallstor für das Strafrecht. Das Strafrecht ist in allererster Linie durch das von ihm benutzte Mittel der Strafe wirksam. Es kann somit den Normen anderer Rechtsgebiete Nachdruck verleihen und ihnen dadurch helfen, einen größeren Einfluß auf das Verhalten der Handelnden auszuüben. Bestimmt etwa das Arbeitsrecht, um ein fiktives Beispiel zu geben, dass eine Entlassung nur dann gültig ist, wenn sie mindestens einen Monat vor dem Entlassungsdatum dem Betroffenen schriftlich per eingeschriebenem Brief mitgeteilt wird, so kann das Nicht-Einhalten dieser Bestimmung seitens des Arbeitgebers unter Strafe gestellt werden. Eine die Bedingungen nicht erfüllende Entlassung wäre dann nicht nur ungültig und rechtlich wirkungslos, sondern sie würde für den Arbeitgeber auch noch straf-

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Kapitel 1: Das Strafrecht

rechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Prinzipiell kann so gut wie jede Norm aus fast allen anderen Rechtsgebieten in eine strafrechtliche Norm verwandelt und das durch diese Norm untersagte Verhalten somit kriminalisiert werden. Das Strafrecht – und gemeint ist hier natürlich vor allem das materielle Strafrecht – ist somit zuerst ein eigenartiges System von Normen, die sich in erster Linie dadurch kennzeichnen, dass sie bestimmte Handlungen bzw. Unterlassungen mit Strafen belegen. Hatten wir oben auf den französischen Code Pénal aufmerksam gemacht, der sich am Ideal eines alle strafrechtlichen Normen aus allen Rechtsbereichen enthaltenden Kodexes orientiert, so könnte man auch eine genau entgegengesetzte Lösung anstreben und das Strafgesetzbuch in andere Gesetzbücher integrieren. Aus dem „Wer eine andere Person mißhandelt …“ würde dann im Arbeitsstrafrecht „Wenn ein Arbeitgeber einen Arbeitnehmer oder ein Arbeitnehmer einen Arbeitgeber oder ein Arbeitnehmer einen Arbeitnehmer oder ein Arbeitgeber einen Arbeitgeber mißhandelt …“. und im Familienstrafrecht hätten wir: „Wenn ein Ehemann seine Ehefrau oder eine Ehefrau ihren Ehemann oder ein Konkubin seine Konkubine oder einen Konkubine ihren Konkubinen, usw. mißhandelt …“. 7. Das Strafrecht als Recht zu strafen. Als allgemeines Normensystem berechtigt das Strafrecht bestimmte Instanzen, Handlungen auszuführen die, wenn sie nicht durch eben dieses System von Normen abgedeckt wären, selbst einen Anlass für strafrechtliche Schritte liefern würden. Das Strafrecht ist in diesem Sinne ein zur Strafe berechtigendes Recht, wobei allerdings sogleich betont werden muss, dass sich das Strafrecht nicht über die allgemeine Begründung des Rechts zu strafen äußert, sondern vielmehr die Existenz eines solchen allgemeinen Rechts voraussetzt, um dann Fälle festzulegen, in denen bestimmte speziell dazu befugte Instanzen dieses Recht ausüben dürfen. Wenn zum Beispiel das StGB in seinem Paragraphen 172 bestimmt, dass, „wer eine Ehe schließt, obwohl er verheiratet ist, oder wer mit einem Verheirateten eine Ehe schließt, [der] wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft“, so ist dies nicht als Beschreibung oder Voraussage eines naturgesetzlich eintretenden Ereignisses zu verstehen, so als ob man sagen würde, dass wer ein Kilogramm Kirschen ißt und unmittelbar darauf zwei Liter Wasser trinkt, gehörige Bauchschmerzen verspüren wird. Die Strafrechtsnormen beschreiben nicht, sondern stellen einen berechtigenden Zusammenhang her zwischen einer bestimmten Handlung bzw. Unterlassung und einer Strafe. Die Freiheitsstrafe tritt nicht auf natürliche Weise ein, sondern sie muss von einer menschlichen Instanz durchgeführt werden. Das heißt, dass ein Mensch einem anderen Menschen ein Übel zufügen muss. Die eben zitierte strafrechtliche Norm rechtfertigt diese Übelszufügung im Fall der Doppelehe. Die Existenz des Paragraphen 172 rechtfertigt also den Richter dazu, jemanden der die Bedingungen des Tatbestandes erfüllt, mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit einer Geldstrafe zu bestrafen. Und ist der Angeklagte in letzter Instanz zu einer zweijährigen Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt worden, darf die Polizei den Verurteilten festnehmen und in ein Gefängnis bringen. Träger des staatlichen Rechts zu strafen sind heute immer Beamte, und das Recht zu strafen ist nicht an ihre empirische Person sondern an ihre Funktion

8. Das Strafrecht als „magna Charta des Verbrechers“

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gebunden. Für die Philosophie ist in diesem Zusammenhang die Frage wichtig, wie das Recht zu strafen sich begründen lässt, handelt es sich doch um ein Recht, anderen Menschen ein Übel zuzufügen. Dabei sind zwei Fragen zu unterscheiden. Die erste betrifft das Recht zu strafen als solches – also: Dürfen Menschen einander überhaupt bestrafen, und wenn ja, warum? –, während die zweite nach dem legitimen Träger dieses Rechtes fragt – also: Gesetzt Menschen dürfen einander unter bestimmten Bedingungen bestrafen, von wem darf dieses Recht ausgeübt werden und warum? 8. Das Strafrecht als „magna Charta des Verbrechers“. Das Strafrecht setzt das Recht zu strafen voraus und es berechtigt im konkreten, unter das allgemeine Gesetz fallenden Fall zu bestrafen. Gleichzeitig beschränkt das Strafrecht aber auch die Ausübung des Rechtes zu strafen. Einem sich anarchisch entfaltenden Strafen steht somit ein rechtlich geordnetes Strafen gegenüber – und die schon erwähnte Carolina sollte zu ihrer Zeit einem wilden und gesetzlosen Strafen ein Ende setzen, indem sie eine geregelte Prozedur einführte, wie man sie etwa aus dem Römischen Recht kannte. Menschen dürfen andere Menschen bestrafen, aber sie müssen sich dabei an bestimmte rechtliche Formen halten. Verletzen sie diese Formen, so machen sie sich gegebenenfalls selbst strafbar. Wenn man also einerseits sagen kann, dass die in den Normen des materiellen Strafrechts enthaltenen Strafandrohungen die Allgemeinheit schützen sollen, indem sie potentielle Täter abschrecken, so muss man doch auch andererseits sagen, dass das Strafrecht, insofern es die Verhängung und Vollstreckung von Strafen an bestimmte rechtliche Formalitäten bindet, auch den einer Straftat Verdächtigten, den einer Straftat Angeklagten und den wegen einer Straftat Verurteilten vor der Willkür seiner Mitbürger und der staatlichen Instanzen schützt. Das Strafrecht erfüllt somit eine das Recht überhaupt kennzeichnende Funktion, nämlich die Funktion der Sicherung durch Bindung der Gewalten an bestimmte Formen. Insofern hat das Strafrecht auch einen die strafrechtsverwirklichenden Instanzen verpflichtenden Charakter. Der deutsche Strafrechtler Franz von Liszt hat im Strafgesetz „die magna charta des Verbrechers“ gesehen (von Liszt 1900: 66). Es verhindert, so Liszt weiter, „dass an Stelle der individuellen Verschuldung die soziale Gefahr gesetzt wird“. Ganz allgemein gesprochen, wird die Person, mag sie unbeschuldigt, beschuldigt, angeklagt oder verurteilt sein, durch das Strafrecht in zumindest drei seiner Formen geschützt. Einen Unbeschuldigten kann man nicht beschuldigen, wenn es keine Hinweise dafür gibt, dass er eine im StGB – wenn wir uns auf die Normen des StGB beschränken – festgelegte Norm verletzt hat. Das materielle Strafrecht schützt somit jederman vor willkürlichen Verhaftungen. Den Beschuldigten und Angeklagten schützt vor allem das Strafprozessrecht, was Uwe Wesel zu der Feststellung führt, das Strafverfahrensrecht sei für den Angeklagten oft wichtiger als das materielle Strafrecht (Wesel 1994: 134). Das Strafvollzugsrecht schließlich, schützt den Verurteilten vor menschenunwürdigen Haftbedingungen. Auch nach seiner Verurteilung ist der für schuldig Gesprochene noch als Mensch zu betrachten und die Haft, die ein ihm zugefügtes Übel ist, muss so gestaltet sein, dass sie die elementaren Rechte der menschlichen Person nicht verletzt.

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Kapitel 1: Das Strafrecht

Insofern es ein Strafrecht gibt, hat jeder Straftäter, ob bloß vermuteter oder wirklicher, ein Recht zu fordern, dass die strafrechtlichen Normen aufs genaueste von allen sie verwirklichenden Instanzen eingehalten werden. Dies gesetzt für den Fall, dass der Staat sich dieser Normen bedienen will. Eine ganz andere Frage ist es, ob der Straftäter auch ein Recht hat vom Staat zu fordern, dass ihm ein Prozess gemacht und dass die für seine Tat vorgesehene Strafe verhängt wird, also ob es so etwas wie ein Recht gibt, im Falle einer Straftat bestraft zu werden. Dieses Recht darf nicht mit dem eventuellen Recht der Gemeinschaft verwechselt werden, die Bestrafung eines jeden Straftäters zu verlangen. 9. Strafrecht oder Kriminalrecht? Das Strafrecht wird oder wurde zumindest auch noch manchmal Kriminalrecht oder Kriminalstrafrecht genannt. Auch wenn diese Begriffe ganz oft denselben Normenkomplex bezeichnen, rücken sie doch ganz unterschiedliche Elemente in den Vordergrund. Indem eine Gesellschaft diesen oder jenen Begriff vorzieht, bringt sie, bewusst oder unbewusst, eine bestimmte Einstellung zum Ausdruck. Spricht man von Strafrecht, so denkt man unweigerlich an das Strafen, was nicht der Fall ist, wenn von Kriminalrecht die Rede ist. Hinter der bloßen Wortwahl kann sich eine ganz andere Wahl verstecken, nämlich die Wahl einer bestimmten Umgangsart mit den kriminellen Handlungen. Das Wort „Strafrecht“ legt den Akzent auf die Strafe als Rechtsfolge der Straftat. Es kann als die rechtliche Regulierung der Praxis des Strafens betrachtet werden, wobei die Strafe als geeignete Antwort auf das Verbrechen oder als geeignete Verhinderungsmaßnahme vorausgesetzt wird. In der Vergangenheit wurde in diesem Zusammenhang auch oft von peinlichem Recht gesprochen, da die Strafe dem Bestraften eine „Pein“, also ein Übel zufügt. Zu erwähnen ist hier etwa die Peinliche Gerichtsordnung Karls V. aus dem Jahre 1532 (Constitutio Criminalis Carolina), die bis ins 19. Jahrhundert das deutsche Strafrecht bestimmte. Bei der Carolina handelte es sich eigentlich um eine Strafprozessordnung, die aber zugleich ein Strafgesetzbuch enthielt. Es ging also primär darum, die für die Durchsetzung des Strafrechts zuständigen Instanzen einer rechtlich bestimmten Prozedur zu unterwerfen, so dass nicht mehr die bloße Willkür des Richters ausschlaggebend war. Dass bei diesem Unternehmen auch die Frage auftauchen musste, welche Handlungen bzw. Unterlassungen als strafwürdig anzusehen seien und welche Strafen für sie vorgesehen werden müssten, leuchtet ein. Der Carolina vorausgegangen waren sogenannte Halsgerichtsordnungen – am bekanntesten ist wohl die Bambergensis aus dem Jahre 1507. Auch hier stand der Aspekt der Strafe dem Begriff Pate: Das Halsgericht konnte Strafen verhängen, die dem Delinquenten den Hals, sprich das Leben kosteten. Legt das heute dominante Wort „Strafrecht“ den Akzent auf die Rechtsfolge der Straftat, so legt das heute kaum noch gebräuchliche Wort „Kriminalrecht“ – die meisten deutschen Lehrbücher erwähnen es nicht einmal mehr – den Akzent auf das, was zur Strafe Anlass gibt, also auf die Straftat (lat. crimen), und besonders auf die schlimmsten Straftaten, nämlich die Verbrechen. Das Kriminalrecht, könnte man sagen, hat die rechtliche Regulierung des Umgangs mit den Verbrechen und den Verbrechern zum Gegenstand, wobei das Wort

10. Strafrecht und Kriminalpolitik

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nicht schon eine bestimmte Antwort auf das Verbrechen als angemessen voraussetzt – auch wenn sicherlich zugegeben werden muss, dass die meisten Autoren die das Wort verwendeten, die Strafe als normale Antwort akzeptierten. Vorausgesetzt wird im Prinzip nur, dass die auf das Verbrechen gegebene Antwort bestimmten rechtlichen Maßstäben entsprechen muss. Gebraucht wird das Wort „Kriminalrecht“ vor allem in der Übergangszeit vom 18. zum 19. Jahrhundert. Zu erwähnen sind hier etwa Hommels Philosophische Gedanken über das Criminalrecht aus dem Jahre 1784 oder Böhmers 1816 erschienenes Handbuch der Litteratur des Kriminalrechts. In dieser Zeit steht es allerdings in direkter Konkurrenz mit der Bezeichnung „peinliches Recht“ – Feuerbachs 1799 erschienenes Hauptwerk trägt den Titel Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts. Auch das Wort „Strafrecht“ ist damals schon im Gebrauch, und Karl Grolman wird innerhalb nur eines Jahres sowohl Grundsätze der Criminalrechtswissenschaft nebst einer systematischen Darstellung des Geistes der deutschen Criminalgesetze (1798), wie ein Werk Ueber die Begründung des Strafrechts und der Strafgesetzgebung, nebst einer Entwicklung der Lehre von dem Masstabe der Strafen und der juridischen Imputation (1799) veröffentlichen. Die Wörter sind zwar verschieden, aber für den Autor scheinen sie im wesentlichen dasselbe auszudrücken. Die Bezeichnung „Kriminalrecht“ (bzw. „Criminalrecht“) erhält sich noch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein – Köstlin veröffentlicht 1845 eine Neue Revision der Grundbegriffe des Criminalrechts. Das Wort „Kriminalstrafrecht“, schließlich, umfasst beide Dimensionen: Es ist das Recht, das sich einerseits mit dem Verbrechen, andererseits mit der Strafe befasst. Es ist heute kaum noch geläufig, bezeichnet allerdings eine Wirklichkeit, die während Jahrhunderten von dem Polizeistrafrecht unterschieden wurde. Befasst letzteres sich mit den sogenannten Ordnungswidrigkeiten – die nicht Gegenstand des StGB, sondern des Ordnungswidrigkeitengesetzes sind –, so befasst sich ersteres mit den Verbrechen und Vergehen. Ordnungswidrigkeiten werden nicht durch eine Kriminalstrafe, sondern durch eine Geldbuße geahndet. Auch wenn in der Vergangenheit diese unterschiedlichen Wörter ganz oft dasselbe rechtliche Phänomen bezeichneten, sollte man sich doch heute die Frage stellen, ob man die mit diesen Wörtern gegebenen Unterscheidungsmöglichkeiten nicht benutzen sollte, um neben dem klassischen Strafrecht, das die Strafe als angemessene Antwort auf die Vergehen und Verbrechen voraussetzt und andere Antworten höchstens als Ausnahmen vorsieht, auch ein Kriminalrecht zu haben, in dem nicht-punitive Antworten rechtlich festgehalten und reguliert werden. In diesem Kontext wird man natürlich auch das Wort „Straftat“ hinterfragen müssen. 10. Strafrecht und Kriminalpolitik. Das Strafrecht oder Kriminal(straf)recht darf nicht mit der Kriminalpolitik verwechselt werden, auch wenn es einen – nicht notwendiger- aber doch möglicherweise dominanten – Aspekt einer solchen Politik bilden kann. Das Strafrecht ist Kriminalpolitik mit bestimmten, nämlich pönalen, Mitteln. Außerdem verweist der Begriff des Strafrechts auf eine rechtliche Dimension, die beim Begriff der Kriminalpolitik noch nicht un-

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Kapitel 1: Das Strafrecht

mittelbar als solche gegeben ist. Eine Kriminalpolitik kann sich im Prinzip über alle rechtlichen Schranken erheben, nicht aber das Straf- oder Kriminalrecht, das schon von seinem Begriff her den Aspekt der rechtlichen Einschränkung enthält. Unter Kriminalpolitik versteht man ganz allgemein den staatlichen Umgang mit dem Phänomen der Kriminalität, oder allgemeiner, mit dem Phänomen sozial unerwünschten Handelns bzw. Unterlassens, also mit dem, was man als Unrecht bezeichnen könnte. Ob bestimmte Formen eines solchen sozial unerwünschten Handelns bzw. Unterlassens als Straftaten angesehen werden sollen, d. h., ob das Begehen bzw. das Unterlassen bestimmter Handlungen unter Strafe gestellt werden soll, ist keine Frage des Strafrechts, sondern der Kriminalpolitik. Das Strafrecht aktiert hier nur die im Rahmen der Kriminalpolitik getroffenen Entscheidungen, wobei diese Aktierung rechtlich verbindlich ist. Die Pönalisierung bestimmter Handlungen bzw. Unterlassungen ist eine unter vielen möglichen Optionen der Kriminalpolitik. Das Wort „Kriminalpolitik“ kann dabei irreführend sein, setzt es doch voraus, dass diese Politik es nur mit Straftaten zu tun hat. Nun sind Straftaten aber keine „natürliche Art“, sprich sie existieren nicht an sich, sondern sie entstehen erst durch eine Entscheidung des Gesetzgebers. Diese Entscheidung ist natürlich nicht willkürlich, sondern setzt die Existenz bestimmter Formen sozial unerwünschten Handelns bzw. Unterlassens voraus. Kriminalpolitik kann es nun selbstverständlich mit schon existenten Straftaten zu tun haben und z. B. danach fragen, ob man bestimmte Handlungen bzw. Unterlassungen aus der Menge der Straftaten entfernen (Entkriminalisierung) oder für bestimmte Fälle, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind, keine Bestrafung vorsehen (Depönalisierung) soll. Kriminalpolitik fragt ganz allgemein danach, welche Strategie am wirksamsten dazu beitragen kann, dass bestimmte Straftaten nicht mehr ausgeübt werden oder dass zumindest ihre Zahl auf eine signifikante Art und Weise reduziert wird. Naucke identifiziert die Kriminalpolitik mit den „Bemühungen um die Zurückdrängung oder Abschaffung der Kriminalität“ (Naucke 1995: 45, Rn 183). Eine sozusagen semantische Abschaffung der Kriminalität bestünde in der Abschaffung des StGB. Kriminalität im rechtstechnischen Sinn gibt es nämlich nur solange, wie es strafrechtliche Normen gibt, die bestimmte Handlungen oder Unterlassungen als Straftaten charakterisieren. Die Abschaffung dieser Normen kommt demnach einer Abschaffung der Kriminalität gleich, nicht aber, und das ist der wesentliche Punkt, des sozial unerwünschten Handelns bzw. Unterlassens. Und letztendlich geht es der Kriminalpolitik darum, wie sie dieses Handeln bzw. Unterlassen, oder zumindest bestimmter, besonders störender Formen davon, reduzieren oder abschaffen kann. Eine pönale Zurückdrängung oder Abschaffung der Kriminalität bzw. allgemeiner gesprochen, des sozial unerwünschten Handelns und Unterlassens macht von Strafen Gebrauch. Dabei kann die scheinbar paradoxe Situation auftauchen, dass man zunächst absichtlich die Zahl der Straftaten erhöht, um sie dadurch besser mindern zu können – eine Erhöhung, also, die eine Verminderung zur Folge hat. Das Paradox verschwindet dadurch, dass man

10. Strafrecht und Kriminalpolitik

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zwischen der Straftat als rechtlich definierter Tat und der Straftat als konkreter Handlung unterscheidet. Durch die Pönalisierung eines Handelns oder Unterlassens entsteht ein neues Verbrechen oder Vergehen. Dadurch aber, dass die nunmehr als Verbrechen oder Vergehen angesehene Form unerwünschten sozialen Handelns unter Strafe gestellt wird, entsteht bei den Rechtssubjekten ein neues, oft ganz starkes Motiv, das Handeln nicht auszuführen bzw. nicht zu unterlassen. Die Frequenz des unerwünschten Handelns nimmt somit ab. De jure gibt es mehr Verbrechen und Vergehen, und de facto gibt es weniger sozial unerwünschte Handlungen oder Unterlassungen die als Verbrechen oder Vergehen bezeichnet werden. Eine sozialpolitische Zurückdrängung oder Abschaffung der Kriminalität wird sich mit den sozialen Wurzeln des sozial unerwünschten Handelns bzw. Unterlassens befassen. An erster Stelle stehen hier Armut, Arbeitslosigkeit, Verwahrlosung der Kinder, usw. Durch eine voluntaristische Arbeitsmarkt-, Sozial-, Familien- oder noch Erziehungspolitik, sollen diese sozialen Wurzeln der Kriminalität ausgemerzt werden. Hier wird also nicht, wie bei der pönalen Lösung, repressiv vorgegangen, sondern präventiv. Es geht nicht darum, Angst vor einer möglichen Bestrafung zu erwecken, sondern Bedingungen zu schaffen, die von bestimmten Formen sozial unerwünschten Handelns bzw. Unterlassens abhalten. Es ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass eine präventive und eine repressive Kriminalpolitik sich gegenseitig ergänzen. Kriminalpolitische Entscheidungen können vorwärts- oder rückwärtsgewandt sein. Nach vorwärts schauen sie in den eben genannten Fällen: Es geht darum zu erreichen, dass das sozial unerwünschte Handeln bzw. Unterlassen in Zukunft reduziert, wenn nicht sogar abgeschafft wird. Die Kriminalpolitik kann aber auch manchmal rückwärtsgewandt sein, und zwar vor allem dann, wenn es um die sogenannte Aufarbeitung massiven vergangenen Unrechts geht. Deutschland stand anläßlich zweier Gelegenheiten vor dieser Frage. Ein erstes Mal nach dem Untergang des Dritten Reiches – und die Nachbeben dauerten bis Ende der 60er Jahre, wo es um eine Verlängerung der Verjährungsfrist für Naziverbrechen ging – und ein zweites Mal nach dem Fall der Berliner Mauer und der Wiedervereinigung – mit, u. a., den sogenannten Mauerschützenprozessen. Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob und inwiefern der Staat dazu verpflichtet ist, strafrechtliche Normen zu erlassen und diese Normen dann auch voll zur Geltung zu bringen. Ist der Staat nur allgemein dazu verpflichtet, die Menge sozial unerwünschter Handlungen bzw. Unterlassungen auf ein Minimum zu reduzieren, oder steht er auch unter der spezifischen Verpflichtung, dieses Ziel durch das Erlassen strafrechtlicher Normen und, falls die Norm verletzt wird, die tatsächliche Implementierung der in der strafrechtlichen Norm angedrohten Strafe zu erreichen? Widerspricht ein Staat, der den kriminellen Handlungen nicht mit einer pönalen Antwort begegnet, einem kategorischen strafrechtlichen Imperativ oder bloß einem hypothetischen strafrechtlichen Imperativ? Wäre eine Abschaffung des Strafens, wie sie von manchen in mehr oder weniger radikaler Form verlangt wird, eine in ihrem Kern ungerechte oder bloß eine äußerst unvorsichtige Maßnahme? Und wenn sie ungerecht sein sollte, wem oder was gegenüber würde das Unrecht begangen

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Kapitel 1: Das Strafrecht

werden? Und angenommen man hätte die Instanz identifiziert, der gegenüber ein Unrecht geschieht, inwiefern sollte die von dieser Instanz ausgehende Gerechtigkeitsforderung andere Forderungen übertrumpfen, die in Richtung Straflosigkeit gehen? Hängt die Legitimität der Kriminalpolitik in letzter Instanz davon ab, dass sie kein Verbrechen unbestraft lässt? Bevor wir uns im dritten Kapitel mit diesen auf das Recht und die Pflicht des Strafens beziehenden Fragen befassen, wollen wir zuvor im nächsten Kapitel den Begriff der Strafe genauer untersuchen.

Literaturverzeichnis Hoffmann-Riem, Wolfgang, Kriminalpolitik ist Gesellschaftspolitik, Frankfurt am Main: 2000. Liszt, Franz von, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, Berlin: 1900. Naucke, Wolfgang, Strafrecht. Eine Einführung. Neuwied u. a.: 1995. Rousseau, Jean-Jacques, Du contrat social, Paris: 1962. Strafgesetzbuch, München: 2004. Enthält u. a. auch noch: Betäubungsmittelgesetz, Wirtschaftsstrafgesetz und Völkerstrafgesetzbuch. (Wird nicht mehr wiederholt im Literaturverzeichnis der folgenden Kapitel). Wesel, Uwe, Juristische Weltkunde, Frankfurt am Main: 1994.

Kapitel 2 Die Strafe 1. Das StGB und der Begriff der Strafe. Das Strafrecht hat es in seinem Kernstück mit Straftaten und mit den für das Begehen dieser Taten vorgesehenen Strafen zu tun. Welche Handlungen bzw. Unterlassungen als Straftaten anzusehen sind, kann man dem Besonderen Teil des StGB entnehmen. Sobald eine Handlung bzw. Unterlassung in diesen Teil aufgenommen und mit einer Strafe versehen wird, wird sie zur Straftat und fällt dann entweder in die Kategorie der Verbrechen oder der Vergehen, je nachdem wie hoch die vorgesehene Strafe ist. Die für solche Straftaten vorgesehenen Strafen sind entweder die Freiheitsoder die Geldstrafe – als Hauptstrafen, denn das StGB kennt auch noch das Fahrverbot als Nebenstrafe. Die Körperstrafe und die Todesstrafe sind heute aus den Strafgesetzbüchern der meisten Rechtsstaaten verschwunden. Im zweiten Titel des ersten Abschnitts seines Allgemeinen Teils – überschrieben: Sprachgebrauch –, führt das StGB eine Reihe von Definitionen an. Hier erfährt man, was unter einem Angehörigen, einem Amtsträger, einem Richter, einer rechtswidrigen Tat, dem Unternehmen einer Tat, einer Behörde, einer Maßnahme, einem Entgelt zu verstehen ist. Es wird dann auch noch genauer erläutert, was man genau unter „vorsätzlich“ zu verstehen hat und dass das, was für die Schriften gilt, auch für die neuen elektronischen Datenspeicher- und verarbeitungsinstrumente gilt. Schließlich wird dann noch der Unterschied gemacht zwischen den Verbrechen – „rechtswidrige Taten, die im Mindestmaß mit Freiheitsstrafe von einem Jahr und darüber bedroht sind“ – und den Vergehen – „rechtswidrige Taten, die im Mindestmaß mit einer geringeren Freiheitsstrafe oder die mit Geldstrafe bedroht sind“. Die in diesem zweiten Titel enthaltenen Definitionen betreffen Begriffe, die an vielen Stellen des StGB auftauchen, so dass es sinnvoll erscheint, sie gleich am Anfang zu geben, anstatt zu warten, dass der betreffende Begriff in einem spezifischen Paragraphen des Allgemeinen oder Besonderen Teils auftaucht. Andere Definitionen oder Quasi-Definitionen werden an ganz spezifischen Stellen des StGB gegeben. Dies gilt besonders für Definitionen von besonderen Straftaten. So erfährt man in den Paragraphen 81 und 82, was unter dem Hochverrat gegen das Land und gegen den Bund zu verstehen ist – es handelt sich dabei um eine aufzählende Definitionen, d. h. es werden Beispiele von Handlungen aufgeführt, die als Hochverrat gelten. Was auffällt, ist, dass der Begriff der Strafe an keiner einzigen Stelle definiert wird, weder im Allgemeinen, noch im Besonderen Teil. Die Angabe von zwei Formen der Haupt- und einer Form der Nebenstrafe kann nicht als Definition, auch nicht einmal als aufzählende Definition betrachtet werden. Was Otto Harro in seinem Grundkurs Strafrecht über die Straftat sagt, scheint auch für die Strafe zu gelten: „Die Frage, was das ist, die Straftat, scheint nur rhetorisch von Belang. Ein jeder weiß von zahlreichen Straftaten. Schilderung und Erörterung einzelner Straftaten gehören zum selbstverständlichen Bestand öffentlicher Diskussion und privater Unterhaltung. Wird die Frage nach der Straftat jedoch präzisiert dahin, welche Merkmale eine Tat zu einer strafbaren machen, so wird

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Kapitel 2: Die Strafe

deutlich, dass die Kenntnis einzelner Straftaten keine sichere Antwort verbürgt“ (Otto 1988: 1). Man ersetze in diesem Zitat das Wort „Straftat“ durch das Wort „Strafe“. Auch wenn das heute geltende StGB nur noch zwei Haupt- und eine Nebenstrafe kennt, können wir doch eine ganze Reihe anderer Strafen anführen, die vor mehr oder weniger lang vergangener Zeit Bestandteil des damals gültigen StGB bzw. des damals gültigen materiellen Strafrechts waren. Erwähnt seien hier nur die Festungshaft, die Zwangsarbeit, die Todesstrafe, die Verbannung, usw. Doch gilt auch hier, dass die Kenntnis einzelner Strafen keine sichere Antwort verbürgt wenn es darum geht zu sagen, welche Merkmale ein bestimmtes menschliches Handeln zu einem strafenden Handeln machen. Wir mögen vielleicht wissen, wie bestraft werden kann, wissen darum aber noch nicht notwendigerweise worin das Bestrafen eigentlich besteht. Man könnte natürlich auch hier sagen, dass die Frage, was die Strafe eigentlich sei, höchstens nur rhetorisch von Belang sei. Schließlich gehört das Strafen, fasst man den Begriff ganz weit und über den rein rechtlichen Kontext hinaus gehend, zur öffentlichen und sogar privaten Praxis, und jeder weiß von zahlreichen Strafen, die er selbst oder ein anderer erlitten hat. Eine Definition der Strafe scheint demnach überflüssig, da wir alle schon wissen, was eine Strafe ist. Nur: Im sechsten Titel des dritten Abschnitts seines Allgemeinen Teils, führt das StGB eine Reihe von sogenannten „Maßregeln der Besserung und Sicherung“ an. Hierzu gehören u. a. das Berufsverbot oder die Entziehung der Fahrerlaubnis, aber auch freiheitsentziehende Maßregeln. Was unterscheidet diese sogenannten Maßregeln von einer Strafe? Oder noch konkreter: Was unterscheidet eine freiheitsentziehende Strafe von einer freiheitsentziehenden Maßregel? Wolfgang Nauke meint: „Man muss den Unterschied zwischen Strafen und Maßregeln verstanden haben, um vernünftig mit Strafgesetzen umgehen zu können. Aber es ist mühsam, diesen Unterschied einzusehen und verständlich zu finden“ (Naucke 1995: 88). So rhetorisch ist die Frage „Was ist das, die Strafe?“, also letztendlich doch nicht, hängt es doch, glaubt man Naucke, von der angemessenen Beantwortung dieser Frage ab, ob man vernünftig mit Strafgesetzen umgehen kann oder nicht. Insofern scheint es nicht abwegig, sich in einem eigenen Kapitel mit der Frage zu befassen, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit ein menschliches Handeln als strafendes gelten kann. Die Frage ist auch deshalb wichtig, weil mit dem Begriff der Strafe ganz oft ein bestimmter Legitimitätsanspruch verbunden ist. Eine und dieselbe äusserliche Handlung kann sowohl als Strafe wie auch als willkürliche Übelszufügung bezeichnet werden. Dadurch dass man sie allerdings als Strafe bezeichnet, bringt man zumindest implizit zum Ausdruck, dass sie eine bestimmte Legitimität besitzt. Dieses Kapitel erhebt nicht den Anspruch, die einzig richtige Definition der Strafe zu geben. Sein Zweck ist vielmehr schon dann erreicht, wenn der auf den ersten Blick selbstverständliche Begriff der Strafe als ein problematischer Begriff erkannt wird. 2. Die Strafe als außerrechtliches Phänomen. Der Strafe begegnen wir selbstverständlich nicht nur im Strafrecht. Es handelt sich vielmehr um ein Phänomen, das wir alle von unserem alltäglichen Leben her kennen. Jeder von uns ist schon mehrmals im Laufe seines Lebens bestraft worden – als Kind von

2. Die Strafe als außerrechtliches Phänomen

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den Eltern, als Schüler von den Lehrern usw. –, und so gut wie alle Menschen, zumindest wenn sie ein bestimmtes Alter erreicht haben, haben auch schon bestraft. Bevor wir uns mit der rechtlichen Strafe befassen, wollen wir kurz einen Blick auf das lebensweltliche Phänomen der Strafe werfen. Wenn meine Katze unerlaubterweise wieder einmal auf den Küchentisch springt, werde ich sie dafür bestrafen – etwa dadurch, dass ich sie vor die Tür setze. Oder wenn mein Sohn die Katze fest am Schwanz zieht, obwohl ich ihm des öfteren gesagt habe, dass man dies nicht tun sollte, werde ich ihn auch dafür bestrafen – etwa indem ich ihn für eine halbe Stunde auf sein Zimmer schicke. Und um noch ein drittes und letztes Beispiel zu nehmen: Wenn zwei meiner Schüler(innen) permanent den Unterricht durch ihre Privatgespräche stören, obwohl ich sie zur Ruhe aufgefordert habe, werde ich sie bestrafen – etwa indem ich ihnen einen Aufsatz über die anthropologischen Grundlagen und Grenzen der menschlichen Kommunikationsfähigkeit zu schreiben gebe. Die eben angeführten Beispiele haben natürlich nichts mit dem Strafrecht im juristisch-technischen Sinn zu tun. Im StGB wird man vergeblich nach einer Norm suchen, die mich dazu berechtigt oder gar dazu verpflichtet, meine Katze vor die Tür zu setzen, wenn sie unerlaubterweise auf den Küchentisch springt. Allerdings wird man im Tierschutzgesetz Paragraphen finden, die es mir verbieten, meine Katze brutal zu peitschen, was auch immer sie getan oder nicht getan haben mag. Und im Falle meines Sohnes und meiner Schüler verbietet das StGB mir, ihnen eine heftige Tracht Prügel zu versetzen, mag es zur Bestrafung sein oder nicht. Das StGB sieht aber nicht vor, dass ein ungehorsamer Sohn von seinem Vater und den Unterricht störende Schüler(innen) von ihrem Lehrer bestraft werden. Das StGB hat es mit einer bestimmten Form öffentlicher Strafe zu tun. Was eine öffentliche von einer nicht-öffentlichen Strafe unterscheidet, ist nicht so sehr die Natur der Strafe, als der Kontext. Die öffentliche Strafe wird von einer öffentlichen Instanz, sprich: einer Institution des öffentlichen Rechts verhängt. Natürlich ist es nie die Institution an sich, die die Strafe verhängt, sondern es sind immer bestimmte Individuen, die es im Namen der Institution tun. Durch ihre Stellung innerhalb der Institution sind sie berechtigt, öffentliche Strafen zu verhängen. Sobald ihr Arbeitstag beendet ist, verwandeln sie sich wieder in normale Individuen und sie verlieren dadurch ihr Recht, öffentliche Strafen zu verhängen. Das Recht, öffentlich zu strafen, haftet somit nicht am Individuum als Individuum, sondern am öffentlichen Amt, dessen Träger das einzelne Individuum ist. Hinzu kommt, dass die öffentliche Strafe wegen Verletzung einer öffentlichen Regel – meistens ein Gesetz – verhängt wird, wohingegen eine nichtöffentliche Strafe wegen Verletzung eines privaten Verbots verhängt wird – etwa wenn ich meinem Sohn verbiete, ohne meine Erlaubnis im Garten Erdbeeren zu pflücken. Das Recht, meinen Sohn zu bestrafen, haftet nun allerdings auch nicht an mir als bloßem Individuum, sondern als Vater. Diese Vaterrolle ist allerdings keine öffentliche Rolle, d. h. es ist keine öffentliche Funktion, kein Amt. Man kann nicht sagen, dass mir der Staat das Recht delegiert hat, meinen Sohn für die Übertretung rein privater Verbote zu bestrafen. Es scheint vielmehr so zu sein,

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Kapitel 2: Die Strafe

dass er mir ein Recht überlassen hat, ein Recht, das mit meinem Vatersein und mit der damit einher gehenden Verantwortung verbunden zu sein scheint. Im Falle des Lehrers – an einer öffentlichen Schule – haben wir es allerdings schon mit einer öffentlichen Funktion zu tun, aber es handelt sich nicht um eine durch das Strafrecht bestimmte Funktion. Man könnte sich natürlich prinzipiell vorstellen, dass das Sprechen im Schulunterricht durch eine strafrechtliche Norm verboten wird und etwa als Vergehen bestraft wird. Die Frage wäre dann allerdings, ob der Lehrer auch die Strafe verhängen darf, oder ob er sie den öffentlichen Behörden melden muss. In unserem Privatleben strafen wir ein bestimmtes Wesen gewöhnlich dann, wenn dieses Wesen eine ihm, oft von uns selbst, untersagte Handlung begangen hat, wobei wir voraussetzen, dass es die Handlung auch hätte unterlassen können. Das bestrafte Wesen muss wissen, dass die Handlung untersagt ist und es muss auch fähig sein, die Handlung zu unterlassen. In unserem Privatleben bestrafen wir nicht automatisch das Begehen einer untersagten Handlung. Wenn mein Sohn etwa die Katze zum x-ten Mal mit dem Schwanz zieht, kann ich es bei einem ‚Wie oft habe ich Dir schon gesagt, dass Du das nicht tun sollst’ belassen. Ich kann dem allerdings hinzufügen: ‚Wenn ich Dich noch einmal dabei erwische, gibt es kein Geschenk vom Nikolaus‘. Hier wird eine Strafe für den Fall der Wiederholung der Handlung angedroht. In den meisten, wenn nicht sogar in allen Gesellschaften besitzen die Individuen noch das Recht, im Rahmen ihres Privatlebens zu bestrafen. Allerdings handelt es sich dabei um ein beschränktes Recht, vor allem hinsichtlich der Natur der Strafen. Genauso wie es schon auf öffentlicher Ebene geschehen ist, beobachtet man auch auf der privaten Ebene das allmähliche Verschwinden der körperlichen Strafe. Schlägt etwa ein Vater sein Kind einmal zu heftig, kann er im Prinzip wegen Körperverletzung oder Misshandlung von Schutzbefohlenen angeklagt werden. Es ließe sich eine Gesellschaft ausdenken, in welcher den Privatpersonen das Recht zu strafen absolut entzogen wird und die Strafen somit nur noch von einer staatlichen Instanz vollstreckt werden. Das jetzige System ist aus einem System entstanden, das ursprünglich den staatlichen Instanzen eine nur relativ beschränkte Bestrafungssphäre zuerkannte. Es lassen sich insofern zwei Extrempole denken: Am einen Ende hätten wir eine Gemeinschaft, in welcher das Recht zu strafen vollständig privatisiert ist, während am anderen eine Gemeinschaft steht, in welcher das Recht zu strafen sich ausschließlich in den Händen öffentlicher Instanzen befindet – und gegebenenfalls von ihnen delegiert werden kann. Dazwischen ist Platz für eine ganze Bandbreite von Modellen, in denen das Recht zu strafen auf private und öffentliche Instanzen verteilt ist. Doch ist damit noch nicht geklärt, worauf derjenige ein Recht hat, der das Recht zu strafen besitzt. 3. Gesetz und Gerechtigkeit. Hinsichtlich der Definition der Strafe stellt sich ein Problem, das man auch im Zusammenhang mit der Definition des Gesetzes antreffen kann. Es geht um die Frage, ob man schon normativ relevante Elemente in die Definition des Phänomens aufnehmen, oder ob man nach einer von jeglichem evaluativen Element freien Definition suchen soll. Das Problem sei hier zunächst am Beispiel des Gesetzes diskutiert und illustriert.

3. Gesetz und Gerechtigkeit

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In seinem Standardwerk The province of jurisprudence determined, definiert der englische Rechtspositivist John Austin das Gesetz – den Begriff in seinem allgemeinsten Sinn genommen – als „eine Regel, die ein intelligentes Wesen niedergelegt hat, um ein intelligentes Wesen, über das es Macht hat, zu leiten“ (Austin 1995: 18). Für Austin ist das Gesetz wesentlich Befehl und setzt somit ein hierarchisches Verhältnis voraus, wobei nur der Befehlshaber dem Untertanen Befehle geben kann, nicht aber umgekehrt. Die Austinsche Definition des Gesetzes ist moralisch gesehen neutral, d. h. sie macht den Gesetzesstatus eines Satzes nicht von irgendwelchen inhaltlichen, moralischen Bedingungen abhängig. Oder anders ausgedrückt: Der Gesetzesstatus ist bloß von formalen, nicht von substantiellen Bedingungen abhängig. Wenn ein Befehlshaber seinen Untertanen anordnet, alle Ausländer die sich auf dem Landesterritorium befinden zu töten, dann ist dieser Befehl ein Gesetz, sofern es sich (1) um eine allgemeine Regel handelt, die (2) ein intelligentes Wesen an andere intelligente Wesen richtet – die Intelligenz hat hier selbstverständlich nichts mit einer normativ bestimmten praktischen Vernunft zu tun –, wobei (3) das befehlende Wesen Macht über die befehligten Wesen hat. Und als Gesetz hat es einen verbindlichen Charakter: die Wesen an die der Befehl gerichtet ist, müssen ihn ausführen. Die Verbindlichkeit des Gesetzes hängt nicht von seinem Inhalt, sondern von rein formalen Eigenschaften ab. Schließt die rechtspositivistische Schule jegliche moralische Dimension aus dem Gesetzesbegriff aus – was einen Positivisten aber nicht daran hindern muss, Gesetze aus moralischer Sicht zu beurteilen –, pocht die Tradition des Naturrechts auf die für jedes Gesetz konstitutive moralische Dimension. Diese Tradition findet man etwa bei Thomas von Aquin, der in seiner Summe der Theologie schreibt: „Daher gehört sich, da man vom Gesetz am allermeisten gemäß der Ordnung zum Gemeingut spricht, dass jeweils jedes andere Gebot über ein teilbesonderes Werk das Berede von Gesetz nur der Ordnung auf das Gemeingut nach besitzt. Und deswegen hat jedes Gesetz die Hinordnung auf das Gemeinwohl“ (Thomas von Aquin 1985: I–II, Q. 90, A. 2). Zum Gesetz wird ein Befehl erst dann, wenn er auf das Gemeinwohl – der nationalen Gemeinschaft, aber auch der Christenheit, wenn nicht sogar der Menschheit überhaupt – hingeordnet ist. Was nicht auf das Gemeinwohl hin geordnet ist, ist kein schlechtes Gesetz, sondern es ist überhaupt kein Gesetz. Und da einem solchen Befehl der Gesetzescharakter fehlt, schafft er keine Verbindlichkeit. Denkt man diesen Gedanken zu Ende, dann verliert ein Gesetz seine Verbindlichkeit, und damit auch seinen Gesetzescharakter, sobald es aufhört, nützlich zu sein. Ein Widerruf des Gesetzes durch den Gesetzgeber ist dabei nicht nötig. Im 20. Jahrhundert hat Gustav Radbruch – nach seiner ersten rechtspositivistischen Periode – die naturrechtliche Theorie des Gesetzes wieder aufgegriffen. In seiner „Erste[n] Stellungnahme nach dem Zusammenbruch 1945“ spricht er Gesetzen, die die Gerechtigkeit verleugnen, den Rechtscharakter ab (Radbruch 1957: 106). Wo das Gesetz die Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt, heißt es im Aufsatz „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“, ist das Gesetz nicht bloß unrichtiges Recht, sondern es ist überhaupt kein Recht (Radbruch 1957:119).

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Kapitel 2: Die Strafe

Bei Radbruch, genauso wie bei Thomas von Aquin, kann das Rechtsgesetz also nicht unabhängig von einem Bezug zur Gerechtigkeit bzw. zum Gemeinwohl gedacht werden. Bei Radbruch kommt, vielleicht klarer noch als bei Thomas von Aquin, zum Ausdruck, dass die Absicht des Gesetzgebers das ausschlaggebende Element darstellt. Es kommt also nicht so sehr darauf an, dass das Gesetz de facto einen gerechte(re)n Zustand schafft bzw. dem Allgemeinwohl dient, sondern dass diese jeweiligen Gegenstände zumindest Teil, wenn nicht sogar ausschlaggebender Teil der Absicht des Gesetzgebers sind. Da der Gesetzgeber nicht allwissend ist, kann er nicht mit Sicherheit im voraus wissen, welche empirischen Konsequenzen die Ausführung seines Gesetzes haben wird. Es könnte sich heraus stellen, dass seine Überzeugung, das Gesetz würde zu mehr Gerechtigkeit führen oder dem Allgemeinwohl dienen, falsch war. Die Falschheit dieser Überzeugung macht aus dem Gesetz ein schlechtes Gesetz, lässt ihm aber seinen Rechtscharakter. Letzteren verliert das Gesetz nur, und hört damit auf, Gesetz zu sein, wenn die Absicht des Gesetzgebers einen anderen Gegenstand als die Gerechtigkeit oder das Allgemeinwohl hatte – also z. B. die persönliche Bereicherung oder die Zerstörung unangenehmer politischer Gegner. 4. Strafe und Gerechtigkeit. Diese eben kurz beleuchtete Diskussion über die Natur des Gesetzes tritt auch im Zusammenhang mit der Bestimmung der Natur der Strafe auf. Denn genauso wie wir von gerechten und ungerechten Gesetzen sprechen, sprechen wir von gerechten und ungerechten bzw. auch noch von verdienten und unverdienten Strafen – wobei an dieser Stelle offen bleiben soll, inwiefern diese beiden Unterscheidungen sich decken. Diese Sprechweise setzt implizit voraus, dass wir zumindest keine zu starken normativen Elemente in die Definition der Strafe eingebaut haben. Denn wenn nur gerechte oder verdiente Strafen als Strafen bezeichnet werden könnten, wenn also zu den wesentlichen Merkmalen der Strafe die Gerechtigkeit und der Verdienst gehören würden, dann verlören die eben erwähnten Unterscheidungen jeden Sinn. Man könnte dann zwar noch sinnvollerweise von hohen und niedrigen, von harten und sanften und sogar von grausamen und humanen Strafen sprechen, nicht aber von gerechten und ungerechten oder verdienten und unverdienten Strafen. In einem solchen Fall wäre die Bezeichnung „gerechte/verdiente Strafe“ tautologisch und daher überflüssig – wie etwa „runder Kreis“ –, während die Bezeichnung „ungerechte/unverdiente Strafe“ in sich widersprüchlich wäre – wie etwa „rundes Viereck“. Wenn man die Strafe definieren will, wird man somit auf die Natur der Elemente acht geben müssen, die man in die Definition einbaut. Genausowenig wie man den Gedanken akzeptieren kann, dass die Praxis des Strafens als solche radikal ungerecht ist, und demnach auch jede einzelne verhängte Strafe ungerecht ist, scheint man den Gedanken akzeptieren zu können, dass jede Strafe a priori gerecht ist. Die meisten werden es wahrscheinlich als gerecht finden, wenn ein Mörder zu einer zwanzigjährigen Haftstrafe verurteilt wird, aber sie würden es als ungerecht finden, wenn ein kleiner Ladendieb, der nur eine CD entwendet hat, zu einer ähnlichen Strafe verurteilt werden würde. Normative Aussagen über die Strafe betreffen also deren Gerechtigkeit, und

5. Definitionen der Strafe

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diese ist selbstverständlich – zumindest solange man sich nicht in einem krud utilitaristischen Argumentationsrahmen bewegt – von ihrer Wirksamkeit oder Nützlichkeit zu unterscheiden. Eine gerechte Strafe kann, je nach festgelegtem Strafzweck, unwirksam oder nutzlos sein, und eine wirksame oder nützliche Strafe kann äußerst ungerecht sein. Die rechtssemantische Grundfrage des Strafrechts ist demnach, ob und inwiefern man normativen Elementen einen grammatischen Status verleihen, ob und inwiefern man sie also in den Begriff der Strafe integrieren sollte. Diese Frage ist insofern wichtig, als davon ausgegangen wird, dass der Staat ein Recht zu strafen hat. Indem eine Antwort auf die rechtssemantische Frage gegeben wird, wird bestimmt, worauf genau der Staat ein Recht hat, wenn er ein Recht zu strafen hat. Es wird somit möglich zwischen einerseits der im Prinzip legitimen Praxis des Strafens und andererseits einer illegitimen Praxis – für die es keinen eingebürgerten Namen gibt – zu unterscheiden. Es stellt sich hier natürlich auch die Frage, inwiefern man einen bestimmten Zweck oder eine bestimmte Absicht in die Definition der Strafe einbauen will – dies ist eine Frage, auf die wir im vierten Kapitel eingehen werden. Dass nur gerechte Strafen verhängt werden sollten, wird wohl kaum jemand bestreiten, auch wenn es Uneinigkeit darüber geben wird, wann eine Strafe aufhört, gerecht zu sein. Man wird also darin überein kommen, dass es ungerecht ist, ungerechte Strafen zu verhängen. Aber ist es auch immer gerecht, gerechte Strafen zu verhängen? Und muss es notwendigerweise ungerecht sein, keine Strafe, also weder eine gerechte noch eine ungerechte, zu verhängen, wo die Verhängung einer gerechten Strafe erlaubt wäre? Im folgenden sollen zunächst einige Strafdefinitionen von bedeutenden Philosophen und Juristen der Neuzeit vorgestellt werden. Bei ihnen findet man nämlich eine Definition dessen, was die meisten Strafrechtsbücher undefiniert lassen und als selbstverständlich voraussetzen. Es wird zu untersuchen sein, welche Elemente diese Denker als konstitutiv für die Strafe ansehen. Dabei wird sich auch zeigen, wovon die Strafe abgegrenzt wird. 5. Definitionen der Strafe. Für den niederländischen Rechtslehrer Hugo Grotius ist die Strafe „ein Übel, das man jemandem zufügt, wegen eines Übels das er begangen hat“ (Grotius 1984: II, XX, I). In seinem Leviathan definiert Thomas Hobbes die Strafe als „ein Übel, das eine öffentliche Autorität demjenigen zufügt, der das getan oder unterlassen hat, wovon dieselbe Autorität glaubt, es sei eine Verletzung des Gesetzes; mit dem Zweck, dass dadurch der Wille der Menschen besser zum Gehorsam neigen wird“ (Hobbes 1982: XXVIII, 214). Samuel Pufendorf sieht in der Strafe „irgendein schmerzvolles Übel, das die Autorität als Zwangsmittel verhängt, mit Blick auf ein vergangenes Unrecht“ (Pufendorf 1987: II, 13, 4). Bei dem Genfer Rechtslehrer Jean-Jacques Burlamaqui heißt es, die Strafe sei „ein Übel, das der Souverän denjenigen seiner Untertanen androht, die dazu geneigt wären, seine Gesetze zu verletzen & das er ihnen tatsächlich zufügt & in einem gerechten Maß, wenn sie sie verletzen, unabhängig vom Schadensersatz, mit der Absicht eines zukünftigen Gutes & als letztes Mittel, zur Sicherheit & Ruhe der Gesellschaft“ (Burlamaqui 1989: III, IV, X). Der englische Philosoph Jeremy Bentham definiert die Strafe als „eine künstliche

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Konsequenz, die eine politische Autorität in einem Einzelfall einer verletzenden Handlung beigefügt hat; mit der Absicht, in anderen Einzelfällen die Herbeiführung des schädlichen Teils seiner natürlichen Konsequenzen einzudämmen“ (Bentham 1996: 157). Bei Karl Grolman wird die rechtliche Strafe definiert als „ein sinnliches Übel, welches dem, welcher es als solches empfinden kann, zur Entfernung der von ihm gedrohten Gefahr durch Abschreckung desselben oder Unmöglichmachung der Drohung, zugefügt wird“ (zitiert in Cattaneo 1993: 220). Wenn wir uns zunächst von dem allgemeinen Sprachgebrauch leiten lassen, so der deutsche Strafjurist Paul Johann Anselm Feuerbach, können wir feststellen, „dass Strafe überhaupt ein Uebel bedeute, welches um begangener gesetzwidriger Handlungen, und zwar blos um dieser willen einem Subjecte zugefügt wird“ (Feuerbach 1966: 5). Derselbe Feuerbach wird dann fünfzig Seiten später, nachdem er den allgemeinsprachlichen Gebrauch einer kritischen Untersuchung unterworfen hat, von der bürgerlichen Strafe sagen, sie sei „ein vom Staate, wegen einer begangenen Rechtsverletzung zugefügtes, durch ein Strafgesetz vorher angedrohtes sinnliches Uebel“ (Feuerbach 1966: 56). Für den italienischen Strafrechtslehrer Francesco Carrara ist die Strafe „jenes Übel, das die Magistraten, in Übereinstimmung mit dem staatlichen Gesetz, denjenigen zufügen, die gemäß den vorgeschriebenen Formen einer Straftat für schuldig befunden worden sind“ (Carrara 1993: 380). Für den deutschen Strafrechtslehrer Franz von Liszt ist die Strafe eine Rechtsfolge, die sich von anderen Rechtsfolgen des Unrechts dadurch unterscheidet, „dass sie einen vom Staate gegen den Schuldigen verhängten Eingriff in dessen Rechtsgüter darstellt“ (von Liszt 1900: 1). Diese Übersicht, die sich über ungefähr drei Jahrhunderte erstreckt, ist selbstverständlich alles andere als vollständig, dürfte aber repräsentativ genug sein, um einige der wichtigsten Elemente von Strafdefinitionen zu identifizieren und zu kommentieren. 6. Die Strafe als Übel. Was bei jeder dieser Definitionen zum Vorschein kommt, ist die Tatsache, dass es sich bei der Strafe um ein Übel handelt, das jemandem zugefügt wird. Insofern unterscheidet die Strafe sich wesentlich von der Belohnung, durch die jemandem ein Gut gewährt wird. Bestimmte Autoren, wie etwa der deutsche Völkerrechtslehrer Johann Textor im XII. Kapitel seiner Synopsis Iuris Gentium, behandeln deshalb auch die Belohnung und die Bestrafung in einem Atemzug (Textor 1995: 112). Als Beispiel für eine Belohnung führt Textor übrigens den Nachlass einer Strafe an. Was sie also auch sonst immer sein mag, ist die Strafe ein Übel. Manche der zitierten Autoren geben sich nicht damit zufrieden, die Strafe allgemein als Übel zu bestimmen, sondern sehen in ihr eine spezifische Form von Übel, nämlich ein „sinnliches“ Übel. Bei anderen Autoren scheint der sinnliche Charakter des Übels nicht von Bedeutung zu sein. Für die meisten Autoren bis zum 19. Jahrhundert war das paradigmatische Beispiel der Strafe die körperliche Strafe, wobei auch die Freiheitsstrafe als körperliche Strafe, und damit als sinnliches Übel, gedeutet werden kann. Ausser man dehnt den Begriff des sinnlichen Übels bis zur Unbrauchbarkeit hinaus, steht fest, dass die Menschen sich nicht nur sinnliche Übel als Strafe zufügen können. Wer etwa

7. Das vorangegangene Unrecht

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10000 Euro abgeben muss, ohne eine Gegenleistung dafür zu erhalten, erleidet auch ein Übel. Dasselbe gilt für denjenigen, dem man bestimmte offizielle Auszeichnungen aberkennt. Pufendorf, der von „irgendeinem“ Übel spricht, und Liszt, der das Übel mit einem Eingriff in die Rechtsgüter der Person gleichstellt, tragen der Tatsache Rechnung, dass es nicht nur sinnliche Übel gibt und dass man dementsprechend auch strafen kann, ohne ein sinnliches Übel zuzufügen. Insofern etwa die Ehre ein Rechtsgut ist, kann, nimmt man Liszts Definition, auch ein Eingriff in die Ehre, der zwar nicht körperlich, also sinnlich, wohl aber geistig weh tut, als Strafe bezeichnet werden – wobei natürlich auch die anderen Bedingungen, auf die wir noch zu sprechen kommen, erfüllt sein müssen, damit man von Strafe sprechen kann. Dass einige Autoren auf den sinnlichen Charakter des Übels pochen, kann auf unterschiedliche Gründe zurückzuführen sein. Einer wurde schon erwähnt: die paradigmatische Strafe war – und ist zum Teil auch noch – eine körperliche Strafe, also eine Strafe, die am Körper des Bestraften vollzogen wurde. Und man neigt oft dazu, den paradigmatischen Fall zum alleinigen Fall zu erheben. Es lässt sich aber noch ein anderer, wichtigerer Grund anführen. In seinen Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, meint Wilhelm von Humboldt, die Strafen dürften auf keinen Fall entehrend sein, da die Ehre der Bürger dem Staat nicht zur Verfügung steht (Humboldt 1980: 181). Es werden hier implizit zwei Sphären unterschieden: die äußerliche, die mit dem Körper zusammenfällt, und über die der Staat, unter gewissen Bedingungen, disponieren kann, und die innerliche – die aber auch eine intersubjektive Dimension hat –, über die der Staat nicht disponieren darf. Indem die Strafe ausdrücklich als ein sinnliches, bloß den Körper betreffendes Übel bezeichnet wird, kann implizit eine Art von Schutzriegel aufgestellt und dem Staat angedeutet werden, dass es einen Punkt des non plus ultra hinsichtlich seiner strafenden Macht gibt. Jenseits dieses Punktes könnte übrigens nicht nur die Ehre, sondern auch das Eigentum liegen, über das der Staat nicht disponieren darf. Wichtig bei der Strafe ist nicht so sehr, dass das Übel vom Bestraften tatsächlich als Übel erlebt wird. Es zählt in erster Linie die strafende Absicht. Wo keine strafende Absicht vorliegt, liegt auch keine Strafe vor. Das Übel muss also von einer strafenden Absicht begleitet werden, um als Strafe zu gelten. Ob eine solche Absicht vorliegt oder nicht, wird man selbstverständlich nicht durch eine psychologische Analyse des Bestrafenden herausfinden können, sondern das Vorliegen der Absicht wird sich gewöhnlich aus dem Kontext ergeben, in dem das Übel zugefügt wird bzw. die Zufügung eines Übels verfügt wird – man kann nämlich zwischen dem Verhängen der Strafe – die Aufgabe des Richters – und ihrer Vollstreckung – die Aufgabe des Henkers, um den Titel eines Theaterstücks von Dürenmatt zu vervollständigen – unterscheiden. 7. Das vorangegangene Unrecht. Beim Strafen wird jemandem ein Übel zugefügt. Ein Satz wie „Ich habe ihn bestraft, ohne ihm aber irgendein Übel zuzufügen“, enthält einen Widerspruch. Doch auch wenn die Strafe in einem Zufügen von Übel besteht, ist doch nicht jedes Zufügen von Übel eine Strafe.

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Kapitel 2: Die Strafe

Die Übelszufügung ist eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung. Das zentrale semantische Problem einer Philosophie des Strafrechts besteht nun darin, jene Bedingungen zu identifizieren, die das Zufügen von Übel begleiten müssen, um aus ihm eine Strafe zu machen. Eine solche Bedingung scheint in der Reaktion auf ein begangenes Unrecht zu bestehen. Die Strafe hängt nicht „in der Luft“, sondern ist stets in einen Handlungskontext eingebettet und verweist stets auf ein ihrem Verhängen und ihrer Vollstreckung vorausgehendes Handeln. Wo kein Unrecht begangen wurde, kann zwar ein Übel zugefügt werden, es kann aber keine Strafe verhängt werden. Zwischen dem begangenen Unrecht und der Strafe besteht nicht nur ein zufälliger, chronologischer und damit externer Zusammenhang, sondern es liegt ein interner Zusammenhang vor: die Strafe erfolgt nicht nur bloß nach dem Unrecht, sondern sie erfolgt wegen des Unrechts. Man könnte auch sagen, dass das begangene Unrecht erst dazu berechtigt, eine Strafe zuzufügen oder, anders ausgedrückt, dazu berechtigt, das zugefügte Übel als Strafübel zu bezeichnen. Dabei wird man allerdings berücksichtigen müssen, dass es einen Unterschied zwischen dem berechtigten Zufügen einer Strafe und dem Zufügen einer berechtigten Strafe gibt. Ein bestimmtes Zufügen von Übel darf man erst dann als Strafe bezeichnen, wenn es als Reaktion auf ein vorhergehendes Unrecht zugefügt wird. Wo kein solches Unrecht vorangegangen ist, wird keine ungerechte Strafe zugefügt, sondern es wird ein Übel zugefügt, das keine Strafe ist. Um einen möglichen Einwand gleich vorweg zu nehmen: Was dem einen oder anderen als bloße Haarspalterei erscheinen kann, ist in Wirklichkeit von großer Bedeutung, wenn wir uns vor Augen führen, dass der Staat zwar sehr wohl ein spezifisches Recht hat, zu strafen – auf dessen Ursprung wir noch zurück kommen werden –, nicht aber ein allgemeines Recht, Übel zuzufügen. Das Wort „Strafe“ tut mehr, als bloß ein bestimmtes Tun zu beschreiben: es legitimiert darüber hinaus dieses Tun – unter der Voraussetzung, dass man das Strafen überhaupt als legitim betrachtet. Zieht man dies in Betracht, dann sieht man wie wichtig es ist, den Begriff der Strafe so klar wie möglich zu umreissen. Wir haben soeben gesagt, dass die Strafe eine Reaktion auf ein begangenes Unrecht ist. Eigentlich müsste man sagen, dass sie eine Reaktion auf ein vermutetes begangenes Unrecht ist. Wichtig ist also nicht das Faktum des begangenen Unrechts, sondern der feste Glaube an ein begangenes Unrecht, die Überzeugung, dass ein Unrecht begangen worden ist. Wenn der Richter die Überzeugung erlangt hat, dass ich schuldig bin, ich es aber in Wirklichkeit nicht bin, dann kann das von ihm verhängte Übel als Strafe bezeichnet werden. Wo er diese Überzeugung nicht hat und vielleicht sogar weiß, dass ich das Unrecht nicht begangen habe, kann von Strafe keine Rede sein. Seine Handlungen können von ihrem äußerlichen Aspekt her zwar genauso aussehen wie die Handlungen eines Richters, der eine Strafe verhängt, aber man wird trotzdem nicht von ihm sagen können, dass er bestraft. Die Bestrafung ist also keine Handlung, die man ohne Rückgriff auf mentale Begriffe bezeichnen kann. Einerseits muss beim Bestrafenden überhaupt die

8. Der persönliche Charakter der Strafe

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Absicht vorhanden sein, zu bestrafen, und andererseits setzt sie bei ihm immer die Überzeugung oder doch zumindest die starke Vermutung der Schuld des Bestraften voraus. Diese Überzeugung kann natürlich falsch sein, doch wird damit nicht unbedingt der Strafcharakter des zugefügten Übels in Frage gestellt. Was allerdings in Frage gestellt werden kann, ist die Gerechtigkeit der verhängten Strafe. Wenn etwa der Richter seine Überzeugung in aller Hast, ohne genauere Auseinandersetzung mit den Fakten gebildet hat, kann der Bestrafte behaupten, dass seine Strafe ungerecht ist. Dabei wird die Ungerechtigkeit allerdings prozeduraler und nicht substantieller Natur sein. Ein zentrales Problem der Strafrechtsphilosophie betrifft den genauen Zusammenhang zwischen Schuld und Strafe. Was außer Frage zu stehen scheint ist die Tatsache, dass nur dort bestraft werden kann, wo ein Unrecht begangen wurde. Das Unrecht ist insofern eine notwendige Bedingung für die Bestrafung, und zwar eine grammatisch-notwendige Bedingung. Das heißt, dass es keine Definition der Strafe geben kann, die nicht wenigstens implizit den Begriff des begangenen Unrechts beinhaltet. Der Begriff der Strafe impliziert den Begriff des Unrechts. Aber impliziert der Begriff des Unrechts auch den Begriff der Strafe? Wenn ja, dann müsste jedes Unrecht bestraft werden, wobei dieses Müssen nicht nur eine normative, sondern darüber hinaus auch eine semantische oder grammatische Forderung ausdrückt. Wenn eine bestimmte Handlung straflos bliebe, dann müsste man schließen, dass es sich nicht um ein Unrecht gehandelt hat. Es scheint allerdings, dass man nicht so weit gehen kann, den Begriff der Strafe in den Begriff des Unrechts zu integrieren. Es gibt einen Unterschied zwischen „Eine Strafe wurde verhängt, aber es wurde kein Unrecht begangen“ und „Ein Unrecht wurde begangen, aber es wurde keine Strafe verhängt“. Auch wenn beide Behauptungen uns möglicherweise wegen ihres Inhaltes stören, liegt die Ursache dieser Störung doch auf eine anderen Ebene. Der erste Satz beinhaltet einen semantischen Widerspruch, der zweite einen normativen. Beim ersten Satz liegt das Problem im Sprachgebrauch – das Wort „Strafe“ hätte nicht gebraucht werden dürfen –, beim zweiten liegt es in der durch die Sprache beschriebenen Wirklichkeit – eine Strafe hätte verhängt werden sollen. Im ersten Satz hat der Sprechende einen Fehler begangen, im Falle des zweiten Satz liegt der Fehler bei der für das Strafen zuständigen Instanz. Nur: Ist es tatsächlich so, dass jedes Unrecht bestraft werden muss, so dass also aus moralischer Sicht ein Widerspruch – zwischen Sein und Sollen – vorliegt, wenn ein bestimmtes Unrecht nicht bestraft wird, und zwar gewollterweise nicht bestraft wird? Der Beantwortung dieser Frage ist der größte Teil dieses Buches gewidmet, so dass wir sie hier vorläufig einmal auf sich beruhen lassen wollen. 8. Der persönliche Charakter der Strafe. Die meisten der von uns zitierten Autoren weisen ausdrücklich darauf hin, dass die Strafe nur denjenigen treffen kann und darf, der das Unrecht begangen hat – bzw. von dem vermutet wird, dass er es begangen hat. Wenn also der Richter vermutet, dass A und nicht B das Unrecht begangen hat, dann kann er nicht B bestrafen, bloß weil B festgenommen wurde, nicht aber A. Er kann zwar so tun, als ob er B bestrafen

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würde, aber ein So-tun-als-ob genügt noch nicht, um einem Zufügen von Übel den Charakter der Strafe zu verleihen. Es kann natürlich der Fall auftreten – und er tritt auch gewöhnlich auf –, dass die Konsequenzen der Bestrafung andere als bloß den Bestraften selbst treffen. Schließlich ist der Bestrafte kein isoliertes Atom, sondern ein Mensch, der unter anderen Menschen lebt und mit einigen dieser Menschen bestimmte Beziehungen eingegangen ist. Wenn etwa ein Familienvater zu 10 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wird, werden auch seine Frau und seine Kinder unter dieser Bestrafung leiden, und zwar sowohl materiell wie auch emotional. Doch kann man nicht sagen, dass die Frau und die Kinder bestraft werden. Was man allerdings sagen könnte, ist, dass es ungerecht ist, dass Unschuldige von den Konsequenzen einer Strafe betroffen werden, dass die Strafe also, wie man es mit einem in Mode gekommenen Begriff des Militärjargons bezeichnen könnte, „kollaterale Schäden“ erzeugt. Es sollte zu den prioritären Aufgaben einer jeden Strafrechtspolitik werden, diese kollateralen Schäden der Strafe zu berücksichtigen und ihnen soweit wie möglich Rechnung zu tragen und gegebenenfalls sogar entgegenzuwirken. Es kann auch der Fall auftreten, dass man absichtlich versucht, eine Person A gewissermaßen über den Umweg einer Person B zu bestrafen. Nehmen wir folgenden Fall: A hat ein Unrecht begangen, ist aber ins Ausland geflohen. Seinen unschuldigen Sohn konnte er aber nicht mit sich nehmen. Die Behörden nehmen nun den Sohn fest und fügen ihm das Übel zu, das dem Vater hätte zugefügt werden müssen, wenn er festgenommen worden wäre. Hier kann man nicht sagen, dass der Sohn bestraft wird. Dem Sohn wird lediglich ein Übel zufügt, das, wenn es dem Vater zugefügt worden wäre, als Strafe hätte bezeichnet werden können. Man könnte allerdings behaupten, dass die Behörden den Vater in der Hinsicht durch den Sohn hindurch bestrafen wollen, dass sie dem Vater psychische Schmerzen zufügen: Es ist nämlich davon auszugehen, dass der Vater darunter leiden wird zu wissen, dass seinem Sohn ein Übel zugefügt wurde. Kann man den Vater also auch nicht mehr am eigenen Leib bestrafen, so kann man ihn doch durch den Leib seines Sohnes hindurch bestrafen. Dabei ist der Sohn aber nicht der Bestrafte, sondern lediglich ein Mittel, durch das die Strafe erfolgt. Man könnte genausogut eine wertvolle und vom Schuldigen geschätzte Briefmarkensammlung zerstören. In diesem Fall würde man sicherlich nicht behaupten, dass die Briefmarkensammlung bestraft wird. Der Körper des Bestraften und der Körper an dem die Bestrafung vollstreckt wird – wenn wir uns nur auf körperliche Bestrafungen beschränken – müssen also nicht identisch sein. In diesem Zusammenhang muss man die semantische von der moralischen Frage trennen. Eine Sache ist es zu fragen, ob der leidende Sohn bestraft wird, eine andere ist es zu fragen, ob irgendjemand ein Recht hat, dem Sohn ein Übel zuzufügen, um dadurch den Vater zu bestrafen. Die Semantik sagt uns, dass der Sohn nicht bestraft wird und die Moral sagt uns, dass die am Sohn vollstreckte Bestrafung des Vaters nicht gerecht ist. Dieses Problem der vikarischen Bestrafung hat auch schon die klassischen Autoren beschäftigt. Grotius meint z. B., dass Gott allein das Recht hat, die Kinder sterben zu lassen, um den Vater dadurch zu bestrafen (Grotius 1984: II,

9. Die Strafe als künstliches Übel

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XXIV, XIV). Burlamaqui erwähnt den Fall eines Vaters, der ein ganz abscheuliches Verbrechen begangen hat – man denke etwa an Hochverrat – und meint, dass in einem solchen Fall die Kinder des Täters von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen werden können (Burlamaqui 1987: I, III, IV, XLIII). Laut Burlamaqui kann man in einem solchen Fall allerdings nicht von einer Strafe im eigentlichen Sinn des Wortes sprechen, wird der Zustand der Kinder doch nicht dadurch verschlechtert, dass sie bestimmte Ämter nicht bekleiden dürfen. Allerdings meint Burlamaqui, dass man durch die Drohung einer solchen Maßnahme den Vater davon abhalten kann, besonders abscheuliche Verbrechen zu begehen. Der höchstpersönliche Charakter der Strafe wirft die Frage auf, ob und inwiefern eine Kollektivstrafe noch als Strafe gelten kann, vor allem dann, wenn nicht jedes Mitglied des Kollektivs mitschuldig ist und wenn die strafende Instanz dies weiß. Insofern ein solches Zufügen von Übel auch die Schuldigen treffen will und trifft, handelt es sich natürlich um eine Strafe. Aber soll man sagen, dass die Unschuldigen mitbestraft werden? Sollte man nicht auch hier lieber von kollateralen Schäden sprechen, wobei allerdings nicht immer im voraus gewusst ist, wen die Strafe und wen die kollateralen Schäden treffen – im Gegensatz zum ersten oben diskutierten Fall? Angenommen es stellt sich nach einiger Zeit heraus, wer der Schuldige war: Ist die strafende Instanz dann nicht dazu verpflichtet, das den Unschuldigen zugefügte Übel wieder gutzumachen, diese Unschuldigen also zu entschädigen? Es lässt sich natürlich eine alternative Interpretation der Kollektivstrafe konstruieren. Gemäß dieser Interpretation wäre die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Kollektiv schon ein Tatbestand, der als Unrecht aufgefasst werden kann. Das Unrecht bestünde dann also nicht in einem vorsätzlichen Tun, sondern in einem naturgegebenen Sein. Eine solche Interpretation bricht allerdings mit einem für das heutige Strafrecht zentralem Prinzip, nämlich das Prinzip der Vorsätzlichkeit. Hat man tatsächlich die Möglichkeit, sich vom Kollektiv zu distanzieren und tut man es nicht, so kann man für ein im Namen des Kollektivs begangenes Unrecht mitbestraft werden. Hat man aber keine solche Möglichkeit und trägt man auch selbst keine Schuld – weder durch Tun noch Unterlassen – am Unrecht, das im Namen des Kollektivs begangen wurde, so kann man nicht für ein solches Unrecht bestraft werden. 9. Die Strafe als künstliches Übel. In seiner Definition der Strafe betont Jeremy Bentham den künstlichen Charakter der Strafe, indem er sie als künstliche Konsequenz bezeichnet. Betrachten wir folgendes Beispiel. A und B sind Mitglieder einer äusserst puritanischen Gesellschaft. Beide haben außerehelichen Geschlechtsverkehr. A wird von den Behörden festgenommen, des außerehelichen Geschlechtsverkehrs überführt und es wird die für dieses Verbrechen vom Gesetz vorgesehene Todesstrafe an ihm vollstreckt. B wird nicht festgenommen, infiziert sich aber mit dem AIDS-Virus und stirbt an dieser Krankheit. In beiden Fällen wird man sagen können, dass das Übel des Todes mit dem außerehelichen Geschlechtsverkehr in Verbindung steht. Die beiden Fälle unterscheiden sich aber in der Hinsicht, dass bei B der Tod eine natürliche Konsequenz der Handlung ist, während es sich bei A um eine künstliche Konsequenz handelt. Gemeint ist damit, dass im Fall von B keine Entscheidung zwischen dem Ge-

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schlechtsverkehr und dem Tod erfolgt, während im Fall von A eine Autorität entscheidet, dass A sterben soll. Die Frage ist hier, ob es neben den künstlichen auch sogenannte natürliche Strafe gibt, Strafen also, die einem Straftäter widerfahren, ohne dass irgendeine menschliche Instanz mit der Absicht interveniert, ein Übel zuzufügen – was nicht ausschließt, dass eine menschliche Instanz als Medium der Bestrafung dient. Tatsache ist, dass der allgemeine Sprachgebrauch es uns erlaubt zu sagen, dass im Fall von B der Tod durch Krankheit eine Strafe für sein sündiges Verhalten ist. Um dies an einem weniger dramatischen Fall zu veranschaulichen: Wenn ein Kind zuviel Kuchen isst, obwohl die Eltern es ihm verboten haben, und dann schreckliche Bauchschmerzen hat, wird man geneigt sein ihm zu sagen „Das hast Du jetzt davon“, wobei mitgemeint ist „Da hast Du die Strafe für Deine Gefräßigkeit“. Die Bauchschmerzen erscheinen hier als eine natürliche Strafe für die Gefräßigkeit. Würden die Eltern dem Kind noch zusätzlich mehrere Stunden „Zimmerarrest“ auferlegen, so würde neben die natürliche auch noch eine künstliche Strafe treten. In seinem Leviathan hält Hobbes fest, dass die negativen natürlichen Konsequenzen einer Handlung nicht vom Standpunkt des Menschen, wohl aber vom Standpunkt Gottes als Strafe bezeichnet werden können (Hobbes 1982: XXVIII, 215). Insofern Gott der Schöpfer der Natur ist, ist letztere von seinem Standpunkt aus etwas Künstliches. Und damit ist auch der Zusammenhang zwischen dem übermäßigen Essen von Kuchen und den Bauchschmerzen von seinem Standpunkt aus gesehen etwas Künstliches. Uns Menschen erscheint der Zusammenhang aber als etwas Natürliches, da wir ihn nicht hergestellt haben. Collingwood meint allerdings, dass eine Magenverstimmung nicht als Strafe für die Verletzung eines natürlichen Gesetzes gegen Gefräßigkeit angesehen werden kann (Collingwood 1995: 139). Aus einer säkulären Perspektive kann man dem selbstverständlich zustimmen. Wenn man allerdings voraussetzt, dass Gott die Naturgesetze geschaffen hat und dass er die Gefräßigkeit als sündhaftes Handeln betrachtete, wird man die These verteidigen können, dass Bauchschmerzen eine vom Standpunkt des Menschen aus betrachtet natürliche, vom Standpunkt Gottes aber künstliche Strafe sind. Hobbes weist auch noch darauf hin, dass von Strafe nur dort die Rede sein kann, wo dem Zufügen von Übel ein Urteil vorher gegangen ist – ein Urteil in dem festgestellt wird, dass ein Unrecht begangen wurde. Man könnte nun sagen, dass dies im Fall der sogenannten natürlichen Strafen nicht der Fall ist. Allerdings ließe sich dem entgegen halten, dass Gott bei der Schöpfung ein allgemeines Urteil ausgesprochen und dieses Urteil in den Naturgesetzen festgeschrieben hat. Die schon hier auf Erden wirksame göttliche Strafgerechtigkeit braucht dementsprechend keine partikularen Urteile mehr zu fällen. 10. Das hierarchische Verhältnis. Einige der oben angeführten Definitionen definieren die Strafe ganz allgemein, während andere eine ganz bestimmte Strafe definieren, nämlich die öffentliche Strafe. Eine öffentliche Strafe kann nur von einer öffentlichen oder politischen Autorität verhängt werden. Wenn der Staat den Sohn einen Monat lang der Freiheit beraubt, handelt es sich um eine öffentliche, und wenn der Vater den Sohn einen Monat lang der Freiheit

10. Das hierarchische Verhältnis

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beraubt, handelt es sich um eine private Strafe. In beiden Fällen ist natürlich vorausgesetzt, dass der bestrafte Sohn ein Unrecht begangen hat bzw. eine starke Vermutung besteht, dass er ein solches begangen hat. Die Staats- und Rechtsphilosophie interessiert sich in erster Linie für die öffentliche Strafe, wobei vor allem, wie wir noch sehen werden, die Frage nach dem staatlichen Recht zu strafen im Mittelpunkt steht. Doch kann die Staatsund Rechtsphilosophie die private Strafe nicht ganz ignorieren, ist sie doch eng mit der öffentlichen Strafe verbunden. Von öffentlicher Strafe kann man nämlich nur dann sprechen, wenn man diese Strafe von einer anderen, eben von der nicht-öffentlichen oder privaten Strafe abgrenzt. Und wo die Grenzlinie genau verlaufen soll, ist alles andere als eine einfache Frage. Gibt es bestimmte Gebiete, in die sich die strafende Gewalt des Staates nicht einmischen darf? Gibt es bestimmte Gebiete, die die strafende Gewalt des Staates unbedingt der strafenden Gewalt der Privatpersonen entziehen muss? Sowohl öffentliche und private Strafe weisen aber auf einen wichtigen Punkt hin: Die Praxis des Strafens setzt ein irgendwie geartetes hierarchisches Verhältnis zwischen dem Bestrafenden und dem Bestraften voraus. Wer bestraft, oder zumindest wer die Strafe verhängt – denn die Vollstreckung der Strafe erhält ihre Legitimität erst aufgrund der Verhängung, so dass letztere vom normativen Standpunkt aus gesehen bedeutsamer ist – steht immer über dem Bestraften oder beansprucht zumindest, über ihm zu stehen. Dieses Über-jemandem-Stehen kann, muss aber nicht institutionell verankert sein. Wenn etwa ein Untertan den Tyrannen wegen dessen Verstöße gegen die Menschenrechte tötet, kann diese Tötung durchaus als Strafe konstruiert werden. Rein institutionell gesehen ist der Untertan zwar dem Tyrannen unterworfen, aber insofern sich der Untertan zum Instrument einer über dem Tyrannen stehenden Gerechtigkeit macht, steht er über dem Tyrannen. Der sich in den staatlichen Institutionen verkörpernden Hierarchie wird eine moralische Hierarchie entgegengesetzt und auf Grund dieser Hierarchie fühlt sich der Tyrannenmörder berechtigt, den Tyrannen wegen des von ihm begangenen Unrechts zu bestrafen. In diesem Zusammenhang kann man sich an die Episode aus dem Neuen Testament erinnern, in welcher Jesus der Menge sagt, derjenige, der noch nicht gesündigt hätte, solle den ersten Stein werfen. Die Ehebrecherin hat das Gesetz verletzt und die Menge will sie deswegen steinigen – die laut dem mosaischen Gesetz für Ehebrecherinnen übliche Strafe. Für Jesus ist aber nur derjenige zum Strafen berechtigt, der selbst noch kein Unrecht – oder Sünde, wenn wir in der theologischen Sprechweise bleiben – begangen hat. Strafen setzt also eine moralische Autorität voraus, die eigentlich nur Gott besitzt. Auch wenn in unseren demokratischen, den Gedanken der fundamentalen Gleichheit aller Menschen in den Vordergrund stellenden Gesellschaften die Idee einer natürlichen Autorität eines Menschen über einen anderen teilweise verpönt ist, finden wir noch eine Spur davon in dem Eltern-Kind Verhältnis, und es ist zu einem großen Teil diese natürliche Autorität der Eltern über ihre Kinder, die ihnen das Recht verleiht, diese Kinder zu bestrafen. Diese natürliche Autorität der Eltern über ihre Kinder ist heute rechtlich anerkannt, zugleich aber auch rechtlich beschränkt.

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Diese Bindung der Strafe an den Gedanken der – institutionellen, moralischen, natürlichen, … – Autorität erklärt sich dadurch, dass die Bestrafung immer, explizit oder implizit, als Gegenstand eines Rechtes betrachtet wird. Eine Aussage wie „Ich bestrafe Dich, obwohl ich kein Recht dazu habe“, scheint in sich widersprüchlich zu sein. Das in einem solchen Fall zugefügte Übel ist nicht nur eine ungerechte Strafe, sondern es ist überhaupt keine Strafe. Bestrafen kann nur derjenige, der auch dazu berechtigt ist, und eine solche Berechtigung setzt ein hierarchisches, eine bestimmte Autorität ausdrückendes Verhältnis zwischen dem Bestrafenden und dem Bestraften voraus. 11. Der Strafzweck als definitorisches Element. Was bei einigen, aber nicht allen, der oben angeführten Definitionen auffällt, ist der Hinweis auf einen Zweck, der der Strafe zu Grunde liegt und sie als eigentliche Strafe konstituiert, so dass eine Zufügung von Übel die diesem Zweck nicht entspricht oder ihn nicht verfolgt, nicht als Strafe aufgefasst werden kann. Der Zweck ist somit nicht mehr ein die Strafe äußerlich bestimmendes Element, etwas, das man gegebenenfalls mit der Strafe erreichen kann aber nicht unbedingt zu erreichen versuchen muss, sondern er wird in den Rang eines sie überhaupt erst als Strafe bestimmendes Element erhoben. So bindet etwa Burlamaqui die Strafe an die „Absicht eines zukünftigen Gutes“ und sieht in ihr ein „Mittel, zur Sicherheit & Ruhe der Gesellschaft“. Auch Bentham spricht in seiner Definition der Strafe von einer „Absicht, in anderen Einzelfällen die Herbeiführung des schädlichen Teils seiner natürlichen Konsequenzen einzudämmen“. Wo Burlamaqui die Strafe an die Verwirklichung eines zukünftigen Gutes bindet, bindet Bentham sie an die Verhinderung eines zukünftigen Übels. Es handelt sich dabei allerdings nur um eine notwendige, und nicht gleichzeitig auch um eine hinreichende Bedingung, so dass nicht jedes Übel das zur Erreichung eines zukünftigen Gutes zugefügt wird, als Strafe betrachtet werden kann. Anders sieht es der von Feuerbach als Ausgangspunkt genommene allgemeine Sprachgebrauch, für den die Strafe ein Übel ist, „welches um begangener gesetzwidriger Handlungen, und zwar blos um dieser willen einem Subjecte zugefügt wird“. Das kleine Wörtchen „blos“ bringt zum Ausdruck, dass jeder zukünftige Zweck hier kategorisch ausgeschlossen ist. Man kann mit der Strafe zwar auch ein zukünftiges Gut zu erreichen versuchen, aber dieser Versuch ist vollkommen belanglos für die Bestimmung der Zufügung von Übel als einer Strafe. Die Strafe soll einzig und allein verhängt werden, weil jemand eine gesetzwidrige Handlung begangen hat. Bindet Burlamaqui die Strafe an einen in der Zukunft liegenden Zustand, so bindet der allgemeine Sprachgebrauch – zumindest so wie ihn Feuerbach rekonstruiert – die Strafe an ein in der Vergangenheit liegendes Ereignis. In diesem letzten Fall liegt der Zweck der Strafe bloß in der Reaktion auf das begangene Unrecht. In seinem Buch Einzelner und Staatsgewalt im geltenden Strafrecht schreibt Geerd: „Die Vertreter der klassischen und der modernen Schule mussten schon deshalb aneinander vorbei reden, weil die ‚Klassiker‘ immer nur nach dem Rechtsgrund staatlichen Strafens fragten und diese Legitimation ohne weiteres mit dem tatsächlichen durch Strafe verfolgten Zweck identifizierten“ (zitiert in Otto 1988: 19). Geerd macht hier auf den Unterschied zwischen Strafgrund

11. Der Strafzweck als definitorisches Element

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und Strafzweck aufmerksam und gleichzeitig auch auf die Tatsache, dass die sogenannten Klassiker diesen Unterschied missachteten. Die moderne Schule hingegen scheint eine solche Identifikation nicht vorzunehmen. Man kann den von Geerd hier vorgebrachten Unterschied auch noch anders formulieren, und zwar als Unterschied zwischen der grammatischen und der normativen Ebene. Auf der grammatischen Ebene ist die Frage zu stellen – wobei wir uns hier auf das staatliche Strafen beschränken: „Was gibt dem Staat das Recht zu strafen?“ bzw. „Was gibt dem Staat das Recht, bestimmte Zufügungen von Übel als Strafe zu bezeichnen?“. Auf der normativen Ebene wird diese Frage schon als beantwortet vorausgesetzt, und es wird die Frage gestellt, ob und inwiefern der Staat das Recht oder die Pflicht hat, Strafen zu verhängen und zu vollstrecken bzw. worauf sich dieses Recht oder diese Pflicht gründen. Daran kann sich dann noch die Frage anschließen, welche Zwecke der Staat mit der Strafe verfolgen muss oder verfolgen darf. Man kann nun die Antwort auf die normative Frage schon in der Antwort auf die grammatische Frage enthalten sehen. Unter diesen Umständen ist eine Strafe schon allein dadurch gerecht, dass es eine Strafe ist. Das was uns erlaubt, eine Zufügung von Übel als Strafe zu bezeichnen, macht aus dieser Zufügung von Übel automatisch auch eine gerechte und eventuell sogar eine obligatorische. Aber aus der Tatsache, dass man die grammatische und die normative Ebene manchmal nicht voneinander trennt, folgt noch nicht, dass man sie nicht voneinander trennen kann oder voneinander trennen soll. Wir werden im vierten Kapitel noch genauer auf diesen Punkt zurückkommen.

Literaturverzeichnis Aquin, Thomas von, Summa theologiae, Stuttgart 1985. (Zusammengefasster Text). Austin, John, The province of jurisprudence determined, Cambridge: 1995. Bentham, Jeremy, An introduction to the principles of morals and legislation, Oxford: 1996. Burlamaqui, Jean-Jacques, Principes du droit naturel, Caen: 1989. Carrara, Francesco, Programma del corso di diritto criminale, Bologna: 1993. Cattaneo, Mario, Illuminismo e legislazione penale, Milano: 1993. Collingwood, Robert G., Essays in political philosophy, Oxford: 1995. Feuerbach, Paul J. Anselm von, Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts. Band I, Aalen: 1966. Grotius, Hugo, Du droit de la guerre et de la paix, Caen: 1984. Französische Übersetzung von De iure belli ac pacis. Hobbes, Thomas, Leviathan, Harmondsworth: 1982. Humboldt, Wilhelm, von, Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, Darmstadt: 1980. Liszt, Franz von, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, Berlin: 1900. Naucke, Wolfgang, Strafrecht. Eine Einführung, Neuwied u. a.: 1995. Otto, Harro, Grundkurs Strafrecht, Berlin: 1988. Pufendorf, Samuel, Du droit de la nature et des gens, Caen: 1987. Französische Übersetzung von De iure naturae et gentium. Radbruch, Gustav, ‚Erste Stellungnahme nach dem Zusammenbruch 1945‘, in: Radbruch, Gustav: 1957. Radbruch, Gustav, ‚Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht‘, in: Radbruch, Gustav: 1957.

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Radbruch, Gustav, Der Mensch im Recht, Göttingen: 1957. Textor, Johann, Synopsis of the law of nations, Buffalo (NY): 1995. Englische Übersetzung von Synopsis iuris gentium.

Kapitel 3 Das Recht zu strafen und die Pflicht zu strafen 1. „Das schreckbarste aller Rechte“. Wer eine Strafe erleidet, erleidet ein Übel, und wer ein Übel erleidet, leidet. Jede Strafe impliziert also das Leiden des Bestraften, mag dieses Leiden körperlicher oder seelischer Natur sein. Gäbe es nur sogenannte natürliche Strafen, d. h. wäre jede Strafe die natürliche Konsequenz eines bestimmten Verhaltens, wobei kein Wille, auch kein göttlicher, den Zusammenhang zwischen dem Verhalten und dem Übel hergestellt hätte und auch nicht eingreifen könnte, um ihn im allgemeinen oder in Einzelfällen aufzulösen, dann würde man die Strafen als Naturereignisse hinnehmen – vorausgesetzt, man würde überhaupt noch den Begriff der Strafe gebrauchen. Wenn etwa, um ein konkretes, wenn auch ganz fiktives, Beispiel zu geben, jeder Mörder nach begangenem Mord eine derartige, vielleicht im natürlichen Evolutionsprozess entstandene Gefühlsaufwallung in sich verspüren würde, dass er nach wenigen Stunden an ihr sterben würde, dann würde die Frage einfach nicht gestellt werden können, ob dem Täter Recht oder Unrecht geschehe, wenn er nach der Tat eine solche, seinen Tod herbeiführende Gefühlsaufwallung in sich verspürt. Die Frage würde höchstens dann auftauchen, wenn wir hinter der Natur einen durch sie hindurch agierenden Willen vermuten würden, den man für die Herstellung des Zusammenhangs verantwortlich machen könnte und dessen Entscheidungen und Handlungen unter die Kategorien des Gerechten und des Ungerechten fallen könnten. Selbst derjenige, der an natürliche Strafen glaubt, wird zugeben müssen, dass nicht alle Strafen natürliche Strafen sind. In der Regel sind es bewusst handelnde Wesen, die andere bewusst handelnde Wesen bestrafen. Die Strafen sind somit ein Übel, das vernünftige Wesen anderen vernünftigen Wesen zufügen, und das sie manchmal auch unvernünftigen Wesen – etwa Tieren – zufügen, wenn sie diese, bewusst oder unbewusst, unter einem anthropomorphen Blickwinkel betrachten. Geht man von der Voraussetzung aus, dass der Umgang vernünftiger Wesen miteinander immer auch ein vernünftiger sein sollte, der auf dem sogenannten zwanglosen Zwang des besseren Argumentes beruht, dann wird man fragen müssen, wer oder was einem vernünftigen Wesen das Recht gibt, einem anderen vernünftigen Wesen ein Übel, und manchmal sogar, im Fall der Todesstrafe, eines der höchsten, wenn nicht das höchste Übel zuzufügen. An dieser Stelle ist es wichtig, zwei Probleme voneinander zu unterscheiden, und zwar: (1) Warum darf/muss X bestraft werden? (2) Warum darf/muss Y den X bestrafen?

Bei der ersten Frage geht es um das Prinzip der Bestrafung als solcher, also darum, warum jemand eine Strafe erdulden muss, wo wir doch gewöhnlich davon ausgehen, dass niemand eine Übelszufügung erleiden sollte. Vorausgesetzt man hat diese erste Frage beantwortet und dargelegt, dass X bestraft werden darf/muss und man hat darüber hinaus auch dargelegt, welchem Zweck

oder welchen Zwecken die Bestrafung dient, so hat man noch nicht gezeigt, wer überhaupt dazu berechtigt ist, die Strafe auszuführen. Genauso wie wir prima facie annehmen, dass X vor jeder Übelszufügung beschützt werden sollte, nehmen wir auch prima facie an, dass niemand dem X Übel zufügen darf. Eine Strafe ist aber immer eine Zufügung von Übel, und somit stellt sich unweigerlich die Frage, wenn man einmal die Legitimität der Bestrafung überhaupt bewiesen hat, wer die Strafe verhängen und vollstrecken darf oder muss. Dies könnte im Prinzip X selbst sein – denn die Menschen sind durchaus in der Lage, grammatisch wie auch faktisch, sich selbst zu bestrafen –, oder ein bestimmter Y – aber welche Bedingungen muss dieser Y dann erfüllen, damit er und kein anderer zum Strafen berechtigt ist? –, oder noch, dritte Möglichkeit, irgendjemand bzw. jeder. Wir fragen also hier nach dem Inhaber des Rechts und der Pflicht zu strafen und auch danach, wie man in den Besitz dieses Rechts kommen könnte bzw. wie es dazu kommt, dass jemand unter einer solchen Pflicht stehen könnte. Insofern die Praxis des strafrechtlichen Verurteilens, als des Verhängens einer Strafe, zu einschneidenden Eingriffen in fundamentale menschliche Rechtsgüter, also Güter, die durch die rechtliche Ordnung geschützt sind, führen kann – Leben, Freiheit, Glück, Besitz, Selbstrespekt, … –, ist die Frage nach der legitimen Strafinstanz keine rein nebensächliche Frage. Wer von sich behauptet, zum Strafen berechtigt, wenn nicht sogar verpflichtet zu sein, muss dementsprechend gute Gründe vorbringen können, warum gerade er dazu berechtigt ist, vor allem dann, wenn er behauptet, dass andere dieses Recht nicht haben bzw. nicht unter dieser Pflicht stehen. Er beansprucht nämlich das, was Joseph von Sonnenfels – wie schon Montesquieu vor ihm – als „das schreckbarste aller Rechte“ bezeichnet, und das deshalb „nur solchen Händen anvertraut seyn [soll], gegen welche die wenigste Vermuthung eines Mißbrauchs auffallen kann“ (Sonnenfels 1970: Band 1, 211). 2. Der Zusammenhang zwischen dem Recht zu strafen und der Pflicht zu strafen. Bevor wir uns mit möglichen Kandidaten für die Funktion der strafenden Instanz befassen, wollen wir zunächst kurz noch auf den Zusammenhang zwischen Rechten und Pflichten eingehen. Wo dieser Zusammenhang in der Staats- oder Rechts- oder auch Sozialphilosophie thematisiert wird, geht es meistens um den Zusammenhang zwischen den Rechten von X und den Pflichten von Y. Wenn etwa X ein Recht auf Arbeit – und nicht nur ein Recht zu arbeiten – hat, gibt es dann irgendein Y das dazu verpflichtet ist, dem X eine Arbeit zu besorgen bzw. sicherzustellen, dass X tatsächlich eine Arbeit findet, wenn er nach einer solchen sucht? Dies ist ein Beispiel für ein sogenanntes Anspruchsrechts. Um auch das Beispiel für ein Freiheitsrecht zu geben: Wenn X das Recht hat, seine Meinung frei zu äußern, hat Y dann die Pflicht, X nicht an der Äußerung seiner Meinung zu stören? Alle Freiheitsrechte können natürlich so konstruiert werden, dass ihnen eine Anspruchsdimension zukommt. Wenn etwa X das Recht hat, seine Meinung frei zu äussern, hat dann Z nicht die Pflicht, die Bedingungen der Möglichkeit zu erhalten, unter denen X seine Meinung frei äußern kann – und somit etwa die Pflicht, Y daran zu hindern, X daran zu hindern, seine Meinung frei zu äußern? Umgekehrt kann auch allen

2. Der Zusammenhang zwischen dem Recht zu strafen und der Pflicht zu strafen

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Anspruchsrechten eine Freiheitsdimension abgewonnen werden: Wenn etwa X das Recht auf Arbeit hat, hat dann nicht Y die Pflicht, X nicht an der Annahme einer Arbeit zu hindern? Pflichten und Rechte müssen allerdings nicht immer auf zwei unterschiedlichen Instanzen verteilt sein. In Ansehung eines bestimmten Gegenstandes kann X gleichzeitig ein Recht und eine Pflicht haben. In einigen Ländern, wie etwa Luxemburg, gilt dies z. B. für das Wählen: Jeder großjährige Luxemburger hat zugleich das Recht wie auch die Pflicht, an den Wahlen teilzunehmen – von einigen Ausnahmen abgesehen, wie etwa die Personen über 75, die nicht mehr zum Wählen verpflichtet sind. Auch hinsichtlich des Strafens kann eine und dieselbe Instanz berechtigt und verpflichtet sein. Dabei muss allerdings auf eine Assymmetrie zwischen Recht zu strafen und Pflicht zu strafen hingewiesen werden, eine Assymmetrie, die das Implikationsverhältnis von Rechten und Pflichten betrifft, und nicht nur für das Strafen gilt. Steht X unter der Pflicht zu strafen, hat er damit automatisch auch das Recht zu strafen – allerdings hat er nicht mehr das Recht, zwischen Strafen und Nicht-Strafen zu wählen. Es wäre nämlich absurd, jemandem eine Pflicht aufzubürden, ihm aber gleichzeitig das Recht abzusprechen, diese Pflicht auch zu erfüllen. Sollen impliziert nicht nur Können – also in der Lage sein, etwas zu tun –, wie Kant ganz richtig festgehalten hat, sondern es impliziert auch Dürfen – also berechtigt sein, etwas zu tun. Gelänge es zu beweisen, dass es eine Pflicht zu strafen gibt, so hätte man automatisch auch schon den Beweis erbracht, dass es ein Recht zu strafen gibt und geben muss. Es bliebe nur noch die Aufgabe zu bestimmen, wer zum Strafen verpflichtet und damit auch gleichzeitig berechtigt ist. Und diese Aufgabe muss erfüllt werden, denn wenn etwas Pflicht ist, dann muss es getan werden, und wenn es getan werden muss, dann muss es auch jemanden geben, der es tut und tun muss. Dies gilt vor allem dann, wenn es sich um eine kategorische Pflicht handelt, um eine Pflicht, die unbedingt erfüllt werden muss. Wenn das Strafen unbedingt erfordert ist – und wenn es keine natürlichen Strafen gibt bzw. wenn nicht jede strafbare Handlung automatisch eine natürliche Strafe nach sich zieht –, dann muss es eine strafende Instanz geben. Insofern es eine Pflicht zu strafen gibt, muss es also auch ein Recht zu strafen und eine strafende Instanz geben. Anders sieht es aus, wenn man nicht die Pflicht zu strafen an den Anfang stellt, sondern das Recht zu strafen. Aus der Tatsache, dass X ein Recht zu strafen hat, folgt noch nicht, dass X auch eine Pflicht zu strafen hat. Ist das Recht ein konstitutiver Bestandteil der Pflicht, so ist die Pflicht kein konstitutiver Bestandteil des Rechts. Dürfen impliziert also nicht Sollen. Und dies gilt selbst dann nicht, wenn es sich um ein unaufgebbares Recht handelt, also um ein Recht, auf das sein Inhaber nicht verzichten darf. Man muss hier nämlich zwischen dem bloßen Besitz eines Rechts und der Ausübung dieses Rechtes unterscheiden. Wo nur der Besitz unaufgebbar ist, folgt keine Pflicht zur Ausübung des Rechts. Eine solche Pflicht wäre nur dann gegeben, wenn der Inhaber des Rechts die Ausübung dieses seines Rechtes nicht aufgeben darf. Auch impliziert die Existenz eines Rechts nicht unbedingt die tatsächliche Existenz eines bestimmten Inhabers dieses Rechts oder besser gesagt von

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Kapitel 3: Recht zu strafen und Pflicht zu Strafen

jemandem, der dieses Recht ausüben darf. Wenn in einer Gemeinschaft etwas getan werden soll – wenn das Tun also Pflicht ist –, dann muss es auch jemanden geben, der es tut; aber wenn in dieser Gemeinschaft etwas getan werden darf, dann muss es nicht unbedingt jemanden geben, der es tut. Man kann also abstrakt beweisen, dass es ein Recht zu strafen gibt, ohne sich dadurch automatisch der Aufgabe stellen zu müssen zu zeigen, wer tatsächlich im Besitz dieses Rechtes ist. Neben dem eben behandelten ist ein anderer Zusammenhang zwischen Rechten und Pflichten zu berücksichtigen. Und zwar geht es dabei um die bei der Ausübung des Rechts zu beachtenden Pflichten. Rechte können nicht nur andere verpflichten, sondern auch denjenigen, der das Recht ausübt. Dabei geht es nicht um eine Pflicht, das Recht überhaupt auszuüben, sondern um die Pflichten, denen man bei der Ausübung des Rechtes unterliegt. Dabei muss es sich natürlich nicht unbedingt um moralische Pflichten handeln. Wer etwa das Recht zu strafen für sich in Anspruch nimmt, ist dazu verpflichtet, nur solche Menschen zu bestrafen, von denen er annimmt, dass sie eine strafwürdige Handlung ausgeführt haben. Erfüllt er diese für die Handlung des Strafens konstitutive Pflicht nicht, bestraft er nicht, sondern fügt einfach einem Menschen ein Übel zu. Das heißt noch nicht automatisch, dass die Zufügung von Übel unberechtigt ist, sondern nur, dass es unberechtigt ist, sie als Strafe zu bezeichnen. Wichtiger als die Frage nach den transzendentalpragmatischen Pflichten die man beim Strafen zu berücksichtigen hat, ist die Frage nach den moralischen Pflichten. Impliziert die Ausübung des Rechts oder auch der Pflicht zu strafen die Pflicht, immer gerecht zu strafen, oder doch zumindest die Pflicht – denn die Menschen sind fehlbare Kreaturen –, immer nur eine dem eigenen Gewissen als gerecht erscheinende Strafe zu erteilen? Es sei dann noch auf einen weiteren Zusammenhang hingewiesen. Angenommen es wurde gezeigt, dass X ein Recht hat, Y zu bestrafen. Kann man daraus schließen, dass Y eine Pflicht hat, die Strafe zu erdulden, dass er sich also bestrafen lassen muss? Insofern die Strafe für ihn ein Übel bedeutet, ein Übel, das sogar der Tod sein kann, sollte man Y wirklich dazu verpflichten, die Strafe passiv zu erdulden und ihm dementsprechend das Recht absprechen, etwa durch Flucht zu versuchen, der Strafe zu entkommen? 3. Gottes Recht zu strafen. Das Recht, jemanden zu einer Strafe zu verurteilen und diese Strafe vollstrecken zu lassen, ist ein schreckliches Recht, impliziert es doch das Recht, Menschen Übel zuzufügen. Ein solches Recht, so könnte man denken, kann keinen menschlichen Ursprung haben, ja darf vielleicht sogar nicht einmal von Menschen ausgeübt werden. Denn erstens sind Menschen fehlbare Kreaturen, und zwar auch dann noch, wenn sie die besten Absichten haben. Es besteht somit die Gefahr, dass sie mit bestem Wissen und Gewissen Menschen bestrafen, die es eigentlich nicht verdient hätten, von denen sie aber glauben, sie verdienten es. Zweitens gibt es keinen Menschen, der nicht selbst schon einmal eine Tat begangen hat, für die er eine Strafe verdiente. Doch sollte nicht, wer sich das Recht anmaßt, andere Menschen zu bestrafen, das Sinnbild der Gerechtigkeit sein? Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet, heißt es schon im Neuen Testament. Und auch: Wer noch nicht gesündigt hat,

3. Gottes Recht zu strafen

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der werfe den ersten Stein. Letzteren Satz könnte man wie folgt umformulieren: Nur wer noch keine Strafe verdient hat, darf das Recht zu strafen für sich beanspruchen. Epistemische und moralische Unfehlbarkeit scheinen somit zwei Bedingungen zu sein die erfüllt werden müssen, wenn man das Recht zu strafen für sich beanspruchen will. Nun gibt es aber keinen Menschen der von sich sagen kann, dass er in diesen beiden Hinsichten unfehlbar ist. Also kann das Recht zu strafen auch keinen menschlichen Ursprung haben. Wenn das Recht zu strafen aber keinen menschlichen Ursprung hat und wenn es trotzdem ein solches Recht gibt, dann kann es, wenn überhaupt, höchstens Gott zukommen. Denn erstens taucht bei Gott nicht das Problem der Gleichheit auf. Wenn alle Menschen gleich sind, dann kann scheinbar kein Mensch von Natur aus ein Recht haben, andere zu bestrafen, wobei diese anderen gleichzeitig verpflichtet wären, die Strafe zu erdulden. Mit Gott haben wir ein Wesen, das den Menschen nicht nur bei weitem überlegen ist, sondern das gleichzeitig auch ihr Schöpfer ist. Und aus dieser letzten Eigenschaft fließt, so wird behauptet, das göttliche Recht, die Menschen zu bestrafen. Denn als Schöpfer hat Gott alle Rechte über die Menschen, und somit auch das Recht zu strafen. Doch ist Gott nicht nur der Schöpfer der Menschen. Er ist auch ein allwissendes und unfehlbares Wesen. Dadurch unterscheidet er sich von den menschlichen Richtern, denen es nie gelingen wird, alle für ein gerechtes Urteil relevanten Fakten zu kennen – angefangen mit den Fakten, die sich auf die psychischen Vorgänge im Bewusstsein des Täters abspielen. Wenn man dementsprechend mit Sonnenfels festhält, dass nicht der Erfolg, sondern der Wille – die mens rea, wie es im angelsächsischen Strafrecht heißt – der eigentliche Gegenstand der strafenden Gerechtigkeit ist (Sonnenfels 1970: Band 1, 245), dann scheint nur der allwissende Gott einen angemessenen Zugang zu dem zu haben, was einen Menschen für eine Bestrafung qualifiziert. Und es kommt noch drittens hinzu, dass Gott ein vollkommen gerechtes Wesen ist, bei dem nicht einmal die „wenigste Vermuthung eines Mißbrauchs“ auftreten kann. Da Gott nicht sündigen kann, ist er dazu berechtigt, den ersten Stein und auch alle weiteren Steine zu werfen – und nur er ist dazu berechtigt.Von Gott allein ist zu erwarten, dass er nur diejenigen bestraft, die eine Strafe auch verdient haben. Will man dementsprechend jeden Missbrauch des Strafrechts und jedes Justizirrtum vermeiden, und will man ausserdem verhindern, dass Menschen anderen Menschen Übel zufügen – wie es uns Jesus nahe legt, wenn er sagt, man solle die andere Wange hinhalten –, dann wird man nur Gott das Recht zu strafen zusprechen. Einzelne Denker gehen allerdings noch einen kleinen Schritt weiter und sprechen sogar Gott das Recht zu strafen ab. So schreibt etwa Fouillée in seiner Science sociale: „Wenn es einen Gott gibt, dann hat selbst dieser Gott nicht das Recht zu strafen … und er verdiente als erster in die von ihm geschaffene Hölle geworfen zu werden“ (zitiert in: Proal 1892: 507). Wer davon ausgeht, dass die Menschen keinen freien Willen besitzen und dementsprechend auch keine Schuld auf sich laden können, wird konsequenterweise selbst Gott das Recht zu strafen absprechen müssen. Ausser vereinzelten Gegnern der These der menschlichen Willensfreiheit, hat niemand den Standpunkt vertreten, dass selbst Gott, wenn es ihn gibt, die

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Menschen nicht bestrafen darf. Und ausser vereinzelten Gegnern einer jeden Form menschlicher Gewalt, hat niemand den Standpunkt vertreten, allein Gott, wenn es ihn gibt, dürfe das Recht zu strafen besitzen. Die meisten Denker die die Existenz Gottes voraussetzen, sprechen Gott ein Recht zu strafen zu, und einige unter ihnen lassen das menschliche Recht zu strafen aus dem göttlichen Recht zu strafen fließen. Gott, so wird gesagt, hat den Menschen – im allgemeinen, oder dann aber nur ganz bestimmten Menschen –, das Recht zu strafen übertragen. So heißt es etwa in Bossuets Politique tirée des propres paroles de l’Ecriture Sainte, es sei unmittelbar Gott, der den Königen das Recht zu urteilen überträgt, und mit diesem Recht überträgt er ihnen gleichzeitig die Neigung, nur gemäß dem göttlichen Willen und den göttlichen Gesetzen zu urteilen (Bossuet 2003: VIII, I, II). Zu diesen Urteilen zählen auch, wenn nicht sogar vorwiegend die Strafurteile. Laut Bossuet überträgt Gott den Königen allerdings nicht nur das Recht zu strafen, sondern auch die Neigung, gerecht zu strafen. Es wird den Königen also gleichzeitig mit dem göttlichen Recht eine göttliche Eigenschaft übertragen, eine Eigenschaft die einem Missbrauch des göttlichen Rechts entgegenwirken soll. Prinzipiell hätte Gott natürlich das Recht zu strafen für sich selbst behalten und es auch selbst ausüben können. Aber er hat es den Menschen übertragen, damit diese selbst die Verantwortung für das gute Funktionieren ihrer Gesellschaft übernehmen. Auch ließe sich sagen, dass Gott nicht immer und überall Strafen verhängen und vollstrecken kann. Diejenigen, denen er dieses Recht übertragen hat, müssen sich allerdings vor ihm für die Ausübung dieses Rechtes verantworten. Man könnte allerdings argumentieren, dass Gott bis zum Jüngsten Gericht hätte warten können, da hier sowieso vorgesehen ist, dass über jeden geurteilt wird. Nur: Das geregelte Zusammenleben der Menschen kann nicht bis zum Jüngsten Gericht warten. Die Angst der Menschen vor einer Bestrafung anlässlich des Jüngsten Gerichts ist nicht stark genug, um sie schon jetzt von bestimmten Taten abzuhalten – davon abgesehen, dass manche Menschen nicht an das Jüngste Gericht glauben. Unter diesen Umständen musste Gott schon irdische Strafen einführen und somit auch eine irdische Instanz damit beauftragen und gleichzeitig dazu berechtigen, solche Strafen zu verhängen und zu vollstrecken. Manche Denker sprechen Gott allerdings nicht nur das Recht zu strafen zu, sondern ein über dieses Recht zu strafen hinaus gehendes Recht zu rächen bzw. zu vergelten. So etwa, wenn auch nur implizit, Arthur Schopenhauer in Die Welt als Wille und Vorstellung: „Kein Mensch aber hat die Befugnis, sich zum rein moralischen Richter und Vergelter aufzuwerfen und die Missetaten des andern durch Schmerzen, welche er ihm zufügt, heimzusuchen, ihm also als Buße dafür aufzulegen. Vielmehr wäre dieses eine höchst vermessene Anmaßung; daher eben das Biblische: >Mein ist die Rache, spricht der Herr, und ich will vergelten< [Römer 12, 19]“ (Schopenhauer 2004: I, IV, Par. 62, 476). Es gibt also ein noch schrecklicheres Recht als das Recht zu strafen, nämlich das Recht zu vergelten oder zu rächen, und dieses Recht hat Gott für sich behalten. Das Recht zu strafen ist für Schopenhauer, wie für viele anderen, ein Recht, im Hinblick auf einen guten zukünftigen Zweck hin ein Übel zuzufügen, wohinge-

4. Naturzustand und Recht zu strafen

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gen das Recht zu rächen sich darin erschöpft, bloß wegen einer begangenen sündigen Handlung ein Übel zuzufügen, ohne dass also ein Nutzen aus dieser Übelszufügung entspringt. Der Mensch darf immer nur aus Nützlichkeitsgründen, Gott darf auch aus nicht-utilitären Gründen bestrafen. Grotius hatte schon auf diesen Unterschied zwischen Gott und den Menschen aufmerksam gemacht. Die menschlichen Strafen, heißt es in De iure belli ac pacis, erfolgen immer im Hinblick auf ein zukünftiges Gut, da die Menschen sich auf Grund ihrer natürlichen Soziabilität kein Übel zufügen dürfen, ohne dass aus ihm ein Gut für das gesellschaftliche Zusammenleben entspringt. Die göttlichen Strafen hingegen, brauchen nicht auf irgendeinen Zweck orientiert zu sein. Gott hat das Recht, die Strafe nur um des mit ihm verbundenen Übels zu verhängen, ein Recht, das dem Menschen nicht zusteht (Grotius 1984: II, XX, IV). 4. Naturzustand und Recht zu strafen. Für viele politische Philosophen des 17. und 18. Jahrhunderts war der Naturzustand der Zustand des Menschen vor der Errichtung von Staaten und vor der Etablierung positiver Gesetze. Uneinigkeit herrschte allerdings darüber, ob es im Naturzustand schon so etwas wie eine nicht-staatliche Form menschlicher Gesellschaft gab – John Locke –, oder ob man sich den Naturzustand als einen Zustand vorstellen sollte, in dem der Mensch ein einsames, unzivilisiertes, stets gefährdetes und von keiner Annehmlichkeit begleitetes Leben führte – Thomas Hobbes. Uneinigkeit herrschte allerdings auch darüber, ob die im Naturzustand lebenden Menschen schon ein Recht zu strafen besitzen. Hugo Grotius geht davon aus, dass schon die im Naturzustand lebenden Menschen ein solches Recht besitzen. Ihm zufolge erlaubt es die Natur, dass man einem Menschen wegen eines begangenen Unrechts ein Übel zufügt, wobei allerdings, wie wir gerade eben gesehen haben, diese Übelszufügung, wenn sie von einem Menschen vorgenommen wird, immer auf ein Gutes abzwecken muss und nicht um ihrer selbst geschehen darf – denn ein solches Recht ist nur Gott vorbehalten. Grotius unterscheidet dabei drei Zwecke der Strafe (Grotius 1984: II, XX, VI ff). Soll durch die Strafe der Verbrecher gebessert werden, so erlaubt es die Natur jedem moralisch anständigen Menschen, die Strafe vorzunehmen. Der Bestrafende muss dem Bestraften in moralischer Hinsicht überlegen sein, da mit der Strafe ein moralischer Zweck verfolgt wird. Das Recht zu strafen ist also hier an die Moralität des Strafenden gebunden. Erfolgt die Strafe, um das Opfer vor weiteren Verbrechen des Täters zu schützen, so erlaubt es das natürliche Recht einem jeden, die Strafe zu vollstrecken. Jeder darf sich also zum Beschützer des Opfers machen, auch dann, wenn es zwischen beiden keine Verwandschafts- oder Freundschaftsbeziehungen gibt. Hier fällt also die Moralitätsklausel weg und es rückt die dem Opfer wie dem Bestrafenden gemeinsame Humanität in den Vordergrund. Bleibt dann noch der dritte Fall, wo die Bestrafung zum Schutze der Allgemeinheit ausgeführt wird. Auch hier meint Grotius, dass von Natur aus jedem Menschen ein Recht zukommt, zu diesem Zweck zu bestrafen. Auch John Locke vertritt die Ansicht, dass die Menschen schon im Naturzustand über ein Recht zu strafen verfügen. Wie Hobbes vor ihm, geht auch Locke

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davon aus, dass der Naturzustand kein gesetzloser Zustand ist, sondern ein Zustand, in welchem der Mensch dem natürlichen Gesetz unterliegt. Während Hobbes allerdings davon ausging, dass das fundamentale Naturgesetz mit dem Gesetz der individuellen Selbsterhaltung zusammenfiel, ist für Locke die kollektive Selbsterhaltung der Inhalt des natürlichen Gesetzes. Der Mensch ist also nicht nur dazu verpflichtet, sich selbst zu erhalten, sondern alle Menschen. Dieses Gesetz, so Locke in seinem Second treatise, wäre „nutzlos, wenn es im Naturzustand keine Instanz gäbe, welche die Macht hätte, es auszuführen und dadurch die Unschuldigen zu schützen und die Verbrecher abzuhalten“ (Locke 1993: 2. Treatise, Par. 7). Nun sind aber alle Menschen im Naturzustand gleich, so dass, wenn irgendein Individuum das Recht zu strafen besitzt, es automatisch alle Individuen besitzen. Aus diesen beiden Prämissen – (1) es muss eine Instanz geben, welche das Recht zu strafen hat, ansonsten das Gesetz nutzlos wäre und (2) alle Menschen sind im Naturzustand gleich – leitet Locke also ein allgemeines Recht zu strafen im Naturzustand ab: „Jeder Mensch hat ein Recht, den Verbrecher zu bestrafen und der Ausführer des natürlichen Gesetzes zu sein“ (Locke 1993: 2. Treatise, Par. 8). Insofern Hobbes davon ausgeht, dass eine Strafe immer nur von einer öffentlichen Autorität verhängt und ausgeführt werden kann, schließt er die Existenz sowohl der Strafen wie des Rechts zu strafen im Naturzustand aus. Unter diesen Umständen ist es allerdings unverständlich, wie er behaupten kann, dass die Untertanen ihr Recht zu strafen abgetreten haben, wohingegen der Souverän das seinige behält. Er kann höchstens sagen, dass der Souverän das Recht behält, Übel zuzufügen, während die Individuen auf die Ausübung dieses Rechtes verzichten. Um den Gedanken eines Rechts zu strafen im Naturzustand aufrecht zu erhalten, müsste Hobbes zeigen, dass die Individuen im Naturzustand im Namen Gottes Übertretungen der natürlichen Gesetze ahnden dürfen. Sie müssten sich dann allerdings alle als Mitglieder einer Gemeinschaft betrachten, deren Souverän Gott ist. Samuel Pufendorf ist konsequenter als Hobbes. Wie Hobbes sieht auch er in der Strafe ein Übel, das eine Autorität verhängt. Nun sind aber alle Menschen im Naturzustand gleich, so dass niemand einem anderen unterworfen ist. Die einzige Autorität die der Mensch im Naturzustand anzuerkennen verpflichtet ist, ist Gott. Daraus schließt Pufendorf, dass es im Naturzustand nur göttliche Strafen geben kann (Pufendorf 1991: II, 13). Pufendorf spricht nicht von der Möglichkeit, dass Gott bestimmten Menschen das Recht delegiert hat, Strafen zu verhängen und zu vollstrecken. Im Gegensatz zu Locke, scheint Pufendorf sich nicht weiter daran zu stören, dass im Naturzustand viele Verbrechen unbestraft bleiben. Im gesellschaftlichen Zustand sehen die Dinge natürlich anders aus, da es hier eine Autorität gibt. Und es ist diese Autorität, die allein das Recht zu strafen besitzt.Wie Pufendorf behauptet auch Schopenhauer, dass unter Menschen das Recht zu strafen nicht unabhängig von positiven Gesetzen existieren kann und dass es somit außerhalb des Staates kein Strafrecht geben kann (Schopenhauer 2004: I, IV, 62, 475). Die Frage, ob das Recht zu strafen dem Menschen schon im Naturzustand zukommt oder ob es sich erst auf positive Gesetze gründet, ist keine rein akademische Frage. Dies wird klar, wenn man bedenkt, dass für die meisten

5. Der Strafkrieg

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Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts das Zusammenleben der Staaten ein Naturzustand ist, da die Staaten keine ihnen übergeordnete irdische Autorität anerkennen – non est potestas super terram quae ei comparetur, heißt es auf dem Titelblatt des Leviathan. Von der Frage, ob die Menschen im Naturzustand ein Recht zu strafen haben, hängt somit die Frage ab, ob der Souverän eines Staates einen anderen Staat, den Souverän dieses anderen Staates oder ein Mitglied dieses Staates bestrafen darf. Auf dem Spiel steht also die auch heute noch relevante Frage nach der Möglichkeit und vor allem natürlich auch nach der Legitimität eines sogenannten Strafkriegs. 5. Der Strafkrieg. Die Frage nach der iusta causa, nach dem gerechten Grund eines Krieges hat die Theologen und Philosophen das ganze Mittelalter hindurch und weit darüber hinaus beschäftigt. Worin sich alle – sieht man einmal von einigen Radikalpazifisten ab – einig sind ist, dass ein Krieg – und es soll hier nur von öffentlichen Kriegen die Rede sein – immer dann gerecht ist, wenn er dazu dient, einem ungerechten Angriff zu widerstehen. Viele Denker sind sich auch darin einig, dass ein Staat auf den Krieg zurückgreifen darf, wenn er das einzige Mittel ist, um ein ungerechterweise geraubtes Gut – z. B. eine Provinz – wiederzuerlangen. Problematisch wird es allerdings bei der Frage, ob ein Staat auf den Krieg zurückgreifen darf, um einen anderen Staat oder um ein anderes Volk zu bestrafen. Dabei sind zwei Fälle zu unterscheiden. Der erste Fall betrifft ein Unrecht, das man selbst erlitten hat. Um ein zeitgenössisches Beispiel zu nehmen: Ein Staat X schickt einige Flugzeuge aus, die Bomben auf eine Anlage abwerfen, in der vermutet wird, dass ein Staat Y an der Herstellung einer Atombombe arbeitet. Es liegt hier ein klarer Verstoß gegen das internationale Recht seitens des Staates X vor, da es keine internationale Norm gibt, die einen solchen Eingriff autorisiert. Nehmen wir an, es gäbe keine internationalen Instanzen, die für die Durchsetzung des internationalen Rechts zuständig sind. Wie steht es dann um das Recht des Staates Y, den Staat X wegen eines ungerechten militärischen Angriffs zu bestrafen? Wenn die Strafe, wie es Hobbes und Pufendorf behaupten, voraussetzt, dass der Strafende Autorität über den Bestraften besitzt – und gemeint ist hier eine politische Autorität –, kann hier nicht von einer Strafe gesprochen werden. Wenn demnach der Staat Y den Staat X angreift, kann keine Rede von einem Strafkrieg sein. Was auf den ersten Blick als eine rein sprachliche Sache erscheinen mag, entpuppt sich aber, bei genauerem Hinsehen, als viel mehr als nur das. Wer nämlich den Ausdruck „Strafkrieg“ für sein Unternehmen verwendet, beansprucht eine bestimmte Autorität für sich, zumindest eine bestimmte moralische Autorität. Insofern die Strafe nämlich immer nur jemanden treffen kann, der ein Unrecht begangen hat – oder von dem man zumindest glaubt, er habe ein Unrecht begangen –, schlüpft der Strafende in die Rolle dessen, der auf das Unrecht reagiert. Und von dem, der auf das Unrecht reagiert, nimmt man gewöhnlich an, dass er ein Freund des Rechts ist und dass er das Recht somit auch auf seiner Seite hat. Und so gleitet man schnell in einen Zustand, in dem die Freunde des internationalen Rechts das Recht für sich beanspruchen, die sogenannten Schurkenstaaten zu bestrafen, wenn diese Handlungen ausüben, durch welche die Interessen der eingreifenden Staaten lädiert werden könnten.

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Der zweite Fall betrifft ein Unrecht, das ein Dritter erlitten hat. Dieses Problem beschäftigte vor allem die spanischen Theologen des 16. Jahrhunderts, aber man findet es auch bei den großen Staats- und Rechtsphilosophen des 17. Jahrhunderts. In seinem Democrates Alter – ein Buch das, nebenbei bemerkt, nicht in Spanien erscheinen durfte – rechtfertigt der spanische Theologe Juan Ginés de Sepúlveda – der vor allem als Opponent von Bartolomé de las Casas in Valladolid bekannt ist – einen Strafkrieg gegen die Götzenanbeter im allgemeinen und die amerikanischen Ureinwohner im besonderen (Sepulveda 1987: 159). Insofern diese ein Unrecht gegen Gott begehen, müssen sie bestraft werden, und zwar schon hiernieden. Es kann und darf nicht gewartet werden, bis Gott sie im Jenseits bestraft. Für Sepúlveda gilt also nicht der Grundsatz non bis in idem, sondern die Götzenanbeter soll eine menschliche und eine göttliche Strafe für ein und dasselbe Verbrechen ereilen. In seinen Augen war schon der bloße Unglaube ein gerechter Kriegsgrund, ein Standpunkt, den viele anderen Theologen, bei Francisco de Vitoria angefangen, nicht teilten (Vitoria 1967). Die Indianer begnügen sich allerdings nicht damit, Götzenanbeter zu sein, sondern sie essen sich auch gegenseitig auf und begehen eine Reihe anderer Verbrechen gegen das natürliche Gesetz – so zumindest die Darstellung, die man in den Dokumenten der Missionare und Conquistadores findet, die die amerikanischen Ureinwohner in ihrem Alltag kannten. Hier kommt also nicht nur Gott zu schaden, sondern auch andere Menschen, andere Indianer. Und es stellt sich die Frage, ob die Spanier ein Recht haben, hier einzugreifen. Genauer gesehen gibt es hier zwei Fragen. Eine erste Frage ist die des bloßen Eingriffs. Angenommen eine spanische Truppe trifft auf eine Gruppe von Indianern die dabei sind, einen der ihren verspeisen zu wollen. Dürfen die Spanier eingreifen, um das Opfer zu retten? Hier handelt es sich um das, was man heute als humanitäre Intervention bezeichnet. Es geht darum, eine bestehende und unmittelbare Gefahr abzuwenden, wenn nötig durch den Rückgriff auf Gewalt. Den Kannibalen wird dabei ein Übel zugefügt, aber dies wird nicht getan, weil sie schon ein Unrecht begangen haben, sondern um sie vom Begehen eines Unrechts abzuhalten. Die zweite Frage betrifft die Bestrafung. Unabhängig davon, ob das Opfer gerettet werden konnte oder nicht, dürfen die Spanier – oder wer sonst auch immer – die Kannibalen bestrafen? Hier soll kein imminentes Unrecht abgewehrt werden, sondern es soll auf ein schon begangenes Unrecht reagiert werden. Grotius wird die These der Legitimität des Strafkrieges vertreten und darauf hinweisen, dass die einzelnen Herrscher das Recht haben, grobe Verletzungen des natürlichen und des Völkerrechts zu bestrafen, und dies unabhängig davon, wer die Täter und wer die Opfer sind (Grotius 1984: II, XX, XL). Weder Täter noch Opfer brauchen Untertanen des eingreifenden Souveräns zu sein. Er macht allerdings darauf aufmerksam, dass solche Strafkriege nur dann gerechtfertigt sind, wenn (1) die Handlung, wegen derer bestraft wird, gegen jeden Brauch und jede Sitte verstößt (Grotius 1984: II, XX, XLI), (2) diese Handlung dem natürlichen, und nicht bloß dem göttlichen Recht widerspricht (Grotius 1984: II, XX, XLII), und (3) die Handlung gegen die für jeden Menschen einsichtlichen Prinzipien des natürlichen Rechts und nicht gegen nicht so evidente

6. Die Zentralisierung des individuellen Rechts zu strafen

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Ableitungen aus diesen Prinzipien verstößt (Grotius 1984: II, XX, XLIII). Durch solche Kriege, so Grotius, wird das Wohl der gesamten Menschheit gefördert. Mehr als ein halbes Jahrhundert vor Grotius hatte Francisco de Vitoria die Ansicht vertreten, dass opferlose Verstöße gegen das natürliche Recht keinen legitimen Grund für einen Krieg liefern konnten. Ein solcher lag aber vor, wenn Menschen unter diesen Verstößen litten – wie etwa im Fall des Kannibalismus (Vitoria 1967 und 1981). Eine ähnliche These wie Vitoria vertrat Las Casas. In seiner Schrift ‚Sobre el titulo del dominio del rey de Espana sobre las personas y tierras de los Indios‘ schreibt der Bischof von Chiapas, dass die christlichen Herrscher, wenn sie das Recht beanspruchten, die Indianer wegen grober Verletzungen des natürlichen Gesetzes zu bestrafen, auch den Mauren zugestehen müssten Strafkriege gegen die christlichen Nationen zu führen, da in christlichen Ländern das natürliche Gesetz gegen sexuelle Ausschweifungen mehr als einmal verletzt wird (Las Casas 1984: 170). Hinter der Frage nach dem Strafkrieg steht die Frage nach der über die Souveräne und über fremde Völker richtende Gewalt. Dass Gott, der König aller Könige, diese Funktion einnimmt, wird natürlich von keinem christlichen Denker in Frage gestellt. Gott hat insofern eine universelle strafrechtliche Jurisdiktion, und selbst der absoluteste menschliche Herrscher wird sich vor dem göttlichen Richter verantworten müssen. Aber hat sie außer Gott noch jemand? Und vor allem: Besitzt irgendeine irdische Instanz eine universelle strafrechtliche Jurisdiktion? Während einige Denker diese Frage verneinen und auf die Gleichheit aller Souveräne dieser Welt hinweisen, eine Gleichheit, die jeden Gedanken an eine mögliche Bestrafung eines Souveräns durch einen anderen ausschließt, beantworten andere sie positiv, stehen dann aber vor der neuen Frage, wer dieses universelle Recht zu strafen besitzt. Für manche Denker, wie z. B. Jacob von Viterbo, scheint der Papst, der Stellvertreter Gottes auf Erden, die geeignete Instanz zu sein, wobei allerdings das Problem besteht, dass der Papst, obwohl er Strafurteile selbst fällen kann, auf die Unterstützung weltlicher Herrscher angewiesen ist, um diese Urteile auch zu vollstrecken. Gegen diese Denker wehren sich allerdings Theologen wie Johannes von Paris, der die Souveränität der Fürsten gegen den Papst verteidigt, zugleich aber auch behauptet, dass der Papst verurteilt und bestraft werden kann, wenn er gegen das Interesse der Christenheit handelt. Im Rahmen der internationalen Beziehungen tangiert die Frage nach der legitimen strafenden Instanz die Frage der staatlichen Souveränität: Souverän ist nicht mehr, wer bestraft werden kann. 6. Die Zentralisierung des individuellen Rechts zu strafen. Hugo Grotius vertritt für die internationalen Beziehungen eine These, die Locke hinsichtlich der Beziehungen der Individuen im Naturzustand verteidigt, bloß dass Locke den Individuen das Recht zu strafen nicht nur für grobe Verletzungen des natürlichen Gesetzes einräumt, sondern auch für geringere Verstöße gegen jenes Gesetz. Nun wird man allerdings fragen können, warum die einzelnen Individuen ihr Recht zu strafen aufgegeben haben – vorausgesetzt, sie besaßen ein solches im Naturzustand. Denn in den Staaten, in denen wir heute leben, haben wir kein

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universelles Recht zu strafen (mehr). Nicht nur dass wir kein Recht haben, uns völlig fremde Menschen zu bestrafen; wir haben nicht einmal mehr das Recht, unsere Mitbürger zu bestrafen – höchstens noch unsere Kinder. Wieso haben wir ein so wichtiges Recht, wie das Recht zu strafen, aufgegeben und es dem Staat übertragen – wie es Philosophen wie z. B. Locke behaupten? Die Antwort auf diese Frage muss in unserer menschlichen allzumenschlichen Natur gesucht werden. In seinem De ira hatte Seneca zwar einerseits behauptet, der Mensch verlange nicht von Natur aus nach Strafe (Seneca 1999: 111), musste aber andererseits zugeben, dass viele Menschen sich durch ihre Leidenschaften leiten lassen, wobei es die Leidenschaft des Zorns ist, die nach der Bestrafung verlangt (Seneca 1999: 103). Der Zorn ist „eine Erregung der Seele, die mit Willen und Bewusstsein auf Rache ausgeht“ (Seneca 1999: 155). Nicht, dass Seneca das Strafen ganz aufgeben will. Auch für ihn ist die Strafe manchmal notwendig, nur sollte sie nicht im Zorn verhängt und vollstreckt werden, sondern unter der alleinigen Kontrolle der Vernunft, die uns zwar dazu bewegen kann, dem Staat und der Freiheit schädliche Familien, mitsamt Frauen und Kinder, zu zerstören, aber eben leidenschaftslos (Seneca 1999: 139). Auch wenn die Lockesche Anthropologie derjenigen Senecas wahrscheinlich mehr ähnelt als der Hobbesschen, so muss doch auch der Philosoph der Glorreichen Revolution zugeben, dass die Menschen sich oft durch ihre antisozialen Leidenschaften leiten lassen. Im Second treatise gesteht Locke seinem fiktiven Gegner zu, dass die Menschen oft durch Selbstliebe geleitet werden, die sie parteiisch macht, eine Eigenschaft, die mit der Rolle des Richters unvereinbar ist. Auch besteht die Gefahr, dass Rachsucht, Übelwollen und ähnliche Leidenschaften das strafende Individuum dazu führen werden, eine über das Maß des von Natur aus Legitimen gehende Strafe zu verhängen. Dadurch wird aber auf die Dauer ein großes Durcheinander entstehen. Um dieser Gefahr vorzubeugen, haben die Menschen ihr natürliches Recht zu strafen aufgegeben und den Staat damit beauftragt, es an ihrer Stelle auszuüben (Locke 1993: 2. Treatise, Par. 13). Oder genauer: Die mit der Leitung des Staates beauftragte Instanz behält allein das Recht zu strafen, das sie schon im Naturzustand besaß – bloß dass sie jetzt nicht mehr als private, sondern als öffentliche Person bestraft. Entgegen dem, was bei Pufendorf der Fall sein wird, entsteht hier bei Locke kein neues Recht, sondern praktische – aber auch moralisch relevante – Gründe machen es notwendig, die tatsächliche Ausübung eines Rechtes auf bestimmte Menschen zu konzentrieren, die, so wird voraus gesetzt, dieses Recht auf eine unparteiische und leidenschaftslose Weise ausüben werden, so dass die Gerechtigkeit, die gerade durch die Ausübung dieses Rechtes wieder hergestellt werden soll, nicht unter der Ausübung des ihr dienlichen Rechtes leidet. Sollte der Staat sich aus welchen Gründen auch immer wieder auflösen, so würde jeder Mensch wieder das Recht erhalten, sein Recht zu strafen auszuüben. Dieses Recht erstreckt sich sogar auf den vormaligen Herrscher, wo dieser seinem Volk den Krieg erklärt hat, indem er es auf eine besonders tyrannische Art und Weise regierte. Denn auch wenn Locke zugibt, dass immer nur ein Übergeordneter einen Untergeordneten bestrafen kann und nicht umgekehrt, so bemerkt er doch, dass der Herrscher durch sein Verhalten seine Legitimität verloren hat, und der Untergeordnete „hat ein Recht, wenn er sich

7. Die Zentralisierung des nationalen Rechts zu strafen

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durchsetzt, den Verbrecher zu bestrafen, gleichzeitig für den Friedensbruch und für alle Übel, die auf ihn folgten“ (Locke 1993: 2. Treatise, Par. 235). Indem er ein großes Unrecht begeht, stellt sich der Herrscher gewissermaßen selbst unter seinen Untertan, der das Unrecht erleidet. Vor Locke hatte auch schon Grotius auf die Leidenschaften des Menschen hingewiesen, um das Einführen öffentlicher Richter zu erklären (Grotius 1984: II, XX, VIII). Grotius, der sich im Gegensatz zu Locke hauptsächlich mit den Fragen der internationalen Beziehungen befasst, hätte für die internationalen Beziehungen und den Naturzustand zwischen den Staaten dieselbe Lösung vorschlagen können wie für die individuellen Beziehungen im Naturzustand, da die Nationen als solche nicht weniger leidenschaftlich und parteiisch sein können als die Individuen, aus denen sie sich zusammensetzen. Da der Protestant Grotius allerdings den Papst nicht als obersten Richter über alle Souveräne anerkennen konnte und da zu seiner Zeit das Prinzip der nationalen Souveränität sich gerade erst herausgebildet hatte – gegen den Kaiser und gegen den Papst –, konnte er nur den Naturzustand zwischen den Staaten als scheinbar unüberwindbare Situation hinnehmen. Dem Völkerrecht blieb keine andere Wahl, als einige Regeln aufzustellen, die die internationale Gemeinschaft vor einer zu großen Unordnung bewahren würden und es blieb dann nur noch zu hoffen, dass sich die Parteien daran halten. Allerdings gestand er, wie wir schon gesehen haben, den einzelnen Souveränen das Recht zu, einen Strafkrieg gegen andere Souveräne oder Völker zu führen. 7. Die Zentralisierung des nationalen Rechts zu strafen. Wie wir schon kurz angedeutet haben, wurde in der Vergangenheit das Strafrecht auf internationaler Ebene von einigen Autoren in den Händen des Papstes konzentriert. Als Haupt einer Kirche, die für sich beanspruchte, den über alle Völker regierenden Gott zu repräsentieren, behauptete der Papst – und die sich auf seiner Seite schlagenden Philosophen und Theologen –, er nehme die göttliche Richterrolle hier auf Erden wahr und entscheide, wann ein Herrscher bestraft werden sollte. Der Papst war allerdings nur zuständig für die Verletzungen des göttlichen und gegebenenfalls auch des natürlichen Rechts – wobei letzteres oft mit dem göttlichen identisch war. Auf sich allein gestellt konnte er allerdings nur theologische Strafen vollstrecken – wie etwa die Exkommunikation –; wollte er auch eine militärische Strafe vollstrecken, musste er sich der Unterstützung eines weltlichen Herrschers versichern. Nach der Herausbildung starker Nationalstaaten, der Zurückdrängung der kirchlichen Macht und dem zumindest stillschweigenden Zugeben, die Kirche sei nicht für die Bestrafungen der Verbrechen der Souveräne gegen das göttliche und natürliche Recht zuständig, gab es keine über den Staaten stehende zentralisierte strafrechtliche Instanz mehr. Innerhalb der Staatsgrenzen besaß der Staat natürlich immer noch das Recht, Verbrechen gegen seine Gesetze zu strafen, aber den Anspruch, Verbrechen eines anderen Staates oder eines anderen Volkes zu bestrafen, konnte kein Staat mehr erheben, ohne dass man ihm vorwerfen konnte, seine eigenen Interessen unter dem Deckmantel des Einsatzes für das natürliche Gesetz durchsetzen zu wollen. Das Prinzip der nationalen Souveränität, wie es sich vor allem nach dem Dreißigjährigen Krieg

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Kapitel 3: Recht zu strafen und Pflicht zu Strafen

in Europa durchsetzte, erkannte jedem Souverän das Recht zu, innerhalb seiner Grenzen zu tun und zu lassen, was er für gut befand. Die klassische Souveränitätslehre schloss die Legitimität eines humanitären Eingriffs und a fortiori auch eines strafenden Eingriffs wegen grober Verletzungen der Menschenrechte aus. Wenn sich auch schon im 19. Jahrhundert einige Juristen und engagierte Menschen fanden, um nach einem internationalen Strafgerichtshof zu verlangen, so brauchte es doch der Erfahrung zweier Weltkriege und etlicher Völkermorde, bevor sich dieser Gedanke auch institutionell durchsetzen konnte. Den einläutenden Glockenschlag gab der Erste Weltkrieg. Nach dem Krieg forderten die Siegermächte von den Niederlanden, den in der Nähe von Utrecht exilierten deutschen Kaiser auszuliefern, damit ihm der Prozess gemacht werden konnte. Die Niederlande lehnten den Auslieferungsantrag ab. Doch auch wenn es nicht zum Prozess gegen den Ex-Kaiser kam, wurden doch einige Prozesse gegen deutsche Militärs in die Wege geleitet. Der Gedanke, dass man Menschen, die an einem ungerechten Krieg beteiligt waren, bestrafen konnte, wurde wieder aktuell. Der nächste Schritt erfolgte dann nach dem Zweiten Weltkrieg. Nachdem zunächst in die Augen gefasst worden war, eine mehr oder weniger große Zahl von Nazi-Verantwortlichen ohne Prozess hinzurichten, wurde, nachdem Stalin den Engländern und Amerikanern eine Liste mit mehreren zehntausend Namen eingereicht hatte, beschlossen, die wichtigsten Nazi-Verantwortlichen vor ein Strafgericht zu bringen, dessen Richter von den Hauptsiegermächten gestellt werden sollten. Dieses Gericht tagte in Nürnberg vom 20. November 1945 bis zum 1. Oktober 1946. Den Hauptangeklagten wurden das Verbrechen des Angriffskriegs sowie Verbrechen gegen das Kriegsrecht vorgeworfen. Es kam zu insgesamt zwölf Todesurteilen. In den darauf folgenden Jahren und Jahrzehnten kam es noch zu hunderten von Prozessen gegen mehr oder weniger hochgestellte Militärs. Viele dieser Prozesse endeten mit einer Verurteilung. Ein auch unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffener internationaler Gerichtshof tagte in Tokyo. Vor ihm mussten sich ranghohe japanische Militärs verantworten. Auch hier wurden Todesurteile ausgesprochen, und zwar wieder von einem Richtergremium, das sich aus Vertretern der Siegermächte – aber diesmal derjenigen, die im Pazifik gekämpft hatten – zusammensetzte. Noch während sie tagten, wurden diese beiden Gerichtshöfe zum Gegenstand zahlreicher Kritiken. Und zwar nicht nur von deutscher oder japanischer Seite, sondern auch von Seiten einiger amerikanischer und europäischer Juristen. Beanstandet wurde vor allem die Zusammensetzung der Richtergremien. Insofern die Richter nämlich von den politisch Verantwortlichen der Siegermächte ernannt wurden, konnte ihre Unabhängigkeit in Zweifel gezogen werden. Was ebenfalls störte war die Tatsache, dass nur Verantwortliche der Verlierermächte sich vor Gericht verantworten mussten. Mochte man auch zugeben, dass die Deutschen und die Japaner gegen die elementaren Regeln einer zivilisierten Kriegsführung verstoßen hatten, so schien es doch zumindest befremdlich, Aktionen wie die völlige Zerstörung deutscher Städte durch die allierten Bomber oder noch den Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki völlig ungeahndet zu lassen. Ein dritter Kritikpunkt betraf die juristi-

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sche Grundlage der Anklage. Konnte man sich im Fall der Kriegsverbrechen noch auf die Haager Konventionen berufen, so schien es keine feste Grundlage für ein Verbrechen des Angriffskrieges zu geben. Und vor allem, diese Texte sprachen an keiner Stelle von einer möglichen strafrechtlichen Verurteilung. Der einzige Text in dem Sanktionen erwähnt wurden, war die Genfer Konvention betreffend Verwundete und Kranke aus dem Jahre 1929. Unter diesen Umständen beriefen sich die Richter auf ungeschriebenes Recht, das durch die Charta des Nürnberger Tribunals eine erste schriftliche Fassung bekam. Artikel 6 dieser Charta zählt drei Anklagepunkte auf, die den Urteilen als Grundlage dienten: Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit/Menschheit – der englische Ausdruck „humanity“ umfasst beide. In den darauf folgenden Jahrzehnten berief die UNO sich öfters auf die anlässlich des Nürnberger Prozesses formulierten Prinzipien, so dass diese mit der Zeit zu einem wesentlichen Bestandteil des positiven internationalen Rechts wurden. Somit war für zukünftige Fälle wenigstens der Vorwurf der fehlenden Rechtsgrundlage entkräftet. Doch eine Frage blieb noch offen: quis iudicabit? Man hatte zwar Rechtsprinzipien, die im Jahre 1946 einstimmig von der UNVollversammlung akzeptiert wurden, aber man hatte kein Gericht. Auch wenn die Frage nach einem ständigen internationalen Strafgerichtshof nach dem Zweiten Weltkrieg öfters aufgeworfen wurde, hinderte vor allem der Kalte Krieg die internationale Gemeinschaft daran, einen solchen Gerichtshof einzurichten. In den neunziger Jahren gehörte der Kalte Krieg der Geschichte an. Nicht aber der Völkermord. Nach dem Tod Titos kam es zum Zusammenbruch Jugoslawiens. Konflikte, die während Jahrzehnten schlummerten, brachen aus. Es kam zu Ereignissen, die Europa seit einem halben Jahrhundert hinter sich glaubte. Als Antwort auf die während des Jugoslawienkonflikts begangenen Grausamkeiten beschloss der UN-Sicherheitsrat am 25. Mai 1993 die Schaffung eines Sondertribunals für Ex-Jugoslawien. Ihm folgte 1994 die Schaffung eines internationalen Sondertribunals für Ruanda. Einige Monate zuvor wurden schätzungsweise eine Million Personen, hauptsächlich Tutsis, während interethnischen Massakern in diesem zentralafrikanischen Staat getötet. Diese Sondergerichtshöfe sollten sich über die Schuld bestimmter Politiker und ranghoher Offiziere aussprechen und gegebenenfalls auch eine Strafe verhängen. Es sollte nach der Schaffung des Sondertribunals von Arusha noch vier Jahre dauern, bis es zum Gründungsakt eines ständigen internationalen Strafgerichtshofs kam. Dieser Gerichtshof konnte seine Arbeit allerdings erst im Jahre 2002 aufnehmen, nachdem genügend Staaten das sogenannte Statut von Rom ratifiziert hatten. Mit Sitz in Den Haag ist dieser Gerichtshof für insgesamt vier Arten von internationalen Verbrechen zuständig: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschheit/Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Angriffsverbrechen – wobei letzteres Verbrechen noch genauer zu bestimmen bleibt. Die Staaten sind nicht automatisch der Gerichtsbarkeit dieses Gerichtshof unterworfen, sondern erst nachdem sie das Statut von Rom ratifiziert haben. Bislang haben u. a. die Vereinigten Staaten von Amerika diese Ratifikation abgelehnt.

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Kapitel 3: Recht zu strafen und Pflicht zu Strafen

Ungefähr zeitgleich mit der Schaffung eines internationalen Strafgerichtshofs haben einzelne Staaten, wie etwa Belgien – das aber schnell wieder den Rückwärtsgang einschaltete –, sich dazu entschieden, ihren Gerichten eine universelle Kompetenz zu verleihen. Diese Gerichte sollten demnach nicht mehr nur Verbrechen von Einheimischen oder gegen Einheimische bestrafen, sondern jedes Verbrechen, unabhängig von wem oder gegen wen es begangen wurde. Zu erwähnen in diesem Zusammenhang ist auch der spanische Richter Balthazar Garzon, der ein internationales Haftmandat gegen Augusto Pinochet erließ, das, wäre Pinochet von Großbritannien nach Spanien ausgeliefert worden, zu einem Prozess gegen ihn vor einem spanischen Gerichtshof geführt hätte. Die internationale Strafjustiz scheint also am Anfang des 21. Jahrhunderts den Weg der Zentralisierung begehen zu wollen, ein Weg, den die nationale Justiz einige Jahrhunderte zuvor gegangen ist. Wo früher der Staat mit seinem zentralen Strafrecht sich gegen die Sondergerichtsbarkeiten durchsetzte, beginnt heute die internationale Staatengemeinschaft sich gegen die Sondergerichtsbarkeiten der Staaten durchzusetzen. Oder genauer: subsidiär neben diese zu treten. Denn in der Präambel des Statuts von Rom wird daran erinnert, „dass es die Pflicht eines jeden Staates ist, seine Strafgerichtsbarkeit über diejenigen auszuüben, die für internationale Verbrechen verantwortlich sind“. Vernachlässigt ein Staat diese seine Verantwortung, so kann der internationale Strafgerichtshof sie stellvertretend und eigenmächtig für ihn wahrnehmen. Am 26. Juni 2002 ist in Deutschland das Völkerstrafgesetzbuch in Kraft getreten. Dieses Strafgesetzbuch, so Paragraph 1, „gilt für alle in ihm bezeichneten Straftaten gegen das Völkerrecht, für die in ihm bezeichneten Verbrechen auch dann, wenn die Tat im Ausland begangen wurde und keinen Bezug zum Inland aufweist“. 8. Strafen als Pflicht gegenüber der Idee der Gerechtigkeit und gegenüber Gott. Die soeben zitierte Präambel des Römischen Statuts hält fest, dass jeder Staat nicht nur ein Recht hat, völkerrechtliche Verbrechen zu verfolgen und zu ahnden, sondern dass dies auch seine Pflicht ist. Diesen Gedanken einer Strafpflicht findet man natürlich schon lange bevor er 1998 im Römischen Statut festgehalten wurde – man hat ihn oft mit der Formel dedere aut iudacare, also ausliefern (damit der Prozess anderswo stattfindet) oder selbst richten. Nur fragt sich, was oder wem gegenüber der Staat zu einer solchen Bestrafung verpflichtet ist, also gegen wessen Befehl, Anspruch oder doch zumindest gegen wessen Interessen er verstößt, wenn er nicht bestraft. Wem ist der Strafprozess und die Bestrafung geschuldet? Eine erste Antwort auf diese Frage könnte lauten, dass der Staat der Gerechtigkeit dienen soll, dass die Idee der Gerechtigkeit die Bestrafung eines jeden Verbrechens verlangt und dass somit der Staat, wenn er den ihm wesentlichen Bezug zur Gerechtigkeit nicht aufgeben will, jedes Verbrechen bestrafen muss. Seinem Wesen nach ist es das Gesetz selbst, das vom Staat verlangt, dass er seine, also des Gesetzes, Übertretung bestraft. Unterlässt er die Bestrafung, macht er sich selbst eines Verbrechens gegen die Idee der Gerechtigkeit schuldig und kann dadurch gegebenenfalls sein Recht zu strafen verlieren

8. Strafen als Pflicht gegenüber der Idee der Gerechtigkeit und gegenüber Gott

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– zumindest wenn dieses Recht an die Gerechtigkeit des Staates gebunden wird. Der Strafimperativ ist somit zugleich ein kategorischer Imperativ (Es muss bestraft werden!) und ein hypothetischer Imperativ (Will der Staat sein Recht zu strafen bewahren, dann muss er bestrafen!). Gibt es einen solchen kategorischen Imperativ, dann gilt er natürlich nicht nur für den Staat. Wo es noch keinen Staat aber wohl schon ein natürliches Gesetz gibt, ist jedes Individuum zur Bestrafung der Verbrecher verpflichtet. Dies ist, wie wir wissen, die von Locke vertretene These – obwohl bei ihm eher das Recht zu strafen der eigentliche Gegenstand des Beweises ist. Interessant ist jetzt, dass die Individuen diese Pflicht an den Staat abtreten können, da somit eine größere Gerechtigkeit – aber auch wahrscheinlich Effizienz – bei ihrer Ausübung gegeben ist. Hier tritt dann allerdings eine für die Staatsphilosophie äusserst brisante Frage auf. Was geschieht, wenn der Souverän seine Strafpflicht nicht ausübt? Wir hätten dann die Situation, dass die Gerechtigkeit eine Bestrafung verlangt, dass die Bürger auf das Recht verzichtet haben, ihre Strafpflicht auszuüben, dass der Souverän sein Recht zur Ausübung der Strafpflicht behalten hat, dass er aber, aus welchen Gründen auch immer, auf die Ausübung dieses Rechts, und damit auch seiner Pflicht, verzichtet. Ist es dann wieder an den Individuen, die Strafpflicht auszuüben? Aber führt das nicht wieder in das Chaos des Naturzustandes? Doch wie steht es mit Gott angesichts des Gedankens eines kategorischen Strafimperativs? Wenn es einen solchen Imperativ gibt, dann muss er eigentlich auch für Gott gelten. Wenn erstens Gott nur seinem Wesen nach handeln kann, zweitens die Gerechtigkeit im Handeln zu diesem Wesen gehört und drittens die Gerechtigkeit die Strafe verlangt, dann kommt Gott nicht umhin, zu strafen. Allerdings wird man bei ihm zwischen einer irdischen und einer himmlischen Strafe unterscheiden müssen. Mag Gott auch manchmal die Menschen schon hier auf Erden bestrafen – und sei es nur durch die Stimme des schlechten Gewissens –, so treffen die göttlichen Strafen den Menschen doch meistens erst nach dem Tod, wenn nicht sogar erst bei oder nach der Auferstehung – die Sünder werden nicht auferstehen bzw. werden sie nach der Auferstehung zur ewigen Verdammnis verurteilt. Genauso wie die Menschen im Naturzustand die Ausübung ihrer Strafpflicht an den Souverän delegieren können, kann auch Gott dies tun. Auch wenn er, als allmächtiges Wesen, die Möglichkeit hat, die Menschen schon hier auf Erden zu bestrafen, kann er sich – aus uns unerforschlichen Gründen – dafür entscheiden, dieses Recht – dem eine Pflicht korrespondiert – an die Menschen zu übertragen, allen voran an die Souveräne, wie wir schon vorhin bemerkt haben. In einem solchen Fall ist der Souverän der Stellvertreter Gottes und kann von Gott zur Verantwortung gezogen werden, wenn er seine Pflicht nicht erfüllt. Fraglich ist in diesem Kontext, ob der Gedanke der Gerechtigkeit immer nach einer Bestrafung verlangt. Und sogar wenn wir den Fall setzen, dass die Gerechtigkeit immer nach einer Bestrafung verlangt, kann man sich fragen, ob es keinen höheren Wert als die Gerechtigkeit gibt, der zumindest in bestimmten Fällen von der Pflicht entbinden kann, zu bestrafen. Könnte die Gerechtigkeit nicht manchmal Handlungen verlangen, durch welche die Bedingungen der

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Kapitel 3: Recht zu strafen und Pflicht zu Strafen

Möglichkeit der Gerechtigkeit gefährdet werden? Wenn es keine Welt mehr gibt, dann kann es auch keine Gerechtigkeit mehr geben. Also folgt aus dem berühmten fiat iustitia pereat mundus ein pereat mundus pereat iustitia. 9. Strafen als Pflicht gegenüber dem Opfer und der Gesellschaft. Verlassen wir die transzendenten und abstrakten Sphären und bleiben wir auf Erden und beim Konkreten. Viele Verbrechen richten sich gegen Individuen. Bei einem Diebstahl verliert immer irgendjemand einen Teil seines Hab und Gutes, und im Fall eines Mordes verliert auch immer irgendjemand sein Leben. Solange es keinen Staat oder doch keine organisierte staatliche Strafjustiz gab, herrschte das Prinzip der Privatjustiz. Das Opfer oder seine Verwandten fügten dem Täter oder einem Mitglied seiner Familie oder Sippe ein Übel zu, das als Vergeltung für das vom Täter begangene Übel galt. Das Opfer und seine Verwandten fühlten sich aufgrund des an ihnen begangenen Übels berechtigt, dem Täter oder seinen Verwandten ein meistens ähnliches Übel zuzufügen. Mit der Zentralisierung der Strafgewalt hat das Opfer aber keine Möglichkeit mehr, dem Täter selbst ein Übel zuzufügen. Es darf dies selbstverständlich zwar noch während des Angriffs – man spricht dann von Notwehr –, ist aber der Angriff beendet und besteht unmittelbar keine Gefahr mehr für das Opfer, dann darf es dem Täter kein weiteres Übel mehr zufügen. Dies darf nur noch der Staat. Insofern das Opfer dem Staat das Recht zu strafen übertragen hat, kann das Opfer von ihm erwarten, wenn nicht sogar von ihm fordern, dass er den Täter bestraft. Die betreffende Klausel des Gesellschafts- oder Staatsvertrags könnte etwa lauten: Ich übertrage Dir meine Pflicht und mein Recht zu strafen unter der Bedingung, dass Du sie in allen jenen Fällen ausübst, in denen ich sie selbst ausüben würde. Die Strafpflicht des Staates gründet hier im ursprünglichen – natürlich immer nur als methodologische Hypothese zu denkenden – Vertrag, durch den sich die Individuen dem Staat unterworfen haben. Wie soll der Staat wissen, wann das Opfer hätte bestrafen wollen? Wenn wir von einer universellen Strafpflicht ausgehen, die die Individuen schon im Naturzustand hatten, ist die Frage schnell beantwortet, da unter dieser Hypothese das Opfer in allen Fällen gewollt haben müsste, dass bestraft wird. Unter dieser Hypothese braucht der Staat eigentlich nicht auf eine Reaktion des Opfers zu warten, bevor er die Maschinerie der Strafgerechtigkeit in Gang setzt, sondern er kann dies automatisch tun, und zwar sogar dann, wenn das Opfer bereit ist, zu verzeihen – eine solche Bereitschaft, insofern sie dem kategorischen Strafimperativ widerspricht, darf der Staat dann nicht berücksichtigen. Der Staat übernimmt dann lediglich eine Pflicht, welche das Opfer der Straftat – oder dessen Verwandte bzw. irgendjemand – im Naturzustand hätte erfüllen müssen. Die Sache stellt sich aber anders dar, wenn wir keinen kategorischen Strafimperativ voraussetzen. Im Naturzustand hätte das Opfer dann noch gegebenenfalls das Recht zu strafen, aber nicht mehr die Pflicht. Es könnte demnach auch manchmal von einer Strafe absehen. Hier stellt sich dann allerdings ein Problem für den Staat. Dabei sind prinzipiell zwei Fälle möglich. Erster Fall: Das Individuum hat dem Staat das Recht zu strafen völlig abgetreten und somit dem Staat die Entscheidung völlig überlassen, wann die

9. Strafen als Pflicht gegenüber dem Opfer und der Gesellschaft

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Maschinerie der Strafgerechtigkeit in Gang gesetzt werden soll und wann nicht, aber auch die Entscheidung darüber, ob diese Maschinerie bis zum bitteren Ende – d. h. bis zur tatsächlichen Vollstreckung der verhängten Strafe – laufen soll oder nicht. Das Individuum behält hier keine Einflussmöglichkeit mehr. Dies entspricht dem Paradigma des heute gültigen Strafrechts der meisten Staaten. Und insofern unterscheidet sich das Strafrecht auch vom Bürgerlichen Recht. Bei letzterem entscheidet das Opfer darüber, ob es sich gegen den Täter wendet oder nicht. Wenn ich etwa jemandem Geld geliehen habe und er gibt es mir nicht zurück, dann hängt es nur von mir ab, ob das Rechtssystem sich des Falles annehmen wird oder nicht. Leite ich keine gerichtlichen Schritte ein, dann wird niemand sie an meiner Stelle einleiten. Wenn aber jemand mich brutal auf der Straße zusammengeschlagen hat und die zuständigen Behörden erfahren davon, dann hängt es nicht mehr unmittelbar nur von mir selbst ab, ob es zu einem Prozess gegen den Täter kommt oder nicht. Im Falle bestimmter Taten übernimmt der Staat – in der Person des Staatsanwaltes – die Rolle des Anklägers, mag ich nun selbst den Willen haben, den Schuldigen vor einem Strafgericht zu sehen oder nicht. Es hängt allerdings von mir selbst und sonst niemandem ab, ob es neben dem Strafprozess auch noch zu einem Zivilprozess kommt, bei dem über einen möglichen Schadensersatz entschieden wird. Zweiter Fall: Das Individuum hat dem Staat nur das Urteil über die Bestrafung und die Ausführung der Strafe überlassen, also die Funktionen des Strafrichters und des Strafvollstreckers. Die Funktion der Anklage hat es sich selbst bewahrt. Im deutschen Strafrecht haben wir noch ein Residuum dieses Modells, und zwar im vierten Abschnitt des StGB. Hier ist nämlich von Taten die Rede, die nur auf Antrag – und gemeint ist ein Antrag des Opfers – verfolgbar sind. Im betreffenden Abschnitt wird kein Beispiel für eine nur auf Antrag verfolgbare Strafe genannt, sondern der Abschnitt regelt nur die Antragsprozedur. Um ein Beispiel zu finden, müssen wir uns dem vierzehnten Abschnitt zuwenden, der die Beleidigung zum Gegenstand hat. Paragraph 194 stipuliert, dass die Beleidigung nur auf Antrag verfolgbar ist. Er schränkt dies aber sofort ein, indem er bestimmte Beleidigungen herausgreift, nämlich solche, in denen „der Verletzte als Angehöriger einer Gruppe unter der nationalsozialistischen oder einer anderen Gewalt- und Willkürherrschaft verfolgt wurde, diese Gruppe Teil der Bevölkerung ist und die Beleidigung mit dieser Verfolgung zusammenhängt“. Antisemitische Äusserungen gegenüber einem bestimmten Individuum wären somit nicht erst auf Antrag des unmittelbaren Opfers verfolgbar, sondern die Staatsanwaltschaft kann sich des Falles auch ohne einen solchen Antrag annehmen. Aber auch dies wird im darauf folgenden Satz relativiert, denn: „Die Tat kann jedoch nicht von Amts wegen verfolgt werden, wenn der Verletzte widerspricht“. Im Fall der Beleidigung liegt, wenn mir der Ausdruck erlaubt ist, der Ball immer beim Verletzten, der die Strafmaschinerie – im Normalfall – in Gang setzen muss und der sie – im Ausnahmefall – stoppen kann. Man wird allerdings die Frage aufwerfen müssen, ob nicht die beleidigte Gruppe durch das Medium einer repräsentativen Organisation als Kläger auftreten kann, da die Gruppe sich durch das Individuum hindurch verletzt fühlt. In diesem Zusammenhang ist auch Paragraph 90b zu erwähnen, in dem es um die „verfassungsfeindliche Verunglimpfung von Verfassungsorganen“ geht.

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Kapitel 3: Recht zu strafen und Pflicht zu Strafen

In Punkt 2 dieses Paragraphen heißt es ausdrücklich: „Die Tat wird nur mit Ermächtigung des betroffenen Verfassungsorgans oder Mitglieds verfolgt“. Eine Verunglimpfung des Bundespräsidenten als Bundespräsidenten führt also nicht automatisch zu einer strafrechtlichen Verfolgung, sondern erst dann, wenn der verunglimpfte Bundespräsident die Justizorgane dazu ermächtigt. Für Verfassungsorgane gilt in dieser Hinsicht dieselbe Regelung wie für Privatpersonen. Hinsichtlich der Rolle und des Gewichts des Opfers im Strafprozess kann man zwei Tendenzen unterscheiden. Eine erste Tendenz versucht, das individuelle Opfer immer mehr in den Hintergrund zu drängen. Das unmittelbare Opfer interessiert lediglich als Anlass für das In-Gang-Setzen der Strafrechtsmaschinerie. Diese Tendenz unterscheidet ganz stark zwischen zwei Aspekten des Verbrechens. Das Verbrechen ist einerseits selbstverständlich meistens ein Verbrechen gegen ein bestimmtes konkretes Individuum – das getötet, verletzt oder dessen Eigentum gestohlen werden kann –, aber das Verbrechen ist andererseits auch und hauptsächlich ein Verbrechen gegen die Gemeinschaft bzw. gegen die Gesetze, deren Einhaltung für das friedliche und ruhige Zusammenleben aller Menschen von äußerster Wichtigkeit ist. Insofern neben den Interessen des Opfers übergeordnete Interessen der Gemeinschaft involviert sind, ist der Staat nicht dazu verpflichtet, das zu tun, was das individuelle Opfer im Naturzustand getan hätte – es sei denn, dieses Opfer hätte dort auch schon die Perspektive der Allgemeinheit eingenommen, wie dies zum Teil ja bei Locke der Fall ist –, sondern was im Interesse der Gemeinschaft ist. Die Pflicht zu strafen wäre in diesem Fall eine Pflicht, die der Staat gegenüber der Gemeinschaft hat. Und er hat sie ihr gegenüber insofern, als Interessen der Gemeinschaft durch die Straftat verletzt werden. Dem steht eine zweite Tendenz gegenüber, die versucht, das Opfer wieder stärker in das Strafverfahren zu integrieren. Das Opfer soll nicht mehr nur ein passiver Anlass des Strafprozesses sein, sondern soweit wie möglich auch ein aktives Subjekt werden. Im Hintergrund steht der Gedanke, dass bei den meisten Vergehen und Verbrechen zuallererst ein konkretes Individuum gelitten hat und dass es dementsprechend auch in allererster Linie darauf ankommen muss, die physischen, materiellen und psychischen Wunden dieses Individuums zu heilen. Der Prozess, so Antoine Garapon, der den Gedanken einer sogenannten rekonstruktiven Gerechtigkeit verteidigt, „setzt das Opfer in eine Situation, in der es seine Macht wieder behaupten kann, was nicht bedeutet, dass es diese Macht auch ausübt“ (Garapon 2001: 294). Die rekonstruktive Gerechtigkeit will die Strafe zwar nicht ganz aufheben, wohl aber ihre zentrale Bedeutung relativieren. Es mag sehr wohl der Fall sein, dass dem Opfer im Naturzustand kein anderes Mittel bleibt als die Strafe, um seine Macht zu behaupten und um sich wieder Anerkennung zu verschaffen. In einem Staat mit einer organisierten Strafjustiz kann dies aber anders sein. Und hier kann man dann auch fragen, was eigentlich die Pflicht des Staates gegenüber dem Opfer ist: Ist es die Pflicht des Staates, den Täter zu strafen, oder ist es seine Pflicht, dem Opfer zu helfen, sich wieder als Subjekt seines eigenen Lebens zu erfahren, eine Erfahrung, die unter dem Verbrechen gelitten hat? Dieselben Fragen lassen sich übrigens auch hinsichtlich der Gemeinschaft stellen: Ist der Staat der Gemeinschaft gegenüber verpflichtet, den Täter zu

10. Strafen als Pflicht gegenüber dem Verbrecher

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bestrafen, oder ist er ihr gegenüber verpflichtet, die durch das Verbrechen gestörten Bande wieder zu stärken? Es ist nicht von vornherein einzusehen, inwiefern die Bestrafung des Täters ein absolut notwendiges Mittel sein soll, um dem Opfer die Erfahrung seiner selbst als eines anerkennungswürdigen Wesens wieder zu ermöglichen. Und es ist auch nicht von vornherein einzusehen, inwiefern der Staat der Gemeinschaft gegenüber nicht eher verpflichtet ist, das Vertrauensverhältnis zwischen ihr und dem Täter wieder aufbauen zu helfen, als den Täter zu bestrafen. Wenn der Staat dem Opfer oder der Gesellschaft gegenüber zur Bestrafung des Täters verpflichtet ist, dann höchstens insofern die Strafe ein Mittel sein kann – aber nicht unbedingt sein muss –, um bestimmte Zwecke zu erreichen. Insofern hat weder das Opfer noch die Gesellschaft einen absoluten Anspruch auf Strafe, so dass ihm bzw. ihr notwendigerweise ein Unrecht geschähe, wenn der Staat nicht bestrafen würde. Die Gerechtigkeit fordert nicht, dass es dem Täter genauso schlecht ergehen soll wie dem Opfer, sondern dass es dem Opfer und der Gemeinschaft wieder gut gehen soll. 10. Strafen als Pflicht gegenüber dem Verbrecher. Auch wenn heute einerseits allgemein der Grundsatz gilt, dass der Verbrecher ein Recht auf eine seine Würde als Mensch respektierende Strafe hat – so dass also bestimmte Arten von Strafe als menschenunwürdig ausgeschlossen werden –, wird man doch andererseits kaum daraus ableiten können, dass es sich bei diesem Recht lediglich um eine moralisch notwendige Präzisierung eines übergeordneten Rechts auf Strafe handelt – wie man etwa aus der Tatsache, dass jemand ein langes Messer hat, deduzieren kann, dass er ein Messer hat. Dem Recht auf eine besonders geartete Strafe scheint kein allgemeines Recht auf Strafe übergeordnet zu sein. Die Strafe ist nämlich, wie wir gesehen haben, ein Übel, und es scheint auf den ersten Blick schwer anzunehmen, dass der Verbrecher das Recht hat, dass ihm ein Übel auf Grund einer von ihm begangenen Straftat zugefügt wird. Gewöhnlich versuchen die Verbrecher der Strafe zu entgehen und kaum einer, der nicht bestraft wird, wird behaupten, der Staat habe ihm gegenüber seine strafende Pflicht nicht erfüllt und er sei deshalb Opfer eines Unrechts. Während bestimmte Autoren zwar behaupten, der Täter habe die Pflicht, sich der von ihm verdienten Strafe zu unterwerfen, behaupten andere Autoren, der Täter begehe kein neues Unrecht wenn er versucht, sich der durch das Begehen eines Unrechts verdienten Strafe zu entziehen – etwa durch Flucht –, vorausgesetzt allerdings, er mache sich dabei nicht eines neuen Verbrechens schuldig – wie etwa Körperverletzung oder Eigentumsdelikt. Und trotzdem: es gibt eine Reihe von Autoren, die die staatliche Pflicht zu strafen auf ein Recht des Verbrechers, bestraft zu werden, zurückgeführt haben – oder doch zumindest neben der staatlichen Pflicht zu strafen ein Recht des Täters auf Bestrafung postuliert haben. Der bekannteste von ihnen ist ohne Zweifel Hegel, der in seinen Grundlinien des Philosophie des Rechts schreibt: „Die Verletzung, die dem Verbrecher widerfährt, ist nicht nur an sich gerecht – als gerecht ist sie zugleich sein an sich seiender Wille, ein Dasein seiner Freiheit, sein Recht –, sondern sie ist auch ein Recht an den Verbrecher selbst, d.i. in seinem daseienden Willen, in seiner Handlung gesetzt. Denn in seiner

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als eines Vernünftigen Handlung liegt, dass sie etwas Allgemeines, dass durch sie ein Gesetz aufgestellt ist, das er in ihr für sich anerkannt hat, unter welches er also als unter sein Recht subsumiert werden darf. […] Dass die Strafe darin als sein eigenes Recht enthaltend angesehen wird, darin wird der Verbrecher als Vernünftiges geehrt“ (Hegel 195: Par. 100). Dass der Verbrecher durch die Strafe nicht entehrt oder doch zumindest nicht als Mensch entwürdigt werden soll, ist eine Sache, dass er in der und durch die Strafe geehrt werden soll, eine ganz andere, die zumindest auf den ersten Blick stutzig machen kann. Das hier vorliegende Paradox wird man nur dann auflösen können, wenn man sich den Zusammenhang zwischen Strafe, Schuld und Vernunft vor Augen führt – Hegel sagt ja schließlich, dass der Bestrafte als Vernünftiger geehrt wird. Bestraft werden kann nur, wer sich einer strafbaren Handlung schuldig gemacht hat bzw. von dem angenommen wird, er habe sich einer solchen Handlung schuldig gemacht. Schuld setzt aber Schuldfähigkeit voraus, und letztere setzt einen bestimmten Entwicklungsgrad der Vernunft voraus. Das StGB kennt einige Gruppen von Menschen, die prinzipiell schuldunfähig sind, wie etwa die Kinder oder die in starkem Maße geistig gestörten Menschen. Mitglieder dieser Kategorien können nicht – im strafrechtlichen Sinne – bestraft werden. Dasselbe gilt übrigens auch für Tiere, obwohl in der Vergangenheit manchmal auch Prozesse gegen Tiere geführt wurden, die anschließend, wenn sie für „schuldig“ befunden wurden, auch ihre „Strafe“ erhielten. Was Hegel sagen will ist Folgendes: Wenn der Staat davon absieht, einen erwachsenen, einsichts- und vernunftfähigen Menschen zu bestrafen, dann stellt er diesen Menschen einem Kind, einem Irren oder schlimmstenfalls sogar einem Tier gleich. Dadurch entehrt er ihn aber und verletzt somit das Recht des Täters, als vernünftiges Wesen anerkannt zu werden. Das Strafurteil enthält somit eine implizite Anerkennung des anderen als eines Vernunftwesens. Die Bestrafung ist gewissermaßen die ratio recognoscendi der auf Vernunft gegründeten menschlichen Freiheit. Dass der Staat einen Täter absichtlich nicht bestraft, kann man unter diesen Umständen auch als eine besondere, zumindest symbolisch bedeutsame Art von Strafe ansehen, und mit Seneca behaupten, „der Strafe schimpflichste Art ist es, nicht für würdig zu erscheinen, dass man gestraft werde“ (Seneca 1999: 209). Diese Behauptung setzt voraus, dass die Strafe nicht nur die Form einer Zufügung von körperlichem Übel annehmen muss, sondern dass es sich auch um ein geistiges Übel handeln kann. Im vorliegenden Fall könnte man von einem symbolischem Übel sprechen, da dem betroffenen Menschen seine Würde abgestritten wird. Der Ausschluss aus der Kategorie der strafwürdigen Individuen kommt einem Ausschluss aus der Kategorie der freien und vernünftigen Wesen gleich. Dem Recht des Täters, bestraft zu werden – wenn wir ein solches Recht voraussetzen –, entspricht notwendigerweise eine Pflicht des Staates, ihn zu bestrafen – und zwar insofern in einem geordneten Gemeinwesen der Staat die einzige Instanz ist, die über das Recht zu strafen verfügt. In seinem Aufsatz ‚Punishment and forgiveness‘, sieht der englische Philosoph Robin Collingwood die Strafe insofern als Pflicht an, als sich in ihr die moralische Haltung des Strafenden gegenüber dem Bestraften ausdrückt (Collingwood 1995: 130). Nun ist es Pflicht, ein vernünftiges Wesen als vernünftiges Wesen anzuerkennen, eine

10. Strafen als Pflicht gegenüber dem Verbrecher

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Anerkennung die sich konkret im Annehmen einer bestimmten moralischen Haltung ausdrückt. In seinem Buch Recht und Sittlichkeit geht Wladimir Solowjow sogar so weit zu behaupten, die Strafe sei ein „rechtmäßiges und geschuldetes Mittel tätiger Menschenliebe“, da sie „im echten Interesse des Verbrechers selbst“ ist (Solowjow 1971: 123). Wird demnach auf die Strafe verzichtet, so wird auf etwas verzichtet, das dem Verbrecher selbst zur „Belehrung und Besserung“ dienen kann, wobei Solowjow zufolge Belehrung und Besserung etwas sind, worauf der Verbrecher ein Recht hat. Hier steht nicht so sehr die Anerkennung des Täters als eines schon vollkommen vernünftigen und freien Wesens im Mittelpunkt, sondern eine ihm innewohnende Potentialität, sich zu einem solchen Wesen zu entwickeln. Dabei ist die Strafe das Medium, das es der Potentialität erlaubt, sich zu aktualisieren. Da der Täter ein Recht darauf hat, zu dem besseren Menschen zu werden, zu dem er werden kann, hat er auch ein Recht auf die Mittel die es ihm ermöglichen sollen, zu einem besseren Menschen zu werden. Fichtes Behauptung eines Rechts, bestraft zu werden, nimmt eine etwas andere Form an. In seiner Grundlage des Naturrechts führt er den Begriff des Abbüßungsvertrags ein. Prinzipiell, so Fichte, müsste jedes Verbrechen den Ausschluss aus der Gemeinschaft und deshalb auch vom Rechtsschutz bedeuten (Fichte 1991: 254). Durch den Abbüßungsvertrag soll eine Alternative zu dieser äußerst drastischen, womöglich die Existenz des Täters gefährdende Reaktion auf Verbrechen eingeführt werden. Dieser Vertrag ist einerseits für den Staat nützlich, da diesem so der Verbrecher nicht verloren geht. Andererseits ist er aber auch dem Einzelnen von Nutzen, denn durch ihn erhält er „das vollkommene Recht zu fordern, dass man sie [scil. die Abbüßung – N.C.] statt der verwirkten größeren Strafe [scil. den Ausschluss – N.C.] annehme. Es gibt ein Recht, und ein sehr nützliches und wichtiges Recht des Bürgers, abgestraft zu werden“ (Fichte 1991: 255). Genauer müsste es heißen, dass es ein Recht des Bürgers gibt, sein Verbrechen abzubüßen. Dieses Recht entspricht dem Recht, nicht für jedes Verbrechen gänzlich aus der rechtlichen Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden. Man könnte auch sagen, dass jeder Bürger ein Recht auf die mildere Reaktion auf ein von ihm begangenes Verbrechen hat, zumindest insofern eine härtere Reaktion nicht notwendig ist. Dieses Recht hat er allerdings nicht von Natur aus, sondern nur kraft eines Vertrages. Ein Recht, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden, behauptet Fichte nicht. Vom Straftäter wird oft behauptet, er lade eine Schuld auf sich. Indem er eine solche Schuld auf sich lädt, unterscheidet er sich von den rechtschaffenen Bürgern, die keine solche Last tragen. Die für die Rechtsgemeinschaft wesentliche Gleichheit aller Rechtssubjekte ist somit gebrochen, und zwar zum Nachteil des Straftäters. Der Straftäter muss etwas mit sich herumtragen, was seine Mitbürger nicht zu tragen haben. Damit der Verbrecher wieder ein Gleicher unter Gleichen werden kann, muss er seine Schuld abtragen können. Louis Proal erwähnt in diesem Zusammenhang Verbrecher, denen scheint, dass sie, „indem sie die Strafe erleiden, der Gesellschaft gegenüber die Schuld begleichen, die sie an dem Tag auf sich geladen haben, als sie die Gesetze verletzt haben“ (Proal 1892: 505). Er erwähnt dabei den Fall eines im Jahre

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Kapitel 3: Recht zu strafen und Pflicht zu Strafen

1891 guillotinierten Mörders, der, kurz vor der Hinrichtung, gesagt haben soll: „Ich werde als Mensch sterben, der seine Schuld begleicht“. Wenn wir jemandem Geld schulden, wollen wir diese Schuld natürlich einerseits um des anderen willen begleichen, aber andererseits auch um unserer eigenen Ehre und unseres eigenen Rufes willen. Es stört die meisten von uns, als eine Person zu erscheinen, die ihre Schulden nicht begleicht. Dass wir bei jemandem in der Schuld sind, weist auch auf eine Art Abhängigkeit dem anderen gegenüber hin: Wir haben das, was wir tun wollten, nur tun können, indem wir etwas gebrauchten, das dem anderen gehörte. Indem wir unsere Schuld begleichen, verlieren wir unsere Identität als Schuldner und werden somit wieder ein Gleicher unter Gleichen. Es sei hier festgehalten, dass es bei dieser Schuldbegleichung eigentlich nicht in erster Linie darum geht, dass die Gesellschaft das erhält, was sie verdient und was der Täter ihr schuldet, sondern dass umgekehrt der Täter das erhält, was er verdient und was die Gesellschaft ihm schuldet, nämlich die Möglichkeit, seine ursprüngliche Identität wieder zu gewinnen. Das Recht, bestraft zu werden, könnte dementsprechend als Recht betrachtet werden, wieder ein Gleicher unter Gleichen zu werden, wobei die Strafe das Mittel ist, durch das diese Angleichung erfolgt. Kann man auch mit dem Gedanken einverstanden sein, dass die durch die Straftat verletzte Symmetrie wieder hergestellt werden soll, bleibt doch die Frage, ob die Strafe das einzige Mittel ist, um dies zu bewerkstelligen. Wenn ich jemandem Geld schulde und er lässt mir die Schuld nach, so kann ich doch, etwa indem ich ihm behilflich bin, eine Art Äquivalent für das Abtragen der Schuld leisten – falls ich das Nachlassen der Schuld nicht als Wiederherstellung der Gleichheit betrachten möchte. So könnte gegebenenfalls auch ein Verbrecher seine Schuld dadurch begleichen, dass er sich besonders vorbildlich verhält und auf diese Weise wieder als jemanden betrachtet wird, dem man Vertrauen schenken kann. Die These, der Straftäter habe ein Recht, bestraft zu werden, ansonsten er nicht als vernünftiges Wesen anerkannt wird, scheint Anerkennung der Strafwürdigkeit und tatsächlicher Vollzug der Strafe als notwendig miteinander zusammenhängend anzusehen. Nur: Aus der Tatsache, dass ich X als strafwürdig ansehe, folgt noch nicht, dass ich ihn auch unbedingt bestrafen muss. Der Verzicht auf eine Bestrafung impliziert noch nicht automatisch die Aberkennung der Strafwürdigkeit und damit der Vernünftigkeit des Täters. Dies wäre nur dann der Fall, wenn hinter dem Verzicht auf Strafe die Absicht steht, den anderen dadurch zu demütigen oder zu entehren. Wenn ich jemanden nicht bestrafe und ihm erkläre, warum ich ihn nicht bestrafe, habe ich ihn aber schon als ein vernünftiges Wesen anerkannt. Wäre die Bestrafung das einzige Mittel, den Täter als ein vernünftiges Wesen anzuerkennen oder das einzige Mittel, aus ihm einen besseren Menschen zu machen oder doch einen Menschen, der seine Schuld abtragen kann, dann könnte man ein Recht des Täters auf Bestrafung geltend machen. Die Bestrafung besitzt aber nicht diese Einzigartigkeit.

Literaturverzeichnis

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Kapitel 4 Der Zweck der Strafe 1. Strafzwecktheorien. Wer einen Menschen bestraft, fügt ihm willentlich und wissentlich ein Übel zu. Die Zufügung von Übel verstößt aber auf den ersten Blick sowohl gegen das christliche Prinzip der Nächstenliebe wie auch gegen das allgemein menschliche Prinzip, dass man keinem Menschen ein Übel zufügen darf – neminem laede, wie etwa Schopenhauer die Gerechtigkeit als erste Stufe des Mitleids charakterisiert. Insofern im Fall der Strafe ein solcher Verstoß gegen allgemein anerkannte und die Basis unseres Zusammenseins bildende Prinzipien vorliegt, muss er begründet werden, was in diesem Fall nichts anderes bedeuten kann, als dass gezeigt wird, dass die Bestrafung unter bestimmten Umständen notwendig ist, wobei es dann diese Notwendigkeit ist, die Handlungen erlaubt, die gegen die eben erwähnten Prinzipien verstoßen. Die Unterlassung der Bestrafung würde ein noch größeres Übel als die Bestrafung selbst bedeuten. Damit ist dann nicht das allgemeine Prinzip der zu unterlassenden Übelszufügung zu Gunsten eines anderen, ihm fremden Prinzips in Frage gestellt worden, sondern dieses Prinzip wird vielmehr behauptet, allerdings vor dem Hintergrund einer Abwägung: Manche Übel müssen zugefügt werden, wenn noch größere Übel vermieden werden sollen. Welcher Natur diese zu vermeidenden Übel sein werden und wer oder was unter ihnen leiden wird, bleibt dabei zunächst noch offen. Die Bestrafung ist selbstverständlich nicht die einzige Art von Übelszufügung, die man zu rechtfertigen versucht hat. Notwehr, um ein erstes Beispiel zu nehmen, führt auch dazu, dass man einem anderen Menschen ein mehr oder weniger großes Übel zufügt. Der aus Notwehr Handelnde bestraft nicht denjenigen, der eine Gefahr für ihn darstellt, sondern er reagiert unmittelbar auf die Bedrohung und versucht, sie von sich abzuwenden, und dies womöglich noch bevor sie zu einer Körperverletzung geführt hat. Das StGB spricht den aus Notwehr erfolgten Handlungen den Charakter der Rechtmäßigkeit zu und sieht sie durch die Notwendigkeit gerechtfertigt, sein Leben oder doch zumindest seine körperliche Integrität zu schützen – allerdings immer unter dem Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit. Ein anderer Kontext in dem Menschen anderen Menschen Übel zufügen ist der Krieg. Im Krieg kann es selbstverständlich auch zu Handlungen kommen, die als Notwehrhandlungen bezeichnet werden können. Doch sind im Krieg nicht nur Übelszufügungen unter den Bedingungen der unmittelbaren Notwehr gerechtfertigt. Der Krieg ist vielmehr ein Zustand, in dem auch präventiv Übel zugefügt werden darf und in dem auch unter bestimmten, immer strenger werdenden Bedingungen Menschen getötet werden dürfen, die weder unmittelbar noch mittelbar eine Gefahr darstellen. So nimmt man bei Bombenangriffen auf eine Stadt in Kauf, dass neben den unmittelbar zu treffenden militärischen Zielen auch Frauen und Kinder oder sonstige Zivilisten getötet werden. Das diesen Opfern zugefügte Übel ist nicht direkt beabsichtigt, wird aber als notwendig angesehen, um dem Ende des Krieges einen Schritt näher zu kommen – und ist heute auch nur unter dieser Bedingung gerechtfertigt. Hinter dem Abwurf

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Kapitel 4: Der Zweck der Strafe

der zwei Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki stand die Absicht, Japan die Kapitulation so schnell wie möglich abzuringen, um so zu vermeiden, dass noch weitere Tausende von allierten Soldaten im Krieg starben. Die mit der Bestrafung gegebene Zufügung von Übel unterscheidet sich von der Notwehr wesentlich dadurch, dass die Strafe erst nach und nicht während der unmittelbaren Bedrohung erfolgt. Prinzipiell kann eine Strafe jemanden treffen, der überhaupt keine Gefahr mehr darstellt und auch keine solche mehr darstellen kann – denken wir hier z. B. an Pinochet. Hätte man denselben Pinochet in den siebziger Jahren umgebracht, als er noch mit eiserner Faust über Chile herrschte, in der Hoffnung, das chilenische Volk dadurch von den Gefahren zu befreien, die von der Militärdiktatur ausgingen, hätte man die Handlung durchaus als – kollektive – Notwehrhandlung bezeichnen können. Würde aber heute ein Attentat auf ihn ausgeübt, so könnte dieses nicht mehr als Akt der Notwehr, sondern höchstens als Akt der Rache oder der Strafe angesehen werden. Wenn man auch einsehen kann, dass man dazu berechtigt ist, jemandem ein Übel zuzufügen, um dadurch einen Angriff abzuwenden, ist nicht so leicht einzusehen, warum man jemandem ein Übel zufügen sollte, der unmittelbar keine solche Gefahr mehr darstellt. Falls derjenige der mich angegriffen hat die Flucht ergreift, kann ich das Prinzip der Notwehr nicht mehr in Anspruch nehmen, wenn ich ihm auf seiner Flucht ein Übel zufüge – ihn etwa erschieße. Sobald die unmittelbare Bedrohung aufgehört hat, tritt das Prinzip der Notwehr außer Kraft. Aber dafür tritt das Prinzip der Strafe auf den Plan. Allerdings mit dem Unterschied, dass ich, als Angegriffener, kein Recht habe, den Angreifer zu bestrafen. Das hängt selbstverständlich damit zusammen, dass die Individuen ihr Recht zu strafen an den Staat abgetreten haben bzw., wenn man mit Pufendorf und Hobbes davon ausgeht, dass die Individuen im Naturzustand kein Recht zu strafen besitzen, der Staat oder die Gemeinschaft sich selbst ein solches Recht zuerkannt haben. Nur: Ist die Bestrafung desjenigen, der eine Straftat verübt hat, wirklich notwendig, und wenn ja, wie ist diese Notwendigkeit zu begreifen? Warum muss jemandem ein Übel zugefügt werden, der geschützte Rechtsgüter bedroht, angegriffen oder verletzt hat und nicht mehr unmittelbar dabei ist, sie zu verletzen? Strafzwecktheorien stellen einen Versuch dar, diese Frage zu beantworten. Mögen sie auch grundsätzlich verschiedene Antworten auf die Frage geben, so gehen sie doch alle von der Voraussetzung aus, dass die Bestrafung gerechtfertigt werden muss. Insofern durch die Bestrafung ein neues Übel geschaffen wird, dieses neue Übel aber nicht das vorangegangene Übel rückgängig machen kann – die Hinrichtung eines Mörders bringt den Ermordeten nicht wieder zum Leben –, bedarf die Bestrafung einer starken Rechtfertigung. Manche Denker haben diese Rechtfertigung unabhängig von möglichen positiven empirischen Konsequenzen der Bestrafung zu konstruieren versucht, und haben sich nur auf den Zusammenhang zwischen der Straftat und dem Akt der Bestrafung konzentriert. Der Blick bleibt also hier ausschließlich auf die Vergangenheit gerichtet und es wird ein manchmal fast schon begrifflich bestimmter Zusammenhang zwischen Tat und Strafe hergestellt. Andere hingegen werfen den Blick in die Zukunft und können die Berechtigung der Strafe nur im Hinblick auf ihre erwarteten positiven empirischen Konsequenzen konzipieren. So

2. Der Zweck der Wiedervergeltung

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stehen sich absolute und relative Strafzwecktheorien gegenüber. Während die ersteren meistens nicht bereit sind, Ausnahmen zuzulassen und die Bestrafung somit als kategorischen Imperativ betrachten, gehen letztere meistens von dem Gedanken aus, dass die Bestrafung höchstens dann gerechtfertigt – aber unter Umständen auch geboten – ist, wenn sie Gutes bewirkt. 2. Der Zweck der Wiedervergeltung. Auch wenn Immanuel Kant weder der erste noch der einzige Denker ist, der eine absolute Strafzwecktheorie entworfen hat, ist doch seine Behandlung des Zwecks der Strafe zum philosophischen Paradigma absoluter, jeden utilitaristischen Gedanken ausschließender Strafzwecktheorien geworden. In seiner Metaphysik der Sitten führt Kant das Beispiel einer politischen Gemeinschaft an, die sich auflösen will. Irgendwo in einem Gefängnis sitzt noch ein Mörder, der auf seine – vom ius talionis geforderte – Hinrichtung wartet. Man könnte nun denken, dass auf Grund der Auflösung der Gemeinschaft die Hinrichtung hinfällig wird, da wir einmal annehmen wollen, dass keines der Individuen noch einmal dem Mörder über den Weg laufen wird und dass auch der Mörder, so wollen wir weiter annehmen, niemals mehr irgendeinem Individuum begegnen wird – stellen wir uns vor, er ziehe sich auf eine einsame Insel zurück und verbringe dort den Rest seines Lebens. Insofern vom Mörder keine weitere Gefahr mehr ausgehen wird, könnte man sich also vorstellen, dass man ihn beim Auflösen der Gemeinschaft frei lässt. Kants absolute Strafzwecklogik lässt diese die zukünftige Ungefährlichkeit des Mörders betreffende Überlegung nicht gelten: Insofern der Mörder sich eines Mordes schuldig gemacht hat, muss er bestraft und muss die Strafe auch tatsächlich vollstreckt werden, und es spielt keine Rolle, ob der Mörder noch weiter eine Gefahr darstellen wird oder nicht. Die ihre politische Gemeinschaft auflösenden Individuen würden ein Unrecht begehen, wenn sie den Mörder nicht hinrichteten. Es muss, sagt Kant, „der letzte im Gefängnis befindliche Mörder vorher hingerichtet werden, damit jedermann das widerfahre, was seine Taten wert sind“ (Kant 1982: 455). Was eine sich auflösende Gemeinschaft mit jemandem zu tun hat, der zu lebenslanger Haft verurteilt wurde und noch etliche Jahre vor sich hat, sagt Kant nicht. Fände sie keine andere Gemeinschaft, die bereit ist, den Gefangenen zu übernehmen, müsste sie ihre Auflösung u.U. bis zum natürlichen Tod des Verurteilten aufschieben, wobei in der Zwischenzeit natürlich keine neuen, eine lebenslange Haftstrafe nach sich ziehende Verbrechen begangen werden dürfen. Für Kant gilt nicht nur, dass niemandem mehr widerfahren darf, als seine Taten wert sind, sondern auch, dass niemandem weniger widerfahren darf. Dabei wird vorausgesetzt, dass man die jeweilige Höhe der Strafe an der Schwere des Verbrechens festmachen kann, und zwar gemäß dem sogenannten ius talionis. Und genauso wie die Höhe der Bestrafung sich aus der Schwere der Straftat ergibt, ergibt sich für Kant die Existenz der Bestrafung aus der bloßen Existenz der Straftat: Die Existenz der Strafe muss sich notwendigerweise aus der Existenz der Straftat ergeben und kann im Prinzip durch die Existenz keiner anderen Gegebenheiten rechtlich in Frage gestellt werden. Die vom Gesetzgeber allgemein festgelegte und vom Richter im konkreten Fall verhängte Strafe,

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Kapitel 4: Der Zweck der Strafe

„kann niemals bloß als Mittel, ein anderes Gute zu befördern, für den Verbrecher selbst, oder für die bürgerliche Gesellschaft, sondern muss jederzeit nur darum wider ihn verhängt werden, weil er verbrochen hat; denn der Mensch kann nie bloß als Mittel zu den Absichten eines anderen gehandhabt und unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt werden“ (Kant 1982: 453). Kant sagt hier nicht, dass die Strafe nur insofern verhängt werden darf, als der Bestrafte verbrochen hat, sondern er sagt, dass sie verhängt werden muss, weil er verbrochen hat. Es geht also nicht nur darum, dass jemand nicht bestraft werden darf, der keine Straftat verbrochen hat – bzw. von dem man weiß, dass er nichts verbrochen hat –, sondern dass jeder, der eine Straftat begangen hat, bestraft werden muss, und zwar nur deshalb, weil er sie begangen hat. Das Begehen einer Straftat ist also sowohl eine notwendige, wie auch eine hinreichende Bedingung für die Bestrafung, wobei das Vorliegen dieser hinreichenden Bedingung die Strafe notwendig macht. Das Strafgesetz, so Kant, „ist ein kategorischer Imperativ“ und kann somit durch keine konsequentialistischen Überlegungen außer Kraft gesetzt werden, genausowenig wie er durch solche Überlegungen begründet werden kann. Die sich in der Strafe ausdrückende Gerechtigkeit ist eine strikt kommutative Gerechtigkeit. Die Strafe ist eine Art Ausgleich: Weil ein Individuum einem anderen Individuen ein Übel zugefügt hat, muss dem Täter auch ein Übel zugefügt werden, und zwar ein ähnliches. Oder noch anders gesagt: Weil eine bestimmte Handlung es wert ist, bestraft zu werden, muss sie auch bestraft werden. Es ist also gewissermaßen die Handlung selbst, und nichts jenseits von ihr Liegendes, was eine Bestrafung moralisch zwingend macht. Charles Barton geht soweit, neben dem moralischen, auch noch einen logischen Zusammenhang zwischen der Handlung und der Strafe zu sehen: „Vergeltung ist den Unrechttätern als negative Rückzahlung geschuldet. Sie ist die unmittelbare, moralische und logische Konsequenz ihres Unrechttuns, etwas, das sie moralisch verdienen, im Verhältnis zu der moralischen Schwere ihrer Handlungen“ (Barton 1999: 51). Wer also behauptet, er werde jemanden trotz einer begangenen Straftat nicht bestrafen, handelt nicht bloß unmoralisch bzw. verstößt nicht nur gegen ein fundamentales Gerechtigkeitsprinzip, sondern er verstrickt sich darüber hinaus in einen logischen – oder doch zumindest pragmatischen – Widerspruch. Es ist als ob er sagen würde: „Ich verspreche Dir zu kommen, weiß aber schon, dass ich keine Zeit haben werde zu kommen“. Absolute Strafzwecktheorien behaupten einen doppelten intrinsischen Zusammenhang zwischen strafbarer Handlung und Strafe, wohingegen relative Strafzwecktheorien nur einen einfachen intrinsischen Zusammenhang annehmen. Behaupten letztere nämlich bloß, dass nur dort bestraft werden darf, wo eine strafbare Handlung vorliegt, behaupten absolute Strafwecktheorien darüber hinaus, dass das Vorliegen einer strafbaren Handlung genügt, um die Bestrafung zur Pflicht zu machen. Recht und Pflicht zu bestrafen entspringen in dem Fall beide aus dem Vorliegen einer strafbaren Handlung. 3. Vergeltung und Rache. Absolute Strafzwecktheorien stellen gewöhnlich den Gedanken der (Wieder)Vergeltung in den Mittelpunkt. Indem jemand eine

3. Vergeltung und Rache

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Straftat begeht, so wird behauptet, lädt er eine Schuld auf sich, und es ist einzig und allein wegen dieser Schuld, dass er bestraft werden soll. Vergeltung heißt auf Latein retributio, was man auch mit Zurückgeben übersetzen kann. Definierte das Römische Recht die Gerechtigkeit als ein ius suum cuique tribuere (jedem das ihm Zustehende geben), so ließe sich die den absoluten Strafzwecktheorien zu Grunde liegende Auffassung der Strafgerechtigkeit mit der Formel poena sua cuique tribuere (jedem die ihm zustehende Strafe geben). Die Vergeltungstheorie behauptet, dass dem Straftäter dasselbe Übel zurückgegeben werden muss, das er dem Opfer zugefügt hat, oder doch zumindest ein ihm äquivalentes Übel. Es soll gewissermaßen ein Gleichgewicht des Übels hergestellt werden. Dieser Vergeltungsgedanke drückt sich mit aller Deutlichkeit in der lex talionis aus, dessen klassische Formulierung wir im Alten Testament finden (3. Mose 24, 17–21): „Wer irgendeinen Menschen erschlägt, der soll des Todes sterben. Wer aber ein Stück Vieh erschlägt, der soll’s ersetzen, Leben um Leben. Und wer seinen Nächsten verletzt, dem soll man tun, wie er getan hat, Schaden um Schaden, Auge um Auge, Zahn um Zahn; wie er einen Menschen verletzt hat, so soll man ihm auch tun. Wer ein Stück Vieh erschlägt, der soll’s erstatten; wer aber einen Menschen erschlägt, der soll sterben “. Während Grotius, Schopenhauer und andere Autoren bloß feststellten, dass Gott das Strafübel um des Strafübels und also nicht um ein in Zukunft liegendes Gutes willen verhängt und verhängen darf, behauptet Papst Pius XII., dass die Vergeltung den wertvollsten Strafzweck bildet, straft doch Gott selbst gemäß diesem Prinzip. Damit ist implizit gesagt, dass das Prinzip der Wiedervergeltung auch der menschlichen Strafpraxis zu Grunde gelegt werden sollte. Insofern die Vergeltungstheorie lediglich darauf aus ist, ein Übel mit einem ihm entsprechenden Übel zurückzuzahlen und in dem zurück gezahlten Übel den Preis des begangenen Übels sieht, wurde sie von manchen Autoren mit der Rache in Verbindung gebracht, wobei dieser Vergleich einer impliziten oder manchmal sogar expliziten Verurteilung der Vergeltungstheorie gleichkam. Im Falle der Rache, so Grotius, fehlt jede Spur von Nützlichkeit. Wer sich rächt, fügt das Übel bloß um des begangenen Übels, und nicht um eines zukünftigen Gutes willen zu. Im Gegensatz zur Rache geht es bei den Strafen immer um ein zukünftiges Gut. Wenn demnach ein Mensch einem anderen Menschen ein Übel zufügt, bloß weil dieser ihm oder einem anderen vorher ein Übel zugefügt hat, und nicht (auch) weil durch die neue Übelszufügung ein zukünftiges Gut bezweckt ist, dann bestraft er nicht, sondern er rächt sich. Laut Grotius verstößt die Rache aber gegen den Geist des natürlichen Gesetzes und ist den Menschen kategorisch untersagt. Nur Gott allein hat das Recht zu bestrafen, ohne dadurch ein zukünftiges Gut zu befördern (Grotius 1984: II, XX, V). Auch Hobbes lehnt entschieden den Gedanken ab, Strafe habe etwas mit Rache zu tun. Das siebte natürliche Gesetz schreibt den Menschen vor, bei der Bestrafung nicht auf die Größe des begangenen und vergangenen Übels zu schauen, sondern auf die Größe des zu erwartenden Gutes (Hobbes 1982: XV, 106). Während die Rache mit einer Zornentladung gleichgestellt wird, soll die Strafe von jeder Gefühlsaufwallung frei sein und nur den Gedanken der zukünftigen Nützlichkeit im Blick haben (Hobbes 1982: XXX, 240).

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Insofern die Rache und die mit ihr einhergehenden Rachegefühle ganz allgemein als negativ bewertet werden und nicht mit dem christlichen Prinzip der Nächstenliebe in Einklang gebracht werden können, sind viele Anhänger der Vergeltungstheorie darauf bedacht, Vergeltung und Rache voneinander zu unterscheiden. Wesentlich ist für sie dabei der institutionelle Aspekt der Strafe. So bezieht Kant sich etwa auf das Wiedervergeltungsrecht „vor den Schranken des Gerichts (nicht in deinem Privaturteil)“ (Kant 1982: 454). Die Höhe der vergeltenden Strafe soll dementsprechend nicht vom betroffenen Individuum festgelegt werden, sondern von einem öffentlichen Gericht. Dieses garantiert nicht nur Unparteilichkeit, sondern darüber hinaus auch Leidenschaftslosigkeit. Und gerade dadurch lässt sich die öffentliche Strafe von der privaten Rache unterscheiden. Während das unmittelbar betroffene Individuum durch seine Rachegefühle dazu verleitet werden kann, weitaus mehr Übel zurückzugeben, als die Straftat produziert hat, ist der unparteiliche Richter einzig und allein darauf bedacht, Gleiches mit genau Gleichem zu vergelten. Dadurch bürgt er für die Gerechtigkeit der Strafe. Der Richter sucht keine Genugtuung für die verletzten Gefühle, sondern für das verletzte Gesetz. Mögen also Strafe und Rache beide nur die begangene Straftat im Auge haben und sich keine weiteren Gedanken darüber machen, ob ein dem Täter zugefügtes Übel ein Gut hervorbringen wird – abgesehen vom Gut, dass bestraft wurde wo bestraft werden musste –, so unterscheiden sie sich doch in der Hinsicht, dass der rächende Mensch das Übel unter der Übermacht einer oft die Schranken der strikten kommutativen Gerechtigkeit sprengenden Leidenschaft zufügt, wohingegen der staatliche Richter sich nur durch die Stimme der sich im Gesetz ausdrückenden leidenschaftslosen Vernunft leiten lässt. Jean Pradel zufolge unterscheidet sich die Vergeltung auch noch dadurch von der Rache, dass letztere auf die Demütigung ihres Opfers abzweckt, ein Zweck, den man bei der bloßen Vergeltung nicht findet (Pradel 1991: 8). Die Rache, könnte man insofern sagen, will nicht nur das begangene physische Übel durch ein äquivalentes physisches Übel vergelten, sondern sie will darüber hinaus dem Täter ein moralisches Übel zufügen. Und insofern diese Zufügung gelingt, empfindet der sich Rächende, wie Pradel sagt, eine gewisse Freude. Sagt übrigens nicht der Volksmund, die Rache sei süß? Heisst das dann aber nicht, dass man bei der Rache nicht nur auf das vergangene Übel schaut, sondern auch auf ein zukünftiges Gut, nämlich auf die Schadenfreude des sich Rächenden? Und wird damit nicht die Rache zu einer Form der Strafe, zumindest wenn man den Standpunkt des Grotius zu Grunde legt? Grotius würde sicherlich bestreiten, dass es sich bei der Schadenfreude um ein Gut handelt, das es verdient, dass man ihm Rechnung trägt; es würde sich bei ihr vielmehr um ein Gefühl handeln, das kein Mensch, und schon gar kein Christ, empfinden sollte und das man dementsprechend nicht berücksichtigen sollte. Damit kann man sich sicherlich einverstanden erklären. Nur sollte man bedenken, dass die Tatsache, dass jemand Schadenfreude empfindet, als Symptom gedeutet werden kann, dass er in einem wesentlichen Aspekt seiner Identität verletzt wurde. Das Übel, das der andere erleidet, erscheint dann als Kompensierung des identitären Schadens. In diesem Zusammenhang sieht

3. Vergeltung und Rache

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Ted Honderich als den Grundgedanken der Vergeltungstheorie die Tatsache, dass die Strafe dem Opfer eine Genugtuung geben soll, die der von ihm durch die Straftat erlittenen Verletzung gleichrangig ist (Honderich 1971: 35). Man bestraft also, damit das Opfer – oder seine Verwandten oder Nahestehenden – ein Gefühl der Zufriedenheit verspüren, das ihre durch die begangene Straftat erweckten Gefühle der Trauer, der Empörung usw. neutralisieren soll. Die Strafe erfüllt also hier eine kathartische Funktion. Barton, der in der Rache eine „persönliche vergeltende Strafe“ sieht (Barton 1999: 80), weist darauf hin, dass die Vergeltung ein Mittel sein kann, seine Selbstachtung wieder zu erlangen (Barton 1999: 108). Man könnte unter diesen Umständen die Schadenfreude die das Opfer einer Straftat anlässlich der Zufügung von Übel am Täter verspürt, als Ausdruck einer – wenn auch nicht unbedingt tatsächlich, so doch zumindest vermeintlich – wiedererlangten Selbstachtung interpretieren. Indem das Opfer sich darüber freut, dass dem Täter Übel zugefügt wird, freut es sich auch darüber, dass dem Täter jetzt geschieht, was es, das Opfer, will, wohingegen im Augenblick der Straftat dem Opfer das geschah, was der Täter wollte. Der Entmachtung des Opfers während des Begehens der Straftat entspricht jetzt die Entmachtung des Täters in den Händen des Staates, der die Interessen des Opfers wahrnimmt. Laut Jean Hampton ist die vergeltende Strafe gleichzusetzen mit „der Niederlage des Straftäters durch die Hand des Opfers (entweder unmittelbar oder mittelbar durch einen Agenten des Opfers, z. B. der Staat), die den richtigen relativen Wert des Straftäters und des Opfers symbolisiert“ (Hampton 2002: 125). Die Strafe gibt uns somit das Gefühl unseres eigenen Wertes zurück, indem sie eine direkte oder indirekte Machtausübung über den Täter darstellt. Eine Reihe von Autoren haben auf den quasi-natürlichen Aspekt des Gedankens der Vergeltung hingewiesen. So meint etwa Richard Holloway, es sähe so aus, als besäßen wir „einen natürlichen Instinkt für die vergeltende Gerechtigkeit“ (Holloway 2004: 70). Die Natürlichkeit des Vergeltungsgedankens reicht selbstverständlich noch nicht für seine moralische Rechtfertigung aus. Und dies umso weniger, wenn wir die Vergeltung nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zur Wiederherstellung des Gefühls der Selbstachtung des Opfers betrachten. In dem Wunsch nach Rache drückt sich etwas aus, dem Rechnung getragen werden sollte, nämlich der Wille, sich wieder als handlungsmächtiges Subjekt zu empfinden. Die Rache ist süß, weil sie einem den Eindruck gibt, wieder Macht zu haben – zumindest Macht relativ zum Bestraften, der passiv die Strafe über sich ergehen lassen muss. Das Ziel einer Wiederermächtigung des Opfers oder einer Wiedererlangung des Selbstwertgefühls durch das Opfer sollte ein zentraler Bestandteil einer jeden Kriminalpolitik sein. Das Opfer sollte nicht nur der Anlass des Strafprozesses sein oder der Zeuge, den man zu einem bestimmten Moment des Prozesses während einigen Minuten auftreten lässt, um ihm in einem standartisierten Verfahren bestimmte, für die eventuelle Verurteilung des Opfers notwendige Informationen abzufragen, sondern es sollte in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Reaktion auf die Straftat treten. Die Gesellschaft schuldet dem Opfer in erster Linie die Wiedererlangung seiner Selbstachtung und, darüber hinaus, den Schutz der sozialen Bedingungen der Möglichkeit eines Gefühls der Selbstachtung. Die Bestrafung der Straftäter ist

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lediglich ein Mittel dazu. Und es liegt nicht auf der Hand, dass es das einzige, noch, dass es immer und unter allen Umständen das angemessenste Mittel ist. 4. Generalprävention als Strafzweck. Der Bestrafung, weil ein Unrecht begangen wurde (quod peccatum) wird die Bestrafung, damit kein neues Unrecht begangen werde (ut non peccatur) entgegen gestellt. Die Strafe wird somit zu einem präventiven Mittel gegen das Begehen neuen Unrechts, wobei diese Prävention entweder nur gegenüber dem Täter ausgeübt werden kann – Spezialprävention –, oder aber gegenüber jedem potentiellen Täter. Die Strafe soll also entweder eine bestimmte Person, den Bestraften, oder eine nicht weiter bestimmte Allgemeinheit von Personen abschrecken. In letzterem Fall spricht man von Generalprävention. Auch wenn man den Gedanken der Generalprävention schon vor dem 18. Jahrhundert finden kann, wird ihm doch erst bei den großen Strafrechtstheoretikern der Aufklärungszeit eine alles überragende Rolle zuerkannt. Diese Denker grenzen sich explizit von einem auf die bloße Wiedervergeltung ausgelegten Strafzweck ab. Insofern die Straftat in der Vergangenheit liegt, kann nicht mehr auf sie eingewirkt werden; selbst die schrecklichste Strafe die man sich für einen Mord ausdenken kann, wird es nicht bewirken können, dass der Ermordete wieder zum Leben erweckt. Die Bestrafung des Mörders kann also das, was geschehen ist, nicht wieder gut machen. Insofern die Bestrafung nichts an dem ändert, was sich in der Vergangenheit zugetragen hat, kann ihr Zweck sich nicht auf etwas Vergangenes beziehen. Die Wirksamkeit der Strafe, wenn sie denn eine haben soll, kann dementsprechend nur auf die Zukunft bezogen sein. Und diese Wirksamkeit drückt sich dann in der allgemeinen Abschreckung aus. Indem diese allgemeine Abschreckung funktioniert, können die Menschen sich vor Übergriffen ihresgleichen sicher fühlen. Dem unmittelbaren abschreckenden Zweck der Strafe entspricht somit ein mittelbarer beruhigender Zweck. Durch sein 1764 erschienenes und in ganz Europa für Aufsehen sorgendes Buch Dei delitti e delle pene, hat Cesare Beccaria den Gedanken der Generalprävention – den er allerdings manchmal mit dem Gedanken der Spezialprävention verbindet – zum Leitgedanken der Strafrechtsphilosophie der Aufklärung gemacht. Beccaria zufolge sollte eine schon begangene Straftat, für die es keine Möglichkeit der Wiedergutmachung gibt, nur dann von der politischen Gemeinschaft bestraft werden, wenn die Gefahr besteht, dass andere Menschen durch die Aussicht auf Straflosigkeit dazu verleitet werden könnten, eine ähnliche Straftat zu begehen (Beccaria 2003: 60–1). Ausschlaggebend für die tatsächliche Bestrafung ist also nicht, was in der Vergangenheit geschehen ist, sondern was in Zukunft geschehen könnte. Was in der Vergangenheit geschehen ist lässt zwar ein prima facie Recht zu strafen entstehen, aber ob dieses Recht auch tatsächlich ausgeübt werden soll, hängt nicht von der Vergangenheit, sondern von der zu erwartenden Zukunft ab. Für Beccaria besteht der Zweck der Strafe nicht darin, den Straftäter zu peinigen, die Rachegefühle des Opfers zu befriedigen oder das Geschehene ungeschehen zu machen, sondern die Menschen – den Täter mit einbegriffen – davon abzuhalten, neue Straftaten zu begehen (Beccaria 2003: 54). Der ein-

4. Generalprävention als Strafzweck

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zige Zweck der Strafe ist es, „die anderen Menschen durch die Furcht von einer ähnlichen Straftat abzuhalten“ (Beccaria 2003: 65). Oder wie Wilhelm von Humboldt es ungefähr drei Jahrzehnte nach Beccaria formulieren wird, Zweck der Strafe ist immer die „Verhinderung der Beleidigungen für die Zukunft“ (Humboldt 1980: 183–4). Liegt der Grund der Strafe auch immer in der Vergangenheit, so liegt ihr Zweck doch in der Zukunft. Und es ist der Zweck und nicht der Grund, der letzten Endes darüber entscheidet, ob die Strafe notwendig ist oder nicht. Und nur eine notwendige Strafe darf verhängt werden, wenn man sich nicht einer unnützen und gerade deshalb auch ungerechten Übelszufügung schuldig machen will. Der eben erwähnte Strafzweck der Generalprävention ist, so Beccaria, der politische Zweck der Strafe (Beccaria 2003: 60). Diese Kennzeichnung Beccarias lässt die Möglichkeit zu, dass die Strafe auch noch andere als politische Zwecke haben könnte. Nur sollte eine politische Gemeinschaft diese anderen Zwecke nicht mit berücksichtigen und sich auf den für sie, d. h. für ihren Zusammenhalt und ihr Funktionieren wesentlichen Zweck beschränken. Sie sollte dementsprechend etwa den religiösen Zweck der Strafe, der im salus animae – also im Seelenheil – besteht, unberücksichtigt lassen. Der Staat sollte also nicht den Schuldigen bestrafen, um ihn vor der ewigen Verdammnis zu retten – Punire per salvare, wie der Titel von Angelo Giuseppe Urrus Buch über das Strafrechtssystem der Kirche lautet. Eine solche Rettung der Seele des Bestraften, der sich durch die Strafe bessern und wieder zu einem braven Christen und Bürger werden soll, will Beccaria also explizit von der staatlichen Strafordnung ausgeschlossen sehen. Die Strafe ist für ihn ein Mittel, das einen politischen Zweck verfolgt. Er bezeichnet sie übrigens als ein politisches Hindernis für die zerstörerischen Leidenschaften des Menschen (Urru 2001: 44). Der Staat soll nur bestrafen, um potentielle Verbrecher abzuschrecken, und er soll nur abschrecken, wo die Gefahr besteht, dass die Straflosigkeit Anlass für weitere Verbrechen sein kann, wo also die Abschreckung einen direkten Einfluss auf die Kriminalitätsrate hat. Damit hört die Strafe zumindest prinzipiell auf, Gegenstand eines abstrakten kategorischen Imperativs zu sein. Allerdings sagt auch Beccaria an einer Stelle, dass jede bekannte Straftat bestraft werden muss (Beccaria 2003: 60). Dieses Müssen ist aber verschieden vom Müssen der Wiedervergeltungstheorie, da es auf empirischen Annahmen beruht: Weil im allgemeinen davon ausgegangen werden kann, dass die Straflosigkeit bestimmter Täter potentielle Täter zu aktuellen Tätern werden lassen kann, ist es angebracht, die vorgesehenen Strafen in allen Fällen anzuwenden. Könnte man in einem individuellen Fall absolut sicher sein, dass die Straflosigkeit des Täters nicht zu neuen ähnlichen Straftaten führen würde bzw. dass die Straflosigkeit des Täters keinen direkten oder indirekten Einfluss auf das Begehen einer weiteren Straftat haben wird, dann wäre es nicht angebracht, ihn zu bestrafen, da eine Abschreckung in einem solchen Fall nicht notwendig wäre. Die Bestrafung wäre in einem solchen Fall eine ungerechtfertigte Zufügung von Übel. In The rationale of punishment schreibt Bentham, im Einklang mit Beccarias Theorie: „Wenn wir das begangene Unrecht als eine isolierte Tatsache betrachten könnten, dergleichen sich nie wieder ereignen wird, wäre die Strafe nutzlos“ (Bentham 2004: 20). Wo es keine Men-

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schen gibt, die auf irgendeine Weise dazu tendieren, ein ähnliches Verbrechen auszuüben, braucht niemand abgeschreckt zu werden. Also braucht der Täter auch nicht bestraft zu werden. Er darf sogar nicht bestraft werden, da in einem solchen Fall die Bestrafung dem Zufügen überflüssigen Übels gleichkäme. Eine solche überflüssige Übelszufügung ist laut Beccaria unmenschlich und widerspricht dem ursprünglichen Gesellschaftsvertrag (Beccaria 2003: 40). Nur: Man kann Straftaten nie als isolierte Tatsachen betrachten, und es besteht immer die Gefahr, dass irgendjemand die Straflosigkeit in einem bestimmten Fall als Anlass nimmt, um selbst straffällig zu werden, sich ausrechnend, dass auch er eine Chance hat, nicht bestraft zu werden. Unter solchen Umständen scheint Beccaria lieber das Risiko einzugehen, manche nutzlose Strafen zu verhängen, als bei manchen Straftätern die Hoffnung auf Straflosigkeit zu erwecken. Beccaria steht an der Spitze einer strafrechtlichen Reformbewegung, die sich in erster Linie gegen die Grausamkeit bestimmter Strafen auflehnte und nach einem humaneren Strafrecht verlangte. Insofern nun aber Beccaria vom einzuflößenden und die menschlichen Handlungen steuernden „terrore“ als von dem einzigen Zweck spricht, den man mittels der Strafe verfolgen sollte, könnte man glauben, dass die Theorie der Generalprävention für möglichst grausame Strafen eintritt. Fürchtet ein potentieller Dieb sich nicht mehr, wenn er weiß, dass Diebe zunächst gefoltert und dann gevierteilt werden, als wenn er weiß, dass sie höchstens zu einer einjährigen Freiheitsstrafe verurteilt werden? Für die Anhänger der Generalpräventionstheorie ist dies nicht der Fall. Beccaria zufolge ist es nicht so sehr die Schwere oder Grausamkeit der Strafe, die potentielle Täter abschrecken wird, als vielmehr ihre Gewissheit (Beccaria 2003: 78). Also lieber leichtere aber gewisse, als schwere aber ungewisse Strafen. Beccaria macht darauf aufmerksam, dass zu grausame Strafen mitleidvolle Richter oder Geschworene oft dazu führen werden, lieber keine als eine zu grausame Strafe zu verhängen (Beccaria 2003: 79). Die Grausamkeit der Strafen hätte dementsprechend genau die gegenteilige Wirkung, die von ihr erhofft wird, zumindest dort, wo die Geschworenen sich durch humane Gefühle leiten lassen. Dementsprechend tritt Beccaria für Strafen ein, die „wesentlich öffentlich, ohne Verzögerung, notwendig, den Umständen entsprechend so leicht wie möglich, den Straftaten angepasst, durch das Gesetz vorgeschrieben sind“ (Beccaria 2003: 115). Dabei ist die Öffentlichkeit der Strafe absolut notwendig für den mit ihr verfolgten generalpräventiven Zweck. Denn um durch die Bestrafung des Täters abgeschreckt werden zu können, muss man zunächst wissen, dass eine Bestrafung stattgefunden hat. Aus generalpräventiver Sicht zählt nicht so sehr der Eindruck der Strafe auf den Bestraften – dieser Aspekt steht bei der Spezialprävention im Mittelpunkt –, als ihr Eindruck auf die Allgemeinheit, die es abzuschrecken gilt. Die Vertreter der Theorie der Generalprävention wollen das Leiden des Bestraften auf das absolut notwendigste Minimum reduzieren und bringen dadurch ihren Willen zum Ausdruck, den Bestraften nicht als ein bloßes Mittel zu betrachten, wie ihnen oft vorgeworfen wird. Man kann der Theorie der Generalprävention auch nicht pauschal vorwerfen, die Bestrafung von Unschuldigen zu rechtfertigen. Ein solcher Vorwurf ist nur dort angebracht, wo lediglich der Strafzweck, nicht aber gleichzeitig auch

5. Feuerbachs Unterscheidung zwischen Strafgesetz und Strafe

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der Strafgrund zurückbehalten wird. Eine aufgeklärte Theorie der Generalprävention wird daran festhalten, dass nur bestraft werden darf, wo eine Straftat begangen wurde. Die begangene Straftat und nicht der zu erhoffende Zweck der Generalprävention ist die primäre ratio permissiva. Die Abschreckung ist eine sekundäre ratio permissiva, welche die Präsenz der primären immer voraussetzen muss. 5. Feuerbachs Unterscheidung zwischen Strafgesetz und Strafe. Im ersten Band seines 1799 erschienenen Werkes Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts weist Paul J. Anselm von Feuerbach darauf hin, dass man einen Unterschied machen muss zwischen einerseits dem Zweck des Strafgesetzes, also des Gesetzes, das eine bestimmte Strafe für eine bestimmte Straftat vorsieht, und andererseits dem Zweck der Strafe, also der tatsächlichen Vollstreckung der im Strafgesetzbuch vorgesehenen rechtlichen Konsequenz der Straftat. Das Strafgesetz, so Feuerbach, stellt einen rechtlich notwendigen Zusammenhang zwischen dem Begehen einer Straftat und der Vollstreckung einer Strafe her, es ist „eine categorische (d.i. unbedingte und durch sich selbst gültige) Erklärung von der rechtlichen Nothwendigkeit der Verknüpfung eines sinnlichen Übels mit einer rechtswidrigen Handlung“ (Feuerbach 1966: 146). Ist eine Straftat ausgeübt worden, so muss die Bestrafung des Täters ihr notwendigerweise folgen. Die Vollstreckung der Strafe hat insofern keinen anderen Zweck, als dem notwendigen rechtlichen Zusammenhang zwischen Straftat und Strafe in der realen Welt Geltung zu verschaffen. Feuerbach wendet sich explizit gegen eine generalpräventive Auffassung des Strafzwecks. Eine solche Auffassung setzt seines Erachtens voraus, dass man mit Gewissheit sagen kann, dass A’s Bestrafung potentielle Täter abschrecken wird. Eine solche Gewissheit ist aber nie gegeben, wie übrigens auch nie die Gewissheit gegeben ist, dass A’s Straflosigkeit nicht den einen oder anderen dazu bringen kann, eine ähnliche Straftat zu begehen (Feuerbach 1966: 100). Die Generalpräventionstheorie kann also nur auf die Zukunft spekulieren. Dabei setzt sie sich der Gefahr aus, nutzlose Strafen zu rechtfertigen und tritt damit mit sich selbst in Widerspruch, will sie doch nur nützliche Strafen gelten lassen. Die Generalpräventionstheorie befindet sich hier in derselben Situation wie der Utilitarismus – dessen philosophische Prämissen sie durchaus teilen kann. Als Aktutilitarismus übersteigt der Utilitarismus die menschliche Erkenntnisfähigkeit: Im Regelfall kann niemand mit Gewissheit wissen, wieviel Wohl und wieviel Übel seine Handlung bewirken wird. Die möglichen Konsequenzen unserer Handlungen sind uns nie alle mit Gewissheit im voraus bekannt. Als Regelutilitarismus kann der Utilitarismus sich zwar auf induktiv ermittelte Zusammenhänge berufen, aber Regeln haben bekanntlich Ausnahmen. Und wer in einer konkreten Situation wissen will, ob er es mit einem unter die Regel fallenden oder mit einem Ausnahmefall zu tun, sieht sich auf das unbefriedigende aktutilitaristische Kalkül zurück geworfen. Der Regelutilitarismus kann also auch manchmal Handlungen rechtfertigen, die aus einer aktutilitaristischen Perspektive unmoralisch sind.

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Feuerbach macht weiter darauf aufmerksam, dass die Theorie der Generalprävention, wenn man sie ernst nimmt, keinen allgemeingültigen Strafmaßstab angeben kann, sondern dass dieses Maß für jeden Fall neu angegeben werden muss (Feuerbach 1966: 115). Was in Berlin abschrickt, muss nicht auch in München abschrecken, und was im Januar noch abschreckte, kann schon im Februar nicht mehr abschrecken. Der Gesetzgeber müsste dementsprechend genau wissen, was wen wann wo und wieviel abschrickt und seine Gesetze dann dementsprechend gestalten. Will man nun aber, wie es Beccaria und viele andere Aufklärer verlangen, das Maß der Strafe klar und eindeutig durch das Gesetz definieren und es nicht einer Entscheidung der richterlichen Willkür überlassen, wird man den Gesetzgeber vor eine schier unlösbare Aufgabe stellen, da er nämlich spezifische Gesetze für jeden möglichen auftretenden Fall wird machen müssen. Mit anderen Worten: Er wird Gesetze machen müssen, denen das für Gesetze wesentliche Merkmal der Generalität fehlt. Der Anhänger der Generalprävention sieht sich somit vor einem Dilemma. Entweder er nimmt seine Theorie ernst, und dann haben allgemeine Strafgesetze keinen wirklichen Nutzen mehr, entscheidet doch am Ende der Richter ob die Strafe in einem konkreten Fall notwendig ist oder nicht. Oder er hält an allgemeinen Gesetzen fest, aber dann besteht das Risiko, dass manchmal auch bestraft wird, wo kein Risiko besteht, dass der Täter Nachahmer findet. Aus diesen und anderen Gründen lehnt Feuerbach die Generalprävention als Strafzweck, als Zweck der tatsächlichen Vollstreckung der Strafe ab. Allerdings behält er den Gedanken der allgemeinen Abschreckung für das Strafgesetz bei. Es gilt, sagt Feuerbach, „zwei Fragen, die hier gewöhnlich mit einander verwechselt werden, wohl von einander zu unterscheiden“ (Feuerbach 1966: 56), nämlich einerseits die Frage nach dem Zweck der Androhung einer Strafe und andererseits die Frage nach der Vollstreckung der angedrohten Strafe. Der Unterschied ist folgender: „Der Zweck der Androhung ist kein anderer als Abschreckung von allen Beleidigungen, Bestimmung der Willkühr gegen den Antrieb zu Verbrechen, durch die Vorstellung, der Strafe, mit welcher das Strafgesetz die Handlung bedingt hat. Der Zweck der Zufügung ist kein anderer, als dass dem Gesetz Genüge geschehe, die Gerechtigkeit befriedigt werde, und dadurch das Gesetz nicht mit sich in Widerspruch gerathe“ (Feuerbach 1966: 56–7). In dieser Unterscheidung – die auch Schopenhauer machen wird – sieht Feuerbach „das einzige Rettungsmittel aus dem Labyrinth, in das uns die gewöhnlichen Theorien verwickeln“ (Feuerbach 1966: 57). Die Generalprävention ist also nicht primär auf der Ebene der Strafvollstreckung zu finden, sondern auf derjenigen des Strafgesetzes. Indem dieses eine Strafe als rechtlich notwendige Konsequenz für eine Straftat in Aussicht stellt, schreckt es potentielle Straftäter ab, ihre Straftat zu begehen. Die Abschreckung potentieller Straftäter erfolgt also nicht durch die Vollstreckung der Strafe, wie es etwa Beccaria meinte, sondern durch die im Strafgesetz enthaltene Strafandrohung. Allerdings meint Feuerbach in einer Fußnote: „Und auch die Zufügung der Strafe […] geschieht nur darum, damit das Gesetz die Abschreckung bewirken kann“ (Feuerbach 1966: 288). Mag also auch die Vollstreckung nicht als unmittelbares Ziel die Abschreckung haben, so trägt eine systematische

6. Spezialprävention als Strafzweck

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Vollstreckung der Strafen nach Verletzung der Strafgesetze doch wesentlich dazu bei, dass das Strafgesetz seine abschreckende Funktion weiterhin angemessen erfüllen kann. Die Abschreckung ist insofern ein mittelbares Ziel der Strafvollstreckung, wobei auffällt, dass Feuerbach den einzigen Zweck der Vollstreckung – sie „geschieht nur darum“ (Hervorhebung N.C.) – in dieser Verstärkungsfunktion sieht. Strafandrohung und Strafvollstreckung verfolgen also letzten Endes beide denselben Zweck der Abschreckung, bloß dass das Gesetz diese Abschreckung durch den Eindruck der Wörter, während die Vollstreckung sie durch den Eindruck der Taten herbeiführen will. Die Vollstreckung erweist sich somit als ein Mittel der Abschreckung, und wenn Feuerbach behauptet, das Gesetz trete mit sich selbst in Widerspruch, wenn der Strafandrohung nach begangener Straftat keine Strafvollstreckung folgt, sagt er nichts anderes, als dass wenn das Gesetz den Zweck will, es auch die Mittel wollen muss. Und zu diesen Mitteln zählt neben der Androhung auch die Vollstreckung. In einer idealen Gemeinschaft bräuchte man keine Strafandrohungen. In einer weniger idealen Gemeinschaft muss man auf die Strafandrohung zurückgreifen, und die Aussicht auf eine Bestrafung ist stark genug, um die rational kalkulierenden und um ihr Wohl besorgten Individuen von einer Verletzung der Gesetze abzuhalten. In unserer noch weiter vom Ideal entfernten Gemeinschaft, in der viele Individuen nicht hören wollen, ist es notwendig, die Strafandrohung auch Wirklichkeit werden zu lassen. 6. Spezialprävention als Strafzweck. Viele Theoretiker der Generalprävention sehen in der Spezialprävention einen mehr oder weniger wichtigen Nebenzweck der Strafe. In einem gewissen Sinn ist die Spezialprävention schon in der Generalprävention enthalten: Wenn durch die Vollstreckung der Strafe bewirkt werden soll, dass ein x-beliebiges Individuum davon abgehalten wird, eine Straftat zu begehen, dann erstreckt sich die Abschreckung auch auf den bestraften Straftäter selbst, denn auch er könnte ja erneut dazu tendieren, eine Straftat zu begehen. Oder anders gesagt: Wenn man alle abschrecken will, dann notwendigerweise auch den, der bestraft wird. Trotz dieser Verschränkung von General- und Spezialprävention, ist letztere von einigen Autoren als ein besonderer, und vor allem auch als wichtigster, über der Generalprävention stehender, wenn nicht sogar sie ausschließender Strafzweck behauptet worden. Denn wenn die Generalprävention die Spezialprävention einschließt, und sei es nur als unbeabsichtigte Nebenwirkung, schließt die Spezialprävention die Generalprävention nicht ein. In den Gesetzen vertritt Platon eine spezialpräventive Straftheorie, die er von einer vergeltenden Theorie der Strafe abgrenzt: „Nicht um des begangenen Verbrechens willen muss er diese Strafe erleiden (denn das Geschehene kann ja nie ungeschehen gemacht werden), sondern deswegen, dass er für die Zukunft selbst entweder jedes Unrecht vollständig und von Herzen meidet (wie auch alle, die ihn der strafenden Gerechtigkeit verfallen sehen), oder doch einen beträchtlichen Teil dieses Elends von sich abschüttelt“ (Platon 2004: 934b). Der Zweck der Bestrafung besteht demnach nicht primär darin, jeden erst potentiellen Täter abzuschrecken – auch wenn die Klammer diese generalpräventive Absicht erwähnt –, sondern den schon straffällig Gewordenen von weiteren

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Straftaten abzuhalten. Insofern ist die Prävention spezial oder speziell, da sie sich immer nur auf ein besonderes Individuum bezieht. Das Ziel der Prävention ist es, jemanden davon abzuhalten, weitere Straftaten zu begehen. Die Strafe wird dabei als Mittel eingesetzt, wobei allerdings zu beachten ist, dass die Strafe dieses Ziel auf ganz unterschiedliche Manieren erreichen kann. Die wohl wirksamste Methode, einen Straftäter daran zu hindern, weitere Straftaten zu begehen, besteht sonder Zweifel darin, ihn aus dem gesellschaftlichen Verkehr zu ziehen, wobei die Todesstrafe das radikalste und sicherste Mittel ist, gefolgt von der Amputation bestimmter, für das Begehen einer Straftat notwendiger Glieder des Körpers. Doch auch Freiheitsstrafen tragen das ihre dazu bei, weitere Straftaten durch den bestraften Täter zu verhindern – zumindest weitere Straftaten außerhalb der Strafanstalt. Bei dieser ersten Form von Prävention geht es darum, die im Verbrecher selbst liegenden physischen Bedingungen der Möglichkeit des Begehens eines neuen Verbrechens zu zerstören. Im 18. Jahrhundert behauptete Ferrière, der Zweck der Gefängnisse bestünde nicht darin, die Straftäter zu bestrafen, sondern sie von der Gesellschaft fernzuhalten (zitiert in: Laingui/Lebigre: 122). Zwei Jahrhunderte später schreibt Hyman Gross, man werde als Bestrafung ins Gefängnis geschickt, und nicht, um dort bestraft zu werden (Gross 1979: 458). Man kann einen Menschen – aber auch ein Tier – einsperren, bloß damit er – oder es – keinen – weiteren – Schaden anrichtet. Man beugt hier weiterem Schaden vor. Nur ist nicht jede solche Vorbeugung mit einer Strafe gleichzusetzen. Wo die Spezialprävention sich im Modus des Einsperrens ausdrückt kann von Strafe nur dann gesprochen werden, wenn mehr vorliegt als nur der Wille, jemanden daran zu hindern, weiteren Schaden anzurichten. Wer aus Gründen der Quarantäne eingesperrt wird, wird nicht wegen seiner ansteckenden Krankheit bestraft. Die Spezialprävention kann sich aber auch, statt auf den Körper, auf den Geist oder den Willen des Straftäters richten. Dies kann erstens durch die Furcht geschehen: Indem der Straftäter die Strafe erleidet, spürt er am eigenen Körper, wie unangenehm sie ist, so dass er im Idealfall in Zukunft aus Furcht vor einer neuen, vielleicht noch härteren Strafe kein strafbares Verhalten mehr an den Tag legen wird. Hier wird nicht der Charakter des Bestraften geändert, sondern es wird lediglich auf seinen kalkulierenden Verstand gesetzt, der fortan über eine realistischere und vor allem auch konkretere Einschätzung der mit der Strafe zusammenhängenden Übel verfügt. Die Spezialprävention kann aber auch über den Weg der Erziehung geschehen: Man kann die Strafe als ein Mittel auffassen, durch welches dem Straftäter deutlich vor Augen geführt werden soll, dass er sich auf eine gesellschaftlich unzulässige Art und Weise verhalten hat. In ihm soll somit die Einsicht entstehen, dass er sich nicht auf eine solche Weise verhalten darf. Es geht nicht darum, den kalkulierenden Verstand durch konkrete, erlebte Daten zu speisen, damit er sich in Zukunft nicht mehr verrechnet, sondern Ziel ist es, die Stimme des kalkulierenden Verstandes durch diejenige der moralischen Vernunft zu übertönen, wenn nicht sogar zu ersetzen. Indem der Straftäter auf diese Weise zu einem moralisch besseren Menschen wird, verschwindet in ihm die Tendenz, weitere Straftaten zu begehen. Die Spezialprävention ist also hier durch die moralisch

7. Das Problem der Instrumentalisierung des Bestraften

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erziehende Kraft der Strafe erfolgt. Sie hat insofern auch eine resozialisierende Funktion, wobei die Resozialisierung nicht über das Medium einer Leidenschaft – der Furcht –, sondern über dasjenige einer rationellen und moralischen Einsicht geschieht. Ausgeschlossen ist damit auch noch eine dritte Möglichkeit, nämlich eine chemisch oder sonstwie herbeigeführte Gehirnwäsche, die aus dem gefährlichen Straftäter einen willenlosen Untertanen macht. Besonders die auf moralische Besserung des Bestraften ausgerichtete Spezialprävention hat zu teils heftigen Kritiken geführt, da hier der Staat in den Charakter des Menschen eingreift. Ein solches Eingreifen in eine höchstpersönliche Sphäre des erwachsenen Menschen scheint aber den Prinzipien des liberalen Staates zu widersprechen. Dem kann man entgegen halten, dass ein liberaler Staat nicht einfach die Autonomie seiner Bürger voraussetzen darf, sondern dass er dazu verpflichtet ist, die Bedingungen der Möglichkeit autonomen Handelns herzustellen. Als wirklich autonom kann ein Handeln aber erst dann bezeichnet werden, wenn es keine Gefahr für den Erhalt oder die Schaffung der Bedingungen der Möglichkeit autonomen Handelns überhaupt darstellt. Kriminelles Handeln stellt aber eine solche Gefahr dar. Also zeugt kriminelles Handeln von einem Autonomiedefizit beim Handelnden. Diesem Defizit muss der Staat entgegenwirken. Die Frage ist nur, ob die Strafe immer das geeignete Mittel dazu ist. Wird der Zweck der Strafe in der Spezialprävention gesehen, wird die Strafe zu einem bloßen Mittel, dessen Wirksamkeit man mit der Wirksamkeit anderer Mittel vergleichen kann und soll. 7. Das Problem der Instrumentalisierung des Bestraften. Werfen die Präventionstheoretiker den Vergeltungstheoretikern vor, aus der Strafe eine Fortsetzung der Rache mit anderen, sprich rechtlichen Mitteln zu machen, so werfen die Vergeltungstheoretiker ihren Gegnern, und unter ihnen vor allem den Anhängern der Generalprävention vor, aus dem Bestraften ein bloßes Mittel zur Abschreckung der Allgemeinheit zu machen. Dieser Vorwurf kann noch dahin gehend verstärkt werden, dass behauptet wird, dass, wo es nur darum geht, die Allgemeinheit abzuschrecken, es keine Rolle spielt, wer bestraft wird. Hauptsache ist es, dass möglichst viele Leute sehen, was ihnen eventuell geschehen könnte, wenn sie straffällig würden. Wichtig ist, dass die Zufügung eines Übels gesehen wird. Diese Instrumentalisierung kann man in allen Formen der Strafe am Werk sehen, oder nur in ganz bestimmten. Anhänger der Generalprävention, die in ihre Theorie Elemente einer auf die Motive der Furcht oder auf die moralische Einsicht setzende Spezialprävention eingebaut haben, können z. B. darauf hinweisen, dass lediglich im Falle der Todesstrafe und gegebenenfalls auch im Fall besonders grausamer oder unmenschlicher Strafen der Bestrafte als ein bloßes Mittel gebraucht wird, nicht aber wenn der Bestrafte selbst durch die Strafe etwas hinzulernen kann. Mag die Strafe auch primär das Ziel verfolgen, potentielle, vom Bestraften unterschiedene Täter abzuschrecken, so erschöpft sich ihre Wirkung doch nicht darin, da auch der Bestrafte selbst vom Begehen weiterer Straftaten abgeschreckt wird. Und indem er derart abgeschreckt wird, setzt er sich keiner neuen Bestrafung aus, so dass die Bestrafung ihm selbst zu Gute kommt. Wo er allerdings hingerichtet wird, wird er nicht selbst von der

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Bestrafung profitieren können, so dass hier ein klarer Fall von Instrumentalisierung vorliegt. Immanuel Kant hat sich entschieden gegen eine Instrumentalisierung des Bestraften ausgesprochen. Die Strafe, so Kant, „kann niemals bloß als Mittel, ein anderes Gute zu befördern, für den Verbrecher selbst, oder für die bürgerliche Gesellschaft“ vollstreckt werden. Denn, so Kant weiter, „der Mensch kann nie bloß als Mittel zu den Absichten eines anderen gehandhabt und unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt werden“ (Kant 1982: 453). Kant macht hier keinen Unterschied hinsichtlich der Identität desjenigen, dessen Gut befördert werden soll. Er verurteilt sowohl die Anhänger der Generalprävention, die das Gut der bürgerlichen Gesellschaft in den Mittelpunkt rücken, wie auch die Anhänger der Spezialprävention, die in vielen Fällen das Gut des Verbrechers selbst befördern wollen. In einer Hinsicht muss man Kant sicherlich zustimmen: Einen Menschen nur deshalb bestrafen, weil dadurch ein bestimmtes, fremdes Gut befördert werden kann, ist moralisch nicht zulässig, da hier das Individuum als bloßes Mittel gebraucht wird. Eine ganz krude Fassung des strafrechtlichen Konsequentalismus scheidet somit aus, wobei man die Frage stellen kann, ob irgendein ernst zu nehmender Philosoph jemals einen solchen Standpunkt vertreten hat. Auch Anhänger der Generalprävention gehen davon aus, dass erst das Begehen einer Straftat einen Strafgrund liefert, so dass also jemand, den niemand verdächtigt, eine Straftat begangen zu haben, nicht im eigentlichen Wortsinn bestraft werden kann. Hier könnte man zwar sagen, dass der Zweck der Übelszufügung die Abschreckung ist, man könnte aber nicht vom Zweck der Strafe sprechen, da hier gar keine Strafe vorliegt. Indem Kant behauptet, dass man den Bestraften niemals bloß als Mittel gebrauchen darf, schließt er nicht aus, dass man ihn auch als Mittel gebrauchen kann. In diesem Sinne gibt es eine Ähnlichkeit zwischen dem kategorischen Imperativ in seiner allgemeinen Formulierung und der Anwendung des kategorischen Imperativs auf die Problematik des Strafens. Es gibt allerdings anscheinend auch einen wesentlichen Unterschied. Verlangt nämlich der kategorische Imperativ in seiner allgemeinen Formulierung, dass wir den Menschen nicht bloß als Mittel, sondern immer auch zugleich als Zweck an sich selbst anerkennen, so verlangt der Strafimperativ, dass wir die Strafe nicht um des Zwecks des Bestraften willen vollstrecken, sondern um des Zwecks der Gerechtigkeit willen. Mag auch die Tatsache, dass bestraft wird, als Anerkennung des Bestraften als eines sich selbst bestimmenden Menschen betrachtet werden, so kommt man doch nicht an der Tatsache vorbei, dass Kant die Möglichkeit zulässt, zumal indem er die Todesstrafe akzeptiert, dass die Strafe, und damit auch indirekt der Bestrafte zu einem bloßen Mittel zur Verwirklichung der Gerechtigkeit gemacht wird. Es ist nämlich nicht einzusehen, inwiefern bei der Todesstrafe die Autonomie des Bestraften befördert wird – und es ist gerade die Beförderung der Autonomie, die uns durch den kategorischen Imperativ zum obersten Zweck gemacht wird. Im Falle der Generalprävention sollte man bedenken, dass einige ihrer Verfechter sich dafür einsetzen, dass dem Bestraften so wenig Übel als unbedingt notwendig zugefügt wird. Wenn man abschrecken könnte, indem man nur so

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tut, als würde man den Täter bestrafen – wobei die Allgemeinheit glaubt, dass er wirklich bestraft wird und tatsächlich Übel erleidet –, dann müsste man diesen Weg gehen. Insofern kann man sagen, dass das Wohlergehen des Täters diesen Verfechtern der Theorie der Generalprävention nicht gleichgültig ist und dass sie dementsprechend den bestraften Täter nicht unbedingt als ein bloßes Mittel betrachten. General- und Spezialprävention sind als mögliche Strafzwecke nicht kategorisch abzulehnen. Nur sollte man hier zweierlei bedenken. Erstens sind die General- und die Spezialprävention nicht nur Zwecke des Strafens, sondern sie sollten auch als allgemeine Zwecke betrachtet werden. Strafe erscheint dann lediglich als ein Mittel unter vielen möglichen, diese Zwecke zu verwirklichen. Prävention von Straftaten kann etwa auch durch eine angemessene Sozialoder Bildungspolitik erreicht werden. Es sollte dann zweitens bedacht werden, dass General- und Spezialprävention sehr unterschiedliche Formen annehmen können, auch dort, wo die Strafe für ihre Verwirklichung eingesetzt wird. Der Präventionsgedanke sollte dabei immer am Autonomiegedanken gekoppelt bleiben. Das Begehen von Straftaten ist autonomieschädigend. Die Reaktion auf Straftaten sollte autonomiefördernd sein, und zwar sowohl general- wie auch spezialfördernd. 8. Strafe als Wiederherstellung der Autorität und Würde. In seiner Synopse der Politik, listet der deutsche Staatsrechtslehrer Christoph Besold insgesamt vier Strafgründe auf. Neben den Zwecken der Veranlassung zu einer größeren Achtsamkeit – was in einem bestimmten Sinne auch als Abschreckung angesehen werden kann –, der Abschreckung im eigentlichen Sinn und der Eliminierung von gefährlichen Menschen – die radikalste Form der Spezialprävention –, kann die Strafe noch verhängt und vollstreckt werden, „damit Würde und Autorität Gottes wie der Obrigkeit, die durch das Vergehen verletzt wurden, wiederhergestellt und unter sicherem Schutz bewahrt werden“ (Besold 2000: II, 3, 13). Die Straftat wird hier primär als Angriff auf die Würde und Autorität Gottes und des Staates gesehen. Als einen Angriff auf die Autorität des Staates kann die Straftat insofern betrachtet werden, als sie einen Verstoß gegen die vom Staat erlassenen und unter seinem Schutz stehenden Gesetze darstellt. Ein solcher Angriff findet nicht nur im Fall der sogenannten Staatsverbrechen statt, wie es etwa der Hochverrat, das Attentat auf den Staatschef oder noch die offene und bewaffnete Rebellion gegen die Staatsgewalt sind. Manche Angriffe, wie die eben genannten, betreffen unmittelbar die staatliche und/oder rechtliche Ordnung als Ganze, wohingegen andere nur bestimmte Teile der rechtlichen Ordnung unmittelbar treffen, wobei nicht immer die Absicht vorliegen muss, durch punktuelle Angriffe die Ordnung insgesamt zu stürzen. Der kleine Ladendieb, auch wenn er das Gesetz gegen Diebstahl und damit auch seine allgemeine Gehorsamspflicht verletzt, denkt sicherlich keinen Augenblick daran, die staatliche und rechtliche Ordnung insgesamt zum Wanken zu bringen, sondern er will sich meistens nur innerhalb dieser Ordnung bestimmte Vorteile auf eine unrechtmäßige Weise verschaffen. Trotzdem kann aber die Zunahme kleiner Ladendiebstähle und anderer kleinerer Delikte dazu führen, dass die staatlich-

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rechtliche Ordnung ins Wanken gerät, da die unmittelbaren und potentiellen Opfer solcher Straftaten ihr Vertrauen in die bestehende Ordnung verlieren und nach einer neuen Ordnung verlangen werden. Insofern der Staat von allen seinen Untertanen Rechtsgehorsam verlangt, kann der Straftäter als jemand betrachtet werden, der diesen allgemein verlangten Rechtsgehorsam bricht und damit den staatlichen Autoritäten zumindest implizit zu verstehen gibt, dass er sich nicht durch deren Gesetze gebunden fühlt – zumindest nicht durch bestimmte Gesetze. Er setzt sich also über den Willen des Staates hinweg bzw. legt er der Befriedigung seiner Partikularinteressen ein größeres Gewicht bei als der Befolgung der das Allgemeinwohl sichernden Gesetze. Besold zufolge liegt hier nicht nur eine Verletzung der Staatswürde und – autorität vor, sondern auch die Würde und Autorität Gottes sind betroffen. Sieht man nämlich die staatliche Macht als eine durch den göttlichen Willen sanktionierte Instanz an, deren Aufgabe darin besteht, eine friedliche Ordnung unter den Menschen aufrecht zu erhalten, impliziert ein Verstoß gegen die staatlichen Gesetze gleichzeitig einen Verstoß gegen das Paulinische Prinzip, dass die Menschen den bestehenden politischen Autoritäten gegenüber Gehorsam zeigen müssen. Der Ungehorsam gegen den Staat wird dann zu einem Ungehorsam gegen Gott, und der Straftäter setzt sich irdischen und göttlichen Strafen aus – das Prinzip non bis in idem kommt hier nicht zur Anwendung, handelt es sich doch um zwei verschiedene Rechtsordnungen. Durch die Bestrafung des Täters soll die angekratzte Autorität des Staates wieder hergestellt werden, wobei es wichtig ist, dass jeder sieht, dass der Täter bestraft wird. Je eindrucksvoller die Bestrafung des Täters und das sie begleitende Zeremoniell sind, desto stärker wird sich der Gedanke einprägen, dass der Staat die höchste Autorität besitzt und dass es auf Erden keine Macht gibt, mit welcher man seine Macht vergleichen könnte – wie Hobbes es auf dem Frontispiz des Leviathan ausdrückt, eine Passage des Buches Hiob übernehmend. Man denke in diesem Zusammenhang an bestimmte Hinrichtungen während des Ancien Régime, etwa an diejenige von Pierre Damiens – mit der Michel Foucault sein Buch Surveiller et punir beginnen lässt. Es ging hier nicht in erster Linie darum, potentielle Täter von einem Attentat auf den König abzuschrecken, sondern darum, die angeschlagene Autorität des Königtums wieder herzustellen. Die öffentliche Inszenierung sollte dazu dienen, jedem vor Augen zu führen, über welche Macht der Staat verfügt. Der Körper des Täters war dabei das Mittel, diese Machtfülle darzustellen – für den Bestraften wird sie unmittelbar fühlbar, für die Allgemeinheit wird sie sichtbar. Indem er sich der Allgemeinheit als im Besitz des ius vitae necisque, des Verfügungsrechts über Leben und Tod, und vor allem eines qualvollen Todes, darstellte, zeigte der Staat seine Macht. Wo ein eher absolutistisch orientiertes Denken die Wiederherstellung oder Behauptung der Würde und der Autorität des Staates in den Mittelpunkt rückt, tendiert ein rechtsstaatlich orientiertes Denken eher dazu, von der Autorität der Gesetze und der rechtlichen Ordnung zu sprechen, wobei der Staat lediglich im Dienste dieser Autorität steht. Der italienische Strafrechtslehrer Antolisei meint: „Die Theorie der juridischen Vergeltung […] behauptet, dass die Straftat eine

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Rebellion des Einzelnen gegen den Willen des Gesetzes ist, und dass sie als solche nach einer Wiedergutmachung verlangt, die einer Wiederbehauptung der Autorität des Staates gleichkommt“ (zitiert in Cattaneo 1998: 58–9). Ob man von der Würde bzw. Autorität des Staates oder der Gesetze spricht, der Grundgedanke bleibt derselbe: Durch die tatsächliche Bestrafung wegen Verletzung des Gesetzes soll die Autorität des Gesetzes behauptet werden; es soll gezeigt werden, dass die Macht des Gesetzes stärker ist als die Macht des das Gesetz verletzenden Straftäters, dass der allgemeine Wille stärker ist als der individuelle Wille, wobei vorausgesetzt wird, dass die Macht des Gesetzes durch dessen Konformität mit der Gerechtigkeit gekennzeichnet ist. Der Triumph des Gesetzes ist somit auch ein Triumph der Gerechtigkeit, so dass auch die Autorität letzterer behauptet wird. Auch wenn einerseits nicht bestritten werden kann, dass es wichtig ist, die Würde des Staates und der Gesetze – zumindest dort, wo sie im Dienste der Gerechtigkeit stehen – zu behaupten, sollte doch andererseits nicht vergessen werden, dass die allermeisten Straftaten zunächst und ganz unmittelbar einen Angriff auf die Würde des unmittelbaren Opfers darstellen. Wer einen Diebstahl begeht, verletzt ein Gesetz und somit auch den Ausdruck des Willens der Allgemeinheit, aber er verletzt auch – und ich würde sogar sagen in erster Linie – die Würde desjenigen, den er bestiehlt. Wenn eine Würde oder ein Gefühl der Würde wieder hergestellt werden soll, dann sind diese auch, wenn nicht sogar vor allem im Opfer zu finden und nicht nur in der Rechtsordnung oder im Staat. Letztendlich sind Rechtsordnung und Staat bloße Mittel, durch welche die Würde des Einzelnen geschützt werden soll. Wo eine Straftat stattgefunden hat, haben Rechtsordnung und Staat in dieser schützenden Funktion versagt. Dieses Versagen ist in vielen Fällen mit einem Würdeverlust des Opfers verbunden. Diesen Würdeverlust des Opfers gilt es, soweit wie möglich, in erster Linie wieder gutzumachen. Das schließt selbstverständlich nicht aus, dass man den Blick auch über das unmittelbare Opfer hinaus wirft. Die Straftat hat in allen Rechtsgenossen ein Gefühl der Unsicherheit hervorgerufen, da jeder sich sagt, dass auch er Opfer der Straftat hätte sein können bzw. in Zukunft Opfer einer Straftat werden könnte. 9. Strafgesetz, Strafprozess, Strafe. Wir hatten vorhin gesehen, dass Feuerbach zufolge die Unterscheidung zwischen dem Zweck des Strafgesetzes einerseits und demjenigen der Strafvollstreckung andererseits „das einzige Rettungsmittel aus dem Labyrinth [ist], in das uns die gewöhnlichen Theorien verwickeln“ (Feuerbach 1966: 57). Vielleicht könnte man diesem Labyrinth noch besser entkommen, wenn man auch die Ebene zwischen dem Strafgesetz und der Strafe betrachtet, also die Ebene des Strafprozesses. Wenn, laut Feuerbach, das Strafgesetz die Funktion der Abschreckung erfüllt und die tatsächliche Vollstreckung der Strafe diese abschreckende Funktion unterstützt, welche Funktion sollte dann der Strafprozess erfüllen? Von einem rein rechtlichen Standpunkt aus betrachtet, hat der Strafprozess im wesentlichen die Funktion, die Schuld oder Unschuld eines Angeklagten festzustellen. Während die eine Partei versucht, den Angeklagten zu belasten und somit seine Schuld nachzuweisen – also nachzuweisen, dass er willent-

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lich und wissentlich gegen eine strafrechtliche Norm verstoßen hat –, versucht die andere Partei, also die Partei des Angeklagten, ihn zu entlasten und somit seine Unschuld bzw. zumindest seine mindere Schuld nachzuweisen. Am Ende entscheiden dann, je nach dem Rechtssystem, Richter oder Geschworene, ob der Angeklagte schuldig ist oder nicht. Wird er schuldig gesprochen, so obliegt es dem Richter, das genaue Strafmaß festzulegen und auszusprechen, zumindest wenn das Gesetz ihm die Wahl zwischen einem Strafminimum und einem Strafmaximum erlaubt. Ist für jede Straftat eine genau bestimmte Strafe vorgesehen, bleibt dem Richter nichts anderes übrig, als sie auszusprechen – dies war das Modell des Richters, wie sich ihn Beccaria vorstellte. Im Mittelpunkt des Strafprozesses stehen demnach der Angeklagte und die ihm vorgeworfene Straftat. Der Strafprozess erlaubt ihm bzw. seinem Anwalt, Elemente vorzubringen, die seine Unschuld beweisen und ihn vor einer Strafe bewahren sollen. Alles dreht sich um die Strafe: Der Staatsanwalt bringt alle ihm zur Verfügung stehenden belastenden Elemente vor, während der Angeklagte und sein Verteidiger alle ihnen zur Verfügung stehenden entlastenden Elemente vorbringen. Prinzipiell sollte der Angeklagte nur dann für schuldig befunden werden, wenn Gewissheit über seine Schuld besteht, wenn also die belastenden Elemente keinen Zweifel mehr hinsichtlich seiner Schuld bestehen lassen – im Zweifelsfall sollte immer zu Gunsten des Angeklagten entschieden werden (in dubio pro reo). Mag diese Kennzeichnung auch zum Teil etwas karikaturhaft sein, so gestaltet sich der Strafprozess doch wesentlich wie eine Art Wettbewerb zwischen zwei Mannschaften, die sich gegenseitig zu besiegen versuchen. Siegt die Mannschaft des Angeklagten, so wird er nicht bestraft, verliert sie, so wird er bestraft. Die kruziale Frage die im Strafprozess beantwortet werden soll, ist also: Ist der Angeklagte schuldig oder ist er nicht schuldig? Die angemessene Antwort auf die Schuldigkeit des Täters bleibt dabei meistens die Strafe. Der Strafprozess ist somit in erster Linie mehr ein auf die Strafe hin orientierter Prozess, als ein Prozess, der nach einer für alle Betroffenen geeigneten Lösung auf die Straftat suchen würde. Die Frage wird nicht gestellt, was alle am Strafprozess beteiligten Parteien tun könnten, um eine die Würde und Autonomie aller Parteien wieder herstellenden Lösung zu finden. Für die Opfer der Straftat bleibt im klassischen Strafprozess relativ wenig Platz. Sie können u.U. als Nebenkläger in Erscheinung treten oder dann als Zeugen. Was ihnen zugestoßen ist, interessiert die zwei im Kampf miteinander stehenden Mannschaften nur insofern, als man es für den Beweis der Schuld oder Unschuld gebrauchen kann. Von der Seite der Verteidigung wird dabei oft der Versuch unternommen, die Glaubwürdigkeit oder Ehrwürdigkeit des Opfers zu untergraben. Im Strafprozess geht es nicht darum, das Opfer wieder von seinem Leiden zu befreien und das zwischen ihm, der Gesellschaft und dem vermuteten Straftäter zerrissene Band wieder herzustellen, und zwar so, dass dabei wieder jeder die Würde und Autonomie des anderen achtet. Für das Strafgericht spielt eigentlich nur die Vergangenheit des Opfers eine Rolle, nicht aber seine Gegenwart und noch weniger seine Zukunft. Vor diesem Hintergrund scheint es an der Zeit zu sein, den Zweck des Strafprozesses wieder neu zu überdenken, und zwar indem die Perspektive

10. Die republikanische Strafzwecktheorie

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des Opfers wieder stärker in den Mittelpunkt gerückt wird. Ganz oft verlangt das Opfer nicht so sehr nach der Bestrafung des Täters als nach einem Prozess. Allerdings handelt es sich dabei nicht um einen Prozess, in dem das Opfer nur eine Statistenrolle spielt bzw. die Rolle desjenigen, an dem ein Gesetz, und damit auch die Autorität des Staates verletzt wurden. Das Opfer soll vielmehr als einen Menschen anerkannt werden, der sich wieder als autonomes Wesen mit einer eigenen, nicht zur Verfügung stehenden Würde fühlen kann. Strafgesetze, Strafprozess und Strafe sollten alle drei dieser Logik der Anerkennung folgen. Was sich im Strafrecht abspielt, sollte als ein Kampf um Anerkennung konzeptualisiert werden. Strafgesetze haben als wesentliche Funktion, den Schutz der gegenseitigen Anerkennung als Gleiche zu gewährleisten. Der Straftäter verstößt gegen dieses Prinzip der Anerkennung, insofern er sich illegitimerweise eines Gutes bemächtigt, über das allein der Wille des Opfers bestimmen darf. Durch den Strafprozess und durch die im Rahmen des Strafprozesses getroffenen Entscheidungen soll versucht werden, dem Opfer wieder das Gefühl zu geben, dass es anerkannt wird. Eine solche Anerkennung kann natürlich auch posthum sein, wobei dann selbstverständlich nicht beim unmittelbaren Opfer selbst, sondern bei seinen Verwandten oder Nahestehenden ein Gefühl der Anerkennung hervorgerufen werden soll. Dabei darf die Wiederherstellung des Selbstachtungsgefühls des Opfers nicht durch die Zerstörung des Selbstachtungsgefühls des Straftäters erkauft werden. Dem Straftäter muss die Möglichkeit gegeben werden, mit an dem Wiederaufbau des Selbstachtungsgefühls des Opfers zu arbeiten oder doch zumindest mit an der Bewahrung oder Rekonstruktion der Bedingungen der Möglichkeit der Selbstachtung im allgemeinen. 10. Die republikanische Strafzwecktheorie. Die soeben skizzierten Gedanken bilden das Grundgerüst der republikanischen Strafzwecktheorie, wie sie in den letzten Jahren vor allem von John Braithwaite und Philip Pettit entwickelt wurde. Für diese beiden Denker ist die Bestrafung meistens nicht die beste Antwort auf kriminelles Verhalten. Ihnen zufolge soll der Strafprozess „immer versuchen, ein kommunikativer Prozess zu sein, der den Täter in einen moralischen Diskurs involviert“ (Braithwaite/Pettit 2000: 128). Der Hauptzweck des Prozesses sollte also nicht darin liegen, die rechtlichen Bedingungen der Möglichkeit einer Bestrafung zu etablieren, als vielmehr jenes Band wieder herzustellen – oder zu seiner Herstellung beizutragen –, das durch die Straftat zerstört wurde. Ziel des ganzen Strafrechtssystems sollte es sein, das sogenannte dominion aller Beteiligten zu schützen. Durch die Straftat greift ein Mensch in die dominion-Sphäre eines anderen Menschen ein und übt dadurch eine ungerechtfertigte Macht über ihn aus. Es entsteht somit eine Ungleichheit. Wo aber die traditionelle Theorie der Wiedervergeltung diese Ungleichheit wieder ins rechte Lot zu bringen versucht, indem sie den Täter zum Opfer der sich in der Strafe ausdrückenden staatlichen Macht werden lässt, sucht die republikanische Theorie nach einer Problemlösung, die das „Opfertum“ auf ein Minimum reduziert. Anders gesagt: Die Antwort auf eine Straftat sollte derart sein, dass einerseits das Opfer der Straftat sich wieder als ein in seiner Gleichheit mit anderen anerkanntes Subjekt fühlen kann und andererseits der Eingriff in die

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dominion-Sphäre des Täters so gering wie möglich bleibt, damit auch er sich weiterhin noch als Subjekt erfahren kann. Der Republikanismus tritt dabei keineswegs für einen absoluten Verzicht auf die Strafe ein. Darin unterscheidet er sich von Theorien, die nach einem Abschaffen des Strafens verlangen. Es geht dem Republikanismus vielmehr nur um die Reduktion des Strafens auf ein Minimum. Es gibt Fälle, wo bestraft werden muss, aber in vielen Fällen, in denen heute bestraft wird, wäre es angemessener, nach Alternativen zu suchen. Diese Alternativen sollten womöglich durch die unmittelbar involvierten Parteien selbst gesucht werden. Neben die klassische Strafgerechtigkeit tritt hier eine sogenannte restaurative Gerechtigkeit (restorative justice). Laut Galloway und Hudson besteht eine solche Gerechtigkeitsauffassung aus drei Grundelementen: „Zunächst wird die Straftat primär als ein Konflikt zwischen Individuen gesehen, der zu Verletzungen des Opfers, der Gemeinschaften und der Täter selbst führt, und nur sekundär als eine Verletzung des Staates. Zweitens sollte das Ziel des Strafprozesses darin bestehen, erneut Frieden in Gemeinschaften herzustellen, indem die Parteien wieder miteinander versöhnt und die durch den Streit hervorgerufenen Verletzungen wieder gut gemacht werden. Drittens sollte der Strafprozess die aktive Teilnahme der Opfer, Täter und ihrer Gemeinschaften erleichtern, um so Lösungen des Konflikts zu finden“ (zitiert in Cunneen 2001: 84). Von der Wiedervergeltungstheorie übernimmt der Republikanismus den Gedanken der Gleichheit, nur bestreitet er, dass es primär darum geht, eine Gleichheit des Übels herzustellen, dass also der Straftäter seine Schuld nur dadurch abtragen und sich dem Opfer nur dadurch wieder angleichen kann, dass er soviel Übel erleidet, wie es das Opfer erlitten hat. Wichtig ist, dass im Täter wieder der Wille erweckt wird, seine Mitmenschen als Gleiche zu achten. Von den Präventionstheorien übernimmt der Republikanismus den Gedanken der Vorbeugung, betont aber erstens, dass die Bestrafung des Straftäters keineswegs immer das geeignetste Mittel zur Vorbeugung ist. Und zweitens weist er darauf hin, dass die Prävention nicht primär die Form einer auf Furcht basierenden Abschreckung des Bestraften oder der Allgemeinheit annehmen sollte, sondern dass vielmehr eine Einsicht vermittelt werden sollte, nämlich die Einsicht, dass alle Menschen ein gleiches Recht auf Anerkennung ihrer Würde haben. Diese Einsicht kann ebenso gut, wenn nicht sogar vielleicht besser, durch einen Kriminalprozess – der nicht unbedingt zu einer Strafe führen muss – als durch die tatsächliche Bestrafung vermittelt werden. Was bei der eben zitierten Charakterisierung auffällt, ist die Tatsache, dass die Verletzung der staatlichen Ordnung als zweitrangig erklärt wird. Eine kriminelle Tat verletzt sicherlich immer auch ein staatliches Gesetz, aber sie verletzt zunächst und in erster Linie die legitimen Interessen der unmittelbaren Opfer. Dementsprechend sollte eine geeignete Antwort auf die kriminelle Tat zunächst darin bestehen, nach Mitteln zu suchen, die das Opfer wieder in den status quo ante versetzen bzw. als Kompensierung für eine nicht mehr mögliche Wiederherstellung dieses status quo ante betrachtet werden können. Einen Ermordeten kann man nicht mehr zum Leben bringen und es ist auch unmöglich, den Hinterbliebenen die ermordete Person zu ersetzen. Doch sollte das nicht zum voreiligen Schluss führen, dass nichts anderes mehr möglich ist, als den Täter

10. Die republikanische Strafzwecktheorie

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während zwanzig oder mehr Jahren seiner Freiheit zu berauben. Es gilt nach Antworten zu suchen, die den Betroffenen die größtmögliche Kompensierung für den Verlust bieten und die dem Täter die Möglichkeit lassen, den von ihm auf vielen Ebenen angerichteten Schaden wieder gut zu machen.

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Teil II Straflosigkeit

Kapitel 5 Die strafrechtliche Immunität 1. Der Begriff der Immunität. Der Begriff der Immunität ist heute in erster Linie ein medizinischer Begriff. Immun sein heisst in diesem Zusammenhang, nicht anfällig sein für Krankheiten. Dabei ist die Immunität gewöhnlich spezifisch, d. h. dass man immer hinsichtlich bestimmter Krankheiten immun ist, nicht gegenüber Krankheiten überhaupt – rein theoretisch ist eine komplette Immunität allerdings nicht ausgeschlossen. Immunität schützt nicht unbedingt gegen eine Kontamination durch Viren, Bakterien oder sonstige, Krankheiten auslösende Organismen, wohl aber gegen den tatsächlichen Ausbruch der Krankheit. Zuständig für die Immunität ist das Immunsystem, das sich gegen das Eindringen von sogenannten Antigenen wehrt, indem es u. a. Antikörper produziert, die den Eindringling angreifen und neutralisieren, und somit den Ausbruch der Krankheit verhindern. Der Grad der Immunität kann von Person zu Person wechseln, je nach dem Zustand des Immunsystems. Er kann aber auch bei einer und derselben Person wechseln, je nach dem Zustand dieser Person – z. B. ist er normalerweise geringer, wenn man müde ist, so dass also eine stark ermüdete Person meistens anfälliger für Krankheiten ist. Wo keine natürliche Immunität besteht oder wo sie zu schwach ist, kann sie künstlich hergestellt oder gestärkt werden, z. B. durch eine Impfung. Wer etwa gegen Starrkrampf geimpft wurde, ist während ungefähr zehn Jahren gegen Starrkrampf geschützt. Dieser Schutz drückt sich dadurch aus, dass das durch die Impfung gestärkte Immunsystem genügend Antikörper produziert, um einem Eindringen der den Starrkrampf auslösenden Nicolaier-Bazillen erfolgreich entgegenzuwirken. Manche Krankheiten, wie die Röteln, sind immunisierend, d. h. dass wer einmal an Röteln erkrankt ist, prinzipiell nicht mehr ein zweites Mal daran erkranken wird, da sein Körper aufgrund der Primoinfektion genügend Antikörper produziert. Innerhalb der Kategorie der natürlichen Immunität kann man dementsprechend zwischen einer von Anfang an gegebenen natürlichen Immunität und einer erworbenen natürlichen Immunität unterscheiden. Was hat nun das Strafrecht mit der Medizin gemeinsam, so dass man den Begriff der Immunität in beiden Bereichen anwenden kann und auch tatsächlich anwendet? Wer kann im Strafrecht wogegen immun sein und woher stammt diese Immunität? Existiert sie von Natur aus oder ist sie erworben? Und wenn sie erworben ist, warum immunisiert man bestimmte Menschen oder Kategorien von Menschen? Ist eine strafrechtliche Immunisierung gerecht? Den Antigenen im medizinischen Bereich entspricht im strafrechtlichen Bereich entweder die strafrechtliche Schuld, der strafrechtliche Prozess oder die Strafe. Es sind dies Übel, die einen Menschen treffen können, der eine zumindest ihrem äußeren Ansehen nach als Straftat identifizierbare Handlung begangen hat. Eine im strafrechtlichen Sinne immune Person kann also nicht durch diese Phänomene erreicht werden und ist somit vor ihnen geschützt. Dabei kann man zwischen einer vollen und einer bloß partiellen Immunität unterscheiden. Eine volle strafrechtliche Immunität genießt derjenige, den schon

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Kapitel 5: Die strafrechtliche Immunität

die strafrechtliche Schuld nicht treffen kann, denn insofern er nicht für strafrechtlich schuldig befunden werden kann – und es handelt sich hier um eine durch das Recht (aber nicht unbedingt unmittelbar durch das Strafrecht) bestimmte Möglichkeit –, fallen sowohl der Prozess – denn wo die Möglichkeit der Schuld wegfällt, fällt auch die Möglichkeit weg, eine eventuelle Schuld zu ermitteln – wie auch die Strafe weg – denn die Strafe setzt ja, um überhaupt als Strafe bezeichnet werden zu können, die (vermutete) Schuld des Bestraften voraus. Eine bloß partielle strafrechtliche Immunität genießt derjenige, der zwar für strafrechtlich schuldig befunden werden kann, dem aber kein strafrechtlicher Prozess gemacht werden kann oder dem zwar ein strafrechtlicher Prozess gemacht werden kann, der aber nicht bestraft werden kann – wobei in diesem Fall die Möglichkeit, wie wir noch sehen werden, nicht unbedingt eine rechtlich bestimmte sein muss. Prinzipiell immun sollte selbstverständlich derjenige sein, der keine Handlung ausführt, deren äußerliche Beschreibung unter einen Paragraphen des StGB – oder sonstiger Teile des Rechtssystems, die Strafen vorsehen – fallen könnte. Anders gesagt, jeder brave und rechtshörige Bürger müsste prinzipiell gegen die strafrechtlichen „Angriffe“ immunisiert sein. Das ist allerdings nicht unbedingt der Fall, da auch der brave und rechtshörige Bürger verdächtigt werden kann, eine Straftat begangen zu haben. Die reine Unschuld gewährt somit – leider – noch keine faktische strafrechtliche Immunität. Besäßen die Menschen allerdings eine epistemische und moralische Unfehlbarkeit, wären die Unschuldigen tatsächlich gegen die strafrechtlichen Konsequenzen immun, die das Begehen einer Straftat normalerweise nach sich zieht. Wir wollen in folgendem den Begriff der strafrechtlichen Immunität relativ weit fassen. Normalerweise wird der Begriff der strafrechtlichen Immunität nämlich nur in ganz bestimmten Kontexten gebraucht. Ein solcher Kontext sind die diplomatischen Beziehungen, wo die – nicht unumstrittene – Regel der sogenannten diplomatischen Immunität gilt. Ein anderer Kontext ist das politische Leben, wo die – auch nicht unumstrittene – Regel der parlamentarischen Immunität gilt. Was es mit diesen besonderen Formen der Immunität auf sich hat, werden wir weiter unten sehen. Aber es spricht nichts dagegen, auch andere strafrechtliche Phänomene unter den Begriff der strafrechtlichen Immunität zu bringen. Betonen wir noch, dass in diesem Kapitel nicht alle Formen der strafrechtlichen Immunität diskutiert werden sollen. Zwei dieser Formen werden wir wegen ihrer Wichtigkeit in gesonderten Kapiteln behandeln, und zwar handelt es sich dabei um die Verjährung und die Amnestie. Eine andere Form der Immunität sei hier nur kurz erwähnt, nämlich diejenige, die aus der Tatsache entspringt, dass man schon einmal wegen einer bestimmten Straftat vor Gericht gebracht wurde. Hier gilt das Prinzip non bis in idem: eine Verurteilung immunisiert also gegen eine neue Verurteilung für dieselbe Straftat – nicht allerdings für eine andere Straftat derselben Art. 2. Absolute und relative Immunität. Bevor wir uns mit einzelnen konkreten Fällen von strafrechtlicher Immunität befassen, wollen wir zunächst eine Reihe von allgemeinen Unterschieden betrachten und beginnen mit dem Unterschied zwischen einer absoluten und einer relativen Immunität hinsichtlich der Ge-

2. Absolute und relative Immunität

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richtsbarkeit. Wir werden uns dabei auf die strafrechtliche Immunität und demnach auch auf die Strafgerichte beschränken. Eine rechtliche Immunität kann es aber nicht nur hinsichtlich bestimmter strafrechtlicher Konsequenzen, sondern es kann sie auch hinsichtlich bestimmter zivilrechtlicher Konsequenzen geben – etwa die Immunität gegenüber einer möglichen Klage auf Schadensersatz. Eine absolute strafrechtliche Immunität hinsichtlich der Strafgerichtsbarkeit genießt jemand dann, wenn er vor kein Strafgericht gebracht werden kann. Es kann ihm kein Prozess gemacht werden, da es kein Gericht gibt, vor dem er erscheinen könnte. Diese Immunität ist gewissermaßen von Natur aus gegeben, wobei allerdings die Frage aufgeworfen werden kann, ob prinzipiell die Möglichkeit besteht, ein Gericht zu schaffen, vor das der Betreffende gebracht werden könnte, oder ob diese Möglichkeit prinzipiell ausgeschlossen ist. Innerhalb der Kategorie der absoluten Immunität lässt sich somit zwischen einer temporären, auf kontingenten Umständen beruhenden und einer ewigen und absoluten, auf unwandelbaren Umständen beruhenden strafrechtlichen Immunität unterscheiden. Und wo die Möglichkeit gegeben ist, ein Gericht zu schaffen, vor den der bislang absolut Immune gebracht werden kann, stellt sich die Frage, ob und inwiefern es eine Pflicht gibt, ein solches Gericht zu schaffen. In einer durch den Glauben an einen richtenden Gott geprägten Welt, genießt kein Mensch, wie mächtig er auch immer sein mag, eine absolute strafrechtliche Immunität, wird doch jeder Mensch spätestens am Jüngsten Tag vor dem göttlichen Richter erscheinen müssen, um sich für seine Taten zu verantworten und um gegebenenfalls die diesen Taten, wenn sie durch Unrecht geprägt sind, angemessene Strafe zu erleiden – wir setzen hier voraus, dass man den Begriff des Strafrechts auch auf einzelne göttliche Normen anwenden kann. In einer solchen Welt genießt allein Gott eine absolute strafrechtliche Immunität, da es kein Gericht gibt, vor das man ihn, den höchsten Richter, bringen könnte. Die Menschen können zwar de facto ein Gericht etablieren, das über Gott urteilt und das ihn wegen vielen der besonders im Alten Testament erwähnten Taten verurteilt, nur würde diesem Gericht jede Autorität fehlen, da es sich nur auf menschliches Recht berufen könnte. Diesem menschlichen Recht ist aber das göttliche Recht übergeordnet, und nach dem göttlichen Recht kann in letzter Instanz nur Gott richten – obwohl er natürlich einer menschlichen Autorität, aber auf Widerruf, die Macht erteilen kann, nach göttlichem Recht zu richten. Auf die sehr spannende theologische Debatte, ob Gott dem göttlichen Recht zuwiderhandeln kann, wollen wir uns hier nicht einlassen. Eine relative strafrechtliche Immunität hinsichtlich der Strafgerichtsbarkeit genießt derjenige, der nur vor bestimmte Strafgerichte gebracht werden kann. Das setzt natürlich voraus, dass es mehrere Arten von Strafgerichten gibt, deren Unterschied nicht auf dem Unterschied der Straftaten – Strafgericht der Art A für Verbrechen und der Art B für Vergehen, wobei noch die Möglichkeit besteht, innerhalb der Verbrechen und Vergehen zu differenzieren –, sondern auf demjenigen der Straftäter beruht. Es sind also bestimmte, nicht durch das Strafrecht definierte Merkmale des Straftäters, die ihn gegenüber bestimmten Formen der Strafgerichtsbarkeit immunisieren. In der Vergangenheit spielten die Unterschiede hinsichtlich des sozialen Standes eine große Rolle. Die traditionelle Gesellschaft des Ancien Regime

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Kapitel 5: Die strafrechtliche Immunität

kannte drei Stände: Adel, Klerus und Volk (der sogenannte Dritte Stand). Diese drei Stände hatten ihre jeweiligen Strafgerichtsbarkeiten. Hatte etwa ein Kleriker ein Verbrechen begangen, so kam er vor ein geistliches Gericht, das nach anderen Prinzipien funktionierte als ein weltliches Gericht. Es galt hier das Prinzip, das man noch bei Montesquieu erwähnt findet, dass man nur von seinesgleichen, sprich von Leuten seines eigenen Standes, gerichtet und gegebenenfalls verurteilt werden konnte. Wer einem bestimmten Stand angehörte, war also prinzipiell immun gegenüber den strafrechtlichen Konsequenzen, die die Mitglieder eines anderen Standes treffen konnten. Von dieser relativen strafrechtlichen Immunität profitierten vor allem der Adel und der Klerus. Heute besteht eine solche relative strafrechtliche Immunität z. B. im Falle von ausländischen Truppen, die sich in einem bestimmten Land befinden und deren Mitglieder sich in diesem Land bestimmter Straftaten schuldig machen. Wenn etwa ein amerikanischer Soldat im Irak einen irakischen Zivilisten erschießt oder irakische Gefangene demütigt, kommt er nicht vor ein gewöhnliches irakisches Strafgericht, sondern – höchstens – vor ein amerikanisches Militärstrafgericht. Als amerikanischer Soldat ist er vor den „Angriffen“ der irakischen Justiz immun und muss sich nur vor den Gerichten seines eigenen Landes verantworten. Es kann allerdings nicht ausgeschlossen werden, dass in einem solchen Fall ein Strafurteil in absentia gefällt werden kann. Hier wird es dann wichtig, zwischen faktischer und rechtlicher Immunität zu unterscheiden. 3. Faktische und rechtliche Immunität. Als rechtlich oder de jure gegeben gilt die strafrechtliche Immunität dann, wenn sie ausdrücklich im Gesetz vorgesehen ist oder doch zumindest auf dem Weg der Interpretation aus den Gesetzen heraus gelesen werden kann. Die Immunität verletzt in einem solchen Fall nicht das Recht, sondern sie ergibt sich aus ihm. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um das Strafgesetz oder um ein anderes, dem Strafgesetz übergeordnetes Gesetz handelt, wie etwa die Verfassung. In Deutschland sieht etwa das StGB die parlamentarische Immunität vor, während die Verfassung die strafrechtliche Immunität des Staatsoberhauptes vorsieht. In beiden Fällen ist die Immunität aber im Gesetz festgeschrieben und es ist das Gesetz, das bestimmte Personen vor einem „Angriff“ durch das Gesetz schützt. Anders im Fall der bloßen faktischen oder de facto strafrechtlichen Immunität. Diese ist nicht durch das Gesetz vorgesehen und kann auch nicht aus dem Gesetz heraus interpretiert werden. Sie liegt etwa dann vor, wenn es innerhalb eines Staates eine faktisch konstituierte Macht gibt, an die sich kein Inhaber der rechtlich konstituierten Macht heran traut. So kann etwa eine mächtige Verbrecherbande die Staatsanwälte und Richter derart durch Drohungen einschüchtern oder durch Schmiergelder beeinflussen, dass ihre Mitglieder niemals strafrechtlich belangt werden, welche Verbrechen sie auch begehen mögen, und dies obgleich sie laut Gesetz strafrechtlich belangt werden müssten. Das Nicht-strafrechtlich-Erreichen-Können ist hier nicht durch die rechtlichen Tatsachen bestimmt, sondern durch die natürlichen. Eine solche faktische Immunität kann sich mit der Zeit in eine rechtliche Immunität verwandeln und somit den Schein der Rechtmäßigkeit erlangen. Es kann aber auch der Fall eintreten, dass sich die Machtverhältnisse ändern, so dass die Verbrecherbande nicht mehr

3. Faktische und rechtliche Immunität

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durch ihre Macht geschützt und gegenüber strafrechtlichen Konsequenzen immun ist. Während die rein faktische Immunität eine gegebenenfalls bestehende Strafpflicht in keiner normativ relevanten Hinsicht tangiert – es ist lediglich nicht möglich, die Pflicht zu erfüllen –, ist das anders im Fall der rechtlichen Immunität. Diese verbietet den für das Strafen zuständigen Instanzen nämlich, einer ansonsten strafbaren Handlung strafrechtliche Konsequenzen folgen zu lassen. Sie schränkt somit eine gegebenenfalls bestehende Strafpflicht ein. Vor allem im Kontext des internationalen Rechts stellt heute die faktische strafrechtliche Immunität ein gravierendes, den Gedanken eines internationalen Strafrechts selbst in Frage stellendes Problem dar. Denn wie glaubhaft ist ein internationales Strafrecht, das zwar faktisch die politischen Verantwortlichen eines kleinen, militärisch schwachen Staates erreichen kann – eine relativ kleine Interventionstruppe wird eingeflogen und nimmt die Verantwortlichen fest, um sie vor den internationalen Strafgerichtshof zu bringen –, nicht aber die politisch Verantwortlichen einer Supermacht? Es genügt also nicht, wie dies in den letzten Jahrzehnten geschehen ist, Schritt für Schritt die de iure Immunität aufzuheben, um das Ideal eines internationalen Strafrechts zu verwirklichen. Soll dieses internationale Strafrecht den Namen Strafrecht verdienen, dann muss auch dafür gesorgt werden, dass die faktische Immunität aller de iure nicht mehr immunen Instanzen aufgehoben wird – ganz davon zu schweigen, dass bestimmte Supermächte, indem sie sich weigern, das Statut von Rom zu ratifizieren, auch zum Teil noch eine de iure strafrechtliche Immunität genießen. Wie das zu bewerkstelligen ist, dürfte sondern Zweifel eine der großen Fragen des 21. Jahrhunderts sein. Vorerst stehen wir noch vor der Frage, ob es besser ist, ein internationales Strafrecht mit unterschiedlichen Kategorien zu haben (de iure und de facto nicht immun ; de iure und de facto immun ; de iure nicht immun, aber de facto immun ; de iure immun und de facto nicht immun) als überhaupt kein internationales Strafrecht. Auf der einen Seite lässt sich sagen, dass es immer noch besser ist, dass einige internationale Straftäter vor Gericht kommen – diejenigen, die militärisch besiegt wurden –, als dass niemand vor Gericht kommt. Aber dem steht das Argument entgegen, dass ein Strafrecht, das nur die schwachen internationalen Akteure trifft, leicht den Eindruck erwecken kann, das rechtliche Mäntelchen zu sein, mit dem die starken internationalen Akteure ihre hegemonialen Pläne umhüllen. Vielleicht fordert die Gerechtigkeit, dass Leute wie Milosevic, Pol Pot, usw. strafrechtlich verfolgt werden. Aber man beachte, dass wenn nicht auch die rechtliche und faktische Möglichkeit besteht, dass ebenfalls jemand wie der amerikanische Präsident auf internationaler Ebene strafrechtlich verfolgt werden kann, der Glaube an die gerechten Motive der verfolgenden und strafenden Instanzen untergraben wird und damit auch die Chancen, dass die Gerechtigkeit sich letztendlich auf internationaler Ebene durchsetzt. Mag man auch größeres Vertrauen haben können, dass die demokratisch gewählten und verantwortlichen Herrscher der liberalen Rechtsstaaten keine internationalrechtlichen Straftaten begehen werden wie die selbsternannten Führer undemokratischer Regimes, so sollte dieses größere Vertrauen doch kein hinreichender Grund sein, Politiker der ersten Kategorie vor möglichen strafrechtlichen Konsequenzen zu immunisieren.

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Kapitel 5: Die strafrechtliche Immunität

4. Immunität hinsichtlich der Strafe. Die strafrechtliche Immunität kann, wie schon vorhin gezeigt, die Gerichtsbarkeit betreffen. Sie kann aber auch die Natur der Strafe betreffen. Vor allem in der Vergangenheit waren bestimmte Kategorien der Bevölkerung gegenüber bestimmten Strafen immun, d. h. sie konnten nicht durch eine bestimmte Art von Strafe getroffen werden. So war es z. B. oft der Fall, dass bei Adligen im Prinzip keine entehrende Strafe appliziert werden durfte. Die Ehre wurde hier als das Höchste angesehen, was ein Adliger besaß und somit auch verlieren konnte – sie hatte noch einen größeren Wert für ihn, als sein biologisches Leben –, und sie war außerdem, wie uns Montesquieu lehrt, das Prinzip, auf dem das ganze System der Monarchie im Ancien Régime aufgebaut war. Das Recht trug diesem Faktum Rechnung, indem es die Adligen weitgehend gegenüber entehrenden Strafen immunisierte – weitgehend, denn bei Verbrechen wie Hochverrat spielte die Bewahrung der Ehre des Straftäters kaum noch eine entscheidende Rolle. Ein anderer Fall der hier erwähnt werden soll, ist derjenige der schwangeren Frau. Sie war in der Vergangenheit gegenüber der Todesstrafe immun, zumindest solange sie schwanger war. Denn es war die Präsenz eines Fötus in ihrem Bauch, der ihr die Immunität vor der Todesstrafe, oder genauer gesagt vor der unmittelbaren Vollstreckung der Todesstrafe verlieh. Mochte auch die für schuldig befundene Frau, nach den damaligen Vorstellungen, den Tod verdient haben, so hatte doch das unschuldige Kind das sie trug, diesen Tod nicht verdient. Sobald aber die Schwangerschaft beendet und das Kind geboren war, verschwand die Immunität und die Frau konnte gehängt werden. Ganz oft waren Frauen auch gegenüber bestimmten Strafen immun, weil die Anwendung dieser Strafen auf Frauen gegen die guten Sitten verstoßen hätte. Auch hier galt es nicht in erster Linie, die Frau als solche zu schützen, sondern ein ihr übergeordnetes Gut. Die von uns eben beschriebenen Beispiele entstammen alle dem Strafrecht vergangener Jahrhunderte. Doch muss gesagt werden, dass auch das heutige Strafrecht noch bestimmte Immunitäten hinsichtlich der Natur der Strafe kennt, wobei allerdings diese Immunitäten nicht mehr nur bestimmte Kategorien der Bevölkerung betreffen, sondern jeden möglichen Straftäter. Diese Immunitäten müssen nicht unbedingt im StGB selbst erwähnt werden, haben sie doch ihren Niederschlag im internationalen Recht gefunden und gelten somit automatisch, zumindest wenn der betroffene Staat die maßgeblichen internationalen Dokumente ratifiziert hat, auch für das nationale Recht. Der ausschlaggebende Text ist hier Artikel 7 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte: „Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. […]“. De iure ist also jeder zu einer Strafe Verurteilte gegenüber grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Strafen immun. Ob er es auch de facto ist, hängt von den jeweiligen strafenden Instanzen eines Landes ab. Die jährlichen Berichte von Amnesty International oder von Human Rights Watch lassen manchmal Zweifel hinsichtlich des Respekts von Artikel 7 durch bestimmte Staaten aufkommen. Was in diesem Zusammenhang Probleme aufwirft ist, dass die in Artikel 7 gebrauchten Wörter keine feste und klar umgrenzte Bedeutung haben. Das heißt natürlich nicht, dass es unmöglich ist, Beispiele für grausame, unmensch-

5. Immunisierung des Täters und Immunisierung der Tat

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liche oder erniedrigende Strafen anzuführen. Jemanden dadurch zu bestrafen, dass man ihn einen Tag lang an einen in der prallen Sonne und neben einem Ameisenhaufen stehenden Pfahl anbindet und seinen Körper mit einer Zuckerglasur übergießt, ist sicherlich grausam. Doch wo genau hört die Grausamkeit auf? Und ab wann genau fängt eine Strafe an, erniedrigend zu sein? Ist die Bestrafung nicht schon an sich erniedrigend – vielleicht genauso erniedrigend für den Bestraften, wie es die Straftat für das Opfer war? Geht es bei bestimmten Varianten des Vergeltungsprinzips nicht eben darum, dass der Bestrafte erniedrigt wird? Durch die Straftat hat er sich über das Opfer und über das Gesetz gestellt. Durch die Strafe soll er wieder herunter gebracht werden. Hier sollte man allerdings unterscheiden: Falls eine Erniedrigung stattfindet, so trifft sie nicht den Straftäter als Menschen, sondern als jemand, der eine bestimmte Position eingenommen hat, ohne dass er dazu ein Recht gehabt hätte. Aber auch wenn dies zutrifft, so bleibt doch das Problem: Ab wann erniedrigt die Strafe den Menschen als Menschen? Die Frage sei hier nur aufgeworfen, da ihre Behandlung ein Buch für sich verlangen würde. 5. Immunisierung des Täters und Immunisierung der Tat. Ein letzter Unterschied auf den wir hier noch hinweisen wollen, ist der Unterschied zwischen einer Immunisierung des Täters und einer Immunisierung der Handlung. Vom strafrechtlichen Standpunkt aus betrachtet kann eine Handlung entweder strafrechtsmäßig oder strafrechtswidrig sein. Von Natur aus scheint keine mögliche Handlung vor der Strafrechtswidrigkeit immun zu sein. Oder anders gesagt: Jede Handlung kann prinzipiell durch den Gesetzgeber zu einer strafrechtswidrigen Handlung gemacht werden. So könnte etwa das Strafrecht das Zuckern des Kaffees oder das Tragen einer blauen Krawatte zur Straftat machen. Kein möglicher Handlungstyp besitzt eine Eigenschaft, die die unter ihn fallenden Handlungen an sich vor einer Kriminalisierung oder Pönalisierung immunisieren könnten. Ob allerdings im Einzelfall eine solche Kriminalisierung oder Pönalisierung moralisch gerechtfertigt oder auch nur opportun ist, ist eine andere Frage. Anstatt der fehlenden natürlichen Immunität kann allerdings eine künstliche Immunität treten. Sie besteht darin, dass das Strafrecht oder ein dem Strafrecht übergeordnetes Recht explizit behauptet, dass bestimmte Handlungen nicht rechtswidrig sind und es auch nicht werden können. So kann z. B. eine durch Notwehr gebotene Handlung nie rechtswidrig sein – zumindest kann sie es solange nicht werden, wie der Paragraph 32 des StGB in seiner jetzigen Form in Kraft bleibt. Man hat es also hier mit der Immunität der Handlung gegenüber einer für das Eintreten von strafrechtlichen Konsequenzen relevanten Qualifikation zu tun. Eine in den Grenzen des Gebotenen bleibende Notwehrhandlung kann nicht als Straftat bezeichnet werden. Indem die Verfassung den Individuen bestimmte Grundrechte – und besonders bestimmte Abwehrrechte – zuspricht, zieht sie dem Strafrecht Grenzen: Eine unter ein Grundrecht fallende Handlung darf nicht kriminalisiert oder pönalisiert werden. Sollte der Gesetzgeber trotzdem ein Gesetz machen, das Handlungen dieses Typs kriminalisiert, wäre das Gesetz verfassungswidrig und würde somit, nach einem entsprechenden Urteil des BVerfG, seinen Gesetzescharakter und somit auch seine Verbindlichkeit verlieren.

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Kapitel 5: Die strafrechtliche Immunität

Es dürfte klar sein, dass die Immunität der Handlung nicht ohne Konsequenzen für den Täter bleibt, denn wenn die Handlung nicht als rechtswidrig eingestuft werden kann, dann kann auch der Handelnde nicht als jemand betrachtet werden, der eine rechtswidrige Handlung ausgeübt hat. Dennoch sollte man beide Arten von Immunität auseinander halten, und sei es nur deshalb, weil man es in beiden Fällen mit unterschiedlichen Qualifikationen zu tun hat. Ein Täter kann nämlich nicht rechtswidrig oder rechtsmäßig sein. In seinem Fall geht es eher um Schuldfähigkeit oder Schuldunfähigkeit, um Schuld oder Nicht-Schuld oder noch um Straffähigkeit oder Strafunfähigkeit. Es kann durchaus der Fall auftreten, dass zwar die Handlung rechtswidrig ist, dass aber der Täter keine Schuld trägt – wie etwa im Fall des entschuldigenden Notstandes, auf den wir noch unten zurück kommen werden. 6. Altersbedingte Immunität. Wir haben uns bislang vor allem allgemein mit dem Phänomen der strafrechtlichen Immunität befasst und dabei auf einige wichtige Unterscheidungen aufmerksam gemacht. Im folgenden wollen wir uns einige der wichtigsten konkreten Immunitäten ansehen und nach ihrer möglichen Daseinsberechtigung fragen. In einem System das davon ausgeht, dass jeder bestraft werden muss, wenn er eine Straftat begeht – und diese Voraussetzung einer staatlichen Strafpflicht ist heute noch weitgehend präsent –, liegt die Beweislast auf den Schultern derjenigen, die bestimmte Kategorien der Bevölkerung vor möglichen strafrechtlichen Konsequenzen immunisieren wollen. Wir beginnen unseren Überblick mit der Immunität im Hinblick auf das Alter. Dabei ist als erstes zu bemerken, dass diese Immunität nur in einem Altersbereich wirksam ist, nämlich der Kindheit, nicht aber im hohen Alter. Strafrechtlich immun ist man immer nur bis zu einem bestimmten Alter, und ist diese Grenze überschritten, fällt eine altersbedingte Immunität für den Rest des Lebens weg. Man wird also nicht wieder strafrechtlich immun ab einem bestimmten Alter. Das Strafrecht kennt nur die Schuldunfähigkeit des Kindes, nicht auch diejenige des Greises – was allerdings nicht ausschließt, dass bestimmte mit dem Alter erscheinende Phänomene zu einer neuen Immunisierung führen können, die dann aber nicht durch das kalendarische Alter, sondern durch das Erscheinen dieser Phänomene bedingt ist. Die altersbedingte strafrechtliche Immunität hat ihren Niederschlag in Paragraph 19 des deutschen StGB gefunden: „Schuldunfähigkeit des Kindes. Schuldunfähig ist, wer bei Begehung der Tat noch nicht vierzehn Jahre alt ist“. Bis zum Erreichen seines vierzehnten Lebensjahres kann das deutsche Strafrecht einen Menschen also nicht erreichen, was auch immer er tun mag. Bis zum Erreichen dieses Alters wird der Mensch als Kind angesehen; ab diesem Alter und bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr ist er ein Jugendlicher und ab seinem achtzehnten bis zu seinem einundzwanzigsten Lebensjahr ist er ein Heranwachsender. Als Jugendlicher und Heranwachsender fällt er unter das allgemeine Strafrecht, wobei aber das Jugendgerichtsgesetz besondere Bestimmungen für die Anwendung des Strafrechts vorsieht. Es muss hier betont werden, dass die Schuldunfähigkeit des Handelnden nicht die Rechtswidrigkeit der Handlung berührt. Wenn ein Zehnjähriger je-

7. Immunität der geistesgestörten Personen

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manden erschießt – ohne dass Notwehr vorliegt –, dann hat er zwar eine rechtswidrige Handlung begangen, aber es trifft ihn keine strafrechtliche Schuld. Das Erreichen des vierzehnten Lebensjahres für den Beginn der Schuldfähigkeit ist eine künstliche, vom positiven Recht gezogene Grenze, die aber nicht ganz willkürlich ist, da sie zum Teil auf natürlichen Gegebenheiten der geistigen Entwicklung des Menschen beruht. Sie entspricht dem Gedanken, dass die Einsicht, etwas Strafwürdiges zu tun, nicht angeboren ist, sondern sich erst im Laufe der individuellen Entwicklung heraus bildet. Ein sechsjähriges Kind kann zwar sehr wohl eine Pistole auf jemanden abfeuern und ihn dadurch verletzen oder gar töten, aber da dieses Kind normalerweise noch nicht in der Lage ist, die strafrechtliche Norm zu begreifen, die solche Handlungen unter Strafe stellt, ist es gegenüber strafrechtlichen Konsequenzen immun. Das Strafrecht selbst immunisiert das Kind vor solchen Konsequenzen, indem es das Kind für schuldunfähig erklärt. Die strafrechtliche Schuld ist also etwas, das das Kind nicht treffen kann. Insofern genießt das Kind eine totale strafrechtliche Immunität, da mit der Immunisierung gegenüber der Schuld auch die Immunisierung gegenüber dem Strafprozess, der Verurteilung und der Ausführung der Strafe gegeben ist. Das Ansetzen der Grenze beim Erreichen des vierzehnten Lebensjahres gehorcht dem Prinzip der Vorsicht. Man wird sicherlich davon ausgehen können, dass die meisten Zwölfjährigen schon wissen, dass man einen Menschen nicht umbringen soll und auch begreifen, warum dem so ist. Und es gibt sicherlich auch schon Zehnjährige, die intellektuell gesehen reif genug sind, um dies zu verstehen. Der Gesetzgeber wollte aber ein Alter festsetzen bei dem garantiert war, dass so gut wie jeder die nötige intellektuelle Reife erreicht hat. Die Alternative zu einer festen Grenze wäre eine fallmäßige Beurteilung gewesen. Doch würde man sich hier vor große praktische Probleme gestellt sehen, so dass ein leicht anwendbares Unterscheidungskriterium dem deutschen Gesetzgeber opportuner erschien. Anders der französische Gesetzgeber, der keine prinzipielle Schuldunfähigkeit vorgesehen hat, sondern der es dem Richter überlässt zu bestimmen, ob bei einem weniger als Dreizehnjährigen die Einsichtsfähigkeit vorlag oder nicht. Lag sie vor, so ist das Kind schuldfähig. Allerdings ist es dann immer noch gegenüber rein strafrechtlichen Sanktionen immun. Es ist also nicht prinzipiell gegen strafrechtliche Schuld immun, wohl aber gegen die aus dieser Schuld fließenden strafrechtlichen Konsequenzen. Sieht man einmal von der Frage ab, bis zu welchem Alter die strafrechtliche Immunität des Kindes reichen sollte, so entspricht diese Immunität den Anforderungen der Gerechtigkeit. Wer noch nicht begreifen kann, was er tut, den sollte keine Schuld und damit auch keine Strafe treffen. Der Begriff der Strafe setzt den Begriff der Schuld und der Begriff der Schuld setzt denjenigen der Verantwortlichkeit voraus, der seinerseits eine bestimmte intellektuelle Reife voraussetzt. Wo diese noch nicht erreicht ist, ist eine strafrechtliche Immunität gerechtfertigt und auch gerecht. 7. Immunität der geistesgestörten Personen. Das soeben Gesagte gilt auch für eine andere Kategorie der Bevölkerung, die eine strafrechtliche Immunität genießt, nämlich die stark geistig gestörten Menschen. In seinem Paragraphen

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20 spricht das StGB von der Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störung: „Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln“. Hatte das StGB sich im Falle des Kindes lediglich damit begnügt, die strafrechtliche Immunität zu behaupten, so liefert es im Fall der geistig gestörten Menschen auch eine Begründung für die Immunisierung. Diese bezieht sich einerseits auf die Vernunft – Unfähigkeit, das Unrecht bzw. den unrechtmäßigen Charakter der Tat einzusehen – und andererseits auf den Willen – Unfähigkeit, der Einsicht in den unrechtmäßigen Charakter der Handlung entsprechend zu handeln, und d. h., die Handlung zu unterlassen. Die jeweilige Unfähigkeit muss prinzipiell total sein, um eine totale Immunität nach sich zu ziehen. Im Falle einer nur partiellen Unfähigkeit fällt der Täter unter Paragraph 21 des StGB. Dieser Paragraph führt eine Art Graduierung der Schuldfähigkeit ein. Je nach dem Grad der geistigen Störung wird der Betreffende als mehr oder minder schuldfähig angesehen, was dann auch einen Einfluß auf die Strafe haben wird, die über ihn verhängt werden kann. Ob eine der beiden Unfähigkeiten – der Vernunft oder des Willens – bei einem bestimmten Menschen vorliegt, muss eine psychiatrische Untersuchung im Einzelfall ermitteln. Schließt sie auf eine schwere seelische Störung, so immunisiert sie den Betroffenen gegenüber allen strafrechtlichen Konsequenzen, da keine Schuld mehr vorliegt. Allerdings immunisiert sie ihn nicht vor einer Internierung in eine psychiatrische Anstalt. Diese ist aber nicht als Strafe zu verstehen – und schon gar nicht als Strafe für den Zustand der geistigen Gestörtheit –, sondern als Sicherheitsmaßnahme: insofern der geistig Gestörte weiteren Schaden anrichten könnte, muss die Allgemeinheit vor ihm geschützt werden. Diese Immunität der geistig gestörten Personen, die uns heute fast selbstverständlich erscheint, war nicht immer gegeben, im Gegenteil. So wurden z. B. die geistig gestörten Täter im Mittelalter oft noch schwerer bestraft als die geistig normalen Täter, da man die geistige Störung bei den ersten mit einer dämonischen Einwirkung in Verbindung brachte. Sie wurden somit nicht nur wegen ihrer Tat, sondern darüber hinaus auch noch wegen ihres Zustandes bestraft. Ein Spezialfall liegt vor, wenn der Handelnde bei der Tat in einem normalen geistigen Zustand war und erst nach Begehen der Tat – und vielleicht sogar wegen ihr – eine schwere geistige Störung erleidet. In einem solchen Fall konnte er zwar das Unrecht der Tat einsehen und man konnte bei ihm auch die Willenskraft voraussetzen, vom Begehen der Tat abzulassen, aber er ist nicht mehr in der Lage, die Berechtigung einer gegebenenfalls über ihn verhängte Strafe einzusehen, denn auch diese Einsicht setzt einen relativ normalen geistigen Zustand voraus. Liegt ein solcher Fall vor, dann werden, nach positiver psychiatrischer Expertise, die eventuell schon eingeleiteten strafrechtlichen Schritte gestoppt und es tritt eine Immunität gegenüber weitergehenden strafrechtlichen Konsequenzen ein. Es ist in diesem Zusammenhang noch zu bemerken, dass eine auf Geistesstörung beruhende strafrechtliche Immunität nicht unbedingt auch eine

8. Notwehr und Notstand als Immunisierungsgründe

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zivilrechtliche Immunität nach sich zieht. In manchen Rechtssystemen werden die strafrechtliche und die zivilrechtliche Verantwortung voneinander getrennt, so dass eine stark geistesgestörte Person zwar nicht wegen Brandstiftung zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden kann, wohl aber zu Schadensersatz. 8. Notwehr und Notstand als Immunisierungsgründe. Eine strafrechtliche Immunität genießt auch, wer in Notwehr handelt. Genauer gesagt handelt derjenige „nicht rechtswidrig“ – so Paragraph 32 des StGB –, der eine durch Notwehr gebotene Handlung begeht. Es liegt also kein Verstoß gegen das Strafrecht vor, wenn ich jemanden verletze, der mich oder eine andere Person rechtswidrig angreift, vorausgesetzt diese Verletzung war die einzige bzw. harmloseste Möglichkeit, den Angriff abzuwehren. Was man also normalerweise als willkürliche Körperverletzung betrachten würde, genießt hier den Status einer rechtskonformen oder rechtmäßigen Handlung, und der Handelnde ist somit gegenüber strafrechtlichen Konsequenzen immunisiert. Auch er lädt keine Schuld auf sich, wobei allerdings die Schuldfähigkeit besteht. Dass diese besteht, drückt sich z. B. in der Tatsache aus, dass nach Paragraph 33 des StGB derjenige bloß nicht bestraft wird, der „aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken“ die Grenzen der Notwehr überschritten hat. Die aus einem solchen Überschreiten der Grenzen hervorgehende Handlung scheint somit als rechtswidrige Handlung zu gelten, wobei der Handelnde aber gegenüber der Strafe immunisiert wird. Die einfache und temporäre Verwirrung wird also nicht mit einer dauerhaften starken geistigen Störung gleich gesetzt. Von der Notwehr ist der Notstand zu unterscheiden, der im StGB unter zwei Formen erscheint. Einerseits gibt es den rechtfertigenden Notstand, den Paragraph 34 wie folgt bestimmt: „Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden“. Dem steht der entschuldigende Notstand gegenüber, den Paragraph 35 wie folgt bestimmt: „Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit eine rechtswidrige Tat begeht, um die Gefahr von sich, einem Angehörigen oder einer anderen ihm nahe stehenden Person abzuwenden, handelt ohne Schuld. […]“. Notwehr und Notstand unterscheiden sich in erster Linie dadurch, dass bei der Notwehr auf einen rechtswidrigen Angriff reagiert wird, während im Fall des Notstandes schon eine bloße Gefahrsituation genügt. Was den Unterschied zwischen den beiden Formen von Notstand betrifft, fällt zunächst auf, dass beim rechtfertigenden Notstand mehr schützenswerte Rechtsgüter aufgezählt werden als beim entschuldigenden Notstand – hier gelten nur Leben, Leib und Freiheit als solche Güter. Ferner fällt auf, dass der entschuldigende Notstand nur rechtswidrige Handlungen umfasst, wohingegen der rechtfertigende Notstand von Handlungen im allgemeinen spricht. Der rechtfertigende Notstand immunisiert also gegenüber der Erklärung der Rechtswidrigkeit, genauso wie

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übrigens die Notwehr – hier wird also die Handlung immunisiert –, wohingegen der entschuldigende Notstand gegenüber der Schuld, und damit auch gegenüber der Strafe immunisiert – hier wird nur der Handelnde immunisiert. Im Idealfall müssten die Menschen keinen Gefahren ausgesetzt sein, die von anderen Menschen stammen, vor allem müssten sie sich nicht vor solchen absichtlich produzierten Gefahren zu fürchten haben. Die Rechtsordnung, könnte man auch sagen, müsste sie vor solchen Gefahren schützen, indem sie etwa jeden davon abhält, eine Straftat zu begehen. In Wirklichkeit ist eine solche Situation aber nicht gegeben und die Menschen müssen damit rechnen, Opfer von Straftaten zu werden. Wo diese Straftaten besonders wertvolle Rechtsgüter betreffen, Rechtsgüter, die nicht ersetzt werden können, wie etwa das Leben, räumt das Straftat dem Individuum das Recht ein, diese Rechtsgüter selbst zu schützen, wenn die öffentlichen Instanzen nicht rechtzeitig eingreifen können, um die Gefahr abzuwenden oder unschädlich zu machen. Vor allem die strafrechtliche Immunisierung im Fall der Notwehr rechtfertigt sich vor dem Hintergrund eines noch mangelhaften rechtlichen Schutzsystems. Kann der Staat das Individuum nicht angemessen und in jedem Fall vor schlimmen Eingriffen in fundamentale Rechtsgüter schützen, so soll das Individuum, das gewissermaßen dazu verurteilt ist, diese Güter in bestimmten Situationen selbst zu schützen, zumindest vor einem strafrechtlichen Eingriff in fundamentale Rechtsgüter – die durchaus dieselben sein können wie die, die durch den rechtswidrigen Eingriff gefährdet wurden – immunisiert werden. 9. Die diplomatische Immunität. Zu den im Völkerrecht umstrittensten Themen gehört sonder Zweifel das Thema der sogenannten diplomatischen Immunität. Gesandte gibt es, seitdem die einzelnen Völker in Kontakt miteinander sind. Der Gesandte kann dabei mit ganz unterschiedlichen Aufgaben betreut werden: Verhandlungen über den Frieden, wenn Krieg zwischen zwei Nationen herrscht; Verhandlungen über eine mögliche Kooperation auf diesem oder jenem Gebiet; Wahrnehmung der Interessen der Angehörigen seiner Nation, die auf dem Staatsgebiet der Nation leben, zu der er gesandt wurde; usw. Der Gesandte stellt das Recht desjenigen Landes, in das er gesandt wurde, vor ein großes Problem. Insofern der Gesandte nämlich nicht Untertan der Regierung ist, zu der er gesandt wird, sondern als Stellvertreter seiner eigenen Regierung kommt – die selbstverständlich auch nicht dem Recht der anderen Nation unterworfen ist –, taucht die Frage auf, ob er unter das Recht, und insbesonders unter das Strafrecht derjenigen Nation fällt, zu der er gesandt wird. Mit dem Einrichten von Botschaften tauchte desweiteren noch ein anderes Problem auf, nämlich das Problem der Extraterritorialität: Das Grundstück etwa, auf dem das amerikanische Botschaftsgebäude in Luxemburg steht, gehört nicht Luxemburg, sondern den Vereinigten Staaten, und ist somit amerikanischem und nicht luxemburgischem Recht unterworfen. Insofern dürfen auch keine luxemburgischen Sicherheitsbehörden dieses Grundstück betreten, ohne Erlaubnis der amerikanischen Autoritäten. In dieser Hinsicht kann man demnach behaupten, dass auch das Grundstück, auf dem die Botschaft steht – und damit auch das Botschaftsgebäude selbst – gegen Eingriffe der luxemburgischen Polizeikräfte immun ist.

9. Die diplomatische Immunität

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In seinem 1594 erschienen Werk De legationibus libri tres, hat der italienische Völkerrechtler Alberico Gentili die These formuliert, dass die strafrechtliche Immunität eines Gesandten keineswegs absolut sei (Gentili 1924: Buch II). Mag er auch gegenüber den rein nationalen Gesetzen desjenigen Staates immun sein, zu dem er geschickt wurde, so ist er nicht gegenüber dem internationalen Recht und dessen überstaatlichen Normen immun. Damit das internationale Recht nicht wegen der Inexistenz einer überstaatlichen Instanz machtlos sei, erhebt Gentili jeden Souverän zumVollstrecker dieses Rechtes. Hat demnach ein Gesandter gegen eine Völkerrechtsnorm verstoßen – und ein solcher Verstoß liegt, Gentili zufolge, schon dann vor, wenn der Gesandte Forderungen vorlegt, die vom Standpunkt des Völkerrechts krass ungerecht sind –, kann er durch den Souverän bestraft werden, und zwar ohne dass der sendende Souverän benachrichtigt zu werden braucht. Gentili zufolge genießt der Gesandte also nur eine partielle strafrechtliche Immunität. Die klassischen Völkerrechtslehrer werden zu teils unterschiedlichen Resultaten hinsichtlich des Problems der diplomatischen Immunität kommen. Hugo Grotius, dessen Hauptwerk De iure belli ac pacis einunddreißig Jahre nach Gentilis Traktat erscheint, vertritt die These, dass der Gesandte von niemandem als von seinem eigenen Souverän bestraft werden darf, es sei denn, dieser Souverän übergebe ihn freiwillig derjenigen Nation, die ihn bestrafen möchte (Grotius 1984: II, XVIII, VIIIff). Das bedeutet allerdings nicht, dass man einem Unrecht begehenden Gesandten hilflos ausgeliefert ist: das Recht der Selbstverteidigung, das nicht mit dem Recht zu strafen zusammen fällt, gilt auch gegenüber dem Gesandten. Wenn also ein Gesandter im Begriff ist, jemanden anzugreifen, kann der Angriff abgewehrt werden. Ist der Angriff aber abgeschlossen und ist der Angegriffene dabei gegebenenfalls zu Schaden gekommen, ist es Grotius zufolge nicht erlaubt, den Gesandten, der den Angriff ausgeübt hat, strafrechtlich zu belangen, ohne dazu die Erlaubnis seines Vorgesetzten, also des anderen Souveräns, bekommen zu haben. Der Souverän in dessen Land der Angriff erfolgt ist, hat allerdings jeder Zeit das Recht, den Gesandten aufzufordern, das Land zu verlassen, ihn also zur persona non grata zu erklären. Auch der Neuburger Völkerrechtler Emer de Vattel vertritt noch in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts die These, dass der Gesandte gegenüber dem Strafrecht derjenigen Nation als immun gelten sollte, zu der er geschickt wird. In seinem Hauptwerk Le droit des gens ou principes de la loi naturelle appliquée à la conduite & aux affaires des Nations & des Souverains weist er einerseits darauf hin, dass der durch den Gesandten beleidigte Souverän zwar gemäß dem abstrakt gefassten Naturrecht das Recht hat, den Verstoß des Gesandten gegen die Völkerrechtsnorm zu bestrafen, dass aber andererseits das positive Völkerrecht eine solche Bestrafung aus guten Gründen ausschließt: „Aber auf der anderen Seite, wenn wir dem beleidigten Fürsten das Recht zugestehen, in einem solchen Fall einen ausländischen Gesandten zu bestrafen, wird es öfters zwischen den Mächten zu Streitereien und zum Abbruch der Beziehungen kommen; & und es wird zu befürchten sein, dass die Funktion des Gesandten nicht mehr die Sicherheit genießt, die für sie notwendig ist“ (Vattel 1777: III, IV, VII, 98).

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Kapitel 5: Die strafrechtliche Immunität

Erlaubt also auch eine abstrakt gefasste Gerechtigkeit, dass man Gesandte zumindest im Fall von groben Verstößen gegen das Völkerrecht bestraft, so wäre diese Erlaubnis, würde man sie ins positive Völkerrecht übernehmen – und dies allein kann bei Vattel in den Beziehungen zwischen den zivilisierten Völkern unmittelbare Geltung beanspruchen –, eine Quelle von völkerrechtlichen Streitereien und würde somit die Bedingungen der Möglichkeit eines friedlichen Zusammenlebens der Nationen in Frage stellen. Vattel hat kein großes Vertrauen in die einzelnen Souveräne und er befürchtet, dass sie manchmal fadenscheinige Gründe anführen werden, um Gesandte zu bestrafen. Damit wäre aber die Sicherheit der Gesandten insgesamt gefährdet – also nicht nur derjenigen, die Straftaten begehen –, und diese Gefährdung würde dazu führen, dass keine Gesandte mehr geschickt würden. Aber Gesandte sind für Vattel ein notwendiges Element in den friedlichen Beziehungen zwischen den Völkern. Und da diese friedlichen Beziehungen wichtiger sind als die Bestrafung von Gesandten, die den Souverän in irgendeiner Form, direkt oder indirekt, beleidigt haben, hat das Völkerrecht dem Souverän nur das Recht gelassen, einen unwillkommenen Gesandten als persona non grata wieder in sein Heimatland zu schicken. Der Idee der Gerechtigkeit wird hier die Idee von mehr oder weniger friedlich funktionierenden internationalen Beziehungen entgegen gestellt, wobei letztere Idee gegebenenfalls ein Abweichen von der Idee der Gerechtigkeit zulässt, wenn nicht sogar fordert. Man könnte allerdings verlangen, dass der Souverän, dessen Untertan durch die Handlungen eines gegen strafrechtliche Sanktionen immunen Gesandten zu Schaden kommt, diesem Untertan den erlittenen Schaden ersetzt. 10. Die parlamentarische Immunität. Der fünfte Titel des zweiten Abschnitts des StGB befasst sich mit der „Straflosigkeit parlamentarischer Äußerungen und Berichte“, also mit dem, was man oft als parlamentarische Immunität oder als Immunität der Parlamentarier bezeichnet. Paragraph 36 besagt: „Mitglieder des Bundestages, der Bundesversammlungen oder eines Gesetzgebungsorgans eines Landes dürfen zu keiner Zeit wegen ihrer Abstimmungen oder wegen einer Äußerung, die sie in der Körperschaft oder in einem ihrer Ausschüsse getan haben, außerhalb der Körperschaft zur Verantwortung gezogen werden. Dies gilt nicht für verleumderische Beleidigungen“. Es sind also nicht nur Mitglieder des nationalen Parlamentes, die in den Genuss der parlamentarischen Immunität kommen können, sondern auch Landesparlamentarier. Mitglieder von Gremien die unterhalb des Landesebene liegen, wie z. B. Mitglieder von Gemeinderäten, genießen keine strafrechtliche Immunität hinsichtlich von Äußerungen oder Berichten, die sie im Rahmen ihres Mandats machen bzw. vortragen. Es fällt auf, dass die parlamentarische Immunität nur einen bestimmten Bereich der Handlungen eines Parlamentariers betrifft, nämlich den Bereich jener Handlungen die notwendig sind, um seine Funktion als Parlamentarier erfüllen zu können bzw. die für seine parlamentarische Arbeit konstitutiv sind. Ein Parlamentarier kann in dieser Hinsicht nicht strafrechtlich verfolgt werden, wenn die Implementierung eines von ihm mit abgestimmten Gesetzes eine

10. Die parlamentarische Immunität

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große Zahl von Toten zur Folge hat. Und der Bundestag kann auch nicht wegen unterlassener Hilfeleistung angeklagt werden, wenn er es etwa verabsäumt, ein Gesetz zu erlassen, durch welches viele Menschenleben gerettet werden könnten. Für die Gewählten gilt im Prinzip die Regel, dass sie sich vor den Wählern für ihre politischen Handlungen zu verantworten haben. Da allerdings Wahlen nur alle paar Jahre stattfinden, fungiert das Verfassungsgericht als zusätzlicher Sicherheitsriegel. Ist auch jeder Abgeordnete gegenüber strafrechtlichen Sanktionen immun, so ist kein von den Abgeordneten abgestimmtes Gesetz gegenüber einer Verfassungsklage immun. Erkennt das Verfassungsgericht auf Verfassungswidrigkeit des Gesetzes, so verliert dieses seine Gültigkeit. Sanktionen gegen die Abgeordneten kann aber auch das Verfassungsgericht nicht aussprechen. Gegen strafrechtliche Sanktionen immunisiert sind auch die Äußerungen, die ein Parlamentarier in der Ausübung seiner Funktion macht. Das heißt u. a., dass ein Parlamentarier der Opposition die Mehrheit oder die Regierung angreifen darf, ohne strafrechtliche Sanktionen befürchten zu müssen – eine Errungenschaft, die für uns heute, in unseren modernen Demokratien, selbstverständlich ist, die aber erkämpft werden musste und deren sich noch nicht alle Staaten erfreuen. Allerdings werden verleumderische Beleidigungen explizit von der parlamentarischen Immunität ausgeschlossen. Wenn also ein Abgeordneter „wider besseres Wissen in Beziehung auf einen anderen eine unwahre Tatsache behauptet oder verbreitet, welche denselben verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen oder dessen Kredit zu gefährden geeignet ist“ – so die Definition der Verleumdung in Paragraph 187 des StGB –, dann muss er mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren oder mit einer Geldstrafe rechnen, denn in seinem Fall kommt die erschwerte Strafe für Begehen der Straftat in einer Versammlung in Betracht. Ein solcher Ausschluss bestimmter Äußerungen von der parlamentarischen Immunität gilt nicht in allen Rechtssystemen. So deckt etwa in Luxemburg die parlamentarische Immunität auch Verleumdungen, Beleidigungen und sogar Appelle zur öffentlichen Aufruhr. Hinzu kommt in Luxemburg die Unverletzbarkeit des Abgeordneten während der Dauer einer parlamentarischen Session. Begeht also ein Abgeordneter eine Straftat während seines Mandates, so kann er nur dann strafrechtlich verfolgt werden, wenn die Abgeordnetenkammer einer solchen Verfolgung zustimmt, was nichts anderes bedeutet, als dass sie sich damit einverstanden erklärt, die parlamentarische Immunität des betroffenen Abgeordneten aufzuheben. Solange eine Mehrheit der Abgeordneten einem solchen Aufheben der Immunität nicht zustimmt, können weder die Staatsanwaltschaft noch die Gerichte eingreifen. Als Ausnahme gilt der Fall, in dem der Abgeordnete in flagranti erwischt wird. Mit dem Ende des parlamentarischen Mandats endet automatisch auch die Immunität. Prinzipiell kann demnach ein straftätig gewordener Parlamentarier jeder strafrechtlichen Sanktion entkommen – vorausgesetzt, er wird bei jeder Wahl wiedergewählt und es findet sich keine Mehrheit, die sich für eine Aufhebung seiner parlamentarischen Immunität ausspricht.

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Kapitel 5: Die strafrechtliche Immunität

Die parlamentarische Immunität kann also entweder partiell oder total sein, je nachdem, ob sie nur die mit der Ausübung der parlamentarischen Funktion zusammenhängenden Handlungen betrifft, oder dann jede mögliche Handlung, die ein Parlamentarier ausübt. In beiden Fällen geht es aber in erster Linie darum, die Parlamentarier vor den Staatsanwälten und den Gerichten zu schützen. Der Gedanke der parlamentarischen Immunität spiegelt ein grundsätzliches Mißtrauensverhältnis zwischen den Inhabern der legislativen und denjenigen der exekutiven Macht wider. Durch die Anerkennung der parlamentarischen Immunität soll verhindert werden, dass die Exekutive strafrechtlich gegen Parlamentarier vorgeht, die ihr zu kritisch erscheinen. Insofern kann man sagen, dass die parlamentarische Immunität, zumindest in ihrer partiellen Form, einen Raum für gegebenenfalls heftige Kritik an der Regierung öffnet und damit ein wesentlicher Bestandteil einer streitbaren Demokratie bildet. 11. Die politische Immunität des Souveräns. Die Theorie des politischen Absolutismus vertritt die These, dass der Souverän a legibus solutus ist, also keinem Gesetz unterworfen, da er die Quelle aller Gesetze ist. Und auch wenn die meisten Vertreter des politischen Absolutismus – als Beispiele seien hier nur Jean Bodin oder Thomas Hobbes genannt – einerseits zugeben, dass der Souverän den göttlichen und natürlichen Gesetzen unterworfen ist, so streiten sie doch andererseits ab, dass irgendeine irdische Macht einen Verstoß des Souveräns gegen diese Gesetze strafrechtlich ahnden könnte. Hier auf Erden ist der Souverän der höchste Richter und als solcher kann er nicht bestraft werden. Nur Gott ist dazu legitimiert, ihn – der oft als Stellvertreter Gottes auf Erden bezeichnet wird – zu bestrafen. Diese strafrechtliche Immunität des Inhabers der höchsten Gewalt findet sich auch heute noch in den Verfassungen vieler Staaten wieder. So erklärt etwa Artikel 4 der luxemburgischen Verfassung die Person des Großherzogs für unantastbar – bis vor kurzem war seine Person sogar noch heilig, eine Eigenschaft, die ihm allerdings im Rahmen einer Verfassungsänderung abgesprochen wurde. Würde der Großherzog einen Banküberfall begehen und dabei etliche Menschen töten, so könnte er dafür nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Allerdings könnte dann Artikel 7 der Verfassung eingreifen, der den Fall regelt, wo der Großherzog in der Unmöglichkeit ist, zu regieren. Das schlimmste was den Luxemburger Großherzog erwartet, ist also der Verlust seiner Herrschaft; gegenüber strafrechtlichen Sanktionen ist er immun. Vor einigen Jahren entbrannte ein heftiger Streit darüber aus, ob der amtierende Präsident Jacques Chirac rechtlich verpflichtet werden konnte, vor Gericht zu erscheinen im Zusammenhang mit Angelegenheiten, die seine Amtszeit als Pariser Bürgermeister betrafen. Auch wenn die französische Verfassung keine ausdrückliche strafrechtliche Immunität des Präsidenten vorsieht, argumentierten bestimmte Verfassungsrechtler und Politologen, dass der Präsident während seiner Amtszeit eine solche Immunität genießt. Diese dauert allerdings nur solange wie seine Amtszeit, endet also sobald er nicht mehr zum Präsidenten gewählt wird. Als eine der Rechtfertigungen für eine solche strafrechtliche Immunität wurde angegeben, dass die Autorität des Präsidenten nicht während der Ausübung seiner Mandats angekratzt werden dürfe,

11. Die politische Immunität des Souveräns

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repräsentiert doch der durch direkte Wahl gewählte französische Präsident die gesamte Nation. Die Frage der strafrechtlichen Immunität des Inhabers der exekutiven Gewalt muss unter zwei Aspekten betrachtet werden, dem nationalen und dem völkerrechtlichen. Solange es kein geschriebenes Völkerrecht gab, konnte, von einem rein positivrechtlichen Standpunkt aus betrachtet – das Naturrecht wollen wir einmal ausklammern –, nur das nationale Recht gelten. Und dieses enthielt gewöhnlich das Prinzip der strafrechtlichen Immunität der exekutiven Gewalt. Insofern der Souverän über allen anderen Gewalten im Staate stand, gab es keine Instanz, die ihn strafrechtlich hätte belangen können. Besonders seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat sich aber ein geschriebenes Völkerrecht herausgebildet, das immer stärker dazu tendierte, diese Immunität abzuschaffen. Neueste Etappe in dieser Entwicklung ist die Schaffung eines internationalen Strafgerichtshofs. In Artikel 27 Punkt 2 des Gesetzes zur Schaffung dieses Gerichtshofs heißt es ausdrücklich, dass jedwede Immunität, die entweder das nationale oder internationale Recht einer Person zugesteht, keine Schranke für den Strafgerichtshof bildet. Punkt 1 desselben Artikels hält fest, dass Funktionen wie die des Staats- oder Regierungschefs oder des Mitglieds einer Regierung oder eines Parlamentes, usw. die strafrechtliche Verantwortung nicht ausschließen. Damit ist das Prinzip der strafrechtlichen Immunität der politisch Verantwortlichen im Völkerrecht definitiv aufgehoben, wobei allerdings darauf hinzuweisen ist, dass diese Aufhebung nur für diejenigen Verbrechen gilt, für welche der internationale Strafgerichtshof zuständig ist (Völkermord, Verbrechen gegen die Menschheit, Kriegsverbrechen und Verbrechen des Angriffskriegs). Wie aber schon oben erwähnt wurde, ist mit der Aufhebung der rechtlichen nicht automatisch auch die Aufhebung der faktischen Immunität gegeben. Die strafrechtliche Immunität des Souveräns hängt eng mit dem Gedanken der nationalen Souveränität zusammen. Diese kann unter dem internen wie unter dem externen Aspekt betrachtet werden. In seinem eigenen Land erkannte der Souverän traditionellerweise keinen Richter über sich selbst an. Gemäß der absolutistischen Staatslehre, wie sie vor allem von Hobbes entwickelt wurde, konnte der Souverän nicht strafrechtlich belangt werden. Hätte man die Möglichkeit einer strafrechtlichen Belangung zugelassen, so wäre das Strafrecht eventuell zum Medium eines verkappten Staatsstreichs geworden bzw. eines Angriffs auf die Autorität des Souveräns. Es musste eine unangefochtene Autorität im Staat geben und die strafrechtliche Immunität war nichts anderes als ein wesentliches Merkmal dieser Autorität. Unter dem externen Aspekt betrachtet heisst ein Staat dann souverän, wenn er den Gesetzen und der Rechtssprechung keines anderen Staates und auch keiner anderen irdischen Instanz unterworfen ist. Spätestens seit dem Westfälischen Frieden und bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die staatliche Souveränität ein wesentlicher Bestandteil der internationalen Ordnung. Damit war auch ausgeschlossen, dass ein Souverän über einen anderen Souverän richten und ihn gegebenenfalls bestrafen konnte. Es gab zwar noch einzelne Denker die den Gedanken eines Strafkrieges verteidigten, aber dieser Gedanke widersprach der internationalen Ordnung, wie sie sich 1648 durchsetzte. Zumin-

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Kapitel 5: Die strafrechtliche Immunität

dest galt dies für Handlungen, die der Souverän innerhalb der Grenzen seines eigenen Territoriums ausübte. Wir tendieren heute dazu, die persönlich und partikular durch eine unpersönlich und universell gefasste Souveränität zu ersetzen. Souverän ist nicht mehr dieser oder jener konkrete Herrscher bzw. dieses oder jenes konkrete Gremium, sondern die Menschenrechte. Sie bilden eine Schranke für die Ausübung der Souveränität und binden somit den Souverän. Diese Bindung hat aufgehört eine bloß moralische Bindung zu sein, ist es doch heute rechtlich möglich geworden, die Inhaber der exekutiven Gewalt vor einen internationalen Strafgerichtshof zu bringen, wo sie sich für ihre Handlungen rechtfertigen müssen. 12. Die Immunität der Befehlsunterworfenen. Wer im Auftrag oder auf Befehl eines anderen handelt, wird gewöhnlich nicht selbst als verantwortlich für die Folgen seines Handelns betrachtet, zumindest nicht insofern er sich strikt an den Buchstaben des Auftrags oder des Befehls gehalten hat. Die Verantwortung fällt dann auf den Auftraggeber oder den Befehlenden zurück und Auftrag und Befehl können somit als immunisierend betrachtet werden. Im fünften Paragraphen seines ersten Teils befasst das Wehrstrafgesetz sich mit dem Handeln auf Befehl: „(1) Begeht ein Untergebener eine rechtswidrige Tat, die den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklicht, auf Befehl, so trifft ihn eine Schuld nur, wenn er erkennt, dass es sich um eine rechtswidrige Tat handelt oder dies nach den ihm bekannten Umständen offensichtlich ist“. Die mangelnde Einsicht in die Rechtswidrigkeit des befohlenen Handelns wird hier als Immunisierungsgrund angesehen, wobei allerdings nicht das, was sich tatsächlich im Kopf des Soldaten abspielte darüber bestimmt, ob die Einsicht fehlte oder nicht, sondern der gesamte Kontext. Ist es aber so, dass der Soldat den Umständen nach erkennen konnte, dass ihm eine strafrechtswidrige Tat befohlen wurde, ist er nicht mehr vor strafrechtlichen Sanktionen immun. Anders gesagt, es ist eigentlich nicht der Befehl als solcher, der immunisiert, sondern die fehlende Einsicht in die Rechtswidrigkeit des Befehls. Ein deutscher Soldat kann sich also nicht bei jeder befohlenen rechtswidrigen Handlung hinter den Befehl zurück ziehen und damit die strafrechtliche Verantwortung von sich weisen. Artikel 33 des Gesetzes zur Schaffung eines internationalen Gerichtshofs macht die strafrechtliche Immunität der Befehlsunterworfenen von drei Bedingungen abhängig. Erstens muss der Gehorchende dem Befehlenden gesetzlich unterworfen sein. Ausgeschlossen ist damit etwa der Fall eines Söldners, der sich auf bloß vertraglicher Basis in den Dienst eines war-lord stellt und dessen Befehle ausführt. Zweitens muss die Einsicht fehlen, dass die befohlene Handlung gegen die völkerrechtlichen Strafgesetze verstößt. Und drittens darf der Befehl nicht offensichtlich gesetzwidrig sein. Wäre er nämlich offensichtlich gesetzwidrig, so könnte unter normalen Umständen nicht die Einsicht in seine Gesetzwidrigkeit fehlen. Gleich danach heißt es dann im zweiten Punkt des Artikels, dass der Befehl, einen Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschheit zu begehen, offensichtlich rechtswidrig ist, was nichts anderes bedeutet, als dass jeder vernunftbegabte und damit auch schuldfähige Mensch die Rechts-

12. Die Immunität der Befehlsunterworfenen

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widrigkeit eines Befehls zum Völkermord erkennen muss und demgemäß diesen Befehl nicht ausführen darf. Gegenüber diesen beiden Verbrechen ist also jede Immunität ausgeschlossen, mit Ausnahme der altersbedingten Immunität, da Artikel 26 ausdrücklich festhält, dass Kinder und Jugendliche unter achtzehn Jahren – und nicht nur unter vierzehn, wie es das StGB für das nationale Recht vorsieht – gegenüber einer strafrechtlichen Anklage vor dem internationalen Strafgerichtshof immun sind. Was in diesem Zusammenhang zu einem ernsten Problem führt, ist die Tatsache, dass bestimmte Institutionen, wie z. B. das Heer, einen großen Wert auf den Gehorsam legen und geradezu auf einer Gehorsamspflicht beruhen. Ein Krieg kann nur dann geführt werden, wenn alle untergeordneten Elemente des Heeres den Befehlen der über ihnen stehenden Elemente gehorchen. Wenn das Prinzip auctoritas non veritas facit legem in einem Bereich als fundamental betrachtet wird, dann sicherlich im militärischen. Die Paragraphen 19 und 20 des WStG bestrafen den Ungehorsam bzw. die Gehorsamsverweigerung mit Freiheitsstrafen bis zu drei Jahren. Diese Strafen sind noch leicht, verglichen mit dem, was Soldaten in Diktaturen erwartet, wenn sie einen Befehl nicht ausführen wollen. Das hier besprochene Problem erschwert sich, wenn dem Soldaten Handlungen befohlen werden, die den in seinem Land geltenden Normen gemäß sind, dem Gerechtigkeits- und Humanitätsstandard eines anderen Landes und vielleicht sogar auch demjenigen des betroffenen Soldaten widersprechen. Nehmen wir den Fall der sogenannten Mauerschützen, die sich nach dem Fall der Berliner Mauer und der Wiedervereinigung vor Gericht verantworten mussten. Sie handelten auf Befehl und im Rahmen des in ihrem Staate geltenden Rechts. Das Schießen auf Flüchtlinge konnte ihnen also in dieser Hinsicht nicht als rechtswidrig erscheinen, obzwar sie es durchaus als moralisch verwerfliche Tat betrachten konnten und vielleicht sogar mussten. Nur: Welchen Stellenwert wird man hier der Moral einräumen können? Und genügt diese präsupponierte Einsicht in die Moralwidrigkeit ihrer Tat, um die strafrechtliche Immunität zu entfernen? Das Problem der strafrechtlichen Immunität von Unterworfenen hat sich auch im Kontext der Theorien des Strafkrieges gestellt. Es war die Frage, ob die Tatsache, dass jemand nicht an der Entscheidung beteiligt war, die den Grund für den Strafkrieg lieferte – anders gesagt: seine Unschuld –, ihn gegen eine Bestrafung immunisierte, oder ob das Prinzip der kollektiven Schuld gelten sollte, ein Prinzip bei dem nicht danach gefragt wird, was das Individuum tatsächlich getan hat, sondern wo die bloße Zugehörigkeit zu einem Kollektiv, dessen Repräsentanten eine bestimmte Entscheidung getroffen haben, genügt, damit auch die Untertanen als schuldig betrachtet werden können. Das Problem das sich hier stellt ist das Problem einer möglichen Diskriminierung. Was im Rahmen des nationalen Strafrechts noch relativ einfach möglich ist, nämlich nur die unmittelbar Schuldigen zu treffen, kann sich im Rahmen des internationalen Strafrechts, zumal wenn es sich in einem Strafkrieg ausdrückt, als unmöglich herausstellen. Wo der Gebrauch bestimmter Waffen es nicht mehr möglich macht, zwischen Schuldigen und Unschuldigen zu diskriminieren, kann Unschuld nicht mehr vor den Konsequenzen eines Strafkriegs immunisieren.

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Kapitel 5: Die strafrechtliche Immunität

Das macht den Rückgriff auf solche Kriege äußerst problematisch, ganz davon abgesehen, dass sie oft als Vorwand benutzt werden, um partikulare Interessen durchzusetzen.

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Kapitel 6 Die Verjährung 1. Die Verjährung im Bürgerlichen Recht. Das Prinzip der Verjährung wird vor allem in Bürgerlichen Recht, und dort vornehmlich im Zusammenhang mit Eigentumsfragen diskutiert. Im Römischen Recht bezeichnete man die Verjährung entweder mit dem Begriff der praescriptio oder mit demjenigen der usucapio. Besonders letzterer Begriff zeigt, wenn man ihn auseinander nimmt und etymologisch betrachtet, worin die Verjährung in Besitzsachen eigentlich besteht: per usum capere – durch den Gebrauch nehmen, also sich durch den faktischen, sich über einen bestimmten Zeitraum erstreckenden Gebrauch einer Sache, die einem anfänglich nicht gehörte, zum rechtlich anerkannten Eigentümer erheben bzw. zum Eigentümer werden, da neben dem Gebrauch der Sache eigentlich keine weitere Handlung des Besitzers verlangt wird. Im Deutschen kann man in diesem Zusammenhang auch den Begriff des Ersitzens verwenden: Dadurch dass man sich ungestört während einer bestimmten Zeit auf einem Landstück aufhält oder es ungestört benutzt, ersitzt man sich das Eigentumsrecht über dieses Landstück oder doch zumindest das Recht, es noch weiter zu benutzen. Das Prinzip der Verjährung gilt also nicht nur für bewegliche, sondern auch für unbewegliche Güter. Ein bloßes Faktum schafft also, durch das Medium der Zeit hindurch, ein Recht – und gleichzeitig bringt es natürlich auch das Recht des vormaligen Eigentümers zum Erlöschen, entweder ganz, oder bloß den Aspekt der Ausschließlichkeit. Ganz allgemein lässt sich sagen, dass es rechtliche Ansprüche sind, die verjähren. Dabei spielt es keine Rolle, auf welche Art von Gegenstand sich der Anspruch erstreckt. So kann nicht nur ein Anspruch auf einen materiellen, beweglichen oder unbeweglichen, Gegenstand verjähren, sondern auch der Anspruch auf ein bestimmtes Recht. Nimmt man etwa ein bestimmtes Recht während Jahrzehnten nicht in Anspruch, so kann die Inanspruchnahme dieses Rechtes durch Verjährung erlöschen. Angenommen ich bin versichert und vernachlässige es zunächst, meiner Versicherung einen Schaden zu melden, der mich getroffen hat. Melde ich den Schaden nach etwa fünf Jahren, so wird die Versicherung mir mitteilen, dass mein Anspruch auf Ersatz des Schadens verjährt ist. Ich hatte eine bestimmte Frist, um meinen Anspruch geltend zu machen; habe ich es versäumt, meinen Anspruch während dieser Frist geltend zu machen, dann ist die Versicherungsanstalt automatisch gegenüber meinem Anspruch immun, d. h. sie ist nicht mehr dazu verpflichtet, den von mir erlittenen Schaden zu ersetzen. Diese rechtschaffende Eigenschaft der Zeit ist natürlich keine ihr intrinsische Eigenschaft, also keine Eigenschaft, die der Zeit als solcher oder von Natur aus zukommt. Sie wird ihr vielmehr durch eine menschliche Entscheidung verliehen. Verjährung gibt es also demnach nur deshalb, weil die Menschen wollen, dass das bloße Vergehen der Zeit einen Einfluss auf die rechtlichen Ansprüche haben soll, die sie aneinander richten. Insofern kann man auch nicht anhand einer bloßen Betrachtung der intrinsischen Eigenschaften der Zeit bestimmen, wie lange etwa der Gebrauch einer Sache sein muss, damit sich das bloße Faktum

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Kapitel 6: Die strafrechtliche Verjährung

in ein Recht verwandelt. Rein theoretisch ließe sich hier sowohl ein Zeitraum von einigen Sekunden wie ein solcher von mehreren Jahrzehnten, wenn nicht sogar mehreren Jahrhunderten – wobei der Referenzpunkt dann nicht ein Individuum, sondern eine Familie sein würde – denken. Ähnlich im Fall meines Anspruchs gegenüber der Versicherung. Dass manchmal ein relativ langer und manchmal ein relativ kurzer Zeitraum gewählt wird – ersteres im Falle des Eigentums, das zweite etwa im Fall meines Anspruchs gegenüber der Versicherung –, ist hauptsächlich auf pragmatische Überlegungen zurückzuführen. In seinem De iure naturae et gentium stellt Samuel Pufendorf fest, dass das zivilrechtliche Prinzip der Verjährung zwar einerseits gegen die Billigkeit verstößt, und insofern nicht ganz mit der Gerechtigkeit in Einklang zu bringen ist, dass es aber andererseits zur Förderung des Gemeinwohls beiträgt. Es widerspricht dem Prinzip der Billigkeit insofern, als dieses verlangt, dass ein rechtmäßiger Eigentümer nur dadurch seines Eigentums verlustig gehen kann, dass er sich selbst davon trennt – also etwa durch Verkauf oder Schenkung – oder dass es ihm als Strafe für eine Straftat hinweg genommen wird. Bei der Verjährung liegt aber keiner dieser beiden Fälle vor, und Pufendorf macht übrigens ausdrücklich darauf aufmerksam, dass das Gesetz über Verjährung den nachlässigen Eigentümer nicht wegen seiner Nachlässigkeit bestraft (Pufendorf 1987: IV, XII, VI). Der ursprüngliche Eigentümer verliert also sein Anspruchsrecht, ohne dass er dieses Recht selbst und freiwillig abtritt, noch dadurch, dass ihm irgendeine Schuld vorgeworfen werden kann. Einen solchen Verstoß gegen die Billigkeit sieht Pufendorf einzig und allein dadurch gerechtfertigt, dass er dem Gemeinwohl förderlich ist. Der Beitrag zur Förderung des Gemeinwohls besteht darin, dass durch das Verjährungsprinzip klare rechtliche Verhältnisse hergestellt und somit mögliche zivilrechtliche Prozesse verhindert werden. Das Eigentumsrecht, so Pufendorf, wurde zum Wohl der Menschheit etabliert, damit jeder im Frieden sein Eigentum genießen kann, ohne ständigen Ansprüchen anderer Menschen ausgesetzt zu sein. Das Prinzip der Verjährung garantiert den Rechtsfrieden insofern, als nach dreißig oder vierzig Jahren – die gewöhnliche Verjährungsfrist im Römischen Recht – faktische Verhältnisse sich in rechtliche verwandeln und somit dem neuen Eigentümer garantieren, dass niemand ihm sein Eigentum wird anfechten können. Solange die Verjährungsfrist nicht vergangen ist, sind zivilrechtliche Klagen möglich, ist sie aber einmal vergangen, endet die Möglichkeit solcher Klagen und der zunächst bloß faktische status quo wird zum rechtlichen. Pufendorf zufolge entspringt die Verjährung als solche der allgemeinen Zustimmung der Menschen, genauso wie übrigens das Recht auf Eigentum, wobei sie aber einem natürlichen Bedürfnis der in Gesellschaft lebenden Menschen entsprechen, und insofern auch naturrechtlich begründet werden können. Sowohl die Verjährung wie auch das Eigentum sind Mittel, durch die ein friedliches Zusammenleben garantiert werden soll. Doch wenn auch das Prinzip der Verjährung aus dem natürlichen Recht und der allgemeinen Zustimmung der Menschen abgeleitet werden kann, so gilt dies nicht für die spezifische Verjährungsfrist – dafür, dass bestimmte Ansprüche nach dreißig, und nicht etwa schon nach zehn oder erst nach fünfzig Jahren verjähren. Hier gilt, laut Pufendorf, dass man sowohl auf die Interessen des alten, wie auf

2. Zwei Arten der strafrechtlichen Verjährung

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diejenigen des neuen Eigentümers achten sollte, was mit sich bringt, dass die Verjährungsfrist nicht zu kurz sein sollte – der alte Eigentümer muss etwa die Möglichkeit haben, den Verlust eines bestimmten Gegenstandes zu bemerken und nach ihm zu suchen –, noch zu lang – der neue Eigentümer darf nicht bis zum Ende seines Lebens warten, bevor er den betreffenden Gegenstand in aller Ruhe gebrauchen kann. Das Römische Recht kannte eine Reihe von Gegenständen oder Ansprüchen, für die das Prinzip der Verjährung nicht galt. Pufendorf erwähnt die freien Personen, die heiligen oder geweihten Gegenstände, die Güter eines Mündels, die gestohlenen Sachen und die entlaufenen Sklaven. Wie lange man auch immer Gegenstände dieser Art in seinem Besitz haben mag, niemals wird man allein durch die Dauer zu deren rechtlichem Eigentümer werden können. 2. Zwei Arten der strafrechtlichen Verjährung. Behandelt Pufendorf vor allem die zivilrechtliche Verjährung, so weist er doch an einer Stelle darauf hin, dass man die Verjährung auch im Strafrecht wieder finden kann. Im folgenden werden wir uns mit der strafrechtlichen Verjährung befassen, wobei zunächst die zwei Arten einer solchen Verjährung dargestellt werden sollen. Im StGB wird die Verjährung im fünften Abschnitt des Allgemeinen Teils behandelt. Dabei werden zwei Arten von Verjährung unterschieden. Der erste Titel betrifft die Verfolgungsverjährung. Diese Verjährung, so heisst es in Paragraph 78, „schließt die Ahndung der Tat und die Anordnung von Maßnahmen […] aus“. Ist also eine Straftat verjährt, verliert der Staat den Anspruch, diese Tat zu ahnden. Konkret heisst das, dass keine Schritte mehr in die Wege geleitet werden dürfen, um die Tat aufzuklären oder den Täter zu fassen. Staatsanwaltschaft und Richter müssen den Fall ad acta legen und dürfen sich seiner nicht mehr annehmen, und zwar auch dann nicht, wenn der Täter sich selbst stellt und seine Tat zugibt. Man könnte sagen, dass die vergangene Zeit dem Täter eine Immunität vor strafrechtlichen Verfolgungen gegeben hat. Aber dies nur, weil der Gesetzgeber es so wollte, und nicht aufgrund einer der Zeit inhärenten magischen Kraft. Die zweite Art von Verjährung ist die Vollstreckungsverjährung. Paragraph 79 des StGB lautet: „Eine rechtskräftig verhängte Strafe oder Maßnahme […] darf nach Ablauf der Verjährungsfrist nicht mehr vollstreckt werden“. Wurde der Täter also in absentia verurteilt oder ist ihm die Flucht gleich nach der Verurteilung geglückt, so dass es nicht zur Vollstreckung der verhängten Strafe kommen konnte, kann er damit rechnen, dass die über ihn verhängte Strafe nach einer bestimmten Frist nicht mehr vollstreckt werden darf. Sieht man einmal vom Mord und anderen unverjährbaren Verbrechen ab – auf die wir noch am Ende dieses Kapitels genauer eingehen werden –, hat der deutsche Gesetzgeber unterschiedliche Verjährungsfristen hinsichtlich der Verfolgung festgehalten. Im Falle von Straftaten die mit einer lebenslangen Strafe bedroht werden, verjährt die Verfolgung erst nach dreißig Jahren. Beträgt die Höchststrafe mehr als zehn Jahre, verjährt die Verfolgung nach zwanzig Jahren. Nach zehn Jahren verjährt die Verfolgung von Straftaten, die mit einer Strafe von fünf bis zehn Jahren bedroht werden. Die Verjährungsfrist beträgt fünf Jahre bei Straftaten die mit einer Strafe von einem bis fünf Jahre bedroht werden. Bei allen anderen Taten gilt eine Verjährungsfrist von drei Jahren.

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Kapitel 6: Die strafrechtliche Verjährung

Eine ähnliche Liste finden wir im Fall der Vollstreckungsverjährung. Hier gilt allerdings, dass die Vollstreckung von lebenslangen Freiheitsstrafen nicht verjährt – wohingegen, wie soeben gesehen, die Verfolgung von mit lebenslanger Haftstrafe bedrohten Straftaten verjähren kann. Ganz allgemein lässt sich feststellen, dass die Frist bei der Vollstreckungsverjährung höher liegt als bei der Verfolgungsverjährung. Der Staat scheint also im allgemeinen einen größeren Wert darauf zu legen, dass die verhängte Strafe auch tatsächlich vollstreckt wird als darauf, dass es zur Verhaftung und Verurteilung des Täters kommt. Die Verfolgungsverjährung beginnt in der Regel mit dem Ende der Tat (Par. 78a), während die Vollstreckungsverjährung in der Regel mit dem rechtskräftig gefällten letztinstanzlichen Urteil beginnt (Par. 79). Für die Verfolgungsverjährung gibt es allerdings eine Reihe Ausnahmen bzw. eine Reihe von Situationen, in denen die Verjährung, wie es heißt, ruht. Dieses Ruhen der Verjährungsfrist finden wir etwa im Falle von Sexualverbrechen an Minderjährigen. Paragraph 176 sieht eine Höchststrafe von zehn Jahren im Falle von sexuellem Missbrauch an Kindern vor. Normal wäre hier eine zehnjährige Verjährungsfrist die mit dem Tatbestand des sexuellen Missbrauchs beginnt. Dass dies problematisch ist, lässt sich ganz leicht an einem Beispiel verdeutlichen: Ein Kind das mit vier Jahren von einem nahen Verwandten sexuell mißbraucht wird, müsste dies innerhalb von zehn Jahren melden. Das wird aber gewöhnlich nicht geschehen, sei es, dass das Kind den Missbrauch verdrängt hat, sich schämt, ihn zuzugeben, sich nicht bewusst ist, dass es einen Missbrauch erlitten hat, usw. Also hat der Gesetzgeber hier vorgesehen, dass im Falle von Sexualverbrechen die Verjährungsfrist erst an dem Tag beginnt, an dem das Opfer großjährig wird. Wurde es also wie in unserem fiktiven Beispiel in seinem vierten Lebensjahr Opfer eines Sexualverbrechens, wird der Täter während vierundzwanzig Jahren mit einer Verfolgung rechnen müssen. Auch die Vollstreckungsverjährung kann ruhen, und zwar etwa dann, wenn der Verurteilte in den Genuss eines Aufschubs oder einer Unterbrechung der Vollstreckung oder noch in denjenigen eines Aussetzens der Strafe zur Bewährung gekommen ist. Paragraph 78c des StGB sieht eine ganze Reihe von Situationen vor, in denen die Verjährungsfrist unterbrochen wird. Da es müßig wäre, sie alle hier aufzuzählen, sei allgemein zurückbehalten, dass die Verjährungsfrist vornehmlich dadurch unterbrochen wird, dass rechtliche Schritte eingeleitet werden. Hat also X im Jahre 2000 eine Straftat begangen und wird er im Jahre 2002 verhaftet und vor einen Untersuchungsrichter gebracht, wird die Verjährungsfrist für die Dauer der rechtlichen Prozedur unterbrochen. Sobald dann die Prozedur gegen ihn wieder eingestellt wird, läuft die Verjährungsfrist wieder an, und zwar in der Regel von neuem. 3. Tod und Verjährung. Wir hatten vorhin gesehen, dass Pufendorf zufolge das Prinzip der Verjährung, obwohl es gegen die Billigkeit verstößt, naturrechtlich begründet werden kann, dass eine solche naturrechtliche Begründung aber nicht für eine spezifische Dauer der Verjährungsfrist gefunden werden kann. Nun könnte man allerdings behaupten, dass sowohl die Frist für die Verfolgungs- wie auch die Frist für die Vollstreckungsverjährung ein gewissermaßen

3. Tod und Verjährung

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natürliches Ende haben, und zwar den Tod des Straftäters bzw. des Verurteilten. Mit dem Tod des Betroffenen scheint nämlich sowohl die Verfolgung wie auch die Vollstreckung einer Strafe auf natürliche Weise zu verjähren. Eine erste Frage die sich hier stellt, ist die nach dem Wissen um den Tod des Täters. Sollte der Tod die Grenze der Verjährungsfrist bedeuten, dann müsste der Staat wissen, wann der Täter gestorben ist. Solange die Justizautoritäten dies aber nicht wissen, können sie ihre Ermittlungen auch nicht einstellen. Nun werden die Justizautoritäten aber nicht automatisch über den Tod des Täters informiert und es können manchmal Jahre vergehen, bevor sie hierüber in Kenntnis gesetzt werden. Insofern kann der Tod des Täters nicht als Grenze für die Verjährungsfrist angesehen werden. Was dann noch die Verfolgungsverjährung betrifft, so kommt hinzu, dass die Justizautoritäten entweder den Täter schon ermittelt haben und kennen – und dann müssen sie nach dem bestehenden Strafrecht prinzipiell, von sogenannten Bagatelldelikten abgesehen, gegen ihn vorgehen, und die Verjährung fällt weg –, oder dass sie ihn nicht kennen – und dann wissen sie nicht, wessen Tod sie abwarten müssen, um das Verbrechen als verjährt anzusehen. Wollte man eine natürlich bestimmte Grenze der Verjährungsfrist einführen, so müsste man von der durchschnittlichen Lebensdauer der Menschen ausgehen. In unseren westlichen Ländern liegt diese bei ungefähr achtzig Jahren. Wenn man davon ausgeht, dass die meisten Verbrecher über zwanzig Jahre alt sind, wenn sie ihre Verbrechen begehen, könnte man die natürliche Verjährungsfrist auf sechzig Jahre festsetzen. Wenn man ganz sicher sein will, wird man sie auf hundert Jahre festsetzen. Diese natürliche Verjährungsfrist inspiriert sich nicht an einer Logik des Nicht-mehr-Verfolgen/Bestrafen-Wollen, sondern an einer Logik des Nichtmehr-Verfolgen/Bestrafen-Können. Und das Können ist hier als ein faktisches und nicht als ein rechtliches zu verstehen. Oder genauer noch: Das rechtliche Nicht-mehr-Verfolgen/Bestrafen-Können gründet sich auf ein faktisches Nichtmehr-Verfolgen/Bestrafen-Können. Aber kann man einen Verstorbenen nicht mehr verfolgen und bestrafen? Einen rein logischen Widerspruch impliziert weder der Gedanke des Verfolgens noch derjenige des Bestrafens eines Verstorbenens, zumindest dann nicht, wenn man das in der Strafe enthaltene Übel nicht bloß im Sinne eines physischen oder psychischen Übels interpretiert, und auch den Gedanken eines symbolischen Übels – etwa in der Form des Schädigens des guten Rufs – zulässt. Auch wenn in unseren modernen Rechtssystemen die Toten nicht mehr bestraft werden, kannten frühere Rechtssysteme eine solche posthume Bestrafung. Diese konnte ganz unterschiedliche Formen annehmen. So wurden z. B. die Selbstmörder nicht auf dem öffentlichen Friedhof begraben. Die Verfolgung und Bestrafung eines Toten ist also logisch und faktisch möglich, so dass der Tod nicht unbedingt als natürliche Grenze der Verjährung angesehen werden kann. Das heutige Strafrecht hört auf, im Augenblick des Todes wirksam zu werden. Wenn jemand zu einer zwanzigjährigen Freiheitsstrafe verurteilt wird und nach zwei Jahren stirbt, wird für die verbleibenden achtzehn Jahre keine Ersatzstrafe an der Leiche oder am Ruf des Verstorbenen vollstreckt. In diesem Sinne immunisiert heute der Tod vor strafrechtlichen Konsequenzen.

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Kapitel 6: Die strafrechtliche Verjährung

Aber für den Tod gilt dasselbe wie für die Zeit: Sie besitzen keine ihnen inhärente Immunisierungskraft, sondern diese Kraft kommt ihnen nur aufgrund bestimmter menschlicher Entscheidungen zu. Wer den Standpunkt vertritt, Strafe müsse immer sein, der Staat habe also eine kategorische Strafpflicht, auf deren Ausübung er weder auf Grund einer bestimmten abgelaufenen Zeit noch auf Grund des Ablebens des Täters verzichten darf, wird sich nicht nur einer bestimmten Verjährungsfrist widersetzen – weil sie zu kurz ist –, sondern dem Prinzip der Verjährung als solchen. Mit welchen Argumenten lässt sich dieses Prinzip im Fall des Strafrechts verteidigen? 4. Pragmatische Gründe für die Verjährung. Jedes Jahr finden hunderttausende Verbrechen und Vergehen statt und es werden tausende Menschen zu einer Kriminalstrafe, mit oder ohne Bewährung, verurteilt. Eine ganze Reihe von Straftaten werden relativ schnell aufgeklärt, wenn nicht sogar direkt, wenn der Täter auf frischer Tat ertappt wird, bei anderen dauert es etwas länger und noch andere stellen die Polizeibehörden vor scheinbar unlösbare Rätsel. Sieht man einmal von sogenannten Bagatelldelikten ab – also etwa der Diebstahl einiger Bonbons in einem Krämerladen –, sind die Behörden dazu verpflichtet, alles daranzusetzen, jede Straftat aufzuklären. Auch wenn man die Existenz einer Resultatspflicht leugnet, so besteht doch zumindest eine Mittelspflicht, d. h. eine Pflicht, alle zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen, um die Straftat aufzuklären, wobei diese Mittelspflicht mit der Schlimme des aufzuklärenden Verbrechens wächst. Wenn also etwa ein größerer Diebstahl statt gefunden hat, müssen einige Polizeibeamte sich des Falles annehmen und nach dem Täter fahnden. Hätten diese Beamten nun nichts anderes zu tun, als sich die ganze Zeit mit dem betreffenden Diebstahl zu befassen, wäre ihnen zuzumuten, bis zu ihrer Pensionierung nach dem Täter zu fahnden – und nach der Pensionierung würden dann neue Beamte sich des Falles annehmen, usw. Die Wirklichkeit sieht allerdings ganz anders aus: Zu den alten, noch nicht aufgeklärten Fällen kommen andauernd neue Fälle hinzu, und nach einigen Jahren haben es die Beamten nicht mehr nur mit einem, sondern mit mehreren noch nicht aufgeklärten Fällen von Diebstahl zu tun. Es kommt dann einmal der Punkt, an dem die Beamten neue Fälle nicht mehr aufnehmen können, ohne alte teilweise oder gar ganz zu vernachlässigen. Das Problem könnte natürlich dadurch gelöst werden, dass man die Zahl der Beamten ständig erhöht und für jeden neuen Fall auch neue Beamte einstellt, was allerdings zu einer das Staatsbudget sprengenden Explosion der Kosten im Polizei- und Justizbereich führen würde. Unter diesen Umständen kann die Verjährung als eine pragmatische und kostengünstige Lösung des Problems betrachtet werden. Dies gilt natürlich in erster Linie für die Verfolgungsverjährung. Wo diese Verjährung besteht, wissen die Beamten, dass sie sich ab einem bestimmten Datum nicht mehr um eine bestimmte Straftat zu kümmern haben. Bis zu diesem Datum müssen sie natürlich gewissenhaft nach dem Täter fahnden – wobei sie kurzfristig nach der Tat mehr Zeit und Mittel mobilisieren werden als zwei Jahre nach der Tat, es sei denn, neue Elemente würden auftauchen, durch die eine neue Verfolgungspiste sich öffnet –, doch ab diesem Datum sind sie durch das Gesetz zugleich berechtigt und verpflichtet, nicht mehr nach dem Täter zu fahnden. Und das heißt dann

5. Täterzentrierte Verjährungsgründe

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auch, dass sie mehr Zeit haben, um andere Fälle aufzuklären. Die Verjährung hat also hier eine das Polizei- und Justizsystem entlastende Funktion. Insofern die Verjährungsfrist ganz klar durch ein allgemeines Gesetz festgelegt ist, kann den Beamten keine Willkür vorgeworfen werden, wenn sie nicht weiter nach einem Täter fahnden. Es ist nicht ihr rein persönlicher Wille, eine bestimmte Straftat ad acta zu legen – bestünde ein solcher rechtlich nicht gedeckter Wille, könnten das Opfer oder seine Verwandten klagen –, sondern derjenige des Gesetzgebers – und durch die Anerkennung des Verjährungsprinzips hat dieser keine Verfassungsnorm verletzt. Dass durch die Verjährung bestimmte Straftaten wahrscheinlich nie aufgeklärt werden, ist dann der Preis, wenn wir die hier dargestellte pragmatische Begründung annehmen, den der Gesetzgeber zu zahlen bereit war, um die Aufklärung anderer Straftaten zu begünstigen. Dazu ist zu sagen, dass mit dem Vergehen der Zeit die Arbeit der Ermittlungsbehörden immer schwieriger wird, und damit auch die Aufklärung des Falles. Spuren verschwinden, die Erinnerungen eventueller Zeugen werden unzuverlässiger oder die Zeugen sterben. Je mehr man sich also vom Zeitpunkt der Tat entfernt, umso schwieriger wird es, die nötigen Beweisstücke zusammenzutragen, um einen Strafprozess in die Wege zu leiten und eine Verurteilung zu bewirken. Angenommen die Behörden erhalten im Jahre 2005 einen anonymen Telefonanruf in dem ihnen mitgeteilt wird, X habe im Jahre 1950 als Zwanzigjähriger einen bewaffneten Banküberfall begangen. Bisher hatten sie keinen Grund, X zu verdächtigen. Nun liegt ein solcher Grund vor, zumal der Anrufer genaue Details angibt, die mit anderen, der Polizei bekannten Details übereinstimmen. Doch wie sollen die Beamten bei den Ermittlungen vorgehen? Das Bankgebäude existiert vielleicht nicht mehr; die Kunden, die im Augenblick der Tat in der Bank waren, sind schon vielleicht alle tot, usw. Unter diesen Umständen ist das Risiko ganz groß, dass die Ermittlungen keine Früchte tragen werden. Ein solches Risiko besteht natürlich bei jeder Ermittlung, aber es wächst in der Regel mit dem Verstreichen der Zeit. Diesem Einfluss des Verstreichens der Zeit auf die Erfolgschancen einer Ermittlung hat man durch die Einführung der Verjährung Rechnung zu tragen versucht. Dabei hat man allerdings unterschiedliche Verjährungsfristen festgelegt, und es ist zu bemerken, dass diese sich nicht nach einer Statistik der im Verhältnis zur Ermittlungsdauer festgestellten Ermittlungschancen für die einzelnen Typen von Straftaten richten, sondern nach der Schwere der Straftat. Bei leichteren Straftaten tritt die Verjährung früher ein, bei schwereren Straftaten später, wenn sie nicht sogar ganz ausgeschlossen ist, wie etwa im Fall des Mordes oder bestimmter völkerrechtlich festgelegter Straftaten. Man könnte in diesem Zusammenhang sagen, dass der Staat sich einer größeren Pflicht unterworfen sieht, schwerere als leichtere Verbrechen aufzuklären und ihre Täter vor Gericht zu bringen. 5. Täterzentrierte Verjährungsgründe. Die Verjährung hat Vorteile für das Justizsystem – und damit indirekt auch für neue Opfer von Verbrechen –, aber sie wirkt sich auch positiv für den Täter bzw. den Verurteilten aus, befreit sie den ersten doch von weiteren Ermittlungen gegen ihn und damit von einem Straf-

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Kapitel 6: Die strafrechtliche Verjährung

prozess mit anschließender Verurteilung, und den zweiten von der faktischen Verhängung der Strafe. Aber hat der Täter bzw. der Verurteilte einen moralisch begründeten Anspruch auf Verjährung seiner Straftat oder seiner Strafe? Kann er also normative Gründe geltend machen, die den Staat zumindest prima facie – d. h. unter Absehung anderer, konkurrierender Pflichten, die zu einer Pflichtenabwägung führen könnten – dazu verpflichten, das Prinzip der Verjährung in das Strafrecht zu integrieren? Dass die Verjährung nicht als eine Art Preis angesehen werden kann, dem man dem Täter oder Verurteilten gewährt, weil er es fertig gebracht hat, den Fängen der Justiz während einer bestimmten Zeitdauer zu entkommen, bedarf sicherlich keiner weiteren Diskussion. Aber kann sie nicht auf andere Eigenschaften oder Merkmale des Täters gegründet werden, und zwar auf solche, die eine moralische Tragweite haben und die mit dem Vergehen der Zeit zusammenhängen? Nehmen wir einen extremen Fall. Mit achtzehn Jahren begeht jemand einen Ladendiebstahl. Erst als er hundert ist, kommt heraus, dass er der Täter war. Welche dem Betroffenen inhärenten Gründe könnten es nahe legen, ihn nach zweiundachtzig Jahren nicht mehr strafrechtlich zu verfolgen? Ein erster Grund bezieht sich auf die persönliche Identität des Täters. In seinem Essay concerning human understanding hat John Locke einen forensischen, sprich einen für den Rechtsgebrauch bestimmten Begriff der Person entwickelt. Diesen Begriff wollte Locke von allen möglichen metaphysischen Elementen freihalten, wie er sie etwa im traditionellen Personenbegriff zu finden glaubte, den zuerst Boethius und dann nach ihm Thomas von Aquin formuliert haben. Locke unterscheidet also zwischen der metaphysischen Identität der Substanz – die den natürlichen menschlichen Erkenntnismöglichkeiten radikal entzogen ist – und der forensischen – oder allgemeiner noch: moralischen oder moralisch relevanten – Identität der Person. Lockes forensischer Personenbegriff geht von der Kontinuität des Bewusstseins, und insbesondere des Gedächtnisses aus. Die Person, so Locke im Essay, „erstreckt sich nur durch das Bewusstsein über die jetzige Existenz hinaus und auf das, was vergangen ist, wodurch sie betroffen und zurechnungsfähig wird, sieht als ihre eigenen vergangenen Handlungen an und schreibt sie sich zu, eben auf derselben Grundlage und aus demselben Grund, wie sie es für die jetzigen tut. […] Und deshalb gilt, dass, welche vergangene Handlungen auch immer sie nicht mit dem jetzigen Selbst durch Bewusstsein vereinigen oder ihm aneignen kann, es durch diese Handlungen nicht mehr betroffen sein kann, so als hätten sie nie stattgefunden: Und wegen solcher Handlungen Freude oder Übel, d. h. Lohn oder Strafe zu empfangen ist dasselbe, als ohne jeglichen Verdienst glücklich oder unglücklich erschaffen zu werden“ (Locke 1984: II, XXVII, 26). Eine Strafe, so Lockes Ausgangspunkt, wird nur dann vom Täter als Strafe empfunden, wenn er einen Zusammenhang zwischen dem durch die Strafe verhängten Übel und einer von ihm begangenen Tat herstellen kann. Das „Ich habe die Straftat begangen“ muss jede Erfahrung von Strafe begleiten, damit es sich überhaupt um eine Erfahrung von Strafe handeln kann. Nur wenn der Täter den Grund der Bestrafung durch einen mentalen Akt mit sich selbst hier

5. Täterzentrierte Verjährungsgründe

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und jetzt in Verbindung bringen kann, kann er die Bestrafung als an sich – unabhängig von der Strafhöhe – verdiente und damit auch erst als Bestrafung und nicht bloß als willkürliche Zufügung von Übel betrachten. Locke hat diese Überlegungen zur Identität der Person nicht auf das Problem der Verjährung appliziert, doch lässt sich dies relativ leicht tun. Die Verjährung, so könnte man sagen, trägt der Tatsache Rechnung, dass Menschen sich nicht mehr an bestimmte Straftaten erinnern können, die sie vor langer Zeit begangen haben. Dabei wird man sagen können, dass das Erinnerungsvermögen in der Regel mit der Schwere der jeweiligen Straftat zusammen hängt: Je schwerer eine Straftat, umso länger wird man sich daran erinnern. Wer mit achtzehn Jahren eine CD entwendet hat, wird sich mit achtzig Jahren wahrscheinlich nicht mehr daran erinnern; wer aber mit achtzehn Jahren einen anderen Menschen ermordet hat, wird sich in der Regel auch noch mit achtzig Jahren daran erinnern. Die Verjährung könnte also durch das Prinzip gerechtfertigt werden, dass nur solche Personen bestraft werden sollen, die sich an die ihnen vorgeworfene Straftat als eine von ihnen begangene Straftat erinnern können. Dieses Prinzip wird selbstverständlich durch den empirischen Befund ergänzt werden müssen, dass begangene Straftaten vom Täter vergessen werden können. Anstatt dann jeweils im Einzelfall zu überprüfen – wie würde man das übrigens tun? –, ob ein Angeklagter sich noch tatsächlich an eine ihm vorgeworfene Straftat erinnern kann oder nicht, wird eine bestimmte allgemeine Frist postuliert, und die Dauer dieser Frist steigt mit der Schwere der Straftat. Diese von der (Dis)Kontinuität des Gedächtnisses ausgehende Begründung der Verjährung dürfte nur relativ wenige Täter betreffen, da die meisten Menschen sich ihr Leben lang an die von ihnen begangenen schwereren Straftaten erinnern. Wer mit zwanzig Jahren eine gleichaltrige Frau vergewaltigt, wird sich normalerweise auch noch mit sechzig Jahren daran erinnern. Doch nach vierzig Jahren ist die Straftat längst verjährt. Die Erinnerungsfähigkeit des Täters scheint also nur eine relativ schwache Begründungsbasis für die Verjährung liefern zu können. Aber könnte es nicht sein, dass man nach einer bestimmten Zahl von Jahren den Täter nicht mehr an seine Straftat erinnern will, dass man also die Erinnerung an die Straftat in ihm schlummern lassen und nicht nach vielen Jahren aufwecken will? Denn wenn wir sagen, dass der Täter sich auch noch nach vierzig Jahren an die Vergewaltigung erinnert, so ist damit nur gemeint, dass er sich noch an sie erinnern kann, nicht aber unbedingt, dass er von früh morgens bis spät abends an sie denkt. Dächte er von morgens bis abends daran, so könnte er kein normales Leben mehr führen. Wenn er aber weiß, dass er auch noch nach vierzig Jahren wegen der Vergewaltigung vor Gericht kommen kann, wird er gewissermaßen nicht umhin kommen, oft an seine Tat zu denken. Insofern die Angst vor einer möglichen Festnahme ihn auch noch nach vierzig Jahren begleitet, wird ihm also bis zu einem bestimmten Grad die Möglichkeit genommen, ein normales und geregeltes Leben zu führen. Er muss immer damit rechnen, dass seine Lebenspläne durch eine Festnahme und Inhaftierung durchkreuzt werden. Die Verjährung kommt unter diesen Umständen der Erklärung gleich, dass der Staat ab dem Ablauf der Verjährungsfrist den

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Kapitel 6: Die strafrechtliche Verjährung

Täter sein Leben in Ruhe weiterleben lassen will, mag er sich noch an seine Tat erinnern oder nicht. Hinzu kommt, dass der Täter sich nach vierzig Jahren vielleicht radikal geändert hat , dass aus ihm ein Mensch geworden ist, dessen Lebenswandel in keiner Hinsicht mehr getadelt werden kann. Dieser Wandel ist nicht mit einem Identitätswandel der Person im Lockeschen Sinne zu verstehen. Es geht also nicht darum, dass jemand mit sechzig Jahren für etwas verantwortlich gemacht wird, woran er sich überhaupt nicht mehr erinnern kann, es mit zwanzig Jahren begangen zu haben. Der Wandel betrifft nicht die im strengen Sinne persönliche, sondern die moralische Identität. War der Betroffene – so wollen wir einmal annehmen – mit zwanzig Jahren ein durch und durch böser Mensch, so ist er jetzt, mit sechzig Jahren, ein durch und durch guter Mensch. Soll und darf man den Paulus noch für die Handlungen des Saulus verfolgen und gegebenenfalls bestrafen? Es trifft sicherlich zu, dass Straftäter sich mit der Zeit verändern und dass sie sich manchmal radikal von ihrer kriminellen Vergangenheit distanzieren und zu vorbildhaften Menschen werden. Solche Menschen zu bestrafen wäre dann zumindest aus spezialpräventiver Sicht – die auch, wie die hier diskutierten Verjährungsgründe, täterzentriert ist – unnütz, da ihr Charakterwandel sie nunmehr von weiteren Straftaten abhalten wird. Von den täterzentrierten Gründen scheint uns weder der mögliche Wandel der persönlichen, noch der mögliche Wandel der moralischen Identität der ausschlaggebendste zu sein – sie wären es aber sicherlich, wenn der eine oder andere Wandel in sehr vielen Fällen zu beobachten wäre. Wäre es etwa ein psychologisches Gesetz, dass eine Straftat von der Schwere des Diebstahls nach zwanzig Jahren vollständig aus dem Gedächtnis des Täters verschwindet, bliebe dem Gesetzgeber keine andere Wahl, als solche Straftaten nach zwanzig Jahren verjähren zu lassen. Doch kann das Prinzip der Verjährung sich auf keine solchen Gesetzmäßigkeiten stützen. Solche Fälle sind eher die Ausnahme als die Regel. Nun könnte man natürlich argumentieren, dass man äußerste Vorsicht bei der Anwendung des Strafrechts walten lassen sollte und lieber tausend, die sich nach zwanzig Jahren noch erinnern, ungestraft lassen sollte, als einen einzigen zu bestrafen, der sich nach zwanzig Jahren nicht mehr an die Straftat erinnert. Dieses Argument kann man allerdings leicht ad absurdum führen: Insofern es Fälle gibt, in denen der Täter sich schon gleich in den Tagen nach der Tat nicht mehr daran erinnern kann, sie begangen zu haben, müsste man Straftaten schon nach wenigen Tagen verjähren lassen. Der einzig plausible täterzentrierte Verjährungsgrund besteht sicherlich darin, dass durch die Verjährung einer Straftat bzw. einer Strafe dem Täter die Möglichkeit gegeben wird, Erwartungen aufzubauen, ohne weiterhin das Damoklesschwert einer möglichen Verurteilung oder der Vollstreckung der Strafe über sich hängen zu haben. Dem Täter soll also nach Ablauf einer bestimmten Frist die Möglichkeit gegeben werden, wieder ein ganz normales Leben zu führen und sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Es wäre allerdings zu weit gegriffen, hieraus einen absoluten rechtlichen Anspruch zu konstruieren, und demnach zu sagen, der Staat schulde es dem Täter, seine Tat nach einer

6. Opfer- und gemeinschaftszentrierte Verjährungsgründe

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bestimmten Frist verjähren zu lassen. Einen solchen Anspruch würde nur der Fall einer absoluten Amnesie des Täters begründen können. 6. Opfer- und gemeinschaftszentrierte Verjährungsgründe. Das Argument, dass dem Täter durch die Verjährung die Möglichkeit gegeben wird, wieder ein normales, nicht durch die Angst vor einer möglichen Verhaftung und Bestrafung gekennzeichnetes Leben zu führen, könnte den Einwand hervor rufen, dass die Erinnerungen des Opfers nicht verjähren, zumal dann nicht, wenn die Straftat es in seiner körperlichen oder psychischen Integrität getroffen hat, und dass somit dem Opfer etwas zugemutet wird, das dem Täter nicht zugemutet wird, nämlich bis zum Lebensende mit den Konsequenzen der Tat zu leben. Während für den Täter die Zeit die strafrechtlichen Konsequenzen tilgt, trifft dies nicht für die psychologischen und anderen Konsequenzen zu, die das Opfer betreffen. Dem kann allerdings entgegen gehalten werden, dass es unter Umständen auch für das Opfer gut sein kann, das Blatt ein- für allemal komplett umzudrehen. Mutet man z. B. dem Opfer einer Vergewaltigung nicht zuviel zu, wenn man es etwa nach dreißig Jahren dazu einlädt, in einem Prozess gegen den endlich gefassten mutmaßlichen Täter auszusagen? War es dem Opfer vielleicht geglückt, die Vergewaltigung, wenn nicht ganz zu vergessen, so doch ihre psychischen Konsequenzen weitgehend zu neutralisieren, so sieht es sich in eine Situation versetzt, in der von ihm verlangt wird, sich wieder an den Ablauf der Tat zu erinnern und ihn möglichst genau vor Gericht zu schildern. Es muss also nach dreißig Jahren das traumatische Erlebnis gewissermaßen noch einmal erleben und die geheilten psychischen Wunden können sich dabei wieder öffnen. Durch die Verjährung der Straftat könnte ihm diese Erfahrung erspart bleiben. Um dieser Tatsache Rechnung zu tragen, könnte ein Gegner der Verjährung den Vorschlag machen, dass nach einer bestimmten Frist die Verfolgung einer Straftat nicht mehr automatisch sein, sondern nur noch auf Antrag des Opfers oder seiner Verwandten geschehen sollte. Es stünde also jedem Opfer frei darüber zu entscheiden, ob die Tat nach Ablauf einer bestimmten Frist – die durchaus mit der jetzigen Verjährungsfrist identisch sein kann – noch verfolgt werden soll oder nicht – und dasselbe gilt auch hinsichtlich der Vollstreckung der Strafe. Will das Opfer sich nicht mehr an die vergangenen Erlebnisse erinnern, wird es keinen Antrag stellen. Ein weiteres Argument, das für die Verjährung spricht und bei dem sowohl das unmittelbare Opfer wie auch die Gesellschaft im Mittelpunkt stehen, betrifft die durch die Straftat hervorgerufene Empörung. Diese Empörung, so wird gesagt, legt sich mit der Zeit und kann sogar nach einer genügend langen Frist vollständig abklingen. Mit diesem Abklingen der Empörung, so geht das Argument weiter, verschwindet auch die Notwendigkeit, die Empörung durch die Verhaftung und Bestrafung des Schuldigen zu stillen. Dem zeitlich bedingten natürlichen Erlöschen der Empörung entspricht ein durch die Verjährung eingeführtes künstliches Erlöschen der strafrechtlichen Konsequenzen der Straftat. Dass die Verjährungsfrist sich mit der Schwere der Straftat ausdehnt, wird unter diesen Umständen auch verständlich, ist die Empörung gegenüber einem

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Kapitel 6: Die strafrechtliche Verjährung

schweren Verbrechen doch in der Regel stärker und dauerhafter als gegenüber eines leichten Verbrechens. 7. Die deutsche Verjährungsdebatte. In den sechziger Jahren hat es in der Bundesrepublik Deutschland eine große Debatte über das Problem der Verjährung vergangener Straftaten gegeben. Bedingt war diese Debatte durch die Tatsache, dass im Jahre 1965 alle während der Zeit des Naziregimes begangenen Verbrechen verjährten – sofern sie nicht Gegenstand von Ermittlungen bildeten, die die Verjährungsfrist unterbrachen. Für das im Jahre 1964 geltende StGB gab es nämlich kein Verbrechen, das nicht nach zwanzig Jahren verjährte. Im Falle der während der Nazizeit begangenen Verbrechen begann die Verjährungsfrist am 9. Mai 1945, dem Tag der deutschen Kapitulation. Aufgrund der 1965 geltenden Rechtslage mussten die deutschen Justizbehörden also am 9. Mai 1965 auf die Einleitung neuer Ermittlungen gegen Naziverbrecher verzichten. Diese Situation war für viele Deutsche – aber auch für einen Teil der internationalen Gemeinschaft – unbefriedigend, wenn nicht sogar empörend, garantierte sie doch die Straffreiheit für zahlreiche Ex-Nazis, von denen einige sich äusserst schlimmer Verbrechen schuldig gemacht hatten. Dies führte dazu, dass der Bundestag sich der Sache annahm und am 25. März 1965 das Gesetz über Berechnung strafrechtlicher Verjährungsfristen stimmte. In Artikel 1 des Gesetzes hieß es: „(1) Bei der Berechnung der Verjährungsfrist für die Verfolgung von Verbrechen, die mit lebenslangem Zuchthaus bedroht sind, bleibt die Zeit vom 8. Mai 1945 bis zum 31. Dezember 1949 außer Ansatz. In dieser Zeit hat die Verjährung der Verfolgung dieser Verbrechen geruht. (2) Absatz 1 gilt nicht für Taten, deren Verfolgung beim Inkrafttreten dieses Gesetzes bereits verjährt ist“. Durch dieses Gesetz wurde nicht das Prinzip der Verjährung als solches in Frage gestellt oder gar abgeschafft, sondern die Zeit von der deutschen Kapitulation bis zum Beginn der Bundesrepublik Deutschland galt als Zeit, in welcher die Verfolgungsverjährung ruhte. Stichdatum war demnach nicht mehr der 9. Mai 1945, sondern der 1. Januar 1950, so dass erst ab dem 1. Januar 1970 keine neuen Verfolgungen mehr wegen Naziverbrechen eingeleitet werden konnten. Der deutschen Justiz wurden somit mehr als viereinhalb weitere Jahre gegeben, um die Verfolgung von noch nicht identifizierten Tätern aufzunehmen. Das Gesetz rief rechtliche Bedenken hervor. Auf verfassungsrechtlicher Ebene wurde darauf hingewiesen, dass das Gesetz womöglich Artikel 103, Absatz 2 des Grundgesetzes verletzen konnte, hieß es doch in diesem Absatz: „Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt ist, bevor die Tat begangen wurde“. In diesem Absatz wird das Prinzip der NichtRückwirkung der Strafgesetze festgelegt. Bestraft werden kann man immer nur für eine Tat, die schon im Augenblick ihres Begehens als strafbar galt. Das Bundesverfassungsgericht entschied, dass Artikel 103, Absatz 2 des Grundgesetzes lediglich die Strafbarkeit, nicht aber die Verjährbarkeit von Handlungen betraf: „Art. 103 Abs. 2 GG bestimmt die Voraussetzungen, unter denen ein Verhalten für strafbar erklärt werden kann. Verjährungsvorschriften regeln, wie lange eine für strafbar erklärte Tat verfolgt werden soll. Da sie lediglich die

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Verfolgbarkeit betreffen, die Strafbarkeit hingegen unberührt lassen, fallen sie aus dem Geltungsbereich des Art. 103 Abs. 2 GG heraus; eine Verlängerung oder Aufhebung von Verjährungsfristen kann deshalb nicht gegen diesen Verfassungssatz verstoßen“. Verjährungsfristen konnten demnach rückwirkend geändert werden. Ein anderes rechtliches Bedenken betraf das Prinzip, laut dem immer das mildere Recht anzuwenden ist. Wenn dementsprechend die Verjährungsfrist im Jahre 1965 verlängert würde, so könnte die längere Frist erst für die ab dem Datum der Inkrafttretung des Gesetzes gelten. Für die vor diesem Datum begangenen Straftaten musste das mildere Gesetz gelten, also das Gesetz, das am wenigsten nachteilig für den Angeklagten war. Mildere Gesetze können sich auf vergangene Straftaten erstrecken, strengere Gesetze nicht. Diesem Bedenken begegnete man mit dem Argument, dass das Prinzip des milderen Gesetzes, insofern es nicht Verfassungsrang hatte, zu jeder Zeit durch den normalen Gesetzgeber geändert werden konnte. Es sprach also im Prinzip nichts dagegen, die strengeren Verjährungsbedingungen auch für vergangene Straftaten gelten zu lassen. Das Gesetz vom 25. März 1965 kann als eine provisorische Notlösung betrachtet werden, und es ist nicht verwunderlich, dass das Problem im Jahre 1969, als die am 1.1. 1950 beginnende Verjährungsfrist sich ihrem Ende näherte und eine Verjährung der bis dahin nicht eingeleiteten Verfolgungen gegen NS-Verbrechen wieder auf der Tagesordnung stand, das politische Leben der Bundesrepublik erneut beschäftigte. Inzwischen hatten sich die Vereinten Nationen allerdings am 26. November 1968 auf die Konvention über die Unverjährbarkeit von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit geäußert, und diese Konvention bildete den Hintergrund für die in Deutschland neu beginnende Debatte. Am 26. Juni 1969 stimmte der Deutsche Bundestag eine Änderung des StGB, wobei besonders die Neufassung von Paragraph 66 zu erwähnen ist: „(1) Durch Verjährung werden die Strafverfolgung und die Strafvollstreckung ausgeschlossen. (2) Die Strafverfolgung von Verbrechen nach Paragraph 220a (Völkermord) und die Vollstreckung von Strafen wegen Völkermordes (Paragraph 220a) verjähren nicht“. Für andere Verbrechen betragen die Verjährungsfristen dreißig, zwanzig oder zehn Jahre, je nach der für die Straftat vorgesehene Strafhöhe. Im Kommentar des Gesetzes wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die neuen Bestimmungen auch für alle schon begangenen Taten gelten, die noch nicht verjährt sind. Und da am 26. Juni 1969 die NSVerbrechen noch nicht verjährt waren, konnten aus verjährbaren unverjährbare Verbrechen werden bzw. für die Morde, die nicht unter die Rubrik Völkermord fallen, lief die Frist erst im Jahre 1980 aus. Damit war das rechtliche Problem der Verjährbarkeit der schlimmsten während der Nazizeit begangenen Verbrechen endgültig gelöst. 8. Unverjährbare Verbrechen. Der Gedanke, dass es bestimmte Verbrechen gibt, die nicht verjähren sollen, ist nicht neu – man findet ihn etwa schon bei Jeremy Bentham. Im Rahmen einer Strafrechtsphilosophie die vom Prinzip ausgeht, dass jedes Verbrechen bestraft werden muss, da die Idee der Gerechtig-

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keit – und kein mit der Strafe zusammenhängender Zweck – dies verlangt, sind automatisch alle Verbrechen und auch jede Strafvollstreckung unverjährbar, auch wenn sie nicht ausdrücklich als solche gekennzeichnet werden. Die Verjährung würde in einem solchen Fall dem kategorischen Strafimperativ widersprechen. Eine solche ausdrückliche Kennzeichnung findet man meistens nur dann, wenn bestimmte Straftaten verjähren können. Von diesen verjährbaren Straftaten – und gewöhnlich fallen die meisten Straftaten unter diese Kategorie – werden dann die unverjährbaren Straftaten explizit abgehoben. Es lassen sich im Grunde zwei Extrempositionen unterscheiden: Auf der einen Seite gibt es diejenigen, die für keine Straftat die Verjährung zulassen wollen, während es auf der anderen Seite diejenigen gibt, die das Prinzip der Verjährung für jede Straftat vorsehen, wobei allerdings die jeweilige Verjährungsfrist mit der Schwere der Straftat variert. Die Anhänger dieser zweiten Position haben natürlich die Möglichkeit, die faktische Unverjährbarkeit unter dem Deckmantel der rechtlichen Verjährbarkeit einzuführen, nämlich dadurch, dass sie für bestimmte Straftaten eine Verjährungsfrist von hundert Jahren vorsehen. Zwischen diesen beiden Positionen gibt es die Möglichkeit, bestimmte Straftaten als verjährbar und andere als unverjährbar zu betrachten. Die Grenzziehung zwischen diesen beiden Arten von Straftaten erfolgt gewöhnlich, wie übrigens auch im Falle der Festlegung der Verjährungsfristen, gemäß dem Prinzip der jeweiligen Schwere des Verbrechens. Wo man nicht automatisch alle Straftaten als unverjährbar ansieht, wird man diejenigen für unverjährbar erklären, die besonders schwer sind, wie etwa der Mord. Bei diesen Straftaten scheinen alle Argumente, die zu Gunsten der Verjährung vorgebracht werden können, nicht zu greifen. Neben dem gemeinen Mord, den das StGB für unverjährbar erklärt, gibt es noch die durch das Völkerstrafgesetzbuch aufgelisteten Straftaten, die allesamt unverjährbar sind, sowohl was die Verfolgung wie auch was die Strafvollstreckung betrifft, wie es ausdrücklich in Paragraph 5 des besagten VStGB heißt. Die Unverjährbarkeit trifft somit nicht nur besonders abscheuliche internationalrechtliche Verbrechen, wie etwa der Völkermord, sondern auch Diebstahl, der während militärischer Operationen begangen wird, ohne dass er einem militärischen Ziel dient. Paragraph 9 des VStGB sieht für solche Handlungen eine Freiheitsstrafe von einem bis zehn Jahren vor. Würde hier die Logik des StGB walten, müsste die Verfolgung einer solchen Handlung nach spätestens zehn Jahren und die Strafvollstreckung nach spätestens zwanzig Jahren erlöschen. Das VStGB scheint nicht so sehr die abstrakte Schwere der Straftat zu berücksichtigen, als vielmehr den Kontext: Ein während kriegerischer Operationen durch Schutzbefohlene begangener Diebstahl ist weitaus schlimmer als ein in Friedenszeiten durch ein beliebiges Individuum begangener Diebstahl. Wird die Verjährbarkeit oft durch das Argument gerechtfertigt, dass die Zeit die Wunden heilt und dass man nach der Heilung der Wunden diese nicht wieder frisch zum Bluten bringen sollte, liegt der Unverjährbarkeitserklärung der Gedanke zu Grunde, dass bestimmte Wunden niemals heilen werden oder zumindest solange nicht heilen werden, bis derjenige gefasst, verurteilt und bestraft wurde, der die Wunden zugefügt hat. Auch gilt der Gedanke, dass

8. Unverjährbare Verbrechen

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bestimmte Straftaten derart empörend sind, dass die Empörung auch noch nach fünfzig Jahren nicht abgeklungen sein wird. Und dies gilt vor allem dann, wenn die Straftat nicht nur, wie es bei den allermeisten Straftaten wohl der Fall sein dürfte, einen einzelnen Menschen in seinem konkreten, empirischen Dasein, sondern wenn sie die Menschheit als solche im konkreten Individuum treffen wollte. So schreibt etwa der französische Philosoph Vladimir Jankélévitch: „Wenn eine Handlung das Wesen des Menschen als Menschen verneint, würde die Verjährung, die dazu neigte, sie im Namen der Moral zu verzeihen, der Moral selbst widersprechen“ (Jankélévitch 1986: 25). Jankélévitch stellt hier nicht die Verjährung als solche in Frage, sondern ihre Gültigkeit für bestimmte Fälle, für Verbrechen, die „das Wesen des Menschen als Menschen“ verneinen. Wo ein der Zeit enthobenes Objekt – in diesem Fall die Menschheit des Menschen – getroffen ist, kann der Zeit keine die rechtlichen Konsequenzen vertilgende Charakteristik zugeschrieben werden. Betroffen ist nicht die wandelbare Psyche eines konkreten Individuums, sondern das ewige Bewusstsein der Menschheit als solcher. Die Straftat ist dann kein bloß kontingent-empirisches Ereignis mehr, sondern sie erhält eine ontologische Dichte, die sie der Zeitlichkeit enthebt. Diese ontologische Dichte trifft Jankélévitch zufolge auch die Täter selbst. Für ihn ist der an den Juden verübte Völkermord das Produkt einer ontologischen, an keinen innerweltlichen Zweck gebundenen Bosheit (Jankélévitch 1986: 22). Damit kann dann aber keine Rede mehr davon sein, dass die Verjährung einer möglichen moralischen Besserung des Täters Rechnung trägt. Bei bestimmten Tätern ist die Bosheit kein oberflächliches Merkmal, das mit der Zeit gekommen ist und mit der Zeit auch wieder vergehen kann, sondern es handelt sich um eine ontologische Grundbestimmung, um ein radikal Böses im Sinne Kants. Damit ist auch das Skandalhafte der Tat kein empirisches, psychologisches Phänomen, sondern etwas Unvergängliches. Die mit der Shoah verbundene Empörung darf nicht abklingen, und demnach darf auch keine Verjährung den Eindruck erwecken, als ob diese Empörung abklingen könnte, so die Überlegung Jankélévitchs. Die strikte Anwendung des Prinzips der Unverjährbarkeit kann zu Situationen führen, in denen ein Achtzig- oder Neunzigjähriger vor Gericht gebracht und zu lebenslanger Haft verurteilt wird, und zwar für Verbrechen, die er vor sechzig oder siebzig Jahren begangen hat. Bei solchen Prozessen geht es allerdings oft nicht darum, dass der Schuldige bestraft wird. Der Prozess soll vielmehr die vergangenen Ereignisse wieder ins Bewusstsein rufen und damit die kollektive Identität der Opfer erneut behaupten. Der Ruf nach Unverjährbarkeit könnte somit ein Ruf nach öffentlichen Erinnerungsmöglichkeiten sein, wobei die rechtliche Verjährung als etwas gedeutet wird, das ab einem bestimmten Zeitpunkt die Möglichkeit zum Erlöschen bringt, seine Opferidentität in der rechtlichen Sphäre zu behaupten. Ausser vielleicht dort wo er durch Rachegefühle genährt wird, ist der Ruf nach der Unverjährbarkeit bestimmter Straftaten nicht so sehr ein Ruf nach unbedingter Bestrafung der Täter, als vielmehr ein Ruf nach angemessener rechtlicher Anerkennung eines Opferstatus, wobei nicht das Individuum, sondern der Mensch im Individuum das Opfer ist.

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Kapitel 6: Die strafrechtliche Verjährung

Literaturverzeichnis Jankélévitch, Vladimir, L’imprescriptible. Pardonner? Dans l’honneur et la dignité, Paris: 1986. Locke, John, An essay concerning human understanding, Oxford: 1984. Ost, François, le temps du droit, Paris: 1999. Pufendorf, Samuel, Le droit de la nature et des gens, Caen: 1987. Französische Übersetzung von De iure naturae et gentium. Vogel, Rolf (Hrsg.), Ein Weg aus der Vergangenheit. Eine Dokumentation zur Verjährungsfrage und zu den NS-Prozessen, Frankfurt am Main/Berlin: 1969.

Kapitel 7 Amnestie 1. Der Begriff der Amnestie. Das Wort „Amnestie“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet wortwörtlich „sich nicht mehr Erinnern“. Es ist mit einem anderen, geläufigen Wort verwandt, nämlich mit „Amnesie“. Die Amnesie ist ein teilweiser oder vollständiger Verlust der Fähigkeit, Informationen zu speichern bzw. schon gespeicherte Informationen wieder zu aktivieren. Sie kann ganz unterschiedliche Ursachen haben und entweder anatomisch – Zerstörung bestimmter Teile des Gehirns –, psychologisch – emotionaler Schock – oder chemisch – Einnahme bestimmter Substanzen – bedingt sein. Bestimmte Formen von Amnesie können medizinisch behandelt werden. Was die Amnestie wesentlich von der Amnesie unterscheidet ist die Tatsache, dass letztere ein Ereignis ist, das die Erinnerungsfähigkeit trifft und dort Schaden anrichtet, während die Amnestie ein befohlenes Vergessen ist. Man könnte auch sagen, dass die Amnesie unmittelbar das Innere des Menschen betrifft, wohingegen die Amnestie nur die äußeren Handlungen betrifft. Die äußeren Handlungen sollen einen nicht-existenten, aber erwünschten, und deshalb auch befohlenen Zustand der Nicht-Erinnerung vortäuschen. Oder anders gesagt: In ihrer allen gemeinsamen sozialen Welt – oder doch zumindest in bestimmten Sphären dieser Welt – sollen die Menschen sich so verhalten, als ob sie in ihrer je individuellen mentalen Welt die zu vergessenden Ereignisse tatsächlich vergessen hätten. Perfekt wäre die Amnestie, wenn man aufgrund des Befehls zu vergessen wirklich vergessen würde, wenn der bloße Befehl also von sich aus jede zu vergessende Erinnerung tilgen würde – und die Erinnerung an den Befehl wäre auch eine zu tilgende Erinnerung. Nur lässt sich das menschliche Erinnerungsvermögen nicht auf diese Weise durch bloße Befehle beeinflussen. Im Gegenteil, und das ist sozusagen dann auch das Paradox der Amnestie, indem ein Befehl uns sagt, was wir zu vergessen haben, erinnert uns dieser Befehl an das, woran wir uns nicht erinnern sollten. Würde der Amnestiebefehl ein wirkliches Vergessen fordern, würde er durch die sprachliche Artikulierung des zu Vergessenden seinem eigenen Zweck entgegen wirken. Einem solchen Widerspruch mit sich selbst entgeht er nur dadurch, dass er kein wirkliches, sondern lediglich ein als-ob Vergessen verlangt. Mag auch das private Individuum in seiner jedem Zwang entzogenen Mentalsphäre sich an die Ereignisse erinnern, so soll doch der Bürger, also der Mensch als Mitglied einer politischrechtlichen Gemeinschaft, sich nicht mehr an die Ereignisse erinnern. Die Amnestie verlangt also vom Einzelnen, dass er sich als Bürger in der Gemeinschaft anders verhält, als er es aufgrund der ihn als Privatperson bestimmenden Erinnerungen tun würde. Um ein solches Verhalten herbeizuführen, kann die Amnestie sich durchaus auf das Strafgesetz stützen, und eine Strafe für denjenigen vorsehen, der sich im öffentlichen Leben nicht so verhält, als habe er das zu Vergessende vergessen. Die m.E. beste Definition der Amnestie hat Hegel in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts gegeben, wobei er aber im Haupttext die Wirkungen der

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Kapitel 7: Die strafrechtliche Amnestie

Gnade mit denjenigen der Amnestie verwechselt. Hegel schreibt: „Aus der Souveränität des Monarchen fließt das Begnadigungsrecht der Verbrecher, denn ihr nur kommt die Verwirklichung der Macht des Geistes zu, das Geschehene ungeschehen zu machen und im Vergeben und Vergessen das Verbrechen zu vernichten“. Im Zusatz sagt er dann: „Die Begnadigung ist die Erlassung der Strafe, die aber das Recht nicht aufhebt. Dieses bleibt vielmehr, und der Begnadigte ist nach wie vor ein Verbrecher; die Gnade spricht nicht aus, dass er kein Verbrechen begangen habe“ (Hegel 1995: Par. 282). Die Begnadigung erstreckt sich nicht weiter als die Strafe, die sie teilweise oder ganz erlassen kann. Die Amnestie erstreckt sich auch jenseits der Strafe, nämlich auf das, was zu einer Strafe Anlass geben könnte, also auf die Straftat. Dabei ist es selbstverständlich, dass die Amnestie das Geschehene nicht im wortwörtlichen Sinn ungeschehen machen kann. Die Macht des Geistes – wie auch immer Hegel sie konzipieren mag – erstreckt sich nicht auf die physikalische Existenz vergangener Handlungen. Sie erstreckt sich nur auf die Berücksichtung dieser Handlungen in der Welt des Geistes, und da vor allem, aber nicht unbedingt ausschließlich, in der Welt des Rechts. Solange keine Amnestie proklamiert wurde, kann die Welt des Rechts, und vor allem die Welt des Strafrechts, sich an die Handlungen erinnern und auf Grund dieser Erinnerungen handeln – und d. h. ganz konkret, im Falle von Straftaten die Maschinerie des Strafrechts in Gang setzen. Sobald aber eine Amnestie proklamiert wurde, muss die Welt des Strafrechts – wenn es sich um eine strafrechtliche Amnestie handelt – so tun, als sei nichts geschehen. Durch die Amnestie ist zwar nicht die individuelle Erinnerung an das Verbrechen vernichtet, wohl aber das Verbrechen als etwas, wovon die Welt des Rechts Kenntnis zu nehmen hätte. Wenn das Individuum, das Opfer der amnestierten Straftat wurde, an die Welt des Strafrechts mit seiner Erinnerung herantritt, findet es dort kein Echo, weil die Welt des Rechts nichts kennt – und nichts kennen darf –, was dem Inhalt der Erinnerung des Individuums entspricht. Zu einer Begnadigung kann es erst kommen, nachdem der Angeklagte zu einer Strafe verurteilt wurde, und d. h., nachdem die Welt des Rechts ihn als Verbrecher bestimmt hat. Die Gnade lässt, wie Hegel es ganz richtig in seinem Zusatz anmerkt, die Identität des Verbrechers als Verbrechers unangetastet. Das Verbrechen bleibt, trotz des Begnadigungsaktes, in der Erinnerung der Rechtswelt. Im Falle der Amnestie ist es anders, erfolgt diese doch gewöhnlich vor dem Strafprozess – den sie verhindern will. Hier wird also der Welt des Rechts die Möglichkeit genommen, überhaupt jemanden als Verbrecher zu bestimmen. Insofern ist die Amnestie ein weit größerer Eingriff in die normale Prozedur des Strafrechts als es die Gnade ist. Das ist sicherlich einer der Gründe, warum die Amnestie immer nur durch ein Gesetz eingeführt werden kann, also durch eine Entscheidung der gesetzgebenden, in unseren modernen Demokratien das gesamte Volk vertretenden Gewalt, wohingegen für die Gnade schon ein Erlass des Hauptes der exekutiven Gewalt genügt. Je bedeutender der politische Eingriff in das Leben des Rechts ist, um so größer muss die Autorität und Legitimität der eingreifenden Macht sein. Deshalb haben einige Länder – wie neulich etwa Algerien –, ein Referendum veranstaltet, um ein Amnestie-

2. Amnestiearten

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gesetz gut heißen zu lassen. Ein zweiter Grund besteht darin, dass die Gnade im Prinzip immer bestimmten, im voraus bekannten Personen gewährt wird, wohingegen die Amnestie für bestimmte Straftaten gilt, deren Autoren nicht unbedingt im Augenblick der Abstimmung des Amnestiegesetzes bekannt sind. Die Gnade ist also partikular, während die Amnestie allgemein ist. Und da in unserem politischen System allgemeine Entscheidungen prinzipiell nur durch die gesetzgebende, und partikulare Entscheidungen prinzipiell nur durch die exekutive Gewalt getroffen werden können, kann die Amnestie immer nur Gegenstand eines Gesetzes und die Gnade nie Gegenstand eines Gesetzes sein. Gary Smith meint, die Amnestie sei „ein Rechtsbegriff fast ohne rechtliche Füllung, der paradoxerweise gerade im Übergang zum Rechtsstaat rechtsstaatliche Normen außer Kraft setzt“ (Smith 1997: 13). Die Amnestie ist eine Institution des öffentlichen Rechts und kann entweder durch die Verfassung selbst – wie im Falle Südafrikas – oder durch ein normales Gesetz vorgesehen sein. Die Amnestie ist also keine supralegale, das bestehende Normensystem sprengende Maßnahme, sondern sie fügt sich dem Rechtssystem ein. Allerdings, und darin sieht Gary Smith das Paradox der Amnestie, fügt sie sich diesem System ein, um ein anderes, für den Rechtsstaat wichtiges Prinzip außer Kraft zu setzen, nämlich das Prinzip, dass jedes Opfer eines Verbrechens die Möglichkeit haben muss, sich an ein Gericht zu wenden und von diesem gehört zu werden. Die Frage die sich dann in diesem Zusammenhang stellt ist, ob es Bedingungen geben kann, unter denen es gerechtfertigt sein kann, das Recht des Opfers auf einen gegen den Täter gerichteten Strafprozess zu missachten. 2. Amnestiearten. In einem auf Internet einsehbaren Beitrag – jung.jura. uni-sb.de (eingesehen am 30.4.2001) – , hat Herr Stud.jur. Schwarz von der Universität Saarbrücken eine in mancher Hinsicht sehr nützliche, in anderer Hinsicht allerdings etwas verwirrende Übersicht über Amnestiearten gegeben. Verwirrend ist diese Übersicht insofern, als man nicht klar erkennt, was das principium discriminationis sein soll. Hier die von ihm unterschiedenen Arten: Rechtskonstituierende/rechtsperpetuierende Amnestie, Jubelamnestie, Zweckamnestie, Annexamnestie, Appellamnestie, Schlussstrichamnestie, Befriedungsamnestie, Rechtskorrekturamnestie, Bundes-/Landesamnestie, Spezial-/Generalamnestie, Voll-/Teilamnestie, politische Amnestie, offene/verdeckte Amnestie, Weihnachtsamnestie. Als Unterscheidungskriterium kann man die mit der Amnestie verfolgten Zwecke nehmen: eine Amnestie kann den Zweck haben, zum Wiederaufbau einer Rechtsgemeinschaft beizutragen, oder aber, einen Schlußstrich unter einen Krieg zu setzen, oder noch, wie es bei Amnestien in Steuersachen der Fall sein kann, ausserhalb der Landesgrenzen angelegtes Geld wieder ins Land kommen zu lassen. Ein anderes Unterscheidungskriterium betrifft die Straftaten, die amnestiert werden sollen: entweder alle Straftaten, also auch die rein ökonomisch motivierten, oder nur alle politisch motivierten Straftaten. Ein weiteres Kriterium betrifft den Anlass zur Amnestie: Weihnachten, die Wahl eines Präsidenten, Nationalfeiertag, usw. – wobei allerdings hier der Unterschied zwischen einer Amnestie und einer kollektiven Begnadigung – z. B. einem Straferlass für alle

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Kapitel 7: Die strafrechtliche Amnestie

diejenigen, die noch weniger als einen Monat Freiheitsstrafe absitzen müssen – gemacht wird. Zu unterscheiden wären dann noch bedingte und bedingungslose Amnestien. Fordern letztere keine Handlung des Amnestierten, so werden bedingte Amnestien erst wirksam, wenn der Kandidat für die Amnestie eine bestimmte Bedingung – z. B. die Enthüllung bestimmter Fakten – erfüllt. Man könnte aber auch versuchen, Amnestiearten dadurch zu unterscheiden, dass man die Gebiete des sozialen Lebens unterscheidet, auf die sie sich beziehen. Ohne zu behaupten, dass dieses Unterscheidungskriterium das einzig richtige wäre, soll doch im folgenden kurz versucht werden, es darzustellen. Wir hätten erstens die strafrechtliche Amnestie. Es ist die wohl bekannteste und auch bedeutendste Form der Amnestie. Wer in ihren Genuss kommt, braucht sich nicht mehr strafrechtlich für seine Handlungen zu verantworten, da entschieden wurde, dass die Erinnerung an diese Handlungen aus der Welt des Strafrechts verschwinden sollte. Es darf also kein Gericht mehr von den Handlungen Kenntnis nehmen. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich bei den amnestierten Straftaten um politisch motivierte Entführungen, um illegale Parteispenden oder um größere Steuerhinterziehungen handelt. Wichtig ist nur, dass die amnestierten Handlungen strafrechtlich relevante Handlungen sind und dass die Amnestie dementsprechend Konsequenzen für die strafrechtlichen Prozeduren hat. Eine zweite Form wäre die zivilrechtliche Amnestie. Bemüht sich das Strafrecht darum, den Täter zu bestrafen, so tritt das Zivilrecht auf den Plan, wenn es darum geht, den Täter dazu zu verurteilen, den von ihm verursachten Schaden wieder gutzumachen. Wird neben der strafrechtlichen auch eine zivilrechtliche Amnestie proklamiert, haben die Opfer keine Möglichkeit mehr, einen Ersatz des von ihnen erlittenen Schadens zu beanspruchen, da die Erinnerung an einen verursachten Schaden aus der Welt des Zivilrechts verschwunden ist. Rein physikalisch gesprochen ist der Schaden natürlich immer noch da – etwa unter der Form eines abgebrannten Hauses –, aber für das Zivilrecht gibt es niemanden mehr, der für diesen Schaden verantwortlich und damit auch dafür haftbar gemacht werden könnte. Bei diesen zwei ersten Arten der Amnestie ist die Welt des Rechts betroffen. Die Adressaten einer solchen Amnestie müssen nicht unbedingt die einzelnen Bürger sein, sondern es genügt, wenn der Adressatenkreis sich auf die Staatsanwälte und auf die Richter beschränkt. Diesen Instanzen kann durch ein Amnestiegesetz verboten werden, von Klagen seitens der Opfer Kenntnis zu nehmen und sie zum Anlass einer rechtlichen Prozedur zu machen. Die im individuellen Gedächtnis des Opfers präsenten Taten können somit nicht ins rechtliche Gedächtnis treten bzw. sind sie durch das Amnestiegesetz daraus entfernt worden. Denn indem die Straftat begangen wurde, ist sie zu einem Bestandteil – wenn auch einem unbewussten, solange sie unentdeckt blieb – des rechtlichen Gedächtnisses geworden. Durch die Amnestie soll sie endgültig aus diesem Gedächtnis entfernt werden. Weder die straf-, noch die zivilrechtliche Form der Amnestie brauchen mit strafrechtlichen Sanktionen gegenüber normalen Bürgern versehen zu werden. Ein einfacher Bürger kann übrigens weder die eine, noch die andere Form

2. Amnestiearten

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von Amnestie verletzen. Zumindest solange nicht, wie das Amnestiegesetz sich darauf beschränkt, den Gerichten und anderen Instanzen zu verbieten, bestimmte Klagen anzunehmen. Wenn die rechtlichen Formen der Amnestie auch den Verbot beinhalten, sich an eine straf- oder zivilrechtliche Instanz zu wenden, können sie selbstverständlich auch von einfachen Bürgern verletzt werden. Neben diesen zwei rechtlichen Formen der Amnestie gibt es noch eine nicht-rechtliche, soziale Form der Amnestie. So kann etwa das Amnestiegesetz fordern, dass die amnestierten Straftaten nicht in der Öffentlichkeit evoziert werden dürfen. Es wird also jedem verboten, in der Öffentlichkeit über das zu sprechen, was amnestiert wurde. Was in vielen individuellen Gedächtnissen präsent ist, darf nicht Teil des öffentlichen Gedächtnisses werden – das selbstverständlich mehr ist als die Summe der vielen einzelnen Gedächtnisse. Das heißt dann u. a. auch, dass keine Monumente errichtet werden dürfen, die an die Opfer der amnestierten Handlungen erinnern sollen. Auch darf niemand einem Täter in der Öffentlichkeit vorwerfen, eine der amnestierten Straftaten begangen zu haben. Eigentlich dürfte sogar niemand dem Täter gegenüber einen Satz äußern wie: „Sei froh, amnestiert worden zu sein“. Denn dadurch wirft er dem Täter implizit die Straftat vor, die amnestiert worden ist. Diese soziale Form der Amnestie kann mit Strafen für ihre Verletzung versehen werden. Eine vierte Form der Amnestie betrifft die Wahrheitssuche. Verbietet die soeben genannte evokatorische Form der Amnestie, schon im individuellen Gedächtnis präsente Straftaten zu erwähnen und Straftäter zu benennen, so zielt die Amnestie hinsichtlich der Wahrheitssuche darauf ab, weitere Nachforschungen durchzuführen, durch die neue Fakten ihren Eingang ins individuelle oder kollektive Gedächtnis finden könnten. Man weiß also z. B., dass an einem bestimmten Ort etwas Schreckliches stattgefunden haben muss, es wird einem aber verboten, das bisher noch Unentdeckte ans Tageslicht und damit ins Gedächtnis zu bringen. Im Jahre 1965 hat ein Pariser Berufungsgericht in einem Urteil festgehalten, dass die Historiker gegen eine mögliche Verletzung von Amnestiegesetzen immun seien. Stéphane Gacon zitiert folgende Passage des Urteils: „Wenn man einem Historiker untersagen würde, das Verhalten von Personen zu erwähnen, die an den von ihm dargestellten Ereignisse teilgenommen haben, allein weil die strafrechtliche Verurteilung dieses Verhaltens amnestiert worden ist, dann wäre jede ernsthafte historische Forschung unmöglich“ (zitiert in: Gacon 2002: 42–3). Für die Pariser Richter zählt nicht nur die Erwähnung der Tatsachen, sondern auch das Motiv, das zu dieser Erwähnung geführt hat. Ein Opfer erwähnt gewöhnlich die amnestierten Handlungen, um auf die Ungerechtigkeit der Handlungen – und der Amnestie – hinzuweisen. Dem Historiker geht es hingegen meistens lediglich darum, die Ereignisse zu rekonstruieren. Aber wie will man eine adäquate Rekonstruktion zu Stande bringen, wenn man nicht alle Tatsachen erwähnen und nicht alle Namen nennen darf? Gacon weist darauf hin, dass der französische Gesetzgeber in den 80er Jahren den Eindruck erweckte, als wolle er die ‚Historikerausnahme‘ explizit abschaffen. Ein Amnestiegesetz vom 4. August 1985 verbietet es z. B. „jeder Person“, die amnestierten Ereignisse in Erinnerung zu rufen. Aufgrund dieses

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Gesetzes wurden Journalisten aber auch Historiker verurteilt, weil sie amnestierte Tatsachen in der Öffentlichkeit erwähnt hatten. Die eben gemachte Unterscheidung zwischen verschiedenen Amnestiearten erlaubt, zwischen mehr oder weniger weit gefassten Amnestien zu unterscheiden und damit erlaubt sie auch eine Unterscheidung zwischen mehr oder weniger radikalen Eingriffen in die öffentliche Identität des Opfers. Sie lässt auch die Möglichkeit bestimmter Kompensationen durchblicken: So kann etwa eine weitgehende strafrechtliche Amnestie dadurch kompensiert werden, dass den Opfern die Möglichkeit gegeben wird, sich im öffentlichen, nicht-rechtlichen Raum als Opfer darzustellen und die Erinnerung an ihre Leiden wach zu halten – z. B. durch das Errichten von Gedenkstätten. 3. Die athenische Amnestie. Nach diesen allgemeinen und einleitenden Bemerkungen zur Amnestie, wollen wir uns in den vier nächsten Punkten mit konkreten Beispielen aus der fernen und nahen Geschichte befassen. Wir beginnen mit der ersten uns überlieferten Amnestie, nämlich der athenischen. Im Jahre 404 v. Chr. kommt es zum Sturz der athenischen Demokratie und die sogenannten Dreißig übernehmen die Macht und bilden eine Oligarchie, die das Wohlwollen Spartas genießt. Sich auf einen relativ kleinen Teil der freien athenischen Bevölkerung stützend, errichten die Dreißig ein Terrorregime, dem schätzungsweise 2500 Einwohner zum Opfer fallen, und zwar werden sie ohne weitere Formalitäten umgebracht – meistens um an ihren Besitz zu kommen. Viele andere Athener werden verbannt. Unter der Führung von Thrasybulos, gelingt es den im Exil lebenden Anhängern der Demokratie, eine Streitmacht auf die Beine zu bringen, die 403 ihren ersten großen Erfolg bei der Schlacht um den Piräus feiern kann. Die Dreißig werden durch die Zehn ersetzt, ohne dass Athen aber wieder demokratisch wird. Hatte Sparta bis dahin die Oligarchen unterstützt, sieht der spartanische König Pausanias ein, dass die Zeit für einen Kompromiss gekommen ist. Unter seiner Schirmherrschaft kommt es zu einem Friedensschluss, der auch eine Amnestieklausel enthält. Den meisten ‚Kollaborateuren‘ der Dreißig und der Zehn wird die Möglichkeit gegeben, sich unbehelligt nach Eleusis zurückzuziehen. Ihr Eigentum und ihre bürgerlichen Rechte bleiben unangetastet. Ausgenommen von der Amnestie sind allerdings alle diejenigen, die sich eines Blutverbrechens schuldig gemacht haben. Solche Verbrechen transzendieren nämlich die menschliche Sphäre und gehen auch die Götter und die ewige Ordnung etwas an. Insofern steht es nicht in der Macht der Menschen, sie ungesühnt zu lassen. Das heißt konkret, dass auf jeden Fall die Elf, die den Oligarchen als Henker dienten, nicht unter die Amnestie fallen. Was dann die Dreißig und die Zehn betrifft, müssen sie sich einer Prozedur unterwerfen, in denen sie nachweisen müssen, dass sie keine Schuld an den ihnen vorgeworfenen Straftaten tragen. Man ist also bereit, sie für ihre bloße Teilnahme an dem oligarchischen Herrschaftsgremium zu amnestieren, aber nicht für etwaige Verbrechen, mit denen sie direkt in Verbindung stehen. Im Jahre 401 schicken die auf Eleusis Verbannten einige Gesandte nach Athen, um zu verhandeln. Da die Athener den Eindruck haben, dies sei der erste Schritt eines Wiedereroberungsversuchs, richten sie die Gesandten einfach hin und schicken dann selbst eine Delegation nach Eleusis. Diese, so Xenophon

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in den Hellenica, setzte sich zusammen aus Freunden und Verwandten der Verbannten. Diesen gelingt es, eine Wiederversöhnung herbeizuführen: „Sie versprachen, nicht wegen der erlittenen Übel nachtragend zu sein, und noch heute nehmen sie zusammen an der Regierung teil und das Volk bleibt seinen Versprechen treu“ (Xénophon 1967: II, IV, 43). Hätten die Ereignisse ihren – zumindest damals – normalen Lauf genommen, wären die Kollaborateure der Oligarchen wenn nicht niedergemetzelt, so doch bestraft worden. Und selbst wenn sie nicht bestraft worden wären, so hätte das Zusammenleben der Anhänger der Demokraten und derjenigen der Oligarchen zu gefährlichen Spannungen in Athen geführt. Xenophon zufolge ist es aber nicht zu solchen Spannungen gekommen. Und auch Plato zeichnet uns im Menexenos ein doch eher idyllisches Bild der mit sich selbst befriedeten Stadt: „Denn wie freundlich und brüderlich vereinigten sich die Bürger aus dem Peiraieus und aus der Stadt, und den übrigen Hellenen ganz gegen ihre Hoffnung, und mit welcher Mäßigung machten sie den Krieg gegen die in Eleusis ab! Und von diesem allem ist nichts anderes Ursache, als jene wirkliche Verwandtschaft, welche eine zuverlässige und stammesbrüderliche Freundschaft nicht durch Worte nur, sondern durch die Tat begründet. […] Denn nicht aus Schlechtigkeit sind sie mit einander handgemein geworden, noch aus Feindschaft, sondern durch Mißgeschick“ (Platon 2004: 244AB). Für Plato gibt es dementsprechend zwei Faktoren, die die Amnestie unterstützt haben. Auf der einen Seite erwähnt er die jenseits der Spaltungen, von Natur aus bestehende Verwandtschaft zwischen den Athenern. Mag die Stadt sich auch in zwei einander gegenüberstehende Parteien aufgeteilt haben, so blieben trotz dieser Spaltung immer noch die verwandtschaftlichen Beziehungen bestehen. Auf ihnen konnte sich eine von der Amnestie vorausgesetzte Versöhnung gründen. Wie Maurizo Bettini in seinem Aufsatz ‚Sul perdono storico. Dono, identità, memoria e oblio‘ schreibt, mussten die Athener bestimmte Identitäten zugunsten anderer opfern oder vergessen: „Die von Thrasibulos vorgeschlagene und durch einen Schwur besiegelte Versöhnung könnte wie folgt schematisiert werden: wenn er sich ‚identifiziert‘, darf der Bürger A unter den ihm zur Verfügung stehenden identitären Beziehungen nicht diejenigen wählen, die ihn als ‚Opfer‘ oder als ‚Feind‘ von B definieren; sondern diejenigen, die ihn eher als Verwandter, Nahestehender, hetairos von B identifizieren, oder als einer gemeinsamen Gruppe angehörend, die dieselbe Gottheit anbetet“ (Bettini 2001: 41–2). Es geht also letzten Endes um die öffentliche Identität aller Beteiligten. Insofern diese Beteiligten eine die zu vergessende überwölbende oder tiefer verankerte Identität besitzen, können sie die Identitäten des Opfers, des Täters und des Feindes hinter dieser Identität zum Verschwinden bringen und damit einer Politik der Versöhnung, der Aufhebung der Gegensätze, wie sie von der Amnestie angestrebt wird, den Weg des Erfolges öffnen. Ein zweites Element betrifft die Ursachen des Konfliktes: Nicht die Schlechtigkeit der Oligarchen und ihrer Anhänger war es, die zum Bürgerkrieg führte, sondern das Schicksal – so zumindest sollte man die Situation betrachten. Damit wird dem Gegner gewissermaßen die Schuld abgenommen und somit wird auch die Möglichkeit eines Friedens erhalten – denn ein Friede und eine Versöhnung mit an sich schlechten Menschen wäre schwer denkbar. In Athen

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hatte man also für die Opfer die erste der von Klaus Günther unterschiedenen „fatalen Einstellungen zur Vergangenheit“ gewählt: „[D]en durch die Normverletzung eines Dritten verursachten Bruch in ihrer Biographie als unvermeidliches Schicksal hinzunehmen oder sich ihr Leiden als selbstverschuldeten Fehler zuzurechnen“ (Günther 1997: 84). Dem Schicksal muss man sich fügen und man kann niemanden dafür verantwortlich machen. Der Täter selbst erscheint unter diesen Umständen als ein Opfer des Schicksals, so dass es fehl am Platz wäre, ihn zu verurteilen und zu bestrafen. Vielmehr sollte man auch mit ihm Mitleid haben und statt ihn aus der Gemeinschaft auszuschließen, sollte man sich mit ihm versöhnen. Man darf natürlich nicht bei diesem idyllischen, von Plato gezeichneten Bild stehen bleiben. Insofern Aristoteles – der, im Gegensatz zu Plato, die Ereignisse nicht miterlebte – uns mitteilt, dass derjenige, der die Amnestie verletzte, mit dem Tod bestraft wurde – und es soll dem Stagiriten zufolge einen solchen Fall gegeben haben –, lässt sich mutmaßen, dass vor allem unter den Opfern der Oligarchen bzw. unter den Verwandten der Hingerichteten ein ziemlich starkes Ressentiment vorhanden war. So etwa im Falle des Lysias, dessen Bruder den Dreißig zum Opfer fiel. Für diesen Mord will er Eratostehnes, der den Dreißig angehörte und für den Mord seines Bruders verantwortlich gewesen sein sollte, vor Gericht bringen. In seiner ‚Rede gegen Eratostehnes‘ heißt es: „Sodenn jetzt, da Ihr nichts mehr zu befürchten habt, rächt Euch, soweit es Euch Eure Macht erlaubt, rächt den Piräus. […] Wenn Ihr ihre Mörder freisprecht, werden sie [scil. die Toten – N.C.] selbst glauben, ein zweites Mal zum Tod verurteilt worden zu sein; wenn Ihr sie aber hingegen der Bestrafung ausliefert, werden sie gerächt sein“ (Lysias: 33). Athen versuchte zwar, das Bild einer wieder vereinten Stadt von sich zu geben, nur war die Versöhnung mehr Gegenstand eines frommen Wunsches oder einer politischen Forderung, als eine soziale Realität – zumindest in den ersten Jahren des vierten Jahrhunderts. Die griechische Polis, so Nicole Loraux in La cité divisée, sollte eine Stadt sein, die nach außen kriegerisch ist, die nach innen aber durch den sozialen Frieden gekennzeichnet ist (Loraux 1997: 27). Dementsprechend war es wichtig, alle jene Ereignisse zu vergessen, die die Zwietracht in die Stadt selbst hinein getragen hatten. Denn vergaß man diese Ereignisse nicht, dann vergaß man auch nicht, dass man unter Menschen lebte, die einem in einer nicht so fernen Vergangenheit Übel zugefügt hatten. „Insofern der Mann nebenan die Dreißig unterstützt hat, war er vielleicht mit dabei, als mein Großvater ermordet wurde. Also werde ich ihm gegenüber misstrauisch sein und vielleicht werde ich auch versuchen herauszufinden, ob er tatsächlich dabei war“ – kommt es zu solchen Überlegungen, kann nicht mehr wirklich von Eintracht gesprochen werden, da die Bürger sich voller Misstrauen gegenüber stehen. 4. Heinrich IV. und das Ende der Religionskriege. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wüteten in Frankreich blutige Religionskriege zwischen den Katholiken und den Hugenotten. Hatte schon Heinrich III. versucht, diesen Kriegen ein Ende zu setzen, wird es erst seinem Nachfolger Heinrich IV. gelingen, den Konflikten durch den 1598 erlassenen Edit de Nantes ein Ende zu setzen.

4. Heinrich IV. und das Ende der Religionskriege

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Die Amnestie ist ein integraler Bestandteil der religiösen Befriedung und soll Frankreich helfen, wieder eine einheitliche Nation zu werden. Der Text ist es durchaus wert, hier in extenso zitiert zu werden: „Artikel 1: Erstens, es soll die Erinnerung an alles, was sich auf der einen oder anderen Seite seit Anfang März 1585 und bis zu unserer Thronbesteigung, und während den davor gehenden Unruhen und bei deren Angelegenheit ereignet hat, erloschen bleiben und schlummernd, wie von Dingen, die sich nicht ereignet haben. Es steht unseren Generalanwälten noch einer sonstigen, privaten oder öffentlichen, Person frei, noch ist es ihnen erlaubt, wann auch und zu welcher Gelegenheit auch immer, es zu erwähnen, zum Gegenstand eines Prozesses zu machen oder einer Verfolgung, vor welchem Gericht oder Gerichtsbarkeit auch immer. – Artikel 2: Wir verbieten es unseren Untertanen, was auch immer ihr Stand und ihre Würde sein mag, dass sie die Erinnerung daran auffrischen, dass sie sich angreifen, einander gegenüber nachtragend seien, sich beschimpfen noch provozieren, indem sie sich etwas vorwerfen, das geschehen ist, was auch immer die Ursache oder die Gelegenheit dazu sein möge, dass sie darüber disputieren, es bestreiten, streiten, noch sich beleidigen oder verletzen, sei es durch Tat oder Wort: sondern dass sie sich zurück halten und friedlich zusammen leben als Brüder, Freunde, Mitbürger, ansonsten den Zuwiderhandelnden eine Strafe als Friedensbrecher und Störer der öffentlichen Ruhe erwartet“ (zitiert in: Ricoeur 2000: 586). In dieser Passage finden wir so gut wie alle Elemente einer Amnestie. Zunächst die imperative Form: Die Amnestie ist immer ein befohlenes Vergessen, wobei es in diesem Fall der König ist, der damals die drei Gewalten besaß, der den Befehl erteilt. Dieser Befehl ist ein Vergessensbefehl, oder besser, ein Nicht-Erinnerungsbefehl. Gemeint ist, dass niemand in der Öffentlichkeit und auf welche Weise auch immer an das erinnern darf, was während den Religionskriegen geschehen ist. Jeder soll so tun, als habe sich nichts ereignet, was eben konkret nichts anderes bedeutet, als dass er nicht davon sprechen soll – denn von dem, was nicht war, kann man nichts sagen. Man sollte allerdings bemerken, dass der König von einer schlummernden Erinnerung spricht. Er weiß sehr wohl, dass das Zurückdrängen der Ereignisse aus dem öffentlichen Raum nicht mit einem Verschwinden der Erinnerung an diese Ereignisse in dem je individuellen Gedächtnis gleich gestellt werden kann. Solange die Erinnerung im individuellen Gedächtnis erhalten bleibt, besteht die Gefahr, dass sie sich auch im öffentlichen Raum kundtun will. Die Amnestie lebt nun aber letzten Endes gerade davon, dass die individuelle Erinnerung sich nicht im öffentlichen Raum exteriorisiert, sondern dass das Individuum alles für sich behält und dementsprechend so handelt, als habe sich nichts ereignet. Im Schlussteil des ersten Artikels wird dem individuellen Gedächtnis die Möglichkeit genommen, sich besonders vor Gericht zu exteriorisieren. Den einfachen Untertanen verbietet die Amnestieklausel des Erlasses, eine Klage bei den zuständigen Gerichtsinstanzen einzureichen. Sollte dennoch jemand auf diesen Gedanken kommen, so wird er auf taube Ohren stoßen, da die Amnestieklausel es den Generalstaatsanwälten und allen anderen strafrechtlichen Instanzen verbietet, von einer eventuellen Klage Kenntnis zu nehmen. Die Amnestie hat also hier einen doppelten Adressatenkreis. Denjenigen die eine Klage einreichen können

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wird verboten, dies zu tun, und denjenigen die sich einer eingereichten Klage annehmen können wird gleichfalls verboten, es zu tun. Beschränkt sich Artikel 1 in seinem Schlussteil auf das Rechtswesen, so erweitert Artikel 2 die Perspektive auf die gesamte soziale Welt. In ihrem täglichen Umgang miteinander sollen die Menschen sich so verhalten, als sei nichts gewesen, als habe also kein Religionskrieg während zwei Jahrzehnten in Frankreich statt gefunden. Auch wenn der Katholik mitgeholfen hat, die Eltern seines reformierten Nachbarn zu töten, darf dieser Nachbar auf keine Weise dem Katholiken einen Vorwurf machen, noch ihn auf eine sonstige Art und Weise an den Mord erinnern. Die Menschen müssen so tun, als habe es während ungefähr zwei Jahrzehnten keine grausamen Taten gegeben. Auch wenn der Hugenotte ganz genau weiß, dass ein bestimmter Katholik seine Familie nieder gemetzelt hat, darf er dies nicht erwähnen und schon gar nicht sich dafür am Katholik rächen, noch ihn vor Gericht bringen. An die Stelle der spaltenden Erinnerungen, durch die, wenn sie öffentlich erwähnt werden, wieder Öl auf die noch glühende Asche der Religionskriege geworfen werden könnte, soll ein Verhalten treten, das die Betroffenen an den Tag gelegt hätten, wenn nichts geschehen wäre. Die ehemaligen Feinde sollen sich wieder wie Brüder, Freunde und Mitbürger verhalten, d. h. sie sollen wieder ein Verhalten an den Tag legen, das auf eine wieder gewonnene Einheit schließen lässt – wobei diese Einheit sogar nicht einmal als wieder gewonnene aufgefasst werden kann, lässt das kleine Wörtchen „wieder“ doch durchklingen, dass die Einheit einmal zerstört war. Genauso wie im Fall der athenischen Amnestie, soll auch hier die politische Einheit wieder hergestellt werden. Und auch hier ist das öffentliche Vergessen, verstanden als Nicht-Erinnern im öffentlichen Raum – das Mittel, durch das dieses Wunder vollbracht werden soll. Dem Ruf des Einzelnen nach strafrechtlicher Gerechtigkeit tritt die Forderung der Gemeinschaft nach sozialem Frieden und politischer Einheit entgegen und sie verlangt nach Schweigen. Ungefähr ein halbes Jahrhundert nach dem Befriedungserlass Heinrichs IV., wird Thomas Hobbes, vor dem Hintergrund des englischen Bürgerkrieges, seinen Leviathan verfassen. Wie gewusst, zeichnet Hobbes in diesem Buch das Bild eines äußerst grausamen und durch Gewalt gekennzeichneten Naturzustandes. In diesem Naturzustand fügen die Menschen sich gegenseitig Übel zu. Mag auch der Naturzustand, wie Hobbes es selbst weiß, nichts anderes als eine bloße heuristische Hypothese sein, so hat es doch in der Geschichte Situationen gegeben, die dem Naturzustand mehr oder weniger stark ähnelten. Was beim Hobbesschen Naturzustand auffällt, ist, dass die Menschen, die in ihm leben, sich zusammen schließen, um einen Staat zu bilden. Das setzt aber implizit voraus, dass sie das alles vergessen wollen, was sie sich im Naturzustand angetan haben, so dass also nach Vertragsschluss niemand vor Gericht gehen und dort jemanden ansuchen kann für eine Handlung, die letzterer im Naturzustand gegen den Antragsteller ausgeführt hat – eine juristische Basis für eine solche Anklage gäbe es übrigens nicht. Genauso wie die Religionskriege im Frankreich des 16. Jahrhunderts – aber auch genauso wie der Dreißigjährige Krieg, der knapp drei Jahre vor dem Erscheinen des Leviathan mit den Verträgen von Osnabrück und Münster zu Ende ging –, endet

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auch der Hobbessche Krieg aller gegen alle mit einer Amnestie – die sich aber nicht ausdrücklich als solche zu erkennen gibt. Aber dem Verzicht eines jeden auf sein natürliches Recht – bzw. auf dessen Ausübung – entspricht aber sehr wohl der Verzicht eines jeden, irgendjemanden für ein ihm im Naturzustand zugefügtes Übel vor Gericht zu bringen oder sich im gesellschaftlichen Zustand einfach dafür zu rächen: Ich vergesse alles, was Du mir im Naturzustand angetan hast, unter der Bedingung, dass auch Du alles vergisst, was ich Dir im Naturzustand angetan hast. Aus den natürlichen Feinden des Naturzustandes werden so Mitbürger eines geordneten, den allgemeinen Frieden und die allgemeine Sicherheit schützenden Staates. 5. Die südafrikanische Amnestie. Die Art und Weise, wie die Südafrikaner das Blatt der Apartheid drehten und eine neue Ära des Zusammenlebens zwischen den verschiedenen ethnischen Gemeinschaften einläuteten, ist in den letzten Jahren zum Gegenstand einer fast schon unübersichtlichen Zahl von Publikationen geworden. Kaum eine Amnestie wurde derart diskutiert und kommentiert, wie die südafrikanische. Und in der Tat unterscheidet sie sich in manchen Hinsichten von den meisten bis dahin proklamierten Amnestien. Unter dem Druck der internationalen Gemeinschaft, aber auch unter dem internen Druck der schwarzen Widerstandsbewegungen, entschied sich die weiße südafrikanische Regierung am Anfang der 90er Jahre dafür, Verhandlungen mit dem Afrikanischen Nationalen Kongress Mandelas und mit anderen schwarzen Bewegungen aufzunehmen, und zwar mit dem Ziel, das Land aus dem bürgerkriegsähnlichen Zustand zu führen. Den meisten Weißen war bewusst, dass sie ihre Macht auf Dauer nicht halten könnten und dass es deshalb in ihrem eigenen Interesse war, die Macht friedlich zu übergeben und sich dabei günstige Bedingungen zu erfragen, während den meisten Schwarzen bewusst war, dass eine militärische Machtübernahme erstens noch einige Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte in Anspruch nehmen und zweitens auch viele Menschenleben kosten würde. Die Verhandlungen führten zu einer Übergangsverfassung, auf die sich die Parteien 1993 einigten. In allerletzter Minute wurde beschlossen, dieser Interimsverfassung eine Amnestieklausel hinzuzufügen. Es war vor allem die weiße Nationale Partei, die sich eine solche Amnestieklausel wünschte. Im Schlussteil der Interimsverfassung hieß es: […] Es gibt ein Bedürfnis nach gegenseitigem Verständnis, nicht nach Rache, ein Bedürfnis nach Wiedergutmachung, nicht nach Vergeltung, ein Bedürfnis nach ubuntu, nicht nach Verharren im Opferstatus (victimization)“. Mit dem Rückgriff auf ubuntu, verwies die Interimsverfassung auf eine typisch afrikanische Form von Reaktion auf Unrecht, eine Reaktion, die nicht die Form der Rache oder auch nur einer maßvollen Vergeltung annimmt, sondern sich darin ausdrückt, dass man das durch das Unrecht zerstörte Band zwischen dem Täter und dem Opfer – oder der Gemeinschaft – wieder herzustellen versucht. Ubuntu ist in erster Linie am Wohl des Kollektivs orientiert und verlangt insofern vom einzelnen Individuum, dass es seine Ansprüche und Gefühle zurückstellt, wenn diese der Wiederherstellung oder Bewahrung des Kollektivs entgegen stehen. Während die traditionelle Strafe das Band zwischen Opfer und Täter anscheinend noch stärker durchtrennt, will

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ubuntu dieses Band wieder stärken und somit wieder eine Einheit schaffen, wo die Straftat sie zerstört hat und wo auch die Strafe sie nicht wieder herstellt. Im Dezember 1993 ratifizierte das südafrikanische Parlament die Interimsverfassung. Aus den Parlamentswahlen im April 1994 ging eine Regierung der nationalen Einheit hervor, die von der ANC-Partei dominiert wurde, in der aber auch hochrangige Mitglieder der Nationalen Partei wichtige Posten bekleideten. Am 17. Mai 1995 stimmte das Parlament ein Gesetz, das die Schaffung einer Spezialkommission für Wahrheit und Wiederversöhnung (Truth and Reconciliation Commission) vorsah. Dieses Gesetz zur Förderung der Nationalen Einheit und Wiederversöhnung wurde am 19. Juli 1995 von Präsident Nelson Mandela unterschrieben und erhielt somit rechtliche Wirkung. Die Kommission für Wahrheit und Wiederversöhnung hielt ihre erste Sitzung im Dezember 1995. In ihrer Zusammensetzung sollte die Kommission die Vielfalt der südafrikanischen Bevölkerung so gut wie möglich repräsentieren. Ihr Vorsitzender war Bischof Desmond Tutu. Die Kommission setzte sich aus drei Komitees zusammen. Ein erstes Komitee war zuständig für die Aufklärung der Verletzung der Menschenrechte während der Zeit vom 1. März 1960 bis zum 10. Mai 1994, ein zweites hatte die Aufgabe, über das Gewähren von Amnestien zu entscheiden, während ein drittes sich mit der Frage der Wiedergutmachung und der Rehabilitation befasste. Die Arbeiten der Kommission sollten ursprünglich achtzehn Monate dauern. Doch es wurde schnell klar, dass dies nie genügen würde. So kam es, dass die Kommission erst am 31. Dezember 2001 aufgelöst wurde, also sechs Jahre nach ihrer ersten Sitzung. Während dieser Zeit wurden rund 22000 Opfer angehört. Von den drei Komitees interessiert uns hier vor allem dasjenige, das für Amnestien zuständig war. Hatte die Interimsverfassung nur den Gedanken der Amnestierung festgehalten, ohne die Prozeduren festzulegen, so geschah diese Festlegung durch das Gesetz zur Förderung der Nationalen Einheit und Wiederversöhnung. Diesem Gesetz zufolge konnte eine Amnestie nur solchen Personen gewährt werden, „die eine vollständige Enthüllung aller relevanten Tatsachen machen, die im Zusammenhang mit Handlungen stehen, die ein politisches Ziel verfolgten“. Es wird also erstens nicht jeder Straftäter amnestiert, sondern nur derjenige, der nachweisen kann, dass die von ihm begangene Tat ein politisches Ziel verfolgte. Aber auch das genügt noch nicht: Um in den Genuss der Amnestie zu kommen, muss der Täter alles sagen, was er über die ihm vorgeworfene Verletzung der Menschenrechte weiß. Hat er etwa an jemandes Entführung teilgenommen, so muss er sagen – sofern er es weiß –, wer den Befehl zur Entführung gegeben hat, wer noch außer ihm daran beteiligt war, wie sie verlaufen ist, wie der Entführte behandelt wurde, was mit dem Entführten geschah, wo er – gegebenfalls – begraben wurde, usw. Nur wer ein solches Geständnis ablegte, konnte mit einer sowohl straf- wie auch zivilrechtlichen Amnestie rechnen. Eine an die Opfer oder an ihre Verwandte gerichtete Bitte um Verzeihung gehörte nicht zu den Bedingungen die erfüllt werden mussten, um in den Genuss der Amnestie zu kommen. Rund 7000 Personen – Weiße wie auch Schwarze – beantragten eine Amnestie. Dass diese aber nicht leicht zu bekommen war zeigt die Tatsache, dass von zehn gestellten Anträgen nur einer akzeptiert wurde.

5. Die südafrikanische Amnestie

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Wie nicht anders zu erwarten, kam es zu teils heftigen Kritiken an der von Tutu geführten Kommission. So wurde ihr vorgeworfen, nicht alle Antragsteller gleich zu behandeln. Ein anderer Vorwurf war, dass ein starker emotionaler Druck auf die Opfer oder ihre Verwandte ausgeübt wurde, damit sie in der Öffentlichkeit sagten, sie würden den Tätern verzeihen. Durch ein solches öffentliches Verzeihen sollte gezeigt werden, dass die Südafrikaner gewillt waren, das zerrissene Band wieder neu zu knüpfen. Nicht nur die Kommission wurde in Frage gestellt, sondern auch das Gesetz selbst, das die Kommission dazu habilitierte, Straftäter zu amnestieren. Der heftigste Angriff erfolgte, als die Azanian Peoples Organization und drei einzelne Kläger sich an das südafrikanische Verfassungsgericht wendeten, damit es die Verfassungskonformität des Gesetzes zur Förderung der Nationalen Einheit und Wiederversöhnung, und vor allem der dort enthaltenen Amnestieregulierung überprüfe. Für die Kläger verletzte diese Regulierung das ihnen durch Artikel 22 der Verfassung gewährte Recht, sich an ein Gericht zu wenden, wenn sie sich in ihren Rechten verletzt fühlten. Nicht das Amnestiekomitee sollte darüber entscheiden, was mit Straftätern geschah, sondern ordentliche Strafgerichte. Niemandem sollte durch eine Amnestierung das verfassungsmäßig anerkannte Recht abgesprochen werden, seinen persönlichen Fall vor Gericht bringen zu können und nach einer Bestrafung der Täter zu verlangen. Das Verfassungsgericht hörte beide Parteien – die Kläger und die Vertreter des Staates – am 30. Mai 1996 an und gab sein Urteil am 25. Juli desselben Jahres bekannt. In der ausführlichen Urteilsbegründung wird zunächst der politische und soziale Kontext dargestellt, in dem es zur Interimsverfassung und zum Gesetz zur Förderung der Nationalen Einheit kam. Damit wird schon implizit angedeutet, dass eine Forderung nach strafrechtlicher Gerechtigkeit nicht abstrakt betrachtet werden kann, sondern immer vor einem ganz spezifischen Kontext, der bestimmte Pflichten des Staates relativieren kann. Die Wiederversöhnungsphilosophie des Gesetzes wird dann in ihren Hauptlinien dargelegt. Dabei zeigen die Richter durchaus Verständnis für die Forderungen der Kläger, wie es zum Beispiel in Punkt 16 zum Ausdruck kommt. Punkt 21 der Urteilsbegründung bringt den Kern des Problems zum Ausdruck, mit dem das Gericht sich zu befassen hat: das Bedürfnis der Opfer nach Gerechtigkeit soll gegen das Bedürfnis der Gesellschaft nach Wiederversöhnung abgewogen werden. Oder genauer, es soll darüber entschieden werden, wie diese Gewichtung in der Verfassung vorgenommen werden soll. Und hier ist die Sache für die Richter klar: Die südafrikanische Verfassung stellt das Bedürfnis nach Wiederversöhnung höher als das Bedürfnis der Opfer, sich an die Strafgerichte zu wenden und nach einer Bestrafung der Täter zu verlangen. Auch internationalrechtliche Verpflichtungen werden den Richtern zufolge nicht durch die südafrikanische Amnestieregelung verletzt. Dabei machen die Richter vor allem darauf aufmerksam, dass die Amnestie an Bedingungen gebunden und dass es sich nicht um eine Persilscheinamnestie (blanket amnesty) handelt, die für jeden gilt (Punkt 32 der Urteilsbegründung). Vielmehr handle es sich um eine an ganz spezifische Bedingungen gebundene Amnestie, Bedingungen die vielleicht der Forderung der Opfer nach Bestrafung der Täter widerspricht, die aber der Forderung der Opfer und der Gesellschaft insgesamt nach Wahrheit

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Kapitel 7: Die strafrechtliche Amnestie

entspricht. Es wird also auf die traditionelle Strafgerechtigkeit verzichtet, wenn dadurch die Suche nach Wahrheit gefördert werden kann. Über den Erfolg des südafrikanischen Weges herrscht noch Uneinigkeit, genauso wie über die Möglichkeit, diesen Weg zu exportieren. Dass charismatische Personen wie Nelson Mandela und Desmond Tutu eine kaum zu unterschätzende Rolle in der doch relativ breiten Akzeptanz der Amnestieregulierung gespielt haben, kann nicht bestritten werden. Indem Mandela, der fast dreißig Jahre seines Lebens im Gefägnis von Robben Island verbrachte, behauptete, mutige Menschen hätten keine Angst, zu verzeihen, wenn der Frieden es verlange, oder noch, persönliche Verbitterung sei ein Luxus, den Südafrika sich nicht leisten könne, hat er ein Beispiel für viele schwarze Südafrikaner gesetzt. Tutu, seinerseits, stützte sich vor allem auf das religiöse Motiv des Verzeihens. Lyn Graybill meint hierzu: „Die Universalität der Versöhnung in den wichtigsten religiösen und philosophischen Traditionen legt den Gedanken nahe, dass der Prozess der Wahrheit und Versöhnung, auf den sich Südafrika eingelassen hat, anderen Ländern, die sich mit einer zerstrittenen Vergangenheit zu befassen haben oder ein ethnisches Blutbad hinter sich haben, als Beispiel dienen kann“ (Graybill 2002: 35). Wie im Falle der athenischen Amnestie, muss man auch bei der südafrikanischen Amnestie zwischen gewünschter und tatsächlicher Wirklichkeit unterscheiden. Es gibt keinen Zweifel, dass viele Südafrikaner verziehen haben – weil sie es wollten oder weil sie es mussten, wenn sie das Blatt wirklich umdrehen wollten. Aber es steht auch außer Zweifel, dass für viele Opfer die Amnestierung bestimmter Täter als fundamentale Ungerechtigkeit und als falsches Zeichen gedeutet wurde. Was dabei vor allem zu beanstanden ist, ist die Tatsache, dass sehr viele Opfer überhaupt nicht oder nur auf eine äußerst ungenügende Art und Weise entschädigt wurden. Dem an die Täter gerichteten „Ich gebe Dir die Amnestie, wenn Du mir die Wahrheit gibst“ hätte ein an die Opfer gerichtetes „Ich gebe Dir eine substantielle Entschädigung – materieller, sozialer oder symbolischer Natur –, wenn Du die Amnestierung der geständigen Straftäter akzeptierst“ entsprechen müssen. Eine solche Entschädigung wurde zwar ursprünglich versprochen, aber es zeigte sich schnell, dass der Staat nicht bereit war, sein Versprechen zu erfüllen – sieht man einmal von den 3000 Rand ab, die einzelne Opfer als Schadensersatz erhielten. 6. Die Amnestie im Völkerrecht. Bevor es sich in Konventionen und anderen von Staaten ratifizierten Texten und Dokumenten kristallisierte, war das Völkerrecht in erster Linie ein Gewohnheitsrecht, das die politischen Akteure – also vorwiegend die Staaten – in ihrem Handeln voraussetzten und manchmal mehr und manchmal weniger einhielten. In seiner 1680 erschienenen Synopsis iuris gentium schreibt Johann Textor – dabei Gedanken aufgreifend, die wir schon bei Vitoria finden –, es sei die breite Zustimmung der Völker, welche dem natürlichen Gesetz seine tatsächlich bindende Kraft gegeben und die so aus dem natürlichen Gesetz ein Völkerrecht gemacht hat (Textor 1995: 11). Dass nicht wirklich alle Völker sich an die betreffenden Normen hielten, war für die ersten Theoretiker des Völkerrechts kein schlagender Einwand, galt es doch unter den Völkern zwischen den zivilisierten und den unzivilisierten zu

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unterscheiden. Ausschlaggebend waren nur diejenigen Gewohnheiten, die man bei den zivilisierten Völkern vorfand. Zu diesen Gewohnheiten gehörte u. a. auch die Amnestie – aber auch, die Versklavung bestimmter Kriegsgefangener. Dabei konnten sich die den Gedanken der Amnestie verteidigenden Autoren auf eine Behauptung Senecas im De clementia berufen: „Feinde wird er lebend entlassen, manchmal sogar gelobt, wenn sie aus ehrenhaften Gründe für Treue, für Bündnis, für Freiheit in den Krieg gerufen worden sind“ (Seneca, De clementia, II, VII, 2). Der weise und gute Herrscher wird also Milde gegenüber bestimmten Feinden walten lassen, und anstatt sie zu vernichten oder zu versklaven, wird er sie frei gehen lassen, wobei es für seine Entscheidung ausschlaggebend sein wird, welches Motiv sie dazu geführt hat, auf die Waffen zurückzugreifen. Den unterlegenen Feind, der aus ehrenhaften Motiven gekämpft hat, wird man nicht bestrafen. Unter den frühmodernen Autoren ist es ganz besonders Hugo Grotius, der auf die Notwendigkeit einer Amnestie hingewiesen hat. Die Wichtigkeit von Grotius in der Amnestiedebatte zeigt sich etwa darin, dass in der Urteilsbegründung, mit der das oberste südafrikanische Gericht die Klage der Azanian Peoples Organization zurück wies, Grotius zitiert wird, und zwar folgende Passage aus dem De iure belli ac pacis: „Bei jedem Friedensvertrag ist anzunehmen, sofern man nicht ausdrücklich anders überein gekommen ist, dass man weder auf der einen noch auf der anderen Seite beabsichtigte, eine Klage wegen eines durch den Krieg erlittenen Schadens zu erheben. Denn wo auch nur der geringste Zweifel besteht, ist mit Recht davon auszugehen, dass diejenigen, die über den Frieden verhandeln, es unter der Voraussetzung tun, dass nichts zur Annahme Anlass geben kann, dass der eine oder der andere ein Unrecht begangen hat. Und das betrifft auch die Schäden, die Individuen einander zugefügt haben, denn sie sind nicht weniger als die öffentlichen Hostilitätshandlungen Konsequenzen des Krieges“ (Grotius 1984: III, XX, XV). Und nachdem er darauf aufmerksam gemacht hat, dass das soeben Gesagte sich nicht auf Schulden bezieht, die man schon vor Kriegsbeginn hatte, fährt Grotius fort: „Dem ist aber nicht so, was das Recht betrifft, das man aus einer Straftat erhält, die eine Bestrafung verdient. Denn was die Könige und Völker betrifft, so ist davon auszugehen, dass sie sich selbst dieses Rechtes entledigt haben, denn ansonsten ließe man eine alte Kriegsursache bestehen, so dass dann der Friede nicht als wirklicher Friede betrachtet werden könnte“ (Grotius 1984: III, XX, XVII). Auch wenn Grotius hier nicht ausdrücklich von Amnestie spricht, so ist diese doch gemeint. Hat ein Volk einem anderen Volk ein Unrecht zugefügt und hat das verletzte Volk mit einem Krieg auf dieses Unrecht reagiert, so muss davon ausgegangen werden, dass im Friedensvertrag, der diesen Krieg beendet, sowohl das ursprüngliche Unrecht wie auch eventuelle während des Krieges zugefügte Schäden als vergessen gelten. Die Tatsache, dass es dem verletzten Volk womöglich nicht gelungen ist, das Volk, das ihm Unrecht zugefügt hat, angemessen – oder vielleicht sogar überhaupt – zu bestrafen, darf nicht als Grund betrachtet werden, die Bestrafung später auszuführen und den jetzt geschlossenen Frieden auszunutzen, um die für eine erfolgreiche Bestrafung notwendige militärische Macht aufzubauen. Wie Grotius richtig bemerkt, wäre

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ein derart instrumentalisierter Friede kein wahrer Friede mehr. Die Entscheidung zum Frieden muss die Entscheidung enthalten, die Kriegsgründe – wie legitim sie auch gewesen sein mögen – und die während des Krieges begangenen Straftaten zu vergessen. Ist der Krieg mit einem Friedensvertrag beendet worden, so gibt es keine in der Vergangenheit liegende iusta causa belli mehr, also keinen Grund, der einen gerechten Krieg rechtfertigen könnte. Wo diese Bereitschaft zum Vergessen nicht existiert, ist kein Frieden möglich, sondern höchstens ein Waffenstillstand, also eine vorübergehende Unterbrechung der Kriegshandlungen, während derer es den Parteien nicht untersagt ist, sich auf einen neuen Angriff vorzubereiten. Unter diesen Umständen kann sogar vielleicht ein solcher Waffenstillstand nicht möglich sein, denn wo die eine Partei weiß, dass die andere alles daran setzen wird, sie zu bestrafen, ist davon auszugehen, dass die erste Partei ihrerseits alles daran setzen wird, die andere Partei daran zu hindern, sich für die Bestrafung vorzubereiten. Und wenn die Partei die die Bestrafung vorhat, von diesem Hinderungswillen weiß, wird sie versuchen, ihm zuvorzukommen. Letztendlich werden wir es mit einer Situation zu tun haben, in welcher es für beide Parteien nur zwei Möglichkeiten gibt: Vernichten oder vernichtet werden. Will man dieser Alternative entkommen, scheint nur die Amnestie einen Ausweg zu bieten. Wie Carl Schmitt es in seinem 1949 veröffentlichten Aufsatz ‚Amnestie oder die Kraft des Vergessens‘ hinsichtlich der Bürgerkriege formulierte: „Alle Bürgerkriege der Weltgeschichte, die nicht in der totalen Vernichtung der Gegenseite endeten, haben mit einer Amnestie geendet“ (Schmitt 1995: 218). Diesen Gedanken der Amnestie als konstitutiver Bestandteil eines jeden echten Friedensvertrags findet man bei fast allen Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts, wobei allerdings einige Autoren – wie etwa Cocceius – bestreiten, dass jeder Friedensvertrag schon implizit eine Amnestieklausel enthält, die eine explizite Klausel überflüssig machen. Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, wenn der Westfälische Friede, mit dem der Dreißigjährige Krieg zu Ende geht, auch eine Amnestie vorsieht. Die Krankheit des Krieges – mag dieser unter der Form des Bürgerkriegs den Körper des Gemeinwesens oder als internationaler Krieg die sich herausbildende Staatengemeinschaft betreffen – kann nur durch die Amnestie definitiv geheilt werden. „Das Heilmittel für Aufstände ist das Verzeihen“, schreibt die schwedische Königin Christine ungefähr zu der Zeit, als Europa anfängt, die Wunden des Dreißigjährigen Krieges zu heilen (Christine de Suède: 229). Ob Burlamaqui, Vattel oder noch Christian Wolff – um nur einige der bekanntesten Namen zu nennen –, alle bedeutenden Autoren die sich im 18. Jahrhundert über Fragen des Völkerrechts oder des Krieges äußern, erwähnen die Amnestie und sehen in ihr ein notwendiges Element einer dauerhaften Friedenspolitik. Sogar Immanuel Kant, der doch hinsichtlich des innerstaatlichen Rechts ein kategorisches Prinzip der Strafpflicht vertritt, schreibt in seiner Metaphysik der Sitten, den vorhin erläuterten Grotianischen Gedanken aufnehmend: „Dass mit dem Friedensschlusse auch die Amnestie verbunden sei, liegt schon im Begriff desselben“ (Kant 1982: 472). Liegt bei Kant einerseits der Begriff der Amnestie schon in demjenigen des Friedensschlusses, so liegt bei ihm andererseits der Begriff der Strafe nicht nur außerhalb desjenigen des

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Krieges, sondern er widerspricht ihm radikal: „Kein Krieg unabhängiger Staaten gegen einander kann ein Strafkrieg (bellum punitivum) sein, denn Strafe findet nur im Verhältnisse eines Obern (imperantis) gegen den Unterworfenen (subditum) statt, welches Verhältnis nicht das der Staaten gegen einander ist, – aber auch weder ein Ausrottungs- (bellum internecinum) noch Unterjochungskrieg (bellum subiugatorium), der eine moralische Vertilgung eines Staats […] sein würde“ (Kant 1982: 470–1). Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Amnestie als integraler Bestandteil des Friedensschlusses angesehen. Allerdings änderte diese Situation sich mit dem Sieg der Allierten im Ersten und im Zweiten Weltkrieg. Zumindest de facto schien die Amnestie nicht mehr automatisch mit dem Friedensschluss gegeben zu sein. Sieht man sich die internationalen Texte an, so findet man einen Hinweis auf die Amnestie im Zweiten Genfer Protokoll aus dem Jahre 1977. Dabei ist zu bemerken, dass sich diese Konvention ausschließlich auf nicht-internationale bewaffnete Konflikte bezieht, also vorwiegend auf Bürgerkriege. Artikel 6 dieses Protokolls befasst sich mit der Frage der strafrechtlichen Verfolgungen und schließt mit Punkt 5: „Am Ende der Hostilitäten werden die Macht ausübenden Autoritäten versuchen, die breitest mögliche Amnestie für all diejenigen zu gewähren, die am bewaffneten Konflikt teilgenommen haben, oder die ihre Freiheit aus Gründen verloren haben, die mit dem bewaffneten Konflikt in Zusammenhang stehen, ob sie interniert sind oder gefangen gehalten werden“. Es liegt hier eine relativ schwache Verpflichtung vor, denn Gegenstand der Pflicht ist nicht die Amnestie, sondern bloß der Versuch der Amnestie. Über den Umfang der Amnestie entscheidet übrigens auch die Macht ausübende Autorität, denn wer, außer ihr, wird bestimmen können, was möglich ist? In diesem Kontext wird man allerdings zwischen dem politisch und dem rechtlich Möglichen unterscheiden müssen. Die Bestimmung des politisch Möglichen scheint nur die Macht ausübende Autorität vornehmen zu können; hier muss eine partikulare Entscheidung vor dem Hintergrund einer spezifischen politischen und sozialen Lage getroffen werden. Im Falle der rechtlichen Möglichkeit sind es die internationalrechtlichen Texte, die Grenzen setzen. Und auch wenn die meisten dieser Texte das Problem der Amnestie nicht direkt konfrontieren, so tun sie dies doch indirekt. So heißt es etwa schon im Artikel IV der UN-Konvention zur Vorbeugung und Bestrafung des Verbrechens des Völkermordes aus dem Jahre 1948, dass eine Person, die sich des Verbrechens des Völkermordes oder eines damit zusammenhängenden Verbrechens schuldig gemacht hat, bestraft werden wird („shall be punished“, im englischen Original). Das ist selbstverständlich keine Prophezeiung dessen, was de facto geschehen wird, sondern eine Festlegung dessen, was de iure geschehen muss. Damit wird die Amnestie implizit für solche Verbrechen ausgeschlossen. Die internationalrechtlich unverjährbaren Verbrechen sind somit auch gleichzeitig unamnestierbar. Und dabei spielt es keine Rolle, ob diese Verbrechen während eines zwischen- oder während eines innerstaatlichen Krieges, oder noch außerhalb eines Krieges begangen worden sind. Man kann also festhalten, dass die internationale Gemeinschaft dazu tendiert, die strafrechtliche Amnestie, zumindest wo sie mit kriegerischen oder kriegsähnlichen Handlungen in Zusammenhang steht, für unrechtmäßig zu

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Kapitel 7: Die strafrechtliche Amnestie

erklären. Diese Infragestellung der Amnestie ist einerseits bedingt durch den Wunsch, den individuellen Rechten einen wirksamen Schutz zu gewährleisten und andererseits durch den Wunsch, die internationale Ordnung aufrecht zu erhalten. Die Aussicht auf eine mögliche Bestrafung soll Diktatoren davon abhalten, die grundlegenden Menschenrechte ihrer Untertanen zu verletzen und sie soll kriegerisch gesinnte Herrscher davon abhalten, einen Angriffskrieg zu starten. 7. Gerechtigkeit oder Wahrheit? Was ist für die Opfer und ihre Verwandten wichtiger? Dass die Täter in einem Strafprozess verurteilt und anschließend bestraft werden, oder dass die Täter erzählen, wie sie ihre Tat begangen haben und wo sie die Leichen vergraben haben? Wenn jemand über Nacht spurlos verschwunden ist, wollen die Verwandten meistens wissen, was geschehen ist. Die Ungewissheit über das Schicksal eines Vaters, eines Bruders oder eines Bekannten ist oft schwerer zu tragen als das Wissen, dass er von der Geheimpolizei entführt und an dem und dem Ort hingerichtet und anschließend begraben wurde. Wahrheit ist in diesem Sinne ein Wert, der der Gerechtigkeit zumindest manchmal gleichgestellt werden kann. Wie hängen Amnestie und Wahrheit zusammen? Alex Boraine, der Mitglied der südafrikanischen Kommission für Wahrheit und Wiederversöhnung war, schreibt in seinem Aufsatz ‚Truth and reconciliation in South Africa. The third way‘, die Amnestie sei „ein Preis, den viele Opfer zahlen mussten, um einen Teil der Wahrheit über ihre schreckliche Vergangenheit zu erfahren“ (Boraine 2000: 150). Inwiefern dies der Fall ist, lässt sich am Beispiel von Magnus Malan zeigen. Malan war Verteidigungsminister unter dem Apartheid-Regime und es wurde ihm vorgeworfen, 1987 die Ermordung von dreizehn Menschen in einem kleinen Dorf südlich von Durban befohlen zu haben. Nach dem Fall des Apartheid-Regimes kam er vor Gericht. Der Prozess dauerte sieben Monate und kostete 16 Millionen Rand, davon allein 9 Millionen für die Verteidigung Malans, die der Staat übernehmen musste, da Malan im Augenblick der ihm vorgeworfenen Tat im Staatsdienst gestanden hatte – zum Vergleich: die Opfer des Apartheid-Regimes erhielten 3000 Rand Entschädigung pro Kopf. Da aber die Beweise gegen Malan zu spärlich waren, um eine strafrechtliche Verurteilung zu ermöglichen, wurde der Ex-Verteidigungsminister von allen Anschuldigungen frei gesprochen. Einige Monate später sagte Malan vor der Kommission für Wahrheit und Versöhnung aus. Hätte Malan während seines Strafprozesses zugegeben, was er während dieser Anhörung zugab, hätte das Gericht wahrscheinlich genügend Material zur Verfügung gehabt, um ihn zu verurteilen. Aus verständlichen Gründen hatte Malan dem Gerichte diese Informationen vorenthalten – schließlich ist niemand dazu gezwungen, Informationen preiszugeben, die zu seiner eigenen Verurteilung führen können. Im Falle der Wahrheitskommission war die Sache anders: Hier riskierte Malan keine Verurteilung oder Bestrafung. Im Gegenteil, die von Bischof Tutu präsidierte Kommission stellte die vermutlichen Straftäter vor die Wahl: Sagten sie die volle Wahrheit und deckten sie alle ihnen bekannten Fakten auf, kamen sie in den Genuss der Amnestie; verschwiegen sie wichtige Informationen, wurden sie der Strafjustiz übergeben.

7. Gerechtigkeit oder Wahrheit?

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Man stand hier vor einem Dilemma, das Robert Rotberg wie folgt beschreibt: „Damit die strafende Gerechtigkeit im Sinne der Opfer funktioniert hätte, hätte man Beweise gebraucht, und nur durch die Amnestieprozedur konnten diese Beweise gewonnen werden“ (Rotberg 2000: 13). Keine strafende Gerechtigkeit ohne Beweise und keine Beweise mit strafender Gerechtigkeit. In Südafrika hatte man es dementsprechend in vielen Fällen nicht mit einer Wahl zwischen der Amnestie und der strafenden Gerechtigkeit zu tun. Im Falle vieler Täter – und Malan ist nur ein Beispiel – war die strafende Gerechtigkeit sowohl mit als auch ohne Amnestie ausgeschlossen. Das einzige, was erreichbar war, war die Wahrheit. Aber diese konnte man nur haben, wenn man den geständigen Tätern Straflosigkeit versprach. Und genau das sah das südafrikanische Amnestiegesetz vor und beging damit neue Wege, wie Madeleine Fullard und Nicky Rousseau bemerken: „Während anderswo die Amnestien mit Verheimlichen, Vergessen, Anonymität und Schweigen verbunden waren, versuchte die südafrikanische Amnestie Prinzipien der Enthüllung, der persönlichen Verantwortbarkeit, der Offenbarung und des Wissens durchzusetzen“ (Fullard/Rousseau 2003: 195). Das Strafrechtssystem sollte sich nach dem Geständnis der Täter nicht mehr an die von ihnen begangen Straftaten erinnern, aber dieses Nicht-Erinnern war mit der Bedingung verbunden, dass die Täter selbst die Gesellschaft an das erinnerten, was sie getan hatten. Natürlich mussten die geständigen Täter sich nicht nur vor strafrechtlichen Sanktionen sicher fühlen, sondern auch vor der privaten Rache der Opfer oder ihrer Verwandten. Die Täter standen somit auch vor einer für sie nicht leicht zu beantwortenden Frage: Offenbarten sie die Wahrheit nicht, drohte ihnen ein Strafprozess – und für viele, vor allem Untergeordnete, hätte genügend Material für eine Verurteilung zur Verfügung gestanden –, offenbarten sie die Wahrheit, kamen sie in den Genuss einer strafrechtlichen Amnestie, gaben sich aber gleichzeitig den Verwandten der Opfer als die Schuldigen zu erkennen und setzten sich somit möglichen Racheakten oder doch zumindest einer sozialen Stigmatisierung aus. Wie Dumisa Ntsebeza richtig sagt, war die Amnestie nicht zum Nulltarif zu haben: „Für die Straftäter bedeuteten die Enthüllungen schon an sich eine Strafe und waren somit ein Element der Gerechtigkeit selbst“ (Ntsebeza 2003: 164). Auch wenn die südafrikanische Wahrheitskommission es sicherlich nicht erreicht hat, die vollständige Wahrheit über die Ereignisse während der Zeit der Apartheid zu erfahren, gelang es ihr jedoch, eine ganze Reihe bis dahin unaufgeklärter Fälle aufzuklären. Damit kam man einerseits den Forderungen und Wünschen der Verwandten der Opfer entgegen, aber andererseits half man dadurch auch der südafrikanischen Geschichtsschreibung. Ohne eine möglichst große Aufdeckung der Tatsachen, besteht die Gefahr des Revisionismus und des Negationismus. Indem jeder die Wahrheit sagte, die er – und ganz oft nur noch er – besaß, ergab sich die Möglichkeit, die Geschichte eines der dunkelsten Kapiteln Südafrikas zu schreiben und damit ein unangefochtenes kollektives Bewusstsein zu schaffen. In ihrem Aufsatz ‚The moral foundations of truth commissions‘ weisen Amy Gutmann und Dennis Thompson u. a. darauf hin, dass eine Alternative zum strafrechtlichen Prozess, wie sie etwa eine Wahrheitskommission darstellt, nur

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Kapitel 7: Die strafrechtliche Amnestie

dann gerechtfertigt ist, wenn sie sich auf Rechte und Güter beruft, „die moralischer Natur sind, und deshalb vergleichbar mit der geopferten Gerechtigkeit“ (Gutmann/Thompson 2000: 23). Die Wahrheit ist sicherlich ein solches Gut und das Recht der Verwandten der Opfer, die Wahrheit über das Schicksal dieser Opfer zu erfahren ist ein Recht, das durchaus berücksichtigt werden muss. Non fiat iustitia ut non pereat veritas. 8. Gerechtigkeit ohne fairen Prozess? In seinem Aufsatz ‚Bürgerkrieg und Amnestie: Athen 411–403‘ hält Wilfried Nippel fest, dass es ohne eine Amnestierung der Mitläufer der Oligarchen zu einer wahren Prozessflut in Athen gekommen wäre (Nippel 1997: 117). Die Dreißig hatten nämlich versucht, soviele Menschen wie möglich auf ihre Seite zu bringen. Hätte man demnach alle diese Menschen vor Gericht bringen wollen, wäre das athenische Gerichtswesen, wenn man sich an die normalen Prozeduren gehalten hätte, maßlos überfordert gewesen. Für die Athener gab es in dieser Situation drei Möglichkeiten. Erste Möglichkeit: Alle Anhänger der Oligarchen müssen vor Gericht gebracht werden. Zweite Möglichkeit: Kein Anhänger der Oligarchen soll vor Gericht gebracht werden. Dritte Möglichkeit: Nur bestimmte Anhänger der Oligarchen sollen vor Gericht gebracht werden. Bei der Wahl der ersten Möglichkeit, steht man vor neuen Entscheidungen. So wird man etwa entscheiden müssen, ob die Prozesse vor normalen Gerichten und gemäß der normalen Prozedur ablaufen sollen, oder ob man Sondergerichte mit einer Sonderprozedur schaffen soll. Bleibt man bei den normalen Gerichten und der normalen Prozedur, folgt erstens, dass Athen während mehreren Jahren und unaufhörlich Prozesse kennen wird. Die letzten Schuldigen werden dann etliche Jahre, wenn nicht vielleicht sogar Jahrzehnte, nach den Taten verurteilt werden. Was wird man in der Zwischenzeit mit ihnen tun? Ein formal strukturiertes Rechtssystem, so Sandford Levinson, „hat ein Problem mit großen Zahlen“ (Levinson 2000: 220). Es folgt dann zweitens, dass die besiegten Anhänger der oligarchischen Partei wahrscheinlich vor einem Gericht stehen werden, das sich aus Anhängern der siegreichen demokratischen Partei zusammensetzt. Schafft man Sondergerichte mit einer Schnellprozedur, so besteht die Gefahr, dass die Gerechtigkeit auf der Strecke bleibt, da bei einer Schnellprozedur wahrscheinlich nicht alle relevanten Elemente mit der genügenden Sorgfalt betrachtet werden. Die Richter sind dann nicht darauf aus, jedem einzelnen Angeklagten gerecht zu werden, sondern eine möglichst große Zahl von Fällen pro Tag zu behandeln. Die erste Möglichkeit enthält somit eine Reihe von Problemen, allen voran das Problem des fairen Prozesses. Auch wenn man darüber streiten kann, welche Bedingungen im Detail erfüllt sein müssen, damit ein Prozess als fair bezeichnet werden kann, wird man doch zugeben müssen, dass zumindest folgende Elemente zu einem solchen Prozess gehören: genaue Untersuchung des einzelnen Falles; unabhängige Richter; eine innerhalb vernünftigen Grenzen bleibende Zeitdauer zwischen der Tat und dem Prozess. Um diesen Problemen auszuweichen, kann man natürlich auf die dritte Möglichkeit zurück greifen und selektiv verfahren. Das war übrigens die von den Athenern gewählte Option, da die Amnestie nicht für diejenigen galt, die eigenhändig jemanden

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umgebracht hatten. Bei dieser dritten Möglichkeit stellt sich selbstverständlich die Frage, wo man die Grenze ziehen wird. Man kann sie, wie es die Athener getan haben, zwischen bestimmten Straftaten ziehen. Man kann sie aber auch, wie es öfters geschieht, zwischen den Anführern und den Mitläufern ziehen – was die Athener übrigens auch gemacht haben, insofern die Amnestie für die Mitglieder der Dreißig und der Zehn nicht automatisch war. Diese Grenzziehung umgeht das Problem der Anzahl, da die Anführer in der Regel immer nur eine kleine Gruppe bilden. Indem sie das Problem der Anzahl umgeht, umgeht sie auch das Problem der Zeit. Allerdings stellen sich zwei Probleme hinsichtlich der Gerechtigkeit. Ein erstes wurde schon erwähnt: Sollen die Anführer sich vor einem inländischen Gericht verantworten, so wird dieses Gericht wahrscheinlich aus Anhängern der Sieger bestehen. Aber auch wenn Anhänger der Besiegten sich unter den Richtern befinden, ist keine Gerechtigkeit garantiert, denn es ist davon auszugehen, dass diesen Anhängern der Besiegten daran gelegen sein wird, sich ‚weißzuwaschen‘ und dem neuen Regime zu zeigen, dass sie sich von ihren vormaligen Führern aufs Schärfste distanziert haben. Die Verurteilung dieser Führer wird somit zu einem Zeichen, das man dem neuen Regime geben muss. Ein ähnliches Problem stellt sich natürlich auch im internationalen Kontext, wobei Nürnberg und Tokyo als Beispiele genannt werden können, da hier die Sieger über die Besiegten urteilten. Das zweite Problem betrifft die Grenzziehung. Vor allem wenn die Grenze hinsichtlich hierarchischer Kriterien gezogen wird, können einzelne Angeklagte sich fragen, warum sie auf der – in ihren Augen – ‚falschen‘ Seite der Grenze stehen: „Warum alle ab Rang X und nicht erst alle ab Rang X + 1?“. Jede Rangziehung hat, ob man es will oder nicht, ein willkürliches Element an sich. Wählt man die erste oder dritte Möglichkeit, stellt sich das Problem der Gerechtigkeit für die Angeklagten, und zwar unter der Form des Problems des fairen Prozesses – wobei das Wort „fair“ betont wird. Entscheidet man sich hingegen für die zweite Möglichkeit, also für eine allgemeine Amnestie, so stellt sich das Problem der Gerechtigkeit für die Opfer, wobei es nicht nur um einen fairen Prozess, sondern um einen Prozess überhaupt geht. Das Problem, das sich vor fast zweieinhalb Jahrtausenden in Athen stellte, hat sich vor einigen Jahren und in viel größerem Ausmaß in Ruanda gestellt. Nachdem fast eine Million Menschen den interethnischen Konflikten zum Opfer gefallen waren, stellte sich die Frage, was man mit den Tätern tun sollte. Die allermeisten Täter waren bekannt, spielten sich die Massaker doch oft in Dorfgemeinschaft ab,wo jeder jeden kannte. Schätzungen zufolge würde es ungefähr 200 Jahre dauern, wollte man in ordentlichen Gerichtsverfahren den rund 120 000 identifizierten Tätern den Prozess machen. Kann man unter diesen Umständen am Gedanken festhalten, dass jeder sich vor Gericht verantworten muss? Man könnte natürlich die Zeit kürzen, indem man massiv neue Gerichtssäle eröffnen und neues Personal einstellen würde. Angenommen dies sei möglich und es fände sich auch qualifiziertes und zuverlässiges Personal. Es stellt sich dann die Frage der Kosten und der für den Wiederaufbau des Landes und der gesellschaftlichen Beziehungen prioritären Investitionen.

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Kapitel 7: Die strafrechtliche Amnestie

Diese Frage stellt sich übrigens schon für den in der tanzanischen Stadt Arusha tagenden internationalen ad-hoc Gerichtshof für Ruanda. Hier arbeiten rund 800 Angestellte und das Gericht verschlingt ein jährliches Budget von fast $ 100 Millionen. In den ersten sieben Jahren kam es zu insgesamt 9 Urteilssprüchen gegen einige der Hauptverantwortlichen für die Massaker. Auch wenn man sicherlich die symbolische Bedeutung der Verurteilungen berücksichtigen muss, bleibt doch zu fragen, ob die durch die Prozesse verschlungenen Summen nicht gebraucht werden sollten, um das Land wieder aufzubauen und um der Jugend eine angemessene Ausbildung zu geben. Angesichts der Tatsache, dass die normale Justiz in Ruanda nie genügen würde, um sich aller Straftaten anzunehmen, hat man auf eine einheimische Prozedur zurück gegriffen, und zwar auf die gacaca-Justiz. Es handelt sich hier, kurz gesagt, um eine Prozedur, an der die Einwohner eines Dorfes beteiligt sind. Der Täter muss sich vor seinen Mitbürgern verantworten. Dabei geht es nicht so sehr darum, den Täter zu bestrafen, als ihn wieder in die Gemeinschaft zu integrieren. Die gacaca-Prozedur folgt der Logik des Palavers. Jean-Godefroy Bidima schreibt über das Palaver: „Das Palaver – als ununterbrochener Dialog – gibt dem Dissens in einem befriedeten sozialen Raum Ausdruck, es zieht eine Grenze zwischen dem, was noch toleriert, und dem, was nicht mehr toleriert werden kann, es erlaubt, das soziale Band zu bewerten und es zu bestärken“ (Bidima 1997: 37). Durch den Rückgriff auf eine informelle Form von Justiz soll versucht werden, die Straftäter zumindest vor ihre Verantwortung zu stellen, gleichzeitig aber auch die sozialen Bande wieder herzustellen, die durch die ethnischen Konflikte arg in Mitleidenschaft gezogen wurden. Angenommen die Chancen für einen fairen Strafprozess sind äußerst gering: Ist es dann besser, auf jeden Prozess zu verzichten, anstatt das Risiko zu laufen, einen unfairen Prozess zu haben, oder ist ein für die Angeklagten unfairer Prozess immer noch besser als kein Prozess? Die Opfer werden sich wahrscheinlich eher für die letzte Alternative entscheiden, da es in ihren Augen oft wichtiger ist, dass die Täter überhaupt verurteilt und bestraft werden, unabhängig davon, ob diese Verurteilung und Bestrafung das Resultat eines fairen oder unfairen Prozesses sind. Für sie heiligt gewissermaßen der Zweck jedes Mittel. Nimmt man aber die Perspektive der Gerechtigkeit – und zwar diesmal der distributiven und nicht der bloß strafenden – ein, so muss man feststellen, dass ein unfairer Prozess dem Gerechtigkeitsgedanken langfristig gesehen nicht immer dienlich ist. Denn indem die Sieger und neuen Mächtigen eine sogenannte Siegerjustiz durchziehen, liefern sie Elemente, um ihre eigene Legitimität in Frage stellen zu lassen, und damit auch die Legitimität ihres Anspruchs, eine neue Ära der Gerechtigkeit einzuleiten. Auch in diesem Fall steht ein moralisch relevanter Wert der strafenden Gerechtigkeit gegenüber. Non fiat iustitia ut non pereat equitas. 9. Gerechtigkeit oder Heilung? Wenn ein blutiger Bürgerkrieg oder eine oft ebenso blutige Gewaltherrschaft zu Ende gehen, hört man zwar einerseits den Ruf nach strafender Gerechtigkeit, andererseits aber auch den Ruf nach Wiederversöhnung und nach Heilung der Wunden. Vor allem ein Bürgerkrieg

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bedeutet eine radikale Spaltung des Staatskörpers und der Gemeinschaft, und nach dem Ende des Bürgerkriegs gilt es, diese Spaltung aufzuheben und die Nation wieder zu einer Einheit wachsen zu lassen. Man will die Spaltung hinter sich lassen und auf dem Fundament einer neu gewonnen Einheit nach vorwärts schreiten. In einer solchen Situation erscheint eine Amnestie oft als ein angemessenes Mittel, um die Einheit der Gemeinschaft zu zementieren, wohingegen das Einleiten von Strafprozessen, vornehmlich gegen die im Bürgerkrieg Besiegten, den Eindruck erwecken kann, als wolle man hier gewissermaßen den Bürgerkrieg mit anderen Mitteln, nämlich mit den Mitteln des Strafrechts, fortsetzen. Mag dieses Mittel auch eine höhere Würde haben als die rein militärische Gewalt, so scheint in ihm doch das Freund-Feind Schema des Bürgerkriegs weiterzuleben und damit auch die Spaltung der Gemeinschaft. Jeder neue Strafprozess wird dann zu einer neu zu bluten anfangende Wunde, und je mehr solcher Strafprozesse es gibt, desto mehr wird der politische Körper durch Wunden gekennzeichnet sein, die eine Heilung immer schwerer machen. Im Extremfall kann es sogar so weit kommen, dass der Krieg wieder ausbricht, wodurch den alten Wunden neue hinzu gefügt werden. Durch die Amnestie, vor allem wenn sie auf die Sprache des gegenseitigen Verzeihens zurück greift, wie es oft der Fall ist, kann der Versuch gemacht werden, der Spirale der Gewalt ein Ende zu setzen und dem politischen Körper wieder die Möglichkeit gegeben werden, sich zu rekonstituieren. In diesem Zusammenhang spricht man meistens von Schlussstrich- oder Befriedungsamnestien. Durch die Amnestie soll nämlich ein Strich und damit eine Grenze gezogen werden. Auf der einen Seite dieser Grenze liegt eine Epoche der Spaltung, des Streites, des gegenseitigen Misstrauens, usw., während auf der anderen Seite eine Epoche der Versöhnung, des Zusammenarbeitens, des Friedens, des Vertrauens, usw. liegen soll. Die Rivalitäten aus der Vergangenheit sollen sich nicht auch auf die Zukunft erstrecken und damit eine nie endende Kette bilden. Es war eine solche Schlussstrichamnestie, die in Athen am Ende des Peloponesischen Krieges durchgesetzt wurde. Anstatt sich weiter feindlich gegenüber zu stehen und die Gerichte zum Ort ihrer feindlichen Auseinandersetzung zu machen, sollten die Demokraten und die Ex-Anhänger der Oligarchen sich wieder als ein geeintes Volk empfinden. Es ist auch eine solche Schlussstrichamnestie, die man in Südafrika wiederfindet. Wo im alten Südafrika die Weißen die Apartheidgesetze genutzt haben, um die Schwarzen zu unterdrücken, sollten im neuen Südafrika nicht die Schwarzen die Strafgesetze benutzen, um die Weißen bestrafen zu lassen. Südafrika hatte genügend Übel gekannt und es sollte eine neue Epoche der Zusammenarbeit eingeläutet werden. Die Schlussstrichamnestie ist somit zugleich eine den Neubeginn erlaubende Amnestie. Es geht also nicht nur darum, die Vergangenheit einfach vergangen sein zu lassen, sondern die Amnestie soll die Möglichkeit eines Neubeginns geben. Die Heilung des politischen Körpers ist kein Selbstzweck, sondern das Mittel, um sich den Aufgaben der Zukunft zuzuwenden. Dabei muss die Vergangenheit nicht unbedingt absolut vergessen werden. Eine strafrechtliche Amnestie lässt durchaus die Möglichkeit einer Entschädigung

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Kapitel 7: Die strafrechtliche Amnestie

der Opfer oder ihrer Verwandten seitens des Staates zu. Die strafrechtliche Amnestie bedeutet nur, dass die Täter nicht vor Gericht müssen und dass ihnen keine Strafe seitens der Strafjustiz droht. Es kann Situationen geben – und hier wäre etwa Argentinien zu nennen –, in denen eine Amnestie als einzige Möglichkeit erscheint, um die Gemeinschaft vor einem neuen Bürgerkrieg und vor einer neuen Ära der Militärherrschaft zu retten. Non fiat iustitia ut non pereat communitas. 10. Die Opfer der Amnestie: Die Opfer der Straftaten. Die unmittelbarsten Opfer der Amnestie sind meistens auch die unmittelbarsten Opfer der amnestierten Straftaten, so dass in den Augen vieler dieser Opfer die Amnestie dem Unrecht der Straftat ein zweites Unrecht hinzufügt. Denn die Amnestie frustriert den Wunsch der Opfer, die Verbrecher bestraft zu sehen. Das Opfer fühlt sich mit seinem Leiden nicht wirklich ernst genommen, wenn es sieht, dass der Täter sich frei in der Öffentlichkeit bewegen kann, so als sei gar nichts geschehen. Das Opfer muss weiter an den physischen und psychischen Konsequenzen der erlittenen Straftat leiden, wohingegen der Täter von den rechtlichen Konsequenzen der Straftat befreit wird. Insofern die Amnestie oft, wie in Frankreich am Ende der Religionskriege, mit einem absoluten Verbot der Thematisierung in der Öffentlichkeit verbunden ist, können die Opfer sich nicht einmal mehr als Opfer zu erkennen geben und von der Gemeinschaft als solche anerkannt werden. Indem es zum Schweigen verurteilt wird, wird dem Opfer die Möglichkeit genommen, seine eigene Wahrheit zu sagen und sich somit an der Herausbildung eines kollektiven Gedächtnisses zu beteiligen. In Südafrika hat man zumindest versucht, dieses Problem zu lösen, indem man ein Forum schuf, das den Opfern die Möglichkeit gab, sich frei zu äußern und zu erzählen, was sie oder ihre Nächsten haben über sich ergehen lassen müssen. Durch den bloßen Akt des Sprechens ist es vielen Opfern wieder gelungen, sich als Subjekte zu erfahren, und dies vor allem dann, wenn sie den Tätern gegenüber standen und wenn diese Täter dann auch selbst sprachen und mit an der Aufdeckung der Wahrheit kollaborierten. Die Sache ist natürlich noch schlimmer für die Opfer, wenn mit der strafrechtlichen auch eine zivilrechtliche Amnestie einhergeht, wie es meistens der Fall ist. In dem Fall kommt niemand für den körperlichen, materiellen und auch seelischen Schaden auf, den das Opfer erlitten hat. Auch wenn das Opfer kein Anspruchsrecht auf Bestrafung der Täter gegenüber dem Staat geltend machen kann, sollte ihm doch die Möglichkeit nicht genommen werden, einen Schadensersatz zu verlangen. In vielen Fällen wird ein solcher materieller oder finanzieller Schadensersatz allerdings entweder nicht möglich, oder, wo möglich, nicht wünschenswert sein. Dabei stößt man auf die Frage, wer diesen Schadensersatz leisten soll. Sind es die Täter als Privatpersonen, dann reichen ganz oft die finanziellen Mittel nicht aus, um den Schaden angemessen zu ersetzen – zumal dann nicht, wenn viele Menschen einen Schadensersatz beanspruchen. Die andere Möglichkeit wäre, dass der Staat den Schaden ersetzt, was vor allem dann der Fall sein könnte, wenn die Täter im Dienste des Staates gehandelt haben. Nur stellt sich dann die Frage, ob der Staat sich nicht der

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nötigen Ressourcen begibt, die für den Wiederaufbau des Landes notwendig sind. Wenn der Staat etwa 100 Millionen Euro zur Verfügung hat, soll er damit 10000 private Opfer je einzeln entschädigen – jedes Opfer erhielte dann die stattliche Summe von 10000 Euro –, oder soll er damit Schulen und Krankenhäuser bauen? Ist es wichtiger, den unmittelbaren Schaden am Individuum wieder gutzumachen, oder Bedingungen zu schaffen, von denen die betroffenen Individuen auch profitieren werden? Denn was nutzen einem 10000 Euro, wenn es keine Schulen gibt, in die man seine Kinder schicken kann oder keine Krankenhäuser, wenn man medizinisch behandelt werden muss. In diesem Zusammenhang wird auch der Begriff des Opfers zum Gegenstand der Reflexion werden müssen. Wenn wir etwa den Fall Südafrika nehmen, umfasst die Menge der Opfer der Apartheid nicht nur die vielen Schwarzen, die von der Polizei hingerichtet, gefoltert, geschlagen, usw. wurden, sondern sie umfasst auch alle diejenigen Menschen die, bloß weil sie schwarz waren, keine Gelegenheit hatten, ein ihren Fähigkeiten entsprechendes Studium zu absolvieren. Diese Menschen wurden zwar nicht gefoltert, aber es wurde ihnen auf eine willkürliche Art und Weise die Möglichkeit genommen, ihre Fähigkeiten voll zu entwickeln und einen diesen Fähigkeiten entsprechenden Beruf zu ergreifen. Es ist nicht einzusehen, warum man nicht auch dem durch diese Menschen erlittenen Schaden Rechnung tragen sollte, indem man entweder ihnen oder ihren Kindern angemessene Ausbildungsmöglichkeiten und – infrastrukturen zur Verfügung stellt. Will man dementsprechend allen diesen Opfern gerecht werden, muss man sich zum Teil vom Paradigma der materiellen individuellen Entschädigung loslösen. So wird man etwa den Eltern von Kindern sagen müssen, dass man zwar sie, die Eltern, nicht unmittelbar materiell und finanziell für das entschädigen wird, was sie unter dem Apartheidsystem gelitten haben, dass man sie aber gewissermaßen mittelbar entschädigen wird, indem man ihren Kindern ordentliche Ausbildungsmöglichkeiten anbietet. Das schließt selbstverständlich nicht aus, dass man den Eltern zumindest eine immaterielle, symbolische Form von Entschädigung anbietet. Diese könnte z. B. darin bestehen, dass man ihre Namen auf ein Denkmal zu Ehren der Opfer der Apartheid festhält oder dass man Straßen nach ihnen benennt, wie es Russell Daye vorschlägt (Daye 2004: 143). Die Opfer haben sicherlich einen materiellen Schaden erlitten, aber sie haben auch einen symbolischen Schaden erlitten, indem ihre Würde missachtet wurde. Es ist nicht gesagt, dass Geld das geeigneteste Mittel ist, um diese missachtete Würde wieder herzustellen. Den Opfer der Straftaten muss dementsprechend nicht immer ein zweites Unrecht geschehen, wenn die Täter nicht bestraft sondern amnestiert wird. Es geschieht ihnen allerdings ein zweites Unrecht, wenn man sie beim Neubeginn ganz unbeachtet lässt, und zwar unabhängig davon, ob die Täter bestraft werden oder nicht. Will man durch die strafrechtliche Amnestie die nationale Einheit wieder herstellen, dann muss diese Amnestie den Tätern und den Opfern etwas bringen. 11. Die Opfer der Amnestie: Die Amnestierten. Zu den Opfern der Amnestie gehören in einem bestimmten Sinne auch die Amnestierten selbst. Dies mag

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auf den ersten Blick paradox erscheinen, bedenkt man, dass die Amnestie die Täter vor strafrechtlichen Konsequenzen schützt und ihnen erlaubt, ein freies Leben zu führen. Doch sieht man etwas genauer hin, wird man feststellen, dass die Amnestie für sie nicht nur Vorteile hat. Auch wenn bei weitem nicht alle Opfer von Straftaten bereit sind, zur Selbstjustiz zu greifen, wenn der Staat ihrem Wunsch nach strafender Gerechtigkeit nicht entgegenkommt, findet man doch in der nahen Geschichte eine Reihe von Beispielen, in denen Individuen wieder das Recht zu strafen an sich nahmen. Laut Guido Crainz soll es nach dem Zusammenbruch des Faschismus in Italien zu ungefähr 10000 Hinrichtungen von – wirklichen oder vermuteten – Kollaborateuren gekommen sein (Crainz 2001: 162). Ähnliche Phänomene hat es auch in Frankreich, Griechenland und anderen von den Deutschen besetzten Gebieten gegeben. Wahrscheinlich vorausahnend, dass die öffentliche Justiz sich nicht der Fälle der Kollaborateure annehmen würde, oder einfach um ihrem Rachegefühl Ausdruck zu verschaffen, beschlossen einzelne Individuen, sich dieser Aufgabe anzunehmen – dabei sicherlich gleichzeitig schon vorausahnend, dass sie selbst nicht für ihre Handlungen vor Gericht gebracht würden. Wo den Opfern Gerechtigkeit verweigert wird, werden die Opfer sich selbst rächen. Trägt man dem eben Gesagten Rechnung, wird man fragen können, ob es nicht manchmal im Interesse des Verbrechers liegen kann, nicht amnestiert zu werden. Denn in bestimmten Fällen besteht seine Wahl nicht zwischen einem Strafprozess mit anschließender Strafe einerseits und einem freien und unbekümmerten Leben andererseits, sondern es ist eine Wahl zwischen einerseits einer öffentlichen, geregelten und die Rechte des Angeklagten respektierenden Strafjustiz, und einer privaten, ungeregelten, die Rechte des vermuteten Verbrechers nicht respektierenden strafenden Justiz andererseits. Ob es zu einer solchen Privatjustiz kommen wird oder nicht, hängt hauptsächlich von zwei Faktoren ab, einem psychologischen und einem politischen. Mit dem psychologischen Faktor sind die Gefühle, Überlegungen, usw. der Opfer gemeint. Nicht jedes Opfer will dem Täter Übel zufügen und auch nicht jedes Opfer ist psychisch dazu in der Lage. Das Heil des Amnestierten liegt somit oft in der Leidenschaftslosigkeit oder Resignation der Opfer oder in deren Hemmungen gegenüber der Ausübung von Gewalt. Wo es, wie in Italien oder in Frankreich nach der Befreiung, starke Ressentiments gab, droht eine politische Säuberung, der meistens nicht nur tatsächliche Kollaborateure zum Opfer fallen, sondern die auch als Vorwand dienen kann, um jeden zu eliminieren, den man eliminieren will. Mit dem politischen Faktor ist die Stärke des Staates gemeint. Im Italien der Jahre 1944 und 1945 gab es so gut wie keine das ganze Land kontrollierende Staatsgewalt mehr, so dass niemand sich vor staatlichen Sanktionen zu fürchten hatte. Je schwächer also die Staatsgewalt ist – und ein schwacher Staat wird oft zur Amnestie neigen –, umso gefährlicher kann die Situation des Amnestierten werden. Rache, so Wilson in seiner Studie über Südafrika, „entfaltet sich nicht von selbst und gemäß ihrer eigenen Regeln, sondern blüht dort auf, wo stärker institutionalisierte Formen der Vergeltung (mögen sie staatlicher oder informeller Natur sein) fehlen“ (Wilson 2001: 160).

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Mit der Amnestie ist aber noch ein anderer Nachteil für den Amnestierten verbunden. Indem jemand in den Genuss einer Amnestie kommt, wird er automatisch, wenn auch nur implizit, zu jemandem, der eine Straftat begangen hat, eine Straftat die das Rechtssystem aber vergessen will. Die Amnestie kommt somit einer impliziten Anklage gleich, mag diese Anklage dann auch ohne strafrechtliche Konsequenzen bleiben. Unter diesen Umständen wird man verstehen, dass vor allem politisch oder militärisch Verantwortliche sich manchmal gegen ihre eigene Amnestierung aussprechen oder, wenn diese Möglichkeit gegeben ist, wie es in Südafrika der Fall war, keine Amnestierung für sich beantragen. Ein solcher Antrag käme in mancher Hinsicht einem Schuldgeständnis gleich. Ein solches Schuldgeständnis ist aber oft mit dem Selbstverständnis der betroffenen Person unvereinbar, da in ihren Augen das, was sie getan hat, wie schrecklich es auch immer gewesen sein mag, als notwendig für das Wohl des Vaterlandes betrachtet wird. Für sie bedeutet eine Amnestie fast dasselbe wie ein Prozess, nämlich das Zugeständnis, dass sie kriminelle Schuld auf sich geladen hat. So gaben etwa bestimmte ANC-Verantwortliche in Südafrika zu verstehen, dass die Kämpfer der ANC keine Amnestie zu beantragen hatten, da der von ihnen geführte Kampf ein gerechter Kampf war und es somit keine Verbrechen gab, die man in ihrem Fall zu amnestieren hätte. Dem muss man allerdings folgende Behauptung von Letlapa Mphahlele entgegenstellen: „Die einzige moralische Basis für eine Amnestie ist der Beweis, dass eine Person gegen ein Unrechtssystem gekämpft hat“ (Mphahlele 2003: 9). Mphahlele behauptet sogar, Freiheitskämpfer hätten ein Recht, amnestiert zu werden. Was hier auf dem Spiel ist nichts anderes als die Frage, ob und inwiefern man überhaupt moralische Kategorien – wie diejenige des gerechten Krieges – berücksichtigen will und welche Konsequenzen eine solche Moralisierung des Krieges hat. Wenn man nur die Guten, nicht aber die Bösen amnestieren will, dann muss man zunächst zwischen Guten und Bösen unterscheiden können müssen. Für Mphahlele lässt der gerechte Kriegsgrund den verbrecherischen Charakter der Handlungen bestehen, was eine Amnestie notwendig macht. Allerdings ist diese Amnestie den Tätern aber geschuldet. Für andere Autoren hingegen gibt es keine zu amnestierenden Verbrechen, wo ein gerechter Krieg geführt wird. Die Frage der Amnestie stellt sich also hier ebenso wenig wie sie sich etwa im Falle eines Handelns aus Notwehr stellt. Amnestie kann es nur dort geben, wo jemand Schuld auf sich geladen hat. Ein Kämpfer in einem gerechten Krieg lädt aber keine Schuld auf sich. Also braucht er nicht nur nicht amnestiert zu werden, sondern er darf es sogar nicht, da eine Amnestierung den gerechten Charakter des von ihm geführten Krieges implizit in Frage stellen würde. Im Falle Südafrikas sprach sich Desmond Tutu ausdrücklich gegen eine solche Moralisierung der Amnestiefrage aus. Alle sollten vor der Amnestie gleich sein, unabhängig davon, ob sie sich auf der Seite des Bösen oder auf derjenigen des Guten geschlagen hatten. Die Kämpfer des gerechten Krieges hatten also einerseits kein a priori Recht auf Amnestie, noch lag andererseits ihr Fall jenseits der Frage der Amnestierung oder Nicht-Amnestierung. Wurden ihnen Handlungen wie Entführungen oder Folterungen vorgeworfen, so war in ihrem Fall die Amnestierung an dieselben Bedingungen geknüpft wie im Fall

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derjenigen, die im Dienste des Apartheidregimes entführt und gefoltert hatten. Anders ausgedrückt: Tutu lehnte es ab, zwischen einer guten und einer bösen Folter zu unterscheiden. Hinsichtlich der Amnestierten wird man aber auch noch eine andere Konsequenz in Erwägung ziehen müssen. Laut Mervyn Bennun kann eine Gemeinschaft amnestierte Straftäter wie Personen behandeln, die ihren normalen sozialen Status eingebüßt haben, die also durch die Amnestie erniedrigt wurden (Bennun 2003: 109). Dies trifft natürlich nur dann zu, wenn die strafrechtliche Amnestie nicht auch durch eine allgemeine soziale Amnestie begleitet wird. Die im Edit de Nantes verankerte Amnestie verbietet etwa eine solche diskriminierende Behandlung. Sie ist allerdings möglich, wenn man es nur mit einer rein strafrechtlichen Amnestie zu tun hat. Für den amnestierten Täter stellt sich dann die Frage, ob es für ihn nicht besser wäre, sich einem Strafprozess und der Strafe zu unterziehen, als in den Genuss der Amnestie zu kommen. Und dies vor allem dann, wenn in der Strafe eine Art Sühne oder Schuldbegleichung gesehen wird. Den Täter amnestieren würde bedeuten, ihm nicht die Möglichkeit zu geben, seine Schuld durch die Strafe zu begleichen und damit seinen Status als normalen, vollwertigen und gleichen Mitbürger wieder zu erringen. 12. Amnestie und politische Souveränität. Die moderne Theorie der staatlichen Souveränität findet ihren philosophischen Ursprung in Bodins Six livres de la république, ein während den Wirren der Religionskriege verfasstes Werk. Die souveräne Gewalt, so Bodin, hat die „Macht, allen im allgemeinen und jedem im besonderen Gesetze zu geben […] ohne die Zustimmung eines Höheren, eines Gleichen oder eines Kleineren“ (Bodin 1986: I, X, 306). Sieht man davon ab, dass auch für Bodin der Souverän an die göttlichen Gesetze gebunden ist, so kann man die souveräne Gewalt als die in letzter Instanz entscheidende Gewalt bezeichnen. Seit Bodin und bis ins 20. Jahrhundert, wurde diese Gewalt stets mit der höchsten politischen Autorität eines Staates gleichgestellt. Was diese Autorität entschied, konnte von keiner anderen Autorität in Frage gestellt werden. Noch bevor es zum Prinzip „Cuius regio eius religio“ kam, hatte Bodin – der damit eigentlich nur die Arbeit der französischen Legisten zu Ende führte – schon das Prinzip des „Cuius regio eius legislatio“ formuliert. Mit dem 20. Jahrhundert wurde allerdings das Prinzip der staatlichen Souveränität mehr oder weniger radikal in Frage gestellt. Und zwar geschah dies im Namen einer Instanz, die über dem Staat und über der nationalen Gemeinschaft stand. Diese Instanz war die Menschheit, die zwar einerseits als Abstraktum gedacht wird, andererseits aber auch in ihrer Konkretisierung, d. h. als sie verkörpernde Individuen. Ganz allgemein lässt sich sagen, dass mit dem 20. Jahrhundert das Individuum mit seinen partikularen Ansprüchen zum letzten Bezugspunkt des internationalen Rechts geworden ist. Wo in der Vergangenheit die Amnestie den Individuen im Namen der allgemeinen Versöhnung und der höheren Interessen der Gemeinschaft aufgezwungen werden konnte, ist dies heute nicht mehr der Fall. Individuen können sich an internationale Gremien wenden, damit diese ein Amnestiegesetz als völkerrechtswidrig erklären. Das gilt natürlich meistens nur hinsichtlich von bestimmten Straftaten, nämlich diejenigen, die die Menschheit im Menschen betreffen. Die staatliche

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Souveränität stößt hier auf eine Hürde, die sie nicht überspringen darf, auch dann nicht, wenn es nötig wäre, um schlimmere Konsequenzen abzuwenden. Man wird, was diese schlimmeren Konsequenzen betrifft, selbstverständlich immer sagen können, dass sie mehr vorgestellt als wirklich zu erwarten sind. Dass die Militärs für den Fall einer Nicht-Amnestierung mit einem Staatsstreich drohen, heißt noch nicht, dass sie ihn auch tatsächlich durchführen werden. Und selbst wenn man den Fall setzt, dass sie ihn durchführen werden, so heißt das noch nicht, dass sie auch erfolgreich sein werden. Dem Argument „Wenn wir kein Amnestiegesetz erlassen, wird der demokratische Prozess unterbrochen werden“ sieht man heute mit immer größerer Skepsis entgegen. Doch gesetzt den Fall, dass das Nicht-Erlassen eines Amnestiegesetzes tatsächlich zu einem Staatsstreich und damit zu einer Neuauflage der Militärherrschaft führt, mit allen ihren schwarzen Seiten (Entführungen, Folter, …). Sollte man in einem solchen Fall wirklich an der Forderung nach Strafprozessen festhalten? Sollte die internationale Gemeinschaft sich wirklich hinter das Individuum stellen, das einen Strafprozess verlangt? Sollte hier dem Anspruch des Individuums – das diesen Anspruch im Namen der in ihm oder in allen Opfern verletzten Menschheit erhebt – stattgegeben werden, komme was möge? Wenn, wie Carl Schmitt es in Politische Theologie formuliert hat, die Souveränität darin besteht, über den Ausnahmefall zu entscheiden, so stellt uns die Amnestie tatsächlich vor die Frage der Souveränität, geht es doch darum, über eine Ausnahme zu statuieren. Die Regel ist, dass Verbrechen bestraft werden müssen bzw. dass zumindest jedes Verbrechen zum Gegenstand eines Strafprozesses gemacht wird. Die Amnestie bricht mit dieser Regel und sieht einen Ausnahmefall vor, einen Fall, in dem Verbrechen keine strafrechtlichen Konsequenzen nach sich ziehen, und dies obwohl keiner der üblichen, gesetzlich vorgesehenen Entschuldigungs- oder Rechtfertigungsgründe vorliegt. Sah das vornürnbergsche Völkerrecht solche Ausnahmen vor bzw. schloss es sie nicht aus, so hat sich die Situation seit Nürnberg und der UN-Völkermordkonvention geändert. Für die allermeisten gemeinen Verbrechen – die man als Verbrechen nur gegen Individuen und nicht auch gegen die Menschheit ansehen kann – haben die Einzelstaaten zwar noch immer die Möglichkeit der Amnestierung – man denke etwa an die Amnestierung im Falle der Steuerhinterziehung –, aber sie haben diese nicht mehr im Falle des Völkermordes, der Verbrechen gegen die Menschheit, der Kriegsverbrechen und des Verbrechens des Angriffskriegs. Diese Verbrechen gehen nämlich die gesamte Menschheit etwas an, so dass davon ausgegangen wird, dass kein einzelner Staat souverän darüber entscheiden kann, ob die Täter amnestiert werden sollen oder nicht. Für diejenigen die sich solcher Verbrechen schuldig gemacht haben, gibt es inzwischen einen permanenten internationalen Strafgerichtshof. Was es aber nicht gibt, ist ein internationaler, die Menschheit vertretender Souverän, der über eine mögliche Amnestie entscheiden könnte. Insofern sind diese Verbrechen de iure nicht amnestierbar. Allerdings kann die internationale Gemeinschaft keiner nationalen Gemeinschaft verbieten, sich selbst und den sich in ihr abzeichnenden Demokratisierungsprozess durch eine Amnestie zu retten. Wo eine Gemeinschaft sich nur durch eine Amnestie vor der Wiederkehr eines Terrorregimes retten kann, hat sie keine andere Wahl, als zu amnestieren.

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13. Gerechtigkeit oder Gerechtigkeit? Ein Gesinnungsethiker, für den die Gerechtigkeit unter keinen Umständen aufgegeben werden darf, wird der These widersprechen, dass man die Gerechtigkeit im Rahmen einer Amnestie opfern darf und er wird mit Cicero sagen: „Es sind einige Handlungen teils so abschreckend, teils so schandbar, dass der Weise diese nicht einmal zur Rettung des Vaterlandes vollbringen wird“ (Cicero 1995: 139). Für den Gesinnungsethiker ist die Amnestie, besonders wenn sie solche Verbrechen wie den Völkermord betrifft, äußerst schandbar, so dass er auch dann gegen eine Amnestierung von Völkermördern plädieren würde, wenn diese allein „zur Rettung des Vaterlandes“ führen könnte. Für ihn ist das Prinzip der Strafgerechtigkeit ein kategorisches, das als solches keine Ausnahme und somit auch keinen Kompromiss mit der Wirklichkeit duldet. Lässt die Wirklichkeit die Realisierung des Prinzips der Strafgerechtigkeit nicht ohne schwerwiegende Folgen zu, dann soll die Wirklichkeit zu Grunde gehen: Fiat iustitia pereat mundus. Anders der Verantwortungsethiker, dem dabei zwei mögliche Argumentationsstrategien offen stehen. Er kann nämlich erstens behaupten, dass die Gerechtigkeit zwar unbedingt erfordert, dass etwas für die Opfer getan wird, und seien es auch nur Handlungen, die dazu dienen, die Erinnerung an sie wach zu halten, dass sie aber nicht erfordert, dass die Täter bestraft werden. Hier bricht er mit einer der zentralen Prämissen des Gesinnungsethikers, nämlich mit der Prämisse, dass jeder Straftäter bestraft werden muss. Bei der zweiten Strategie braucht er nicht mit dieser Prämisse zu brechen. Er wird dann zugeben können, dass Verbrechen bestraft werden müssen, aber gleichzeitig darauf hinweisen, dass man es nicht verantworten kann, durch die Bestrafung eines bestimmten Verbrechens eine Situation herbeizuführen, in welcher Verbrechen nicht mehr bestraft werden oder in welcher Handlungen zu Verbrechen erhoben werden, die aus moralischer Sicht überhaupt keine Verbrechen sind. Das fiat iustitia pereat mundus des Gesinnungsethikers lässt außer Acht, dass mit der Welt auch die Bedingungen der Möglichkeit der Gerechtigkeit zu Grunde gehen. Was hat man davon, unbedingt ein vergangenes Verbrechen bestrafen zu wollen, wenn das Festhalten an diesem Wollen zu einer Situation führen kann, in der solche Leute wieder die Macht übernehmen, die man gerade bestrafen wollte. Durch ihre Machtübernahme wird nicht nur ihre eigene Verurteilung und Bestrafung vereitelt, sondern es herrschen wieder Bedingungen, unter denen keine wirkliche Gerechtigkeit möglich ist. Will man also die Wahl in der vorausgesetzten Extremsituation – Machtübernahme der Militärs wenn keine Amnestie – korrekt darstellen, so wird man sagen müssen, dass man in einem Fall überhaupt keinen fairen Strafprozess haben wird, weder für vergangene noch für zukünftige Straftaten – da ein durch die Militärs kontrollierter Strafapparat keine Fairnessgewähr bietet – während man im anderen Fall zwar für bestimmte vergangene Handlungen keinen Strafprozess haben wird, wohl aber für zukünftige Straftaten, wobei in letzterem Fall ein unabhängiger Justizapparat eine gewisse Fairnessgarantie bietet. Hier wird die strafende Gerechtigkeit nicht um eines anderen Wertes willen geopfert, sondern sie wird um ihres selbst willen zwischen Klammern gesetzt.

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Ist in der Vergangenheit viel über die Legi­ timation des staatlichen Rechts zu strafen diskutiert worden, so blieb die Frage nach einer staatlichen Pflicht zu strafen gewöhn­ lich unterbeleuchtet. In diesem Buch, das zugleich als eine allgemeine Einführung in einige der zentralen philosophischen Probleme des Strafrechts konzipiert ist, hinterfragt Norbert Campagna die Legiti­ mationsbasis der Strafpflicht. Der erste Teil des Buches untersucht die Begriffe des Strafrechts und der Strafe und geht auf die Problematik eines Rechts und einer Pflicht zu strafen ein, sowie auf den Strafzweck. Der zweite Teil nimmt drei Rechtsinstitute in den Blick, die einen Ver­ zicht auf Strafe beinhalten: die Immunität, die Verjährung und die Amnestie.

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ISBN-10: 3-515-08987-X ISBN-13: 978-3-515-08987-6