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German Pages 272 Year 2019
R ECHT UND PHILOSOPHIE Band 3
Strafrecht und Philosophie: Argentinische Perspektiven Beiträge zur internationalen Strafrechtstheorie und Rechtsphilosophie
Herausgegeben von
Michael Pawlik und
Gabriel Pérez Barberá
Duncker & Humblot · Berlin
MICHAEL PAWLIK/GABRIEL PÉREZ BARBERÁ (Hrsg.)
Strafrecht und Philosophie: Argentinische Perspektiven
Recht und Philosophie Herausgegeben von Prof. Dr. Eberhard Eichenhofer, Jena Prof. Dr. Stephan Kirste, Salzburg Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Michael Pawlik, Freiburg Prof. Dr. Michael Schefczyk, Karlsruhe Prof. Dr. Klaus Vieweg, Jena Prof. Dr. Benno Zabel, Bonn
Band 3
Strafrecht und Philosophie: Argentinische Perspektiven Beiträge zur internationalen Strafrechtstheorie und Rechtsphilosophie
Herausgegeben von
Michael Pawlik und
Gabriel Pérez Barberá
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2019 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 2509-4432 ISBN 978-3-428-15641-2 (Print) ISBN 978-3-428-55641-0 (E-Book) ISBN 978-3-428-85641-1 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Inhalt Gabriel Pérez Barberá und Michael Pawlik Einleitung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Federico José Arena Normative Stereotype und Strafrecht. Einige konzeptuelle Überlegungen . . . . . . . . . 13 Hernán G. Bouvier Determinismus, Irrtum und Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Alejandro Chehtman Die extraterritoriale Reichweite des Rechts zur Bestrafung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Marcelo Ferrante Neubetrachtung des „glücklichen Zufalls“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Juan Iosa Negative Freiheit, persönliche Autonomie und Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 María Laura Manrique Handlung, dolus eventualis und Doppelwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Pablo E. Navarro Implizite Rechte und Verfassungsgrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 José Milton Peralta Chantage als Ausbeutung. Über das Unrecht der bedingten Androhung erlaubter Taten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Gabriel Pérez Barberá Wahrheit und Beweis im Strafprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Rodrigo Sánchez Brígido Strafrecht, Autorität und die epistemische Konzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Eugenio C. Sarrabayrouse Frankfurt und seine beiden Schulen. Ähnlichkeiten, Unterschiede und Verbindungen mit Argentinien .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Hugo Seleme Sollen die Moralphilosophen von den Juristen lernen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Autoren und Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Textnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
Einleitung Von Gabriel Pérez Barberá und Michael Pawlik Einleitung
Gabriel Pérez Barberá und Michael Pawlik: Einleitung
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I. Im Jahre 1987 erschien in diesem Verlag der Aufsatzband „Argentinische Rechtstheorie und Rechtsphilosophie heute“. Herausgegeben von den beiden seinerzeit bekanntesten argentinischen Rechtstheoretikern, Eugenio Bulygin und Ernesto Garzón Valdés, schilderte er den Werdegang der Rechtstheorie in Argentinien und versammelte einen repräsentativen Querschnitt argentinischer Rechtsgelehrter. Nach dreißig Jahren, in denen sich Rechtstheorie und Rechtsphilosophie stürmisch weiterentwickelt haben, ist es an der Zeit für eine erneute Bestandsaufnahme. Ihr dient der vorliegende Band. Hervorgegangen ist er aus einem seit rund zwanzig Jahren bestehenden und in Córdoba beheimateten Forschungsseminar. Gegründet wurde es von dem bekannten Rechtstheoretiker Pablo Navarro, Inhaber einer Professur für Rechtsund Sozialwissenschaften. Bis heute ist Pablo Navarro Leiter und spiritus rector der Gruppe. Zu den Mitgliedern dieses Seminars gehören sowohl Universitätsangehörige – viele von ihnen sind ständige Mitglieder des Öffentlichen Instituts für wissenschaftliche Forschung in Argentinien (CONICET) – als auch Rechtsanwälte, Staatsanwälte und Richter. Dank des breiten beruflichen Spektrums seiner Mitglieder vermag das Córdoba-Seminar sowohl an der aktuellen Entwicklung der internationalen Rechtsphilosophie und Rechtstheorie zu partizipieren als auch engen Kontakt zu den Fragen und Bedürfnissen der Rechtspraxis zu halten. Die Theorie praktisch werden zu lassen und die Praxis theoretisch zu reflektieren – darin besteht der Anspruch des Seminars. Von der Art und Weise, in der es diesen Anspruch einzulösen versucht, geben die nachfolgenden Beiträge Zeugnis. In seinen Anfängen beschäftigte sich das Córdoba-Seminar hauptsächlich mit Themen der allgemeinen Rechtstheorie und Rechtsphilosophie. Methodisch ist es seither in erster Linie von der zeitgenössischen analytischen Philosophie geprägt worden. Zu den zentralen Referenzautoren der Seminarteilnehmer gehören beispielsweise H.L.A. Hart, Hans Kelsen, G.H. von Wright, Joseph Raz und Ronald Dworkin. Mit dem Hinzustoßen neuer Mitglieder erweiterte sich das Themen spektrum allerdings rasch. Heute befasst das Seminar sich auch mit Fragen der Metaphysik, der Sprach-, Geist- und Moralphilosophie sowie der Institutionen-
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theorie. Einen besonders wichtigen Platz in den Seminardiskussionen nehmen freilich das Strafrecht und die Strafrechtstheorie ein. Verantwortlich dafür ist nicht allein der Umstand, dass zahlreiche Seminarmitglieder im Bereich des Strafrechts tätig sind. Die Fokussierung auf Fragen mit strafrechtlichem Bezug hat vielmehr in erster Linie inhaltliche Gründe. Einerseits bildet das Strafrecht ein besonders fruchtbares Feld zur Anwendung und Überprüfung rechtsphilosophischer und rechtstheoretischer Konzeptionen. Andererseits ist die strafrechtliche Grundlagendiskussion von einer solchen Subtilität und Differenziertheit, dass sie den professionellen Rechtsphilosophen und Rechtstheoretikern zahlreiche Anregungen zu vermitteln vermag. Auch dieses Verhältnis wechselseitiger Anregung und Befruchtung zwischen der Rechtsphilosophie bzw. der Rechtstheorie auf der einen und dem Strafrecht auf der anderen Seite schlägt sich in zahlreichen der folgenden Beiträge nieder.
II. Die fachliche Reputation des Córdoba-Seminars beschränkt sich längst nicht mehr auf Argentinien. Von seinem internationalen Renommee zeugt nicht nur die stattliche Zahl namhafter ausländischer Gäste, die im Rahmen des Seminars Vorträge gehalten und an Diskussionen teilgenommen haben, sondern auch der Umstand, dass zahlreiche Seminarmitglieder regelmäßig in den angesehensten Fachzeitschriften Europas und der Vereinigten Staaten publizieren. Auch eine Reihe der in diesem Band versammelten Aufsätze sind zunächst in solchen Zeitschriften veröffentlicht worden. In Deutschland ist die wissenschaftliche Qualität der Angehörigen des Córdoba-Seminars ebenfalls nicht unbemerkt geblieben; einige von ihnen sind regelmäßig in führenden deutschsprachigen Fachzeitschriften präsent. Als zusammenhängende Gruppe und eine der produktivsten Ideenschmieden der heutigen Rechtstheorie harrt das Córdoba-Seminar hierzulande hingegen noch der Entdeckung. Der vorliegende Band wird dies hoffentlich ändern. Er besteht aus zwölf Arbeiten, die aus rechtsphilosophischer bzw. rechtstheoretischer Perspektive ein breites Spektrum von Problemen des Strafrechts und des Strafprozessrechts behandeln. So befasst sich Federico Arena aus einem philosophischen Blickwinkel mit der Auswirkung einer besonderen Form der sozialen Kategorisierung, den Stereo typen, die sich im Strafrecht finden. Der Autor vertritt die Auffassung, dass sich unter dem Begriff „Stereotyp“ für gewöhnlich eine Bezugnahme auf Situationen verbirgt, die erhebliche Unterschiede aufweisen. Er unterscheidet infolgedessen zwischen deskriptiven und normativen Stereotypen. Erstere gebraucht man, um die Eigenschaften der Mitglieder einer Gruppe zu beschreiben, während letztere verwendet werden, um den Mitgliedern einer Gruppe eine Pflicht zuzuweisen. Diese Unterscheidung erlaube es, die Fälle zu identifizieren, in denen sowohl
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die deskriptiven als auch die normativen Stereotype unverzichtbar sind, und jene Fälle, in denen sie vermieden werden müssen. Der Text von Hernán Bouvier beschäftigt sich mit der bekannten Diskussion zwischen Deterministen und Antideterministen in der praktischen Philosophie. Nachdem er die Grundthese der Deterministen definiert hat, führt Bouvier eine Analyse der These durch, der zufolge derjenige, der den Determinismus für falsch hält, einem Irrtum unterliegt. Der Autor versucht zu zeigen, dass man, wenn man den Determinismus in einer bestimmten Art und Weise versteht, insbesondere verbunden mit dem sogenannten Naturalismus, nicht behaupten kann, dass die antideterministischen Theoretiker falsch lägen. Der Artikel will beweisen, dass der Determinismus, auf eine bestimmte Weise definiert, einen unauflöslichen Widerspruch in sich trägt. Ist dem aber so, dann drängt sich die Schlussfolgerung auf, dass die deterministischen Konzeptionen im Bereich der Moral oder des Rechts, besonders im Strafrecht, wenig zu sagen haben. Der Artikel von Alejandro Chehtman analysiert die Prinzipien, die die extra territoriale Strafgerichtsbarkeit im Rahmen des Völkerrechts regulieren. Zu diesem Zweck präsentiert Chehtman eine eigene Rechtfertigung des staatlichen Strafens, basierend auf dem philosophischen Rechtsdiskurs. Auf dieser Grundlage argumentiert er, dass sich das Recht des einzelnen Staates zur Bestrafung strafbarer Handlungen auf diejenigen Delikte beschränken müsse, die (komplett oder zum Teil) in seinem Territorium begangen wurden, oder die fundamentale Interessen seiner Einwohner beeinträchtigen. Umgekehrt legt er nahe, dass die Prinzipien des Völkerrechts, die ausschließlich in der Nationalität des Täters oder des Opfers begründet sind, aufgegeben werden müssen. Aus der Perspektive der Straftheorien zeigt Chehtman, dass sowohl die ausgeklügelten Versionen der Abschreckungstheorie als auch Vergeltungsargumente tiefgreifende Schwierigkeiten bei der Rechtfertigung der extraterritorialen Reichweite der Strafgerichtsbarkeit haben und dass folglich die von ihm vertretene Theorie vorzugswürdig ist. Marcelo Ferrante befasst sich in seiner Arbeit mit den zurechnungstheoretischen Auswirkungen des sogenannten „Zufalls in den Ergebnissen“. Er entwickelt ein Argument zur Unterstützung der im angelsächsischen Raum als klassisch oder orthodox erachteten These, wonach es nicht zutreffe, dass in diesen Fällen der Täter, der mit Erfolg tötet, nicht tadelnswerter sei als der, der auf gleiche Art zu töten versucht, aber scheitert. Dieser These wurde entgegengehalten, dass sie entweder eine wenig plausible absolute Ablehnung des moralischen Zufalls oder eine gleichermaßen unplausible Theorie der Rechtswidrigkeit oder der moralischen Unrichtigkeit impliziere, der zufolge die eingetretenen Wirkungen einer Handlung niemals eine entscheidende Rolle der Rechtswidrigkeit erfüllen würden. Ferrante entwickelt demgegenüber eine Konzeption der moralischen Verantwortung, die die Spannung zwischen Zufall und Verantwortung festhält, ohne in die Ablehnung des moralischen Zufalls zu verfallen.
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Die Arbeit von Juan Iosa geht der Frage nach der Existenz, den Grenzen und den Grundlagen eines moralischen Prinzips ohne Eingriff in das Privatleben nach. Er geht davon aus, dass die negative Freiheit in der persönlichen Autonomie gründet, und rekonstruiert die Diskussion nach Maßgabe der Abgrenzung und Bestimmung des Wertes dieses Prinzips. Er stellt fest, dass diejenigen, die diesen Wert in größerem oder geringerem Grade leugnen (perfektionistische Positionen), deflationäre Konzeptionen der Autonomie als Eingriffsverbot vertreten müssen. Zugleich weist er darauf hin, dass die persönliche Autonomie hochzuschätzen (wie es die liberalen Lehren tun) nicht impliziert, die Autonomie als striktes Eingriffsverbot zu begreifen. Schließlich beschreibt er zwei Lesarten dieses Prinzips, die beide erheblichen Einfluss auf die gegenwärtige Debatte haben, und zeigt anhand zweier exemplarischer Fälle auf, welche Konsequenzen es hat, die eine oder die andere anzunehmen. Maria Laura Manrique vertritt in ihrem Beitrag die These, dass die Zuweisung von Verantwortung für die vorhergesehenen Konsequenzen einen geringeren Vorwurf verdient als die Verantwortung für solche Dinge, die wir zu tun versuchen. Hauptsächlich geht es ihr darum, anhand der Lehre von der Doppelwirkung zu zeigen, dass die Vorsatzform des dolus eventualis nicht gerechtfertigt ist bzw. dass sie es zumindest nicht in dem Grade ist, wie es die gegenwärtige Strafrechtsdogmatik annimmt. Um diese Position zu begründen, hebt die Autorin zwei Gedanken hervor: die Notwendigkeit, eine Tat zu erklären, bevor sie beurteilt werden kann, und die Bedeutung, die in dem Unterschied zwischen „etwas versuchen“ und „die Folgen voraussehen“ liegt. Pablo Navarro analysiert in seinem Beitrag die Kompatibilität zweier zentraler Charakteristika des gegenwärtigen Rechts: der hierarchischen und dynamischen Natur der juristischen Systeme auf der einen und der Existenz impliziter Rechte auf der anderen Seite. Als Beispiel für die letztgenannten führt er das sogenannte Notstandsrecht an, welches dem Täter erlaubt, Grundrechte eines anderen zu verletzen. Wie er herausarbeitet, stellt man in derartigen Fällen fest, dass mit dem Notstandsrecht eine Duldungspflicht korreliere und dass dieses Schema große Relevanz im Umgang mit den Konsequenzen des sogenannten rechtfertigenden Notstands habe, in dessen Rahmen man einem Täter, der einen rettenden Kausalverlauf einleitet, erlaubt, bestimmte Güter des anderen Individuums zu verletzen. Navarro stellt fest, dass es trotzdem nicht häufig zu einer Analyse der normativen Hierarchie dieser Notrechte und ihrem etwaigen Konflikt mit anderen Rechten kommt, insbesondere wenn letztere Grundrechte sind. Er bietet einen Test an, um die Hierarchie der impliziten Rechte zu ermitteln, und liefert dadurch ein Kriterium, um auf rationale Art und Weise die normativen Konflikte zwischen diesen Rechten zu lösen. José Milton Peralta untersucht, worin die Rechtswidrigkeit der Erpressung besteht, und verteidigt folgende Thesen: Erstens dürfe die Erpressung nicht als ein
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Zwang betrachtet werden, denn dieser gehe vom Verbot der Handlung, mit der man den Zwang ausübt, aus. Die Erpressung sei vielmehr – zweitens – ein spezieller Fall der Ausbeutung, in welchem man immer mit verbotenen Handlungen droht. Drittens schlössen sich deshalb die Konzepte von Zwang und Ausbeutung reziprok aus. Viertens impliziere die Ausbeutung keinen relevanten Nachteil für das konkrete Opfer; sie steigere im Gegenteil seine wesentlichen Entwicklungsmöglichkeiten. Fünftens müsse man aus diesen Gründen die Strafbarkeit der Erpressung in Frage stellen, denn besagtes Verhalten verursache keinerlei Schaden für das „Opfer“. Gabriel Pérez Barberá bemüht sich zu zeigen, dass zwischen „Beweis“ und „Wahrheit“ eine Art begrifflicher Zusammenhang besteht, d. h. dass die Verbindung zwischen den beiden Begriffen nicht nur bloß zufälliger oder empirischer Natur ist, wie es die Gegenthese behauptet. Dieser zufolge kann die Beziehung zwischen Beweis und Wahrheit nicht begrifflich sein, denn schließlich ist es eine Tatsache, dass es zum Beispiel in einem Strafverfahren gültige Verurteilungen gibt, obwohl der Verurteilte tatsächlich kein Delikt begangen hat. Gemäß dieser von Perez Barberá kritisierten Position ist das einzige für einen Strafprozess Erforderliche, dass es wahr sein möge, dass p bewiesen ist, und nicht, dass p wahr sei. Perez Barberá behauptet demgegenüber, dass man, wenn man in einem Strafprozess, der das Interesse hat, etwas über die Welt auszusagen, aus irgendwelchen außerprozessualen Gründen wisse, dass p mit Sicherheit oder doch wahrscheinlich falsch ist, nicht nur nicht sagen könne, dass p wahr sei, sondern auch nicht, zumindest auf einem bestimmten Sprachniveau, dass es wahr sei, dass p bewiesen sei. Dies aber demonstriere die Existenz eines bestimmten begrifflichen Zusammenhangs zwischen Beweis und Wahrheit, wenigstens im Strafprozess. Rodrigo Sánchez Brígido verficht in seinem Text die These, dass eine Form, das Problem anzugehen, ob das Strafrecht legitim ist, darin bestehe, über die allgemeine Frage nach den Bedingungen, unter denen das Recht legitim ist, nachzudenken. Er merkt an, dass es üblich sei, davon auszugehen, dass das Recht legitim ist, wenn es von einer legitimen Macht durchgesetzt wird. Aber ein Standardproblem der Machttheorien bestehe darin zu erklären, warum die Autorität eine gewisse praktische Schwierigkeit generiere: Wenn es einen Grund für ϕ gebe, sei die Tatsache, dass die Autorität ϕ anordnet, redundant; und wenn eine Autorität anordne, dass ϕ nicht erlaubt ist, dann sei dieser Befehl inkorrekt. Der Autor erläutert, wie die sogenannte epistemische Machtkonzeption sich die Lösung dieses Problems vorstellt, und weist nach, dass diese Lösung auf zwei mit der Vernunft unvereinbaren Konzeptionen gründet: der objektivistischen und der perspektivistischen. Auf dieser Basis untersucht die Arbeit sodann den Einfluss des genannten Problems auf andere Machttheorien. Eugenio Sarrabayrouse analysiert in seiner Arbeit die Grundzüge zweier wissenschaftlicher Schulen aus unterschiedlichen Fachgebieten, aber mit Sitz in der-
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selben Universität: derjenigen in Frankfurt am Main. Er untersucht einerseits die Denkansätze von Adorno und Horkheimer, prominenter Mitglieder der vielleicht berühmtesten Frankfurter Schule; andererseits beschreibt er die Sichtweisen von Hassemer und Naucke, zweier Exponenten der sogenannten „Frankfurter Schule des Strafrechts“. Die Arbeit beschränkt sich nicht darauf, die Grundgedanken jedes Denkers darzustellen, es geht ihr vielmehr darum zu ermitteln, ob im Fall der Strafrechtler tatsächlich von der Bildung einer Schule gesprochen werden kann. Um diese Frage zu beantworten, analysiert Sarrabayrouse ihre Gemeinsamkeiten und die zwischen ihnen bestehenden Unterschiede. Schließlich untersucht die Arbeit einen von den bisherigen Interpreten weitgehend unbeachteten Aspekt: die Verbindungen, die sowohl die Philosophen als auch die Strafrechtler dieser Schulen zu Argentinien hatten. Die Erkenntnisse sind gerade in dem letztgenannten Punkt sicherlich überraschend. Hugo Seleme weist auf die Dienste hin, welche die Juristen den Moralphilosophen leisten können. Er geht von dem Befund aus, dass zwar der Nutzen, den die Moralphilosophie für die Juristen habe, in großem Umfang erforscht sei, dasselbe im umgekehrten Verhältnis aber bislang nicht geschehen sei. Die Arbeit möchte diese Lücke schließen. Es werden darin drei fehlerhafte Formen, Moralphilosophie zu betreiben, unterschieden, zu deren Vermeidung juristische Kompetenz von Nutzen sein könnte. Die erste bestehe in der sogenannten „metaethischen Obsession“, gründend auf einer skeptischen Voreingenommenheit gegenüber jeglicher sachbezogenen moralischen Überlegung. Die zweite nennt Seleme den aktivistischen Dilettantismus derjenigen, die sich ohne irgendeine theoretische Vorbereitung damit beschäftigen, von moralischen oder politischen Problemen zu sprechen. Und die dritte charakterisiert er als eine Form der philosophischen Reflexion, die in ihrem Bestreben, oberste Prinzipien zu finden, jeden Kontakt zur menschlichen Moralerfahrung verloren hat.
III. Die Herausgeber danken den Autoren dafür, dass sie ihre Aufsätze für den vorliegenden Band zu Verfügung stellten, den beteiligten Verlagen für die Erteilung der Abdruckerlaubnisse, den Übersetzern für die Übertragung der Manuskripte ins Deutsche und den gegenwärtigen und ehemaligen Mitarbeitern des Instituts für Strafrecht (Abteilung 1) der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, vor allem Frau Julia Brugger, Frau Claudia Dreßing, Frau Nicole Richlich und Frau Margot Nostadt, für die redaktionelle Bearbeitung der Texte. Ein besonderer Dank gebührt schließlich dem Verlag Duncker & Humblot für die reibungslose Zusammenarbeit.
Federico José Arena: Normative Stereotype und Strafrecht. Einige konzeptuelle Überlegungen
Normative Stereotype und Strafrecht* Einige konzeptuelle Überlegungen Von Federico José Arena Federico José Arena Normative Stereotype und Strafrecht. Einige konzeptuelle Überlegungen
I. Einleitung Gewöhnlich wird von Richtern verlangt, dass sie bei der Rechtsanwendung die nachteiligen Effekte sozialer Kategorisierungen vermeiden beziehungsweise ihnen entgegenwirken. Richter sollten ihre Aufmerksamkeit insbesondere auf Stereotype als eine problematische Art der sozialen Kategorisierung richten. Ein im Hinblick darauf besonders sensibler Rechtsbereich ist das Strafrecht. Dies ist einerseits darauf zurückzuführen, dass die Strafrechtsnormen im Allgemeinen eine große symbolische Rolle spielen, insbesondere bei der Definition derjenigen Handlungen, die schwerste Strafen als Sanktionen vorsehen. Andererseits erfordert die von den Strafrechtsnormen vorgesehene Form staatlicher Reaktion gewöhnlich einen besonders hohen Rechtfertigungsstandard. Im Bereich des Strafrechts ist es dabei besonders zu kritisieren, wenn Rechtfertigungen auf Stereotypen basieren. Jedoch ist es nicht einfach, die Grundlagen zu identifizieren, aufgrund derer ein Stereotyp rechtlich relevant ist. Folglich ist es auch schwierig festzulegen, ob alle Stereotype vermieden werden müssen oder ob Stereotype existieren, die akzeptabel oder obligatorisch sind. Diese Schwierigkeiten folgen vor allem daraus, dass der Gebrauch des Begriffs „Stereotyp“ nicht immer einheitlich ist. So wird einerseits durch ein Stereotyp den Mitgliedern einer Gruppe aus dem alleinigen Grund der Gruppenzugehörigkeit eine Eigenschaft zugeschrieben.1 Das heißt, eine Eigenschaft B wird allen Mitgliedern einer Kategorie zugeschrieben, sodass sie dieser Kategorie angehören, sofern sie die Eigenschaft A besitzen.2 Die Eigenschaft kann positiv oder negativ sein (z. B. Asiaten sind gut in Mathematik, Rocker sind gewalttätig).3 Diese persönlichen Merkmale kön* Übersetzung ins Deutsche durch Anna Richter. 1 Oakes/Haslam/Turner, Stereotyping and Social Reality, 1994. 2 Schauer, Profiles, Probabilities and Stereotypes, 2003. 3 Dies ist eines der Merkmale, das Stereotype von anderen kritischen Formen sozialer Kategorisierung wie den Vorurteilen oder den implicit bias unterscheidet. So beinhalten
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nen jene Verhaltensmerkmale im Sinne einer Wahrscheinlichkeit anzeigen, aber natürlich weisen sie nicht zwangsläufig auf sie hin. Daher wird über Stereotype gewöhnlich in ähnlicher Weise wie über Verallgemeinerungen diskutiert, weil Stereotype keine universelle Grundlage besitzen und es sich in den meisten Fällen um Behauptungen über das Bestehen einer statistischen Korrelation zwischen der den Mitgliedern einer Gruppe zugeschriebenen Eigenschaft und der Tatsache handelt, Mitglied dieser Gruppe zu sein.4 Andererseits gibt es auch Stereotype mit einer anderen „Passensrichtung“ (direction of fit). Diese Stereotype haben nicht das Ziel, etwas zu beschreiben, sondern den Mitgliedern einer Gruppe allein aus dem Grund der Gruppenzugehörigkeit eine Pflicht zuzuschreiben. Hierzu gehört zum Beispiel das Stereotyp, dass Mütter Hausfrauen sein sollen. Wer dieses Stereotyp verteidigt, behauptet nicht, dass die Mehrheit der Mütter Hausfrauen sind (oder dass eine statistische Korrelation zwischen dem Mutter- und dem Hausfrauensein besteht), sondern erklärt, dass Mütter diese Rolle einnehmen sollen. Diese zweite Art von Stereotypen wurde von mehreren Autoren aufgezeigt, wobei der Eindruck entsteht, dass bei ihrer Untersuchung und der Festlegung der Relevanzmerkmale, denen sie unterliegen, keine Fortschritte gemacht wurden.5 Es ist also entscheidend, den Begriff der normativen Stereotype zu präzisieren, denn diese Stereotype wirken gewöhnlich an der Schaffung und Anwendung von Strafrechtsnormen mit. Dazu werden im Folgenden einige Strafrechtsfälle untersucht, bei denen Stereotype zum Ausdruck kommen. Begonnen werden soll mit einer ausführlicheren Unterscheidung zwischen deskriptiven und normativen Stereotypen (II.). Sodann wird kurz auf die deskriptiven Stereotype eingegangen (III.). Anschließend wird die Vorurteile eine negative Haltung gegenüber einer Gruppe sowie die Bereitschaft, die Mitglieder dieser Gruppe negativ zu bewerten. Die Stereotype beinhalten hingegen nicht notwendigerweise ein Vorurteil in diesem Sinne. Ein negatives Stereotyp über eine Gruppe X zu vertreten, gibt zum Beispiel nicht immer Anlass zu einer negativen Haltung gegenüber der Gruppe X. Das kann darauf zurückzuführen sein, dass das mit der Gruppe assoziierte Merkmal gegenüber anderen Werten neutral ist (Asiaten sind keine guten Autofahrer) oder dass das Merkmal Gefühle anderer Art hervorruft (Farbige sind gute Tänzer). Vgl. dazu Blum, in: Philosophical Papers 33 (2004), S. 251 ff. – Ein implicit bias besteht in der unbewussten Zuschreibung eines geringeren moralischen Wertes an eine Person oder Personengruppe und wird gewöhnlich in kategorische (vom Kontext unabhängige) Vorlieben zugunsten oder gegen bestimmte Gruppen oder Personen übersetzt (vgl. dazu Alexander, in: University of Pennsylvania Law Review 141 [1992], S. 149 ff.) Der vorliegende Aufsatz soll nicht die Untersuchung dieser Unterscheidungen vertiefen, sondern sich auf die Behandlung der Stereotype beschränken. 4 Vgl. Schauer (Fn. 2); Appiah, in: California Law Review 88 (2000), S. 41 ff. 5 Folgende Autoren beziehen sich ausdrücklich darauf: Appiah, The Ethics of Identity, 2005; Cook/Cusack, Estereotipos de género, 2010.
Normative Stereotype und Strafrecht
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ausgehend von den Begriffen der Konvention und Konstitutivität ein konzeptueller Vorschlag hinsichtlich der normativen Stereotype präsentiert (IV.). Zuletzt sollen die sogenannten Relevanzmerkmale eingeführt werden (V.), bevor einige Überlegungen als vorläufige Schlussfolgerung dargetan werden (VI.).
II. Zwei Arten von Stereotypen – Zwischen Kategorien und Normen Der Begriff „Stereotyp“ scheint eine starke Strahlkraft zu haben. Im Allgemeinen reicht es aus, eine Behauptung als Stereotyp zu bezeichnen, damit das Gegenüber diese ablehnt. Dieser homogene Ausdruckseffekt erschwert es, die unterschiedlichen Bedeutungen des Begriffs des Stereotyps in verschiedenen Situationen zu erfassen und zu untersuchen. Folgendes Beispiel verdeutlicht diese Schwierigkeit: Im Jahr 2014 musste das Komitee zur Abschaffung der Diskriminierung von Frauen über das Vorgehen der spanischen Justiz im Fall González Carreño ein Gutachten erstatten. In diesem Fall hatte sich ein Paar getrennt, weil der Mann seine Frau misshandelt und missbraucht hatte. Danach nutzte der Ehemann die Besuchsstunden, um die gemeinsame Tochter zu entführen, zu ermorden und unmittelbar darauf Selbstmord zu begehen. In diesem Fall ging das Komitee davon aus, dass „die mit dem Schutz [des Opfers] beauftragten Behörden das Stereotyp bevorzugten, dass jeder Vater, selbst der größte Misshandler, Besuchsrechte besitzen sollte, und dass es für ein Kind immer besser ist, von Vater und Mutter erzogen zu werden. Hierbei haben sie die Rechte der Minderjährigen nicht wirklich gewürdigt und ignoriert, dass sie erklärt hatte, sie hätte Angst vor ihrem Vater und lehne den Kontakt ab. Die Gerichte gingen davon aus, dass es besser ist, Kontakt zu einem gewalttätigen Vater zu haben, als gar keinen Kontakt zu ihm zu haben. Die Umstände des Falles erforderten eine Bewertung durch Behörden und Gerichte, ob die Besuche das Recht der Minderjährigen auf Leben, auf ein Leben frei von Gewalt und auf das Prinzip des höherwertigen Interesses der Minderjährigen respektieren. [… Der Ehemann] wurde weder wegen seiner mehrfachen Angriffe auf die Klägerin noch wegen der Nichtzahlung des Unterhaltes bestraft. Trotz des Antrags der Klägerin wurde der Ehemann auch nicht dazu verpflichtet, eine Therapie zu machen, um die Beziehung zu seiner Tochter zu normalisieren. Die von den Behörden durchgeführte Bewertung der Gefahr für die Klägerin und ihre Tochter ist durch das Vorurteil und das Stereotyp getrübt, das dazu führt, die Glaubwürdigkeit der Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt wurden, in Frage zu stellen.“6
6 Fall „González Carreño“ (Spanien), Komitee zur Abschaffung der Diskriminierung von Frauen, 58. Tagungsperiode, 30. Juni bis 18. Juli 2014, Bericht Nr. 47/2012 (CEDAW/ C/58/D/47/2012).
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Federico José Arena
In diesem Zitat scheint nicht alles, was als „Stereotyp“ bezeichnet wurde, in derselben Weise ein Stereotyp zu beschreiben. Vielmehr ist es möglich, zwei verschiedene Situationen entsprechend der Passensrichtung des Begriffs zu unterscheiden. In den Situationen der ersten Art soll das, was als Stereotyp angesehen wird, Informationen über die Welt bieten, d. h. es hat das Ziel, einen Zustand zu beschreiben. Es handelt sich daher um sogenannte deskriptive Stereotype. Ihre Passensrichtung ist Stereotyp → soziale Gruppe, was bedeutet, dass ein Grund vorliegt, das Stereotyp aufzugeben oder zu ändern, wenn es nicht mit der Welt übereinstimmt.7 Aufgrund dessen können die deskriptiven Stereotype anhand ihrer (Nicht-)Übereinstimmung mit den wirklichen Eigenschaften der Referenzgruppe bewertet werden. Dies gilt zum Beispiel für das Stereotyp, dass Italiener gute Köche sind, oder in dem zitierten Text für das Stereotyp, dass die Opfer häuslicher Gewalt wenig glaubhaft sind.8 In den Situationen der zweiten Art besitzt hingegen das, was als Stereotyp bezeichnet wird, die Passensrichtung soziale Gruppe → Stereotyp. Dies bedeutet, dass die mangelnde Übereinstimmung zwischen Welt und Stereotyp ein Grund ist, die Welt zu ändern, und nicht (notwendigerweise) ein Grund, das Stereotyp zu ändern. In diesem Fall besteht eine Sollensbeziehung zwischen dem Verhalten, das mit den Gruppenmitgliedern assoziiert wird, und der Tatsache, Gruppenmitglied zu sein. Daher sind sie als normative Stereotype zu bezeichnen. Es hat also grundsätzlich keinen Sinn zu fragen, ob die normativen Stereotype eine Perso7 Auch wenn der Ausdruck „Passensrichtung“ ursprünglich genutzt wurde, um zwei Arten von linguistischen Handlungen (assertorisch und direktiv) zu unterscheiden, so hat sich der Begriff auch für die Unterscheidung verschiedener Aussagen (deskriptiv und präskriptiv) und Geisteszustände (Glaube und Wunsch) eingebürgert. Der Gebrauch des Ausdrucks hat zumindest zwei Ursprünge. Der Erste, der ihn benutzt hat, scheint John L. Austin gewesen zu sein (vgl. Austin, in: Proceedings of the Aristotelian Society 53 [1953], S. 227 ff.). Jedoch markierte er damit die Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten von assertorischen Handlungen. Der aktuelle Gebrauch ähnelt dem Gebrauch des Ausdrucks „onus of match“ von Austin. Der aktuelle Gebrauch ist mit einer von Anscombe in ihrem Werk Anscombe, Intention, 2. Aufl. 1963, S. 56 formulierten Unterscheidung verknüpft, auch wenn die Autorin diesen Begriff nicht benutzt. Daher war es letzten Endes Searle, der dem Ausdruck in verschiedenen Werken seinen gegenwärtigen Inhalt gegeben hat. Vgl. insbesondere Searle, in: Minnesota Studies in Philosophy of Science 6 (1975), S. 334 ff. Vgl. außerdem Humberstone, in: Mind 101 (1992), S. 59 ff.; Smith, in: Mind 96 (1987), S. 36 ff.; Platts, Ways of Meaning, 1979, S. 256 f. 8 Daher werden die deskriptiven Stereotype üblicherweise mit doxastischen Geisteszuständen assoziiert. Sie werden zum Beispiel als „Komplex von Vorstellungen über die Eigenschaften einer sozialen Gruppe“ definiert, so Jussim u. a., in: Nelson (Hrsg.), Prejudice, Stereotyping and Discrimination, 2009, S. 201. Dieser Aufsatz soll sich auf die Untersuchung des propositionalen Inhalts dieser Geisteszustände beschränken, ohne vorschnell die Art dieser Geisteszustände zu beurteilen.
Normative Stereotype und Strafrecht
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nengruppe oder -kategorie korrekt beschreiben oder nicht. Es handelt sich vielmehr um Normen, aufgrund derer man folgert, dass eine Person mit einer gewissen Eigenschaft bestimmte Aufgaben ausüben oder bestimmte gesellschaftliche Stellungen einnehmen sollte.9 So verhielt es sich in dem oben zitierten Text mit dem Stereotyp, dass bei getrennten Eltern die Mutter die elterliche Sorge innehat und dem Vater nur die Rolle des Besuchers zugewiesen wird. Da es demnach bedeutsam ist, zwischen verschiedenen Passensrichtungen zu unterscheiden, scheint es nicht angebracht, eine gemischte Stereotypdefinition zu benutzen, wie die, die der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte bezüglich des Geschlechterstereotyps vorgeschlagen hat. Nach dem Gerichtshof bezieht sich „das Geschlechterstereotyp auf eine implizite Konzeption von Eigenschaften oder Merkmalen, die Männer und Frauen jeweils innehaben, oder auf Rollen, die von ihnen ausgeübt werden oder werden sollen.10 Sicherlich könnte man behaupten, alle Stereotype seien normativ, weil sie Erwartungen wecken. Nur einige von ihnen haben aber außerdem den Anspruch, eine Erwartung nicht hinsichtlich der Eigenschaften zu bestätigen, die ein Gruppenmitglied innehat, sondern hinsichtlich der Eigenschaften, die es innehaben soll. Nur die Letzteren sind normativ in dem hier vorgeschlagenen Sinne. Die Unterscheidung, die hier zwischen diesen beiden Arten von Stereotypen vorgeschlagen wird, soll natürlich nicht bedeuten, dass es keine Beziehungen zwischen ihnen gibt. Einerseits wird gewöhnlich anhand eines deskriptiven Stereotyps ein normatives konstruiert. Zum Beispiel wird unter der Annahme, dass Frauen bestimmte Fähigkeiten und Talente besitzen, die sie geeigneter für häusliche Arbeiten machen, die Forderung geschaffen, dass sie, wenn sie Mütter sind, auch Hausfrauen sein sollen. Andererseits ist es wahrscheinlich, dass die Richtigkeit eines deskriptiven Stereotyps der Existenz eines normativen Stereotyps geschuldet ist. Wenn zum Beispiel das normative Stereotyp besteht, dass militärische Berufe Männern zustehen, dann ist es wahrscheinlich, dass dies dazu führt, dass Frauen de facto diese Laufbahn nicht einschlagen, und dass daher das deskriptive Stereotyp, wonach Frauen keine Militärkarriere wählen, korrekt ist.
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Alexander (Fn. 3.). González u. a. („Baumwollfeld“) vs. Mexiko. Urteil vom 16/11/2009. Serie C Nr. 205, Abs. 401. – In diesem Fall wurde das Handeln mexikanischer Beamter in den Fällen des Verschwindens von Frauen in Ciudad Juárez untersucht. Beide Stereotypenarten sind auch in einigen Aussagen des Gerichtshofes wahrzunehmen: „Die von den Beamten abgegebenen Kommentare, dass die Opfer mit ihren Lebenspartnern weggegangen seien [deskriptives Stereotyp] oder dass sie einen verwerflichen Lebensstil hätten [normatives Stereotyp], sowie der Einsatz von Fragen über die sexuellen Vorlieben der Opfer stellen Stereotype dar.“ Siehe Abs. 208. Der Gerichtshof scheint hier Cook und Cusack zu folgen, die auch eine gemischte Stereotypendefinition vorschlagen (Cook/Cusack [Fn. 5], S. 9 ff.). 10
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III. Kurzer Exkurs über deskriptive Stereotype Die Theoretiker haben ihre Aufmerksamkeit hauptsächlich den deskriptiven Stereotypen gewidmet (in diesem Teil und außer bei ausdrücklicher anderer Bezeichnung bedeutet „Stereotyp/e“ „deskriptive/s Stereotyp/e“), bei denen Fortschritte in der Untersuchung der Relevanzmerkmale gemacht wurden. Wie schon vorweggenommen, werden mithilfe der Stereotype den Mitgliedern einer Gruppe aus dem Grund der Gruppenzugehörigkeit Eigenschaften oder Merkmale zugeschrieben. Dies bedeutet, dass es nicht möglich ist, a priori alle Stereotype auszuschließen, da einige, wenn auch nicht notwendigerweise alle, die Merkmale der Mitglieder einer Gruppe korrekt beschreiben können.11 In diesem Sinne wurde vorgeschlagen, zwischen Stereotypen ohne statistische Grundlage und Stereotypen mit statistischer Grundlage zu unterscheiden.12 Diejenigen Stereotype, die einer Gruppe ein Merkmal zuschreiben, das die Gruppe nicht besitzt, haben keine statistische Grundlage. Sie werden „falsche Stereotype“ genannt. Dagegen haben diejenigen Stereotype eine statistische Grundlage, die eine tatsächlich vorhandene Eigenschaft mit einer Gruppe verbinden. Dies soll nicht heißen, dass die Mehrheit der Gruppenmitglieder diese Eigenschaft besitzt, sondern dass die Tatsache, Mitglied gerade dieser und keiner anderen Gruppe zu sein, es wahrscheinlicher macht, dass man die Eigenschaft hat. Die falschen Stereotype sind vom theoretischen Standpunkt aus weniger problematisch, da es einfacher ist, ihre Vermeidung zu fordern, weil sie eine falsche Darstellung einer Gruppe implizieren.13 Das theoretische Problem wird von den Stereotypen mit statistischer Grundlage geschaffen, da die Aussage, sie seien alle problematisch, auch der Ablehnung anderer Verallgemeinerungen gleichkommen würde, die wir als akzeptabel ansehen.14 Daher sind die Schwierigkeiten, mit der Untersuchung der Relevanz der deskriptiven Stereotype voranzukommen, teilweise dem Bestehen einer Verbindung und einer Kontinuität zwischen der Kategorisierung und dem Gebrauch von Stereotypen geschuldet.
11 „Gruppeneigenschaften“ ist zwar ungenau, soll aber aus Gründen der Kürze für „Eigenschaften der Gruppenmitglieder“ stehen. Es ist ungenau, weil zweifellos auch Eigenschaften der Gruppe bestehen, die nicht Eigenschaften ihrer Mitglieder sind. 12 Unter anderem: Schauer (Fn. 2); Appiah (Fn. 5). 13 Dies bedeutet, dass sie auch jedes einzelne Gruppenmitglied falsch darstellen. Man beachte, dass dies nicht gleichbedeutend damit ist, dass kein einziges Gruppenmitglied die fragliche Eigenschaft innehat, da dies nicht notwendigerweise aus der Behauptung folgt, dass die Gruppe sie nicht hat. Die falsche Darstellung jedes einzelnen Mitglieds, sogar derjenigen, die die Eigenschaft haben, tritt dann ein, wenn der (Nicht-)Besitz der Eigenschaft keine Folge der Gruppenzugehörigkeit ist (nicht mit der Gruppenzugehörigkeit verbunden ist). 14 Schauer (Fn. 2) und Case, in: Cornell Law Review 85 (2000), S. 1447 ff.
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Kategorien sind eine grundlegende Komponente unserer Denk-, Handlungs-, Wahrnehmungs- und Sprechweise. Die konzeptuellen Systeme werden durch Kategorien organisiert und beim Großteil unseres Denkens machen wir davon Gebrauch. Wenn wir uns durch die Welt bewegen, kategorisieren wir Personen, Tiere und künstliche oder natürliche körperliche Gegenstände. Ein Großteil des Kategorisierungsprozesses ist automatisch und unbewusst, wir bemerken ihn nur, wenn wir uns schwierigen Fällen gegenübersehen. So fragen wir uns nach den Eigenschaften der Kategorie Wein, wenn wir entscheiden müssen, ob die Flüssigkeit, die durch die alkoholische Fermentierung von Ananassaft gewonnen wird, „Wein“ ist oder ob das Garen von Gemüse auf dem Grillrost über Holzkohle als „grillen“ gilt. Es ist üblich, dass die Menschen einen leicht verständlichen oder wahrnehmbaren Aspekt eines Phänomens benutzen, um sich auf das Phänomen im Ganzen zu berufen; oder dass sie eine Subkategorie, ein Glied oder Untermodell benutzen, um die Kategorie als Gesamtes zu erfassen.15 So steht eine Subkategorie für die Kategorie in ihrer Gesamtheit und dient zur Definition von Erwartungen an die ganze Kategorie. Obwohl einige Tiger zum Beispiel zahm sein können, erlaubt uns im Allgemeinen die Kategorisierung eines uns gegenüberstehenden Tieres als Tiger, schnelle Entscheidungen zu treffen, um uns in Sicherheit zu bringen. Die Kategorisierung ist ein adaptives Merkmal, da sie unsere kognitive Fähigkeit teilweise entlastet und es ihr ermöglicht, andere Aufgaben auszuführen. Sobald wir ein Individuum einer Kategorie zuordnen, können wir es mit einer großen Informationsmenge verbinden, die wir schon vorher besaßen, ohne sie notwendigerweise in dem aktuellen Fall zu bestätigen.16 Auf diese Weise funktionieren Stereotype. Das heißt, wenn ein Stereotyp existiert, dann wurde einer Subkategorie der Status zuerkannt, die Kategorie in ihrer Gesamtheit zu repräsentieren. Dies geschieht im Allgemeinen mit dem Zweck, schnelle Bewertungen oder Überlegungen der stereotypisierten Gegenstände durchzuführen. Üblicherweise ist die Subkategorie, die als Stereotyp fungiert, einfacher zu verstehen, zu erinnern und zu erkennen und folglich im unmittelbaren Kontext einfacher zu benutzen.17 Dank dieses unbestimmten Charakters kann das Stereotyp eine kognitive Funktion ausüben. Indem wir ein Bündel von Merkmalen mit einer Gruppe verbinden, können wir uns Anstrengungen ersparen, da wir nicht mehr als die allernötigsten Informationen brauchen, um die Gruppenzugehörigkeit festzulegen. Wenn Stereotype mit statistischer Grundlage diese Struktur haben, dann sind nicht alle inakzeptabel. Dann kann die Unannehmbarkeit der Stereotype auch 15 Vgl.
Rosch/Lloyd, Cognition and Categorization, 1978. Mervis/Rosch, in: Annual Review of Psychology 32 (1981), S. 89 ff. 17 Lakoff, Women, Fire and Dangerous Things, 1987. 16
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nicht darauf gestützt werden, dass die Stereotype keine universellen Verallgemeinerungen sind, da dies ein Merkmal ist, das allen Kategorien eigen ist.18 Jedoch darf die Bedeutung der kognitiven Funktion nicht überschätzt werden. Es stimmt, dass Stereotypen mit statistischer Grundlage eine kognitive Leistung zukommt, da sie es ermöglichen, sowohl über die Gruppe im Allgemeinen als auch über ein zur Gruppe gehörendes Individuum Entscheidungen zu fällen. Aber im letzteren Fall ist es bei entgegenstehenden Beweisen nur in Ausnahmefällen gerechtfertigt, wegen der Zugehörigkeit eines Individuums zu einer Gruppe auf der Zuschreibung bestimmter Merkmale zu beharren. Vom kognitiven Standpunkt aus hat es keinen Sinn, ein Stereotyp gegenüber einem Individuum aufrechtzuerhalten, wenn erkennbar ist, dass es dieses nicht erfüllt, auch wenn das Stereotyp hinsichtlich der Gruppe richtig ist. Anders wäre dies nur, wenn wir besondere Gründe dafür haben, an unserer aktuellen Wahrnehmungsfähigkeit zu zweifeln. Mit anderen Worten, nur unter außergewöhnlichen Umständen, die mit der niedrigen epistemischen Qualität der aktuellen Feststellung zusammenhängen, erscheint es kognitiv angemessen, das Stereotyp entgegen einer abweichenden individuellen Information anzuwenden. Im Gegenteil drängt die Feststellung der Nichterfüllung des Stereotyps durch ein Individuum kognitiv dazu, dem Stereotyp bei dieser Gelegenheit nicht zu folgen, aber nicht notwendigerweise dazu, das Stereotyp ganz aufzugeben. Wir unterscheiden bei den Stereotypen somit zwischen einer allgemeinen und einer individuellen Passensrichtung. Die allgemeine bezieht sich auf die Richtigkeit des Stereotyps für die Gruppe (mit und ohne statistische Grundlage), die individuelle bezieht sich auf die Richtigkeit des Stereotyps für ein Individuum, das Mitglied der Gruppe ist ((Nicht-)Innehabung des mit der Gruppe assoziierten Merkmals). Das Fehlen der allgemeinen Passensrichtung drängt zur Aufgabe des Stereotyps. Das Fehlen der individuellen Passensrichtung drängt zum Ausschluss des Stereotyps im Einzelfall, aber nicht notwendigerweise zu seiner endgültigen Aufgabe.
IV. Die normativen Stereotype Wie in der Einleitung vorweggenommen wurde, soll sich dieser Aufsatz vor allem mit den normativen Stereotypen beschäftigen. Daher wird im Anschluss an die soeben ausgeführten Überlegungen zu den deskriptiven Stereotypen nun erstens mit der Untersuchung der Bestandteile und der Funktionsweise der normativen Stereotype und zweitens mit der Festlegung ihrer Relevanzmerkmale fortgefahren.
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Schauer (Fn. 2).
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Für die Untersuchung der normativen Stereotype (in der restlichen Arbeit und außer bei anderslautender Spezifizierung bezeichnet „Stereotype“ oder „n.S.“ die „normativen Stereotype“19) soll folgendes Beispiel des chilenischen Strafrechts zum Verbot der Homosexualität männlicher Jugendlicher betrachtet werden.20 Das Verfassungsgericht dieses Landes hatte über die Verfassungsmäßigkeit des Art. 365 chil. StGB zu entscheiden, wonach homosexuelle Beziehungen zwischen Männern über 14 Jahren strafbar sind, wenn (zumindest) einer von ihnen (die passive Person) jünger als 18 Jahre ist.21 Am 4. Januar 2011 wies das Gericht den Antrag zurück und bestätigte die Verfassungsmäßigkeit des Artikels unter anderem mit folgender Begründung: „Der von dem Gesetzgeber verfolgte Zweck war der Schutz der psychischen und physischen Unverletzlichkeit und der sexuellen Unversehrtheit der Minderjährigen, welche als notwendig angesehen wird, um Schäden oder Beeinträchtigungen der psychosozialen Entwicklung desjenigen vorzubeugen, der aufgrund der Umstände seiner physischen und emotionalen Reife nicht vollständig in der Lage ist, die Reichweite seiner Handlungen zu erfassen, bevor er das Erwachsenenalter erreicht“.22 Die Kritiker demgegenüber, die die Verfassungswidrigkeit des Artikels verfochten, wiesen vor allem auf die unterschiedliche Behandlung hin, die der männlichen Homosexualität gegenüber jeder anderen Handlung mit sexueller Bedeutung mit einer Person unter 18 Jahren, aber über 14 Jahren zuteil wurde. Das heißt, „das Gesetz erkennt dem [geschlechtsreifen] Minderjährigen männlichen Geschlechts [einen] Autonomiebereich zur Ausübung jeglicher Art von Handlungen mit sexueller Bedeutung mit Personen weiblichen Geschlechts zu sowie zur Ausübung fast jeder Art von Handlungen mit sexueller Bedeutung mit Personen männlichen Geschlechts, sofern diese nicht darin bestehen, Gegenstand des Beischlafs zu sein.“23 19 Zur begrifflichen Klarstellung: Der Ausdruck „normative Stereotype“ wird gewöhnlich auch für die Stereotype benutzt, die sich in Rechtsnormen widerspiegeln. Das ist jedoch nicht der Sinn, in dem der Begriff hier benutzt wird, da Rechtsnormen sowohl normative als auch deskriptive Stereotype widerspiegeln können. 20 Art. 365 des chilenischen StGB lautet: „Derjenige, der den Beischlaf an einer unter achtzehnjährigen Person seines gleichen Geschlechts ausführt, ohne dass die Umstände der Straftaten der Vergewaltigung oder des sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen vorliegen, wird mit Freiheitsstrafe von geringer bis mittlerer Höhe bestraft.“ Gemäß einer kontextbezogenen Auslegung, die alle weiteren Normen des Gesetzbuches miteinschließt, verbietet der Artikel die genitale Analpenetration einer Person männlichen Geschlechts unter 18 und über 14 Jahren. 21 Urteil des Verfassungsgerichts vom 4. 1. 2011, Nr. 1683 – 2010. Siehe auch Bascuñán Rodriguez u. a., in: Revista de estudios de la justicia 14 (2011), S. 73 ff. 22 Urteil des Verfassungsgerichts vom 4. 1. 2011, Nr. 1683 – 2010, Urteilsbegründung Nr. 28, 1. Absatz. 23 Bascuñán Rodríguez, in: Estudios Públicos 124 (2011), S. 121 f.
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Nach Bascuñán 24 macht das Votum der Mehrheit „sich eine seit der Antike verwurzelte kulturelle Vorstellung zu eigen, wonach die passive Rolle beim Koitus mit der Männlichkeit unvereinbar ist. Allerdings ist es etwas völlig anderes, daraus einen gültigen Grund für eine gesetzmäßige Strafbarkeit herzuleiten. Denn dies bedeutet, die Anerkennung der Menschenwürde der Übereinstimmung mit einem Stereotyp unterzuordnen.25 Bevor die Bestandteile und die Struktur der normativen Stereotype untersucht werden, erscheint es wichtig, die verschiedenen Bereiche des rechtlichen Phänomens zu unterscheiden, in welchem die Stereotype auftreten können. 1. Normative Stereotype und allgemeine Normen Aus dem beschriebenen Beispiel geht klar hervor, dass ein erster Bereich, auf welchen die Stereotype gewöhnlich einwirken, die Normschaffung ist. Schauer folgend können wir drei Elemente, oder vielleicht präziser, drei Ebenen in der Struktur der allgemeinen Regeln unterscheiden: die Ebene der Rechtfertigung, der deskriptiven Verallgemeinerung und der präskriptiven Verallgemeinerung (oder Regel im engeren Sinn). Mit den Worten Schauers: „Der faktische Satz einer Regel besteht in einer Verallgemeinerung, die hinsichtlich irgendeines verfolgten Ziels oder eines Übels, das man zu vermeiden sucht, als kausal relevant wahrgenommen wird. Die Anordnung dieses Ziels oder das Verbot dieses Übels rechtfertigen die Regelung und legen so fest, welche Verallgemeinerung den faktischen Satz der Regel bilden wird.“26 So würden diese drei Ebenen in dem bekannten Beispiel des Verbots, mit Hunden ein Restaurant zu betreten, folgendermaßen dargestellt: (1) Rechtfertigung: Es ist wünschenswert, den Kunden Unannehmlichkeiten zu ersparen. (2) Deskriptive Verallgemeinerung: Das Merkmal, einen Hund mit sich zu führen, macht es wahrscheinlicher, dass auch das Merkmal vorliegt, den Kunden Unannehmlichkeiten zu verursachen.27 24
Bascuñán Rodríguez (Fn. 23), S. 128 f. Casas Becerra u. a., Anuario de derecho público de la Universidad Diego Portales, 2012, S. 265 ff. Diese Autoren sehen hierin auch ein Stereotyp. Für eine ausführlichere Untersuchung der Frage der Verfassungsgemäßheit siehe den Bericht von Bascuñán Rodriguez u. a. (Fn. 21). 26 Schauer, Las reglas en juego, 2004, S. 86. 27 Diese Darstellung der deskriptiven Verallgemeinerung folgt den Ideen Schauers zu der Kausalbeziehung als Wahrscheinlichkeitsbeziehung. Diese Formulierung verdeutlicht auch die Tatsache, dass die fraglichen Verallgemeinerungen nicht universell sind, und dass die präskriptive Verallgemeinerung daher über- und untereinschließend ist, siehe Schauer (Fn. 26). 25
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(3) Präskriptive Verallgemeinerung (allgemeine Regel): Wenn man einen Hund mit sich führt, dann ist das Betreten des Restaurants verboten. Unter Berücksichtigung dieser Struktur können die normativen Stereotype auch auf der Rechtfertigungsebene auftreten. Das von mir vorgeschlagene Beispiel kann auf folgende Weise rekonstruiert werden: (1) Rechtfertigung: Personen männlichen Geschlechts sollen heterosexuellen Geschlechtsverkehr ausüben. (2) Deskriptive Verallgemeinerung: Die Eigenschaft, geschlechtsreif zu sein, macht es wahrscheinlicher, dass auch die Eigenschaft vorliegt, hinsichtlich sexueller Praktiken beeinflussbar zu sein. (3) Präskriptive Verallgemeinerung (allgemeine Regel): Wenn man geschlechtsreif ist, dann sind homosexuelle Handlungen verboten. Man beachte, dass diese drei Ebenen es auch ermöglichen, die Unterscheidung zwischen deskriptiven und normativen Stereotypen wahrzunehmen, da die deskriptiven Stereotype auf der Ebene der deskriptiven Verallgemeinerung auftreten. (1) Rechtfertigung: Es ist erstrebenswert, den Erfolg der Lehrmethoden in der Militärakademie sicherzustellen. (2) Deskriptive Verallgemeinerung: Die Eigenschaft, Frau zu sein, macht den Besitz von Wesenszügen wahrscheinlicher, die mit der konfrontativen Methode unvereinbar sind, welche für die militärische Ausbildung typisch ist. (3) Präskriptive Verallgemeinerung (allgemeine Regel): Wenn man eine Frau ist, dann ist der Eintritt in die Militärakademie verboten.28 Stereotype können auch bei der richterlichen Tätigkeit auftreten. Sie können sich sowohl bei der externen Rechtfertigung der normativen Prämisse als auch bei der externen Rechtfertigung der faktischen Prämisse finden. In ersterem Fall kann sich der Richter bei der Auslegung auf ein normatives Stereotyp stützen, das ihn zu einer bestimmten Auslegung drängt. Anders gesagt wird der Richter unter zwei möglichen Auslegungen diejenige wählen, die zu einem bestimmten normativen Stereotyp konsistent oder kohärent ist. Wenn man Auslegung als Identifizierung der Bedeutung von Quellenaussagen, i.e. von normativen Texten versteht, dann ist das Ergebnis dieser Aktivität eine auslegende Aussage (oder die Formulierung einer solchen).29 Eine auslegende Aussage besitzt die Form „D bedeutet N“, wobei D für den normativen Text 28
United States vs. Virginia, 518 U.S. 515, 572 – 74 (1996). Guastini, in: Discusiones 11 (2012), S. 27 ff.; ders., Interpretare e argomentare, 2011, S. 7 f., 13 ff. – Aus Sicht des Verfassers hängt die hier vorgestellte Analyse der Stereotype nicht davon ab, Guastini zu folgen. Es vereinfacht jedoch die Problempräsentation. 29
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steht (die Anordnung) und N für seine Bedeutung (die Norm).30 Die Bedeutungen, die abstrakt betrachtet einer Anordnung zugeschrieben werden können, sind im Allgemeinen zahlreich. Diese Bedeutungsvielfalt hängt weniger vom „objektiv“ mehrdeutigen Charakter der Sprache ab als von anderen Quellen, wie: (1) der Vielzahl der Auslegungsmethoden, (2) der Rechtsdogmatik und (3) dem Gerechtigkeitsgefühl der Auslegenden, das heißt, ihren ethischen und politischen Ansichten.31 Aufgrund dieser Bedeutungsvielfalt entscheiden die Auslegenden gerade durch die Auslegung, welche Bedeutung der Anordnung zugeschrieben wird. Stereotype machen gewöhnlich einen wichtigen Teil der ethischen und politischen Ansichten der Richter aus. Wenn also der Richter das Stereotyp über die Sexualpraktiken von Personen männlichen Geschlechts teilt, dann wird er bei der Auslegung der verfassungsrechtlichen und strafrechtlichen Anordnungen die Bedeutung wählen, wonach das Verbot der Ausübung der Homosexualität mit geschlechtsreifen Minderjährigen den Verfassungsmäßigkeitstest besteht. Üblicherweise wird dies in der Weise durchgeführt, dass eine Auslegungsmethode gewählt wird, welche die Zuschreibung der einschlägigen Bedeutung ermöglicht. Die Mehrheit der Richter, die in dem oben beschriebenen Fall zugunsten der Verfassungsmäßigkeit des Straftatbestandes stimmten, bezog sich vor allem auf das historische (originalistisch-intentionalistische) Argument. Erstens gehe aus den Gesetzesmaterialien hervor, dass die Verfasser des Gesetzestextes die Bestrafung der Homosexualität im Blick hatten. Also vertraten die Richter, „dass aus allen bis jetzt vorgebrachten Darlegungen geschlossen werden kann, dass die Parlamentarier sich über die strittigen Punkte bezüglich der Homosexualität klar waren, und dass die Diskussionen von der Sorge um den Schutz des Minderjährigen und seiner sexuellen Unversehrtheit durchdrungen waren, was in der Verabschiedung des aktuellen Wortlautes des Artikels 365 des Strafgesetzbuches gipfelte“. Zweitens könne aus den Gesetzesmaterialien eine restriktive Auslegung des in der Verfassung gebrauchten Begriffs „Freiheit“ geschlossen werden, deren Schutz nicht mit dem fraglichen Straftatbestand unvereinbar sei. In diesem Sinne wird vertreten, „dass der Verfassungsgeber von 1980 das Recht auf persönliche Freiheit nicht so verstanden hat, dass es das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und noch viel weniger das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung einschlösse“. Die Richter der Mindermeinung, die das Stereotyp ablehnten, verwendeten im Hinblick auf andere internationale Entscheidungen unter anderem das systemati30 31
Guastini (Fn. 29), S. 45. Guastini (Fn. 29), S. 40, und mit einigen Variationen ebd., S. 47 ff.
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sche Argument (auf der Grundlage eines weiten Verständnisses von Kohärenz). So vertraten sie unter Rückgriff auf den „internationalen Standard“, dass „eine Überprüfung anhand der Rechtsvergleichung und mit Hilfe internationaler Instrumente in diesem Bereich uns die Schlussfolgerung gestattet, dass heutzutage die Pönalisierung der einvernehmlichen Homosexualität in verschiedenen Ländern der Welt in der Regel als verfassungswidrig erklärt wurde“.32 Zu guter Letzt spielen Stereotype auch eine wichtige Rolle im Beweisbereich. Im Rahmen dieses Aufsatzes soll allerdings nur aufgezeigt werden, dass im Beweisbereich die Aufmerksamkeit der Theoretiker meistens auf die deskriptiven Stereotype konzentriert ist.33 2. Bestandteile und Struktur der normativen Stereotype Stereotype können also als mehr oder weniger strikte Normen über die Rolle einer bestimmten Personenkategorie verstanden werden. Normative Stereotype formen gewöhnlich das Verhalten, die Pläne und das Leben der Mitglieder der fraglichen Gruppe. Laut Akerlof und Kranton können diese Normen, die festlegen, wie sich die Personen in bestimmten Situationen verhalten sollen, als mehr oder weniger explizite Konventionen oder soziale Normen verstanden werden: „In the formal language of the social sciences, people divide themselves and others into social categories. And social categories and norms are automatically tied together: people in different social categories should behave differently. The norms also specify how people of different types – different social categories, in our new vocabulary – should treat each other.“34 So schreiben die normativen Stereotype zum einen Individuen einer bestimmten Kategorie oder sozialen Gruppe zu, zum anderen werden durch die normativen Stereotype die Normen spezifiziert, die vorwiegend auf diese Personenkategorie angewendet werden und wiederum die Rollen der Individuen definieren. In diesem Sinne macht die Einhaltung dieser sozialen Normen jedenfalls zum Teil die Mitgliedschaft in dieser Gruppe aus. Die beiden folgenden Charakterzüge scheinen den normativen Stereotypen gemein zu sein: ihre Konventionalität und Konstitutivität. Die folgenden Absätze widmen sich diesen beiden Themen.
32 Begründung Nr. 89 des Gegenvotums der Minister Hernán Vodanovic Schnake, Carlos Carmona Santander und José Antonio Viera-Gallo Quesney. 33 Siehe Coloma, in: Accatino (Hrsg.), Formación y valoración de la prueba en el proceso penal, 2010, S. 102. 34 Akerlof/Kranton, Identity Economics, 2010, S. 11; in demselben Sinne Appiah (Fn. 5).
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3. Die Konventionalität der normativen Stereotype Die Aussage, etwas sei eine Konvention oder sei konventionell, kann eine unterschiedliche Reichweite haben. Einerseits bedeutet dies im weiten Sinn, dass die Konvention von den Menschen, ihren Handlungen, Vorstellungen oder anderen Verhaltensweisen abhängt.35 In diesem Sinn ist „konventionell“ ein Antonym für „natürlich“ und ein Synonym für „sozial“.36 In einem engeren Sinne, und als Spezifizierung des Ersteren, ist nur eine Unterkategorie der Tatsachen, die von den menschlichen Handlungen und Vorstellungen abhängen, eine Konvention. Anders gesagt liegt nur dann eine Konvention vor, wenn die menschlichen Handlungen und Verhaltensweisen eine bestimmte Gestalt erlangen. Diese Gestalt soll nun spezifiziert werden. Gewöhnlich wird die Ansicht vertreten, dass eine Konvention vorliegt, wenn die Handlungen und Verhaltensweisen in der Weise zusammengehören, dass ihnen eine Vereinbarung zugrundeliegt. So könnte man sagen, dass unter einer Gruppe von Logikern die Konvention besteht, bestimmte Symbole zu benutzen, wenn sie sich gegenseitig versprochen haben, diese anzuwenden.37 Meines Erachtens muss jedoch anerkannt werden, dass es eine weitere Art von Konventionen gibt, für deren Existenz die Bildung einer Vereinbarung nicht notwendig ist. Nach Hume kann zum Beispiel eine bestimmte Interaktionsart zwischen Individuen „mit Fug und Recht eine Konvention […] zwischen uns heißen, obwohl dabei keinerlei Versprechen eingeschaltet ist [, wenn] die Handlungen eines jeden […] auf die Handlungen des anderen bezogen [sind] und unter der Annahme [geschehen], dass auch der andere etwas Bestimmtes tun wird. Auch wenn zwei Männer gemeinsam die Ruder eines Bootes bewegen, so tun sie dies auf Grund eines Einverständnisses oder einer Übereinkunft, obgleich sie sich gegenseitig keine Versprechungen gemacht haben.“38 35 Siehe Celano, Fatti istituzionali, consuetudini, convenzioni, 2010, S. 281 f.; auch Vilajosana Rubio, El derecho en acción, 2010, S. 139 f. – Diese Unterscheidung muss noch weiter abgestuft werden, da die menschlichen Handlungen und Vorstellungen und folglich auch die Konventionen Teil des Natürlichen sind. Siehe Arena, El convencionalismo jurídico, 2014. 36 Einige Autoren wie Kekes gehen noch weiter und vertreten einerseits, es sei natürlich, dass die Menschen unter bestimmten Konventionen leben; anders gesagt sei die Bildung von Konventionen eine natürliche Veranlagung der Menschen („as spiders spin webs“). Andererseits behaupten sie, dass der Mensch sich seiner natürlichen Veranlagungen bewusst sei und diese unter bestimmten Umständen und in gewissen Fällen auch verändern, kontrollieren oder zumindest ihnen Eigenschaften zuweisen und sogar Konventionen darüber schaffen könne, wie sie zu befriedigen sind. Siehe Kekes, Moral tradition and Individuality, 1989, S. 26 f. 37 Hier wird der Standardkonzeption gefolgt, wonach eine Konvention in einem Austausch von konditionalen Versprechen besteht. Siehe Lewis, Convention. A Philosophical Study, 1969, S. 34; Gilbert, in: The Journal of Philosophy 90 (1993), S. 627; Raz, in: Mind 93 (1984), S. 202 f.
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In diesem Sinne gibt es drei Bedingungen für das Bestehen einer Konvention ohne Vereinbarung.39 Erstens ist eine gewisse Regelmäßigkeit oder Übereinstimmung des Verhaltens erforderlich. Eine Verhaltensregelmäßigkeit kann folgendermaßen begriffen werden: „Die Handlung A bei der Gelegenheit O auszuführen“.40 Da eine Übereinstimmung nicht ausreicht, um zwischen Konventionen und bloßen Angewohnheiten zu unterscheiden,41 kommen weitere Bedingungen hinzu. 38
Die zweite Bedingung ist eine bestimmte Haltung der Beteiligten, die von der Literatur „Abhängigkeitsbedingung“42 genannt wird. Die Abhängigkeitsbedingung bezieht sich auf die Gründe, die zum Bestehen einer Konvention führen. In diesen Fällen scheint es bedeutend, dass wir uns zumindest zum Teil an die Regelmäßigkeit anpassen, weil andere es auch tun. Der Grund für die Befolgung gründet sich (zumindest zum Teil) auf die Tatsache, dass eine gemeinsame Praktik existiert. Dies bedeutet, dass von diesem Gesichtspunkt aus derjenige, der behauptet, eine Regel sei konventionell, gleichzeitig auch eine Behauptung über die Art von Gründen aufstellt, die die beteiligten Individuen haben, um sich der Regel anzupassen.43 Die dritte Bedingung ist schließlich die Willkür.44 Es ist nicht einfach, den Gehalt dieser Bedingung zu präzisieren,45 sodass es hier ausreichen soll, sie ganz 38 Hume, Treatise of Human Nature, 4. Aufl. 2008, S. 659. − An den Stellen, an denen Hume „Übereinkunft“ als Synonym für „Konvention“ benutzt, wurden hier eckige Klammern verwendet, um Missverständnisse zu vermeiden. Trotz des Gebrauchs dieses Begriffs ist die Hauptsache, dass Hume zwischen „Konvention“ und „sich gegenseitig ein Versprechen machen“ unterscheidet. 39 Der Kürze wegen wird hier ein Ton angeschlagen, der, wie ich fürchte, hinsichtlich des Begriffs „Konvention“ unweigerlich spekulativ klingt. Ich glaube jedoch, dass es Argumente aus der Philosophie und der Alltagssprache gibt, um die von mir aufgezählten Konventionalitätsbedingungen zu verteidigen. Siehe Lewis (Fn. 37) und Marmor, Social Conventions, 2009. 40 So besteht eine Verhaltensregelmäßigkeit in einer Gruppe G, wenn die Mitglieder von G die Handlung A immer dann ausführen, wenn sich der Anlass O ergibt, siehe Gilbert, in: Topoi 27 (2008), S. 8. − Die Regelmäßigkeit erfordert, dass O mit einer gewissen Häufigkeit auftritt, oder dass er zumindest mehr als einmal eingetreten ist und es möglich ist, dass er auch in Zukunft geschieht. Gilbert, in: New Literary History 14 (1983), S. 229. 41 Vgl. dazu Hart, The Concept of Law, 2. Aufl. 1994, S. 51 ff. 42 Siehe Celano (Fn. 35), S. 330. 43 Marmor (Fn. 39), S. 10. 44 Willkür darf nicht mit Gleichgültigkeit verwechselt werden. Ebenso wenig impliziert Willkür Gleichgültigkeit. Dass eine andere Regelmäßigkeit besteht, an die man sich hätte anpassen können, bedeutet nicht, dass die Handelnden gegenüber dieser Regelmäßigkeit und derjenigen, der sie sich tatsächlich angepasst haben, gleichgültig sind (dass sie keine Vorlieben haben). Siehe Lewis (Fn. 37), S. 76 ff.; Marmor (Fn. 39), S. 8 f.; Vilajosana Rubio (Fn. 35), S. 176. 45 Zum Beispiel können nach Forster drei Bedeutungen von Willkür identifiziert werden: a) als die Existenz einer Alternative; b) als Fehlen einer Rechtfertigung; c) als Er-
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traditionell als das Bestehen von Alternativen aufzufassen. So könnte statt der Konvention, dass die Eltern der Braut die Kosten der Hochzeit zu tragen haben, auch die Konvention bestehen, dass die Eltern des Bräutigams die Kosten übernehmen, und trotzdem würde der gleiche Zweck erfüllt.46 Die Bedingungen für die Existenz einer nicht auf Vereinbarungen gestützten Konvention bestehen also in der Übereinstimmung des Verhaltens, der Abhängigkeitsbedingung und der Willkür.47 Diese drei Merkmale ermöglichen es, bestimmte Aktivitäten zu erklären. Zum Beispiel scheinen die Schauspieler, die regelmäßig auf einer Bühne die Figuren des Arlecchino oder des Brighella darstellen, und Sätze im Dialekt mit Sätzen auf Italienisch mischen, eine Tätigkeit auszuführen, die diese drei Charakteristika erfüllt. Es kann also behauptet werden, dass die Regeln der Commedia dell’arte konventionell sind. Zur Verfeinerung der Untersuchung dieser Konventionen muss jetzt auf das zweite oben genannte Merkmal, die Konstitutivität, eingegangen werden. So werden Aktivitäten wie die Commedia dell’arte von einem Regelbündel gelenkt, welches eine Doppelfunktion innehat: Erstens begründet es die Praktik und zweitens regelt es das Verhalten innerhalb dieser Praktik. Mit anderen Worten definiert
gebnis einer Willenserklärung. Vgl. dazu Forster, Wittgenstein on the Arbitrariness of Grammar, 2004. 46 Damit eine Regelmäßigkeit eine Alternative darstellt, muss sie bestimmte zusätzliche Bedingungen erfüllen: a) Durchführbarkeit: Dieselbe Gruppe muss sich unter denselben Umständen an die alternative Regelmäßigkeit anpassen können; b) Unvereinbarkeit: Für dieselbe Gruppe darf es nicht möglich sein, sich gleichzeitig beiden Regelmäßigkeiten anzupassen; c) kein Verlust bei Zweck oder Funktion: Sich an die alternative Regelmäßigkeit anzupassen darf keinen bedeutenden Verlust für die soziale Funktion oder den Zweck, den die aktuelle Regelmäßigkeit erfüllt, darstellen. 47 Es gibt eine weitere Eigenschaft, die als Konventionalitätsbedingung vorgeschlagen wurde, nämlich die allgemeine Kenntnis. Die Tatsache p ist unter den Mitgliedern einer Gruppe G nur dann allgemein bekannt, wenn jedes einzelne Mitglied von G p kennt, wenn es weiß, dass jedes andere Mitglied von G p kennt, wenn es weiß, dass jedes Mitglied von G weiß, dass jedes andere Mitglied von G p kennt, und so weiter ad infinitum. Siehe Gilbert (Fn. 40), S. 230; Celano (Fn. 35), S. 198; ders. (Fn. 35), S. 299. − Meiner Ansicht nach ist die allgemeine Kenntnis keine Konventionalitätsbedingung, siehe Burge, in: The Philosophical Review 84 (1975), S. 250, gegen Celano (Fn. 47), aber ich werde hier nicht in diese Diskussion einsteigen. Ich zeige nur auf, dass wenn die allgemeine Kenntnis eine Bedingung wäre, es keinen Sinn hätte zu sagen, dass der Konventionalismus den konventionellen Charakter einiger Sozialpraktiken aufdecken will, die nicht als solche angesehen werden. Dies scheint außerdem der Tatsache zu widersprechen, dass wegen Kontroversen und Diskussionen die vielleicht hinter kulturellen oder religiösen Vorurteilen versteckte Konventionalität bestimmter Praktiken erst spät anerkannt wurde.
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dieses Regelbündel die Praktik und wie an ihr teilzunehmen ist.48 Es handelt sich also um die von Marmor sogenannten konstitutiven Konventionen.49 Zur Charakterisierung dieser Konventionen greift Marmor auf die Unterscheidung zwischen regulativen Regeln und konstitutiven Regeln zurück, die gewöhnlich mit den Arbeiten von Searle assoziiert wird.50 Laut Searle sind die regulativen Regeln diejenigen, die Verhaltensweisen regeln, welche unabhängig von und vor der Schaffung der Regel existieren (z. B.: „Es ist obligatorisch, während des Examens eine Krawatte zu tragen“). Die konstitutiven Regeln sind hingegen diejenigen, die neue Verhaltensweisen schaffen oder definieren (z. B. „Ein Tor fällt, wenn der Ball die Torlinie überquert“). So könnte bei regulativen Regeln die Handlung auf dieselbe Weise beschrieben werden, auch wenn die Regel nicht existieren würde, zumindest sofern diese Beschreibung nicht auf die Regel selbst anspielt. Es ist zum Beispiel möglich, bestimmte Handlungen als „Rauchen in geschlossenen Räumen“ zu beschreiben, bevor die Regel „Rauchverbot in geschlossenen Räumen“ besteht. Bei konstitutiven Regeln kann hingegen das regelkonforme Verhalten durch Begriffe beschrieben werden, die ohne das Bestehen der Regel nicht benutzt werden könnten. Es ist zwar möglich, auch schon vor der Existenz von Fußballregeln folgende Handlung zu beschreiben: „Zu erreichen, dass der Ball die weiße Linie zwischen den drei Stangen passiert“, es ist jedoch nicht möglich, dieselbe Handlung als „ein Tor erzielen“ zu beschreiben, bevor diese Regeln bestehen. Diese Unterscheidung war Gegenstand zahlreicher Kritiken. Es wurde vertreten, dass alle Regeln Verhaltensformen regeln und schaffen.51 Einerseits haben die angeblichen regulativen Regeln, z. B. „Es ist obligatorisch, rechts zu fahren“ 48 Searle, Speech Acts, 1969, S. 33. Diese Regeln definieren oder bilden auch teilweise die Werte, die mit der fraglichen Praktik assoziiert werden und definieren den auf die Praktik anwendbaren Bewertungsdiskurs. Marmor (Fn. 39), S. 37. 49 Ebd. 50 Searle bezieht sich auf die Idee der konstitutiven Regeln schon in: The Philosophical Review 73 (1964), S. 43 ff., und mit einer stärkeren Ausarbeitung in ders. (Fn. 48). Er war weder der einzige (noch der erste) Philosoph, der dieses Etikett benutzte, um sich auf eine besondere Form der Regeln zu beziehen. Zum ersten Mal scheint die Unterscheidung in Rawls, in: The Philosophical Review 64 (1955), S. 3 ff. aufzutauchen. Sie findet sich auch bei Ross, On Law and Justice, 1958; Hart, Essays in Jurisprudence and Philosophy, 1983 und Black, The Analysis of Rules, 1962. Die Konzentrierung auf Searle ist vielleicht der Tatsache geschuldet, dass er diesen Begriff als eine der Säulen einer allgemeinen Theorie zur sozialen Realität benutzt hat. Vgl. dazu Searle, The Construction of Social Reality, 1995, und neuerlich ders., Making the Social World, 2010. 51 Warnock, ein Kritiker von Searle, vertritt jedoch die Auffassung, dass die Unterscheidung zwischen den Funktionen der Regeln dazu dienen könnte, deren jeweiliges Gewicht im Verhältnis zu den übrigen Funktionen festzustellen, welche Funktion wichtiger ist, zwischen ihnen zu unterscheiden (Warnock, The Object of Morality, 1971, S. 38).
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eine konstitutive Funktion hinsichtlich der mit ihnen übereinstimmenden oder nicht übereinstimmenden Handlung. Es ist eine Sache, auf der linken Seite zu fahren und eine andere, dies zu tun, während man die Regel bricht, die zum Rechtsfahren verpflichtet. Andererseits regeln die angeblich konstitutiven Regeln, z. B. „Die direkte Bedrohung des Königs zählt als Schach“, auch das Verhalten der Schachspieler, da sie ihnen verbieten, einen anderen Zug zu machen, als den, den König zu retten (sei es durch das Schlagen des Angreifers, dadurch, dass zwischen Angreifer und König eine Figur gestellt wird, oder dadurch, dass der König auf ein Feld gestellt wird, das nicht bedroht wird).52 Daher soll hier nicht weiter auf diese Kritiken eingegangen werden, insbesondere weil die Mehrheit der Kritiker zugibt, dass Searles Intuition gut ist und hier eine relevante Differenz besteht. Das heißt, es scheint einen Unterschied zwischen den Regeln zu geben, die das Verhalten der Autofahrer auf den Straßen festlegen und den Regeln, die das Schachspiel bestimmen. Vielleicht besteht das allgemeine Problem darin, dass die konstitutiven Regeln als isolierte Regeln gedacht werden, und nicht als Regeln, die Teil eines Regelsystems sind, welches eine bestimmte Praktik definiert. Nach Guastini kann bei Searle eine Bedeutung des Begriffs der Konstitutivität gefunden werden, wonach diese in der Fähigkeit eines Regelbündels besteht, neue Verhaltensformen zu schaffen oder zu definieren. Hierbei werden unter Verhaltensformen nicht isolierte Handlungen, sondern Praktiken oder Aktivitäten verstanden.53 Wenn diese Rekonstruktion der normativen Stereotype als konstitutive Konventionen korrekt ist, dann kann man behaupten, dass diese Stereotype das Aufkommen neuer Verhaltensformen ermöglichen, da sie den Handlungen von Personen, die einer bestimmten Kategorie oder sozialen Gruppe zugehören, eine neue Bedeutung verleihen. In demselben Sinn können die Aussagen von Appiah gelesen werden, wonach Stereotype das Auftreten von „Personenklassen“ begünstigen: „It follows that what I can do intentionally depends on what concepts I have available to me; and among the concepts that may shape my action is the concept of a certain kind of person and the behavior appropriate to a person of that kind.“54 Diese Funktion der Stereotype ist eindeutig unabhängig von dem Wert der Handlungen oder Kategorien, die sie definieren und regulieren. Ebenso wie die Normen des Schachspiels oder des Boxens schaffen sie also unabhängig von dem Wert, der jedem Spiel zugeordnet wird, neue Verhaltensmöglichkeiten. Auch die 52 In diesem Sinne können die Kritiken von Raz gesehen werden, vgl. Raz, Practical Reason and Norms, 1990, S. 108 ff., und mit Abstufungen Schauer (Fn. 26). 53 Guastini, 1986, S. 262; siehe auch ders, 1983, S. 171 − Guastini schreibt es Conte zu, diesen Punkt in einigen Arbeiten aufgezeigt zu haben, unter ihnen Conte, 1983; siehe auch Marmor, 2009, S. 38 und Schauer, 1991, S. 7, 13. 54 Appiah (Fn. 5), S. 65.
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normativen Stereotype, die den Familienvater, die Stripteasetänzerin und die Universitätsprofessorin definieren, beschreiben Personenklassen unabhängig von dem Wert, den wir jeder dieser Identitäten zumessen. Aufgrund der Rollen, die sie jeder Kategorie beimessen, definieren sogar die Stereotype „Mann – Heterosexueller“ und „Mutter – Hausfrau“ unabhängig von dem Wert, den die Handlungen der jeweiligen Rolle innehaben, bestimmte Personenkategorien. Stereotype üben so eine konstitutive Funktion im Hinblick auf die Identität bestimmter Gruppen aus, da die Mitgliedschaft in bestimmten sozialen Einheiten zur Folge hat, dass man sich gemäß den Normen verhält, die das Verhalten der Gruppenteilnehmer definieren. Dabei gilt es aber zu beachten, dass nicht alle Stereotype diese identitätsstiftende Funktion erfüllen.55 Die soziale Identität wird hauptsächlich, aber nicht nur durch eine Gesamtheit von Stereotypen gebildet, die das Verhalten, die Pläne und das Leben der Mitglieder dieser Gruppe formen. Auch wenn einige Merkmale der Personen, wie Rasse, Ethnie, Staatsangehörigkeit, Geschlecht, Religion oder sexuelle Ausrichtung die größte Bedeutung bei der Definition der Identität haben, so sind sie doch nicht die einzigen.56 Nach der Identität einer Person zu fragen ist gleichbedeutend mit der Frage, wer man ist. Laut Appiah besitzt jede kollektive Identität die folgende Struktur: (1) Sie ist eine Gesamtheit von Begriffen oder Kennzeichnungen, die als Zuordnungskriterien zur Gruppe fungieren (das heißt, sie gestatten es, bestimmte Personen als Mitglieder der Gruppe zu erkennen). Diesen Begriffen sind verschiedene Arten von – deskriptiven und normativen – Stereotypen zugeordnet.57 (2) Sie ermöglicht die Identifizierung als Gruppenmitglied, das heißt, man begreift sich selbst als Gruppenmitglied.58 Daher hat die Identität eine narrative Dimension, die darin besteht, die eigene persönliche Geschichte in bestimmte Muster (Erstkommunion, Europareise, etc.) und in weiterreichende Geschichten (italienische Familie, Sarmiento-Viertel, Stadt Córdoba, etc.) einzuordnen. 55
Appiah (Fn. 4). dieser Formulierung wird versucht, eine Stellungnahme zu der Kontroverse zwischen dem monistischen oder pluralistischen Charakter der Identität zu vermeiden. Es gibt zwei Ansichten über die Identität: 1. Singulär und umfassend: Die Menschen sind Mitglieder einer einzigen Gruppe. 2. Vielfältig und partikulär: Wir besitzen vielfältige Identitäten, da wir einer Vielzahl von Gruppen angehören. Im vorliegenden Text wird versucht, bezüglich des Begriffs der Identität neutral zu bleiben. Siehe Sen, Identidad y violencia, 2007. 57 Appiah (Fn. 5), S. 67. 58 Ebd., S. 68. 56 Mit
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(3) Sie erleichtert das Erkennen der anderen als Gruppenmitglieder. Es gibt Verhaltensweisen, nach denen eine Person zumindest teilweise auf eine bestimmte Art behandelt wird, weil sie Mitglied einer gewissen Gruppe ist.59 Auf Grundlage dieser Bestandteile und ausgehend von der Untersuchung Appiahs ist es möglich, wiederum zwei Arten von Identitäten zu unterscheiden. (1) (Lediglich) konventionelle Identitäten, in denen die Übernahme der Identität nur die Annahme der von den Konventionen auferlegten Regeln verlangt. So erfordert das Schachspieler-Sein nur, nach den Regeln dieses Sports zu spielen. Dafür genügt es, einen Grund für die Teilnahme an einem Spiel zu haben und zu entscheiden, gemäß diesem Grund zu handeln. (2) Nicht (bloß) konventionelle Identitäten, bei denen es für die Übernahme der Identität nicht ausreicht, „einfach“ die Konventionen darüber zu befolgen, was eine bestimmte Personengruppe tun oder nicht tun kann. Bei dieser Art von Identitäten „üben“ die Personen nicht bloß „eine Rolle aus“ oder spielen ein Spiel. Dieser Art gehören die Identitäten an, die ausgehend von den wichtigsten kollektiven Dimensionen gebildet werden. So wird die Identität als Afroamerikaner nicht einfach durch die Befolgung der mit dieser Personenkategorie assoziierten Konventionen erworben. Es erscheint nicht möglich, diese Art von Identitäten zu wählen. Nachdem diese Beziehung zwischen Stereotypen und Identität dargelegt wurde, stellt sich nun die Frage, was also die rechtsrelevanten Kriterien sind, sofern sie überhaupt existieren.
V. Die Relevanzmerkmale der normativen Stereotype An diesem Punkt lohnt es sich, eine kleine Bilanz zu ziehen. Die normativen Stereotype haben eine Passensrichtung soziale Gruppe – Stereotyp, weswegen es keinen Sinn hat festzustellen, ob sie eine statistische Grundlage haben, oder festzulegen, ob sie es schaffen, die wahren Eigenschaften eines Individuums abzubilden. Der Anspruch der normativen Stereotype besteht nicht darin, die Welt zu beschreiben, sondern aufzuzeigen, wie sie sein sollte. Auch haben diese Stereotype eine konstitutive Funktion, da sie die Rollen bestimmter Personenkategorien definieren. Da es sich bei ihnen um Sozialnormen handelt, das heißt um Normen, hinsichtlich derer eine Verhaltensübereinstimmung besteht, sind sie außerdem Konventionen. Diese Art von Stereotypen tritt gewöhnlich bei der Rechtfertigung von allgemeinen Regeln sowie bei dem Prozess der Bedeutungszuschreibung zu normativen Texten auf.
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Ebd., S. 68.
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Ausgehend von diesen Überlegungen kann die Frage nach den Passensrichtungen der normativen Stereotype nicht sein, unter welchen Bedingungen ein Richter normative Stereotype vermeiden sollte, sei es bei der Bewertung der Verfassungsmäßigkeit von allgemeinen Regeln, die sich auf Stereotype stützen, sei es bei der Vermeidung von Auslegungsmethoden, die Stereotype beinhalten. Aufgrund der engen Beziehung zwischen normativen Stereotypen und Identität wird die Frage viel komplexer. Meiner Ansicht nach muss nun gefragt werden, unter welchen Bedingungen der Richter verpflichtet ist, ein normatives Stereotyp zu benutzen, und unter welchen Bedingungen er verpflichtet ist, dieses zu vermeiden. Mit anderen Worten erscheint es nicht nur ungerechtfertigt, eine allgemeine Verurteilung der Stereotype zu verteidigen, sondern es erscheint in einigen Fällen sogar gerechtfertigt, von den Richtern zu verlangen, dass sie in ihren Entscheidungen Stereotype anwenden. Die normativen Stereotype befinden sich im Spannungszentrum zwischen Unterdrückung und Anerkennung; zwischen der Auferlegung von Rollen an diejenigen, die diese Rollen ablehnen und der mangelnden Anerkennung von Rollen, die die Individuen und Gruppen sich selbst zuschreiben. Dies kann gewöhnlich bei normativen Stereotypen nachgewiesen werden, die die Identität von Minderheiten definieren. So können bestimmte Fälle identifiziert werden, in denen die chilenischen Richter zur Anerkennung dieser Sozial normen aufgefordert werden. Ein solcher Fall liegt bezüglich der Normen vor, die die Rolle des im Mapuche-Volk existierenden Werken oder Lonko definieren. Der Werken oder Lonko hat bestimmte Aufgaben in seiner Gemeinschaft, unter anderem schlichtet er Konflikte in Fällen familiärer Gewalt. Das chilenische Strafrecht verbietet hingegen die Vereinbarung von Entschädigungen in Fällen familiärer Gewalt. In diesem Kontext hat das Öffentliche Amt zur Verteidigung Angehöriger des Mapuche-Volkes (Defensoría del pueblo mapuche) wiederholt gefordert, dass beschuldigte Angehörige dieser Gemeinschaft freigesprochen werden, wobei es sich auf die Anwendung der Art. 9 und 10 des Übereinkommens 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) über eingeborene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ländern stützte.60 In einem anderen Fall hat sich eine Schäferin des Aymara-Volkes einige Stunden lang von ihrem dreijährigen Sohn entfernt, um eine Gruppe von Tieren einzufangen. In dieser Zeit verirrte sich der Kleine und wurde später tot aufgefun60 Die Fälle sind etwas komplizierter, da das Verteidigeramt die Ansicht vertrat, die araukanischen Normen ermöglichten die Lösung eines familiären Konflikts mittels einer einfachen Entschädigungsvereinbarung zwischen Täter und Opfer, während andere Autoren verfechten, dass die Art und Weise der Konfliktlösung in diesen Fällen die hier im Text aufgezeigte ist. Auch über den exakten Inhalt dieser Sitte hinaus bleibt die Frage bestehen, ob es eine Pflicht gibt, sie anzuerkennen. Für eine Fallanalyse siehe Ñanculef, Revista de Estudios Criminológicos y Penintenciarios 6 (2003), S. 38 ff.
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den. Die Normen der Aymara, die die Rolle des Schäfers festlegen, sind sehr anspruchsvoll, und ein Argument der Verteidigung gegen die Anklage wegen Aussetzung bestand darin, dass das westliche Stereotyp über die Rolle der Mutter bei der Kinderbetreuung nicht angewendet werden könne, ohne die Definition der Rolle der Schäfer zu berücksichtigen.61 Diese Fälle zeigen, dass die Probleme bei der Festlegung der rechtlichen Relevanz der Stereotype einerseits von ihrer engen Verbindung mit der Identität und andererseits von der Spannung zwischen Stereotypen und der Autonomie herrühren. Auch wenn Stereotype ein grundlegender Teil der Identität bestimmter Gruppen sind, stellt sich die Frage, wer den Inhalt dieser normativen Stereotype bestimmt. Im Prinzip sind es die Gruppenmitglieder und nicht Außenstehende. Denn sofern es sich um Konventionen handelt, hängt die Existenz des Stereotyps davon ab, dass zumindest eine Verhaltensübereinstimmung besteht. Da es aber für den Nachweis der Verhaltensübereinstimmung nicht notwendig ist, dass alle Gruppenmitglieder sich an die Regelmäßigkeit anpassen, bedeutet dies, dass zumindest die Identität einiger Gruppenmitglieder zum Teil durch andere Gruppenmitglieder festgelegt wird. An diesem Punkt kann es nützlich sein, eine Parallele zu den deskriptiven Stereotypen zu ziehen. Im Fall der deskriptiven Stereotype können zwei Arten von Fehlern vorkommen, einer betrifft die Gruppe (Stereotyp ohne statistische Grundlage), der andere ein Individuum (Stereotyp mit statistischer Grundlage, das aber hinsichtlich des fraglichen Individuums falsch ist); dasselbe gilt für die normativen Stereotype. So können einige normative Stereotype die Identität einer Gruppe beeinträchtigen. Dies geschieht, wenn einer Personenkategorie eine bestimmte Rolle zugeschrieben wird, der sich diese selbst nicht zuordnet. Ein Beispiel hierfür ist der Fall, dass Mütter Hausfrauen und Männer heterosexuell seien. Andere normative Stereotype bilden zwar die Identität einer Gruppe, da diese Personenkategorie sich besagte Stereotype zuschreibt, sie können jedoch die Identität oder Autonomie eines Gruppenmitglieds beeinträchtigen, das dieses Stereotyp ablehnt. Ein Beispiel hierfür ist der Fall derjenigen Katholiken, die es nicht für verwerflich halten, vor der Heirat Geschlechtsverkehr zu haben, oder der Fall der Mapuche-Frauen hinsichtlich der Normen, die ihnen die Schlichtung des Konflikts der familiären Gewalt durch eine Vereinbarung mit dem Täter auferlegen. Es scheint also möglich, bei normativen Stereotypen einen internen und einen externen Sinn von Konventionalität zu unterscheiden. Ein Stereotyp ist intern konventionell, wenn die Personen, von deren Verhaltensübereinstimmung das 61 Siehe Castelletti Font, Departamento de Estudios de la Defensoría Nacional, Minuta Nr. 2 (2011).
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Bestehen der Sozialnorm abhängt, mit den Personen übereinstimmen, die die Adressaten des Stereotyps sind. Ein Stereotyp ist extern konventionell, wenn keine solche Übereinstimmung vorliegt. Auf dieser Grundlage können wir nun zu der Spannung zwischen Unterdrückung und Anerkennung zurückkehren. Erstens können wir zwei Bedeutungen, in denen ein Stereotyp unterdrückend ist, unterscheiden. Im externen Sinn ist ein Stereotyp unterdrückend, wenn versucht wird, einer Gruppe ein extern konventionelles Stereotyp aufzuerlegen. Im internen Sinn ist ein Stereotyp unterdrückend, wenn versucht wird, einem Individuum, das Gruppenmitglied ist, ein intern konventionelles Stereotyp aufzuerlegen. Das Problem der Stereotype tritt also dann zutage, wenn sie einer Gruppe oder einem Individuum eine normative Identitätswahl auferlegen, obwohl die Gruppe oder das Individuum sich ihr widersetzt, und die Stereotype so ihre Identität oder Autonomie beeinträchtigen. In diesen Fällen sind die Stereotype für diejenigen Individuen unterdrückend, die die Konvention und Rollenzuschreibung abweisen, welche die Stereotype voraussetzen. Sie können sogar von denjenigen als unterdrückend wahrgenommen werden, die die Konvention ablehnen, obwohl sie gar nicht Teil der Kategorie sind, der eine bestimmte Rolle zugeschrieben wird.62 Zweitens erscheint die Achtung der intern konventionellen Stereotype für die Anerkennung der jeweiligen Gruppenidentität unerlässlich. Stereotype formen Verhaltensweisen, die ohne die Existenz des Stereotyps nicht auf dieselbe Weise beschrieben werden könnten. Diese Stereotype zu ignorieren, verhindert, dass das Verhalten dieser Personen die Bedeutung erhält, die die Gruppe ihm erteilt. Um diese Stereotype anzuerkennen, muss hingegen die Bedeutung verstanden werden, die diese Verhaltensweisen für diejenigen haben, die die solchermaßen gebildete Identität innehaben.
VI. Schlussfolgerungen Als Abschluss sollen einige der bis jetzt erlangten, noch vorläufigen Ergebnisse aufgezeigt werden. Erstens scheint es möglich, sowohl im Diskurs der Anwendung des Strafrechts, als auch von einem konzeptuellen Standpunkt aus, zwei Arten von Stereotypen zu unterscheiden: sogenannte deskriptive Stereotype, die den Anspruch erheben, Informationen über die Merkmale einer bestimmten Gruppe und jedes einzelne ihrer Mitglieder zu erbringen, und sogenannte normative Stereotype, welche die Rollen definieren und bilden, die die Angehörigen einer bestimmten Kategorie oder sozialen Gruppe ausüben sollen. Die normativen Stereotype spielen eine grundlegende Rolle bei der Identitätsbildung, weswegen es nicht gerechtfertigt ist, die Stereotype generell abzu62
Vgl. dazu Alexander (Fn. 3).
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lehnen. Es muss vielmehr zwischen verschiedenen Stereotypen unterschieden werden. Einerseits sind Stereotype sowohl unterdrückend, wenn versucht wird, einer Gruppe ein extern konventionelles Stereotyp aufzuerlegen, als auch wenn versucht wird, einem Individuum, das Gruppenmitglied ist, ein intern konventionelles Stereotyp aufzubürden. In diesen Fällen sind die Stereotype für die Individuen unterdrückend, die die von den Stereotypen vorausgesetzte Konvention und Rollenzuschreibung ablehnen. Wenn die normativen Stereotype intern konventionell sind, das heißt, wenn die Konventionalitätsbedingungen innerhalb derselben Gruppe, auf die die Stereotype angewandt werden, nachgewiesen sind, dann erscheint es andererseits prinzipiell nicht nur nicht verwerflich, auf sie zurückzugreifen, um sowohl einen Akt der Normschaffung als auch eine Auslegungsentscheidung zu rechtfertigen, sondern dann ist der Rückgriff auf sie sogar unerlässlich, um die Identität dieser Gruppe anzuerkennen.
Determinismus, Irrtum und Freiheit* Von Hernán G. Bouvier Hernán G. Bouvier Determinismus, Irrtum und Freiheit Hernán G. Bouvier: Determinismus, Irrtum und Freiheit
I. Einleitung Ein häufiges Thema in der praktischen Philosophie ist die Frage nach der Existenz von Freiheit. Hier wird gewöhnlich gefragt, ob es erstens überhaupt Freiheit gibt und zweitens welche Bedeutung ihr für den moralischen oder rechtlichen Vorwurf zukommt. In diesem Zusammenhang ergibt sich die bekannte Frage, was der moralische oder rechtliche Vorwurf impliziert, und inwiefern er bei fehlender Freiheit verwirklicht werden kann. Dieses zweite Problem ist jedem Juristen vertraut. Diejenigen, die behaupten, wir seien nicht frei – was hier heißen soll, dass alles determiniert ist –, meinen, dass jeder, der denkt, Freiheit existiere, einem Irrtum unterliege. Der Determinismus ist demnach wahr, aber es gebe Personen, die eine falsche Vorstellung hätten („some kind of illusion“). In der vorliegenden Arbeit soll gezeigt werden, dass sich die Vertreter der im Folgenden sogenannten „deterministischen“ Theorie einem Problem gegenübersehen. Am Ende dieses Aufsatzes soll dargestellt werden, inwiefern diese Diskussion mit moral- und rechtsphilosophischen Erörterungen verbunden ist. Auch wenn die Schlussüberlegungen aus der Moralphilosophie stammen, haben sie doch direkte Auswirkungen auf den gesamten praktischen Bereich, inklusive der Rechtstheorie und des Strafrechts. Daher werden hier die Begriffe „moralisch“ und „praktisch“ unterschiedslos verwendet.
II. Determinismus und Irrtum In dieser Arbeit wird jeder als „Determinist“ bezeichnet, der denkt, dass a die Welt determiniert ist, und b, dass sich derjenige im Irrtum befindet, der a ablehnt. Der Determinismus kann folgendermaßen beschrieben werden: * Übersetzung ins Deutsche durch Anna Richter. Die vorliegende Arbeit stützt sich auf einen bereits in zwei ausführlicheren Texten zur konzeptuellen Analyse und dem Naturalismus in der praktischen Philosophie bearbeiteten Ausgangspunkt: Bouvier, in: Análisis Filosófico, 33 (2012); ders., Derecho, análisis y límites, 2014.
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(D) Determinismus1 „For every event (including every human action) there are antecedent conditions which are sufficient under the natural laws governing the world to bring about that event. In other words, there are conditions which necessitate that event – make it impossible for it not to have occurred – so that it could not have not occurred.“
Diese Beschreibung des Determinismus bedeutet für jegliches Ereignis, dass sich bestimmte Vorfälle V ergeben, wenn bestimmte Bedingungen B erfüllt sind. Diese These kann im doppelten Sinne verneint werden, da sie sowohl damit bestritten werden kann, dass überhaupt kein Ereignis determiniert ist, als auch damit, dass einige Ergebnisse nicht determiniert sind. Aus der Sicht des Verfassers gibt es keinen Autor, der behaupten würde, „keine Ereignisgesamtheit“ sei determiniert. Daher soll im Folgenden angenommen werden, dass derjenige, der den Determinismus verneint, nicht die Ansicht vertritt, keinerlei Ereignis sei determiniert, sondern dass er behauptet, es sei möglich, dass einige Ereignisse nicht determiniert seien. Es gibt eine starke Tendenz, deterministische Thesen mit empiristischen, szientistischen und naturalistischen Thesen in Zusammenhang zu bringen. Zweifellos haben Aussagen über Naturphänomene, die darauf gerichtet sind, die sogenannten „Naturgesetze“ zu identifizieren, den Anspruch, Notwendigkeitsbeziehungen zwischen bestimmten Bedingungen und dem Stattfinden bestimmter Ereignisse darzulegen. Die Aufnahme von Klauseln wie „ceteris paribus“ oder „bei Vorliegen weiterer Informationen“ ändern den Notwendigkeits- und Determinierungsbeziehungen enthaltenden konzeptuellen Gehalt dieser Aussagen nicht. Diese Klauseln zeigen nur an, dass entweder eine Notwendigkeitsbeziehung für diese Art von Bedingungen besteht oder dass zwar eine Notwendigkeitsbeziehung besteht, diese aber vielleicht nicht alle Bedingungen für das untersuchte Ereignis beinhaltet. Sie bestreiten nicht, dass es Notwendigkeitsbeziehungen gibt, sondern nur, dass sie entweder nur eingeschränkt auf dieses Ereignis angewandt werden, nämlich dann, wenn die Bedingungen gleichbleibend sind, oder dass es möglicherweise bei Vorliegen weiterer Informationen andere Bedingungen geben kann, die zu dem fraglichen Ereignis führen. Damit wird nicht bestritten, dass es Bedingungen gibt, die das notwendige Auftreten eines Ereignisses bestimmen; vielmehr wird vertreten, dass die Bedingungen entweder klar beschränkt sind oder dass es auch andere – noch nicht bekannte – Bedingungen gibt. Ob nun gesagt wird, dass sich nur unter bestimmten Bedingungen notwendigerweise B ergibt, wenn A vorliegt, oder gesagt wird, dass die Zusammenhänge sich auch unter anderen (noch unbekannten) Bedingungen ergeben, drückt letzten Endes immer aus, dass notwendige Beziehungen vorliegen. 1 Dies ist eine Formulierung von Tiles, in: Fløistad (Hrsg.), Contemporary Philosophy, Bd. 3, 1. Aufl. 1981, S. 73.
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Es kann allgemein angenommen werden, dass der Schlag eines Steins auf einen anderen unter bestimmten Bedingungen B die Bewegung dieses anderen Steins bestimmt, dass unter bestimmten Bedingungen B Hitze Wasser zum Kochen bringt und dass sich unter bestimmten Bedingungen B Quecksilber in einem Thermometer durch Wärme ausdehnt. Die beschriebenen Situationen mit Stein, Wasser und Quecksilber sind Beispiele für notwendig verbundene Ereignisse, für die gesagt werden kann, dass der Determinismus wahr ist. Diese Art von Situationen sollen im Folgenden mit Blick auf die Beispiele Stein, Wasser und Quecksilber SWQ-Situationen genannt werden. Wenn Situationen wie SWQ gute Beispiele für den Determinismus sind und der Determinismus für jede Beschreibung der Welt wahr ist, dann ergeben sich zwei Konsequenzen. Erstens kann SWQ für die Zwecke dieses Aufsatzes als Synonym für Determinismus angesehen werden. Zweitens bedeutet die Wahrheit der SWQ-Situationen, dass diejenigen sich irren, die vertreten, der Determinismus sei falsch.2 Diejenigen, die den Determinismus als falsch ansehen, werden hier „Antideterministen“ (ad) genannt. Bezeichnet demnach s die antideterministische (ad) Person oder Personengruppe, so impliziert SWQ den Irrtum von s. Dieser Irrtum der Antideterministen soll mit „Iad “ symbolisiert werden. Dies bedeutet, dass zumindest ein Gegenstand (der oder die Verteidiger des Antideterminismus) existiert, der die Eigenschaft Iad (Irrtum über den Determinismus) innehat.3 Dies führt zu der informellen Aussage, dass die Vertreter des Antideterminismus sich irren, wenn SWQ für jede Beschreibung der Welt wahr ist. Formeller ausgedrückt: SWQ→Iad.
Wenn eine Person s sich irrt, dann ist es möglich, dass s sich irrt (da p möglich p impliziert). Wenn die antideterministischen Personen sich irren, dann ist es möglich, dass sie sich irren. Daher gilt: Iad→Mög Iad. Es kann jedoch informell gesagt werden, dass die von SWQ exemplifizierten Situationen natürliche Situationen oder Situationen der Natur sind und dass die Natur sich nicht irrt.
In der Tat wird ein im szientistischen und säkularen Denken mit der Natur assoziiertes Merkmal mit dem Sprichwort „Natura non facit saltus“ veranschaulicht. Alternativ wird gesagt, die Natur irre nicht. Dieser Satz ist jedoch ungenau und verwirrend, weil er nicht so angewandt werden kann, dass er immer stimmt. Vielleicht soll damit ausgedrückt werden, dass es nicht möglich ist, in der Natur von Irrtümern zu sprechen. Dies ist jedoch auch nicht genau genug, weil jemand sagen kann, dass Wasser sich irre, wenn es bei 100°C kocht, oder dass der Stein sich irre, wenn er sich bewegt. Mit dem ungenauen Satz „Die Natur irrt nicht“ soll 2 Anders ausgedrückt ist für die Deterministen notwendigerweise jede Situation in der Welt eine SWQ-Situation im oben beschriebenen Sinne. 3
Diese Voraussetzung wird auch für alle folgenden Fälle von Iad angenommen.
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vielmehr ausgedrückt werden, dass die Eigenschaft oder das Prädikat „Fehler“ (F) oder „Irrtum“ (I) keinen Sinn hat oder dass sie nicht den Gegenständen zugeschrieben werden kann, die die Gesamtheit der natürlichen Gegenstände bilden. Wenn vertreten wird, dass alle Menschen nur aus determinierten Naturphänomenen zusammengesetzt sind, dann muss vertreten werden, dass die fragliche Eigenschaft (Irrtum) unmöglich in den Naturphänomenen vorliegen kann. Wenn also SWQ wahr ist, dann ist es nicht möglich, dass ein Gegenstand existiert, dem die Eigenschaft I (Irrtum) zugeschrieben werden kann. Vereinfacht gesagt bedeutet dies Folgendes: Da die Antideterministen zu der Gesamtheit von Gegenständen gehören, die es auf der Welt gibt, ist es nicht möglich, dass die Antideterministen (oder sonst irgendein Gegenstand) diese Eigenschaft I haben, wenn SWQ wahr ist. Etwas formeller ausgedrückt: SWQ→-Mög Iad.4
Wenn I (Irrtum) als einem Gegenstand zuschreibbare Eigenschaft oder Prädikat angesehen wird, folgt daraus, dass die Möglichkeit der Existenz eines Gegenstands, der diese Eigenschaft I erfüllt, die Negation der in SWQ exemplifizierten Situationen bedeutet. Direkter: Die Möglichkeit des Irrtums bedeutet, dass wir nicht in einer SWQ-Welt bzw. einer deterministischen Welt leben. Das heißt, wenn die Irrtumsmöglichkeit bejaht wird, wird der deterministische Anspruch verneint. Also: Mög Fad→- SWQ, was logisch der Formel aus dem vorhergehenden Abschnitt entspricht. Nun sind wir in der Lage, die These der Determinismusverteidiger (d. h. derjenigen, die die Ansicht vertreten, die Antideterministen irrten sich) zu bewerten. Laut den oben ausgeführten Thesen5: 1 SWQ (Behauptung der Determinismusvertreter) 2 SWQ→Iad (wenn SWQ wahr ist, sind die Antideterministen im Irrtum) 3 Iad (nach modus ponens aus 1 und 2)
4 Iad→Mög Iad (p impliziert, dass p möglich ist)
5 Mög Iad (nach modus ponens aus 3 und 4)
6 Mög Iad→- SWQ (entspricht SWQ→-Mög Iad oder „Die Natur irrt nicht“)
7 - SWQ (nach modus ponens aus 5 und 6)
8 SWQ und - SWQ (nach Akkumulation von 1 und 7)
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Man erinnere sich, dass SWQ für jede mögliche Situation in der Welt wahr sein soll. Das Argument wird hier vereinfacht mittels der Formeln des Aussagekalküls und des Prädikatenkalküls dargestellt. Dabei können sowohl beide Kalküle kombiniert als auch eines in das andere übersetzt werden. Zur Vereinfachung der Darstellung wird hier jedoch die Übersetzung außer Betracht gelassen. Zu den Kombinations- und Übersetzungsmöglichkeiten von Prädikaten- und Aussagekalkül siehe Menne, Einführung in die Logik, 6. Aufl. 2001, S. 63. 5
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Wenn also Situationen wie SWQ Determinismussituationen darstellen und es bei ihnen keinen Sinn hat, von einem Irrtum zu sprechen, da die Natur nicht irrt, dann kann nicht gleichzeitig vertreten werden, dass der Determinismus für jede mögliche Situation in der Welt wahr ist und dass jemand sich irrt. Auf laxe, aber informative Weise gesagt: Wenn die Natur nicht irrt (da sie wie SWQ funktioniert) und es nichts anderes als Natur gibt, dann kann es keinen Irrtum geben. Daher kann nicht gleichzeitig gesagt werden, dass alles determiniert ist und dass es etwas oder jemanden gibt, der sich irrt.
III. Freiheit und praktische Verantwortlichkeit Die Diskussion über die Beziehung zwischen Freiheit und Verantwortlichkeit wurde im angelsächsischen Raum ausgehend von einem Gedanken von H. G. Frankfurt weiter ausdifferenziert.6 Sein Vorschlag kann aber auch in eine klassische Debatte eingebettet werden. Diese schon zwischen Hobbes und Bramhall7 aufgeworfene Diskussion kann einige Berührungspunkte mit dem Dissens zwischen Erasmus von Rotterdam (De libero arbitrio) und Martin Luther (De servo arbitrio)8 aufweisen und kreist um den Vorrang der „liberty of indifference“ vor der „liberty of spontaneity“. Nach der „liberty of indifference“ bedeutet freies Handeln, auch anders handeln zu können, während die „liberty of spontaneity“ freies Handeln durch die Möglichkeit kennzeichnet, nach dem eigenen Willen zu handeln.9 Diese Diskussion kann folgendermaßen dargestellt werden: Gewöhnlich wird angenommen, dass die moralische Verantwortlichkeit die Möglichkeit beinhaltet, anders zu handeln. Da das Andershandelnkönnen mit dem Determinismus unvereinbar ist, gibt es moralische Verantwortlichkeit nur, wenn der Determinismus falsch ist. Entweder ist es möglich, anders zu handeln, und es kann einen moralischen Vorwurf geben oder der Determinismus ist wahr und es gibt keinerlei Raum für moralische Verantwortlichkeit. Diese Ansicht wird „Inkompatibilismus“ genannt, wobei die inkompatiblen Begriffe diejenigen der moralischen Verantwortlichkeit und des Determinismus sind. Diese Konzepte können folgendermaßen schematisiert werden: (PMA) Prinzip möglicher Alternativen „A person is not to be held responsible for what he has done if he could not have done otherwise – if he could not have not done what he did.“
6 Frankfurt, in: The Journal of Philosophy 66 (1969), S. 829 ff.; ders., in: The Journal of Philosophy 68 (1971), S. 5 ff. 7 Tiles (Fn. 1); Watson, in: Mind 96 (1987), S. 145 ff. 8 Zu dieser Diskussion siehe Zippelius, Geschichte der Staatsideen, 1991, S. 77. 9 Watson (Fn. 7), S. 145; Tiles (Fn. 1), S. 75.
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PMA kann in einen normativen (moralische Verantwortlichkeit, MV) und einen modalen Teil (Andershandelnkönnen oder mögliche Alternative, MA) aufgeteilt werden. Für die inkompatibilistische These beinhaltet die moralische Verantwortlichkeit also die Möglichkeit, anders zu handeln. Das heißt, die Möglichkeit, anders zu handeln ist eine notwendige Bedingung des moralischen Vorwurfs (MV→MA). Gleichzeitig – und dies ist der Diskussionspunkt – beinhaltet das Andershandelnkönnen die Verneinung des Determinismus (MA→-D). Nach den Regeln der Transitivität bedeutet die Zuschreibung moralischer Verantwortlichkeit also die Verneinung des Determinismus (MV→-D). Anders gesagt wird für einen Inkompatibilisten die moralische Verantwortlichkeit verneint, wenn D akzeptiert wird (D→-MV).10 Die entscheidende These für den Inkompatibilismus lautet also, dass nicht gleichzeitig moralische Verantwortlichkeit und Determinismus vertreten werden können; es geht nur entweder das eine oder das andere. Frankfurt stellt ein Gedankenexperiment vor, das zeigen soll, dass es Sinn hat, gleichzeitig die praktische Verantwortlichkeit zu bejahen und die Möglichkeit, anders zu handeln, zu verneinen.11 Die komplexe Diskussion zwischen Kompatibilisten und Inkompatibilisten wird so auf die konzeptuelle Frage reduziert, ob eine bestimmte Gruppe (die in dieser Literatur „wir“ genannt wird) bereit wäre, etwas moralisch vorzuwerfen, 10 Da es sich hier um einen Konditionalsatz handelt, führt dies nicht zu einem Urteil über die Wahrheit oder Falschheit des Determinismus. Daher kann innerhalb des Inkompatibilismus noch zwischen den „hard determinists“, für die es keine Möglichkeit der moralischen Verantwortlichkeitszuschreibung gibt, da die Wahrheit des Determinismus zu akzeptieren ist, und den „libertarians“ unterschieden werden, für die der Determinismus abzulehnen ist, weswegen die Möglichkeit des moralischen Vorwurfs weiter besteht. Daher ist der Konditionalsatz MV→-D (oder seine Entsprechung D→-MV) für den Inkompatibilismus entscheidend, auch wenn er nicht ausreicht, um zwischen beiden Gruppen von Inkompatibilisten zu unterscheiden. Die Unterscheidung innerhalb der Inkompatibilisten kann dadurch vorgenommen werden, dass der Konditionalsatz mit einer zusätzlichen Behauptung verbunden wird. 11 Frankfurt (Fn. 6). – In einer anderen Arbeit habe ich mich mit den Problemen beschäftigt, die Frankfurts Vorschlag aufwirft. Diese Schwierigkeiten lasse ich hier beiseite, weil sie das hier behandelte Thema nicht direkt berühren. Ich halte es jedoch für wichtig, hervorzuheben, dass meiner Ansicht nach die Diskussion zwischen Kompatibilismus und Inkompatibilismus im angelsächsischen Raum und der Vorschlag von Frankfurt mit der strafrechtsdogmatischen Diskussion über den Handlungs- bzw. Erfolgsunwert fast identisch sind. Frankfurts Gedankenexperiment zeigt (wenn überhaupt) Folgendes: Auch wenn das Ergebnis außerhalb des Einflussbereichs des Handelnden liegt (da das Ergebnis unabhängig von seiner Entscheidung eintreten wird), ist es für den moralischen Vorwurf von Bedeutung, ob der Handelnde das sich in jedem Fall ergebende Ergebnis wollte oder nicht. In eine andere praktische Grammatik (wie die der Strafrechtsdogmatik) übersetzt, zeigt das Gedankenexperiment, dass nicht so sehr das Ergebnis für den Vorwurf entscheidend ist, sondern vielmehr die auf das ohnehin eintretende Ergebnis gerichtete Intention.
Determinismus, Irrtum und Freiheit
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obwohl keine Möglichkeit zum Andershandeln bestünde, wenn also der Determinismus wahr wäre. Wird die Debatte so dargestellt, könnte die Diskussion darüber, ob der Determinismus wahr ist (wahr im Sinne von: alle Ereignisse der Welt funktionieren wie SWQ), beiseitegelassen werden. Wie hier gezeigt werden soll, haben die Verteidiger des Determinismus (und vielleicht auch des Kompatibilismus) ein Problem, das nicht ausgeklammert werden kann: Wenn sie sich nicht selbst widersprechen wollen, können sie nicht gleichzeitig sagen, dass die Welt determiniert ist und dass all diejenigen, die an die Freiheit glauben, sich irren. Denn dies bedeutet, gleichzeitig zu vertreten, dass die Eigenschaft „einen Irrtum begehen“, in den Gegenständen, die auf der Welt existieren, unmöglich erfüllt werden kann, obwohl es Gegenstände auf der Welt gibt, die diese Eigenschaft haben. Natürlich gilt dieses Argument nur, wenn man die hier benutzte Definition von Determinismus akzeptiert und die Phänomene der (auf bestimmte Weise verstandenen) Natur als paradigmatische Beispiele für den Determinismus ansieht. Es kann andere Formen von Determinismus geben, die ihn nicht mit der Natur oder dem Umfang der Naturphänomene in Verbindung setzen. Die Entscheidung, mich mit einer bestimmten Art von Determinismus und einem bestimmten naturalistischen Szientismus zu beschäftigen, ist nicht vollkommen willkürlich, wenn berücksichtigt wird, dass auf verschiedenen Gebieten ein neuer Enthusiasmus für die Leistungsfähigkeit des Empirismus, Physikalismus und des sogenannten „Naturalismus“ oder der Naturwissenschaften besteht.12 Überraschenderweise wollen einige dieser Vorschläge den Naturwissenschaften nicht nur das letzte Wort, sondern alle Worte überlassen. Dies schließt mit ein, bestimmte spekulative Aktivitäten in den Hintergrund zu drängen oder ganz auszuschließen. In Extremfällen wird behauptet, diese Konzeption der Welt könne über Moral, Politik und Kultur entscheiden.13 Schließlich ist das hier entwickelte Argument kein Beweis für die Freiheit. Es soll ein echtes transzendentales a priori Argument sein, das von einem bestimmten Verständnis der Konzepte ausgeht. Nur wenn alles so determiniert ist, wie bestimmte Naturphänomene determiniert sind, hat es keinen Sinn (oder stellt es einen Widerspruch dar) zu behaupten, dass bestimmte Philosophen und Theoretiker sich irren.
12 Beispiele für den Naturalismus in der gegenwärtigen Ethik finden sich bei Nuccetelli/Seay, Ethical Naturalism, 2012. 13 Es ist bemerkenswert, dass diese Debatten über eine klassische Diskussion wie die zwischen Naturalismus und Historismus hinwegsehen. Siehe Cassirer, Logik der Kulturwissenschaften: Fünf Studien, 1942.
Die extraterritoriale Reichweite des Rechts zur Bestrafung* Von Alejandro Chehtman Alejandro Chehtman Die extraterritoriale Reichweite des Rechts zur Bestrafung Alejandro Chehtman: Die extraterritoriale Reichweite des Rechts zur Bestrafung
I. Einleitung „Die Spanier brachen alle Regeln, als sie sich zu Richtern über den Inka Atahualpa einsetzten. Hätte dieser Prinz das Völkerrecht ihnen gegenüber verletzt, hätte ihnen ein Recht zugestanden, ihn zu bestrafen. Stattdessen bezichtigten sie ihn, einige seiner Untertanen hingerichtet zu haben, mehrere Ehefrauen zu haben etc. – Dinge, für die er ihnen in keiner Weise Rechenschaft schuldig war; und, um das Maß ihrer außerordentlichen Ungerechtigkeit zu füllen, verurteilten sie ihn nach den Gesetzen Spaniens.“1
Rechtlich gesehen steht es Staaten zu, bestimmte Delikte extraterritorial zu bestrafen. Beispielsweise haben englische und walisische Gerichte gemäß dem Sexual Offences Act 2003 das Recht, ihre Staatsangehörigen oder Einwohner zu bestrafen, wenn diese bestimmte Sexualstraftaten auf einer Urlaubsreise in Südostasien begehen. Ebenso beansprucht Frankreich nach Artikel 113 – 7 seines Strafgesetzbuches die Strafbefugnis über jedes Verbrechen, das irgendwo auf der Welt begangen wurde, falls das Opfer zur Zeit der Tat ein französischer Staatsangehöriger war. Die meisten Staaten stellen Verhaltensweisen wie die Fälschung ihrer Währung, Spionage oder Verrat unabhängig von dem Ort der Begehung unter Strafe. Obwohl das Strafrecht üblicherweise als in seiner Anwendung primär territorial angesehen wird, sind diese Arten von Bestimmungen in der breiten Mehrheit der Staaten gängig. Im Großen und Ganzen gibt es drei unterschiedliche Begründungen, denen zufolge ein Staat (S) das Recht beanspruchen kann, * Übersetzung ins Deutsche durch Carl Robert Whittaker. 1 De Vattel, Law of Nations, 1982, S. 110. Obwohl dieses Zitat eloquent gerade dasjenige aufzeigt, was in diesem Aufsatz zur Debatte steht, ist eine Klarstellung angebracht. De Vattel hat sich in den Tatsachen geirrt, womöglich durch die Orientierung an der seinerzeit wohlbekannten Darstellung Garcilazos. Der Inka Atahualpa wurde nicht, wie gelegentlich behauptet, durch ein ordentliches Verfahren verurteilt, sondern vielmehr aus Zweckmäßigkeitsgründen eilig hingerichtet. Pizarro und einige seiner Männer fürchteten einen Rettungsversuch, während sie auf Verstärkung warteten. Zudem wurde er wegen Straftaten gegen Pizarro und die Spanier verurteilt, nicht wegen Straftaten gegen sein eigenes Volk. Im Übrigen wurde Pizarros Entscheidung in Spanien mit der Begründung heftig kritisiert, dass ihm kein Recht zustehe, einen König zu verurteilen. Für eine gute Darstellung dieser Geschichte vgl. Hemming, The Conquest of the Incas, 1993.
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den Täter (T) extraterritorial zu bestrafen.2 Diese werden gemeinhin als das aktive Personalitätsprinzip, das passive Personalitätsprinzip und das Schutzprinzip bezeichnet und sie knüpfen jeweils daran an, ob die Tat durch einen Staatsangehörigen des S begangen wurde, wie im genannten Sexual Offences Act, ob die Tat gegen einen Staatsangehörigen begangen wurde, wie in der zitierten französischen Bestimmung, oder ob die Tat sich gegen die Souveränität oder nationale Sicherheit dieses Staates richtet, wie im Fall der Fälschung einer Staatswährung.3 Dieser Aufsatz untersucht die moralischen Grundlagen dieses etablierten rechtlichen Rahmens und schätzt sie, wie sich aus dem Folgenden ergeben wird, als unzureichend ein. Im Gegensatz dazu spricht er sich für eine stärker beschränkte extraterritoriale Reichweite der Strafbefugnis des S über T aus. Ich werde darlegen, dass die territoriale Reichweite des Rechts des S, den T zu bestrafen, durch die Gründe bestimmt wird, die auch im Allgemeinen das Recht des S zur Bestrafung von Delinquenten rechtfertigen. Auf dieser Grundlage werde ich eine Erklärung für den primär territorialen Charakter des staatlichen Strafrechts anbieten, die auf einer innovativen interessenbasierten Rechtfertigung rechtlicher Strafe beruht.4 Ferner werde ich argumentieren, dass die Staaten zwar gute Gründe für die extraterritoriale Ausdehnung ihres Strafanspruchs haben, sofern ihre Souveränität oder Sicherheit betroffen ist (Schutzprinzip). Sie handeln aber ultra vires, wenn sie auf Grundlage der Staatsangehörigkeit des Täters oder des Opfers extraterritorial ihren Strafanspruch durchsetzen. Im letzten Abschnitt dieses Aufsatzes werde ich untersuchen, ob andere in der Literatur vertretene Rechtfertigungsansätze hinsichtlich des Rechts zur Bestrafung möglicherweise besser geeignet sind, die völkerrechtlichen Regelungen zur extraterritorialen Strafbefugnis zu erklären. An dieser Stelle sei mir noch eine Vorbemerkung erlaubt. Die in diesem Aufsatz vorgestellte Argumentation ist auf innerstaatliche Delikte begrenzt. Genauer 2 Die extraterritoriale Reichweite des Rechts der Staaten zur Bestrafung wird letztlich durch das Völkerrecht bestimmt. Staaten steht es frei, ob und wann sie von diesem Recht Gebrauch machen, doch können sie dies nur innerhalb der durch das internationale Rechtssystem gesetzten Grenzen tun. 3 Gelegentlich werden andere Zuständigkeitsgrundlagen genannt, so etwa das Flaggenprinzip, Zuständigkeit in auswärtigen Botschaften, in Flugzeugen. Vgl. George Jr., in: Michigan Law Review 64 (1966), S. 609, und Hirst, Jurisdiction and the Ambit of the Criminal Law, 2003, insb. Kapitel 6. Diese „quasi-territorialen“ Zuständigkeitsgrundlagen werden hier nicht behandelt. 4 Ich nehme hier an, dass Rechte besser erklärt werden können als Interessen mit bestimmtem normativem Gewicht. Ich kann hier nicht detailliert auf die Debatte zwischen den Interessen- und Willenstheorien über Rechte eingehen. Zur interessenbasierten Rechtstheorie siehe Kramer, in: Kramer u. a. (Hrsg.), A Debate over Rights, 1998; Raz, The Morality of Freedom, 1988; Fabre, Whose Body is it Anyways? Justice and the Integrity of the Person, 2006, Kapitel 1.
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gesagt werden bei der Untersuchung der Strafbefugnis der Staaten oft drei Anknüpfungspunkte für bedeutsam gehalten: Das Staatsgebiet, auf dem die Straftat verübt wurde, die Staatsangehörigkeit der darin verwickelten Personen (Täter oder Opfer) und der innerstaatliche oder internationale Charakter der in Rede stehenden Straftat. Im Hinblick auf die letztgenannte Unterscheidung untersucht dieser Aufsatz lediglich das Recht der Staaten, Taten unter ihrem innerstaatlichen Strafrecht zu bestrafen. Er geht nicht auf Straftaten ein, die oft als international angesehen werden, wie beispielweise Völkermord, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Diese Art von Straftaten unterfällt den breiteren Zuständigkeitsregelungen des Völkerrechts. In diesem Aufsatz wird unterstellt, dass sich die Unterscheidung zwischen innerstaatlichen und internationalen Straftaten aufrechterhalten lässt.
II. Die territoriale Reichweite des Rechts zur Bestrafung Die territoriale Reichweite des Strafrechts eines Staates wird üblicherweise als Manifestation seiner Souveränität angesehen. Dies bedeutet, dass ein Staat das Recht besitzt, Strafrechtsnormen zu erlassen, die für jede, aus jedwedem Grund auf seinem Territorium befindliche Person verbindlich sind. Für unsere Zwecke wesentlich ist, dass dies auch die Befugnis nach sich zieht, diejenigen zu bestrafen, die innerhalb des Territoriums gegen diese Normen verstoßen.5 Ich werde nicht auf die Problematik eingehen, wann eine bestimmte Tat als auf dem Territorium eines bestimmten Staates begangen gilt. Dies ist eine ziemlich komplizierte Frage, deren Behandlung über die Zielsetzung dieses Aufsatzes hinausgeht.6 Ich werde in der Regel die Standardfälle zugrunde legen, in denen sich sowohl die Handlung des T als auch der Erfolg (z. B. der Tod des O) auf dem Territorium des Staates S ereignen. Rechtlich gesehen ist Territorialität wenig kontrovers.7 Den5 Ich verwende die Hohfeld’sche Terminologie, um unterschiedliche Ausprägungen eines Rechts zu bezeichnen, nämlich Freiheiten, Ansprüche, Kompetenzen und Immunitäten. Diese Ausprägungen korrelieren jeweils mit einem Nicht-Recht, einer Pflicht, einer Subjektion und einer Unfähigkeit (vgl. Hohfeld, Fundamental Legal Conceptions, 1919). Ich behaupte, dass das Recht zur Bestrafung des T am besten beschrieben werden kann als normative Befugnis, gewisse moralische Grenzen von T zu ändern. Nach dieser Definition zieht die Strafbefugnis nicht die Freiheit nach sich, T gewaltsam in Gewahrsam zu nehmen oder eine Untersuchung auf dem Territorium eines fremden Staates ohne dessen Einwilligung vorzunehmen. 6 Die Standarddoktrin unterscheidet zwischen subjektiver und objektiver Territorialität und der kontroverseren „effects doctrine“. Eine gute Darstellung dieser Auffassung bietet der klassische Aufsatz von Akehurst, British Yearbook of International Law 46 (1972 – 1973), S. 145 ff. und aus jüngerer Zeit die Monographie von Hirst (Fn. 3), Kapitel 3 und 4. 7 Siehe beispielsweise Draft Convention on Jurisdiction with Respect to Crime, Ameri can Journal of International Law Supplement 29 (1935), S. 439 ff., 480.
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noch – oder womöglich genau deswegen – muss jede Rechtfertigung des Rechts zur extraterritorialen Bestrafung zunächst dieses Grundprinzip überzeugend erklären. Um die Reichweite der Strafbefugnis des S zu erklären, müssen wir – so lässt sich vertreten – die Gründe betrachten, welche die Bestrafung eines bestimmten Straftäters durch S rechtfertigen. Die hier vorgeschlagene Rechtfertigung dieser normativen Befugnis basiert auf der Annahme, dass ein geltendes Strafrechtssystem ein öffentliches Gut darstelle, von dem der Einzelne in besonderer Weise profitiert. Diese Annahme beruht ihrerseits auf einer rechtsphilosophischen und einer normativen Erwägung. Aus Sicht der analytischen Rechtsphilosophie besteht eine notwendige Verknüpfung zwischen der Geltungskraft eines Rechtssystems und der Ausstattung einer bestimmten Körperschaft mit dem Recht, Straftäter zu bestrafen. Insbesondere wurde plausibel vertreten, dass ein Strafrechtssystem nur dann in Kraft ist, wenn sowohl seine Subjekte als auch außenstehende Betrachter Gründe haben, zu glauben, dass dem so sei.8 Das bedeutet allerdings nicht, dass die Geltungskraft dieses Strafrechtssystems von einem bloßen psychischen Umstand abhängt. Nicht jeder Glaube würde ausreichen. So bedeutet die Tatsache, dass viele amerikanische „wiedergeborene“ Christen an die Geltungskraft der Gesetze Gottes in den USA glauben, nicht, dass diese tatsächlich in Geltung stehen. Vielmehr muss dieser Glaube auf bestimmte Arten von Gründen zurückgehen. Um dies zu erklären, weist Joseph Raz auf die Rolle der Gerichte – also der rechtsanwendenden Institutionen in einem Rechtssystem – hin.9 Rechtssysteme enthalten regelmäßig nicht nur verhaltensleitende Normen, sondern auch institutionalisierte Methoden zur Rechtssetzung und zur Bewertung der Rechtskonformität einer Verhaltensweise. Die Existenz von Gerichten deutet darauf hin, dass das Rechtssystem eine institutionalisierte Methode zur Bewertung rechtlicher Situationen vorsieht. Die Aufgabe der Gerichte besteht also vor allem darin, normative Situationen verbindlich und im Einklang mit dem geltenden Recht zu bewerten.10 Ferner wenden Gerichte Rechtsnormen unter Ausschluss widerstreitender Erwägungen an (wenn nicht die Gesetze selbst Gegenteiliges erlauben). Mit Raz schlage ich also vor, dass diese verbindlichen Urteile die Grundlage darstellen, auf die Staatsdiener, Bürger und Rechtswissenschaftler ihren Glauben zurückführen müssen, damit wir von der Geltungskraft des Rechtssystems ausgehen können. Ferner müssen zwei normative Bedingungen erfüllt sein, damit ein bestimmtes System strafrechtlicher Gesetze Geltungskraft beanspruchen kann: Erstens sollten diejenigen, die diese Strafnormen verletzen, bestraft werden und zweitens 8
Vgl. hierzu Raz, Practical Reason and Norms, 1999, S. 171. Ebd., S. 137. 10 Ebd., S. 134. 9
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sollte diese Strafe von einem Gericht verhängt werden, das ausdrücklich von diesem Rechtssystem dazu ermächtigt wurde. Die erste Bedingung ist in der Literatur hinreichend geläufig und bedarf hier keiner weiteren Erläuterung.11 Lassen Sie mich jedoch kurz auf die zweite Bedingung eingehen. Damit eine strafrechtliche Sanktion den Glauben an die Geltungskraft des Rechtssystems begründet, muss diese Befugnis meiner Ansicht nach von jemandem ausgeübt werden, der ausdrücklich von diesem Rechtssystem dazu ermächtigt wurde. Tatsächlich würden die Bürger und Rechtswissenschaftler der meisten Rechtsordnungen die Durchsetzung einer Rechtsnorm dieses Systems nur dann akzeptieren, wenn ein Gericht die Strafe verhängt hat.12 Private Vergeltung und Nachteile, die durch Naturgewalten erlitten werden, mögen Ausdruck natürlicher oder poetischer Gerechtigkeit sein, doch können sie nicht den Glauben an die Geltungskraft der einschlägigen Rechtsnorm begründen. Gleichermaßen würde der Umstand, dass deutsche Gerichte die Strafbefugnis über jede in Korea verübte Brandstiftung für sich beanspruchen, wohl kaum den Glauben an die Geltungskraft der koreanischen Strafgesetze gegen Brandstiftung begründen. Meines Erachtens ist aus normativer Sicht das Individualinteresse an geltenden Rechtsnormen, welche Mord, Vergewaltigung etc. verbieten, hinreichend wichtig, um die Verleihung der Strafbefugnis an S über T zu rechtfertigen. Zugegebenermaßen ist dies eine empirische Behauptung, die hier nicht vollständig ausgeführt werden kann. Allerdings kann ihre Plausibilität anhand einiger gewöhnlicher Beobachtungen belegt werden. Mit Feinbergs Worten „regelt [das Strafrecht] nicht nur meine Freiheit durch die Auferlegung von Pflichten und Gewährung von Freiheiten, es räumt mir auch Rechte gegen meine Mitbürger ein und beschützt mich dadurch vor ihnen in der Ausübung meiner Freiheiten.“13 Wie oben schon skizziert hängt die Geltungskraft des Rechts davon ab, dass die Regelungsadressaten aus bestimmten Gründen glauben, an diese gebunden zu sein. Dementsprechend behaupte ich jetzt, dass die Geltungskraft des Strafrechts die Einzelnen in dem Gefühl bestätigt, Rechtsinhaber zu sein und dass das Rechtssystem den Schutz ihrer Rechte ernst nimmt. In diesem eingeschränkten Sinne behaupte ich, dass die Geltungskraft des Strafrechts zu unserem Gefühl von Würde und Sicherheit beiträgt. Die Vorteile, die ein geltendes Strafrechtssystem den Einzelnen gewährt, sind keineswegs trivial. Man stelle sich die Alternative vor. In einer Gesellschaft, die nur private Selbstverteidigung und Vergeltung als Antwort auf Fehlverhalten vor11 Vgl. hierzu ebd. und Lacey, State Punishment: Political Principles and Community Values, 1988, Kapitel 4. Zur Kritik vgl. Finnis, Natural Law and Natural Rights, 1980, und MacCormick, Legal Reasoning and Legal Theory, 1978. 12 Dies ist eine tatsächliche, keine konzeptionelle oder normative Behauptung. 13 Feinberg, The Moral Limits of the Criminal Law, Bd. 1, 1984, S. 8.
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sieht, würde sich die Situation schnell verschlimmern und die Einzelnen würden letztlich in dauernder Angst leben,14 was die Lebensverhältnisse in „failed states“ regelmäßig zeigen. Ferner trägt gesetzliche Bestrafung zu unserem Wohlbefinden in einer Weise bei, die weder wirksame präventive Polizeiarbeit noch das zivilrechtliche Deliktsrecht zu leisten vermögen. Sie sendet eine ganz andere Botschaft an die Einzelnen, was den Schutz ihrer Rechte betrifft, nämlich dass der Schutz des Rechts real ist. An dieser Stelle ist jedoch Vorsicht geboten. Diese Argumentation bedeutet nicht, dass das Recht zur Bestrafung sich auf einem Zuwachs des Gefühls von Würde und Sicherheit gründet, das die Einzelnen in einer bestimmten Gesellschaft genießen. Das würde zu einer rein konsequentialistischen Argumentation führen und zu dem Versuch einladen, das Gefühl von Würde und Sicherheit zu maximieren. Vielmehr tritt eine gegensätzliche Wirkung ein: Weil die Geltung bestimmter Strafrechtsnormen zu unserem Gefühl von Würde und Sicherheit beiträgt, hat ein Staat (S) die Strafbefugnis über einen Täter (T). Folglich beruht die Argumentation auf dem Interesse der Einzelnen an der Geltungskraft dieser Gesetze und nicht unmittelbar auf ihrem Interesse an körperlicher Sicherheit. Sobald ein gewisses Maß an Rechtsdurchsetzung besteht, können wir getrost argumentieren, das Rechtssystem sei in Kraft. Mehr erfordert diese Argumentation nicht. Ferner beruht diese Argumentation nicht auf dem Interesse eines bestimmten Einzelnen an der Geltung dieser Regeln. Der Beitrag, den ein Strafrechtssystem zum Wohlbefinden eines bestimmten Einzelnen leistet, würde kaum ausreichen, um die Art der Behandlung zu rechtfertigen, die eine gesetzliche Strafe üblicherweise für T nach sich zieht. Vielmehr ist es das kollektive Interesse vieler Einzelner an der Geltung dieses Systems, das hinreichend wichtig ist, um die Verleihung der normativen Strafbefugnis an S zu rechtfertigen. Wie erklärt diese Argumentation nun die territoriale Reichweite? Das ist einfach: Ich behaupte, dass die normative Befugnis des S, den T zu bestrafen, gerechtfertigt ist durch das kollektive Interesse der Einzelnen in S an der Geltung eines Strafrechtssystems in S. Vereinfacht gesagt sind es zum Beispiel die Menschen in Frankreich, die ein Interesse an der Geltung des französischen Strafrechtssystems haben. Das erklärt ohne weiteres, warum S die Befugnis hat, Taten zu bestrafen, die durch oder gegen Ausländer auf seinem Territorium begangen wurden. Tatsächlich untergraben gegen Ausländer gerichtete Straftaten die Geltung der Strafgesetze des S und berühren so dieses öffentliche Gut. Wenn T in S den O ermordet, stellt er die Existenz der Norm des S in Frage, die Mord verbietet. Dieser Gedanke greift selbst dann, wenn sowohl T als auch O Ausländer sind, die sich rein zufällig auf dem Territorium des S befinden (z. B. urlaubsbedingt). Ferner behaupte ich, dass das kollektive Interesse, das die Verleihung der Strafbefugnis an S über 14
Siehe die berühmte Passage in: Hobbes, Leviathan (1651), 1994, Kapitel 13.
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T erklärt, auch von denjenigen, die sich nur zufällig oder für sehr kurze Zeit in S befinden, geteilt wird. Es sind die Interessen jedes Einzelnen in S, die kollektiv die Strafbefugnis des S über T begründen, nicht allein jene der Staatsbürger von S oder der in S Ansässigen. Zur Illustration: Manuel ist ein kolumbianischer Staatsbürger. Reist er im Urlaub nach Italien, hat er ein Interesse daran, dass die Menschen dort die italienischen Strafgesetze beachten. Während er eine Gasse in Rom hinabgeht oder in einer Trattoria in Neapel speist, hat Manuel ein Interesse daran, dass die Strafgesetze Italiens gelten. Wenn es auch nicht gleich stark ist – schließlich wird er wahrscheinlich in einigen Tagen das Land verlassen –, ist dieses Interesse das gleiche wie das eines jeden neben ihm sitzenden italienischen Staatsbürgers oder dauerhaft Ansässigen. Wenngleich vorübergehend, ist Manuels Interesse Teil des kollektiven Interesses, das die Strafbefugnis italienischer Gerichte über diejenigen, die Italiens Strafgesetze verletzen, rechtfertigt. Mit anderen Worten: Auch wenn dies womöglich kein zentraler Bestandteil meiner Argumentation für die Verleihung der Strafbefugnis an S über T ist, schafft diese Position Raum für die Behauptung, dass die Interessen vorübergehender Besucher ebenfalls bedeutsam sind. Diese Überlegungen erklären die territoriale Reichweite des Strafrechtssystems vollständig, zumindest soweit sie die normative Befugnis des S zur Bestrafung aller Personen betrifft, die innerhalb der Staatsgrenzen von S das dort gültige Strafrecht verletzen. Lassen Sie uns nun untersuchen, ob S ein ausschließliches Recht hierzu hat oder ob andere Staaten (S2, S3 etc.) beanspruchen können, ihre Strafbefugnis daneben auszuüben. Staaten haben das Recht zur Selbstverwaltung. Dieses Recht umfasst nicht bloß die Befugnis, bestimmte Verhaltensweisen zu kriminalisieren. Es zieht prima facie auch eine Immunität dagegen nach sich, dass andere Staaten ihre eigenen Strafnormen auf das Staatsgebiet des S erstrecken und sie im Fall von Zuwiderhandlungen durchsetzen. Diese Immunität erklärt, weshalb Sri Lanka prima facie daran gehindert ist, Großbritannien die dort anwendbaren Strafrechtsnormen vorzuschreiben. Diese Immunität muss ebenfalls auf der Grundlage der Interessen der Menschen in S erklärt werden. Es wurde vertreten, dass der Wert der Selbstbestimmung darin liege, dass eine Gruppe und ihre Mitglieder sich selbst die politische Macht über ihre Gruppe anvertrauen.15 Ich nehme hier an, dass das kollektive Interesse der Angehörigen von S, über die zulässigen Verhaltensweisen von Menschen auf dem Staatsgebiet von S zu entscheiden, hinreichend wichtig ist, um prima facie andere Staaten daran zu hindern. Ich sage prima facie, weil diese Immunität weder absolut noch unbedingt ist. Sie muss zumindest durch die Interessen der Nichtmitglieder begrenzt sein.16 Dementsprechend schließt das Interesse, das die Immunität des 15 Raz und Margalit, in: Raz, Ethics in the Public Domain. Essays in the Morality of Law and Politics, 1994, S. 126. 16 Raz u. a., ebd.
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Staates des Täters (TS) erklärt, nicht notwendigerweise die Strafbefugnis eines strafverfolgenden extraterritorialen Staates (VS) über T hinsichtlich in TS begangener Straftaten aus. Haben die Einzelnen in VS ein erhebliches Interesse daran, dass ihre Strafgesetze in TS anwendbar sind, kann VS’ prima facie-Strafbefugnis die prima facie-Immunität des TS überwiegen.17 Verkürzt gesagt, ist dies die argumentative Schwelle, die eine Rechtfertigung extraterritorialer Bestrafung erreichen muss.
III. Das aktive Personalitätsprinzip Lassen Sie uns nun die moralische Legitimität des aktiven Personalitätsprinzips untersuchen. Hier stellt sich die Frage, ob VS aufgrund der Tatsache, dass T Staatsbürgerin von VS ist, die Befugnis hat, T für eine von ihm in TS begangene Tat zu bestrafen.18 Ebenso wie das Territorialitätsprinzip ist auch diese strafrechtliche Zuständigkeit im bestehenden Völkerrecht etabliert.19 Tatsächlich wird generell anerkannt, dass die ursprüngliche Konzeption des Rechts personal war, und dass lediglich das Auftreten des Territorialstaats das Recht schuf, Ausländer der lex loci zu unterwerfen.20 Obwohl viele Länder sich selbst Beschränkungen hinsichtlich der Ausübung dieser Kompetenz auferlegt haben, wird allgemein vertreten, dass einer beliebigen Ausdehnung dieser Befugnis normativ im Grunde nichts entgegensteht.21 Ich habe argumentiert, das VS’ normative Befugnis, T zu bestrafen, durch das kollektive Interesse der Einzelnen in VS an der Geltung eines Strafrechtssystems erklärt wird. Nun behaupte ich, dass dieses Interesse das aktive Personalitätsprinzip aber nicht zu rechtfertigen vermag. Kurz gesagt scheint es ausgeschlossen, dass die Geltung der Strafgesetze von VS es erfordert, T für einen in TS begangenen Raub zu bestrafen, weil T zufällig Staatsbürgerin des VS ist. Zum einen wäre es eigenartig zu behaupten, dass T die Gesetze von VS verletzt hat. Doch selbst 17 Ein Hinweis ist hier angebracht. Genau wie nur ein bestimmtes spezifisches Interesse die Strafbefugnis von S über T erklären kann, reicht nicht jedes beliebige Interesse der Individuen in S2 aus, um S’ Immunität außer Kraft zu setzen. Siehe unten die Abschnitte zum aktiven und passiven Personalitätsprinzip. 18 Der Einfachheit halber werde ich durchgehend den extraterritorialen Staat, der die Absicht hat, T strafrechtlich zu verfolgen, als „VS“ bezeichnen (auch Forumstaat genannt) und den Staat, auf dessen Territorium die Straftat begangen wurde, als „TS“. 19 Vgl. Oppenheim, Lawrence u. a., Oppenheim’s International Law, Band 1, 9. Aufl. 1992, und Lowe, in: Evans (Hrsg.), International Law, 2. Aufl. 2006, S. 345. 20 Brierley, in: Law Quarterly Review 44 (1928), S. 155 f. 21 Mit diesen selbst auferlegten Beschränkungen ist etwa gemeint, dass nach dem Recht einiger Staaten die in Rede stehende Tat auch nach dem Recht des Staates, auf dessen Territorium sie begangen wurde, strafbar sein muss (z. B. Ägypten). In anderen Staaten, z. B. in Frankreich, ist diese Beschränkung nur für besonders schwere Delikte vorgesehen.
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wenn man zu Diskussionszwecken hiervon ausgeht, so scheint das kollektive Interesse der Einzelnen in VS an dem Gefühl von Würde und Sicherheit, das die Geltung der Strafgesetze des VS ihnen gibt, nicht von einem in TS begangenen Raub berührt zu werden. Bewohner des VS mögen durch die konkrete Tat schockiert sein, doch untergräbt dieser Raub nicht ihren Glauben an die Geltung des Strafrechts des VS in VS. Dieser Schluss widerspricht dem aktuellen Völkerrecht sowie, in einem gewissen Maße, dem allgemeinen Moralempfinden. In dem verbleibenden Teil dieses Abschnitts werde ich die Argumente untersuchen, die zur Rechtfertigung des aktiven Personalitätsprinzips vorgebracht werden. Die nationalitätsbasierte Strafbefugnis wurde etwa mit der Behauptung verteidigt, dass das Recht des VS, z. B. bestimmte durch seine Angehörigen in TS begangene Sexualdelikte zu bestrafen, durch die Möglichkeit eines Rückfalls innerhalb von VS gerechtfertigt sei.22 Zunächst ist anzumerken, dass diese Argumentation eine Rechtfertigung für die Bestrafung sämtlicher Einwohner von VS und nicht lediglich seiner Staatsangehörigen liefert. Sie kann nicht erklären, weshalb das Vereinigte Königreich die Befugnis hätte, eine in Spanien wohnhafte britische Staatsbürgerin für eine in Spanien begangene Tat zu bestrafen. Diese Argumentation würde die Reichweite der Strafbefugnis in einer Weise ändern, die dem gegenwärtigen Völkerrecht zuwider liefe.23 Davon einmal abgesehen erscheint problematisch, dass sie die Strafbefugnis auf Grundlage der Abschreckung oder, in geringerem Maße, der moralischen Besserung des Täters rechtfertigen muss. Auf philosophischer Ebene ist das ein enormes Problem. Sowohl die meisten Rechtsphilosophen als auch die meisten politischen Philosophen lehnen diese normativen Argumente als plausible Rechtfertigungen der Strafbefugnis schlechthin ab. Es gibt nichts in der extraterritorialen Anwendung von Strafrechtsnormen, was diese etablierten moralischen Erwägungen außer Kraft setzen würde. Von anderer Seite wurde behauptet, dass Nationalität eine „Evolution“ der „engen“, „eigeninteressierten“ territorialen Zwecke des Staates darstelle.24 Beispielsweise „schütze“ das Strafrecht von England und Wales Kinder nun extraterritorial gegen bestimmte, durch die Staatsbürger oder Ansässige dieser Länder begangene Sexualdelikte.25 Doch auch wenn die extraterritoriale Ausübung der Strafbefugnis durch VS durch den zusätzlichen Schutz dieser Kinder gerechtfer22
Arnell, The Case for Nationality Based Jurisdiction, 2001, S. 961 und Lowe (Fn. 19), S. 347. 23 Wissenschaftler haben im Rahmen der Harvard Research on Jurisdiction with respect to Crime festgestellt, dass „es im Prinzip klar scheint, dass der Wohnsitz allein keine hinreichende Grundlage für eine uneingeschränkte Zuständigkeit gewährt“ (Draft Convention on Jurisdiction with Respect to Crime, 1935, S. 533). 24 Arnell (Fn. 22), S. 960. 25 Art. 7 (2) Sex Offenders Act, 1997.
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tigt ist, stellt sich die Frage nach den denkbaren Gründen für die Beschränkung auf VS’ eigene Staatsbürger. Wenn man annimmt, dass diese Strafbefugnis durch den zusätzlichen Schutz der Bevölkerung, beispielsweise dieser Kinder, gerechtfertigt ist, so führt dies konsequenterweise zum passiven Personalitätsprinzip, also der Zuständigkeit kraft Staatsbürgerschaft der Opfer (sofern die Opfer in VS in einer besonders verletzlichen Lage sind), oder zu einer Allzuständigkeit, nicht aber zum aktiven Personalitätsprinzip. Insoweit kann jene Argumentation ohne weiteres als Grundlage für das aktive Personalitätsprinzip abgelehnt werden. Andere Autoren befassen sich mit von ihnen so genannten Zuständigkeitslücken und der Notwendigkeit, „Straflosigkeit“ zu bekämpfen. Zwei unterschiedliche Szenarien werden dabei oft genannt. Erstens entstünde dann ein Problem, wenn T in ihren Heimatstaat (VS) zurückkehrt, nachdem sie in TS eine Straftat begangen hat, da das Auslieferungsrecht vieler Staaten nicht vorsieht, eigene Staatsbürger auszuliefern.26 Von einem moralischen Standpunkt aus ist das von geringer Bedeutung. Wer diese Ansicht vertritt, muss ein Argument dafür liefern, dass Staaten ein Recht zur Verweigerung der Auslieferung ihrer Staatsbürger haben, was bezweifelt werden kann. Selbst wenn wir zu Argumentationszwecken annehmen, dass Staaten ein solches Recht hätten, folgt daraus wiederum nicht, dass VS das Recht zur Bestrafung der T zusteht. Dass die Angehörigen von VS ein Interesse daran haben, T nicht auszuliefern, steht schlicht in keinem Zusammenhang mit der Frage, ob sie ein Interesse an der Bestrafung der T durch ihren Staat haben. Diese Themen sind unterschiedlichen Ranges. Wenn die Vermeidung der Straflosigkeit für Individuen in VS derart wichtig ist, sollte VS die T ganz einfach an TS ausliefern. Ferner ist die logische Implikation dieses Arguments, dass jedweder Staat das Recht zur Ausübung einer Strafbefugnis über T hätte, nicht nur der Staat, dem sie angehört. Also erklärt die Vermeidung von Straflosigkeiten ebenfalls nicht das aktive Personalitätsprinzip. Schließlich wird oft vertreten, dass das aktive Personalitätsprinzip auf der besonderen Beziehung zwischen dem Individuum und „seinem“ Staat beruht. Diese Beziehung wird regelmäßig als Treue (allegiance) bezeichnet.27 Ob sie tatsächlich als Argument für das aktive Personalitätsprinzip herangezogen werden kann, hängt vom genauen Inhalt dieser Beziehung ab. Eine erste Überlegung zeigt, dass 26 Einige Staaten, wie die meisten europäischen Länder, gehen darüber hinaus und behaupten, sie seien verpflichtet, dies nicht zu tun. Vgl. Blakesley, in: Utah Law Review (1984), S. 685 ff., 709. 27 So z. B. Blackmer v. United States, 284 U.S. 421, 427 (1932), United States v. King, 552 F.2d 833, 851 (9th Cir. 1976). Wenn diese Verbindung die einzige Rechtfertigung für das Recht zur Bestrafung in Fällen des aktiven Personalitätsprinzips darstellen würde, so wäre die Praxis einiger Staaten mit diesem Treuegedanken unvereinbar, da diese Staaten die Zuständigkeit über T auch dann beanspruchen, wenn sie die Staatsangehörigkeit erst nach der Tat erlangt hat (siehe Art. 5 des französischen Code d’Instruction Criminelle, zitiert in Draft Convention on Jurisdiction with Respect to Crime, 1935, S. 522).
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keines der bekannten Argumente zur Verteidigung der intrinsischen „ethischen Bedeutsamkeit“ der Staatsangehörigkeit die Anwendung von VS’ Strafrechtsnormen auf seine im Ausland befindlichen Staatsangehörigen nach sich zu ziehen scheint. Diese Argumente sollen erklären, warum Staaten die Pflicht oder zumindest das Recht haben, ihre eigenen Staatsangehörigen in Angelegenheiten wie dem Schutz ihrer Interessen zu bevorzugen.28 Sie stützen deshalb nicht unmittelbar das aktive Personalitätsprinzip. Allenfalls könnten sie ein Argument für das passive Personalitätsprinzip liefern, nämlich das Recht von VS, die O (wo immer sie ist) durch die Bestrafung derjenigen, die ihre Rechte verletzen, zu schützen. Behauptungen dieser Art werden an späterer Stelle untersucht. Alternativ kann die Treuebeziehung zwischen Bürgern und Staat nach dem Schema des „gegenseitigen Austauschs von Vorteilen“ konstruiert werden.29 Zur Verteidigung dieser Argumentation wird vertreten, dass T angesichts des Schutzes und anderer Vorteile, die VS ihr gewährt, auch die Belastungen zu tragen hat, die mit der Staatsangehörigkeit zu VS verbunden sind. Ein erster Einwand gegen diese Argumentation ist, dass sie nicht auf jeden Staat anwendbar zu sein scheint. Tatsächlich scheint nicht jeder Staat seinen Angehörigen hinreichend große Vorteile zu gewähren, um ihnen eine Pflicht zum Tragen der Belastungen auch während eines Auslandsaufenthaltes auferlegen zu können.30 Beispielsweise scheinen Angehörige von VS, die aus humanitären oder wirtschaftlichen Gründen fliehen mussten, von dieser Argumentation ausgeschlossen. Selbst wenn man aber bestimmte Pflichten der T gegenüber VS annimmt, bleibt folgende Schlüsselfrage offen: Welches Interesse der Menschen in VS rechtfertigt die Pflicht der T zur Beachtung der Strafgesetze von VS im Ausland? Man betrachte folgenden Fall: T reist nach TS und raubt eine Bank aus. Nachdem sie nach VS zurückgekehrt ist, wird sie nach VS’ Strafrecht verfolgt und bestraft. Nun ist aber unklar, welches Interesse VS daran hat, dass T im Ausland das Recht des VS beachtet. Sicherlich kann die Strafbefugnis über T nicht auf dem Gefühl von Würde und Sicherheit der Individuen in VS beruhen, das ihre Strafrechtsordnung ihnen vermittelt. Die Tat der T hat VS’ Strafrechtsnormen oder das Gefühl von Würde und Sicherheit der Menschen in VS in keiner signifikanten Art und 28 Vgl. hierzu standardmäßig Miller, On Nationality, 1995; Scheffler, Boundaries and Allegiances, 2001; Tamir, Liberal Nationalism, 1993. 29 Miller, ebd., S. 61. Dies stellt im Groben dar, wie fairplay-Straftheorien diese Befugnis rechtfertigen. Vgl. z. B. Dagger, in: Res Publica 14 (2008), S. 259 ff. Sie sind ebenfalls dieser Kritik ausgesetzt. 30 Interessanterweise hatten viele europäische Mächte bis weit ins 20. Jahrhundert hinein „nationale Gerichte“ in den Territorien anderer Staaten (z. B. Persien, China, dem Osmanischen Reich, etc.), um ihre Staatsangehörigen für dort begangene Straftaten zu verfolgen. Diese Zuständigkeit fußte aber auf Kapitulationsverträgen und nicht auf einem Recht der europäischen Mächte selbst. Vgl. Grisby, in: Law Quarterly Review 12 (1896), S. 252 ff. und Latter, in: Law Quarterly Review 19 (1903), S. 316 ff.
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Weise untergraben. Mit anderen Worten: Sofern nicht ein spezifisches Element des Delikts selbst (z. B. seine Wirkung oder sein Zweck) das öffentliche Gut der Individuen in VS selbst berührt, fehlt VS die Befugnis, seine Strafrechtsnormen extraterritorial gegenüber T durchzusetzen. Ein Verfechter des Treuearguments würde womöglich entgegnen, dass Individuen in VS zumindest ein Interesse haben, dass T keine fraude à la loi gegenüber VS betreibt, sich also nicht allein deswegen ins Ausland begibt, um etwas im Heimatstaat Strafbares zu tun. Diese Argumentation scheint wiederum nicht an die Staatsangehörigkeit, sondern an den Wohnsitz der T anzuknüpfen. Sieht man davon ab, könnte die Argumentation überzeugend erscheinen. Jedoch liegt meines Erachtens nahe, dass ihre intuitive Plausibilität von etwas anderem als der Staatsangehörigkeit der T oder ihres Wohnsitzes herrührt. Man nehme an, T geht mit O an die Grenze zwischen VS und TS, überlistet sie, die Grenze zu überschreiten, und schlägt sie zusammen. Anschließend begeben sich beide wieder nach VS. Hätten nicht die Individuen in VS ein Interesse an der Bestrafung der T, um die Geltung der Gesetze in VS zu bekräftigen? Ich sage, das hätten sie. Individuen in VS haben ein Interesse daran, nicht durch List oder Gewalt in eine Lage gebracht zu werden, in der VS keine Strafbefugnis über T hat. Ihr Gefühl von Würde und Sicherheit, während sie in VS sind, erfordert das. Jedoch hat dies nichts mit Ts Staatsangehörigkeit oder ihrem dauerhaften Wohnsitz zu tun. Die ratio, der zufolge VS die Strafbefugnis über T gewährt würde, griffe selbst dann, wenn T und O Touristen auf einer Urlaubsreise wären. Dementsprechend kann diese Argumentation das aktive Personalitätsprinzip nicht begründen. Vielmehr scheint es auf territorialen oder quasi-territorialen Erwägungen zu beruhen.
IV. Das passive Personalitätsprinzip Dieser Abschnitt diskutiert, ob sich die Strafbefugnis von VS über T hinsichtlich einer im Ausland begangenen Tat auch aus der Staatsangehörigkeit des Opfers zu VS ergeben kann. Diese Kompetenzgrundlage gehörte zu den umstrittensten des Völkerrechts.31 Jedoch wurde sie zunehmend von den Staaten akzeptiert und gegenwärtig scheint keine Völkerrechtsnorm dieser Grundlage der Strafbefugnis entgegenzustehen.32 Befürwortet die hier vertretene Rechtfertigung von Strafe das passive Personalitätsprinzip? Die Frage ist wiederum, ob Individuen in VS ein kollektives In31 Es war die einzige reguläre Grundlage für extraterritoriale Zuständigkeit, die nicht in der Harvard Draft Convention on Jurisdiction with Respect to Crime von 1935 enthalten war. 32 Das Harvard Research Project (1935) enthält eine Liste von 28 Staaten, die dieses Prinzip aufgegriffen haben; viele von ihnen befürworten es weiterhin (vgl. Oppenheim u. a. [Fn. 19], S. 472).
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teresse an der Geltung von VS’ Strafgesetzen im Ausland im Hinblick auf Delikte gegen einen (Mit-)Staatsangehörigen haben. Für diese Argumentation müsste gezeigt werden, dass die Tat der T die Strafrechtsnormen von VS in Frage stellt. Warum das aber der Fall sein soll, ist nicht ersichtlich. Wenn O, eine deutsche Staatsangehörige, während eines Besuchs in einem tibetanischen Kloster im Himalaya von einer Gruppe aufgebrachter Mönche angegriffen wird, würde das wohl kaum das Vertrauen der Individuen in Deutschland in die Geltung der deutschen Strafgesetze berühren. Allgemeiner behaupte ich, dass deutsche Staatsangehörige kein hinreichend bedeutendes Interesse an der extraterritorialen Geltung deutschen Strafrechts haben. Der Grund dafür ist, dass das deutsche Strafrecht im Ausland nicht die Vorteile gewähren kann, die im Inland seine Strafbefugnis rechtfertigen. Ein Beispiel wird das verdeutlichen. Bei einem Gang durch eine Gasse in Buenos Aires wäre es für einen deutschen Staatsangehörigen eigenartig, das Gefühl zu haben, seine Rechte seien in gewissem Maße durch das deutsche Strafrecht geschützt. Das wäre, wie ich behaupte, auch dann zutreffend, wenn das deutsche Strafrecht rechtlich gesehen wirklich eine extraterritoriale Strafbefugnis auf Grundlage des passiven Personalitätsprinzips vorsähe. Dem ist so, weil die Strafbefugnis über T hier in Bezug auf ein öffentliches Gut erklärt wird. Dieses öffentliche Gut kommt den Individuen innerhalb eines bestimmten Territoriums zugute. Dies trifft auf die meisten von VS gewährten öffentlichen Güter zu, wie etwa das Gesundheitssystem oder die öffentlichen Verkehrssysteme. Während O sich im Ausland aufhält, ist das Strafrechtssystem, welches zu ihrem Gefühl von Würde und Sicherheit beitragen kann, jenes des Gebietsstaates. Dem ist meines Erachtens jedenfalls dann so, wenn wir uns auf innerstaatliche Delikte beziehen. Daraus folgt, dass VS nicht kraft der Staatsangehörigkeit der O die extraterritoriale Strafbefugnis über T hat. Doch was, wenn es keinen Gebietsstaat gibt, der dieses öffentliche Gut bereitstellt? In der Tat gibt es mehrere Orte, an denen kein territoriales Strafrechtssystem in Kraft ist. Fallbeispiele, die sich sogleich aufdrängen, sind die Antarktis oder kleine Inseln mitten in internationalen Gewässern.33 Hätte VS unter solchen Umständen die extraterritoriale Strafbefugnis im Hinblick auf Verstöße gegen seine Strafrechtsnormen? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir einmal mehr untersuchen, ob Individuen in VS ein kollektives Interesse an der Geltung ihres Strafrechtssystems in diesen Gebieten haben. Ich behaupte, dass beispielsweise die Menschen in Japan kein hinreichend bedeutendes Interesse an der Geltung ihres Strafrechtssystems in der Antarktis haben, um die Strafbarkeit von T zu begründen. Das liegt daran, dass die dortige Tötung eines japanischen Staats33 Siehe Jones v. United States 137 U.S.202L (1890) für eine Situation, in der das aktive Personalitätsprinzip angeführt wurde.
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angehörigen das Gefühl von Würde und Sicherheit der Japaner in Japan nicht berührt. Wie ich oben argumentiert habe, berührt diese Tötung nicht die Geltung der japanischen Strafnorm gegen Mord. Ferner kann das japanische Strafrecht nicht wirklich Geltung in der Antarktis entfalten, zumindest nicht, solange die Antarktis ihren gegenwärtigen rechtlichen und demografischen Zustand behält. Dies zwingt zwar nicht zu der Annahme, dass ohne territoriale Autorität keinerlei Autorität die Strafbefugnis über T in der Antarktis innehaben sollte. Es bedeutet aber, dass die Staatsbürgerschaft der O nicht zu rechtfertigen vermag, dass VS eine Strafbefugnis gewährt wird, insbesondere auf dem Gebiet einer terra nullius. Es ist Zeit, die Argumente derjenigen zu untersuchen, welche die ethische Bedeutsamkeit der Staatsbürgerschaft verteidigen. Diese Argumente greifen im Allgemeinen die These auf, dass Individuen bestimmte besondere Verpflichtungen gegenüber ihren Mit-Staatsangehörigen haben.34 Wenngleich Uneinigkeit über die so begründeten Pflichten besteht, wird von allen Vertretern dieses Ausgangspunktes doch gleichermaßen angenommen, dass daraus eine besondere Verpflichtung von VS zum Schutz der Interessen seiner Angehörigen folgt. Diese besondere Verpflichtung impliziert, dass VS gleichzeitig auch ein Recht dazu hat. Wenn nun das Band der Staatsangehörigkeit intrinsisch von VS verlangt, diese besonderen Pflichten zu erfüllen, so scheint es, dass die Befürworter von besonderen Verpflichtungen gegenüber Mit-Staatsangehörigen diesen Schutz auf das Ausland ausweiten wollen. Jedoch ist die Behauptung einer Strafbefugnis auf der Grundlage dieser These ein non sequitur. Die Freiheit, O zu schützen, kann nicht per se die Strafbefugnis über T nach sich ziehen. Diese Punkte sind unterschiedlichen Ranges. Beispielsweise sind wir meist bereit, das Recht des S zur Bestrafung der T für eine Tötung anzuerkennen, obwohl O’s Rechte nicht mehr geschützt werden können. Doch erfordert es ein weiteres Argument, um den Schritt von Schutz zu Strafe zu gehen. Wir können diese Lücke nur sinnvoll füllen, indem wir sagen, dass rechtliche Strafe durch die abschreckende Wirkung oder gegebenenfalls durch Ausschaltung des Täters gerechtfertigt ist. Ich werde mich der Abschreckung als allgemeiner Rechtfertigung des Strafrechts im letzten Abschnitt dieses Aufsatzes widmen. Allerdings bezweifele ich, dass die Ausschaltung eines Täters als ernsthafte Erklärung der moralischen Befugnis zur Bestrafung angesehen wird. Wie üblicherweise eingewendet wird, missachtet das Prinzip des Ausschaltens den Persönlichkeitsstatus des Täters und behandelt ihn lediglich wie ein gefährliches Tier. Für die hier untersuchte Frage führt sie zudem zu problematischen Implikationen hinsichtlich der Zuständigkeiten. Welchen Unterschied macht es schließlich, wo ein Täter gefangen gehalten 34 Die Standardargumente werden von Miller (Fn. 28), Scheffler (Fn. 28), S. 79, und Tamir (Fn. 28) S. 137 angeführt.
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wird, solange er nur ausgeschaltet ist? Folglich führt das Recht zum Schutz der Mit-Staatsangehörigen nicht zur Zuständigkeit kraft des passiven Personalitätsprinzips. Aus ihm folgt vielmehr eine universell greifende Strafbefugnis.
V. Das Schutzprinzip Das Schutzprinzip ist betroffen, wenn es um die Strafbefugnis des VS in Bezug auf Taten von T geht, die diese auf dem Staatsgebiet von TS begangen hat und die sich gegen die Sicherheit, Integrität, Souveränität oder bedeutende staatliche Funktionen des VS richten.35 Es sprengt die Grenzen dieses Aufsatzes, diejenigen Delikte, die diese Rechtsgüter hinreichend berühren, sowie die betroffenen Rechtsgüter aufzuzählen. Ich konzentriere mich für die gegenwärtigen Zwecke daher auf bestimmte Delikte, hinsichtlich derer das Prinzip standardmäßig herangezogen wird, wie zum Beispiel die gegen Regierungsbehörden oder Streitkräfte gerichteten Straftaten oder die Fälschung von Geldzeichen oder staatlicher Urkunden. Dieses Prinzip ist im gegenwärtigen Völkerrecht offenbar relativ gut etabliert.36 Es gibt mehrere Argumente, die die Strafzuständigkeit von VS auf Grundlage des „Schutzes“ vermeintlich rechtfertigen. Die beliebtesten unter ihnen lauten Selbstverteidigung, Abschreckung und Schutz im engeren Sinne. Dieser Aufsatz soll nicht im Detail auf diese Gründe eingehen, sondern ein eigenes Argument für diesen Schluss entwickeln. Dies beruht darauf, dass ich, wenngleich ich die genannten Grundgedanken ablehne, doch im Ergebnis mit ihnen übereinstimme.37 Es wurde bereits erörtert, dass die Rechtfertigung von VS’ Strafbefugnis über T auf dem kollektiven Interesse der Individuen in VS an der Wirksamkeit ihres Strafrechtssystems beruht. Der Grund dafür liegt darin, dass das Strafrechtssystem ihnen ein relatives Gefühl von Würde und Sicherheit vermittelt und daher ein öffentliches Gut darstellt, das zu ihrem Wohl beiträgt. Folglich ist die maßgebliche Frage, ob die Individuen in VS ein kollektives Interesse daran haben, dass ihre Strafgesetze extraterritoriale Wirkung hinsichtlich solcher Delikte entfalten, 35 Vgl. Blakesley, Extraterritorial Jurisdiction, in: Cherif Bassiouni (Hrsg.), International Criminal Law, 1998, S. 54 und Maogoto, in: San Diego International Law Journal 6 (2004 – 2005), S. 243 ff. 36 Vgl. Oppenheim u. a. (Fn. 19), S. 470 und die Draft Convention on Jurisdiction with Respect to Crime, 1935, S. 543 und 551. 37 Zur Abschreckung als Rechtfertigung für das Schutzprinzip: siehe Recent Developments, Protective Principle of Jurisdiction Applied to Uphold Statute Intended to Have Extra-Territorial Effect, in: Columbia Law Review 62, Nr. 2 (1962), S. 375. Selbstverteidigung wurde zum Beispiel vom französischen Kassationsgericht im Fall Bayot (1923) und in seiner Entscheidung im Fall Fornage (1873) genannt. Für eine sorgfältige, wenn auch nicht notwendig kritische Behandlung der anderen Argumente vgl. García-Mora, in: University of Pittsburgh Law Review 19, Nr. 3 (1957 – 1958), S. 567 ff.
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die sich beispielsweise gegen die Sicherheit und politische Unabhängigkeit ihres Staates richten. In meiner Sicht besteht ein solches Interesse, was sich durch folgendes Beispiel belegen lässt: „Der Schauplatz war Washington, […] Dezember 1921. Die Seefahrermächte der Welt waren zusammengekommen, um Grenzen für die Schiffskonstruktion zu vereinbaren und so einen ausufernden Marinewettlauf zu verhindern und Geld zu sparen. Der Streitpunkt war das Verhältnis von Tonnage zu Wasser zwischen den drei größten Flotten, jenen von Großbritannien, den Vereinigten Staaten und Japan. Die Vereinigten Staaten schlugen ein Verhältnis von 10:10:6 vor […] Doch die Japaner waren unzufrieden und nicht von ihrem Bestehen auf einem Verhältnis von 10:10:7 abzubringen […] Berechnungen, die hier lediglich knapp zusammengefasst werden können, besagten, dass die westlichen Flotten bei einem Verhältnis von 10:10:7 in japanischen Gewässern benachteiligt wären, hingegen ausreichend Schiffe zur Dominanz auch fern der Heimathäfen hätten, wenn sie erfolgreich auf einem Verhältnis von 10:10:6 beharrten. […] Zwei Jahre früher, nach monatelanger Arbeit, hatte [Herbert O.] Yardley einen wichtigen diplomatischen Code Japans geknackt; […] Am 2. Dezember, während die Marinekonferenz mit dem Stillstand der Verhandlungen zu kämpfen hatte, wurde ein Telegramm aus Tokio an Yardleys Team übermittelt und fast so schnell entschlüsselt, wie der Sekretär schreiben konnte. Die Kernaussage der Nachricht […] war eine Anweisung an die japanischen Verhandlungsführer, das Verhältnis hartnäckig zu verteidigen und nur insoweit nach und nach im Hinblick auf vier Positionen nachzugeben, als es zur Vermeidung des völligen Zusammenbruchs der Verhandlungen erforderlich sei. Wie Yardley später beschrieb, […] war Position Nummer vier die Zustimmung zum Verhältnis 10:10:6. ,Stud Poker‘ […] schrieb Yardley, ,ist kein besonders schwieriges Spiel, nachdem man die Hole Card des Gegners gesehen hat.‘ So geschah es. Am 12. Dezember gaben die Japaner nach.“38
Es ließe sich vertreten, dass dieser Akt der Spionage für die Interessen Japans (und die der Japaner) genauso schädlich war wie Spionage auf japanischem Staatsgebiet. Es macht keinen großen Unterschied, wo die geheime Nachricht abgefangen wurde. Doch wenn Japan die Strafbefugnis über diejenigen hat, die auf seinem Staatsgebiet Akte der Spionage begehen, muss daraus folgen, dass es diese Strafbefugnis auch extraterritorial haben muss. Anders als Fälle von Diebstahl oder Mord zum Nachteil der O berührt Spionage gegen VS, selbst wenn sie in TS betrieben wird, die Interessen der Individuen in VS. Damit sie den ohnehin nur geringen Schutz genießen, den die Wirksamkeit der Norm gewährt, muss die Norm auf T ungeachtet des Ortes, an dem sie den Spionageakt vornimmt, anwendbar sein. Ferner führt diese Argumentation auch nicht zu einer übermäßigen Ausdehnung der extraterritorialen Zuständigkeit. Die Angehörigen von VS haben ein Interesse daran, dass VS Spionage gegen VS verfolgt und bestraft, jedoch nicht daran, dass VS auch Spionageakte gegen VS2 verfolgt. In unserem Beispiel 38
Entnommen aus Powers, New York Review of Books 52 (2005).
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wäre China daran gehindert, T zu verfolgen. Zuletzt steht VS diese Befugnis unabhängig davon zu, ob TS die T strafrechtlich verfolgt oder nicht. Jedoch sollte man sich auch darüber im Klaren sein, dass diese Kompetenzgrundlage nicht frei von Kritik geblieben ist. Die dieser Kritik zugrunde liegenden Erwägungen gingen aus von den Rechten der betroffenen Täter. Erstens wurde vertreten, dass solche Verfahren notwendigerweise voreingenommen oder politisch geprägt sein würden.39 Dieser Einwand betrifft jedoch nur einige wenige Delikte, die üblicherweise unter das Schutzprinzip fallen, aber nicht notwendigerweise viele andere wie z. B. die Fälschung von Geldzeichen oder öffentlichen Urkunden oder Meineid zum Nachteil staatlicher Behörden im Ausland. Vor allem aber haben diese Schwierigkeiten selbst mit Blick auf die Delikte, für die der Einwand möglicherweise eine Berechtigung hat, wie z. B. Verrat, Spionage oder allgemein Straftaten mit politischem Bezug, nichts mit dem extraterritorialen Aspekt der Strafverfolgung zu tun. Sie betreffen vielmehr die Art der Verfahren. Die Dreyfus-Affäre im Frankreich des späten 19. Jahrhunderts und, in jüngerer Zeit, die Prozesse gegen Moussaoui in den USA und gegen Mitglieder der ETA in Spanien illustrieren dies treffend.40 Anders ausgedrückt untergräbt diese Sorge weder das Interesse, das die Gewährung der Strafbefugnis über T an einen bestimmten Staat rechtfertigt, noch stellt sie ein gegenläufiges Interesse hinreichenden Gewichts dar, um T Immunität gegenüber VS’ Strafbefugnis zu verleihen. Vielmehr betrifft sie die Voraussetzungen, die jede beliebige Körperschaft (sei sie territorial oder extraterritorial) erfüllen muss, um selbst die normative Strafbefugnis über T beanspruchen zu können. Der moralische Gehalt der Autorität von VS zur Bestrafung der T wird durch mangelnde Unparteilichkeit berührt, nicht aber dadurch, dass VS einen hinreichend gewichtigen Grund zur Bestrafung hat.41 Zweitens ist vertreten worden, dass diese Art der Rechtfertigung unzulässige Ausdehnungen befürchten lässt.42 Historisch gesehen trifft das zu. Berühmt ist Jessups Zitat eines Falles, in dem ein deutsches Gericht während der Nazi-Zeit die Strafverfolgung eines jüdischen Ausländers in Deutschland bestätigte, der außerehelichen Verkehr mit einem deutschen Mädchen in der Tschechoslowakei gehabt haben soll. Zur Begründung führte das Gericht an, dass die Tat die „Reinheit 39
García-Mora (Fn. 37). den ETA-Verfahren und seinen Beschwerden siehe z. B. Araiz Flamariqe u. a., vom Spanischen Verfassungsgerichtshof (in BOE Nr. 197, 18/08/1999, S. 26 – 96). 41 Die Frage der Autorität kann hier nicht untersucht werden. Ich merke aber an, dass die meisten der führenden Darstellungen in der Literatur keinen Bezug zu territorialen Erwägungen haben. Vgl. Shapiro, in: Shapiro/Coleman (Hrsg.), The Oxford Handbook of Jurisprudence and Philosophy of Law, 2002. 42 García-Mora (Fn. 37), S. 583. 40 Zu
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des deutschen Blutes“ berühre.43 Salman Rushdies Todes-Fatwa stellt ein weiteres eindrückliches Beispiel dieser Gefahr dar. Selbst wenn sie nicht so weit gehen, sind viele Bestimmungen, die sich auf das Schutzprinzip berufen, unannehmbar vage gehalten. Beispielsweise sah das ungarische Strafgesetzbuch zeitweise eine extraterritoriale Zuständigkeit hinsichtlich jedweden Aktes vor, der sich gegen „ein grundlegendes Interesse betreffend die demokratische, politische oder wirtschaftliche Ordnung der ungarischen Volksrepublik“ richtete.44 Wie oft gesagt wird, ist jedoch der Umstand, dass VS seine Strafbefugnis missbrauchen kann, kaum ein durchschlagendes Argument gegen die Anerkennung dieses Rechts als solches. Diese Beispiele zeigen Fälle offensichtlichen Missbrauchs des Schutzprinzips auf, doch sie sagen sehr wenig über dessen Anwendung auf Delikte, die tatsächlich die Sicherheit oder politische Unabhängigkeit von VS betreffen. Schließlich sollte gefragt werden, ob die extraterritoriale Wirksamkeit von VS’ Gesetzen den Angehörigen von VS auch in diesen Fällen ein Gefühl von Würde und Sicherheit vermitteln kann. Meiner Ansicht nach kommt das durch die Strafe geschaffene öffentliche Gut den Individuen zu Gute, die sich in dem betreffenden Staat befinden. Wie oben schon gesagt, genießt eine deutsche Staatsbürgerin während eines Auslandsaufenthaltes nicht das durch deutsche Strafgesetze gewährte Gefühl von Würde und Sicherheit, sondern durch die Wirksamkeit der Strafgesetze des Staates, in dem sie sich gerade aufhält.45 Würde das die Argumentation dieses Abschnitts untergraben? Meiner Ansicht nach wäre dies nicht der Fall. In diesem Beispiel betrachten wir nicht das Gefühl von Würde und Sicherheit, das die deutschen Strafgesetze beispielsweise der deutschen Kanzlerin im Ausland gewähren. Bei einem Besuch in Patagonien hätte Angela Merkel selbst ein Interesse an der Wirksamkeit der Strafgesetze Argentiniens. Dies wird zu ihrem Gefühl von Würde und Sicherheit beitragen. Das Schutzprinzip wird vielmehr durch das Gefühl von Würde und Sicherheit erklärt, das ein strafrechtliches Verbot den deutschen Menschen in Deutschland hinsichtlich ihrer Kanzlerin während deren Auslandsaufenthaltes gewährt. Die Deutschen selbst haben ein Interesse daran, die Bestrafung eines jeden, der eine gegen sie gerichtete Tat begeht, zu ihrer Angelegenheit zu erklären, unabhängig vom Tatort und der konkurrierenden Strafbefugnis des territorialen Staates. Zu ihrem Gefühl von Würde und Sicherheit hinsichtlich ihrer Kanzlerin kann, wie ich behaupten möchte, ein deutsches Strafgesetz ohne weiteres beitragen. Zur Klarstellung sei darauf hingewiesen, dass der Grund für das Interesse der Deutschen an der Bestrafung eines solchen Aktes durch Deutschland an die politische Stellung Merkels geknüpft ist, nicht an ihre Staatsangehörigkeit. Sie hätten das gleiche Interesse, wenn ihre 43
Jessup, Transnational Law, 1956, S. 50. Akehurst, British Yearbook of International Law, 1972 – 1973, S. 158. 45 Siehe den obigen Abschnitt zum passiven Personalitätsprinzip. 44
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Kanzlerin Österreicherin oder Peruanerin wäre. Es ist die Position der O in VS’ Regierung, welche die Strafbefugnis des VS über T erklärt.
VI. Andere Ansätze Bevor ich zum Abschluss komme, muss untersucht werden, ob andere Rechtfertigungsansätze insgesamt besser geeignet sind, die gegenwärtige Regelung der extraterritorialen Strafbefugnis überzeugend zu erklären. Sollte dies der Fall sein, würden solche Argumentationen wohl aufgrund ihrer Erklärungsleistung gegenüber der hier vertretenen zu bevorzugen sein. Jedoch bestehen hinsichtlich der meisten in der Literatur vertretenen Argumentationen zwei Probleme. Erstens fehlt den Erwägungen, auf denen sie beruhen, jegliche klare Verknüpfung mit der territorialen Reichweite der Strafbefugnis. Zweitens sind sie gewöhnlich nicht in der Lage, die spezifischen Erwägungen (Nationalität oder Schutz), auf denen diese extraterritorialen Zuständigkeiten beruhen, aufzugreifen. Dies trifft hinsichtlich der meisten konsequentialistischen und deontologischen Erwägungen wie Abschreckung, Ausschaltung, moralische Reformierung, Vergeltung etc. zu. Ungeachtet ihres Zusammenspiels innerhalb der jeweiligen Theorie ist unklar, wie sie mit unseren gegenwärtigen Praktiken besser in Einklang gebracht werden können. Vielmehr tendieren die meisten Rechtfertigungen rechtlicher Strafe dazu, breitere Zuständigkeitsregeln als diejenigen des heutigen Völkerrechts zu befürworten.46 Sie laufen daher Gefahr, in eine universelle Zuständigkeit auszuufern. Wenngleich dies nicht zu ihrer Widerlegung führt, so wäre es doch kaum eine von den Befürwortern gewollte Konsequenz. Ferner werden diese Theorien zu restriktiv, wenn ihnen bestimmte Erwägungen hinzugefügt werden, um die extraterritoriale Reichweite der Strafbefugnis von S zu begrenzen. In jedem Fall stehen sie weniger im Einklang mit einigen Kernbestandteilen der Verteilung und Reichweite der staatlichen Strafbefugnis, als sie das Völkerrecht gegenwärtig vorsieht. Zunächst muss ich jedoch zeigen, dass die hier befürwortete Argumentation zu keiner dieser unglücklichen Folgen führt. Ich habe argumentiert, dass die Strafbefugnis des S gegenüber T durch das kollektive Interesse gerechtfertigt wird, das Individuen in S an der Wirksamkeit eines Rechtssystems haben, welches z. B. Mord, Vergewaltigung etc. verbietet. Die Frage ist demnach erneut, ob Individuen in S ein kollektives Interesse daran haben, dass ihre nationalen Strafgesetze universell anwendbar sind. Nach den soweit dargestellten Argumenten sollte klar sein, dass dies nicht der Fall ist. Bei der Diskussion des aktiven und des passiven Personalitätsprinzips habe ich behauptet, dass es in keiner Weise 46 Rechtfertigungen für Strafe sind notorisch komplex und vielfältig. Ich vereinfache die Literatur hier dergestalt, dass zumindest einige der relevantesten Argumente berücksichtigt werden.
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denkbar erscheint, dass die Wirksamkeit der Strafgesetze Finnlands die Bestrafung der T für einen in Nepal begangenen Raub verlangt. Zum einen mutet es eigenartig an, von einer Verletzung der finnischen Gesetze durch T zu sprechen. Bedeutender ist aber, dass das Gefühl von Würde und Sicherheit, das die Wirksamkeit der finnischen Strafgesetze Individuen in Finnland gewährt, nicht von einem Raub in Nepal berührt wird. Individuen in Finnland mögen Mitgefühl mit den Opfern anderswo begangener Straftaten empfinden, doch die Verbindlichkeit des Strafrechtssystems, unter dem sie leben, wird durch diese Straftat nicht in Frage gestellt. Deshalb würde Finnland hinsichtlich eines nationalen Delikts schlicht die universelle Strafbefugnis über T fehlen. Wie würde eine abschreckungsbasierte Theorie diese Situation analysieren? Die zentrale Behauptung, auf der die Abschreckung gründet, ist die Rechtfertigung der Strafe als Mittel zum Schutz von Individualrechten und anderen wertvollen öffentlichen Gütern, indem potenzielle Straftäter abgeschreckt werden. Es ist der gewährte Schutz, welcher das der T zugefügte Leid rechtfertigt. Ungeachtet der Frage, ob wir einige ihrer weniger verlockenden Folgen durch die Einführung deontologischer Erwägungen beschränken können, scheint Abschreckung unausweichlich mit dem folgenden Gedankengang verknüpft zu sein: Je „mehr“ Strafe verhängt würde, desto größer wäre die Abschreckungswirkung des Strafrechts und umso weniger Verletzungen der geschützten Rechte und Güter fänden folglich statt. Insbesondere wurde behauptet, die Abschreckungswirkung hinge von der Gewissheit, Schärfe und Geschwindigkeit der Bestrafung ab.47 Dementsprechend würde die Erlaubnis jedes Staates zur Ausübung seiner Strafbefugnis hinsichtlich jedweder Straftat zur Gewissheit der Bestrafung beitragen. Wichtiger wäre vielleicht der Beitrag zur wahrgenommenen Gewissheit. Es geht über den Rahmen dieser Arbeit hinaus, auch nur ansatzweise die zusätzliche Abschreckungswirkung zu untersuchen. Ich vermute, sie hinge von der Art der Straftat und Art der Straftäter ab. Ladendiebstahl und Geldwäsche mögen durchaus unterschiedlich zu bewerten sein.48 Sofern wir irgendeine zusätzliche Abschreckung annehmen, würde jede abschreckungsbasierte Rechtfertigung die Gewährung der Strafbefugnis über T an jeden Staat befürworten. Natürlich mag der Konsequentialist entgegnen, dies sei voreilig. Abschreckung sei nur eine Erwägung, die in die breitere Berechnung von Nutzen einzustellen sei, die wir also mit gegenläufigen Interessen abwägen müssten, wie beispielsweise den zwischenstaatlichen Reibungen, die eine universelle Zuständigkeit für nationale Delikte nach sich ziehen würde. Daher könnte ein konsistent argumen47
Bentham, The Rationale of Punishment, 1830, Kapitel VI. In diesem Aufsatz soll außer Acht bleiben, wie sich dies auf Handlungen auswirken würde, die in S, aber nicht in S2 strafbar sind, wie z. B. Abtreibung. Ich vermute, dass Befürworter der Abschreckung gezwungen wären, zugunsten einer Allzuständigkeit von S über diese Art von Handlungen zu argumentieren. 48
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tierender Konsequentialist abstreiten, dass aus dem Gedanken der Abschreckung die Gewährung einer universellen Strafbefugnis der Staaten über T folgt. Diese Neuformulierung ist sicherlich glaubhafter, doch ich halte sie aus zwei Gründen nicht für überzeugend. Erstens könnte dieser Kunstgriff, wenngleich er erfolgreich die extraterritoriale Reichweite des Rechts zur Bestrafung beschränkt, sich als zu restriktiv erweisen. Wenn beispielsweise die Vermeidung internationaler Reibungen sich gegenüber der Abschreckung in der allgemeinen Berechnung von Nutzen durchsetzt, folgt daraus, dass das Vereinigte Königreich nicht berechtigt wäre, russische Agenten für den angeblichen Mord an Litwinenko zu bestrafen, der im Zentrum Londons begangen wurde. Dies allein wirft einige Zweifel am Erfolg dieser Neuformulierung auf und die Zweifel wachsen, wenn wir ein weiteres wichtiges Merkmal des Rechts zur Bestrafung beachten. Mein zweiter Einwand gegen diese differenziertere Version der Abschreckung hängt mit dem zusammen, was ich letztlich für einen Vorteil der Sprache des Rechts gegenüber dem ungezügelten Konsequentialismus halte. Wenn das Gleichgewicht zwischen Vermeidung und Abschreckung zugunsten der Vermeidung ausfällt, wäre der Konsequentialist gezwungen, S die Strafbefugnis über T abzusprechen. Demgegenüber bedeutet die Aussage, dass S die Strafbefugnis über T inne hat, dass es an S, und nur an S liegt, über die Verfolgung der T zu entscheiden, selbst um den Preis von Reibungen mit S2. Folglich kann der von mir in diesem Aufsatz befürwortete Ansatz ein wichtiges und intuitiv einleuchtendes Merkmal der gegenwärtigen Strafpraxis erklären: Nur dann, wenn die Individuen in S ein hinreichend gewichtiges Interesse an der Bestrafung der T durch S haben, wird S ein Recht zur Entscheidung darüber gewährt, ob S einen bestimmten Täter bestraft oder nicht. Das gilt auch dann, wenn daraus ein suboptimales Maß an Nutzen folgen würde. Interessanterweise stehen retributivistische Rechtfertigungen für rechtliche Strafe einer ähnlichen Schwierigkeit gegenüber. Der zentrale Grundsatz retributivistischer Rechtfertigungen für rechtliche Strafe ist, dass „S in der Bestrafung der T gerechtfertigt ist, weil T Strafe verdient“. Hier ist zu differenzieren: Manche Retributivisten vertreten, diese Behauptung erkläre lediglich die Zulässigkeit der Bestrafung der T.49 Nach dem von mir vertretenen Ansatz erklärt dieses Argument, warum T keinen Anspruch darauf hat, nicht bestraft zu werden. Es erklärt nicht, warum S die Befugnis dazu hat. Diese Version von Retributivismus ist nicht der universellen Zuständigkeit verpflichtet, aber sie liefert auch keine vollständige Rechtfertigung für die Institution rechtlicher Bestrafung. Insoweit hat sie wenig zur vorliegenden Frage beizutragen. Andere Vertreter des Retributivismus argumentieren, dass das Verdienen einer Strafe auch eine hinreichende Bedingung zur Verleihung der Strafbefugnis 49
McDermott, Law and Philosophy 20 (2001), S. 403 ff.
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an S über T sei. Ich widerspreche dieser Behauptung. Ungeachtet der genauen Erklärung der Aussagen „S hat die Strafbefugnis über T, weil T es verdient, bestraft zu werden“ oder „Die Schuldigen zu bestrafen ist intrinsisch gut“ scheinen sie die Schlussfolgerung zu erlauben, dass VS ungeachtet des Tatorts der Straftat die Strafbefugnis über T haben sollte. Dies gilt zumindest so lange, wie der Retributivismus nicht in der Lage ist zu erklären, dass T es verdient, durch X bestraft zu werden. Doch Retributivisten wählen typischerweise nicht diesen Ansatz. Man betrachte beispielsweise Honderichs Behauptung, dass die Wahrheit des Retributivismus darin liege, dass Strafe durch Abhilfe von Kümmernissen gerechtfertigt sei.50 Man kann vertreten, dass es für den Geschädigten und all jene, die mit ihm sympathisieren, einen geringen Unterschied macht, welcher Staat tatsächlich T bestraft, solange es nur zu einer effektiven Bestrafung kommt. Daraus folgt, dass die meisten Retributivisten die strafrechtliche Zuständigkeit von S verteidigen müssen, ungeachtet des Ortes der Tat.51 Ferner scheinen die Staatsangehörigkeit sowohl des Täters als auch des Opfers völlig unbeachtlich für die Begründung der Strafbefugnis des S über T zu sein. Im verbleibenden Teil dieses Abschnitts konzentriere ich mich auf Duffs einflussreiches kommunitaristisches Argument für rechtliche Strafe.52 Duff sieht Strafe als säkulare Buße, deren Hauptzweck darin liegt, moralische Akteure zu tadeln. Er setzt sich deshalb verstärkt damit auseinander, wie das moralische Gewissen des Straftäters zu erreichen ist. Vorliegend soll nicht die Schlüssigkeit dieser Argumentation untersucht werden.53 Mein Hauptinteresse liegt darin, Duffs Standpunkt im Lichte der Extraterritorialität zu bewerten. Damit Strafe das moralische Gewissen der T erreichen kann, bedarf S der moralischen Stellung, sie für ihr Verhalten zu tadeln. Um diese moralische Stellung zu erlangen, muss S zwei Bedingungen erfüllen. Erstens muss eine angemessene Beziehung zu T oder ihrem in Frage stehenden Verhalten gegeben sein. Dies impliziert eine politische Gemeinschaft, in deren Namen die Strafe erfolgt, also eine sprachliche Gemeinschaft, welche dieselbe normative Sprache und einen Verbund materieller Werte teilt, die wiederum genügen, um normative Befehle an die Bürger verständlich zu
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Honderich, Punishment: The Supposed Justifications, 1984, S. 233 f. Im Ergebnis wird Nozicks einflussreiches Argument, dass Strafe den Täter mit den „richtigen Werten“ verbindet, dieser Beschuldigung ausgesetzt sein. Siehe Nozick, Philosophical Explanations, 1981. Gleiches gilt für Moores Behauptung, dass das Strafrecht „vergeltende Gerechtigkeit erreicht“, indem es „alle und ausschließlich jene bestraft, die der Begehung einer moralisch falschen Handlung moralisch schuldig sind“, s. Moore, Plac ing Blame: A General Theory of Criminal Law, 1997, S. 33 ff. 52 Siehe jeweils Duff, Punishment, Communication, and Community, 2001. 53 Vgl. hierzu den interessanten Austausch zwischen Duff (Fn. 53) und von Hirsch, Censure and Sanctions, 1993. 51
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machen. Zweitens darf S diese Stellung nicht infolge einer früheren (unrechtmäßigen) Behandlung der T verloren haben. Duffs Argument schneidet besser ab als die meisten seiner Konkurrenten in diesem Kontext. Das liegt meines Erachtens an seiner Einsicht, dass die Frage der Rechtfertigung von Strafe nicht nur die Zulässigkeit der Bestrafung der T betrifft, sondern auch und entscheidend den Umstand, ob eine bestimmte Körperschaft das Recht dazu hat. Wiederum ist für die Antwort auf diese Frage maßgeblich, was für Duff eine politische Gemeinschaft im relevanten Sinne darstellt. Sind die Voraussetzungen zu gering (etwa gegenseitige Anerkennung und Schutz grundlegender Menschenrechte), müsste er zugestehen, dass fast jede Körperschaft die moralische Stellung zum Tadel der T hätte, und im Ergebnis eine universelle Strafzuständigkeit für jede Straftat befürworten. Doch das ist wohl nicht, was er im Sinn hat. Duff scheint von einer dichteren Konzeption einer politischen Gemeinschaft auszugehen. Dementsprechend wäre seine Argumentation vor dieser wenig ansprechenden Implikation sicher. Jedoch sieht sich sein Ansatz anderen Schwierigkeiten ausgesetzt. Duff hat kürzlich genauer ausgeführt, wann eine bestimmte Körperschaft seiner Ansicht nach die angemessene Stellung hat, um T für ihre Straftat zur Verantwortung zu ziehen.54 Er stützt sich hauptsächlich auf einen theoretischen Punkt zur Konzeption von Verantwortlichkeit, der mit seiner normativen Rechtfertigung rechtlicher Strafe im Einklang steht, ohne sie zwingend zu erfordern. Dies ist der entscheidende Aspekt seiner Darstellung, auf der seine Vorstellung einer angemessenen moralischen Stellung zu beruhen scheint. Er argumentiert, dass das Konzept von Verantwortlichkeit eine relationale Dimension hat. T ist verantwortlich für X gegenüber Y, oder besser, T ist verantwortlich als W für X gegenüber Y. Zur Illustration: Für T als Universitätsdozentin gibt es nur bestimmte Körperschaften oder Individuen, die T zur Verantwortung ziehen können, wenn sie beispielsweise eine schlecht vorbereitete Vorlesung hält. Sie wird nicht „einem vorübergehenden Fremden oder [ihrer] Tante […] oder dem Papst“ gegenüber verantwortlich sein.55 Duff nutzt dieses Modell, um ausdrücklich gegen eine territoriale Konzeption von strafrechtlicher Zuständigkeit zu argumentieren. „,Handeln in einem bestimmten geografischen Gebiet X‘ hat an sich nicht die normative Bedeutung wie die Antwort auf die Frage, ,als was‘ es erfolgt.“56 Vielmehr sollten Individuen „als Staatsbürger“ einer politischen Gemeinschaft verantwortlich sein. Seine Konzeption einer politischen Gemeinschaft ist hier für uns von keinem speziellen Interesse. Was zählt, ist die Relevanz, die die Zugehörigkeit zu dieser politischen 54 Duff, Criminal Responsibility, Municipal and International (unveröffentlichtes Manuskript 2006, zitiert mit Erlaubnis des Autors). Vgl. auch ders., Answering for Crime. Responsibility and Liability in the Criminal Law, 2007, Kapitel 1 und 2. 55 Duff (Fn. 54, 2006), S. 5. 56 Duff (Fn. 54, 2007), S. 44.
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Gemeinschaft dafür hat, dass T gegenüber einem bestimmten Staat verantwortlich für eine Straftat ist. Auf dieser Grundlage vertritt Duff die folgende These: „[D]ie Übel, die zutreffend eine politische Gemeinschaft als politische Gemeinschaft betreffen, sind jene, die innerhalb ihrer von ihren eigenen Mitgliedern begangen werden.“57 Wie Duff einräumt, muss diese Konzeption neben Staatsbürgern auch Besucher und vorübergehende Einwohner erfassen.58 Doch dies schafft Probleme. Duffs Argument dafür, dass T gegenüber S verantwortlich ist, besteht darin, dass T der politischen Gemeinschaft zugehört, dass sie eine Staatsbürgerin von S ist. Doch Besucher und vorübergehende Einwohner sind nicht Staatsbürger. Hinsichtlich jener behauptet er, dass ihnen als Gäste, „viele der Rechte und Schutzwirkungen der Staatsbürgerschaft gewährt werden sollten, ebenso sollte auch von ihnen erwartet werden, einige mit ihr einhergehende Verantwortungen und Pflichten zu akzeptieren“.59 Duff erläutert das nicht weiter. Er behauptet lediglich, dass „dies nicht auf ein geografisches Prinzip zurückfällt, welches Zuständigkeit im territorialen Ort der Straftat begründet: Was den normativen Sinn der Zuständigkeit ausmacht, ist immer noch die Identität des Rechts als das Recht eines bestimmten Gemeinwesens“.60 In dieser Fassung beruht sein Argument für die Ausweitung auf den Vorteilen, die Besuchern in Form von Rechten und Schutz gewährt werden. Doch diese Behauptung untergräbt seine allgemeine Erklärung. Wenn alles, was wir für eine Verantwortlichkeit der T gegenüber S brauchen, die Gewährung bestimmter Rechte und des Schutzes seitens S ist, leistet der Gedanke von Staatsbürgerschaft, d. h. des Umstandes, dass T zu dieser politischen Gemeinschaft gehört, keine Rechtfertigungsarbeit mehr. Wenn Duff dagegen daran festhalten möchte, dass strafrechtliche Verantwortlichkeit ein relationales Konzept ist und T gegenüber S verantwortlich ist, weil T eine Staatsbürgerin von S ist, scheint er gezwungen zu sein, die Verantwortlichkeit von Gästen und vorübergehenden Einwohnern gegenüber S zu verneinen. Das dürfte kaum ein Ergebnis sein, dem er sich anschließen wollte. Ferner vermag seine Konzeption einige andere gewöhnliche Formen der Strafbefugnis von S nicht zu erklären. Einerseits scheut sich Duff, das aktive und das passive Personalitätsprinzip anzunehmen.61 Damit einher geht der potenzielle Erklärungsvorteil des hier vertretenen Ansatzes. Andererseits würde sein Standpunkt daran scheitern, andere problematischere Aspekte von Territorialität zu erklären. Beispielsweise begegnet sein Ansatz Schwierigkeiten hinsichtlich 57
Duff (Fn. 54, 2006), S. 13. Duff (Fn. 54, 2007), S. 54 f. 59 Ebd., S. 54. 60 Ebd., S. 55. 61 Ebd., S. 54. 58
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der Erklärung, warum Schottland die Strafbefugnis über irgendjemanden (zumindest, wenn es nicht um schottische Staatsbürger geht) für den Lockerbie-Anschlag hatte oder warum beispielsweise Uruguay die Strafbefugnis über T, eine italienische Staatsangehörige, für die Fälschung uruguayischer Geldzeichen in Frankreich haben würde. Schließlich fehlt T die relevante Beziehung zu diesen Staaten und man kann kaum vertreten, dass T irgendeinen besonderen Vorteil oder Schutz von Schottland oder Uruguay gewährt bekommen hat. Und doch sind diese Zuständigkeiten nicht nur rechtlich gesehen fest etabliert; sie scheinen auch auf weit verbreiteten Intuitionen zur angemessenen Reichweite der Strafbefugnis von S zu beruhen.
VII. Fazit Die Erkenntnisse dieses Aufsatzes sind relativ eindeutig. Ich habe eine Theorie der Strafe formuliert, welche die Strafbefugnis eines Staates hinsichtlich Taten, die auf seinem Territorium begangen oder gegen seine Souveränität, Sicherheit oder wichtige Regierungsfunktionen gerichtet sind, vollständig erfasst. Ich sage aber nicht, dass der geografische Ort per se moralische Relevanz für die Zuordnung der Strafbefugnis an einen bestimmten Staat über einen bestimmten Täter hat. Vielmehr behaupte ich, dass wir zur Bewertung der Reichweite der extraterritorialen Strafbefugnis des S über T die Gründe betrachten müssen, welche gerade S diese Strafbefugnis zusprechen. Ich habe dargelegt, dass dies von dem Interesse abhängt, welches die Strafbefugnis über T erklärt, wobei zu berücksichtigen ist, wessen Interesse es ist. Anders ausgedrückt greift das hier vertretene normative Argument zur Verteidigung dieser Strafbefugnis den Ort der Tat auf. Territorialität ist demnach lediglich das Kriterium, das uns die Identifikation desjenigen erlaubt, dessen Interesse die Strafbefugnis eines bestimmten Staates über einen bestimmten Straftäter erklärt. Dagegen habe ich die Vorschläge abgelehnt, denen zufolge Staaten eine extraterritoriale Strafbefugnis auf Grundlage der Staatsangehörigkeit von Täter oder Opfer erlangen. Die Argumente, mit denen diese gängigen Zuständigkeitsregeln verteidigt werden, werfen entweder nur die Frage auf, die sie eigentlich beantworten sollen, oder verpflichten zu einer weit umfassenderen Strafbefugnis als vom gegenwärtigen Völkerrecht vorgesehen. Der letzte Teil dieses Aufsatzes untersuchte, ob konkurrierende Rechtfertigungen für rechtliche Strafe vielversprechender hinsichtlich der Fähigkeit sind, die völkerrechtlichen Regelungen der extraterritorialen Bestrafung zu erklären. Ich habe behauptet, dass im Vergleich zu der hier befürworteten Argumentation selbst fortentwickelte konsequentialistische und deontologische Theorien letztlich weniger erfolgreich darin sind, die meisten unserer Kernintuitionen zur angemessenen Reichweite der staatlichen Strafbefugnis zu erfassen.
Neubetrachtung des „glücklichen Zufalls“* Von Marcelo Ferrante Marcelo Ferrante Neubetrachtung des „glücklichen Zufalls“ Marcelo Ferrante: Neubetrachtung des „glücklichen Zufalls“
I. Einleitung Sowohl moralisch als auch strafrechtlich verurteilen wir den erfolgreichen Täter schärfer als denjenigen, der seine Tat nach gleichem Muster nur versuchte, aber scheiterte. Die überkommene Sichtweise in der Rechtstheorie und Moralphilosophie ist jedoch, dass wir mit diesem Urteil irren: Der gescheiterte Täter sei vielmehr genauso tadelnswert wie der, dessen Handlung „zufällig“ zum angestrebten Erfolg geführt hat. Das „Glück, wie Handlungen ausgehen“ (luck in the way actions turn out1), auch der „glückliche Zufall“ genannt, sei ohne Bedeutung für den verdienten Tadel. Soweit sich unsere Strafpraxis auf moralische Verantwortung bezieht, sollte sie demnach grundsätzlich nicht zwischen erfolgreichen und nicht erfolgreichen Tätern unterscheiden. Zur Begründung dieser These werden im Wesentlichen zwei unterschiedliche Argumentationslinien vorgetragen. Die erste impliziert, dass es einer moralischen Kategorie des „glücklichen Zufalls“ an Legitimation fehle – oder genauer, dass wir einer Person Unrecht tun, wenn wir unserem Tadel Umstände zugrunde legen, die sie nicht beeinflussen konnte. Die zweite Argumentationslinie will aufzeigen, dass das verwirklichte Unrecht einer erfolgreichen Tat nicht größer sein kann als das der versuchten Tat. Der eigentliche Unrechtsvorwurf bezöge sich nämlich auf die Tathandlung selbst. Es sei also eher das Riskieren oder Riskieren-Wollen denn das eigentliche Schädigen, wovon das richtige Unrechtsurteil abhänge. Sowohl der erste Ansatz, der die moralische Legitimität eines „glücklichen Zufalls“ in Frage stellt, als auch der zweite Ansatz, der behauptet, dass das Unrecht einer versuchten Tat das gleiche Unrecht darstelle wie das einer erfolgreichen Tat (Ansatz des gleichen Unrechts), konnten bisher jedoch nicht durchgreifend überzeugen. * Vom Autor gekürzte Fassung des Originalartikels in: Ferrante, Legal Theory 15 (2009), S. 267 ff. Übersetzung ins Deutsche durch Carl Robert Whittaker. 1 Für die Originalbezeichung „Moral Luck“ siehe Nagel, Moral Luck, abgedruckt in ders., Mortal Questions, 1979.
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Die Verneinung eines „moralischen Zufalls“ (oder auch des Zufalls als moralischer Kategorie überhaupt) impliziert nämlich eine These, die wir normalerweise nicht ernsthaft vertreten würden. Wenn nämlich der Grund dafür, dass wir den erfolgreichen und den nicht erfolgreichen Täter in gleicher Weise tadeln sollten, darin liegt, dass die Ursachen für den Taterfolg vom Täter selbst letztlich nicht beeinflusst werden können, dann wären wir in der letzten Konsequenz dazu gezwungen, auch Personen zu tadeln, die die Schwelle zum Versuch nicht überschritten haben, oder auch Personen, die beispielsweise nur darüber nachgedacht haben, jemanden zu töten. Tatsächlich könnten wir den beiden Tätern (dem erfolgreichen und dem nicht erfolgreichen) mit dieser Argumentation nicht mehr oder weniger vorwerfen als anderen Individuen – wahrscheinlich allen anderen –, die versucht hätten, jemanden zu töten, wenn nicht ein unkontrollierbarer Umstand der Welt vorgelegen hätte (etwa das Fehlen einer günstigen Gelegenheit, das Vorliegen einer in sich widersprüchlichen Motivlage oder auch das Fehlen der zur konkreten Tötung notwendigen Charakterzüge). Wenn die Verneinung eines „moralischen Zufalls“ das wäre, was der überkommenen Ansicht zugrunde läge, dann hätte sie mit anderen Worten zur Folge, dass weit mehr Menschen einem Tadel unterworfen werden müssten, als die Vertreter der überkommenen Ansicht – und das vollkommen zu Recht – selbst für vertretbar erachten würden.2 Man könnte nun versuchen, diesen wenig überzeugenden Implikationen dadurch auszuweichen, dass man die überkommene Sichtweise mit der oben skizzierten zweiten Argumentationslinie eher auf das durch die Tat verwirklichte Unrecht gründet. McCarthy hat demgemäß argumentiert, dass es für Akteure mit unseren charakteristischen epistemischen Limitierungen eher die Sorge um einen Schaden sei, die den Unrechtskern einer Theorie des Unrechts ausmachen sollte. Bei der Beurteilung von Handlungen sollten deren vorhersehbare Folgen (oder das durch sie gesetzte Risiko) eher im Vordergrund stehen als die tatsächlich eingetretenen Folgen.3 Es fällt nicht leicht, der damit verbundenen These zu widersprechen, dass ein Umstand nur dann unrechtsbegründend sein könne, wenn er für uns epistemisch verfügbar ist.4 Andererseits folgt aus dieser Prämisse nicht zwingend, dass das unrechtsauslösende Moment gerade die Risikosetzung im Gegensatz zur tatsächlichen Verursachung einer vorhersehbaren Folge oder einer Kombination aus beidem sein muss. Wenn ich vorhabe, meinen Kollegen zu töten, dazu eine Granate in sein Büro werfe und ihn dadurch töte, dann ist überhaupt nicht klar, warum wir 2 Vgl. Moore, Placing Blame, 1997, S. 191 ff.; Zimmerman, Journal of Philosophy 99 (2002), S. 553. 3 McCarthy, Philosophical Studies 90 (1998), S. 57. 4 Ebd., S. 74.
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unsere Intuition aufgeben sollten, dass das Unrecht (teilweise) gerade dadurch begründet wird, dass ich meinen Kollegen, wie beabsichtigt, tatsächlich getötet und nicht nur ein Todesrisiko gesetzt habe.5 In diesem Aufsatz werde ich eine Verteidigung der überkommenen Sichtweise bieten, die weder dem Einwand einer Verneinung des „moralischen Zufalls“ noch dem des „gleichen Unrechts“ zum Opfer fällt. Ich werde zeigen, dass es einen Raum für die überkommene Sichtweise gibt, selbst wenn (i) Menschen für das, was sie wirklich getan haben, getadelt werden sollen (was wiederum impliziert, dass sie Subjekt eines moralischen Zufalls sein können); (ii) die Vorwerfbarkeit und der Grad an Verantwortung teilweise davon abhängen, welche Art von Unrecht dem Handelnden vorgeworfen wird, und schließlich (iii), dass Unrecht überhaupt eher von externen als ausschließlich internen Faktoren wie Überzeugungen und/oder Abstufungen der Finalität (wie bspw. einer Unterstellung, dass ein erfolgreicher Täter einen höheren Grad an Ernsthaftigkeit an den Tag gelegt habe als eine gescheiterte Vergleichsperson) abhängt.
II. Erfolg-Misserfolg-Paare Argumentationen für die überkommene Ansicht beinhalten herkömmlicherweise eine charakteristische Fallpaarung, und auch meine Argumentation wird hiervon keine Ausnahme darstellen. Ich nenne diese Paare „Erfolg-Misserfolg-Paare“. Diese Erfolg-Misserfolg-Paare sollen verdeutlichen, dass wir, wenn wir erfolgreiche und gescheiterte Täter unterschiedlich behandeln, einem Umstand Relevanz beimessen, der tatsächlich keine Bedeutung hat. Der erste Teil dieses Paares, der Erfolgsfall, beschreibt die Handlung einer Täterin, A, für die sie unbestreitbar zu bestrafen ist. Es könnte sein, dass A ihren Nachbarn tötet, indem sie ihn vom Dachboden aus erschießt oder indem sie das Haus ihres Feindes in Brand setzt – die Details des Falles sind unwichtig und beliebig austauschbar. Der Einfachheit halber werde ich die Variable α für diejenige Handlung verwenden, die A’s Tat im jeweiligen Kontext am besten beschreibt. Das wichtige Merkmal des jeweiligen Erfolgsfalls ist nur, dass es Spielraum für einen Misserfolg der α-Handlung gibt. Die α-Handlung muss unmittelbar von Bedingungen abhängen, die, wie es aussieht, „Zufälle der Natur“ sind.6 Da 5 Ich denke, dass Thomsons Bedenken, die sie in Ihrem Artikel „Imposing Risks“ gegen McCarthys Argument vorgebracht hat, immer noch beachtlich sind. Vgl. Thomson, Rights, Restitution and Risks, 1986, S. 173 ff. 6 Hier spiele ich mit einem Ausdruck Davidsons, mit dem er primitive Handlungsformen charakterisiert: „We never do more than move our bodies: the rest is up to nature“, Davidson, in: Essays on Actions & Events, 1980, S. 59.
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menschliche Handlungen immer diese Bedingungen erfüllen, wird jeder halbwegs praxisnahe Fall für unsere Zwecke tauglich sein. Der Grund für diese Bedingung ist, dass der Misserfolgsfall, der zweite Fall unserer Paarung, die Realisierung der Misserfolgswahrscheinlichkeit darstellt. Im Misserfolgsfall realisiert sich die auch im Erfolgsfall mögliche, dort aber nicht realisierte Wahrscheinlichkeit des Misserfolges. Die Handelnde im Misserfolgsfall, nennen wir sie B, ist in jeder Hinsicht mit A identisch. Sie hat identische Fähigkeiten, Überzeugungen und Absichten wie A. Sie unternimmt Handlungen, die genauso erfolgswahrscheinlich sind, aber anders als A scheitert B. Welche Variablen der α-Handlung wiederum zum Misserfolg verhelfen, ist unwichtig: Vielleicht ist das Fenster des Nachbarn schusssicher, vielleicht lenkt auch ein zufällig vorbeifliegender Vogel den entscheidenden Schuss ab; vielleicht löscht ein Platzregen das gelegte Feuer, oder eine einsatzbereite Feuerwehrmannschaft samt Ausrüstung hält sich zufällig im Nachbarhaus auf. Das Fallpaar muss mit anderen Worten so konstruiert sein, dass B alles genauso macht wie A (außer α) und dass ihr Misserfolg nicht als eine Konsequenz dessen erklärt werden kann, dass sie etwas getan oder nicht getan hat, was A nicht getan oder getan hat. Um es zu vereinfachen, werde ich die Variable „β“ für die Art von Handlung verwenden, die am besten B’s Handlung beschreibt. Sowohl A’s als auch B’s Handlung stellen also β dar, nur dass A’s β-Handlung eine α-Handlung wird, während B’s β-Handlung als eine solche verharrt, weil ein von B unbeeinflussbarer Umstand von A’s α-Handlung abweicht. Lassen Sie mich die Beziehung der beiden Handlungstypen (α und β), die wir A und B vorwerfen, für die Instanziierung in Erfolg und Misserfolg ein wenig verdeutlichen. Zunächst ist β für α selbst eine Handlungsvoraussetzung, was konkret Folgendes bedeutet: (i) Die β-Handlung ist grundlegender als die α-Handlung (grundlegend in dem Sinne, dass eine gegebene Handlung eine „Grundhandlung“ der anderen ist).7 Dies bedeutet, dass, damit ein Handelnder α vornehmen kann, er auch β als Teil von α verwirklichen muss oder dass er nur α tun kann, wenn er auch β getan hat. (ii) β ist praktisch ausreichend für α, was heißt, dass der Handelnde α verwirklicht, indem er β tut. Nicht dass die β-Handlung eine α-Handlung nach sich zieht – das tut sie nicht; es ist tatsächlich eher eine praktische als eine logische Zulänglichkeit, um die es hier geht. Zweitens steht die Bezeichnung α für die beste Beschreibung des A vorwerfbaren Verhaltens. Das heißt, dass die Beschreibung jede Eigenschaft der Hand7 Eine Handlung φ ist dann eine Grundhandlung des handelnden S, wenn, und nur wenn, alle Handlungen ϕ, die S vornimmt, φ als Teil von ϕ enthalten. Vgl. Danto, Basic Actions and Basic Concepts, neu abgedruckt in ders., The Body/Body Problem, 1999, S. 45 ff.
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lung umfasst, die wir A vorwerfen – dieselben Eigenschaften, die das Verhalten als moralisch falsch kennzeichnen. Gerade wenn Unrecht darin besteht, dass andere geschädigt werden, kann sich Unrecht nicht nur um die Frage drehen, ob ein Schaden verursacht wurde, sondern auch darum, wie der Schaden zugefügt wurde. Also soll die Bezeichnung α nicht nur die Tatsache beinhalten, dass ein Schaden zugefügt worden ist, sondern auch jeden anderen Aspekt, der die konkrete Schadenszufügung und damit das konkrete Unrecht charakterisiert. Nehmen wir an, dass ich absichtlich meine Bürokollegin Martha töte, indem ich eine Granate in ihr Büro werfe. Ich verhalte mich ohne Zweifel ungerecht, indem ich sie töte. Sollte meine Handlung nicht entschuldigt werden können, dann bin ich dafür zu bestrafen. Die Tatsache, dass ich Martha getötet habe, ist zweifelsohne der dominante Faktor bei der Bestimmung des Unrechts, aber der alleinige ist es nicht. Daneben existiert noch ein weiterer Faktor, der bereits intuitiv relevant ist für ein erschöpfendes Unrechtsurteil. Ich glaube, dass mir die meisten beipflichten würden, wenn ich behaupte, dass eine absichtliche Tötung (anders als etwa eine versehentliche) eines nahen Kollegen, während das Opfer an der Universität arbeitet (anders als etwa die Tötung eines Kriegsfeindes auf dem Schlachtfeld), und mittels einer extrem brutalen Tötungshandlung (anders als etwa eine Tötung auf eine schonende, sehr zielgenaue Art und Weise), eine höhere Unrechtsqualität beinhaltet. Wenn dieser Punkt aber zutrifft, dann wäre eine Berücksichtigung der Tötung allein im besten Falle unvollständig. Eine genauere Umschreibung des von mir verwirklichten Unrechts wäre etwa: „Absichtliche Tötung einer nahen Kollegin mittels einer Granate, die während der Arbeit in ihr Büro geworfen wurde“. Wenn diese Umschreibung jeden Unrechtsaspekt abdecken würde, dann würde diese Umschreibung für unsere α-Handlung stehen. Die Eigenschaften der β-Handlung sind demgemäß dadurch geprägt, wie α intendiert ist oder war. Das bedeutet für unser Beispiel, dass, wenn die α-Handlung als „absichtliche Tötung einer nahen Kollegin mittels einer Granate, die während der Arbeit in ihr Büro geworfen wurde“, paraphrasiert werden könnte, die β-Handlung etwa als „Granatenwurf in das Büro einer nahen, gerade dort arbeitenden Kollegin mit der Absicht, diese zu töten“, bezeichnet werden könnte. Die α-Handlung würde β voraussetzen. Die Aussage „A tut α“ hat damit zur Folge, dass darin die Aussage „A tut β“ – und nicht umgekehrt – enthalten ist. Wenn wir jetzt A wegen α bestrafen, dann reagieren wir ausdrücklich ebenfalls auf einen Umstand der α als teilidentisch mit β erscheinen lässt. An diesem Punkt wird klar, dass die offensichtliche Merkwürdigkeit der überkommenen Ansicht darin begründet liegt, dass wir B und A gleich behandeln sollten, obwohl wir B lediglich β, A hingegen β und α vorwerfen. Meiner Ansicht nach sollten wir jedoch sicherstellen, dass wir A nicht wegen beidem bestrafen. Letztlich ist A lediglich wegen der für sie relevanten Verwirklichung von α zu bestrafen. Jede andere Beschreibung ihrer vorwerfbaren Handlung wäre andernfalls entweder unvollständig oder würde
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irrelevante Umstände enthalten. Wir können A’s Verhalten beschreiben, indem wir sagen, dass sie β getan hätte. Mit dieser Beschreibung wäre A immer noch tadelnswert (und, wie die überkommene Auffassung sagen würde, auch nicht weniger tadelnswert), genau wie B. Das bedeutet allerdings nicht, dass A für β und α zu bestrafen ist. Diese Aussage trifft im Übrigen auf alle Handlungen zu, die einen Unrechtstatbestand verwirklichen, der vollständig in einem anderen enthalten ist. Wenn ich Martha absichtlich töte, indem ich eine Granate in ihr Büro werfe, töte ich natürlich auch Martha, Punkt. Meine Handlung ist sowohl unter der Beschreibung „Absichtliche Tötung von Martha, indem eine Granate in ihr Büro geworfen wurde“, als auch unter der engeren Beschreibung „Tötung von Martha“ als Unrecht anzusehen. Mich aus einer echten Verbindung beider Unrechtstatbestände zu bestrafen würde bedeuten, mich wegen derselben Sache zweimal zu bestrafen. Erfolg-Misserfolg-Paare werden allgemein akzeptiert, um die Bedeutung des Zufalls in der Handlung eines Täters zu verdeutlichen. A hat in unserem Fall Erfolg. Ihre Handlung hätte aber genauso gut als Misserfolg enden können. Genauso trifft es zwar zu, dass B scheitert, aber ebenso gut hätte erfolgreich sein können. Keine der beiden hat irgendetwas getan, was die jeweils andere nicht getan hat, um zu garantieren, dass sie nicht wie die andere endet. Ihre Handlungen (α oder β) haben Konsequenzen, die Folge eines reinen Zufalls sind.8 Mit anderen Worten: A’s β-Handlung wird erst durch den Zufall zu einer α-Handlung und könnte genauso eine reine β-Handlung geblieben sein, so wie es bei B der Fall war. Im Erfolgsfall ist der Verlauf des Geschehens so, dass β es nicht schafft, zu α zu werden. Laut der überkommenen Ansicht kann A nicht mehr vorgeworfen werden als B, weil der Zufall, der letztlich den Unterschied beider Handlungen ausmacht, nicht Gegenstand eines Unrechtsvorwurfs sein kann. Der Zufall sollte nach der Natur des Unrechtsvorwurfs nicht dessen Gegenstand sein.
III. Vorwerfbarkeit, Unrecht und Herrschaft (ownership) Vorwerfbarkeit wird zu Unrecht, sodass bei ansonsten gleichen Umständen ein größeres Unrecht eine höhere Vorwerfbarkeit bedeutet. Wenn jetzt in Erfolg-Misserfolg-Paaren A’s Tat größeres Unrecht darstellt als B’s, dann bedeutet
8 Der Einfluss des Zufalls ist höher, wenn der Täter russisches Roulette spielt, als wenn er schießt nachdem er sichergestellt hat, dass die Waffe durchgeladen ist. Je glücklicher A’s Erfolg sein mag, desto weniger besonders erschiene demgegenüber B’s Fall. Abhängig von den Umständen des Falles wäre A mal mehr und mal weniger im Glück. Aber er wäre immer im Glück.
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dies, dass A in höherem Maße vorwerfbar gehandelt hat, wenn ansonsten alle Umstände gleich bleiben. Ich werde nunmehr allerdings versuchen aufzuzeigen, dass bei diesem Vergleich nicht alle Umstände gleich bleiben. Vorwerfbarkeit ist eine Funktion des vorwerfbaren Unrechts, nicht nur des Unrechts selbst. Man kann Unrecht begehen, ohne dass es einem vorwerfbar wäre, beispielsweise wenn man nicht zurechnungsfähig ist oder unter anderen entschuldigenden Umständen handelt. Verantwortung für eine bestimmte Handlung, genau wie Unrecht selbst, ist abstufbar. Das bedeutet, dass man mehr oder weniger vorwerfbar in Bezug auf ein bestimmtes Unrecht gehandelt haben kann, abhängig davon, welcher Grad der Vorwerfbarkeit erreicht wurde. Genauso, und das ist mein Kernargument für die überkommene Ansicht, kann man gleichermaßen vorwerfbar gehandelt haben, obwohl man anderes Unrecht begangen hat. Weil sowohl das Unrecht als auch die Verantwortlichkeit gradueller Natur sind, kann bei geringerem Unrecht die Vorwerfbarkeit gleich bleiben, wenn korrespondierend die Verantwortlichkeit zunimmt. In der Tat wird mein Argument sein, dass, obwohl A mit α größeres Unrecht verwirklicht, ihre Verantwortlichkeit für dieses Unrecht proportional geringer ist als B’s Verantwortlichkeit für β. Verantwortlich zu sein bedeutet im Strawsonschen Sinne in erster Linie, einer bestimmten moralischen Grundhaltung zu unterliegen (wie bspw. Liebe, Zuneigung, Dankbarkeit, Verachtung, Unmut, Empörung).9 Strafwürdigkeit ist eine Teilkategorie dieser moralischen Verantwortlichkeit; strafwürdig zu sein bedeutet also, einer ganz bestimmten moralischen Grundhaltung, namentlich dem Tadel, zu unterliegen. In diesem allgemeinen Sinne bedeutet Verantwortlichkeit, wie David Copp es ausdrückte, „Reaktionswürdigkeit“:10 Damit eine Täterin S für eine Handlung φ verantwortlich gemacht werden kann, muss (irgend)eine moralische Antwort auf genau diese Handlung gefunden werden – das bedeutet letztlich nur, dass die Handlung φ es angebracht erscheinen lässt, dass mit einer bestimmten moralischen Grundhaltung darauf reagiert wird. In diesem Sinne hängt Reaktionswürdigkeit maßgeblich von etwas ab, was wir als Zurechenbarkeit oder als Herrschaft bezeichnen können: S ist verantwortlich für ihre Handlung φ, wenn die Handlung φ in einem strengen Sinne ihre ist.11 9 Vgl. Strawson, Freedom and Resentment, neu abgedruckt in: Watson (Hrsg.), Free Will, 1982, S. 59; Fischer, Ethics 110 (1999), S. 93 ff. 10 Copp, Noûs 31 (1997), S. 441 ff. 11 Vgl. Watson, Two Faces of Responsibility, neu abgedruckt in: ders., Agency and Answerability, 2004, S. 260. Watson argumentiert, dass Zurechenbarkeit nur eine Eigenschaft von Verantwortlichkeit darstellte. Die andere Eigenschaft sei das Eintretenmüssen oder auch die Haftung. Andere Philosophen verstehen Verantwortlichkeit nur im Sinne einer Zurechenbarkeit s. Fischer (Fn. 9), S. 96, der Pereboom als ein Beispiel zitiert. Ob Zurechenbarkeit die Bedingungen einer Reaktionswürdigkeit tatsächlich erschöpft, muss ich
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Zurechenbarkeit auf der anderen Seite garantiert nur, dass irgendeine moralische Antwort notwendig ist. Damit eine bestimmte moralische Antwort formuliert werden kann, müssen weitere Bedingungen eintreten. Vorwerfbarkeit gebietet, dass das, wofür man verantwortlich gemacht werden soll, eine Negativreaktion erfordern muss. Die herkömmliche Sicht besagt, dass für die betreffende Handlung eine negative Sollensnorm bestehen muss (dass es also moralisch falsch ist, φ zu begehen), damit S für ihre Handlung φ verantwortlich gemacht werden kann. Zurechenbarkeit steht also dafür, dass S den Vorwurf für ihre Handlung φ verdient; Unrecht sorgt im Gegenzug dafür, dass es gerade der Vorwurf ist, den S verdient. Ich folge Nozick darin, dass Zurechenbarkeit, Herrschaft und Unrecht ein Produkt bilden, das für das Maß der Ernsthaftigkeit eines verwirklichten Unrechts steht. Dieses Produkt muss mit einem Abschlagskoeffizienten multipliziert werden, der für den Grad an Verantwortlichkeit des Täters steht (im Bereich zwischen null für keinerlei Verantwortlichkeit und eins für volle Verantwortlichkeit). Nach dem Gesagten wäre also der Grad der Vorwerfbarkeit eines Täters für seine Handlung φ eine Funktion des Produkts rφ x Wφ (wobei Wφ für das Maß des Unrechts von φ steht und rφ der Abschlagskoeffizient ist, der für den Grad der Verantwortlichkeit steht).12 Ich behaupte, dass zwischen den jeweiligen Verantwortlichkeiten in einer Erfolg-Misserfolg-Paarung ein Unterschied besteht – und zwar ein solcher Unterschied, der den Grad an begangenem Unrecht zwischen dem erfolgreichen und dem gescheiterten Täter auszugleichen vermag. Um das aufzuzeigen, analysiere ich im Folgenden die Zurechenbarkeit im Sinne einer Ansprechbarkeit durch Gründe. Ansprechbarkeit durch Gründe, wie sie in der φ-Handlung zum Ausdruck kommt, hat, so meine ich, zwei unterschiedliche Dimensionen: Eine negative Dimension (Reaktivität), die die Fähigkeit umfasst, aus Gründen, die gegen die φ-Handlung sprechen, die φ-Handlung nicht vorzunehmen; die andere Dimension (Verlässlichkeit), die die Fähigkeit umfasst, die φ-Handlung aus Gründen, die für diese Handlung sprechen, tatsächlich vorzunehmen. In Erfolg-Misserfolg-Paaren wird die Reaktivität durch Konstanten abgebildet. Die Verlässlichkeitswerte verändern sich hingegen von Fall zu Fall, werden also durch Variablen abgebildet. Genau diese Veränderbarkeit erklärt die unterschiedliche Zurechenbarkeit, die letztlich die Basis meiner Argumentation für die überkommene Ansicht darstellt. an dieser Stelle nicht entscheiden. Ich begnüge mich hier mit dem Hinweis, dass Zurechenbarkeit wenigstens ein Teil der Bedingungen ist, die eine Reaktionswürdigkeit ausmachen. 12 Nozicks Rahmenkonzeption wurde entwickelt in: Nozick, Anarchy, State, and Utopia, 1974, S. 59 ff., und wurde später ausgearbeitet in: ders., Philosophical Explanations, 1981, Kapitel 4. III.
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Ein einfaches Beispiel soll dazu dienen, diesen Unterschied in der Zurechenbarkeit zu verdeutlichen: Angenommen, ich wäre ein Anfänger in Sachen Bogenschießen und träfe gleich am ersten Tag und mit dem ersten Versuch eines Schusses ins Schwarze. Des Weiteren sei angenommen, meine Lehrerin schösse ebenfalls ins Schwarze – wie es ihr normalerweis aus dieser Distanz auch gelingt. Die Intuition besagt nun, dass meine Lehrerin eine größere Verantwortlichkeit für ihren Treffer trägt, als ich für meinen. Ihr Schuss ins Schwarze ist mehr ihre Tat, als mein Treffer meine Tat ist. Der Grund ist, dass Glück bei meinem Treffer eine größere Rolle gespielt hat als bei dem Treffer meiner Lehrerin; je mehr allerdings eine Handlung dem Glück zu verdanken ist, desto weniger ist sie dem Handelnden zu verdanken. In den folgenden zwei Abschnitten werde ich nun meine Begründung für die überkommene Ansicht ausarbeiten. Darauf aufbauend werde ich zeigen, dass der Unterschied in der Verantwortlichkeit den Unterschied im Unrecht zwischen A’s α-Handlung und B’s β-Handlung ausgleicht.
IV. Über Herrschaft (ownership) Zurechenbarkeit oder Herrschaft stellt eine Beziehung dar, die den Täter mit den beschriebenen Handlungen in Verbindung bringt.13 Denn ein und dieselbe Handlung – als ein bestimmtes Ereignis – kann durch viele verschiedene Umstände geprägt sein, die wir jeweils als Handlung des Täters beschreiben könnten.14 Verantwortlichkeit variiert jedoch in Abhängigkeit von der Beschreibung, mit der die Handlung versehen wird. Angenommen, Sie rufen Ihren Freund zu seinem Geburtstag an. So dargestellt ist die Handlung etwas Nettes, etwas, das nach positiven moralischen Reaktionen verlangt – irgendeine Dankbarkeit dafür, dass Sie an seinem Geburtstag an ihn gedacht haben. Doch nehmen wir an, dass der eben beschriebene Anruf während der Nachtruhe bei Ihrem Freund eingeht. Unter der Beschreibung „einen Freund zu spät anrufen“ wäre Ihre Handlung eine weitaus weniger eindeutige, die deshalb irgendeine negative Reaktion verdient. Ihr Freund mag einerseits angesichts Ihres späten Anrufs verständlicherweise 13 Nicht, dass Zurechenbarkeit keine andere Verbindung ermöglichen würde. Alles, was ich in Bezug auf diese Zurechenbarkeit von Handlungen sagen möchte, vermag, leicht angepasst, Verantwortlichkeit auch für andere Dinge, wie etwa Überzeugungen oder Emotionen, zu begründen. Ich beschränke mich an dieser Stelle auf die Zurechenbarkeit von Handlungen, weil mein Interesse in diesem Aufsatz die Beleuchtung der relativen Vorwerfbarkeit gegenüber Tätern in Erfolg-Misserfolg-Paaren ist, deren einziger Unterschied die Art ihrer Handlung ist. 14 Ich werde eine grobe Sicht auf die Individuation von Handlungen werfen. Unter einem feingliedrigeren Blickwinkel auf die Individuation von Handlungen würde dieser Punkt nicht in der richtigen Ordnung erscheinen. Diese Betrachtungswahl hat keinerlei gravierendere Auswirkungen.
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verstimmt sein, andererseits ebenso verständlicherweise dankbar sein dafür, dass Sie an seinem Geburtstag anrufen. Das positive Urteil, das der Freund mit seiner Dankbarkeit ausdrückt, ist verbunden mit dem, was Ihre Handlung zum „Anrufen Ihres Freundes zu seinem Geburtstag“ macht. Das negative Urteil, das er ebenfalls in seiner Verstimmung zum Ausdruck bringt, knüpft an andere Aspekte Ihrer Handlung an, nämlich jene, die die Handlung als unangemessen späten Anruf erscheinen lassen. Da Verantwortlichkeit mit der Handlungsbeschreibung variiert, trifft diese Aussage auch auf die Herrschaft über eine Handlung zu. Die Zuweisung einer Handlung φ (wobei φ für eine Handlungsbeschreibung steht) zu einer Handelnden S hängt davon ab, ob es zutrifft, dass (i) es ein Ereignis e gibt, welches eine Handlung der S darstellt; (ii) e zugleich φ ist (was der Fall ist, wenn wir φ für e behaupten können, oder, was auf das Gleiche hinausläuft, dass wir wahrheitsgemäß von e als Ausprägung von φ sprechen können) und (iii) es sich für S nicht als bloßer Zufall darstellt, dass e zugleich φ ist, d. h. dass S in einem gewissen Maße Kontrolle über die Identität von e mit φ ausübt. Die Bedingungen (i) und (ii) sichern dabei nur ab, dass S tatsächlich φ begangen hat.15 Es ist die Kontrollbedingung (iii), die einer Erläuterung bedarf. Die hier relevante Vorstellung von Kontrolle ist jene, die Timothy O’Connor Handlungskontrolle (agent control) nennt.16 Handlungskontrolle beschreibt die 15 Ich werde eine Handlung immer schon dann als φ-Handlung beschreiben, wenn die ersten beiden Bedingungen erfüllt sind, auch wenn die dritte Bedingung nicht erfüllt ist. Dadurch ist es nicht eine Handlung von S in dem strengen Sinne, dass die Handlung eine moralische Reaktion erfordern würde. Ich versuche hier, nicht nur mit Begrifflichkeiten zu spielen. Ich versuche vielmehr, erst Bedingungen zu isolieren, für die ein Täter verantwortlich gemacht werden kann, um mich danach auf diese Bedingungen fokussieren zu können, um sie schließlich kontrollieren zu können. Ob wir das, was übrig bleibt, wenn wir die Kontrollbedingung von einer Handlung abziehen, begrifflich tatsächlich noch als Handlung fassen können, ist eine Frage, auf die ich keine Antwort habe. Vielleicht bringt das Konzept der Handlung einen kleinen, oberhalb von Null liegenden Anteil an Zurechenbarkeit mit sich, sodass es keinen Sinn ergäbe, von einer φ-Handlung minus einer Handlungskontrolle zu sprechen. Vielleicht sollten wir, wie Davidson vorschlägt (vgl. ders. [Fn. 6]), sagen, dass φ etwas ist, was S tut – eine Tat von ihr ist – und nicht, dass es sich um eine Handlung von S handelt. Nochmals, hierzu habe ich nichts von Interesse beizutragen. 16 O’Connor, Philosophy and Phenomenological Research 53 (1993), S. 499 f. Daneben gibt es auch die oft so bezeichnete Alternativ-Möglichkeiten-Kontrolle (alternative-possibilities-control). Die Alternativ-Möglichkeiten-Kontrolle unterstreicht, dass die φ-Handlung, die tatsächlich vorgenommen wurde, nur eine von vielen Handlungsmöglichkeiten beschreibt. S hätte demnach nur dann Alternativ-Möglichkeiten-Kontrolle über ihre φ-Handlung, wenn sie auch andere Handlungsoptionen hätte wählen können. Selbst wenn sie eine notwendige Bedingung für die Vorwerfbarkeit formulieren würde, so vermag die Alternativ-Möglichkeiten-Kontrolle keine Aussage über die relative Vorwerfbarkeit der Beteiligten in Erfolg-Misserfolg-Paaren zu treffen. Entweder beide oder niemand von bei-
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interne Beziehung zwischen Handelndem und Handlung dergestalt, dass die Handlung ein „Ausfluss“ des Handelnden ist.17 Die Handlung ist etwas, was der Handelnde tut und was auf irgendeine Weise dessen Handschrift trägt. Die Darstellung der Handlungskontrolle, die ich bevorzuge, wird durch die bereits oben erwähnte Ansprechbarkeit durch Gründe beschrieben: Eine Handelnde S kontrolliert ihre Handlung φ, wenn und nur wenn S (einen bestimmten Grad an) Ansprechbarkeit hinsichtlich der Gründe für ihre φ-Handlung zeigt.18 Nach dieser sehr groben Darstellung haben wir die Kontrolle über etwas, was wir tun – wobei „etwas“ unsere Handlung ist, die eine bestimmte Beschreibung erfüllt –, wenn es unsere Antwort auf die von uns wahrgenommenen Umstände ist. Was wir folglich tun, ist uns als unser Tun im strengen Sinne zurechenbar, weil und soweit es zum Ausdruck bringt, welche Umstände wir als Gründe für unsere Handlungen ansehen, wie wir diese Gründe gewichten und wie wir sie in konkrete Handlungen übertragen. Es bringt mit anderen Worten dasjenige zum Ausdruck, was auch unsere praktische Identität genannt werden kann. Ansprechbarkeit durch Gründe ist ein modales Konzept – seine Bedeutung ist nicht festgelegt durch das, was in der wirklichen Welt der Fall ist. Die Zurechenbarkeit der φ-Handlung der S in der wirklichen Welt als eine eigene Handlung der S hängt von S’ Verhalten in einer dazu passenden Bandbreite möglicher Welten ab. In John M. Fischers und Ravizzas Darstellung ist die φ-Handlung der S nur dann eine Reaktion auf Gründe, wenn bei gleichbleibendem Mechanismus, der in der wirklichen Welt die φ-Handlung auslöst, eine denkbare Welt existiert, in der hinreichender Grund dafür besteht, φ zu unterlassen, und die Handelnde gerade aus diesem Grund φ auch unterlässt.19 Zwei Bemerkungen erscheinen hierzu angebracht. Erstens beschränken Fischer und Ravizza die Gruppe möglicher Welten, in der die Ansprechbarkeit auf Gründe überprüft wird, auf jene, in denen die Art des „handlungsauslösenden Mechanismus“, der bei der φ-Handlung der Handelnden im Spiel ist, gleich bleiben.20 Das Konzept eines handlungsauslösenden Mechanismus verweist auf den Prozess, der zur Handlung führt, oder auch auf „die Art und Weise, in der die Handlung zustande kommt.“21 Angenommen, ich entden hatte die Möglichkeit, sich anders zu verhalten. Dies trifft, wie ich zeigen werde, nicht auf die Handlungskontrolle zu. Weil mein Interesse vorliegend aber der Beleuchtung der Kontrollbedingung und der Frage gewidmet ist, inwiefern diese das Urteil über relative Vorwerfbarkeit in Erfolg-Misserfolg-Paaren beeinflussen kann, fokussiere ich mich vorliegend auf die Handlungskontrolle. 17 Vgl. O’Connor (Fn. 16), S. 500. 18 Vgl. Fischer/Ravizza, Responsibility and Control, 1998. 19 Ebd., Kapitel 2 und S. 63 f. 20 Ebd., S. 38 f. 21 Ebd., siehe ebenfalls S. 46 f. für einige Präzisierungen.
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schließe mich nach sorgfältiger Überlegung dazu, φ zu tun. Ich begehe folglich φ mit Vorsatz. Der Mechanismus, der meine vorsätzliche φ-Handlung auslöst, ist letztlich nichts anderes als mein praktisches Denken. Dieses umfasst manche mentalen Vorgänge, wie etwa eine Art von Vorsatz, Überzeugungen, wie φ begangen werden sollte, etc. Auch umfasst sind allerdings manche physischen Ereignisse, die mit den mentalen Vorgängen verbunden sind. Sich auf Ereignisse festzulegen, die die Handlungen auslösen, heißt, dass man nur solche Welten betrachtet, in welchen ich φ als Resultat desselben praktischen Denkens begehe. Fallgestaltungen, in denen abweichendes praktisches Denken vorliegt, beispielsweise als Konsequenz einer Manipulation meines Gehirns durch einen Neurologen, bleiben außer Betracht. Dieses „Mechanismuskonzept“ ist zugegeben vage, aber für die folgende Argumentation präzise genug. Zweitens ist die eben eingeführte Art der Ansprechbarkeit durch Gründe zu schwach. Es gibt Fälle von unbestreitbar nicht verantwortlich Handelnden, die weniger empfindlich auf Gründe reagieren. Was Verantwortlichkeit erfordert, fügen Fischer und Ravizza weiter hinzu, sei eine anspruchsvollere Art der Ansprechbarkeit, eine, die sich in der Bandbreite der relevanten möglichen Welten, in denen die Handelnde den Grund, φ nicht zu tun, erkennt und aus diesem Grund φ nicht tut, offenbart. Um die Verantwortlichkeit zu gewähren, sollte diese Bandbreite denkbarer Welten ein erkennbares Muster von Gründen aufweisen, durch die die Handelnde ansprechbar ist – ein Muster, das moralische Gründe beinhaltet.22 Das relevante Kriterium für die Ansprechbarkeit durch Gründe sollte demnach wie folgt angepasst werden: Die φ-Handlung der S ist dann eine Antwort auf Gründe, wenn und nur wenn bei einer Fixierung der handlungsauslösenden Mechanismen (i) eine Bandbreite an möglichen Welten existiert, in der es gute Gründe gibt, φ nicht zu tun, und die Handelnde aus diesen Gründen φ auch nicht unternimmt und (ii) diese Bandbreite an Welten ein erkennbares Muster an Gründen darstellt (inklusive mancher moralischer Gründe), auf die die Handelnde ansprechbar ist. Fischers und Ravizzas Kriterium der Ansprechbarkeit durch Gründe erfasst nur einen Aspekt (oder eine Dimension) von Herrschaft. Diese Dimension der Herrschaft ist in gewissem Sinne negativ, da sie dadurch dargestellt wird, dass die Handelnde in der relevanten Betrachtung möglicher anderer Welten φ gerade nicht tut. Diesen Umstand nenne ich, insofern Fischer und Ravizza folgend, Reaktivität.23 22 Ebd., S. 69 – 85; zur Diskussion vgl. Watson, Ethics 111 (2001), S. 374 ff., wieder abgedruckt in: ders. (Fn. 11), S. 289 ff. 23 Vgl. Fischer/Ravizza, (Fn. 16), S. 41 f., 69 ff. Fischer und Ravizza unterscheiden Reaktivität (als Möglichkeit φ aus Gründen, die gegen φ sprechen, nicht zu tun) von Rezepti-
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Ich behaupte, dass es ferner eine positive Dimension der Ansprechbarkeit durch Gründe gibt, die von Fischer und Ravizza nicht beleuchtet wird, die aber entscheidend für mein Argument zugunsten der überkommenen Ansicht ist: die Fähigkeit der Handelnden, φ zu tun, weil sie Gründe für φ hat. Ich verwende den Begriff Verlässlichkeit, um diese positive Dimension der Handlungskontrolle zu bezeichnen.24 Dazu folgendes Beispiel aus Meles und Mosers Analyse vorsätzlicher Handlungen: Ein Atomreaktor läuft Gefahr zu explodieren. Fred weiß, dass die Explosion nur durch sein Abschalten verhindert werden kann und dass der Reaktor nur dadurch abgeschaltet werden kann, dass ein bestimmter zehnstelliger Code in einen Computer eingegeben wird. Fred ist allein im Kontrollraum. Obwohl er weiß, welchen Computer er benutzen muss, hat er keine Ahnung, wie der Code lautet. Fred muss sich schnell entscheiden. Er entscheidet, dass es besser sei, zehn Ziffern einzugeben, als nichts zu tun. Im vollen Bewusstsein, dass jede Wahrscheinlichkeit gegen die Eingabe des richtigen Codes spricht, beschließt Fred, es zu versuchen. Er gibt die ersten zehn Ziffern ein, die ihm einfallen, in der erstbesten Reihenfolge, die ihm einfällt, und nimmt dabei an, dass er „vielleicht dadurch“ den Reaktor abschalten und die Explosion verhindern könne. Welch ein Glück! Er hat tatsächlich den richtigen Code eingegeben und dadurch die Atomexplosion verhindert. 25 Ich betrachte den Fall von Fred und dem Atomreaktor als ein sehr gutes Beispiel für ein Tun, das ein schwacher Ausdruck von Freds Handlungsmacht ist, das heißt ein Tun, das einen sehr geringen Grad an Zurechenbarkeit aufweist.26 Ich behaupte, dass wir zu der Annahme neigen, dass die Abschaltung des Reaktors keine vorsätzliche Handlung Freds ist – wie die Erfinder dieses Beispiels nahe legen –, weil wir zu der Ansicht tendieren, dass es unter dieser Beschreibung keine wirkliche Handlung Freds ist – dass sie also zu zufällig ist, als dass wir sie im Sinne einer wirklichen Zurechenbarkeit als sein eigenes Tun bezeichnen könnten. Allgemeiner schlage ich vor, dass die unterschiedlichen Dimensionen der Verlässlichkeit die unterschiedlichen Arten der Zurechenbarkeit bestimmen. Unabhängig davon stellt sich die Frage, was das Mindestmaß an Verlässlichkeit darstellt, damit eine untersuchte Handlung noch als Ausdruck einer Handlungsherrschaft bezeichnet werden kann. Angenommen, ein Parallelfall zu Freds Fall kommt diesem so nahe wie möglich, bis auf den Umstand, dass der Akteur, Fred, vität (verstanden als Möglichkeit, Gründe in der Welt zu erkennen). Diese Unterscheidung muss ich vorliegend nicht vornehmen. 24 Ich verwende diese Bezeichnung in Anlehnung an Meles und Mosers Analyse der vorsätzlichen Handlung. Vgl. Mele/Moser, The Philosophy of Action, 1997. 25 Ebd., S. 224. 26 Auf der anderen Seite führen Mele und Moser den Fall als Beispiel dafür ein, dass das Handlungsresultat „zu zufällig ist, um als vorsätzlich gelten zu können“ (ebd., S. 225).
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den zehnstelligen Code kennt – denn er ist die für den Reaktor verantwortliche Person und hat Zugang zu Geheimdokumenten mit eben diesem Code. In diesem Parallelfall ist die Abschaltung des Reaktors durch Fred sicherlich sein eigenes Werk. Ich behaupte, dass es richtig ist zu sagen, dass die Abschaltung des Reaktors durch ihn im zweiten Fall mehr Freds Tat ist als im ersten Fall. In der Abschaltung des Reaktors im zweiten Fall liegt sozusagen mehr von Fred als im Abschalten des Reaktors im Ausgangsfall. Diese unterschiedliche Handlungsherrschaft über das Geschehen kann durch den Unterschied der relativen Wahrscheinlichkeit des korrespondierenden handlungsauslösenden Mechanismus erklärt werden. Verlässlichkeit ist eine variable Falleigenschaft, die, ebenso wie Reaktivität, verstanden werden kann, indem man verschiedene Handlungsvarianten des Handelnden innerhalb der Bandbreite möglicher Sachverhalte betrachtet. Eine Formulierung wie die folgende wird dies ausreichend verdeutlichen: Die φ-Handlung der S zeichnet sich nur dann durch Verlässlichkeit aus, wenn bei gleichbleibendem handlungsauslösendem Mechanismus in der tatsächlichen Welt, (i) eine Anzahl von Welten existiert, in der es hinreichende Gründe für φ gibt, und die Handelnde φ auch aus diesen Gründen unternimmt. (ii) Der Grad an Verlässlichkeit wird bestimmt durch das Verhältnis der Anzahl der Welten in (i) zu der Anzahl an Welten in der Vergleichsgruppe, in der hinreichende Gründe für φ bestehen. Dieses Kriterium erfasst die intuitive Sichtweise, dass die Abschaltung des Reaktors durch Fred im ersten Fall kaum ein Ausdruck seiner Handlungsherrschaft ist, während es sich im zweiten Fall um ein eigenes Tun Freds in höchstem Maße handelt. Was diese unterschiedliche Zurechenbarkeit ausmacht, ist der Umstand, dass Fred in der Wirklichkeit (indem er die ersten zehn Ziffern wählt, die ihm einfallen) den Reaktor in einer zu geringen Bandbreite möglicher Sachverhaltsgestaltungen abschaltet – in jenen nämlich, in denen der „richtige“ zehnstellige Code zufällig derselbe ist wie die ersten zehn Ziffern, die Fred einfallen. Dagegen verhält sich die Reaktorabschaltung durch die Eingabe der zehn Ziffern, von denen Fred weiß, dass sie den Reaktor abschalten, so, dass Fred den Reaktor in den meisten denkbaren Fallgestaltungen – innerhalb der relevanten Vergleichsgruppe – tatsächlich abschaltet.27 27 Wie der Kontrast der beiden Fälle zeigt, kann Verlässlichkeit (und damit die Kontrolle des Handelnden) von Wissen (oder einer berechtigten Überzeugung) abhängen. Verlässlichkeit kann aber außerdem von Fähigkeiten abhängen. Nehmen wir mein Bogenschuss-Beispiel: Es kann sehr gut sein, dass ich bei meinem ersten Schuss und Treffer – sagen wir, beim Zielen und Loslassen des Pfeils – genauso überzeugt davon war, dass ich treffen werde, wie meine Lehrerin, als sie das Ziel getroffen hat. Dennoch ergeben sich offensichtliche Unterschiede in Anbetracht der Verlässlichkeit und damit der Kontrolle. Das ist das, was wir Fähigkeit nennen. Meine Lehrerin ist eine erfahrene Bogenschützin, was bedeutet, dass sie hohe Verlässlichkeitswerte aufweisen wird, wenn sie aufgrund ihres
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Da die Fälle im Übrigen übereinstimmen, erlauben die Unterschiede in der Verlässlichkeitsdimension unterschiedliche Urteile über die jeweilige Verantwortlichkeit.
V. Erfolg-Misserfolg-Paare: Beurteilung relativer Herrschaft Lassen Sie uns zu den Erfolg-Misserfolg-Paaren zurückkehren. A ist verantwortlich für die Handlung α, ihre Verantwortlichkeit bestimmt sich nach dem Maß des durch sie verwirklichten Unrechts und nach dem Grad, zu dem die Handlung α A als ihr Tun zugerechnet werden kann. Das Gleiche gilt für B, deren Vorwerfbarkeit für die Handlung β sich als Funktion des durch β begangenen Unrechts und des Grades an Zurechenbarkeit dieser Handlung darstellt. Wenn, wie ich angenommen habe, die α-Handlung irgendwie größeres Unrecht verwirklicht als die Handlung β, dann müssen sich die Zurechnungsvariablen negativ proportional zueinander verhalten, damit die überkommene Ansicht zutrifft. In diesem Abschnitt werde ich argumentieren, dass es in den Fällen von Erfolg-Misserfolg-Paaren, die mit den Beispielen von Fred, der in zwei unterschiedlichen Weisen den Reaktor abstellt, oder der Bogenschusslehrerin und mir vergleichbar sind, in der Tat unterschiedliche Zurechnungsvariablen gibt. Genauer gesagt werde ich vertreten, dass wir den Grad an Zurechenbarkeit von A’s α-Handlung (als ihre Handlung) als Bruchteil des Grades an Zurechenbarkeit von B’s β-Handlung betrachten können. Der Grad der Zurechenbarkeit einer Handlung, so habe ich oben behauptet, bestimmt sich nach dem Grad der Grund-Ansprechbarkeit, den die Akteurin in ihrer Handlung zeigt, welcher wiederum zwei Aspekte oder Dimensionen hat – Reaktivität und Verlässlichkeit. Es besteht kein Unterschied in der Zurechenbarkeit zwischen dem Erfolgsfall und dem Misserfolgsfall hinsichtlich der Dimension der Reaktivität. Wir erinnern uns, dass wir Reaktivität messen, indem wir mögliche Konstellationen prüfen, in denen die Akteurin Grund dafür hat, anders als in der Wirklichkeit zu handeln, und genau aus diesem Grund auch anders handelt. Reaktivität variiert nicht zwischen dem Erfolgsfall und dem Misserfolgsfall, weil die Gruppe der Möglichkeiten, in denen für A ein Grund besteht, α nicht zu tun, und in denen sie aus diesem Grund α nicht tut, identisch ist mit der Gruppe an Möglichkeiten, in denen B Grund hat, β nicht zu tun, und β aus diesem Grund nicht tut. Dieser Punkt wird durch die folgenden Merkmale der ErfolgMisserfolg-Paare gewährleistet: Das erste Merkmal ist die Tatsache, dass B und A lediglich numerisch abzugrenzen sind – sie sind in jeder anderen Hinsicht ein normalen handlungsauslösenden Mechanismus handelt und damit ihre Handlung die für den Bogenschuss relevanten Gründe erfüllt – genau wie die Gründe, die dafür vorhanden sein mögen, das Ziel zu treffen. Vgl. Mele/Moser (Fn. 24), S. 252 f. Für Meles/Mosers Verständnis von Fähigkeit vgl. ebd., S. 246.
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und dieselbe Person, und somit sind sie auch identisch empfänglich dafür, durch den gleichen Sachverhalt motiviert zu werden. Spezifischer gilt für jede Tatsache t und jede Tat φ, dass, wenn t für A ein Grund für φ ist, sie ebenso für B ein Grund für φ ist, und umgekehrt. Das zweite Merkmal ist die Beziehung zwischen den Handlungen α und β. Da β das aktionale Mittel (d. h. grundlegend und praktisch hinreichend) für α ist, sind sie auf der Ebene der Gründe identisch. Diese Identität auf der Ebene der Gründe für α und β steht für die Verbindung der folgenden vier Behauptungen: Für jede Tatsache t und jede Akteurin S (i) ist t, wenn sie für S Grund für α ist, zugleich Grund für β; (ii) ist t, wenn sie für S Grund für β ist, zugleich Grund für α; (iii) ist t, wenn sie für S Grund gegen α ist, zugleich Grund gegen β; und (iv) ist t, wenn sie für S Grund gegen β ist, zugleich Grund gegen α. Die Behauptungen (i) und (iv) folgen aus der Tatsache, dass β konstitutiver Bestandteil von α ist, was u. a. für die grundlegende Eigenschaft von β für α von Bedeutung ist; (ii) und (iii) folgen aus der Beziehung, dass β praktisch hinreichend für α ist, sodass man nicht β tun kann, ohne die Wahrscheinlichkeit zu schaffen, dass sich eine β-Handlung als Fall einer α-Handlung herausstellt. Diese beiden Merkmale von Erfolg-Misserfolg-Paaren – personale Identität A/B und Identität auf Ebene der Gründe zwischen α- und β-Verhalten – stellen demnach sicher, dass die Gruppe von Welten, in denen A einen Grund gegen eine Handlung α sieht und aus diesem Grund α nicht tut, identisch ist mit der Gruppe von Möglichkeiten, in denen B einen Grund gegen eine Handlung β sieht und aus diesem Grund β nicht tut; daraus folgt mein Punkt, dass in der Reaktivitätsfunktion der Zurechenbarkeit kein Unterschied zwischen den Erfolgsfällen und den Misserfolgsfällen besteht. Lassen Sie uns nun zur Verlässlichkeitsdimension der Zurechenbarkeit zurückkehren. Anders als bei der Reaktivität zeigen sich hinsichtlich der Verlässlichkeit Unterschiede bei der jeweiligen Zurechenbarkeit zwischen der Handlung α zu A und der Handlung β zu B. Wir erinnern uns, dass ich die Verlässlichkeit der Vornahme einer beliebigen Handlung durch die Akteurin dergestalt analysiere, dass ich die Häufigkeit des Erfolgs der Vornahme dieser Handlung in einer Bandbreite aller Möglichkeiten betrachte. Das Maß an Verlässlichkeit ist daher als Wert zwischen eins, für volle Verlässlichkeit, bis null, für gänzlich fehlende Verlässlichkeit auszudrücken, je nach der Häufigkeit der fraglichen Handlung in der relevanten Vergleichsgruppe. Lassen wir rβ den Grad an Zurechenbarkeit (als Funktion der Verlässlichkeit) von B’s β-Handlung im Misserfolg ausdrücken. Er wird an irgendeinem Punkt zwischen voller Zurechenbarkeit (wo rβ = 1) und Nicht-Zurechenbarkeit (wo rβ = 0) liegen, abhängig von (i) der Anzahl relevanter möglicher Fallgestaltungen, in denen B hinreichenden Grund hat, β zu tun, und aus diesem Grund β tut; und (ii) der Anzahl relevanter möglicher Fallgestaltungen, in denen B hinreichenden
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Grund hat, β zu tun. Der Wert rβ steht für das Verhältnis der Anzahl von Fallgestaltungen in (i) zu der Anzahl an Fallgestaltungen in (ii). Was auch immer den tatsächlichen Wert von rβ darstellt, der Wert der korrespondierenden Variable, die den Grad an Zurechenbarkeit (als Funktion der Verlässlichkeit) von A’s α-Handlung im Erfolg (oder rα) ausdrückt, wird einen Bruchteil von rβ darstellen. Die folgenden drei Merkmale von Erfolg-Misserfolg-Paaren stützen diese Behauptung. Erstens steht rα für das Verhältnis von (a), der Anzahl relevanter möglicher Fallgestaltungen, in denen A hinreichenden Grund hat, α zu tun, und aus diesem Grund α tut, zu (b), der Anzahl relevanter möglicher Fallgestaltungen, in denen A hinreichenden Grund hat, α zu tun. Nun folgt aus der Tatsache, dass β das aktionale Mittel zu α ist, dass A α nur in den Welten tut, in denen sie β tut. Teil der Definition der Erfolg-Misserfolg-Paare ist, dass für A’s α-Handlung die Möglichkeit des Scheiterns besteht – indem sich der Misserfolgsfall einstellt. Daraus folgt, dass sich die Bandbreite an Möglichkeiten für A’s α-Handlung innerhalb der Bandbreite der Möglichkeiten für β befindet. Das heißt, es wird eine mögliche Fallgestaltung (oder mehrere) geben, in der A β tut, ohne zugleich α zu tun. Der Wert der Variable rα wird also geringer sein als der korrespondierende Wert der Häufigkeit von A’s β-Handlung innerhalb der Vergleichsgruppe möglicher Fallgestaltungen, die für die Verlässlichkeit von A’s α-Handlungen relevant sind – der Gruppe relevanter möglicher Fallgestaltungen, in denen A hinreichend Grund hat, α zu tun. Zweitens erlaubt uns die Identität auf der Ebene der Gründe für α und β von dieser Beobachtung zu der Behauptung überzugehen, dass das Maß an Zurechenbarkeit von A’s β-Handlung höher ist als das Maß an Zurechenbarkeit von A’s α-Handlung. In der Tat bewerten wir die Verlässlichkeitsvariable für A’s β-Handlung in der Erfolgsvariante, indem wir die Häufigkeit von β innerhalb der Bandbreite möglicher Fallgestaltungen abschätzen, in denen A hinreichenden Grund für β hat. Die Identität auf Ebene der Gründe für α und β gewährleistet, dass diese Vergleichsgruppe identisch mit der Vergleichsgruppe ist, in der rα zu messen ist (also die Gruppe möglicher Fallgestaltungen, in denen A hinreichend Grund hat, α zu tun). Da die Häufigkeit von A’s β-Handlung in dieser Gruppe höher ist als die Häufigkeit ihres α-Verhaltens in dieser Gruppe (denn es gibt einige Fallgestaltungen, in der sie β tut, ohne α zu tun), folgt daraus, dass der Wert der Variable, welche die Zurechenbarkeit von A’s β-Verhalten im Erfolg ausdrückt, höher als rα ist.
Drittens sind sich die Fälle in Erfolg-Misserfolg-Paaren so ähnlich, dass gesichert ist, dass β im Erfolg gleichermaßen A’s Tun ist wie β im Misserfolg B’s Tun ist. In der Tat können wir Erfolg und Misserfolg jeweils als zwei Beschreibungen innerhalb der Vergleichsgruppe möglicher Fallgestaltungen ansehen, in denen wir die Häufigkeit von A’s α-Verhalten (und β-Verhalten) zum Nachweis der Zurechenbarkeit messen („A“ und “B“ sind damit die Namen, mit denen wir
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uns auf ein und dieselbe Akteurin beziehen, je nachdem, in welcher Welt sie sich befindet, in einer Erfolgswelt oder einer Misserfolgswelt). Folglich entspricht der Grad an Zurechenbarkeit der β-Handlung im Erfolg zu A rβ, wobei rβ > rα ist.
Erfolg-Misserfolg-Paare illustrieren einen allgemeinen Gedanken zur Zurechenbarkeit. Dieser Gedanke ist, dass Zurechenbarkeit mit wachsender Komplexität der Handlung schrumpft, solange alles andere gleich bleibt. Genauer gesagt gilt, dass es für jede Akteurin S und jede nicht grundlegende Handlung φ, die sie vornimmt, eine grundlegendere (oder weniger komplexe) Handlung gibt, welche S als einen Teil von φ vornimmt. Beispielsweise schaltet S das Licht an, indem sie den Schalter umlegt; das Umlegen des Schalters ist grundlegender als das von ihr durchgeführte Anschalten des Lichtes. Je grundlegender die Handlung ist, desto weniger externe Bedingungen müssen für den Erfolg erfüllt sein. Beispielsweise legt S den Schalter erfolgreich um, auch wenn die Glühbirne nicht leuchtet, doch muss die Glühbirne leuchten, damit sie das Licht eingeschaltet hat. Folglich ist dann, wenn in der komplexeren Handlung Raum für Misserfolg verbleibt – weil etwa die Glühbirne nicht funktioniert –, die Gruppe möglicher Fallgestaltungen, in der die Akteurin die komplexere Handlung vornimmt, kleiner als die Gruppe der korrespondierenden möglichen Welten, in der sie die grundlegendere Handlung vornimmt (im Extremfall würde die Zurechenbarkeit ihr Höchstmaß in einer korrespondierenden, nichtkomparativen Grundhandlung erreichen). Der Unterschied des jeweiligen Maßes an Zurechenbarkeit in den Erfolg-Misserfolg-Paaren instanziiert diesen grundsätzlichen Gedanken – das heißt, dass rβ größer ist als rα , weil β grundlegender ist als α und es keinen Unterschied zwischen A β im Erfolg und B β im Misserfolg gibt. rα soll der Koeffizient sein, der für das konkrete Maß von A’s Verantwortlichkeit für ihr α steht, und rβ soll der korrespondierende Koeffizient sein, der für das Maß von B’s Verantwortlichkeit für ihr β steht, und es sollen beide Koeffizienten (rα und rβ) auf die korrespondierenden Verlässlichkeitsvariablen reduziert sein. Meiner obigen Argumentation nach kann rβ als das Maß an Häufigkeit verstanden werden, mit der die Akteurin β innerhalb der relevanten Vergleichsgruppe möglicher Fallgestaltungen mit hinreichendem Grund für β tut. Der Koeffizient rα wiederum steht für das Maß an Häufigkeit, mit der die Handelnde α innerhalb derselben Vergleichsgruppe tut. Da die Gründe für α und β identisch sind, ist die Gruppe mit hinreichendem Grund für α identisch mit der Gruppe von Fallgestaltungen mit hinreichendem Grund für β. Da die Akteurin α nur tun kann, indem sie β als Teil davon tut, ist die Gruppe von Fallgestaltungen, in welchen die Akteurin α tut, ihrerseits eine Untergruppe der Gruppe von Welten, in welchen sie β tut. Es soll die Variable rα|β für das Verhältnis der Anzahl von α-Verhalten zur Anzahl von β innerhalb der Vergleichsgruppe möglicher Fallgestaltungen, oder den Bruchteil von β, der zugleich auf α innerhalb dieser Gruppe zutrifft, stehen. Die Variable rα|β steht folglich für den Grad, in dem die Zurechenbarkeit
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von A’s α niedriger ist als die korrespondierende Zurechenbarkeit von B’s β. Denn wenn rβ die Häufigkeit von β innerhalb einer beliebigen Gruppe möglicher Fallgestaltungen ist und rαdie Häufigkeit der α-Handlung innerhalb derselben Gruppe beschreibt und wenn die Häufigkeit der α-Handlung von der Häufigkeit der β-Handlung abhängt (denn ein Fall von α kann nur gegeben sein, wenn ein Fall von β gegeben war, aber nicht umgekehrt), dann können wir durch Anwendung einfachster Wahrscheinlichkeitsrechnung rα als Produkt von rβ multipliziert mit der relativen Häufigkeit von α zu β, rα|β, berechnen. Also: rα= rβ x rα|β. Die Variable rα|β ist folglich eine Art Abschlagskoeffizient, der, multipliziert mit rβ, rα ergibt. In diesem Sinne behaupte ich, dass rα|β für den Grad steht, in dem die Zurechenbarkeit von As α im Erfolg niedriger ist als die korrespondierende Zurechenbarkeit von Bs β im Misserfolg. Um meine Argumentation für die überkommene Sichtweise zu vervollständigen, werde ich als nächstes eine Konzeption von Unrecht vorstellen, der zufolge das durch B’s β-Verhalten verwirklichte Unrecht geringer ist als das durch A’s α-Verhalten verwirklichte Unrecht, und zwar in einem Grad, der dem Unterschied in der Zurechenbarkeit, welcher durch rα|β repräsentiert wird, entspricht.
VI. Reduziertes Unrecht Ich behaupte, dass die natürlichste Erklärung des Unrechts des aktionalen Mittels einer unrechten Handlung – d. h. das Unrecht einer Handlung, das zu einer anderen unrechten Handlung steht wie β zu α – die zwei folgenden Behauptungen umfasst. Erstens ist das Unrecht des aktionalen Mittels derivativer Natur: Das aktionale Mittel ist unrecht, weil die weniger grundlegende Handlung, worauf sich das Mittel bezieht, unrecht ist. Zweitens ist der Weg, über den dieses derivative Unrecht abgeleitet wird, irgendeine Art von Wahrscheinlichkeit, sodass das aktionale Mittel die weniger grundlegende, nicht-derivate unrechte Handlung wird. Hinsichtlich des aktionalen Mittels β und der unrechten Handlung α, für die β das aktionale Mittel darstellt, kann diese natürliche Sichtweise in folgende Worte gefasst werden: Wenn Uα für das durch α verwirklichte Unrecht steht, dann ist das Maß an Unrecht durch β, oder Uβ, eine Funktion von Uα und der konditionalen Wahrscheinlichkeit, mit welcher die Akteurin α erreicht, nachdem sie β getan hat. w sei das Maß dieser konditionalen Wahrscheinlichkeit (die sich zwischen 0, d. h., dass β sicher nicht zu α führt, und 1, d. h., dass β notwendig zu α führt, variiert) und deshalb Uβ = w x Uα. Dieser Sichtweise nach variiert dann das Unrecht eines aktionalen Mittels β zu einer unrechten Handlung α mit der Wahrscheinlichkeit, mit der eine Akteurin α verwirklicht, sobald sie β getan hat. Je wahrscheinlicher es ist, dass ein β-Verhalten sich als α-Verhalten herausstellt, desto größer ist das Unrecht für die Akteurin, β zu tun. In den Extremen, wo das Tun von β keinerlei Chance hat, die unrechtsbegründende Handlung α zu bewirken, stellt es kein de-
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rivatives Unrecht für die Akteurin dar, β zu tun; und wo das Tun von β notwendig α bewirkt, ist es nicht weniger unrechtsbegründend für die Akteurin, β zu tun, als α zu tun. In dieser Erklärung des derivativen Unrechts ist Wahrscheinlichkeit weder als rein objektive physische Wahrscheinlichkeit noch als rein subjektive Wahrscheinlichkeit im Sinne eines bestimmten Grades an Zuversicht zu verstehen. In der Tat ist es zulässig, von Wahrscheinlichkeit, so wie wir den Begriff bereits an früherer Stelle in der Erklärung gebraucht haben, zu sprechen, obwohl die Wirklichkeit deterministisch ist. Es lässt sich zum Beispiel sagen, dass ich eine Wahrscheinlichkeit w (wobei w einen Wert zwischen 0 und 1 aufweist) schaffe, Sie zu töten, indem ich mit Ihnen russisches Roulette spiele, oder dass ein Schuss auf Sie, nachdem ich die Waffe auf ihre volle Ladung überprüft habe, eine höhere Wahrscheinlichkeit Ihrer Tötung schafft als das bloße russische Roulette; ungeachtet des tatsächlichen Ausgangs des Geschehens, und das selbst dann, wenn der Ausgang durch den physikalischen Verlauf und die Naturgesetze festgelegt ist. In diesem Sinne zu behaupten, dass ein bestimmtes Ereignis eine gewisse Wahrscheinlichkeit in sich birgt, dass ein weiteres bestimmtes Ereignis darauf folgt, ist Ausdruck der Ungewissheit darüber, wie sich die Wirklichkeit entwickeln wird. Damit ist jedoch andererseits nicht gesagt, dass die Sprache der Wahrscheinlichkeit, so wie sie in dieser Erklärung des Unrechts gebraucht wird, eine rein subjektive Angelegenheit ist. Indem ich mit Ihnen russisches Roulette spiele, handele ich derivativ unrechtsbegründend, da ich Sie in diesem Spiel mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit töten werde. Gleichwohl ist das Töten selbst nichtderivatives Unrecht. Nun verübe ich Unrecht in diesem Sinne an Ihnen, indem ich russisches Roulette spiele, selbst wenn ich unvernünftigerweise überzeugt davon bin, dass ich Glück haben werde, ja selbst wenn ich fest davon überzeugt bin, dass Sie als Resultat des Schusses nicht sterben werden. In demselben Sinne verübe ich kein Unrecht Ihnen gegenüber, wenn ich Sie durch das Einstechen von Nadeln in eine Voodoo-Puppe zu töten versuche, weil ich keinerlei Chance habe, Sie durch die Nadelstiche zu töten, selbst wenn ich unvernünftigerweise glaube, durch die Nadelstiche mit gewisser Wahrscheinlichkeit Ihren Tod herbeizuführen. Insbesondere können wir die Wahrscheinlichkeitsvariable w als Maß der Häufigkeit verstehen, mit der die nichtderivativ unrechtsbegründende Handlung α innerhalb der Vergleichsgruppe möglicher Fallgestaltungen, in der die Akteurin wie in der Wirklichkeit β tut, auftritt. Diese Vergleichsgruppe sollte so eingeschränkt sein, dass sie die relevante Art der Ungewissheit widerspiegelt, die durch Wahrscheinlichkeitsurteile ausgedrückt werden kann. Nehmen Sie an, S schlägt Sie auf die Nase und Ihre Nase beginnt zu bluten, und wir wollen die Wahrscheinlichkeit berechnen, mit der S Ihre Nase durch den Schlag zum Bluten bringt. Wenn wir innerhalb der Gruppe von Fallgestaltungen, die mit der Wirklichkeit in jeder kausal relevanten Hinsicht bis zum Zeitpunkt des Schlages identisch sind,
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die Häufigkeit betrachten, mit der S Ihre Nase durch den Schlag zum Bluten bringt, dann werden wir eine Häufigkeit ermitteln, die der objektiven, physischen Wahrscheinlichkeit entspricht, oder, wenn die Fallgestaltung deterministisch ist, werden wir feststellen, dass S Ihre Nase in jeder Fallgestaltung durch den Schlag zum Bluten bringt. Um also die Art der Wahrscheinlichkeit zu erfassen, die sich bei ermäßigtem Unrecht auswirkt, sollten wir die Einschränkung der möglichen Fallgestaltungen anpassen, indem wir uns von einer für die Wirklichkeit kausal relavanten Identität weg- und zu so etwas wie einer wahrgenommenen Identität aus der gegebenen Sichtweise der Akteurin hinbewegen. Lassen Sie uns diese letztere Gruppe möglicher Fallgestaltungen als Gruppe von Fallgestaltungen bezeichnen, die praktische Äquivalente der Wirklichkeit sind. Praktische Äquivalenz steht im Verhältnis zu einer gegebenen Art von Handlung und dem Standpunkt der Akteurin. Folglich ist die mögliche Fallgestaltung f hinsichtlich der Handlung „Ihre Nase durch einen Schlag zum Bluten zu bringen“ und aus Sichtweise der S dann – und nur dann – praktisch äquivalent zur Wirklichkeit, wenn S in f eine ebenso günstige Gelegenheit zum Blutigschlagen Ihrer Nase findet, wie dies in der Wirklichkeit der Fall ist. Anders formuliert ist f hinsichtlich dieser Art von Handlung und aus Sichtweise der S praktisch äquivalent zur Wirklichkeit, weil es S, sofern sie Ihre Nase bluten lassen wollte, völlig gleichgültig wäre, ob sie sich in f oder in der Wirklichkeit befindet. Praktisch äquivalente Fallgestaltungen können sich stark unterscheiden. Sie können sich sowohl hinsichtlich der für die Vergleichsakteurin epistemisch unverfügbaren Merkmale unterscheiden – wie etwa geringe praktischen Fähigkeiten zum Bogenschießen oder die mangelnde Verfügbarkeit geheimer Dokumente – als auch hinsichtlich jeglicher anderer verfügbarer Merkmale, die aus Sicht der Vergleichsakteurin keinerlei Einfluss auf die Erfolgsaussichten der Handlung haben. Indem wir die Vergleichsgruppe möglicher Welten auf die zur wirklichen Welt praktisch äquivalenten Welten beschränken, sorgen wir dafür, dass das Wahrscheinlichkeitsurteil die epistemischen Begrenzungen der Vergleichsakteurin spiegelt (also der Akteurin, deren epistemische Fähigkeiten wir zur Bestimmung praktischer Äquivalenz berücksichtigen), sodass das ermittelte Maß an Wahrscheinlichkeit der physischen, objektiven Wahrscheinlichkeit (wenn es so etwas denn gibt) umso näher kommt, je epistemisch potenter die Vergleichsakteurin ist. Unklar ist mir, wer die relevante Vergleichsakteurin sein sollte. In Betracht kommt entweder die Akteurin, deren Handlung bewertet wird, oder jemand anderes – vielleicht etwa eine ideale, „vernünftige“ Akteurin; allerdings neige ich zu ersterer Möglichkeit. Die Wahl der wirklichen Akteurin für die relevante Akteurssichtweise entspricht der Theorie, dass moralische Gründe im Allgemeinen und unrechtsstiftende Faktoren im Besonderen von der kognitiven Kapazität der Akteurin umfasst sein müssen, deren Verhalten sie zu steuern beanspruchen. All-
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gemein sind Urteile über Recht und Unrecht, wie Jonathan Dancy argumentiert hat, abhängig von einem bestimmten Satz von Fakten; und moralische Urteile stehen insbesondere in Abhängigkeit von dem Satz an Fakten, die der Akteurin epistemisch zugänglich sind. Der Grund hierfür ist, dass etwas, um als moralischer Grund zu zählen, für uns „der praktischen Relevanz fähig“ sein muss.28 Indem wir die Sichtweise der Akteurin als Kriterium der praktischen Äquivalenz möglicher Fallgestaltungen berücksichtigen, stellen wir sicher, dass der sich ergebende unrechtsstiftende Faktor – also die Wahrscheinlichkeit, dass die Handlung sich als „Ihre-Nase-bluten-Lassen“ herausstellt – der Akteurin zugänglich ist und deshalb eine Rolle in der Leitung ihres Verhaltens spielen kann.
VII. Abschluss der Argumentation Ich möchte meine Verteidigung der überkommenen Sichtweise nun vervollständigen, indem ich argumentiere, dass in Erfolg-Misserfolg-Paaren der Grad, um den die Zurechenbarkeit von A’s α-Handlung geringer ist als das korrespondierende Zurechenbarkeitsmaß von B’s β-Handlung, sich äquivalent zu dem Grad verhält, zu dem β weniger unrecht ist als α – oder warum, formal betrachtet, w = rα|β ist.
Sowohl rα|β als auch w können als Ausdruck des Verhältnisses der Anzahl von α-Verhaltensweisen zur Anzahl von β-Verhaltensweisen innerhalb einer passend beschränkten Gruppe von Fallgestaltungen verstanden werden. Die Variable w drückt das Verhältnis der Anzahl an Fallgestaltungen, in denen die Akteurin α tut, zu der Anzahl möglicher Fallgestaltungen in der Gruppe möglicher Fallgestaltungen aus, die zur Wirklichkeit hinsichtlich α und aus Sicht der Akteurin praktisch äquivalent sind (wobei die Wirklichkeit hier jene Fallgestaltung ist, in der der Misserfolg eintritt) und in welchen die Akteurin β tut. Diese Referenzgruppe sei im Folgenden W genannt. Die Variable rα|β wiederum steht für das Verhältnis der Anzahl an Fallgestaltungen, bei denen die Akteurin α tut, weil sie Grund hat, α zu tun, zu der Anzahl möglicher Fallgestaltungen in der Gruppe möglicher Fallgestaltungen, in welchen die Akteurin hinreichenden Grund hat, α zu tun, und deshalb β tut. Diese letztere Gruppe sei folgend R genannt. Diese beiden Gruppen, W und R, sind zueinander identisch – und folglich drücken rα|β und w identische Verhältnisse aus –, wenn die Merkmale des Verhaltens der Akteurin, die das α-Etikett aufgreift, sich so darstellen, dass (i) die Akteurin α nur tun kann, wenn sie Grund dazu hat, und (ii) das Tun von α bedeutet, dass die Akteurin (indem sie β tut) gewisse kausale Vorstellungen über die Aussicht ihrer Erreichung von α pflegt – sodass die Akteurin bei relevant unterschiedlichen Vorstellungen nicht α (oder β) tun würde. 28 Vgl.
Dancy, Practical Reality, 2000, S. 56 ff.
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Tatsächlich sorgt Bedingung (i) dafür, dass in jeder Fallgestaltung, in der die Akteurin α (und dabei das aktionale Mittel dazu, also β) tut, sie dies in Reaktion auf einen Grund für α tut. Damit sorgt Bedingung (i) auch dafür, dass jede Fallgestaltung in W auch zu R gehört. Bedingung (ii) wiederum sorgt für das Umgekehrte, nämlich dafür, dass jede Fallgestaltung in R auch zu W gehört; denn jede mögliche Fallgestaltung, in der die Akteurin aus einem Grund α tut (oder nur β), ist eine Welt, die praktisch äquivalent ist zur tatsächlichen Wirklichkeit hinsichtlich α und der Wirklichkeit aus Sicht der Akteurin. Bedingungen (i) und (ii), so behaupte ich, sind in jedem Fall erfüllt, wenn mit Vorsatz oder in unrechtsbegründender Weise ein Erfolgsfall herbeigeführt wird. Das beruht auf zwei Annahmen. Die erste Annahme ist, dass dann, wenn eine Akteurin etwas vorsätzlich tut, sie dies aus einem Grund tut.29 Wenn also „α“ eine vorsätzliche Handlung beschreibt (d. h. eine Handlung, die nach der α-Beschreibung vorsätzlich ist), dann gibt es keine Fallgestaltung, in welcher die Akteurin α tut (oder das aktionale Mittel dazu, also β), ohne dies aus einem Grund zu tun. Folglich ist Bedingung (i) erfüllt. Die zweite Annahme ist, dass, wenn α eine vorsätzliche Handlung beschreibt, damit impliziert wird, dass die Akteurin (indem sie β tut) mit bestimmten Vorstellungen handelt, insbesondere der Aussicht, α zu erreichen.30 Also ist jede mögliche Fallgestaltung, in welcher die Akteurin α tut (oder nur β), eine Fallgestaltung, in welcher sie (indem sie β tut) dieselben Vorstellungen über die Aussichten der Erreichung von α pflegt, und ebenso eine Fallgestaltung, in welcher die Grundlagen für diese Vorstellungen im Wesentlichen die gleichen sind. Mit „Grundlagen“ meine ich die Merkmale der Fallgestaltung, wegen derer die Akteurin glaubt, sie werde (mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit) α erreichen, wenn sie β getan hat. Dies sorgt dafür, dass jedes Merkmal der Wirklichkeit, das aus Sicht der Akteurin kausal relevant für ihre Erreichung von α ist, in jeder möglichen Fallgestaltung vorliegt, in der die Akteurin α (und damit auch oder lediglich β) tut. Mit anderen Worten ist jede mögliche Fallgestaltung, in der die Akteurin α tut, hinsichtlich α und aus Sicht der Akteurin praktisch äquivalent zur Wirklichkeit (in der die Akteurin α getan hat). Folglich ist Bedingung (ii) erfüllt. Wenn meine Behauptung zutrifft, repräsentieren die Variablen rα|β und w notwendigerweise äquivalente Verhältnisse, zumindest dann, wenn dasjenige, wofür die Akteurin zu tadeln ist – also die Handlungen, die durch „α“ und “β“ beschrieben werden – vorsätzliche Handlungen sind. In diesem Bereich wird also die überkommene Sichtweise, dass erfolgreiche Täter nicht härter zu tadeln sind als 29 Für die Beziehung zwischen vorsätzlichem Handeln und dem Handeln aus einem Grund vgl. Davidson, Essays on Actions & Events, 1980, S. 6; Audi, The Philosophy of Action, 1997, S. 75 ff. 30 Vgl. Mele/Moser (Fn. 25), S. 240 f.
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ihre gescheiterten Gegenüber, auf Grundlage meiner dargelegten Argumentation zutreffend sein. Lassen Sie mich abschließend meine Argumentation zusammenfassen. Am Beginn stehen die Annahmen, dass in Erfolg-Misserfolg-Paaren die erfolgreiche Akteurin größeres Unrecht verwirklicht als ihr erfolgloses Gegenüber und dass das Ausmaß an begangenem Unrecht sich im Grad der Vorwerfbarkeit der Akteurin niederschlägt. Weiter argumentiere ich, dass Vorwerfbarkeit nicht nur eine Funktion des Ausmaßes des begangenen Unrechts, sondern auch des Grades der Zurechenbarkeit der unrechten Tat zur Akteurin ist. Demnach können wir die überkommene Sichtweise unter Anwendung des Nozickschen Rahmens rφ x Fφ im Sinne der folgenden Gleichung verstehen: (1) rα x Uα= rβ x Uβ Die linke Seite dieser Gleichung drückt das Ausmaß von A’s Vorwerfbarkeit für ihr α-Verhalten im Erfolg aus, bestimmt durch den Wert des durch das α-Verhalten verwirklichten Unrechts (Uα) multipliziert mit dem Koeffizienten, welcher den Grad an Zurechenbarkeit (rα) repräsentiert, oder: rα x Uα. Auf der rechten Seite finden wir den Ausdruck von B’s Grad an Vorwerfbarkeit für ihr β-Verhalten im Misserfolg, korrespondierend bestimmt durch rβ x Uβ. Die orthodoxe Sichtweise trifft zu, behaupte ich, weil die Differenz zwischen den Zurechnungskoeffizienten (rα und rβ) die Differenz zwischen dem von der einen und dem von der anderen Akteurin begangenen Unrecht ausgleicht. Ich interpretiere die Zurechnungskoeffizienten (rα und rβ) in Gleichung (1) so, dass sie lediglich das Maß an Verlässlichkeit des Tuns jeder Akteurin reflektieren – die andere Dimension von Zurechenbarkeit, die Reaktivität, ist zwischen dem einen und dem anderen Fall konstant. Demnach sind sie als Ausdruck eines Maßes zwischen 0 und 1 zu verstehen. Dieses Maß steht für die Häufigkeit, mit der die fragliche Handlung innerhalb einer gegebenen Gruppe möglicher Fallgestaltungen auftritt. Der Koeffizient rα in Gleichung (1), so behauptete ich, ist ein Bruchteil des Koeffizienten rβ und kann, so schlug ich vor, gekürzt oder vereinfacht werden zu dem Produkt von rβ x rα|β, wobei rα|β für das Verhältnis der Anzahl von Handlungen des Typs α zur Anzahl von Handlungen des Typs β innerhalb der relevanten Gruppe möglicher Fallgestaltungen steht. Zusammen mit der Behauptung, dass rα = rβ x rα|β ergibt Gleichung (1): (2) rβ x rα|β x Uα = rβ x Uβ die daraus folgende einfachere Gleichung ergibt: (3) rα|β x Uα = Uβ Ich meine, dass das Unrecht von B’s β-Handlung als Derivat des Unrechts von α verstanden werden sollte, und sein Maß als Bruchteil des Werts des durch α
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begangenen Unrechts. Genauer meine ich, dass der Wert des durch β begangenen Unrechts jenem entspricht, was durch α abzüglich eines Abschlags für die Wahrscheinlichkeit der Erreichung von α durch die β-Handlung begangen wird. Wenn wir w als Abschlagskoeffizienten verstehen, der für das Maß dieser Wahrscheinlichkeit steht, dann können wir das Unrecht von Bs β ausdrücken als Uβ= w x Uα.
Die Ersetzung von Uβ in Gleichung (3) mit seinem äquivalenten Ausdruck führt zu: (4) rα|β x Uα = w x Uα , woraus wiederum folgt: (5) rα|β = w Wie (5) zeigt, hängt meine Argumentation letztlich von der Vertretbarkeit der Annahme ab, dass die durch den Koeffizienten rα|β repräsentierte Häufigkeit äquivalent zum Maß w der Wahrscheinlichkeit ist, mit der die Akteurin α erreicht, wenn sie β getan hat. Ich behaupte, dass dies zumindest dann der Fall ist, wenn das α-Etikett für ein vorsätzliches, unrechtsbegründendes Tun steht.
VIII. Einige Einwände Bevor ich mein Fazit ziehe, möchte ich einige mögliche Einwände diskutieren. Ich beginne, indem ich die Kritik aufgreife, die meine Darstellung von Unrecht ablehnt. Betrachten wir hierzu zunächst die Sichtweise, die bestreitet, dass irgendein Unrecht durch das aktionale Mittel einer unrechten Tat geschaffen wird, bzw. dass das Unrecht eines Tuns α, woraus auch immer es herrührt, nicht auf sein aktionales Mittel übertragen wird. Nehmen Sie eine Version des Erfolg-Misserfolg-Paares, in dem A und B versuchen, Victor durch einen Schuss zu töten; A gelingt es und B scheitert. Wenn, wie ich annehme, Unrecht aus Vorwerfbarkeit folgt, impliziert diese Ansicht, dass Akteure wie B, die ein ernsthaftes Unrecht versuchen und scheitern, nicht zu tadeln sind. Ich betrachte diese Schlussfolgerung als höchst unplausibel und folglich als Grund dafür, meine Darstellung nicht zugunsten dieser Gegenansicht aufzugeben. Man könnte allerdings die unplausible Schlussfolgerung vermeiden, indem man die Annahme hinsichtlich der Beziehung zwischen Vorwerfbarkeit und unrechtem Tun überarbeitet und damit Raum dafür schafft, Urteile über Vorwerfbarkeit bei Nichtvorliegen von unrechtem Tun zu treffen. Wenngleich möglich,31 31 Zimmerman zum Beispiel behauptet sowohl, dass Vorwerfbarkeit nicht von Unrecht abhänge, als auch, dass der Versuch, Unrecht zu begehen, für sich kein Unrecht darstelle. Vgl. Zimmerman (Fn. 2), S. 560 f.; ders., American Philosophical Quarterly 34 (1997), S. 229 ff.
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so verlangt dieses Vorgehen einen Preis. Denn es beseitigt die Identität zwischen dem, was wir als das bezeichnen würden, wofür die Akteurin zu tadeln ist, und dem, kraft dessen sie zu tadeln ist. Nehmen Sie zur Illustration wieder die Version des Erfolg-Misserfolg-Paares, in dem sowohl A als auch B versuchen, Victor zu töten, A dies gelingt, B jedoch scheitert. Die Fälle beschreiben Episoden im Leben der Akteurinnen – ihre jeweiligen Versuche, Victor zu töten –, die uns zu dem Urteil führen, dass beide Akteurinnen zu tadeln sind. Bei dem Urteil, dass eine Akteurin vorwerfbar gehandelt hat, wird von uns erwartet, dass wir dasjenige nennen, was der Akteurin vorzuwerfen ist. In meinen Fällen wird, so nehme ich an, die selbstverständliche Antwort sein, dass A für die vorsätzliche vollendete und B für die versuchte Tötung Victors zu tadeln ist. Die beste Beschreibung dessen, was wir beim Formulieren dieser „für“-Sätze tun, ist, dass wir die Grundlage des Vorwerfbarkeitsurteils benennen, welches wir gerade getroffen haben; d. h. wir bezeichnen die Merkmale des Falles, kraft derer die Akteurin vorwerfbar gehandelt hat. Nach dieser Beschreibung sollte das, was wir als Basis des Urteils im „für“-Satz anbieten, erklären, warum die Akteurin Tadel verdient. Diese Erwartungen erfüllen wir mit der Aussage „S ist für φ-Verhalten zu tadeln“ dann, wenn wir implizieren, dass es moralisch falsch ist, φ zu tun. Denn der Umstand, dass φ-Verhalten moralisch verwerflich ist, würde in der Tat den Umstand erklären, dass S den Vorwurf verdient. (Der Umstand, dass das φ-Verhalten S’ eigenes Tun ist, würde den Umstand erklären, dass es S ist, die den Vorwurf verdient.) Wäre S’ φ-Verhalten nicht falsch, wäre es etwa eine Handlung höchsten moralischen Ranges, so wäre es irreführend zu sagen, dass S das φ-Verhalten vorwerfbar ist. Mein Standpunkt ist insgesamt der, dass unsere intuitive Antwort „B ist die versuchte Tötung Victors vorwerfbar“ Sinn ergibt, gerade weil es für B Unrecht darstellt, die Tötung Victors zu versuchen.32 Indem wir bestreiten, dass Handlungen wie B’s Versuch, Victor zu töten, Unrecht darstellen, lassen wir die intuitive Antwort, „B ist die versuchte Tötung Victors vorwerfbar“, bedeutungslos werden. Wenn wir an der intuitiv plausiblen Ansicht festhalten, dass Akteurinnen wie B vorwerfbar handeln, liegt deshalb meines Erachtens die folgerichtige Erklärung darin, die Handlung selbst zu Unrecht zu erklären, da die Realisierung des Versuchs Unrecht wäre. Die Gegenauffassung, die B vom Verdikt der Vorwerfbarkeit befreien will, ist dem Einwand ausgesetzt, dass dabei ein wesentliches Merkmal unseres moralischen Diskurses außer Acht gelassen wird, nämlich die
32 Diese Sichtweise des so verdienten Vorwurfs wird vertreten von Copp (Fn. 10), S. 448 ff.
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obigen natürlichen „für“-Sätze in unseren Urteilen über die Beschuldigungswürdigkeit. Alternativ könnte zur Begründung des Unrechts des Versuchs auf das Bewusstsein der Akteurin, dass sie etwas tut, was sie nicht tun soll, abgestellt werden – anstelle der Wahrscheinlichkeit der nicht-derivativen unrechten Handlung. Alec Walen hat argumentiert, es gebe etwas, was er „unerlaubte Vorsätze“ nennt, also Vorsätze, die wir nicht fassen oder ausführen sollten, sodass wir Unrecht tun, wenn wir auf Grundlage eines unerlaubten Vorsatzes handeln, auch wenn die daraus hervorgehende Handlung selbst eine solche ist, die mit einem anderen (erlaubten) Vorsatz zulässig wäre.33 Das Unrecht der versuchten Tat kann nach Walens Sichtweise folgendermaßen formuliert werden: „[…] weil ein Akteur die Begehung einer Straftat auf Grundlage eines unerlaubten Vorsatzes versucht, handelt er rechtswidrig.“34 Ein Vorsatz ist Walen zufolge unerlaubt, wenn er den Akteur „bereit [werden lässt], Handlungen vorzunehmen, deren Unzulässigkeit sich unabhängig davon feststellen lässt.“35 Im Misserfolgsfall (etwa: „Tötung Victors“) ist B’s Vorsatz deshalb unerlaubt, weil B einen solchen Vorsatz durch die Tötung Victors ausführen würde (in Abwesenheit rechtfertigender Umstände) und weil die Tötung Victors (in Abwesenheit rechtfertigender Umstände) unabhängig vom Vorsatz des Tötenden Unrecht ist. B’s Versuch, Victor zu töten, ist demnach kraft ihres Handelns auf Grundlage eines unerlaubten Vorsatzes Unrecht und daher durchaus unabhängig von dem, was sie Victor außerdem antut. Der Ansatz, das Unrecht des Versuchs in der Betätigung eines unerlaubten Vorsatzes zu sehen, kann jedoch deshalb nicht überzeugen, weil er unfähig ist, eine wichtige Dimension des Versuchs zu erfassen, namentlich das Setzen von Risiken. Sicherlich macht es einen großen Unterschied, ob B die Tötung Victors versucht, indem sie mit ihm russisches Roulette spielt oder indem sie Nadeln in eine Voodoo-Puppe steckt, obwohl sie in beiden Fällen denselben Vorsatz zur Tötung Victors aufweist.36 In jedem Fall macht es einen großen Unterschied im 33 Vgl. Walen, Philosophy & Public Affairs 34 (2006), S. 39 – 67. Walen unterscheidet begrifflich zwischen Unrecht und Unerlaubtheit, eine Unterscheidung, die ich nicht zu treffen brauche. Die in diesem Aufsatz gebrauchten Begriffe „moralisches Unrecht“ und „moralisch falsch“ sind synonym zu verstehen. 34 Ebd., S. 66 f. 35 Ebd., S. 39. Dies ist eine sehr grobe Beschreibung von Walens Argument. Vgl. ebd., S. 50 ff. 36 In dem einen und dem anderen Fall hat B jeweils unterschiedliche Überzeugungen, die sie dazu verleiten, unterschiedliche Maßnahmen zur vorsätzlichen Tötung von Victor zu ergreifen. Mit gegebenem Vorsatz und unterschiedlichen Überzeugungen Victor zu töten, wird B zu einer Konkretisierung ihres jeweiligen Tötungsvorsatzes bewegt, der sich darauf bezieht, welche Tötungsmittel sie genau einsetzen will. Auf der Stufe, auf der
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Strafrecht, und ich sehe keinen Grund dafür, dass dieser rechtliche Unterschied nicht auch einen moralischen Unterschied widerspiegeln würde.37 Zumindest ist es eine kontraintuitive Behauptung, dass, sofern alles andere gleich bleibt, es für eine Akteurin zulässig sein soll, für ein nicht einverstandenes Opfer eine Chance von eins zu sechs auf den sofortigen Tod zu schaffen, wie es im Beispiel des russischen Roulette der Fall ist. Die plausiblere Sichtweise ist daher, wie Judith Thomson überzeugend argumentiert hat, dass man ein solches Risiko nicht setzen sollte, und zwar durchaus unabhängig von den eigenen Überzeugungen und Vorsätzen.38 Ich meine damit nicht, dass diese Antwort frei von Problemen ist, wie Thomson treffend bemerkt.39 Aber das Gleiche gilt jedenfalls auch für die Gegenansicht, welche die unrechtsstiftende Natur der Risikosetzung bestreitet. Meine Darstellung des Unrechts von Versuchen wie der durch B versuchten Tötung Victors zeigt, dass es für B Unrecht ist, die Tötung Victors zu versuchen, weil sie Victor nicht töten soll und der Versuch der Tötung Victors das aktionale Mittel zur Erreichung des Tötungserfolgs ist. Das Unrecht aktionaler Mittel im Allgemeinen und von Versuchshandlungen im Besonderen in diesem Sinne zu verstehen, deckt sich mit der Annahme, das eigentliche Unrecht in der Risikosetzung zu sehen. In der Tat ist Teil dessen, was eine Handlung β zum aktionalen Mittel einer Handlung α macht, der Umstand, dass β α wahrscheinlich(er) macht. Wenn aus α folgt, dass irgendein Erfolg eintritt, wie etwa ein Schaden zum Nachteil eines anderen, sprechen wir von dieser Wahrscheinlichkeit als Risiko des Erfolgseintritts. Der Versuch der Tötung Victors durch B ist demnach Unrecht, weil die Tötung Victors Unrecht ist und weil B, indem sie die Tötung Victors versucht, eine Wahrscheinlichkeit schafft, dass Victor durch diese Handlung stirbt – weil sie also Victor durch die versuchte Tötungshandlung einem Todesrisiko aussetzt. Man mag mir zustimmen hinsichtlich der Erklärung des Unrechts von β und dennoch bestreiten, dass α stärkeres Unrecht begründet als β. In der Einleitung bezeichne ich diese Position als die „Behauptung gleichen Unrechts“. Ich nehme von vornherein an, dass diese Behauptung falsch ist. In der Tat war es zum Teil diese Behauptung, die meine Untersuchung motiviert hat. Denn wäre die Behauptung gleichen Unrechts nicht fehlerhaft, so würde sie eine solide Grundlage für die überkommene Ansicht liefern. Ein weiterer Einwand, dem ich nun nachgehen möchte, zielt weniger darauf ab, dass mein Unrechtsverständnis des Versuchs einer Tat falsch sei, sondern eher darauf, dass meine Argumentation letztlich nur eine andere Behauptung gleichen Unrechts sei. sie sich für ein bestimmtes Tötungsmittel entschieden hat, wird der Vorsatz schließlich konkretisiert sein und sich von anderen Vorsätzen in anderen Fallkonstellationen unterscheiden. 37 Vgl. Dressler, Understanding Criminal Law, 2. Aufl. 1995, S. 370 ff. 38 Vgl. Thomson (Fn. 5), S. 173 ff. 39 Ebd., S. 184 ff.
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Diese Bedenken könnten auf die Annahme zurückzuführen sein, dass mein Argument, wonach im ersten Schritt die Zurechenbarkeit des Erfolgs im Erfolgsfall gegenüber dem Misserfolgsfall und im zweiten Schritt das Unrecht des Misserfolgsfalls gegenüber dem Erfolgsfall reduziert wird, in zwei Schritten dasjenige vollziehe, was der schlichten Behauptung gleichen Unrechts in einem Schritt gelinge. Die genannte Annahme geht folglich dahin, dass mein Argument nicht mehr sei als eine unnötig komplizierte Darstellung derselben Idee, die auch durch die Behauptung gleichen Unrechts ausgedrückt würde. Träfe dies zu, wäre es mir nicht gelungen, das in der Einleitung versprochene neue Argument zu liefern. Ich hätte lediglich unnötige Komplexität in eines der bestehenden Argumente eingeführt – eines, das ich zudem als falsch bezeichnet habe. Meine Antwort auf diese Bedenken kehrt die Sache um. Denn ich denke, dass nicht mein Argument dasjenige ist, welches zu komplex ist. Vielmehr ist die Behauptung gleichen Unrechts zu simpel. In seiner markanten Einfachheit entgeht ihm etwas Wichtiges – etwas, das mein Argument richtigerweise aufgreift: Die Behauptung gleichen Unrechts leidet letztlich unter derselben Schwäche wie die Sichtweisen, die bestreiten, dass der Versuch als solcher oder die Risikosetzung jemals Unrecht darstellen können. Denn sie erklärt die an sich selbstverständliche Sichtweise der Grundlagen unserer Urteile über Vorwerfbarkeit in Erfolg-Misserfolg-Paaren für bedeutungslos. Wenn die Behauptung gleichen Unrechts beispielsweise proklamiert, dass es allein das Setzen eines Risikos sei, welches das eigentliche Unrecht darstelle, dann belässt sie keinen sinnvollen Raum für die Aussage, dass es gerade die Tötung ist, die dem Täter vorzuwerfen ist. A’s vorwerfbares und daher unrechtes Tun wäre nach dieser Behauptung beschränkt darauf, das Todesrisiko für Victor gesetzt zu haben. Diese Beschränkung stellt allerdings ein Problem dar, weil von einer Unrechtstheorie erwartet wird, dass sie unsere wohlüberlegten Urteile über vorwerfbares Verhalten aufgreift. Ferner scheint es mir so, dass eines dieser wohlüberlegten Urteile besagt, dass es hinsichtlich der vorsätzlichen Tötung Victors durch A gerade die vorsätzliche Tötung Victors (und nicht lediglich die Setzung des Todesrisikos) ist, die A vorzuwerfen ist. Darüber hinaus scheint die Verteidigung der Behauptung gleichen Unrechts nicht ganz schlüssig. Wie in der Einleitung erwähnt, stützt sich die Behauptung gleichen Unrechts sowohl auf die Annahme, dass sich unrechtsstiftende Faktoren innerhalb der kognitiven Reichweite der Akteure bewegen müssen, deren Verhalten sie zu leiten vorgeben, als auch auf die These einer charakteristischen epistemischen Grenze der Akteure. Tatsache ist, dass Akteure immer herausfinden können, was die zu erwartenden Konsequenzen ihrer Handlungen sind, während die tatsächlichen Konsequenzen ihrer Handlungen oft unerkennbar sind. Die Folge ist, dass erkanntes Risiko (oder erwarteter Schaden) als unrechtsstiftendes Moment besser geeignet ist als der tatsächliche Schaden. Wenn wir jedoch
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von Konsequenzen unserer Handlungen wissen können – was schwer bestreitbar scheint –, warum können diese dann nicht in die Gruppe unrechtsstiftender Merkmale aufgenommen werden? Die Behauptung gleichen Unrechts rettet die überkommene Sichtweise letztlich um den Preis, dass wir unseren moralischen Diskurs in einer ungerechtfertigten Weise modifizieren müssen. Mein Argument spiegelt dagegen die natürliche Sichtweise wieder, dass A die Tötung Victors, B dagegen lediglich die Setzung eines Todesrisikos vorzuwerfen ist und dass das letztere Unrecht sich von ersterem Unrecht auf irgendeine Art ableitet. Man könnte dennoch einwenden, dass meine These letztlich nur ein Argument für die überkommene Sichtweise schaffe, das sich nur scheinbar von der Behauptung gleichen Unrechts unterscheide. Schließlich erklärt es die natürliche Sichtweise von Unrecht dadurch, dass es die Abschlagsvariable vom Unrechtsmaß im Erfolgsfall entfernt, dann aber sozusagen durch die Hintertür wieder einführt, wenn es den Grad an Verantwortlichkeit für die erfolgreiche Handlung misst. Diese Bedenken haben zwei Aspekte, zwischen denen ich differenzieren möchte. Der erste betrifft mein Vertrauen auf die Annahme, dass die Verantwortlichkeit für komplexere Handlungen mit Blick auf die Verantwortlichkeit für das aktionale Mittel vergleichsweise gemindert wird. Der zweite Aspekt hat mit der Identität der Maßstäbe zu tun, die ich zur Bestimmung des verringerten Unrechtsgrades des aktionalen Mittels und des verringerten Maßes an Verantwortlichkeit für die komplexere Handlung herangezogen habe. Ich betrachte die Annahme, dass dann, wenn alles andere gleich bleibt, Verantwortlichkeit mit der wachsenden Komplexität einer Handlung abnimmt, als gesichert. So habe ich die Annahme vertreten, dass Zurechenbarkeit zumindest Teil dessen ist, wovon moralische Verantwortlichkeit abhängt, und dass Zurechenbarkeit von dem Grad an Verlässlichkeit des Mechanismus abhängt, durch den die Akteurin handelt. Gleichermaßen unstrittig, denke ich, ist meine Behauptung, dass Zurechenbarkeit mit wachsender Komplexität der vorgenommenen Handlung abnimmt. Der Grund ist simpel: Je komplexer die Handlung ist, desto mehr Bedingungen müssen für ihren Eintritt erfüllt sein. Und je mehr Bedingungen für ihren Eintritt erfüllt sein müssen, desto wahrscheinlicher ist es, dass es nicht zum Eintritt des Erfolges kommt, wenn alle anderen Umstände gleich bleiben. Daraus folgt, dass für jeden beliebigen handlungsproduzierenden Mechanismus mit der wachsenden Komplexität jener Handlung, die der Mechanismus auslöst, eine erhöhte Wahrscheinlichkeit des Scheiterns einhergeht und damit letztlich die korrespondierende Verantwortlichkeit verringert wird. Wenn dieser Befund zutrifft, ist es nicht verwunderlich, dass ich eine Abschlagsvariable in das Maß von Zurechenbarkeit der komplexeren Handlung einführe, die die auf das Maß des Unrechts anwendbare Abschlagsvariable
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nachzeichnet. Ich füge schlicht zwei materielle Merkmale unserer intuitiven moralischen Urteile zusammen – und zwar die natürliche Sichtweise von Unrecht und die Vorstellung von Zurechenbarkeit als abnehmende Funktion der Handlungskomplexität. Es ist die Kombination dieser beiden Merkmale, die dem von mir vertretenen Argument zugunsten der überkommenen Sichtweise Raum schafft. Was dennoch unklar bleiben könnte, ist meine Wahl der konkreten Maßstäbe für das Unrecht aktionaler Mittel und für die relative Zurechenbarkeit der komplexeren Handlung. Zugestanden sei, dass die notwendige Identität der Werte dieser Variablen, welche die von mir vorgeschlagenen Maßstäbe ergeben, als zur Sicherung der traditionellen Schlussfolgerung manipuliert erscheinen mögen. In gewisser Weise trifft das auch zu. Mein Ziel in diesem Aufsatz ist die Darstellung eines Arguments für die überkommene Sichtweise – ein prinzipienbasiertes Argument, das sowohl diese Sichtweise stützt als auch diejenigen Merkmale unseres Moraldenkens aufgreift, die die etablierten Argumente nicht aufzugreifen vermögen. Sowie ich also an den Punkt gelange, an dem mein Argument Maßstäbe benennen muss, um vergleichbare Werte des reduzierten Unrechts und der verringerten Zurechenbarkeit zu liefern, entscheide ich mich für zwei Maßstäbe, welche genau die Schlüsselfunktion erfüllen, die überkommene Schlussfolgerung zu sichern. Das lässt aber mein Argument nicht hinfällig werden, da, wie ich gezeigt zu haben hoffe, meine Wahl nicht ad hoc erfolgt ist. Der Schlüssel zu meiner Analyse der Abstufung, der zufolge das β-Verhalten weniger unrecht ist als das α-Verhalten und rα geringer ist als rβ, hat zwei Teile – einer von diesen ist ziemlich stark, der andere zugegebenermaßen schwächer, sicherlich aber nicht ad hoc. Der erste Teil ist meine Reduktion beider Maße auf eine Häufigkeit von aus β-Verhalten hervorgehendem α-Verhalten innerhalb einer bestimmten Vergleichsgruppe. Der zweite Teil ist die Beschränkung der Vergleichsgruppe in der Weise, dass dann, wenn α eine vorsätzliche Handlung ist, die relevanten Häufigkeiten äquivalent sind. Ich habe bereits genug Raum aufgewendet – selbst im vorliegenden Abschnitt –, um die Sichtweise zu verteidigen, dass wir das Unrecht des aktionalen Mittels (β) zu einer unabhängig unrechten Handlung (α) als Wahrscheinlichkeit verstehen sollten (und das auch tun), dass β in α umschlägt, was plausibel als Häufigkeit begriffen werden kann. Hinsichtlich meines Verständnisses von Zurechenbarkeit (als Funktion von Verlässlichkeit) im Sinne einer Häufigkeit gleicher Abläufe kann ich nur ergänzen, dass ich mir erstens keine bessere Art der Bemessung vorstellen kann – ich kann keine andere Erklärung für unsere Vermutung finden, dass meine Bogenschusslehrerin größere Verantwortung für ihren Schuss ins Schwarze trägt als ich für meinen auf Anfängerglück zurückzuführenden Schuss ins Schwarze. Zweitens fällt meine Analyse der Verlässlichkeitsdimension von Verantwortlichkeit in den Rahmen von Fischers und Ravizzas philosophisch überzeugender Erklärung
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moralischer Verantwortlichkeit als Ansprechbarkeit aus Gründen – tatsächlich ist sie sogar eine Ausweitung dieser Erklärung. Aus diesem Grund behaupte ich, dass dieser Teil meiner Analyse nicht nur nicht ad hoc einleuchtet, sondern vielmehr so fundiert ist, wie man es von einer philosophischen Erklärung erwarten kann. Die Beschränkung der Vergleichsgruppe möglicher Fallgestaltungen, innerhalb derer die relevante Häufigkeit von aus β hervorgehendem α zu messen ist, ist, wie ich zugestanden habe, das schwächste Glied meiner Argumentation; und zwar aus folgendem Grund: Nur weil ich den umstrittenen Schritt getan habe, zur Auswahl der relevanten Gruppen, in denen der Grad an Unrecht des aktionalen Mittels zu messen war, die Sichtweise der Akteurin einzunehmen, ist es mir gelungen, die notwendige Übereinstimmung der relevanten Fallgestaltungen zu finden. Die Übereinstimmung der Fallgestaltungen bezieht sich dabei auf solche, in denen „α“ eine vorsätzliche Handlung bezeichnet, in der die Akteurin einen Grund für α findet und aus diesem Grund β tut. Diese so gefundene Vergleichsgruppe stellt die Gruppe dar, innerhalb derer wir das Maß an Verlässlichkeit messen sollten. Doch gibt es, wie ich argumentiert habe, von der Absicherung der überkommenen Sichtweise unabhängig Gründe dafür, die Position der Akteurin einzunehmen – insbesondere die Idee, dass ein unrechtsbegründendes Merkmal (oder allgemeiner: ein moralischer Grund) der Akteurin, deren Verhalten es leiten soll, epistemisch zugänglich sein sollte. Die Einnahme der Sichtweise der Akteurin bei der Bestimmung des Risikos zeichnet diese allgemeine Idee moralischer Gründe nach. Dies sollte ausreichen, um zu zeigen, dass meine Begründung und Argumentation nicht ad hoc zustandegekommen ist.
IX. Fazit Die Lösung des Problems des „glücklichen Zufalls“ besteht darin, eine Erklärung zu finden, die die überkommene Sichtweise belegt oder widerlegt. Ich habe hier die Aufgabe übernommen, eine Erklärung zugunsten dieser Sichtweise anzubieten, um so die verstörende Situation aufzulösen, dass diese unter Rechtsund Moralphilosophen weit verbreitete Sichtweise einer anerkannten Grundlage ermangelt. Die erste Argumentationslinie zu Begründung der überkommenen Schlussfolgerung ordnet die Frage im Sinne einer bedenklichen Inkonsistenz zwischen glücklichem Zufall und moralischer Verantwortlichkeit ein. Der zweite, in seiner Inkonsistenz weniger offensichtliche Ansatz behauptet, dass das Unrecht einer versuchten und einer erfolgreichen Tat jeweils das gleiche sei. Wenngleich solider als die erste Argumentationslinie, bleiben auch bei diesem Ansatz Zweifel. Neben seinem wenig ansprechenden Unrechtsbegriff kann er letztlich deshalb nicht
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überzeugen, weil er es versäumt, den für die überkommene Sichtweise essentiellen Wertungszusammenhang zwischen Zufall und Verantwortlichkeit argumentativ aufzugreifen. Meine Argumentation stellt diese Frage in einem anderen Licht dar. Indem ich die Dimension der Handlungsmacht, die ich Verlässlichkeit nenne, hervorhebe, erkläre ich die überkommene Sichtweise als Ableitung einer intuitiv ansprechenden Konzeption von Verantwortlichkeit. Dabei handelt es sich um eine Konzeption, die Fragen der Kontrolle – und damit von Glück und von Zufall – berücksichtigt und die mit der sich im ersten Moment aufdrängenden Notwendigkeit, das Unrecht von Handlungen zu erklären, in Einklang zu bringen ist; kurzum: Es handelt sich um eine Konzeption, die sowohl Erfolgseintritt als auch Erfolgsrisiko jeweils als Unrechtsfaktoren beschreibt.
Negative Freiheit, persönliche Autonomie und Verfassung* Von Juan Iosa Juan Iosa Negative Freiheit, persönliche Autonomie und Verfassung Juan Iosa: Negative Freiheit, persönliche Autonomie und Verfassung
I. Einleitung Alle konstitutionellen Demokratien beschränken in irgendeiner Weise die staatliche Gewalt über das Individuum. Mit anderen Worten: Sie legen einen Autonomiebereich im Sinne der Nichteinmischung oder der negativen Freiheit fest. Die spezifische Art der Regulierung dieses Bereichs variiert jedoch bedeutend von einer Verfassung zur anderen. Einige Verfassungen, so auch die argentinische, setzten ein allgemeines Prinzip fest, das zumindest einen guten Teil der expliziten individuellen Rechte (Religions-, Berufs- und Versammlungsfreiheit, Freizügigkeit, Eigentumsrecht, allgemeines Persönlichkeitsrecht etc.) enthält und aus dem sich diese herleiten.1 Andere Verfassungen wie die mexikanische, chilenische und spanische legen nur diese individuellen Rechte fest; die Festsetzung des besagten Prinzips ist den Diskussionen der Literatur überlassen. In beiden Fällen stellt sich die Frage: Existiert dieses Prinzip als eine Frage politischer Moral, d. h. unabhängig von den Verfügungen der einzelnen Verfassungen? Und wenn es existiert, wäre es wünschenswert, dass diejenigen Verfassungen, die das Prinzip nur implizit enthalten, ihm eine explizite Form geben? Wie müsste es abgefasst sein? Wie sollte man es begrenzen, d. h. welche Handlungen sollten von diesem Prinzip geschützt werden und welche Handlungen blieben außerhalb seiner Reichweite? Und was wäre seine Grundlage? Der vorliegende Aufsatz ist nur der Beginn einer Forschungsarbeit, die diese alten liberalen Fragen wieder aufgreifen soll. Ich werde hier die Auffassung vertreten, dass die der staatlichen Einmischung entzogene Sphäre ihre Grundlage und Reichweite in dem Prinzip der persönlichen Autonomie findet und dass Letzteres das Kriterium ist, mit dem wir bewerten können, welche Handlungen von der Gesetzgebungsmacht und Zwangsgewalt des Staates ausgeschlossen bleiben * Übersetzung ins Deutsche durch Anna Richter. 1 Artikel 19 Absatz 1 der argentinischen Verfassung lautet: „Über die privaten Handlungen der Menschen, die in keiner Weise die öffentliche Ordnung und Sittlichkeit verletzen oder einen Dritten schädigen, hat nur Gott zu urteilen; sie sind der richterlichen Autorität nicht unterworfen.“ Zugunsten der Ableitung individueller Freiheiten aus diesem Prinzip siehe Nino, Ética y derechos humanos, 2007, S. 202.
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müssen.2 Wenn dies tatsächlich der Fall ist, verschiebt sich die Diskussion auf die Abgrenzung der Konzeptionen und die Festlegung des Wertes der persönlichen Autonomie. Wer den Wert der persönlichen Autonomie in größerem oder geringerem Maße bestreitet, vertritt folglich eine deflationistische Konzeption des Autonomieprinzips als Nichteinmischung (dies ist gewöhnlich der Standpunkt der klassischen und zeitgenössischen perfektionistischen Lehren). Aber die persönliche Autonomie hochzuhalten (wie es die liberalen Lehren tun), bedeutet nicht zwangsläufig, dass die Autonomie als Nichteinmischung nur auf eine einzige Art und Weise verstanden werden kann. Ganz im Gegenteil: Welche Grenze als angemessen angesehen wird, hängt davon ab, wie die persönliche Autonomie aufgefasst wird. Diese Idee ist ihrerseits, wie könnte es anders sein, auch nicht unumstritten. Ich werde daher die charakteristischen Merkmale zweier Konzeptionen der persönlichen Autonomie vorstellen, die in der zeitgenössischen Debatte am häufigsten erscheinen: einerseits die Konzeption von Frankfurt/Dworkin3 und andererseits die von Raz.4 Danach werde ich die Konsequenzen aufzeigen, die sich aus jeder Konzeption für die Begrenzung des Bereichs der negativen Freiheit ergeben. Die Arbeit müsste eigentlich mit der Feststellung des zutreffenden Verständnisses der persönlichen Autonomie und einer Aussage zu ihrem normativen Gewicht schließen, nachdem die Gründe für und gegen jede Konzeption bewertet worden sind. Dies würde es ermöglichen, eine bestimmte Abgrenzung des Nichteinmischungsbereichs kategorisch zu verteidigen, d. h. zu präzisieren, welche allgemeinen Handlungen außerhalb der staatlichen Zwangsgewalt liegen. Aber eine solche Bewertung käme einem abschließenden Bericht über die Debatte zwischen Perfektionismus und Liberalismus gleich, was meine gegenwärtigen Möglichkeiten überschreitet. Daher werde ich mich damit begnügen, das Problem allgemein zu skizzieren und zu zeigen, in welche Richtung diese Untersuchung gehen soll.
2 Diese These ist natürlich nicht neu. Hierzu siehe zum Beispiel Raz, The Morality of Freedom, 1986, S. 400, 410; Nino (Fn. 1), S. 205. Auch wenn es eine im Bereich der politischen Philosophie schon sehr häufig bearbeitete These ist, so ist ihre Anwendung und Entwicklung im Bereich der Verfassungstheorie doch geringer. Darin liegt meines Erachtens jedenfalls teilweise die mögliche Bedeutung dieser Arbeit. Andererseits ist es auch keine unproblematische These. Einer der Gründe für ein solches Prinzip besteht darin, dass allgemein die Pflichten einem selbst gegenüber als frei von staatlichem Zwang angesehen werden. Aber die Pflichten einem selbst gegenüber (ihre Existenz vorausgesetzt), die wie alle anderen Pflichten objektiv und notwendig sind, hängen nicht von der Ausübung der persönlichen Autonomie ab. Wenn das Prinzip die Unerzwingbarkeit dieser Pflichten schützt, dann muss zumindest für diese Pflichten eine andere Grundlage gesucht werden. 3 Frankfurt, Freedom of the Will and the Concept of a Person, The Journal of Philosophy, Bd. 68, Nr. 1, 1971, S. 5 ff.; Dworkin, Theory and Practice of Autonomy, 1988. 4 Raz (Fn. 2).
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II. Unterscheidung zwischen „Autonomie als Nichteinmischung“ und „persönlicher Autonomie“ Vor der Untersuchung der Konzeptionen der persönlichen Autonomie und der Autonomie als Nichteinmischung soll an die Unterscheidung Feinbergs zwischen vier verschiedenen Bedeutungen des Wortes „Autonomie“ erinnert werden, die auftreten, wenn der Begriff auf Individuen angewandt wird: Sie kann eine persönliche Fähigkeit sein, eine situative Disposition der Person, ein Charakterideal oder ein moralisches Recht.5 Mit diesen Begriffen im Hinterkopf wollen wir nun unsere Hauptdiskussion wieder aufnehmen. Unter „persönlicher Autonomie“ ist die Idee zu verstehen, dass eine Person die Autorin ihres eigenen Lebens ist. Sie hat danach die Fähigkeit, selbst zu entscheiden, welches Leben sie lebt, und sie entscheidet tatsächlich auch selbst, wie sie ihr Leben lebt, d. h. sie lebt das Leben, das sie leben will.6 Zweifellos kann die persönliche Autonomie als eine Fähigkeit, ein Zustand, ein Ideal oder ein Recht aufgefasst werden. Aber von einem normativen Standpunkt aus scheint die Grundidee entweder die der Autonomie als Zustand oder als Ideal zu sein. Wir schätzen sowohl die Fähigkeit als auch das Recht, persönliche Autonomie zu genießen, weil wir den Zustand persönlicher Autonomie oder eine Idealsituation, in welcher dieser Zustand sich maximal entwickelt, wertschätzen. Ich denke, diese etwas vage Formulierung reicht aus, um die persönliche Autonomie von der Autonomie als Nichteinmischung zu unterscheiden. Die Erste ist im Wesentlichen positiv und bezieht sich hauptsächlich auf die Tätigkeit der Person in dem Sinne, dass diese die Entscheidungen trifft, die ihr Leben leiten, oder dass sie sich mit ihrer Konstitution oder ihren Handlungen identifiziert, d. h. es ist eine Art, die Selbstverwaltung aufzufassen. Die Hauptidee hinter der Autonomie als Nichteinmischung ist hingegen die eines Rechts der Person: ein Recht darauf, dass andere auf bestimmte Handlungen verzichten. Das Recht des Handelnden, keine Einmischungen erdulden zu müssen, ist also nichts anderes als eine Enthaltungspflicht für den Staat und alle anderen Personen, d. h. es ist eine negative 5
Feinberg, Harm to Self. The Moral Limits of the Criminal Law, Bd. 3, 1986, S. 28. Es ist fraglich, wie das Konzept der persönlichen Autonomie charakterisiert werden muss, damit danach die verschiedenen Konzeptionen als Konzeptionen dieses gemeinsamen Konzepts präsentiert werden können. Es muss hervorgehoben werden, dass die persönliche Autonomie auf die Selbstverwaltung des eigenen Lebens verweist. Für Definitionen der persönlichen Autonomie siehe Raz (Fn. 2); Christman, Constructing the Inner Citadel: Recent Work on the Concept of Autonomy, Ethics 99, 1998; ders., Autonomy in Moral and Political Philosophy, in: Zalta (Hrsg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy, 2011 (http://plato.stanford.edu/archives/spr2011/entries/autonomy-moral/); Dworkin (Fn. 3); ders., The Concept of Autonomy, in: Christman (Hrsg.), The Inner Citadel. Essays on Individual Autonomy, 1989; Taylor, The Theory of Autonomy, Human Studies Review, Bd. 12, Nr. 3, 1999. 6
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Pflicht. Daher ist es das eine, zu behaupten, eine Person habe Autonomie in dem Sinne, dass sie einen gesicherten Bereich staatlicher Nichteinmischung innehat, wie auch immer dieser definiert ist, und etwas ganz anderes zu behaupten, dieselbe Person sei Autorin ihres eigenen Lebens. Eine Person, die Autonomie als Nichteinmischung genießt, entscheidet nicht notwendigerweise selbst, welches Leben sie führt. Sie kann sich einfach, ohne signifikante Entscheidungen zu treffen, durch das Leben treiben lassen, oder sie kann gemäß den Entscheidungen anderer handeln. Eine weitere Klarstellung: Das Konzept der persönlichen Autonomie als die Situation der Person, die selbst über den Lauf ihres Lebens entscheidet, die selbst die Entscheidungen trifft, die ihre Zukunft prägen, bezieht sich sowohl auf die selbstbezogenen Entscheidungen als auch auf die Entscheidungen, die Folgen für das Leben anderer haben. Es ist nicht widersprüchlich zu sagen, dass derjenige persönliche Autonomie genießt, der selbst und frei entschieden hat, ein Leben als Serienmörder zu führen, also dass diese Entscheidung das Ergebnis seiner Autonomie ist. Aber wir haben grundsätzlich keine Schwierigkeiten damit, dass diejenigen Handlungsmöglichkeiten, die unrechtmäßigerweise in das Leben oder die Freiheit Dritter eingreifen, vom Recht geregelt werden.7 In diesem Sinne hat laut Rawls das Richtige Vorrang vor dem Guten.8 Daher sind die oben gestellten eher abstrakten Fragen mit einer sehr konkreten Sorge verbunden: Kann der Staat die Bürger verpflichten, bestimmte Optionen zu wählen oder sie von anderen abschrecken, auch wenn diese Optionen sich nicht auf das Leben der anderen beziehen? Kann das Recht selbstbezogene Moralkriterien auferlegen? Haben wir nicht, zumindest wenn es nur die eigene Person betrifft, das Recht, das Falsche zu tun?9 Nach dieser Unterscheidung kehren wir zu der Hauptthese zurück: Die Reichweite und Grenzen der Autonomie als Nichteinmischung müssen einerseits abhängig davon festgelegt werden, wie die persönliche Autonomie verstanden wird, und andererseits abhängig davon, wie diese bewertet wird: Es muss so viel 7 Hier besteht das Problem darin, ein Kriterium aufzustellen, mit dem wir die Handlungen, die in den Bereich Dritter eingreifen, von denjenigen unterscheiden können, die nicht darin eingreifen. Außerdem ist ein Kriterium zur Unterscheidung zwischen rechtmäßigen und rechtswidrigen Eingriffen nötig. Dieses Problem werde ich hier jedoch nicht behandeln. 8 Rawls, A Theory of Justice, 1971, S. 31. Diese Idee findet sich bekanntermaßen bereits in Kants Freiheitsprinzip, das er in „Über den Gemeinspruch“ (AA Bd. 8, S. 290) ausdrückte. Eine interessante Untersuchung dieses kantianischen Prinzips findet sich bei Waldron, Moral Autonomy and Personal Autonomy, in Christman/Anderson (Hrsg.), Autonomy and the Challenges to Liberalism, 2005, S. 308 ff. 9 Diese Frage hat eine lange Tradition. Siehe unter anderem Mill, On Liberty, 2002 (1. Aufl. 1859); Stephen, Liberty, Equality, Fraternity, 1991; Devlin, The Enforcement of Morals, 1965; Hart, Law, Liberty and Morality, 1963; Dworkin, Do We Have a Right to Pornography?, in: ders., A Matter of Principle, 2012, S. 335 ff.
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Nichteinmischung geben, wie nötig ist, um eine angemessene Erfüllung dieses Merkmals sicherzustellen (jedenfalls was die fremde Nichteinmischung betrifft). Einen Nichteinmischungsbereich zu haben, ist mit anderen Worten eine notwendige (wenn auch nicht hinreichende) Bedingung für die Ausübung der persönlichen Autonomie.10 Ich werde also einerseits die Ideen der Vertreter der persönlichen Autonomie (liberale Konzeptionen) und andererseits die Vorstellungen ihrer Gegner (perfektionistische Theorien) untersuchen. Das Unterscheidungskriterium kann folgendermaßen formuliert werden, auch wenn es nach der Untersuchung überprüft werden muss. Man kann sagen, dass die folgenden zwei Dinge unser Wohlbefinden ausmachen: gut zu handeln und gemäß unseren eigenen Entscheidungen oder Identifizierungen zu handeln. Der traditionelle Perfektionismus beurteilt die Handlungen (und die Lebensweisen, denen diese Handlungen Form geben) nach der Güte ihres Inhalts; dass diese Handlungsverläufe Früchte unserer freien Wahl sind, ist zweitrangig. Der antiperfektionistische Liberalismus bewertet die freie Wahl unserer selbstbezogenen Handlungen als solche höher als den Inhalt dieser Wahl (in einigen seiner Variationen definiert er sogar die Güte der selbstbezogenen Handlungen danach, ob sie das Produkt unserer freien Wahl sind).11 Der liberale Perfektionismus bewertet seinerseits sowohl die Güte 10 In seiner Kritik an Mill scheint Berlin zu behaupten, dass die negative Freiheit keine notwendige Bedingung der persönlichen Autonomie sei. Er erinnert daran, dass „die Integrität, die Wahrheitsliebe und der brennende Individualismus sich mindestens mit der gleichen Häufigkeit in Gemeinschaften entwickeln, die von einer strengen Disziplin regiert werden, wie zum Beispiel die schottischen puritanischen Calvinisten […], oder die unter Militärdisziplin stehen, wie in toleranteren oder gleichgültigeren Gesellschaften. Wenn dem so ist, dann stürzt das Argument von Mill zugunsten der Freiheit als notwendige Bedingung für die Entwicklung des menschlichen Genies in sich zusammen.“ (Berlin, Dos conceptos de libertad, in: Cuatro ensayos sobre la libertad, 1998, S. 228). Zweifellos hat er Recht mit der Unterscheidung zwischen der negativen Freiheit oder Nichteinmischung als Abwesenheit von Zwang einerseits und der besonderen Vorstellung, die Mill vom wünschenswerten menschlichen Charakter hatte, andererseits: „kritisch, originell, fantasievoll, unabhängig, nonkonformistisch bis zur Exzentrizität, etc.“ (ebd., S. 227). Zweifellos ist entgegen Mill die negative Freiheit keine notwendige Bedingung für die Entwicklung dieses Charakters. Aber wir beziehen uns mit der Idee der persönlichen Autonomie nicht ausschließlich auf einen Persönlichkeitszug. Man stelle sich eine Person vor, Andreas, der einen solchen Charakter besitzt. Sicherlich würden wir sagen, dass er persönliche Autonomie als eine Fähigkeit besitzt. Aber nehmen wir auch an, dass der Staat ihm eine Unzahl an Optionen vorbehält, die er wählen würde, würde kein staatlicher Zwang bestehen. Zweifellos genießt Andreas keine persönliche Autonomie im Sinne eines aktuellen Zustandes seiner Person. 11 Die Unterscheidung zwischen Perfektionismus und radikalem Liberalismus, wie ich sie hier präsentiere, kann auch mit der Logik des Dilemmas von Euthyphron vorgestellt werden: Ist das, was gut für unser Leben ist, unabhängig davon gut, dass wir es wählen? Das heißt, wählen wir es, weil es gut ist? Oder ist es im Gegensatz deswegen gut, weil wir es wählen? Wir könnten auch sagen, dass der Perfektionismus substantivisch ist, während der Liberalismus eine hauptsächlich prozessuale Konzeption des guten Lebens vertritt
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der Handlung als auch die Tatsache, dass sie Produkt unserer Wahl ist. Er muss daher zu irgendeiner Art von Kompromiss zwischen beiden Werten gelangen. Ich werde also zuerst ziemlich schematisch die perfektionistischen Hauptthesen vorstellen. Danach werde ich eine recht radikale liberale Konzeption der persönlichen Autonomie rekonstruieren, nämlich die hierarchische Theorie der persönlichen Autonomie von Frankfurt/Dworkin. Dabei werde ich zwei mögliche Lesarten dieser Theorie unterscheiden: die empirische und die normative Konzeption der Metapräferenzen. Schließlich werde ich eine Kritik der Durchführbarkeit der ersten Lesart entwerfen, die uns zu einer Untersuchung der letzteren Konzeption führt, dem liberalen Perfektionismus von Raz. Auch wenn ich hier keine abschließende Bewertung der Hintergründe jeder Theorie bieten kann (in diesem Sinne ist meine Arbeit eher die Skizze einer theo retischen Landschaft als eine voll ausgearbeitete Argumentation), so werde ich doch ihre Konsequenzen anhand zweier Problemfälle überprüfen. Der erste Problemfall besteht in dem Verbot der Einrichtung von Bordellen und der Zuhälterei, das in Córdoba, Argentinien, Teil eines Gesetzes ist, welches erklärt, ein Werkzeug im Kampf gegen den Menschenhandel zu sein. Besagtes Gesetz wurde von den in der Vereinigung Argentinischer Prostituierter (Asociación de Meretrices Argentinas) zusammengeschlossenen Prostituierten nachdrücklich abgelehnt. Der zweite Problemfall besteht in der strafrechtlichen Sanktionierung der Inanspruchnahme von Prostitution, die Teil der politischen Agenda verschiedener Aktivistengruppen und in skandinavischen Ländern gesetzlich festgeschrieben ist.
III. Perfektionismus und Autonomie Die perfektionistische Konzeption der Politik behauptet, dass es kein allgemeines moralpolitisches Prinzip gebe, welches dem Staat verbiete, unmittelbar das Gute zu fördern, auch wenn darüber, was gut ist, nachvollziehbare Uneinigkeiten bestehen können.12 Für den Perfektionismus hat der Staat „die Verantwortung und das Recht, das Gute, das Wohlbefinden, das Florieren und die Exzellenz all seiner Bürger anzustreben, und sie auch durch Zwang zumindest von einigen Handlungen und Entschlüssen abzuhalten, die sie schädigen, herabwürdigen oder demütigen würden, selbst wenn diese Handlungen und Entschlüsse selbstbezogen sind“.13 Für die hier vorgeschlagene Diskussion muss vorausgesetzt werden, (wichtig ist die Art und Weise, wie wir dazu gekommen sind, etwas zu wählen oder uns mit ihm zu identifizieren). Das vom Liberalismus als autonom bewertete Leben wird nicht durch das, was es enthält, sondern durch die Art und Weise, wie es zu dem wurde, was es ist, definiert. Vgl. Raz (Fn. 2), S. 371. 12 Wall, Liberalism, Perfectionism, and Restraint, 2012. 13 Finnis, Legal Enforcement of ,Duties to Oneself‘: Kant v. Neo-Kantians, Columbia Law Review 87, 1987, S. 434.
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dass wir davon sprechen, was für das Leben der Menschen tatsächlich oder unter Berücksichtigung aller Umstände gut ist, und nicht davon, was die Gesellschaft im Großen und Ganzen oder Personen, die Machtstellungen innehaben, für gut halten. Wir müssen also von dem ausgehen, was nach einer kritischen Moral und nicht nach der positiven Moral gut ist.14 Dies vorausgesetzt, müssen nun zwei typische perfektionistische Thesen unterschieden werden. Erstens, was für ein Individuum gut ist oder seinen Interessen (Zielen) entspricht, ist unabhängig von seinen eigenen Wünschen und Identifizierungen oder von der Wahl seiner Lebensform. Das Gute ist also nicht autonom definiert. Zweitens und als Folge von Ersterem kann der Staat sogar durch Gewaltausübung denjenigen Interessen 14 Unser Untersuchungsgegenstand ist der Perfektionismus, nicht der Rechtsmoralismus. Letzterer ist eine Lehre über die Rechtfertigung der zwangsweisen Auferlegung der positiven Moral, d. h. der moralischen Vorstellungen, inklusive der Ansichten über selbstbezogene Handlungen, die von der Mehrheit der Gesellschaft vertreten werden. Der Moralismus behauptet, die Auferlegung sei gerechtfertigt, unabhängig davon, ob diese Vorstellungen genügenden Rückhalt in Gründen finden oder sich nach der Reflexion bestätigen. Er wird in einer gemäßigten Version von Lord Devlin in „The Enforcement of Morals“ vertreten. Devlin erklärt, dass der Staat das Recht hat, die positive Moral zwangsweise aufzuerlegen, da eine Gesellschaft eine Gemeinschaft moralischer Ideen sei, Ideen darüber, wie „ihre Mitglieder ihr Verhalten zu regeln und ihr Leben zu lenken haben“. Daher kann die Gesellschaft „nicht existieren, wenn es nicht eine gewisse Übereinstimmung über ihre politischen, moralischen und ethischen Ideen gibt […] Wenn das gegenseitige Einvernehmen, auf dessen Basis die Gesellschaft gegründet wurde, verschwindet, dann wird sich die Gesellschaft auflösen“ (Devlin, La Imposición de la Moral, 2010, S. 56, 57). Dass Abweichungen das soziale Gefüge schädigen und letzten Endes seine Existenz selbst bedrohen, ist es also, was die zwangsweise Auferlegung der positiven Moral rechtfertigt. In seiner extremen Version (die von Stephen [Fn. 9] vertreten wird) erklärt der Rechtsmoralismus, dass die zwangsweise Auferlegung der Moral sich dadurch rechtfertigt, dass sie für die Bewahrung der positiven Moral notwendig ist. Es wird angenommen, dass diese Bewahrung ein Wert für sich sei (Moralkonservativismus). Harts Kritik an beiden Versionen dieser Theorie ist berühmt. Hinsichtlich der gemäßigten Version zeigt Hart auf, dass die als empirische Aussage verstandene These, wonach die Unmoralität die Gesellschaft gefährdet, jeglichen Beweises ermangelt, der sie stützen könnte, vor allem, wenn wir die Moral nicht als einen Stoff aus einem einzigen Stück verstehen. Die Gesellschaft überlebt trotz andauernder Abweichungen in einigen Bereichen der Moral, wie zum Beispiel der Sexualmoral. Gegen die extreme Version hat er aufgezeigt, dass aus der Tatsache, dass die Menschen oder die Mächtigen glauben, etwas sei gut, nicht folgt, dass es richtig ist, es zwangsweise aufzuerlegen: „[…] die Rechtfertigung dafür, dass eine Gesellschaft Maßnahmen ergreift, um sich zu schützen, hängt davon ab, […] welcher Typ von Gesellschaft es ist […]. Wenn eine Gesellschaft […] sich der grausamen Verfolgung einer religiösen oder Rassenminderheit widmet, dann ist es vertretbar, dass dasjenige, was Lord Devlin die ,Auflösung‘ dieser Gesellschaft nennt, moralisch besser ist als ihre Existenz und dann dürften keine Maßnahmen zu ihrem Schutz ergriffen werden“ (Hart, Derecho, libertad, moralidad, 2006, S. 112). Seiner Ansicht nach ist der Moralkonservativismus „ein brutales Dogma, das behauptet, die Beibehaltung jeglicher Sozialmoral sei zwangsläufig mehr wert als seine Kosten an menschlichem Leiden und Freiheitsverlust“ (Hart, aaO., S. 157).
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und Lebensplänen Vorzug geben, die objektiv besser sind.15 Selbst wenn eine Handlung in dem Sinne privat ist, dass sie keine Dritten betrifft, stellt folglich die Tatsache, dass sie eine moralische Selbsterniedrigung mit sich bringt, einen ausreichenden Grund dafür dar, dass das Recht ihre Ausführung behindert und so Männer und Frauen dazu anleitet, würdige Verhaltensmodelle zu ergreifen.16 In Argentinien hat Valiente Noailles diese Lehre als Grundlage für seine Auslegung der Verfassungsnorm vertreten: „Zum Schutz der öffentlichen Moral muss der Staat nicht nur – durch eine angemessene Gesetzgebung, die sowohl Überzeugungskraft hat als auch die Ausübung der Moralkontrolle gewährleistet – Angriffe gegen sie vermeiden, sondern er muss durch die ihm zur Verfügung stehenden direkten Mittel, die mit unserer Verfassungsordnung vereinbar sind, dazu beitragen, den Sittlichkeitsgrad der Bevölkerung anzuheben“17
Auch wenn der Perfektionismus die gängige Grundlage autoritärer Regierungen ist, dürfen wir weder glauben, dass er grundlegend mit dem Autoritarismus verbunden ist, noch, dass er als plausible politische Theorie auszuschließen ist. Er weist im Gegenteil eine erneuerte Vitalität auf und ist heute die politiktheoretische Alternative zum Liberalismus.18 Warum wollen wir letztlich einen Staat, wenn nicht deshalb, weil wir glauben, er sei ein Werkzeug, das uns helfen kann, besser zu leben? Aber es ist auch klar, warum die perfektionistischen Konzeptionen dazu neigen, den von staatlicher Einmischung freien Bereich gegenüber dem Bürger zu verkleinern (und letzten Endes zu beseitigen). Wenn das, was für eine Person gut ist, ohne Bezugnahme auf ihre Entscheidungen objektiv definiert wird, dann ist nicht ersichtlich, warum der Staat sich selbst beschränken und in dem Bereich der selbstbezogenen Entscheidungen des Individuums nicht dessen Wohl fördern sollte. Wenn die Person in diesem Bereich falsch wählt und sich täuscht, gibt es keinen Grund, sie nicht von Neuem auf den richtigen Weg zu bringen, selbst wenn dies unter Zwang geschieht. Es ist auf dieser Basis mit anderen Worten keine solide normative Grundlage dafür, die Pflichten eines jeden sich selbst gegenüber anders zu behandeln als die Pflichten gegenüber den anderen. Oder mehr noch, die Unterscheidung selbst hätte keinen Sinn. 15 Hier muss zwischen Politiken unterschieden werden, die dazu neigen, zwangsweise gute Lebenspläne aufzuerlegen, und solchen Politiken, die nur versuchen, (durch Zwangsmittel im weiten Sinne) von schlechten Lebensplänen abzuhalten. Die erste Art von Politik ist schwieriger zu vertreten und anzuwenden, so dass der Perfektionismus dazu neigt, die zweite Art von Politiken zu billigen. 16 Vgl. Nino (Fn. 1), Kap. V und X). 17 Valiente Noailles, La moral pública y las garantías constitucionales, 1966, S. 34. 18 Vgl. Raz (Fn. 2); Hurka, Perfectionism, 1993, Haksar, Equality, Liberty and Perfectionism, 1979; Wall, Liberalism, Perfectionism and Restraint, 1998.
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Wenn der Perfektionismus die richtige politische Theorie ist, dann kann in unseren Verfassungen kein allgemeines Prinzip des Schutzes der persönlichen Autonomie festgelegt werden. Es genügt dann, individuelle Freiheiten festzusetzen, die Zustände, Handlungen und Entscheidungen schützen, welche nach dem Inhalt der korrekten perfektionistischen Lehre wertvoll sind. Unter ihnen findet sich vermutlich die Mehrheit der Rechte, die in unseren Verfassungen Platz gefunden haben: das Recht auf Eigentum, Arbeit, freie Meinungsäußerung, Versammlung etc., jedoch kein allgemeines Prinzip, aus dem sie sich herleiten. Der Perfektionismus gibt wie jede Lehre Raum für eine Unzahl von Einwänden. Neben anderen Schwächen können wir ihm eine ungenügende Gewichtung unserer Wahl- und Entscheidungsfähigkeit vorwerfen sowie einen ungerechtfertigten Glauben an die größere Fähigkeit der Autoritäten zu erkennen, was für die Bürger gut ist. Jedoch ist hier eine Bewertung der möglichen Einwände nicht relevant. Vielmehr sind die Konsequenzen dieser Doktrin für unsere Testfälle zu überprüfen: einerseits das Verbot der Zuhälterei und der Einrichtung von Bordellen und andererseits die aktive und passive Prostitution, d. h. Angebot und Nachfrage von Geschlechtsverkehr. Nehmen wir an, wir vertreten die Auffassung, Prostitution in Anspruch zu nehmen, selbst von Seiten einer Person, die darin einwilligt, sei unmoralisch und tue nicht gut. Außerdem wird unterstellt, es sei auch unmoralisch, Geschlechtsverkehr für Geld anzubieten: Dann kann argumentiert werden, dass die Person, die so handelt, sich selbst nicht ausreichend respektiere, da zumindest in unseren Gesellschaften die Sexualität ein Hauptbestandteil der Subjektivität sei und die Selbstachtung es daher erfordere, das Sexualleben nicht zum Gegenstand eines Handels zu machen. Vorausgesetzt also, dass es gute moralische Gründe dafür gibt, Geschlechtsverkehr für Geld weder in Anspruch zu nehmen noch anzubieten, sieht der Perfektionist nicht ein, warum diese Verhaltensweisen nicht zwangsweise verhindert werden sollten. Das Einverständnis der Beteiligten ändere nichts an der moralischen Beurteilung der Verhaltensweisen und an der Tatsache, dass ihre Ausübung uns herabwürdige. Daher sei es kein Hindernis für ein staatliches Verbot. Somit sei es dem Staat auch erlaubt, Bordelle zu verbieten.
IV. Liberalismus und Autonomie Die liberale Doktrin hat sich von ihren klassischen Vertretern (Locke, Kant, Mill) zu ihren gegenwärtigen Vertretern (Dworkin, Rawls, Nino) fortentwickelt. Wenn diese Autoren irgendetwas teilen, dann ist es der Glaube, dass jede Beschränkung der individuellen Freiheit gerechtfertigt sein muss.19 Derjenige, der 19 Gauss, Liberalism, in: Zalta (Hrsg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy, 2011 (https://plato.stanford.edu/entries/liberalism/).
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fordert, dass jede Beschränkung gerechtfertigt werden muss, setzt natürlich voraus, dass es Beschränkungen gibt, die nicht gerechtfertigt sind. Eine Regierung ist demnach nur rechtmäßig, wenn sie gegenüber den ihrer Macht unterworfenen Individuen bestimmte Grenzen respektiert, wenn sie solche ungerechtfertigten Beschränkungen also nicht mit Gesetzeskraft sanktioniert. Der Liberalismus ist insbesondere der Auffassung, dass die Regierung nicht dazu da ist, das Wohl der Menschen zu fördern (besonders nicht, wenn dies bedeutet, ihr Einverständnis zu übergehen), sondern nur dazu, zu verhindern, dass sie einander bei der Verfolgung ihres eigenen Wohls, so wie sie selbst es auffassen, beeinträchtigen.20 Ersichtlicherweise hat dieses staatliche Neutralitätsprinzip eine klare Unterscheidung zwischen der öffentlichen Sphäre, wo Raum ist für legitime Eingriffe der Staatsgewalt, und der Privatsphäre, in der Personen ihr eigenes Wohl verfolgen dürfen, zur Folge. In Letzterer ist besagte Intervention verboten, sofern das Streben nach dem eigenen Wohl Dritte nicht beeinträchtigt. Im privaten Bereich gilt also das Prinzip der Autonomie als Nichteinmischung. Nino formuliert dies folgendermaßen: „Da die freie individuelle Wahl von Lebensplänen und die Übernahme von Idealen menschlicher Exzellenz wertvoll sind, darf der Staat (und die anderen Individuen) nicht in diese Wahl oder Übernahme eingreifen, sondern muss sich darauf beschränken, Institutionen zu entwerfen, die die individuelle Verfolgung dieser Lebenspläne und die Befriedigung der Tugendideale, die jeder verteidigt, erleichtern, und muss so die gegenseitige Einmischung in die Verfolgung dieser Ziele verhindern“.21
Für den Liberalismus sind also die Handlungen und Zustände, die die Folge der Identifikation des Handelnden mit einer Lebensweise sind (sofern es also das Leben seiner Wahl ist, so dass er oder sie sich als sein Autor oder seine Autorin betrachten kann), sofern sie keine Dritten schädigen, von der richterlichen Gewalt befreit: Es gibt keinen Grund, der die staatliche Einmischung rechtfertigen könnte. Dass eine Person Autorin ihres Lebens ist, kann jedoch auf verschiedene Weisen verstanden werden. Zuerst betrachten wir eine minimal anspruchsvolle Konzeption der persönlichen Autonomie (die es daher erlaubt, eine sehr weit gefasste Spanne von Lebensplänen als autonom zu beurteilen). Diese beschreibe ich als eine empirische Konzeption der Metapräferenzen. Sie ist eine mögliche Les20 Quong, Liberalism Without Perfection, 2011, S. 1. Erinnern wir uns, dass für den Liberalismus die Interessen und Ziele der Individuen bereits vor dem Staat bestehen. Der Staat entstand gerade, um zu vermeiden, dass die Individuen sich bei der Verfolgung ihrer eigenen Interessen gegenseitig behindern und schädigen. Wenn dies der Fall ist, dann kann der Staat ihnen schlecht Interessen und Ziele auferlegen. 21 Nino (Fn. 1), S. 204. Wie man sehen kann, kombiniert Nino in einem einzigen Prinzip die beiden Ideen, die wir abzugrenzen versucht haben. Er behauptet, dass der Staat aufgrund des Wertes der persönlichen Autonomie darauf verzichten muss, in die Wahl und die Adaption von Lebensplänen einzugreifen.
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art der Thesen von Harry Frankfurt und Gerald Dworkin. Diese Konzeption ist völlig vereinbar mit der den Liberalismus kennzeichnenden weiten Formulierung des Nichteinmischungsbereichs, zumindest in den hier erläuterten Grenzen. Eine andere Frage ist, ob sie vertretbar ist.
V. Die hierarchische Autonomietheorie: Frankfurt/Dworkin Den Menschen kommt persönliche Autonomie zu, wenn sie selbst ihren Lebensplan wählen. Diese Idee kann auf folgende Art ausgedrückt werden: Eine autonome Person wird „von Überlegungen, Wünschen, Bedingungen und Merkmalen geleitet, die ihr nicht von außen auferlegt werden, sondern die Teil dessen sind, was man […] als (ihr) eigenes und authentisches Ich ansehen kann“.22 Der Begriff des authentischen Wunsches ist mit der von Frankfurt und Dworkin eingeführten Unterscheidung zwischen Wünschen erster und zweiter Ordnung verbunden. Ein authentischer Wunsch ist derjenige, mit dem das Ich sich identifiziert, d. h. ein Wunsch, den der Handelnde (nach einem Wunsch zweiter Ordnung) haben will. So kann ich den Wunsch erster Ordnung haben zu rauchen, und den Wunsch zweiter Ordnung, kein Raucher zu sein, d. h. zu wünschen, nicht rauchen zu wollen. Es geht jedoch nicht nur darum, ob ich mich heute mit einem aktuellen Wunsch (nicht) identifizieren kann. Ich kann mich auch mit meinen zukünftigen (d. h. langfristigen) Wünschen und Interessen identifizieren oder sie ablehnen. Solange die Person sich zumindest teilweise als eine Einheit von zeitlich verteilten Wünschen und Interessen definieren kann, können wir behaupten, dass derjenige persönliche Autonomie hat, der durch den Gebrauch seiner Fähigkeit zu überlegen und zu planen, welche Art von Person er sein will, selbst seinen eigenen Lebensplan wählt, d. h. sich mit einigen seiner zukünftigen Wünsche und Interessen identifiziert.23 Ich werde mich hier auf die Ansichten von Dworkin konzentrieren, wo das Problem, das ich vorstellen will, klarer zutage tritt. Ich werde zeigen, dass es zwei mögliche Lesarten seiner Ideen gibt: die empirische und die normative Konzeption der Metapräferenzen. Außerdem werde ich argumentieren, dass die empirische Konzeption, die mit einem radikalen Liberalismus im Sinne eines absoluten Verbots der staatlichen Einmischung in die autonome Wahl von Lebensplänen vereinbar ist, abgelehnt werden muss. Es gibt jedoch gute Gründe, sich für die normative Konzeption zu entscheiden.24 Diese Konzeption weist ihrerseits in die Richtung eines perfektionistischen Liberalismus, ähnlich dem von Raz. 22
Christman (Fn. 6, 2011), S. 2. Laporta, El imperio de la ley. Una visión actual, 2007, S. 31 f. 24 Für eine ausführliche Untersuchung des Arguments, das ich hier nur skizzieren werde, siehe Iosa, Autonomía personal y reflexión. Un análisis de las ideas de Harry Frankfurt y Gerald Dworkin, Revista Eletrônica do Curso de Direito da UFSM, v. 12, Nr. 1, 2017. 23 Vgl.
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VI. Empirische Konzeption der Metapräferenzen Es gibt zwei zentrale Elemente in den ersten Versionen der hierarchischen Autonomietheorie von G. Dworkin:25 Einerseits handelt es sich dabei um die Beziehung zwischen Wünschen erster und zweiter Ordnung. Wenn die Wünsche beider Ebenen übereinstimmen, dann liegt eines der Elemente der Autonomie vor. Andererseits betont Dworkin die Fähigkeit des Handelnden, seine Wünsche zu beurteilen, selbst nachzudenken und zu entscheiden, welcher seiner Wünsche identifiziert werden muss, was Dworkin prozessuale Unabhängigkeit nennt.26 Ausgehend von der Annahme, dass die Autonomie sich auf der Ebene der Überlegungen zweiter Ordnung ansiedelt, bietet Dworkin uns folglich die Formel an, die seiner Untersuchung als Basis dient: Autonomie = Authentizität + prozessuale Unabhängigkeit. Konzentrieren wir uns nun auf die Idee der prozessualen Unabhängigkeit. Wie sollen wir sie verstehen? Hierzu soll folgender Absatz untersucht werden: „Die Autonomie kann nicht auf der Ebene der Überlegungen erster Ordnung, sondern auf derjenigen der Überlegungen zweiter Ordnung verortet werden. Auch wenn der autonome Mensch seine Motivationen ex nihilo annehmen kann, so kann er sie doch beurteilen, wenn er sie hat. Das autonome Individuum ist in der Lage, einen Schritt zurück zu machen und eine Haltung zu den Faktoren zu formulieren, die sein Verhalten beeinflussen“.27
Wie aus der Lektüre dieses Absatzes geschlossen werden kann, ist hinsichtlich der prozessualen Unabhängigkeit nicht klar, ob Dworkin es für wichtig hält, 25 Später gab Dworkin das Element der „Identifizierung“ als Teil des persönlichen Autonomiekonzepts auf. Er ging zu der Behauptung über, dass nicht die Identifizierung, sondern die Fähigkeit zur Identifizierung wichtig sei, das heißt, die Fähigkeit zu überlegen, mit welchem meiner Wünsche ich mich identifizieren muss. Dies geht wieder in Richtung einer normativen Konzeption der Metapräferenzen. Zu diesem Punkt siehe Dworkin (Fn. 3), S. 15. 26 Zu der Idee der prozessualen Unabhängigkeit behauptet Dworkin: „[…] die Identifizierung mit ihren Motivationen oder die Wahl der Art von Person, die man sein will, können ein Ergebnis von Manipulation, von Täuschung, von Verheimlichung wichtiger Information oder ähnlicher Dinge sein. Der Handelnde kann auf entscheidende Weise von anderen beeinflusst worden sein, so dass wir nicht bereit sind, sie als Ergebnis seiner eigenen Entscheidung anzusehen“ (Dworkin, Autonomy and Behavior Control, The Hastings Center Report, Bd. 6, Nr. 1, 1976, S. 25). Die Idee bezieht sich also auf die Art und Weise, wie wir unsere Überlegungen zweiter Ordnung erlangen, d. h. wie wir dazu gekommen sind, uns mit unseren Überlegungen erster Ordnung zu identifizieren, oder wie wir dazu gekommen sind, sie zu hassen. Wenn es keine unrechtmäßigen Beeinflussungen gab und sich die Person mit ihren Vorlieben identifiziert, dann ist sie prinzipiell autonom. Wenn diese Beeinflussungen stattgefunden haben, dann ist sie nicht autonom, selbst wenn sie sich mit ihren Vorlieben identifiziert. 27 Dworkin (Fn. 26), S. 24.
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dass der Handelnde ein Urteil im engen Sinne fällen kann, also eine Bewertung des Wertes seiner Überlegungen erster Ordnung vornimmt (in diesem Fall sind die Metapräferenzen eher ein Produkt als eine Bedingung der Reflexionsmöglichkeit), oder ob die Bedeutung darin besteht, dass das autonome Individuum fähig ist, eine Haltung zweiter Ordnung zu seinen Überlegungen erster Ordnung (hauptsächlich Vorstellungen und Wünsche) zu haben. Natürlich kann man annehmen, dass eine Haltung zweiter Ordnung ein Urteil zweiter Ordnung (d. h. eine Vorstellung darüber, welche Art von Vorstellungen und Wünschen wünschenswert ist) voraussetzt und von ihm bestimmt wird. Umgekehrt können wir die Urteilsidee auf die Idee der Haltung, der Vorliebe reduzieren. So kann meine Vorliebe zweiter Ordnung (eine Vorliebe, die zu haben mir einfach passieren kann, ohne dass ich sie gewählt hätte oder sie das Ergebnis einer Bewertung wäre) mir als Kriterium dienen, um meine Präferenzen erster Ordnung zu beurteilen (hier ist unter „beurteilen“ „ich ziehe den Wunsch X dem Wunsch Y vor und identifiziere mich damit“ zu verstehen). Die Wahl hängt natürlich von unseren metaethischen Einstellungen ab. Aber wenn wir die Ideen von Haltung und Urteil getrennt halten, dann ist die Haltung zweiter Ordnung nicht mehr als ein innerer Zustand der Person, während das Urteil, wie ich an späterer Stelle argumentieren werde, ein objektives Kriterium als Verwirklichungsbedingung vorauszusetzen scheint. Wenn wir also das Erfordernis eines Urteils oder einer Überlegung auf die Bildung einer Haltung gegenüber unseren Vorlieben erster Ordnung reduzieren, da zudem das Haben von Metapräferenzen selbst schon bedeutet, eine Haltung gegenüber unseren Vorlieben niederer Ordnung zu haben, dann scheint die Idee des Urteils oder der prozessualen Unabhängigkeit sich auf ein Minimum zu reduzieren oder sogar ganz zu verschwinden. So wäre der gesamte Autonomiebereich von der Idee der Authentizität oder Identifizierung ausgefüllt. Wenn dies so ist, dann ist jede Person, die sich mit ihren Wünschen erster Ordnung jedweden Inhalts identifiziert, autonom und muss hinsichtlich ihrer Entscheidungen respektiert werden. Dies werden wir „empirische Konzeption der Metapräferenzen“ nennen. Folglich scheint es möglich zu sein, die persönliche Autonomie allein mit den Begriffen der Übereinstimmung von Wünschen erster und zweiter Ordnung zu verstehen: Ich bin autonom, wenn ich Wünsche (erster Ordnung) habe, die ich (auf der Ebene der zweiten Ordnung) zu haben wünsche. In Übereinstimmung mit dieser Lesart wird die persönliche Autonomie gewöhnlich als eine formelle und immanente Wertkonzeption aufgefasst: Diejenigen Lebenspläne von Personen sind wertvoll und respektabel, die sie frei gewählt haben, d . h. mit denen sie sich identifizieren, unabhängig vom Inhalt besagter Lebenspläne. Hieraus resultiert der radikal antiperfektionistische Charakter der auf diese Autonomiekonzeption gestützten Konstruktionen. Diese Konstruktionen schreiben vor, dass der Staat nie in die individuelle und freie Wahl von Le-
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bensplänen eingreifen darf, unabhängig davon, welchen Inhalt diese Lebenspläne haben. Demnach könnte die persönliche Autonomie als eine Theorie gedacht werden, deren normatives Gewicht der moralischen Autonomie entspricht, d. h. als eine Theorie über die Quellen der Normativität (der Wert der Lebenspläne hängt allein davon ab, dass wir sie gewählt haben, d. h. dass wir uns mit ihnen identifizieren, unabhängig von ihrem Inhalt und der Art und Weise, wie diese Wahl oder Identifizierung zustande gekommen ist).28 Dworkins Untersuchung des Falls des Drogenabhängigen enthält einen Schlüssel für die Lesart seiner Theorie im Sinne der hier vorgeschlagenen empirischen Konzeption. „Was passiert mit dem Mann, der drogenabhängig ist und seinen Zwang, Drogen zu konsumieren, nicht aufgeben kann, der aber trotzdem in den Fängen seines Zwangs sein will? Meiner Ansicht nach ist dieser Handelnde autonom. Ebenso wie der Sklave ist er nicht frei, da er unabhängig davon, ob er es sich wünscht, auf diese Weise motiviert zu sein, die Droge nehmen wird. Aber ebenso wichtig wie dies ist eine andere, ebenfalls richtige und wichtige Tatsache, nämlich die Tatsache, dass er sich mit seiner Sucht identifiziert. Und diese Identifikation bezeichne ich als Authentizität.“.29
Wie müsste das Verfassungsprinzip abgefasst werden, wenn die Theorie der persönlichen Autonomie richtig wäre, der die empirische Konzeption der Metapräferenzen Gestalt gibt? Es müsste der Einmischung des Staates in selbstbezogene Handlungen eine sehr strikte Grenze setzen. Eine Möglichkeit wäre die folgende: „Die Pflichten der Personen sich selbst gegenüber sind rechtlich nicht einforderbar.“
Oder „Die Handlungen von Personen, die keine Dritten schädigen, stehen außerhalb der richterlichen Gewalt.“
Überprüfen wir nun, wie unsere Beispiele sich mit dieser Konzeption der persönlichen Autonomie als Authentizität vertragen. Zweifellos gibt es Prostituierte (oder es kann sie geben), die sich selbst als solche wahrnehmen, sich nicht entfremdet fühlen und auch angesichts anderer Arbeitsmöglichkeiten bei gleichen Bedingungen die Ausübung der Prostitution vorziehen. Diese Prostituierten sind in diesem Sinne autonom, sie willigen nicht nur in jeden Prostitutionsakt ein, son28 Tatsächlich besteht eine Art, die persönliche Autonomie zu begreifen, darin, sie gerade als das aufzufassen, was übrigbleibt, wenn wir das Problem einer über die Person hinausgehenden Moralordnung auflösen oder wenn wir nach der Auflösung dieser Ordnung voluntaristische Konzeptionen der moralischen Autonomie ergreifen, d. h. Konzeptionen, die den persönlichen oder kollektiven Entscheidungen (Konventionen) eine zentrale Rolle bei der Definition der Pflicht zuweisen. Wenn es keine Kriterien gibt, die über den Wünschen oder Wahlhandlungen der Person oder der Gruppe stehen, dann bleibt uns nur, diese Wünsche und Handlungen so zu ordnen, dass man immanente Kriterien bekommt. 29 Dworkin (Fn. 3), S. 25.
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dern identifizieren sich viel allgemeiner mit ihrer Aktivität und sehen sie als eine angemessene Art und Weise an, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Dasselbe geschieht mit den Kunden von Prostitution. Viele willigen in jede Handlung ein und haben auch kein Problem damit, sich selbst als Stammkunden dieser Dienste anzusehen. Sie identifizieren sich mit dieser Aktivität und man kann gut sagen, dass sie in diesem Sinne autonom sind. Wenn sie autonom sind, dann verdienen diese Lebenspläne Respekt: Die Tatsache, dass diese Personen sie gewählt haben, verleiht ihnen einen Wert, es gibt kein externes Kriterium, das dies in Zweifel ziehen könnte. Der Staat muss es vermeiden, sich in die individuelle Verfolgung dieser Pläne einzumischen und täte gut daran, ein allgemeines Prinzip zu erlassen, das eine solche Einmischung verbietet. Diese Lesart ist aber natürlich nur dann akzeptabel, wenn wir die Idee der Reflexion darauf reduzieren können, „eine Haltung“ gegenüber den Vorlieben der niedrigeren Ebene „zu haben“. Aber dann ist die Bildung von Wünschen zweiter Ordnung kein Produkt der Überlegung: Dass es eine (Nicht-)Übereinstimmung zwischen unseren Wünschen unterschiedlicher Ordnung gibt, ist dann eine Tatsache, die uns zustößt, nicht eine Situation, die das Produkt einer aus der Bewusstwerdung über die Natur unserer Wünsche hervorgegangenen Anstrengung ist.
VII. Normative Konzeption der Metapräferenzen Im Gegensatz zu der empirischen Konzeption versteht die normative Konzeption der Metapräferenzen die Wünsche zweiter Ordnung als ein Produkt der Überlegung und behauptet, dies sei die korrekte Lesart der Idee der persönlichen Autonomie in den Theorien von Frankfurt und Dworkin. Wenn wir akzeptieren, dass die Idee der persönlichen Autonomie nicht erfasst werden kann, ohne auf die Idee der Reflexion zurückzugreifen, dann sind zwei Beobachtungen zu machen. Erstens müssen wir uns fragen, wovon diese Überlegung handelt. Alles scheint darauf hinzuweisen, dass sie festzulegen versucht, wie wünschenswert unsere Wünsche sind. Aber es scheint nicht möglich zu sein, über die Wünschbarkeit unserer Wünsche nachzudenken, ohne über Kriterien zu ihrer Bewertung zu verfügen. Wenn wir akzeptieren, dass diese Kriterien notwendig sind, dann können wir nach ihrem Ursprung fragen. Wenn sie nicht subjektiv sind (erinnern wir uns, dass die Vorlieben der Bewertungsgegenstand sind, und dass in dieser Lesart die Metapräferenzen das Produkt der Überlegung sind, weswegen sie ex ante nicht als Kriterien fungieren können), dann werden sie uns entweder aufgrund der Existenz einer unabhängigen normativen Ordnung gegeben (und man gerät in das Fahrwasser von Lehren wie dem Naturrecht oder dem moralischen Realismus, deren Verbindung mit dem Perfektionismus kein Zufall ist) oder sie geht aus unserer moralischen Autonomie hervor, die wir als rationale Personen innehaben. In dem letzten Fall können wir die Idee einer autonomen Person nicht von der ei-
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ner reflexiven Person trennen.30 Wenn man also ohne Reflexion keine persönliche Autonomie genießen kann, dann hat der Staat das Recht und die Pflicht, sowohl diejenigen Lebenspläne zu blockieren, die dazu neigen, unsere Reflexionsfähigkeit zu untergraben, als auch die Wahl derjenigen Pläne zu begünstigen, die uns reflexiver machen. In diese Richtung weist der liberale Perfektionismus von Raz.
VIII. Negative Freiheit und persönliche Autonomie nach Joseph Raz Laut Raz ist eine autonome Person (zum Teil) Autorin ihres eigenen Lebens. Das Ideal der persönlichen Autonomie ist die Idee von Personen, die zu einem gewissen Grad ihr eigenes Schicksal kontrollieren und ihm durch sukzessive Entscheidungen im Laufe ihres Lebens Form geben.31 Um ein autonomes Leben zu führen, muss man über gewisse Fähigkeiten verfügen, deren Wert von dem Wert eines autonomen Lebens abgeleitet wird. Diese nennen wir mit Raz „Autonomiebedingungen“. Es sind die folgenden drei (Raz, 1986, S. 372 f.): • Angemessene geistige Fähigkeiten. Einerseits hat eine autonome Person Verstand, d. h. die Fähigkeit, ihre Situation und das Gewicht, das ihre Entscheidungen in ihrem Leben und dem der anderen haben werden, zu verstehen und zu bewerten. Sie erkennt die für die Durchführung ihrer Pläne angemessenen Mittel etc. Sie besitzt mit anderen Worten die Fähigkeit zu überlegen, welcher der ihr zugänglichen möglichen Handlungsabläufe und allgemeinen Lebensarten vorzugswürdig ist. Außerdem hat sie einen Willen, d. h. die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen und demgemäß zu handeln. • Eine angemessene Skala von (trivialen bis wesentlichen) Wahlmöglichkeiten mit einer angemessenen Vielfalt von Wahlmöglichkeiten (denn wenn die verfügbaren Wahlmöglichkeiten sehr beschränkt sind, kann man streng genommen gar nicht wählen). Außerdem müssen zumindest einige der verfügbaren Wahlmöglichkeiten moralisch wertvoll sein, denn derjenige, der nur schlechte Wahlmöglichkeiten zur Verfügung hat, genießt keine Autonomie.32 30 Waldron hebt diesen kuriosen Kontaktpunkt zwischen den modernen Lehren persönlicher Freiheit und der kantianischen moralischen Autonomie hervor: „[…] die persönliche Autonomie ist in der Art der Deliberation und der Verpflichtung, die sie betont, wie die moralische Autonomie. In beiden Fällen wird kritische Distanz erreicht, in beiden Fällen gibt es Reflexion und in beiden Fällen schließt diese Reflexion die Idee des “wer bin ich wirklich„ ein.“ (Waldron [Fn. 8], S. 317). Natürlich bedeutet dies nicht, dass Theorien der persönlichen Autonomie, wie die von Raz, auf die kantianische moralische Autonomie reduziert werden können (Raz verneint dies ausdrücklich in Raz [Fn. 2], S. 370). Es wird hier nur hervorgehoben, dass beide Konzeptionen die Idee der Reflexion betonen. 31 Raz (Fn. 2), S. 369. 32 Raz (Fn. 2), S. 378 f.
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• Unabhängigkeit: Die Wahlmöglichkeiten müssen frei von fremdem Zwang und Manipulation sein. Zwang und Manipulation unterwerfen den Willen einer Person dem Willen einer anderen und greifen in diesem Sinne in ihre Autonomie ein.33 Indem wir die Fähigkeiten und Bedingungen der Autonomie ausüben, d. h. indem wir Ziele und Projekte ergreifen sowie Beziehungen und Bindungen eingehen, geben wir unserem eigenen Leben nach und nach Form. Jemand, der sich zum Beispiel entscheidet zu studieren, hat nach dieser Entscheidungsfällung Gründe dafür, sich so zu verhalten, dass er das Ziel, sein Studium erfolgreich abzuschließen, erreicht. Er kann auch in einer Weise handeln, die mit diesem Ziel unvereinbar ist, und daher bei dem Versuch der Zielerreichung auf eine Art und Weise scheitern, die ihm vor der Zielfestlegung unmöglich erschien. So geben wir unserem Leben einen Wert; einen Wert, den unser Leben vor diesen Entscheidungen und Identifizierungen nicht hatte. Wir schaffen mit anderen Worten Gründe, die von den Gründen unabhängig sind, die wir hatten, um diese Verpflichtungen, Ziele und Projekte einzugehen. So wird unser Leben zum Teil unsere eigene Schöpfung: Die Werte und Gründe, die ihm unter anderem Form geben, sind in gewisser Weise die Frucht unserer eigenen normativen Schöpfungsakte. Insofern die Autonomie es uns ermöglicht, unserem Leben Wert zu geben, können wir sagen, dass unser Leben selbst wertvoll ist.34 Dass die persönliche Autonomie moralisch wertvoll ist, ist ein Grund dafür, dass wir alle ein autonomes Leben führen sollen. Aber man kann die anderen nicht zur Autonomie zwingen; man kann das Pferd ans Wasser führen, es aber nicht zum Trinken bringen. Man ist autonom, wenn man selbst den Verlauf des eigenen Lebens bestimmt. Natürlich können die anderen, insbesondere der Staat bei der Ergreifung und Entwicklung von autonomen Lebensweisen helfen und sie anregen. Aber ihre Hilfe ist auf die Absicherung der Autonomiebedingungen beschränkt.35 Daher leiten sich aus dem Wert der Autonomie bestimmte Pflichten insbesondere für den Staat, aber auch für die anderen Individuen ab: 1. Zu helfen, die inneren Fähigkeiten zu schaffen, die für das Führen eines autonomen Lebens erforderlich sind: kognitive oder reflexive, volitive, emotionale, physische und moralische Fähigkeiten. 2. Eine angemessene Skala und Vielfalt moralisch wertvoller Wahlmöglichkeiten zu schaffen, auf deren Basis es den Individuen möglich ist, ihre Wahlfähigkeiten auszuüben. 33
Ebd., S. 378. Raz (Fn. 2), S. 387. 35 Ebd., S. 407. 34
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3. Auf Zwang und Manipulation zu verzichten (Unabhängigkeitsbedingung). 4. Zwang und Manipulation durch Dritte zu vermeiden. Die ersten beiden dem Staat auferlegten Pflichten rechtfertigen eine aktive Politik und stehen liberalen Lesarten vom Typ Polizeistaat entgegen. Die vierte Pflicht ist eine positive Pflicht (die darauf gerichtet ist, etwa strafrechtliche Politiken zu rechtfertigen), die aber dazu bestimmt ist, eine Enthaltung von Seiten Dritter zu erreichen. Die dritte Pflicht ist ganz klar eine Enthaltungspflicht und rechtfertigt einen Autonomiebereich im Sinne der Nichteinmischung oder negativen Freiheit. Es ist klar, dass die negative Freiheit, die Freiheit von fremdem Zwang wertvoll ist, sofern sie der persönlichen Autonomie dient, wobei Letztere sowohl als Fähigkeit als auch als gegenwärtige Ausübung verstanden wird. Wie beeinträchtigen Zwang und Manipulation die Autonomie und wie schützt sie ein von Zwang und Manipulation freier Bereich? Raz meint, dass der Zwang oder die Manipulation eines anderen Geringschätzung oder fehlenden Respekt vor seiner Autonomie ausdrücken kann. Außerdem behindern sie die Entwicklung der genannten internen Fähigkeiten und können die Skala der bedeutsamen und moralisch wertvollen Wahlmöglichkeiten, die dem anderen zur Verfügung stehen, herunterstufen und ihre Vielfalt verringern.36 Laut Raz hat die auf den Autonomiegedanken gestützte Lehre der negativen Freiheit klare Grenzen. Erstens erfordert die Autonomie zwar die Verfügbarkeit einer angemessenen Skala von wertvollen und bedeutsamen Wahlmöglichkeiten, sie verlangt aber nicht das Vorliegen einer bestimmten Wahlmöglichkeit. Laut Raz kann eine Person oder eine Regierung Maßnahmen ergreifen, um zum Beispiel den Fußball zu beseitigen und durch Softball zu ersetzen, ohne dass hierdurch ein Autonomieverlust einträte.37 Zweitens erstreckt sich die Pflicht, eine angemessene Skala von Wahlmöglichkeiten sicherzustellen, nicht auf die moralisch schlechten oder abstoßenden Wahlmöglichkeiten. Mit den Worten von Raz: „Da Autonomie nur dann wertvoll ist, wenn sie auf das Gute gerichtet ist, liefert sie keinen Grund, für wertlose oder schlechte Wahlmöglichkeiten zu sorgen oder sie zu schützen. Die Autonomie ist natürlich blind gegenüber der Qualität der gewählten Optionen. Eine Person ist selbst dann autonom, wenn sie eine schlechte Wahl trifft. Die Autonomie ist sogar teilweise blind gegenüber der Qualität der verfügbaren Wahlmög36 Hier muss daran erinnert werden, dass der Zwang zwar Optionen ausschließt, aber nicht immer der Autonomie entgegensteht. Laut Raz gibt es Optionen, die man besser nicht hätte. Wer die Verfügbarkeit dieser Optionen beschränkt, beeinträchtigt unsere Autonomie nicht. Hierzu siehe Raz (Fn. 2), S. 410. 37 Raz (Fn. 2), S. 410 f. An diesem Punkt gibt es gewisse Details, die hier unbedeutend sind und die schnell erkannt werden können, wenn man die Quelle liest.
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lichkeiten. Die Person ist nur dann autonom […], wenn sie das verfolgt, was sie als gut ansieht. Sie kann [also] nur dann autonom sein, wenn sie glaubt, dass sie wertvolle Optionen zur Verfügung hat, zwischen denen sie wählen kann. Dies ist damit konsistent, dass viele der Optionen tatsächlich schlecht sind. Aber […] die schlechten Wahlmöglichkeiten tragen nichts zum Wert der Autonomie bei. Autonom das Schlechte zu wählen, macht das eigene Leben in der Tat schlechter als es ein vergleichbares nicht autonomes Leben wäre. Da unser Interesse an der Autonomie ein Interesse daran ist, die Personen zu befähigen, ein gutes Leben zu führen, liefert es uns einen Grund dafür, eine Autonomie zu garantieren, die wertvoll sein kann. Für schlechte Optionen zu sorgen, sie zu bewahren oder zu schützen, befähigt uns nicht dazu, eine wertvolle Autonomie zu genießen.“.38
Hier soll weder die Kohärenz noch die Richtigkeit dieser Lehre bewertet werden. Wir wollen vielmehr feststellen, ob sie eine Erlaubnis für den Staat zur Folge hat, die Bürger davon abzubringen, schlechte Optionen zu wählen, selbst wenn diese selbstbezogen sind. Sind Raz’ Autonomieprinzip und seine Art, den Nichteinmischungsbereich abzugrenzen, mit einer rechtlichen Sanktion der Moral konsistent? Wenn der Staat zwangsweise unmoralische Optionen ausschließen kann, dann scheint dies der Fall zu sein. Die Dinge sind jedoch komplizierter. Laut Raz muss zwischen unmoralischen Optionen, die rechtlichem Zwang zugänglich sind, und unmoralischen Optionen, die rechtlichem Zwang nicht zugänglich sind, unterschieden werden. Das Unterscheidungskriterium besteht in der Frage, ob die fragliche Unmoralität einen Schaden verursacht. Wörtlich erklärt Raz: „Das auf der Autonomie basierende Freiheitsprinzip […] liefert die moralischen Grundlagen für das Schadensprinzip“.39 Im Gegensatz zu Mill meint Raz also, dass der Schaden, der zum Eingriff befähigt, nicht nur der den anderen zugefügte Schaden ist, sondern auch der Schaden, den man sich selbst zufügen kann. „Schaden“ ist Schaden an der Autonomie; ob die fragliche Autonomie die eigene oder die der anderen ist, ist irrelevant.40 Offensichtlich gibt es eine Verbindung zwischen Autonomie und Schadensprinzip.41 Sowohl wenn wir die Wahlfähigkeit der Personen beeinträchtigen (wenn wir zum Beispiel ihre reflexiven, volitiven, physischen etc. Fähigkeiten manipulieren oder beschädigen) als auch wenn wir Optionen eliminieren, die die Personen gewählt haben könnten, oder wenn wir die Verfolgung und Erreichung von Projekten, Zielen und sogar von Mitteln zunichtemachen, die die Personen bereits ergriffen haben (wenn wir jemandem sein Eigentum vorenthalten und so zum Beispiel verhindern, dass er die Möglichkeiten genießt, die dieses Gut ihm 38
Ebd., S. 411. Raz (Fn. 2), S. 400. 40 Ebd., S. 413. 41 In demselben Sinn Nino (Fn. 1), S. 205. 39
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verschafft), dann schädigen wir sie, indem wir ihre Autonomie verringern.42 Aber es ist auch klar, dass wir die vom Schadensprinzip aufgestellten Grenzen verwischen, wenn wir einen staatlichen Eingriff zulassen, wenn der Handelnde gegen sich selbst vorgeht. Dieser neuen Abgrenzung präzise Konturen zu verleihen, erfordert eine große theoretische Anstrengung.43 Es gibt jedoch eine Eingriffsart, die diese neue Formulierung des Prinzips kategorisch ausschließt: der Gebrauch von Zwang, um von der Ergreifung von unmoralischen, aber unschädlichen Entscheidungen abzuhalten. Diese Aussage muss präzisiert werden. Erstens muss berücksichtigt werden, dass die Verfolgung des moralisch Abstoßenden nicht dadurch gegen zwangsweise Eingriffe verteidigt werden kann, dass geltend gemacht wird, die Handlung beruhe auf einer autonomen Wahl. Zu Recht bemerkt Raz, dass der Handlung auf diese Weise kein Wert verliehen wird.44 Der Grund dafür, dass unmoralische, aber weder für einen selbst, noch für die anderen schädliche Handlungen nicht Gegenstand staatlichen Zwangs sein können, ist wiederum der Wert der Autonomie. Da diese Handlungen nicht schädlich sind, schädigen sie erstens nicht die Autonomie. Wenn es eine Rechtfertigung dafür geben würde, sie dem Zwang zu unterwerfen, müsste diese sich aus anderen Werten herleiten. Indem wir sie zwangsweise verfolgen, verschlechtern wir zweitens die Autonomie der fraglichen Person: Einerseits verletzt der Zwang die Unabhängigkeitsbedingung und drückt allgemein fehlenden Respekt gegenüber dem dem Zwang unterworfenen Individuum aus. Außerdem ist der Zwang (vor allem der durch strafrechtliche Sanktionen ausgeübte Zwang, aber auch andere, weniger strenge Formen) ein globaler und undifferenzierter Eingriff in die Autonomie. Eine Person zu inhaftieren, hindert sie an der Verfolgung fast aller ihrer autonomen Projekte. Es gibt keine Art und Weise, nur in die moralisch abstoßenden Wahlen einzugreifen, der Eingriff beeinträchtigt zwangsläufig auch andere Wahlmöglichkeiten.45 42 Die Autonomie zu vermindern, ist eine Art, Schaden zuzufügen. Es ist weniger offensichtlich, dass jeder Schaden auch ein Schaden für die Autonomie sein soll. 43 Wenn die Regierung das Recht hat, die Autonomie der Personen zu fördern, dann kann sie Zwang ausüben, um Schaden zu vermeiden, weil der Schaden in die Autonomie eingreift. Daher kann die Regierung die Autonomie einer Person zugunsten der größeren Autonomie anderer oder sogar zugunsten der zukünftigen Autonomie der Person selbst einschränken. Dieser Punkt ist jedoch problematisch. Die Eliminierung von Optionen verursacht einen Schaden, einen Schaden für die Autonomie. Aber wie Raz selbst zugibt (Raz [Fn. 2], S. 374, Fn. 1), hat jedwede Entscheidung einer autonomen Person zur Folge, dass bestimmte Optionen nicht mehr zur Verfügung stehen (die Heirat ist kein unerhebliches Beispiel hierfür). Daher würde jegliche Entscheidung einen Schaden für die Person selbst bedeuten und einen Eingriff gestatten. Dies ist ganz eindeutig absurd. Ich danke Rodrigo Correa González, der mich auf dieses meiner Ansicht nach für Raz’ Theorie zentrale Problem aufmerksam gemacht hat. 44 Raz (Fn. 2), S. 418. 45 Hierzu siehe Raz (Fn. 2), S. 418 f.
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Wie müsste das Verfassungsprinzip abgefasst werden, wenn Raz’ Theorie wahr ist? Hier ist ein rein vorläufiger Vorschlag: „Die Handlungen und Entscheidungen der Personen, die weder für sie selbst noch für Dritte einen Schaden darstellen, sind von der richterlichen Gewalt ausgenommen, auch wenn sie unmoralisch sind.“
Vorausgesetzt, diese Formulierung identifiziert das gesuchte Nichteinmischungsprinzip auf angemessene Weise, wie würde es funktionieren? Welche Fälle würde es schützen? Welche praktischen Konsequenzen hätte seine gesetzliche Verankerung oder seine Annahme als korrekte Auslegung von Normen wie dem Art. 19 der argentinischen Verfassung? Gemäß dem auf Grundlage des Autonomieprinzips definierten Schadensprinzip ergibt sich, dass es eindeutig selbstbezogene Optionen gibt, von denen man trotzdem durch Zwang abgehalten werden darf. Die Person darf durch Zwang von bestimmten autonomen Wahlmöglichkeiten zurückgehalten werden, wenn diese Optionen ihre zukünftige Fähigkeit zu autonomen Entscheidungen schädigen. Daher ist die Möglichkeit, den Konsum bestimmter Drogen zu bestrafen, die einen erwiesenermaßen autonomieaufhebenden Effekt haben, nicht völlig ausgeschlossen. Überprüfen wir nun Raz’ Kriterium anhand unserer Beispielsfälle. Zuerst soll die Legitimität der Norm überprüft werden, die zur Schließung der Bordelle in Córdoba verpflichtet. Hier kann sehr wohl in Frage gestellt werden, ob die Wahl der Prostitution als Lebensart eine moralisch abzulehnende Option ist. Nehmen wir um der Argumentation willen an, dass dem so sei. Laut Raz sind die Autonomiebedingungen erfüllt, wenn die Personen eine angemessene Auswahl an Optionen haben. Es sind aber keine bestimmten und erst recht keine schlechten Wahlmöglichkeiten erforderlich. Es scheint also so zu sein, dass der Staat befugt ist, eine Politik der Ersetzung der Prostitution durch andere, moralisch einwandfreie Arbeiten zu ergreifen: Wenn der Staat den Prostituierten Arbeitsmöglichkeiten verschafft, die sowohl ehrenwert als auch ausreichend sind, um einen mittleren Lebensstandard aufrechtzuerhalten, dann würde er ihre Autonomie nicht verletzen. Der Staat kann jedoch nicht die Ausübung der Prostitution verbieten und durch Zwang bestrafen. Denn die Prostitution ist zwar unmoralisch, aber nicht schädlich für Dritte oder die Prostituierte selbst. Sie ist es jedenfalls nicht in dem relevanten Sinn des Wortes „Schaden“: Entzug einer angemessenen Auswahl an und Vielfalt von Optionen und der Fähigkeit, diese zu benutzen, sowie die Vereitelung der Verfolgung und Erreichung der vom Handelnden bereits begonnenen Projekte. Durch die Beseitigung ihrer Arbeitsplätze werden den Prostituierten Hindernisse in den Weg gelegt, die die Erreichung ihrer autonom gewählten Ziele und Projekte erschweren. Wenn das vorgeschlagene Prinzip verfassungsrechtlich festgelegt würde, dann wären diese Eingriffe
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verfassungswidrig. Dasselbe gilt, wenn dieses Prinzip die korrekte Lesart des aktuellen Art. 19 der argentinischen Verfassung wäre. Für die Pönalisierung der Inanspruchnahme von einvernehmlicher Erwachsenenprostitution gilt mehr oder weniger dasselbe. Denn der Gebrauch von Zwang ist nur erlaubt, wenn man sich selbst oder andere schädigt. Auch wenn uns der Gebrauch des Geschlechts einer anderen Person als ein auf dem freien Markt verfügbares Gut sehr unmoralisch erscheint, so scheinen doch die genannten Bedingungen nicht erfüllt zu sein; daher ist der Zwang in diesen Fällen nicht gerechtfertigt, zumindest dann nicht, wenn die Autonomietheorie von Raz richtig ist.
Handlung, dolus eventualis und Doppelwirkung* Von María Laura Manrique María Laura Manrique María Laura Manrique: Handlung, dolus eventualis und Doppelwirkung Handlung, dolus eventualis und Doppelwirkung
I. Einleitung Zu Beginn dieses Aufsatzes soll kurz dessen Leitgedanke umrissen werden: Die Zuschreibung von Verantwortlichkeit für nur vorhergesehene Konsequenzen ist weniger verwerflich als die Verantwortlichkeit für diejenigen Konsequenzen, die wir intendieren. Einfacher gesagt: Die Verantwortlichkeit für vorhergesehene Konsequenzen ist geringer als diejenige für intendierte Ergebnisse. Es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen der Art und Weise, wie das Strafrecht Verantwortlichkeit für wahrscheinliche Konsequenzen zuschreibt, und der Art und Weise, wie dies moralphilosophische Lehren, z. B. die Lehre von der Doppelwirkung, tun. Für diese Lehre ist die Tatsache, dass die wahrscheinlichen Konsequenzen nur vorhergesehen wurden, ein Grund, den Vorwurf – im Vergleich zu den Konsequenzen, die wir intendieren – zu verringern. Im Gegensatz dazu ist aus der Sicht der Strafrechtsdogmatik die Tatsache, dass eine wahrscheinliche Konsequenz vorausgesehen wurde, ausreichend, um von Vorsatz als dem höchsten Vorwurfsgrad auszugehen. Die Strafrechtslehre braucht für ihr „strenges“ Konzept des dolus eventualis also wesentliche Gründe, um sich gegenüber der Theorie der Doppelwirkung durchzusetzen. Die Figur des dolus eventualis ist wohlbekannt und es können ohne weiteres zahlreiche Beispiele genannt werden. Man erinnere sich beispielsweise an die folgende Situation, die schon von zahlreichen Autoren angeführt wurde: Zwei Personen beschließen, dem Opfer M eine bestimmte Geldsumme zu entwenden. Hierzu planen sie, M durch einen Schlag auf den Kopf mit einem Sandsack bewusstlos zu schlagen. Vorher haben sie die Möglichkeit ausgeschlossen, die Bewusstlosigkeit des M dadurch herbeizuführen, dass sie ihn mit einem Lederriemen würgten. Zuerst betreten sie das Haus, in dem M schläft, und schlagen ihn mit einem Sandsack. Dieser Schlag weckt ihn jedoch nur auf. In diesem Moment zieht einer der beiden Komplizen den Lederriemen aus der Tasche und drosselt damit den M, bis dieser sich nicht mehr bewegt. Als beide bemerken,
* Übersetzung ins Deutsche durch Anna Richter.
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dass das Opfer nicht wieder zu sich kommt, beginnen sie mit der Wiederbelebung. Diese ist jedoch vergeblich, weil M bereits verstorben ist.1 Ich vertrete die Ansicht, dass das Verhalten der beiden Angreifer von M nicht denselben Vorwurf verdient wie zum Beispiel das Verhalten von Jon Bienzobas Arretxe, der Francisco Tomás y Valiente erschoss, während dieser in seinem Büro der Madrider Autónoma-Universität telefonierte. In dieser Arbeit versuche ich aufzuzeigen, was diese Intuition erklärt. Wie gesagt stützt sich die Hauptthese dieser Arbeit darauf, dass etwas zu intendieren nicht dasselbe ist, wie etwas vorherzusehen, d. h. dass dolus eventualis kein echter Vorsatz ist. Daher behaupte ich, dass der unter dem Namen dolus eventualis beschriebene Vorwurf nicht gerechtfertigt ist. In diesem Aufsatz sollen drei große Themen verbunden werden: intendierte Handlung, dolus eventualis und die Lehre von der Doppelwirkung. Für die intendierte Handlung benutze ich als theoretischen Rahmen von Wrights Schema, ohne diese Wahl ausführlicher zu begründen. So verpflichte ich mich einer Hume’schen Handlungskonzeption, die die Handlung als eine epistemisch-volitive Verbindung rekonstruiert. Weiter halte ich es für notwendig, eine Handlung zu erklären, d. h. zu zeigen, warum sie angesichts der Vorstellungen und Wünsche des Handelnden unvermeidlich war. Dies muss geschehen, bevor eine Bewertung dieser Handlung vorgenommen werden kann. Um eine Handlung richtig zu erklären, ist nach dem Geisteszustand zu fragen, in dem sich der Handelnde im Moment des Handelns tatsächlich befand.2 Durch die Verwendung dieser konzeptuellen Struktur der Handlung soll aufgezeigt werden, dass die tatsächlichen Intentionen eine wichtige Rolle bei der Identifizierung dessen spielen, was der Handelnde verwirklichen wollte. Diese Verbindung mit den Intentionen dient dazu, die Hauptbegründungen des dolus eventualis anzugreifen. Im letzten Teil behandele ich die Doppelwirkungsdoktrin. Durch den Gebrauch dieser Doktrin zeige ich, dass es plausible theoretische Konzeptionen gibt, die zwischen „etwas intendieren“ und „eine Konsequenz bloß vorhersehen“ unterscheiden. Natürlich wurde diese Lehre auch aus verschiedenen Gründen kritisiert. Die Hauptkritikpunkte sind das sogenannte „Näheproblem“ und die moralische Bedeutung der Unterscheidung zwischen „etwas intendieren“ und 1 Dies ist eine Zusammenfassung von BGHSt, 7, 363. Zitat nach Ragués i Vallès, El dolo y su prueba en el proceso penal, 1999, S. 83. Siehe auch Roxin, Derecho Penal. Parte General, Band 1, 1997, S. 424. 2 Für eine tiefergehende Bearbeitung der hier präsentierten Themen über die Handlung siehe von Wright, Norma y acción. Una investigación lógica, 1979; ders., Explicación y comprensión, 1979; ders., Practical Reason, 1983, S. 100 ff.; González Lagier, Acción y norma en G. H. von Wright, 1995.
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„die Konsequenz vorhersehen“. In dieser Arbeit betone ich nicht nur, dass es Antworten auf diese beiden großen Probleme gibt, sondern dass die Unterscheidung zwischen „etwas intendieren“ und „die Konsequenz vorhersehen“, wenn man sie schließlich ernst nimmt, keine so radikale und abwegige Wirkung auf die Verbrechenslehre hat, wie es auf den ersten Blick scheint.3 Im Folgenden werde ich kurz einige der Hauptargumente dieser drei großen Themen darlegen.
II. Erklärung und Bewertung von Handlungen Das Paradigma der menschlichen Handlung ist die intendierte Handlung. Um die intendierte Handlung charakterisieren zu können, muss man die Idee der absichtlichen Sachverhaltsveränderung verstehen. Die Handlung hat zwei Aspekte: Erstens hat sie eine interne Seite, die sich auf Wünsche, Vorstellungen, Wissen, Willen etc., d. h. sowohl auf epistemische als auch auf volitive Elemente bezieht. Zweitens hat sie einen externen Aspekt, der sich auf die Ergebnisse und Konsequenzen unserer Handlungen bezieht. von Wrights Terminologie folgend werde ich vertreten, dass diejenigen Handlungen, die aus einem Vollzug bestehen, einen externen Aspekt besitzen. Daher ist die Handlung nicht beendet, wenn der externe Aspekt nicht verwirklicht wird. Das ist das Ergebnis der Handlung. Die Verbindung zwischen Ergebnis und Handlung ist konzeptuell. Das Ergebnis unserer Handlungen kann seinerseits andere Veränderungen in der Welt verursachen. Diese sind die Konsequenzen unserer Handlungen. Im Unterschied zu der Verbindung zwischen Handlung und Ergebnis ist die Beziehung zwischen der Tat und den Konsequenzen extrinsisch oder kausal. Zusammengefasst ist das, was wir tun, das Ergebnis unserer Handlung. Das, was wir durch unsere Handlung hervorrufen, sind deren Effekte oder Konsequenzen.4 Bei diesem Konzept spielen die Intentionen der Handelnden eine wichtige Rolle. Das, was der Handelnde intendiert, legt das Ergebnis der Handlung fest. Sobald das Ergebnis der Handlung identifiziert wurde, können wir zeigen, welche Elemente kausale Ursachen für das Verhalten und welche Veränderungen ihre Konsequenzen waren. Sobald wir die Hauptelemente einer Handlung identifi3 Obwohl es bedeutende Kritiken gibt, existieren gegenwärtig zahlreiche Verteidigungen der Doppelwirkungsdoktrin, die den Anspruch erheben, auf diese Probleme angemessen zu antworten. Hierfür siehe unter anderem Cavanaugh, Double-Effect Reasoning. Doing Good and Avoiding Evil, 2006; Kamm, Intricate Ethics, 2007; Nagel, in: McMurrin (Hrsg.), The Tanner Lectures on Human Values, Bd. 1, 1980, S. 75 ff.; Finnis, in: Frey/ Morris (Hrsg.), Liability and Responsibility. Essays in Law and Morals, 1991, S. 32 ff. 4 von Wright (Fn. 2, 1979), S. 111 ff.
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ziert haben, können wir mit denselben Elementen das Verhalten des Handelnden erklären. Eine Handlung zu erklären heißt zu zeigen, in welchem Sinne sie unvermeidlich war. Hierzu reicht es nicht aus, dass eine bestimmte kausale Konsequenz ausgelöst wird; die Erklärung einer Handlung stützt sich vielmehr auf die Gründe, die ein Handelnder für seine Handlung hatte. Hierzu müssen wir das Intentionsobjekt finden oder, mit anderen Worten, das Ziel entdecken, das der Handelnde für seine Handlung hatte. Die Identifizierung dieses Intentionsobjekts ist konzeptuell mit der Identifizierung der Handlung verbunden, d. h. sie ist eine Antwort auf die Frage, was der Handelnde getan hat.5 Nur wenn wir wissen, was der Handelnde getan hat, können wir versuchen, die Frage zu beantworten, warum er es getan hat. Und erst wenn diese Frage beantwortet ist, können wir fragen, welche Bedeutung sein Handeln hat oder ob sein Verhalten Lob oder Tadel verdient. Im Bereich der Rechtstheorie und Moralphilosophie wird häufig zwischen Erklärung und Rechtfertigung unterschieden.6 Hinter dieser Unterscheidung stehen die wichtigsten Probleme sowohl der menschlichen Handlung als solcher als auch der Sozialphilosophie im Allgemeinen. Die Art und Weise, wie wir diese grundlegende Aufteilung verstehen, hat einen gewissen Einfluss auf andere Themen, wie zum Beispiel auf die Beziehung zwischen Freiheit und Determinismus, die Gültigkeit des Schuldprinzips, die Idee der Person etc. Normalerweise können wir problemlos zwischen dem Geschehnis als solchem und dessen Bewertung trennen. So ist es normal zu behaupten: „Ich verstehe ganz genau, was Peter getan hat, aber ich finde es schrecklich“, oder auch „Ich weiß nicht, ob das, was du getan hast, schlecht war“. Man könnte sogar sagen: „Ich weiß nicht genau, was Peter getan hat, aber ich finde es gut“. In diesen Fällen funktioniert unsere Fähigkeit zu verstehen und zu erklären, unabhängig von unserer Bereitschaft, ein Verhalten zu rechtfertigen oder zu beurteilen. Mit diesen Sätzen drücken wir unsere Reaktion auf ein bestimmtes Verhalten aus. Sie können wahr oder falsch, vernünftig oder unvernünftig sein, aber sie sind unabhängig davon völlig verständlich. Daher ist es auch normal, die Erklärung eines Verhaltens als ein von seiner Rechtfertigung unabhängiges Phänomen zu untersuchen. Da die Erklärung konzeptuell Vorrang vor der Bewertung hat, muss man wissen, was der Handelnde getan hat, bevor man sein Verhalten bewerten kann. 5
von Wright, Sobre la libertad humana, 2002, S. 84. von Wright (Fn. 2, 1979), S. 148. In demselben Sinn, aber mit einem kausalen Erklärungsschema für die Handlung, vgl. Davidson, in: White (Hrsg.), La Filosofía de la acción, 1976, S. 122. Es gibt aber auch Autoren, die eine entgegengesetzte These vertreten und den Gründen, die die Handlung rechtfertigen oder anleiten, Vorrang vor den erklärenden Gründen geben. Hierzu vgl. Raz, Razonamiento práctico, 1986, S. 8 ff.; Kim, in: Pérez/ Fernández (Hrsg.), Cuestiones filosóficas. Ensayos en honor de Eduardo Rabossi, 2008. 6
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Um zu wissen, was der Handelnde getan hat, muss identifiziert werden, was er tun wollte, d. h. es muss ermittelt werden, was seine tatsächliche Intention war. Um die Handlung erklären zu können, muss also die Intention des Handelnden als empirischer Wert feststehen. Um die Handlung zu bewerten, muss man dem Handelnden zweifellos eine Intuition zuschreiben, aber da sie ein empirischer Wert ist, muss sie bewiesen werden. Wir müssen beweisen, was der Handelnde erreichen wollte und welche Mittel er als notwendig ansah, um dieses Ziel zu erreichen. Auch wenn dieser Beweis manchmal noch so schwierig ist, kann er nicht durch andere allgemeine Standards ersetzt werden, etwa durch „die Wirkung auf die Gemeinschaft“ oder „das Allgemeinwissen“. Wenn wir dies tun, verändern wir die Bedeutung des Vorwurfs und dies könnte uns dazu führen, Verantwortlichkeit zuzuschreiben aufgrund dessen, was der Handelnde bloß hervorruft.
III. Zum dolus eventualis Nach dem oben skizzierten Standpunkt lässt sich erkennen, dass der Vorwurf für fahrlässig oder mit dolus eventualis begangene Taten die Struktur der „Verantwortlichkeit für Konsequenzen“ aufweist. Jedoch wird diese Verbindung in zahlreichen Darstellungen des dolus eventualis dadurch verschleiert, dass die Rolle der Intentionen der Handlungen heruntergespielt wird. Dies geschieht im Allgemeinen auf zweierlei Arten. Erstens wird die Schwierigkeit, Geisteszustände nachzuweisen, überbetont, und zweitens werden die epistemischen Elemente zum Nachteil der volitiven Elemente idealisiert, um ein einheitliches Vorsatzkonzept darstellen zu können. Auf diese Weise soll gezeigt werden, dass der dolus eventualis die gleichen charakteristischen Elemente wie die anderen Vorsatzarten enthält. Jedoch kann keiner dieser Vorschläge übernommen werden, ohne die klassische Handlungskonzeption zu überarbeiten, die sich sowohl aus epistemischen als auch aus volitiven Elementen zusammensetzt. Im Folgenden versuche ich, diese Idee ausführlicher darzulegen. Generell besteht Einigkeit darin, dass die Figur des dolus eventualis Situationen umfasst, in denen der Handelnde nicht die Intention hat, einen bestimmten Schaden zu verursachen, sondern in denen der Handelnde nur vorhersieht, dass eine bestimmte Konsequenz eintreten wird (man erinnere sich, dass dieses Merkmal auch bei den Verhaltensweisen vorliegt, denen der Vorwurf der bewussten Fahrlässigkeit gemacht wird).7 Dies zeigt, dass die vom dolus eventualis ausgehende Zuschreibung von Intentionalität konzeptuell von anderen Formen der Intentionalität abgeleitet ist. Nur weil wir wissen, was ein Handelnder tun will, können wir zwischen dem, was er zu erreichen versucht, und den Konsequenzen seines Verhaltens, die er nur voraussieht, unterscheiden. 7
Mir Puig, Derecho Penal. Parte General, 1998, S. 245.
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Aufgrund der konzeptuellen Struktur des dolus eventualis stellen sich daher zwei Fragen. Die erste betrifft ein Rechtfertigungsproblem: Warum verdient eine Straftat, die mit direktem Vorsatz begangen wurde, den gleichen Vorwurf wie eine Straftat, die nur mit dolus eventualis begangen wurde? Die zweite Frage berührt ein konzeptuelles Problem: Inwiefern unterschiedet sich der dolus eventualis von der bewussten Fahrlässigkeit? Für diesen Aufsatz ist es nicht nötig, dass ich mich mit der Entwicklung des dolus eventualis und den spezifischen Kritiken an den verschiedenen Konzeptionen befasse.8 Es ist jedoch angebracht, ein paar kurze Erläuterungen zu den verschiedenen Theorien abzugeben, die sich um diese Figur gruppieren. Die dolus eventualis-Theorien können in positive und negative Theorien aufgeteilt werden, je nachdem, ob sie den Unterschied zwischen dolus eventualis und bewusster Fahrlässigkeit bejahen oder ablehnen. Eine positive These versucht also, den Unterschied zwischen dolus eventualis und bewusster Fahrlässigkeit zu rechtfertigen, und eine negative Theorie versucht zu zeigen, dass diese beiden Figuren gar keine Unterschiede aufweisen. Obwohl die herrschende Meinung eine positive These vertritt, gibt es einige Autoren, die – aus verschiedenen Gründen – eine negative These verfechten, so zum Beispiel Bustos Ramírez9 oder Zielinski.10 In dieser Arbeit werde ich hinsichtlich des Unterschieds zwischen dolus eventualis und bewusster Fahrlässigkeit eine negative These und für die Unterscheidung zwischen dolus directus zweiten Grades und dolus eventualis eine positive These vertreten. Gegenwärtig antworten die positiven Theorien auf die beiden oben aufgeworfenen Fragen mit zwei Überlegungen. Erstens wird die Schwierigkeit betont, Geisteszustände zu entdecken, und es wird versucht, das Willenskonzept mit normativen Parametern zu ändern, d. h. eine normative Vorsatzkonzeption einzuführen. Zweitens werden die epistemischen Elemente zum Nachteil der volitiven Elemente idealisiert, um ein einheitliches Vorsatzkonzept präsentieren zu können, d. h. der dolus eventualis enthalte danach die gleichen typischen Merkmale wie die anderen Vorsatzarten. Roxin, der als ein großer Vertreter der normativen Vorsatztheorie gelten kann, gründet seine Theorie auf zwei grundlegende Ideen. Nach der ersten Idee haben die drei Vorsatzarten gemeinsam, dass der Handelnde plangemäß vorgehe. Die 8 Die verschiedenen traditionellen Kommentare und Kritiken zum dolus evenutalis finden sich in jedem Strafrechtslehrbuch. Vgl. zum Beispiel Muñoz Conde/García Arán, Derecho Penal. Parte General, 2002; Roxin (Fn. 1); Jakobs, Derecho Penal. Parte General, 1997. Vgl. auch Gimbernat Ordeig, Estudios de Derecho Penal, 1990, S. 240 ff.; Ragués i Vallès (Fn. 1); Pérez Barberá, El dolo eventual, 2011. 9 Bustos Ramírez, Revista Jurídica de Catalunya, 1984, S. 44. 10 Zielinski, Disvalor de acción y disvalor de resultado en el concepto de ilícito, 1990, S. 194.
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zweite Erwägung sieht vor, dass für die Unterscheidung zwischen dolus eventualis und bewusster Fahrlässigkeit festgestellt werden muss, ob der Handelnde sich gegen die Verletzung des Rechtsguts entschieden hat oder nicht. Allerdings soll der Begriff der „Entscheidung“ nicht als psychologischer, sondern als normativer Parameter verstanden werden.11 Der herausragendste Vertreter der epistemischen Vorsatzkonzeption ist Jakobs, der in seiner Theorie das volitive Element in den epistemischen Elementen aufgehen lässt. Obwohl er konzeptuell zwischen Konsequenzen erster und zweiter Ordnung unterscheidet, weist er dem Willen nur eine indirekte Rolle zu. Dies begründet er damit, dass es für die Annahme von Vorsatz nicht nötig sei, dass der Handelnde die Konsequenzen seines Verhaltens wolle, akzeptiere oder in sie einwillige. Das heißt, das vereinende Element zwischen den drei Vorsatzarten ist Jakobs zufolge, dass der Handelnde die Konsequenzen kennt, die sein Verhalten hervorrufen wird (ohne dass es von Bedeutung wäre, ob diese gewollt, mit Sicherheit vorhergesehen oder wahrscheinlich sind).12 In welcher Art und Weise die Grenze zwischen dolus eventualis und bewusster Fahrlässigkeit gezogen werden soll, lässt Jakobs offen. Zunächst erklärt er, der erhöhte Schweregrad des dolus eventualis werde dadurch bestimmt, dass der Täter sich bei fahrlässigen Straftaten auch selbst gefährde, z. B. eine poena naturalis auf sich nehme. Dieses Kriterium ist jedoch problematisch, da es Fälle wie den des Selbstmordattentäters, der sich selbst opfert, aber die Explosion überlebt, nicht löst. Daher erklärt Jakobs später, dass die Risikostandards objektiv bewertet werden müssten, ohne die Empfindungen der Handelnden zu beachten.13 Nach Jakobs muss zur Unterscheidung zwischen dolus eventualis und bewusster Fahrlässigkeit Folgendes berücksichtigt werden: a) Es ist für den Handelnden leichter, das Ergebnis zu vermeiden, sobald die Konsequenzen bekannt sind (wobei Jakobs aber gleichzeitig erklärt, dass diese Fähigkeit nicht vom Blickwinkel des Handelnden abhänge). b) Der Handelnde muss eine „gültige Beurteilung“ durchführen, d. h. er muss wissen, dass seine Handlung wahrscheinlich einen Schaden verursachen wird. Diese gültige Beurteilung ist mehr als das bloße Wissen; der Handelnde muss die Wahrscheinlichkeit des Schadens in die Situationsgestaltung im Zeitpunkt der Ausführung der Handlung einbeziehen. c) Der Handelnde muss dem von ihm geschaffenen Risiko eine gewisse Bedeutung zumessen. Für die Feststellung der Bedeutung des Risikos müssen je11
Roxin (Fn. 1), S. 425 ff. den Worten Jakobs’: „Innerhalb des Vorsatzes besteht keine Stufung der Art, daß dem Bewirken einer Hauptfolge eine ceteris paribus mehr wiegende Schuld entspräche als dem Bewirken einer Nebenfolge“ (Jakobs [Fn. 8], 8/8). 13 Jakobs, Estudios de Derecho Penal, 1997, S. 387. 12 Mit
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doch objektive Parameter herangezogen werden. Der erste Parameter besteht in der Bedeutung, die die Rechtsordnung dem betroffenen Rechtsgut verleiht, der zweite ist die Bedeutung, die die Rechtsordnung der von dem Handelnden geschaffenen Gefahr zuweist.14 Zu Beginn dieses Aufsatzes habe ich hervorgehoben, dass die Erklärung einer Handlung Vorrang vor ihrer Bedeutung hat, und betont, dass es einen konzeptuellen Gleichgewichtsverlust im Vorsatzkonzept verursacht, wenn den epistemischen Elementen Vorrang gegeben wird. Aus diesen beiden Ideen gehen die Hauptkritiken an diesen Theorien hervor. Bevor mit den Kritiken an den normativen und epistemischen dolus eventualis-Theorien begonnen wird, muss klargestellt werden, dass diese Theorien sich überschneiden können. Es gibt also Autoren, die eine epistemische und normative dolus eventualis-Theorie vertreten. In diesem Fall ändert sich die Kritik aber nicht, sie verdoppelt sich nur. Die Hauptschwierigkeit einer normativen Konzeption besteht darin, dass sie den Begriff der Intention als tatsächlichen Geisteszustand eines Handelnden so auslegt, als hätte er diese Konsequenzen angestrebt, um Verantwortlichkeit für vorhergesehene Konsequenzen zuschreiben zu können. Das Hauptproblem einer epistemischen Theorie besteht darin, dass sie konzeptuell unfähig ist, die Unterschiede zwischen dolus eventualis und bewusster Fahrlässigkeit zu begründen. 1. Schwächen der normativen Theorien Die normativen dolus eventualis-Theorien behaupten, wenn auch mit variierender Begründung, dass die Begriffe des Willens oder der Intention, Entscheidung etc. beim dolus eventualis nicht so verstanden werden dürften, als umschrieben sie dasjenige, was der Handelnde tatsächlich zu erreichen versucht oder den Willen hatte zu verwirklichen. Vielmehr müssten diese Begriffe anhand von objektiven Parametern bewertet werden. Unter „objektiv“ wird zum Beispiel das verstanden, was die Allgemeinheit denkt, wenn sie dieses oder jenes Verhalten sieht, oder die Wirkung, die ein bestimmtes Verhalten in einer Gemeinschaft verursacht. Autoren wie Roxin benutzen Begriffe wie „Entscheidung“, um Verhaltensweisen, die unter der Bezeichnung des dolus eventualis vorgeworfen werden, den Anschein zu geben, sie seien willentlich. Es ist leicht erkennbar, dass der Begriff „Entscheidung“ sich in der Alltagssprache auf die Geisteszustände bezieht, die der Handelnde tatsächlich hat, und dass dieser Begriff in der praktischen Überlegung des Handelnden einen wichtigen Platz einnimmt. Mehr noch, wenn jemand erklärt, er habe sich dazu entschlossen zu handeln, dann hat er normalerwei14
Für eine Ausarbeitung dieser Erfordernisse siehe Jakobs (Fn. 8), S. 326 ff.
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se über die Handlung, die er bald ausführen wird, nachgedacht. Wenn die Idee der Entscheidung hingegen gemäß objektiven Parametern verändert wird, dann können diese mit dem zusammentreffen, was der Handelnde tatsächlich realisieren wollte. Dies muss aber nicht der Fall sein. Diese Kriterien sind nützlich und verschaffen so etwas wie eine Erfahrungsregel, um den Handelnden einen bestimmten Geisteszustand zuzusprechen. Aber über diese allgemeine Nützlichkeit hinaus beschreiben sie weder ein Willenselement noch verbinden sie sich notwendigerweise mit der Handlung, die der Handelnde realisieren wollte. Wenn Autoren wie Roxin den Begriff „Entscheidung“ gemäß normativen Parametern benutzen, dann nutzen sie den Anschein von Intentionalität aus, den dieser Begriff ihren dogmatischen Konstruktionen verleiht. Daher führen diese Vorschläge verdeckt wieder eine unangebrachte Rekonstruktion der menschlichen Handlung ein. 2. Schwächen der epistemischen Theorien Eine epistemische Vorsatztheorie wirft zwei große Probleme auf: Erstens trennt sie die Begriffe des Vorsatzes und der Handlung. Zweitens ist sie konzeptuell nicht in der Lage, ein Kriterium zu finden, das den Unterschied zwischen dolus eventualis und bewusster Fahrlässigkeit rechtfertigen kann. Hinsichtlich des ersten Problems haben wir im ersten Teil gesehen, dass es zwei Elemente des internen Aspekts einer Handlung gibt: ein epistemisches und ein volitives Element. Letzteres ist unerlässlich, damit der Handelnde seine Pläne in die Realität umsetzt. Wenn es keine Handlung der Person gibt, dann ist das Wissen über die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Straftatbestand erfüllen kann, irrelevant für die Zuschreibung von Verantwortlichkeit. In Anbetracht der Tatsache, dass es einer epistemischen Vorsatztheorie unmöglich ist, diese Figur von der bewussten Fahrlässigkeit zu unterscheiden, können zwei Argumentationslinien zu der Bedeutung des Satzes „Vorsatz ist Wissen“ untersucht werden. Erstens kann dieser Satz als eine Vereinbarung über die notwendigen und hinreichenden Bedingungen dafür verstanden werden, dass Vorsatz vorliegt. In diesem Sinn muss immer dann, wenn Wissen gegeben ist, die Existenz des Vorsatzes bejaht werden. Das heißt, wenn der Satz „Vorsatz ist Wissen“ als ein Kriterium verstanden wird, das notwendige und hinreichende Bedingungen festlegt, dann müsste behauptet werden, dass die bewusste Fahrlässigkeit auch Vorsatz ist, da der Handelnde nach der Definition der bewussten Fahrlässigkeit weiß, dass sein Verhalten ein bestimmtes Risiko erzeugt. Die Tatsachenblindheit könnte ihrerseits nie als gleichbedeutend mit Vorsatz angesehen werden.15 15 Die Figur der Tatsachenblindheit bezieht sich auf Situationen, in denen der Handelnde tatsächlich nicht weiß, dass sein Verhalten einen Schaden verursachen kann, aber dieser Irrtum so krass und offensichtlich ist, dass er deswegen zur Verantwortung gezogen
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Zweitens könnte man vertreten, dass der Satz eine Behauptung über ein Element aufstellt, das immer dann vorliegt, wenn wir erklären, dass Vorsatz besteht. Diese Auffassung hat jedoch auch Schwachstellen. Der erste Nachteil besteht darin, dass es Fälle gibt, in denen kein Wissen vorliegt und trotzdem der gleiche Verantwortlichkeitsgrad zugemessen wird, wie wenn das Verhalten vorsätzlich wäre, z. B. bei der Tatsachenblindheit. Der zweite Schwachpunkt ist, dass die ständige Anwesenheit dieses Elements auch bei anderen Figuren vorliegen kann, nicht nur beim Vorsatz. Das heißt, auch wenn eingeräumt wird, dass bei Vorsatz immer Wissen vorliegt, so kann diese Eigenschaft auch bei anderen Figuren bestehen, z. B. bei der bewussten Fahrlässigkeit. In diesem Sinne ist diese Figur kein taugliches Unterscheidungskriterium. Im folgenden Absatz stelle ich einen Lösungsweg für die Schwierigkeiten vor, die die Diskussion über den Unterschied zwischen dolus eventualis und bewusster Fahrlässigkeit aufgeworfen hat. Ich vertrete den Standpunkt, dass zwischen diesen beiden Figuren kein konzeptueller Unterschied besteht, dass es aber sehr wohl einen Unterschied zwischen dem dolus eventualis und den anderen Vorsatzarten gibt. Das heißt, ich werde versuchen, die Bedeutung und praktische Relevanz der Unterscheidung zwischen „etwas intendieren“ und „vorhersehen, dass eine Konsequenz eintreten wird“ zu zeigen. Unabhängig von dem Ergebnis meines Standpunktes muss eine kohärente und gerechtfertigte Deliktstheorie ihre Struktur verändern. Wenn einerseits der Unterschied zwischen „etwas intendieren“ und „eine Konsequenz bloß vorhersehen“ nicht gerechtfertigt ist, dann muss der Versuch aufgegeben werden, einen Unterschied zwischen Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit zu finden. Die bewusste Fahrlässigkeit müsste Teil dessen sein, was bis jetzt als Vorsatz bekannt ist. Wenn andererseits der Unterschied zwischen „ein Verhalten intendieren“ und „bloß eine Konsequenz vorhersehen“ gerechtfertigt ist, dann sind die unter dem Etikett „dolus eventualis“ zusammengefassten Verhaltensweisen nicht wirklich vorsätzlich und müssten auf eine andere Weise zur Verantwortung gezogen werden, als man es durch die Verantwortlichkeit wegen Vorsatzes tut.
IV. Die Doppelwirkungsdoktrin Obwohl viele Versionen der Doppelwirkungsdoktrin existieren, stimmen alle in bestimmten Merkmalen überein. Erstens präsentieren sie sich als eine Alternative zum Konsequentialismus. Zweitens beharren sie auf der Möglichkeit und wird. Zum Beispiel kann nach Jakobs die Tatsachenblindheit folgendermaßen definiert werden: „[…] diejenige Unkenntnis, die der Täter selbst nicht als eine Desorientierung in der Welt bewertet, weil der Bereich des unbekannten Gegenstands für ihn nicht von Interesse ist“. Für diesen Autor muss derjenige, der mit Tatsachenblindheit handelt, wegen Vorsatzes verantwortlich gemacht werden. Vgl. Jakobs (Fn. 13), S. 138.
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Bedeutung der Unterscheidung zwischen denjenigen Ergebnissen, die ein Handelnder zu erreichen versucht, und den vorhergesehenen Konsequenzen seines Verhaltens.16 Auch wenn in beiden Fällen die Konsequenzen dieselben sind, erscheint es doch verwerflicher, einen Schaden direkt hervorzurufen, als denselben Schaden zu verursachen, ohne dies direkt versucht zu haben. Woodward behauptet: Eine Vorgehensweise, mit der ein Philosoph zu einer Antwort auf diese Frage kommen kann, besteht darin, ein Merkmal zu identifizieren, das der einen Handlung eignet, der anderen Handlung hingegen nicht. Dann kann der Philosoph ein Moralprinzip suchen, das die Handlungen auszeichnet, die dieses Merkmal haben und diejenigen ausgrenzt, denen das Merkmal fehlt. Wenn ein solches Prinzip identifiziert und rational verteidigt werden kann, dann unterscheiden sich Handlungen in ihrem Moralstatus, wenn eine von ihnen dieses Charakteristikum aufweist und die andere nicht.17 Die Doppelwirkungsdoktrin wird seit Thomas von Aquin von zahllosen Philosophen angewandt und verteidigt. Auch wenn sie zu Beginn eine nur mit religiösen Lehren verbundene Konzeption war, hat sie in der Gegenwart unabhängig von religiösen Überzeugungen Bedeutung und Einfluss erlangt. Die Verfechter der Doppelwirkung behaupten, bei einem Dritte schädigenden Verhalten bewirke die Tatsache, dass dieser Schaden zwar vorhergesehen wurde, aber nicht intendiert war, manchmal einen Unterschied im Hinblick darauf, ob dieses Verhalten erlaubt ist. Nach dieser Theorie muss ein Verhalten, um erlaubt zu sein, folgende Merkmale aufweisen: 1) Die Handlung selbst ist zumindest moralisch indifferent. 2) Die intendierte Handlung verursacht unerwünschte Konsequenzen. 3) Der Handelnde sieht voraus, dass die Handlung einen schädigenden Effekt hervorrufen wird. 4) Der Handelnde intendiert den Schaden weder als Mittel noch als Zweck.18 Diese Doktrin wird gewöhnlich zur Rechtfertigung von Fällen genannt wie dem der operativen Entfernung der von Krebs befallenen Gebärmutter einer 16 Für einen Einblick in die Hauptdiskussionen über die Doppelwirkung siehe zum Beispiel Foot, in: Steinbock/Norcross (Hrsg.), Killing and Letting Die, 1994, S. 273; Boyle, in: Woodward (Hrsg.), The Doctrine of Double Effect – Philosophers Debate a Controversial Moral Principle, 2001, S. 8 ff.; Cavanaugh, Double-Effect Reasoning. Doing Good and Avoiding Evil, 2006. 17 Woodward (Fn. 16), S. 2. 18 Folgendes Erfordernis ist zwar nicht allen Autoren gemein, tritt aber mit einer gewissen Häufigkeit auf: 5) Der gute Effekt muss so gut sein, dass er den schlechten Effekt ausgleicht. Es gibt ebenfalls Autoren, die erklären, es sei ratsam, verschiedene Arten von „Nebeneffekten“ in die Untersuchung einzuführen, und ausgehend davon die Doppelwirkungsdoktrin als eine Dreifachwirkung zu rekonstruieren. Hierzu vgl. Kamm, Nonconsequentialism, in: LaFollete (Hrsg.), The Blackwell Guide to Ethical Theory, 2000, S. 211 – 213; ders. (Fn. 3), 2007.
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schwangeren Frau (positiver Effekt), wobei als negativer Effekt vorhergesehen wird, dass der Fötus als Konsequenz der Operation sterben wird (Hysterektomie). Sie rechtfertigt aber z. B. nicht den Fall, dass der Schädel eines Fötus zur Rettung des Lebens der Schwangeren zerquetscht wird (Kraniotomie). Die Doppelwirkungslehre erlaubt auch das Verhalten des Arztes, der einem Patienten mit einer schmerzhaften und tödlichen Krankheit ein Schmerzmittel verabreicht, wobei er vorhersieht, dass dieses Medikament das Leben des Patienten verkürzen wird (terminale Sedierung). Sie erlaubt jedoch nicht, dass ein Arzt einem todkranken Patienten eine tödliche Substanz spritzt, um dessen Leben zu beenden und auf diese Weise seinem Leiden ein Ende zu setzen (Euthanasie). Trotz der Attraktivität der Doppelwirkungsdoktrin zur Erklärung einiger unserer moralischen Intuitionen wird sie stark kritisiert. Die Hauptkritikpunkte sind folgende: (i) das Näheproblem und (ii) das Problem der moralischen Relevanz der Unterscheidung zwischen „etwas intendieren“ und „seine Konsequenzen vorhersehen“. Natürlich stehen diejenigen, die abstreiten, dass die Intention eine wichtige Rolle bei der Verantwortlichkeitszuschreibung spielt, auch der Plausibilität der Doppelwirkungsdoktrin kritisch gegenüber. Ich habe jedoch im ersten Teil zu zeigen versucht, warum diese Auffassung irrt. Daher werde ich diesen Punkt nicht noch einmal aufgreifen, sondern mich im Folgenden der Untersuchung des Näheproblems und des Problems der moralischen Relevanz widmen. 1. Das Näheproblem Obwohl die zentralen Aspekte des Näheproblems schon sehr viel früher bekannt waren – so erklärte Pascal zum Beispiel, diese Unterscheidung begünstige die moralische Scheinheiligkeit –, wurde der Begriff „Näheproblem“ von Philippa Foot in ihrem berühmten Artikel „Das Abtreibungsproblem und die Doppelwirkungsdoktrin“ geprägt. Sie führt hierzu aus: „[…] Wir können an jene unter Philosophen wohlbekannte Geschichte von dem dicken Mann denken, der im Eingang einer Höhle feststeckt. Eine Gruppe von fahrlässigen Höhlenforschern hat erlaubt, dass der dicke Mann sie aus der Höhle herausführt, dabei ist er aber steckengeblieben, sodass alle anderen hinter ihm eingeschlossen werden. Zwar könnte man abwarten, bis der dicke Mann dünner wird, aber die Philosophen haben es so konstruiert, dass ein Sturzbach die Höhle überflutet. Zum Glück (zum Glück?) hat die eingeschlossene Gruppe Dynamit dabei, womit sie den dicken Mann wegsprengen könnte. Entweder sie benutzen das Dynamit oder sie ertrinken. In einer Version würde der dicke Mann mit ihnen ertrinken, weil sein Kopf in der Höhle ist; in der anderen Version würde er rechtzeitig gerettet werden. Das Problem ist: Soll das Dynamit benutzt werden oder nicht? […] Hier wurde es [das Beispiel] als eine kleine Hilfe eingeführt, um zu zeigen, wie lächerlich eine Version der Doppelwirkungsdoktrin sein könnte, da man annehmen kann, dass die eingesperrten Forscher argumentieren könnten, der Tod des dicken Mannes könnte als eine bloße vorhersehbare Kon-
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sequenz seiner Sprengung angesehen werden. (,Wir wollten ihn nicht töten […] nur in tausend Stücke sprengen, oder sogar “[…] ihn nur aus der Höhle katapultieren‘). Ich glaube, dass diejenigen, die die Doppelwirkungsdoktrin anwenden, gut daran tun würden, einen solchen Vorschlag abzulehnen, auch wenn sie natürlich beträchtliche Schwierigkeiten hätten zu erklären, wo die Linie gezogen werden muss. Worin muss das „Nähe“-Kriterium bestehen, wenn wir sagen, dass jegliche Sache, die sich dem nähert, auf das wir zielen, als Teil unseres Ziels gilt?“19
Zusammenfassend lässt sich sagen: Das Näheproblem besteht darin, ein Kriterium oder eine Gesamtheit von Kriterien zu finden, um zwischen den vorhergesehenen Konsequenzen und den intendierten Zielen zu unterscheiden. Es wurden verschiedene Kriterien getestet, um das Näheproblem zu lösen, insbesondere die Nähe als konzeptuelle Notwendigkeit, die Nähe als Wahrscheinlichkeitsgrad und die Nähe als kontrafaktischer Test. Nach der Annahme von Nähe als konzeptueller Notwendigkeit sind zwei Ereignisse, A (jemanden zu erstechen) und B (ihn zu töten), nur dann zu nahe, d. h. sie gehören derselben Klasse an, wenn B eine Konsequenz ist, die analytisch mit dem verbunden ist, was der Handelnde intendiert.20 Die Hauptschwierigkeit dieses Kriteriums besteht darin, dass der Bereich der Intention zu eng abgesteckt wird. Das heißt, ein Befürworter der Doppelwirkung könnte in bestimmten Fallgruppen mit dieser Nähekonzeption übereinstimmen, z. B. bei dem in der Höhle steckengebliebenen Forscher, aber er würde andere Fälle rechtfertigen, in denen die Verbindung nur wahrscheinlich ist, auch wenn diese Wahrscheinlichkeit sehr hoch ist. Auch wenn das Ergebnis der Handlung „zu nahe“ an den vorhergesehenen Konsequenzen ist, könnten beide Konsequenzen in vielen Fällen beschrieben werden, ohne den Tod des Opfers zu erwähnen. Ein anderes Kriterium bei der Untersuchung der Nähe ist der Vorschlag, zwischen „intendieren“ und „vorhersehen“ zu unterscheiden, indem man den Wahrscheinlichkeitsgrad berücksichtigt, mit dem das intendierte Verhalten die vorhergesehenen Konsequenzen hervorrufen wird. Das heißt, das Verhalten ist intendiert, wenn es einen gewissen Wahrscheinlichkeitsgrad übersteigt, und es ist nur dann eine vorhergesehene Konsequenz, wenn es diese Grenze nicht übersteigt. Das Wahrscheinlichkeitskriterium kann auf zwei Arten verstanden werden. Erstens wird gefragt, ob die verursachten Konsequenzen sicher oder wahrscheinlich eintreten.21 Zweitens wird in Bezug auf eine zeitliche Dimension darauf abgestellt, ob die Konsequenzen unmittelbar bevorstehen oder in der 19
Foot (Fn. 16). Für eine ausführliche Diskussion dieses komplexen Sachverhalts siehe Spector, Perspectivas en Bioéticas, Jahrgang 2, Nr. 1, 1997, S. 93 ff.; ders., Autonomy and Rights. The Moral Foundations of Liberalism, 2008, Kapitel 4. 21 Anscombe, in: Woodward (Fn. 16), S. 50 ff. 20
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fernen Zukunft liegen.22 Die Hauptprobleme der Nähe als Wahrscheinlichkeitskriterium sind den Problemen ähnlich, die die Strafrechtsdogmatik bei den sogenannten „Wahrscheinlichkeitstheorien“ aufzeigt. Einige dieser Schwachstellen bestehen in Folgendem: Es besteht keine Einigkeit darüber, ob der Handelnde die Wahrscheinlichkeit abstrakt oder konkret kennen muss. Außerdem können anhand dieses Kriteriums die unbedeutenden Wahrscheinlichkeitsvariationen nicht erfasst werden. Und wie Hart aufzeigte, wären mit diesem Standpunkt sowohl die Hysterektomie- als auch die Kraniotomie-Fälle verboten, da es in beiden Fällen keine Überlebenswahrscheinlichkeiten gibt.23 Auch bezüglich des auf ein zeitliches Kriterium gestützten Näheprinzips können einige Kritikpunkte aufgezeigt werden. Die Ergebnisse unserer Handlungen verursachen in unvermeidlicher Weise eine Vielzahl von Folgen. Würden wir sagen, eine in ferner Zukunft liegende, aber sichere Konsequenz gilt als intendiert? Jonathan Glover kritisiert dieses Kriterium anhand des folgenden Beispiels: Wenn ich meinem Feind ein tödliches Gift verabreiche, das erst sehr viel später wirken wird, würden wir behaupten, dass der Tod bloß vorhergesehen ist? Eine letzte Ansicht zum Nähekriterium versteht die Nähe als einen kontrafaktischen Test. Die zu beantwortende Frage ist dann: Würde der Handelnde mit der Erreichung des Beabsichtigten scheitern, wenn entgegen seiner Voraussicht der Effekt nicht eintritt?24 Dieses Kriterium wurde beanstandet, weil es den Bereich der verbotenen Verhaltensweisen zu sehr begrenze und nur schädliche Handlungen, die gerade wegen ihrer Schädlichkeit ausgewählt wurden, als Schädigungsversuchsfälle klassifiziert würden. Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass das Hauptziel dieses Versagenstests (test of failure) darin besteht, einen Mechanismus zur Ermittlung der wahren Intentionen des Handelnden anzubieten. Während es für die Kritiker der Doppelwirkung kein plausibles Kriterium gibt, um zwischen „intendieren“ und „vorhersehen“ zu unterscheiden, vertreten die Verfechter dieser These die Auffassung, dass die Schwierigkeiten mit einem allgemeinen Kriterium gelöst werden könnten. Meiner Ansicht nach muss dieses Problem auf eine andere Weise angegangen werden. Die bis jetzt zu der Frage der Nähe gemachten Ausführungen rechtfertigen die Bemerkung, dass einerseits keine Einigkeit darüber besteht, was es bedeutet, das Näheproblem zu lösen, und dass sich andererseits unter diesem Begriff zu heterogene Fragen und Probleme unterschiedlicher Natur versammeln. Das Scheitern bei der Suche nach einem Kriterium ist der Tatsache geschuldet, dass versucht wird, dieselbe Antwort für verschiedene Probleme zu finden, nur 22
Glover, Causing Death and Saving Lives, 1977, S. 88. Hart, Punishment and Responsibility, 1973, S. 123. 24 Duff, Intention, Agency and Criminal Liability, 1990, S. 61; Searle, Intentionality, 1983, S. 81 ff.; Fried, Rights and Wrongs, 1978, S. 23. 23
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weil die Probleme unter demselben Namen zusammengefasst werden. Unter diesem Oberbegriff können Probleme konzeptueller, semantischer und empirischer Natur gefunden werden. Meiner Ansicht nach können die Probleme zwar in einigen Dimensionen der Nähe gelöst werden, während es in anderen Dimensionen keine richtige Antwort gibt. Dies genügt jedoch nicht, um die Unterscheidung zwischen „intendieren“ und „vorhersehen“ abzulehnen. In den folgenden Absätzen werde ich ganz kurz einige Aspekte dieser Probleme kommentieren. 1. Der Kern des konzeptuellen Problems besteht in der Festlegung eines Kriteriums zur Unterscheidung zwischen intendierten Ergebnissen und bloß vorhergesehenen Konsequenzen. Die Individualisierung einer Handlung hängt von den Interessen der Menschen ab, die sie beschreiben. Nach von Wright hängt die Individualisierung einer Handlung von „unserem Interesse“ an der Beschreibung der Handlung ab. Es muss also geklärt werden, was wir unter „unserem Interesse“ verstehen und was die Grenzen dieser Wahl sind.25 Die verschiedenen Interessen, die die Identifikation zur Folge haben, sind der Ursprung von Uneinigkeiten und verursachen viele Schwierigkeiten für das richtige Verständnis dessen, was eine Lösung für das Näheproblem sein könnte. In diesem Sinn hängt die Lösung für das Näheproblem nicht mehr davon ab, ob wir gute oder schlechte Antworten haben, sondern davon, ob wir dieselben Fragen lösen wollen. Es gibt mindestens zwei verschiedene Arten von Interessen, ein Aussageinteresse (propositional interest) und ein praktisches Interesse. Ersteres ist auf die Erklärung einer Handlung gerichtet und will untersuchen, was der Handelnde getan hat und aus welchem Grund er es getan hat, d. h. es wird nach seinem wahren Intentionsobjekt gefragt. Wenn der Forscher, der in der Höhle eine Bombe zündet, zum Beispiel nicht die Intention hat, den feststeckenden Mann zu töten, und wenn wir annehmen, dass er die Wahrheit sagt, dann können wir die Handlung nicht als „er versuchte, den steckengebliebenen Mann zu töten“ beschreiben.26 Natürlich ist dies unabhängig davon, dass wir erklären, die Handlung des Forschers zähle als töten. Aber Letzteres hängt mit der Bewertung der Handlung oder der moralischen Relevanz der Unterscheidung zusammen und nicht mit der Möglichkeit, ein Kriterium zu finden, um zwischen „etwas intendieren“ und einer vorhergesehenen Konsequenz zu unterscheiden. 25
von Wright, On the Logic of Norms and Actions, S. 113. Natürlich können dadurch, dass keine Einigung über die Kriterien für die Feststellung besteht, ob eine Handlung intendiert ist, und durch den Mangel an Elementen, um glaubhaft zu bescheinigen, was ein Handelnder bei einer bestimmten Gelegenheit intendiert, neue Schwierigkeiten auftreten. Die erste Problemgruppe bezieht sich auf die Präzision unserer Klassifizierungskriterien und die Art und Weise, wie zwischen Fallgruppen unterschieden wird, während die zweite Problemgruppe sich auf die Information bezieht, die für die Einordnung eines bestimmten Falles in eine bestimmte Klasse geeignet ist. Die erste Problemgruppe ist semantisch, die zweite empirisch. 26
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Das praktische Interesse ist mit der Bewertung der Handlungen verbunden, und unter diesem Gesichtspunkt erlangen die von dem Handelnden verursachten Konsequenzen Bedeutung. Wenn die Identifikation einer Handlung nicht durch die Intention des Handelnden erfolgt, dann werden gewöhnlich Kriterien gesucht, die sich entweder auf die externen Aspekte eines Verhaltens oder auf die von ihm geschaffenen Konsequenzen stützen. Im Allgemeinen wird eine Konsequenz als Handlung bewertet, auch wenn wir wissen, dass der Handelnde sie nicht intendiert hat. Eine offensichtliche Schwierigkeit des praktischen Interesses besteht darin, dass die kausalen Konsequenzen sich auf einen langen Zeitraum ausdehnen und es sein kann, dass man im Zeitpunkt der Handlungsausführung nicht weiß, welches die relevante Eigenschaft ist, die wir identifizieren wollen. Nehmen wir zum Beispiel an, dass ich jemanden überfahre und dass diese Person ein Jahr nach dem Unfall stirbt. Wird man mich wegen Totschlags beschuldigen? In welchem Moment habe ich das Opfer getötet? In der Moralphilosophie und der Strafrechtsdogmatik wird die Identifizierung der Handlung oft mit dem Bewertungsproblem vermischt. In dieser Arbeit habe ich die Ansicht vertreten, dass die Erklärung der Bewertung der Handlungen vorausgeht. Da kein Kriterium gleichzeitig die Ansprüche des praktischen Interesses und des Aussageinteresses befriedigen kann, ist das Aussagekonzept der Ausgangspunkt für die Anwendung des praktischen oder des Bewertungskonzepts. 2. Im Hinblick auf die semantische Frage kann behauptet werden, dass der Gebrauch eines Kriteriums nicht dazu taugt, alle Schwierigkeiten auszuräumen, die das Näheproblem schafft. In der semantischen Dimension entsteht das Problem wegen der unvermeidlichen Unbestimmtheit unserer Begriffe und weil man zur Falllösung eine Regel anwenden muss. Es muss jedoch betont werden, dass diese Schwierigkeiten kein Problem des Nähekriteriums, sondern ein solches unserer Erwartungen sind. In den Diskussionen über die Doppelwirkung wird folgendes den Kriterien innewohnende Merkmal zu oft vergessen: Kein Kriterium kann alle auftretenden Fälle eindeutig lösen und selbst in den Fällen, in denen das Kriterium ganz klar angewandt wird, können Gründe für seine Nichtanwendung gefunden werden. Wenn angenommen wird, dass zur Lösung des Näheproblems ein Kriterium gefunden werden muss, dann kann dieses Kriterium nicht aus dem unvermeidbaren Grund ausgeschlossen werden, dass es nicht eindeutig alle relevanten Fälle löst oder weil die Anwendung des Kriteriums problematische Fälle (der Über- oder Untereinschließung) erzeugt. Man erinnere sich daran, dass der Besitz eines Kriteriums dem Besitz einer Regel ähnelt. Wenn man ein zu befolgendes Kriterium festlegt, sind die Gründe, die es rechtfertigen, undurchsichtig und alle Eigenschaften, die nach der Schaffung der ausreichenden Bedingungen des Kriteriums hinzugefügt werden, sind irrelevant. Daher kann den Kritikern der Doppelwirkung nie eine Antwort gegeben werden, weil sie etwas Inkohärentes wollen: ein Kriterium zur Verteidigung der Unterschiede zwischen intendier-
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ten Ergebnissen und vorhergesehenen Konsequenzen zu haben, das aber nicht die entscheidenden Merkmale dieses Begriffs aufweist. 3. Die empirische Dimension des Näheproblems tritt schließlich in Situationen auf, in denen nicht genügend Elemente zur Verfügung stehen, um festzustellen, was der Handelnde getan hat. Dies geschieht sowohl dann, wenn wir daran zweifeln, dass die Tatsachen in der Weise stattgefunden haben, in der sie der Handelnde erzählt (wenn es z. B. Gründe für die Annahme gibt, dass der Handelnde uns belügt), als auch dann, wenn wir aus irgendeinem Grund nicht genau wissen, was passiert ist. Oft gibt es keine Tatsachen, die als unwiderlegbarer Beweis für die Geisteszustände des Handelnden angeführt werden können; daher werden diejenigen, die ein Kriterium nach den Tatsachen bewerten, die es uns zu klassifizieren ermöglicht, sich versucht fühlen, seine Bedeutung zu schwächen oder es schlicht und einfach als irrelevant auszuschließen. Diese Situationen als Erkenntnisprobleme zu behandeln, verpflichtet dazu, die Geisteszustände der Handelnden als etwas zu verstehen, das durch wahre oder falsche Aussagen beschrieben und das im Prinzip bewiesen werden kann, wenn auch möglicherweise auf indirekte Weise, z. B. durch Vermutungen. Natürlich stellt es eine Ausnahme zu dieser Verpflichtung dar, wenn ein auf Geisteszustände bezogener Fall durch Vermutungen gelöst wird: Wenn uns der tatsächliche Geisteszustand des Handelnden nicht interessieren würde, wären die Vermutungen nicht die Ausnahme, sondern vielmehr die Regel oder das Kriterium. Zusammenfassend gesagt, habe ich in diesem Absatz die Ansicht vertreten, dass die Vertreter eines Nähekriteriums zu optimistisch und ihre Gegner zu pessimistisch sind. Ich habe gezeigt, dass sich beide Haltungen irren und dass es verschiedene Dimensionen des Näheproblems gibt. So wie viele philosophische Probleme ist auch das Näheproblem also kein Problem, das gelöst werden kann, sondern eines, das sich vielmehr auflöst. In dem folgenden Teil will ich zeigen, dass die Differenzierung zwischen intendierten und vorhergesehenen Folgen einen praktischen Unterschied bei der Verantwortlichkeitszuschreibung macht. Dieses Thema ist in der Doppelwirkungsdoktrin als Relevanzproblem bekannt. 2. Das Relevanzproblem Das Problem der Relevanz der Unterscheidung zwischen „intendieren“ und „vorhersehen“ setzt voraus, dass es möglich ist, diese Unterscheidung vorzunehmen, aber gleichzeitig dürfte diese Differenzierung keinen spezifischen praktischen Unterschied machen. Die Befürworter der Doppelwirkung lehnen die Ansicht ab, dass ein Schaden als Mittel oder als Zweck verursacht werden kann. Dies wirft allerdings unmittelbar die Frage auf, was diese Schäden von den nur vorhergesehenen unwerten Konsequenzen unterscheidet. Das heißt, die Verfechter der Doppelwirkung müssen zeigen, dass einerseits ein praktischer Unterschied zwischen „etwas
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als Zweck intendieren“ und der vorhergesehenen Konsequenz der Handlung besteht, und dass andererseits ein praktischer Unterschied zwischen „etwas als Mittel wollen“ und der vorhergesehenen Konsequenz einer Handlung existiert. Bei diesem Thema bestreiten die Kritiker der Doppelwirkung oft nicht direkt die Relevanz der Unterscheidung zwischen intendiertem Ergebnis und vorhergesehener Konsequenz, sondern sie führen einen Paradigmenwechsel ein, indem sie diese Unterscheidung durch andere Konzepte ersetzen, die spezifische Intuitionen unterstützen können; ein Beispiel hierfür ist Harts Begriff der Kontrollfähigkeit des Handelnden.27 Allerdings zeigen diese Alternativen nicht, dass die Unterscheidung zwischen „intendieren“ und „eine Konsequenz vorhersehen“ irrelevant ist, sondern sie führen Kriterien ein, die mit den von der Doppelwirkung vertretenen Unterscheidungen vereinbar sind. Die aktuelle Literatur konzentriert sich üblicherweise auf eine spezifische Kritik an der Doppelwirkung: Auch wenn es einen echten moralischen Unterschied zwischen „eine unwerte Handlung als Zweck intendieren“ und „denselben Schaden als Konsequenz dieser Handlung vorhersehen“ gibt, so zeige diese Unterscheidung nicht, dass es schlimmer sei, einen Schaden als Mittel, d. h. einen ins trumentellen Schaden zu verursachen, als denselben Schaden als eine kontingente Folge, d. h. als einen kontingenten Schaden, vorherzusehen. Mit anderen Worten: Die Doppelwirkungsdoktrin müsse abgelehnt werden, weil sie in ungerechtfertigter Weise einen Unterschied zwischen den instrumentellen und den kontingenten Schäden annehme.28 Diese kritische Argumentationslinie scheint sich jedoch auf einen Irrtum zu stützen. Auch wenn es stimmt, dass ein schlechter Zweck auch die Wahl der Mittel verdirbt, so folgt daraus noch nicht, dass, wenn der Zweck des Handelnden nicht schlecht ist, dann auch seine Mittel unumstritten sein werden. Bei der Wahl der Mittel greift der Handelnde auf entscheidende Weise in einen spezifischen Handlungsverlauf ein und verpflichtet sich ihm gegenüber. Wenn das Mittel schlecht ist, ist daher auch seine Intention mangelhaft. Diese Haltung liegt nicht notwendigerweise vor, wenn die Konsequenz nur vorhergesehen wird. Über die Antwort auf die Kritiker hinaus muss die Hauptintuition der Doppelwirkung positiv begründet werden. In diesem Sinne kann die moralische Relevanz der Unterscheidung zwischen „intendieren“ und „vorhersehen“ auf zwei verschiedene, aber miteinander verbundene Ideen gestützt werden: erstens auf die Idee des Handelnden und die Wahlfreiheit;29 zweitens auf die Asymmetrie 27 Hart (Fn. 23), S. 122 ff. Auch wenn Harts Kommentare und Kritiken an der Doppelwirkungsdoktrin kurz und knapp sind, so haben sie doch die Agenda der aktuellen Diskussion zu diesem Thema geprägt. 28 McIntyre, Ethics 11, 2001, S. 220. 29 Für eine Ausgestaltung dieses Arguments in Verbindung mit der Doppelwirkungsdoktrin vgl. Cavanaugh (Fn. 3), S. 147 ff.
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zwischen der Fähigkeit, schlechte Wahlentscheidungen zu verhindern und der Fähigkeit, schlechte Konsequenzen zu vermeiden.30 Zu der ersten Idee: Jemand wählt nur dann frei, wenn er rational zu verschiedenen Zielen motiviert ist, die untereinander unvereinbar sind, und wenn allein seine Wahl festlegt, welche Alternativen daraus folgen.31 Natürlich steckt in der Wahl die Idee, bestimmte Sachverhalte durchzuführen oder zu schaffen, und gerade diese Zustände, zu deren Schaffung man sich verpflichtet, führen dazu, dass eine Wahl den anderen Optionen vorzuziehen ist. Die Dinge, die man auswählt, verwandeln den Handelnden in eine Person, die handelt. Das sind die Dinge, die man intendiert, und nichts, außer einer neuen, entgegenstehenden Wahl, kann diese Situation ändern.32 Außer der Intention kann kein Element den Handelnden auf diese Weise verwandeln. Wenn jemand eine Intention hat, bereitet er sich darauf vor, etwas zu tun. Dies ist ein charakteristisches Merkmal der sogenannten praktischen Gedankengänge. Wenn jemand die Intention hat, etwas zu tun, dann tut er nach diesem Schema etwas, sofern die Möglichkeit zur Handlung besteht und es sich nicht um eine zukünftige Handlung handelt.33 Die Suche nach dem Ergebnis ist ein entscheidendes praktisches Merkmal, um festzulegen, dass die Person eine bestimmte Intention hat. Ein grundlegender Bestandteil der praktischen Situation, die der Handelnde mit seinem Verhalten hervorzurufen sucht, besteht darin, zu erzeugen, was er für die Erreichung seiner Ziele für notwendig hält.34 Wenn jemand die Intention hat, etwas durchzuführen, und er dies nicht erreicht, dann hat er bei der Verwirklichung seiner Handlung versagt. Die zweite Idee, d. h. die Asymmetrie zwischen unserer Fähigkeit, schlechte Wahlentscheidungen zu vermeiden, und unserer Fähigkeit, schlechte Konsequenzen zu verhindern, setzt die erste Idee voraus. Nur weil uns die Idee des Handelnden und die Wahlfreiheit interessiert, ist es relevant, ob wir die Erzeugung bestimmter Konsequenzen vermeiden können oder nicht. Immer dann, wenn jemand uns eine „schlechte Handlung“ zuschreibt, geschieht dies, weil wir etwas anderes hätten tun können als das, was wir tatsächlich getan haben, sei es, weil wir eine andere Sache hätten wählen können oder weil wir den Schaden hätten vermeiden können, der uns zur Last gelegt wird. Diese Idee ist maßgebend, 30 Finnis/Grisez/Boyle, Nuclear Deterrence: Morality and Realism, 1987, S. 292; Boyle, American Journal of Jurisprudence 53, 2008, S. 73. 31 Frankfurt, La importancia de lo que nos preocupa, 2006, S. 38. 32 Boyle (Fn. 16), S. 17. Für einen kritischen Kommentar zu Boyles These und zu der Ansicht, dieser Autor habe in verschiedenen Artikeln unterschiedliche Thesen vertreten, vgl. Anderson, American Journal of Jurisprudence 52, 2007, S. 259 ff. 33 Für eine Ausgestaltung der Grenzen der praktischen Inferenz vgl. von Wright (Fn. 2, 1979), S. 124 ff. 34 Anscombe, Intención, 1991, S. 111 ff.; von Wright (Fn. 2, 1979), S. 48; ders. (Fn. 2, 1983), S. 1.
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um den Vorwurf zu verstehen, der in den Fällen erhoben wird, in denen sowohl unsere Ziele als auch unsere Mittel schädlich sind. Jedoch geschieht nicht dasselbe mit den Konsequenzen unserer Verhaltensweisen (unabhängig davon, ob sie vorhergesehen wurden oder nicht). Dem ist so, weil jede Handlung früher oder später eine Einwirkung auf irgendwelche Güter der Menschen erzeugt. Und während wir es vermeiden können, einen Schaden zu intendieren, können wir es nicht vermeiden, als Konsequenz unseres Tuns zu schädigen. Da der Schaden unvermeidbar ist, kann nicht beabsichtigt werden, dieses Verhalten auszuschließen, d. h. es hat keinen Sinn, Verhaltensweisen oder Konsequenzen zu verbieten, die zwangsläufig geschehen werden.35
V. Schlussfolgerung Bevor wir zum Ende kommen, soll die Hauptidee dieser Arbeit hervorgehoben werden. Ich habe zu zeigen versucht, dass der unter dem Namen des dolus eventualis geäußerte Vorwurf, d. h. der Vorwurf wegen der von uns verursachten Konsequenzen, nicht gerechtfertigt ist oder zumindest nicht in dem Maße, in dem die gegenwärtige Strafrechtsdogmatik es behauptet. Zur Rechtfertigung dieser Idee habe ich die Notwendigkeit gezeigt, eine Handlung zu erklären, bevor sie bewertet werden kann, sowie die Möglichkeit und Bedeutung, die der Unterscheidung zwischen „etwas intendieren“ und „seine Konsequenzen vorhersehen“ innewohnt. Die Dogmatik steht insofern am Scheideweg: Entweder akzeptiert sie diese Unterscheidung und gibt folglich den Anspruch auf, den dolus eventualis als Vorsatz zu bewerten. Oder sie lehnt die Unterscheidung ab, muss dann aber in Kauf nehmen, dass die unter dem Etikett der bewussten Fahrlässigkeit zusammengefassten Verhaltensweisen so bewertet werden müssen, als wären sie vorsätzlich. Natürlich würde dies einen konzeptuellen Gleichgewichtsverlust erzeugen und die Zuschreibung der schwersten Verantwortlichkeit wäre nur an eine sehr geringe Intentionalitätsschwelle gebunden. Deshalb sei zusammenfassend gesagt: Bevor man annimmt, dass der dolus eventualis eine Vorsatzart ist, müsste in Betracht gezogen werden, ob diese Figur nicht vielmehr eine Alternative zum Vorsatz ist.
35 Finnis, in: Frey/Morris (Hrsg.), Liability and Responsibility. Essays in Law and Morals, 1991, S. 63. In demselben Sinn Finnis, Moral Absolutes, 1991, S. 71.
Implizite Rechte und Verfassungsgrenzen* Von Pablo E. Navarro Pablo E. Navarro Pablo E. Navarro: Implizite Rechte und Verfassungsgrenzen Implizite Rechte und Verfassungsgrenzen
I. Einleitung In der allgemeinen Rechtstheorie wird für gewöhnlich angenommen, dass das Recht eine dynamische Ordnung ist und eine hierarchische Struktur besitzt.1 Ebenso wie die Moralnormen einer bestimmten Gemeinschaft kann das Recht sich durch Modifizierungen der sozialen Sitten verändern, aber im Unterschied zur Moral kann das Recht außerdem durch die Entscheidungen bestimmter Personen oder Personengruppen willentlich geändert werden.2 Darauf beruht gemeinhin unsere Vorstellung von Autorität: ein Organ, das die normative Beurteilung einer bestimmten Situation gezielt verändern kann. Diese Fähigkeit, die Normen des Systems zu verändern, kann jedoch auf verschiedene Arten eingeschränkt werden. In den zeitgenössischen Rechtsordnungen wird insbesondere betont, dass eine Autorität A1, die hierarchisch der Autorität A2 untergeordnet ist, nicht die von A2 formulierten Normen abwandeln kann. Die Hierarchie zeigt sich sozusagen in der Resistenz, die die Normen von A2 im Fall eines Konflikts mit anderen Normen einer niedrigeren Ebene aufweisen. Mit anderen Worten, lex superior setzt sich gegen lex inferior durch.3 Dieser übliche Ansatz der dynamischen und hierarchischen Natur des Rechts basiert auf der Grundlage von ausformulierten Normen, da eine Norm normalerweise der hierarchischen Ebene zugeschrieben wird, die der normgebenden Autorität entspricht. Diese Rekonstruktion soll nicht die Komplexität dieser paradigmatischen Merkmale des Rechts erschöpfen, sondern seine intuitiv am meisten einleuchtenden Aspekte identifizieren und das konzeptuelle Szenario zur Behandlung des Problems vorbereiten, das ich in dieser Arbeit untersuchen möchte: die hierarchische Stellung, Reichweite und institutionelle Macht der impliziten Normen. Juristen nehmen oft an, dass der Inhalt des Rechts sich nicht in den von * Übersetzung ins Deutsche durch Anna Richter. 1
Vgl. zum Beispiel Kelsen, Teoría Pura del Derecho, 2. Aufl. 1981, S. 201 ff. Hart, El concepto de derecho, 1963, S. 217 ff. 3 Zu der konzeptuellen Verbindung zwischen Rechtsdynamik, Autorität und lex posterior vgl. Alchourrón/Bulygin, Libertad y autoridad normativa, in: Análisis lógico y derecho, 1991, S. 243 f. 2
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der Autorität ausformulierten Normen erschöpft, sondern dass auch die Normen berücksichtigt werden müssen, die von den ausdrücklich erlassenen Normen abgeleitet werden. In dem Maße wie Rechte und Pflichten der Mitglieder einer Gemeinschaft sich auf die Normen des Rechtssystems stützen, erschöpft sich unser Katalog von Rechten und Pflichten nicht in den von der Autorität ausdrücklich genannten, sondern umfasst auch implizite Rechte und Pflichten.4 In diesem Aufsatz wird besonderer Nachdruck auf die Verpflichtungen gelegt, die entstehen, wenn den Individuen ausdrücklich ein verfassungsrechtlicher Katalog von Rechten zuerkannt wird, der mit anderen impliziten Rechten in der Rechtsordnung in Konflikt geraten kann. Die Diskussion geht von einem strafrechtlichen Thema aus, nämlich der Reichweite der Notstandsrechte. Sie dient aber auch dazu, unsere Konzeptionen von Rechten, die Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien, die hierarchische Überlegenheit der Verfassungsnormen und den Wert, den wir den Entscheidungen der Volksvertreter beimessen, zu untersuchen. Der Gedankengang dieser Untersuchung beruht auf dem folgenden Problem. Gelegentlich nehmen wir an, dass das Verhalten einer Person, die sich in einer Notstandssituation befindet, rechtlich gerechtfertigt ist, auch wenn diese Handlung die Güter und Rechte Dritter beeinträchtigt, die nichts mit der Schaffung der Gefahr zu tun haben, der sich der Notleidende gegenüber sieht. Wenn zum Beispiel eine Person die Haustür ihres Nachbarn zerstört, um einem Feuer zu entkommen, gehen wir davon aus, dass ihr Verhalten keinen rechtlichen Vorwurf verdient, dass also die Handlung nicht rechtswidrig ist. Um dieses Merkmal zu unterstreichen, nimmt ein bedeutender Teil der gegenwärtigen Strafrechtsdogmatik an, dass es ein Notstandsrecht und eine entsprechende Toleranzpflicht gibt.5 Aber was definiert diese Notstandsrechte und Toleranzpflichten? In welchem Sektor unserer Rechtsordnung sind diese Rechte und Pflichten positiviert? Eine direkte Antwort bestünde darin, auf die Rechtfertigungsgründe hinzuweisen, die sich in den Strafrechtsordnungen finden, z. B. in Art. 34 des argentinischen Strafgesetzbuchs. In diesem Fall wäre die Grundlage dieses Rechts ausdrücklich in der positiven Rechtsordnung anerkannt, aber ihr hierarchischer Rang ist den verfassungsrechtlichen Normen untergeordnet, die das Eigentum, die Freiheit, das Leben, die Wohnung, etc. von Personen schützen, die nichts mit der Her4
So u. a. Alchourrón/Bulygin, Normative Systems, 1971; Guastini, Distinguiendo, 1999, S. 357; Ernst, Derechos implícitos, 1994. 5 Vgl. etwa Larrauri, in: Hassemer/Larrauri (Hrsg.), Justificación material y justificación procedimental en el derecho penal, 1997, S. 57 ff. Vgl. auch Silva Sánchez, Discusiones VII, 2007, S. 25 ff. – Für eine Kritik an dieser Einstellung siehe Navarro/Bouzat/ Cantaro, Discusiones VII, 2007, S. 113 ff. Die Replik von Silva Sánchez wurde in demselben Band auf den Seiten 177 – 201 veröffentlicht. Die hiesige Arbeit ist zum großen Teil eine Neufassung der in dem oben genannten Artikel von Navarro et al. vertretenen Ideen.
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beiführung der Notstandslage zu tun haben, in der sich eine bestimmte Person befindet. Eine andere Strategie bestünde darin, aufzuzeigen, dass die Notstandsrechte und Toleranzpflichten sich in einem gewissen Sinne implizit in unserer Verfassungsordnung finden. In diesem Fall besteht das Problem darin, dass nicht klar benannt wird, was die spezifische Grundlage dieser Rechte und Pflichten ist. Dies führt zu Schwierigkeiten bei der Unterscheidung zwischen verfassungsrechtlich geschützten Rechten und den Sphären, die üblicherweise politischen Entscheidungen vorbehalten sind. Folglich ergibt sich angesichts des Notstands problems folgendes Dilemma: Einerseits bietet die ausdrückliche Nennung der Rechtfertigungsgründe im Strafgesetzbuch eine rechtliche Grundlage für diese Rechte und Pflichten, jedoch ist sie im Hinblick auf den verfassungsrechtlichen Schutz von Gütern und Rechten Dritter unzureichend. Andererseits könnte die Anwendung einer impliziten, verfassungsrechtlichen Grundlage diesen Einwand gegen die Rechtmäßigkeit der Handlungen des Notleidenden überwinden, aber sie ist wiederum als Rechtsgrundlage unzureichend, wenn die Verfassungsordnung diese Rechte nicht positiviert.
II. Identifizierung des Rechts und der Rechtsgrundlagen Um festzustellen, worin eine Rechtsgrundlage besteht, müssen kurz einige grundlegende Charakteristika des Rechts und der Rechtssätze in Erinnerung gerufen werden. Hier will ich nur diejenigen Merkmale hervorheben, die für die Diskussion der Notstandsrechte und deren verfassungsrechtlicher Grenzen relevant sind. Natürlich schließen diese Merkmale nicht aus, dass auch andere zusätzliche Merkmale für die Behandlung dieses Sozialphänomens nützlich sein können. Eine normative Aussage ist eine Aussage über die deontische Bewertung einer bestimmten Handlung. Mit den Worten von Wrights: „Schematisch gesehen ist eine normative Aussage eine Aussage darüber, dass irgendetwas getan werden soll oder kann oder nicht getan werden soll […]“. Den Begriff „Aussage“ benutzt von Wright in einem Sinn, der hier „enger“ Sinn genannt werden soll. Eine Aussage im engen Sinn ist entweder wahr oder falsch. (Der Satz, der zur Formulierung der Aussage benutzt wird, ist eine Proposition.) Unter der Grundlage einer bestimmten normativen Aussage verstehe ich eine wahre Antwort auf die Frage, warum die fragliche Sache getan werden soll oder kann oder nicht getan werden soll.“6 Im Allgemeinen ist die Grundlage einer normativen Aussage extern zu der Beziehung zwischen einer Handlung und ihrem normativen Status, was bedeutet, dass irgendeine spezifische Tatsache existiert, die den Wahrheitswert der Aussa6
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ge festlegt. Auch wenn es in bestimmten normativen Diskursen (d. h. in bestimmten deontologischen Moraltheorien) geschehen kann, dass der Wahrheitswert der Aussage nicht von irgendeiner Tatsache abhängt, die zu dem Inhalt der Aussage extern ist,7 wird im Fall des Rechts gewöhnlich angenommen, dass eine normative Aussage wahr ist, wenn eine Norm existiert, die ein bestimmtes Verhalten deontisch bewertet.8 Mit anderen Worten ist die Tatsache, die die Wahrheit oder Falschheit dieser Aussage bestimmt, die Existenz dieser Norm und in diesem Sinne bildet sie die Grundlage für die Wahrheit dieser normativen Aussage. Wenn der Gesetzgeber ausdrücklich ein Notstandsrecht anerkannt hätte, dann würde die Debatte über dessen hierarchische Stellung, Reichweite und Rechtsgrundlagen von dieser gesetzgeberischen Entscheidung abhängen und der Streit über die Existenz dieses Rechts hätte keine größere theoretische Bedeutung. So könnten wir zum Beispiel zeigen, dass eine Rechtsaussage wahr ist, nach der in Argentinien ein Notstandsrecht existiert, indem wir auf eine bestimmte Norm des argentinischen Rechtssystems hinweisen, die dieses Recht positiviert, z. B. Art. 34 des Strafgesetzbuchs. Mehr noch, in diesen Fällen wüssten wir auch, welche Norm aus dem System aufgehoben werden müsste, damit dieses Notstandsrecht aus unserer Rechtsordnung verschwindet. Jedoch kann aus dem Fehlen von ausdrücklichen Grundlagen nicht unumwunden geschlossen werden, dass ein bestimmtes Recht nicht existiert. Es wäre ein Fehler zu glauben, dass ein Rechtssatz, der eine bestimmte Pflicht oder ein Recht beschreibt, falsch ist, wenn keine Norm existiert, die diese normativen Situationen ausdrücklich positiviert. Wie ich schon früher aufgezeigt habe, stützen die Juristen ihre Aussagen über den normativen Status einer Handlung oft auf „implizite Normen“ eines Rechtssystems. Auch wenn keine der erlassenen Normen sich ausdrücklich auf einen bestimmten Fall bezieht, identifiziert der juristische Gedankengang Konsequenzen und Lösungen, die in dem ausdrücklich von der Autorität ausformulierten normativen Material implizit enthalten sind. Die Natur der abgeleiteten Normen ist ein kontroverses Thema in der zeitgenössischen Theorie. Gelegentlich wird angenommen, dass eine Norm N1 in einem bestimmten System S hergeleitet wird, wenn in S andere Normen N2, N3… Nn existieren, die ein Moralprinzip P positivieren, und wenn dieses Prinzip auch durch N1 veranschaulicht wird. In diesem Fall würde es sich um Normen handeln, die durch eine Bewertung abgeleitet werden. Das Arbeitsvertragsgesetz (Ley de Contrato de Trabajo) schützt in Argentinien zum Beispiel arbeitende Frauen bis zu siebeneinhalb Monate nach der Entbindung mit einer speziellen Abfindung vor der willkürlichen Entlassung. Nehmen wir an, dass diese Norm ein Prinzip 7
von Wright, Practical Reason, 1984, S. 78 f. zum Beispiel Bulygin, in: Eigidi (Hrsg.), In the Search of a New Humanism, 1999, S. 183. 8 Vgl.
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zum Ausdruck bringt, das die Verbundenheit der Familie und die harmonische Persönlichkeitsentwicklung von Mutter und Kind begünstigt. Dieses Prinzip läge auch einer Norm zugrunde, die die arbeitende Frau schützt, die ein Kind adoptiert, d. h. auch wenn es keine Entbindung gibt. Wenn durch Bewertungen abgeleitete Normen zugelassen werden, dann wäre auch die Norm, die die arbeitende Frau schützt, die ein Kind adoptiert, Teil des argentinischen Rechts. In anderen Fällen handelt es sich bei den in einem bestimmten System S abgeleiteten Normen um Normen, die die logische Folge anderer zu S gehörender Normen sind. In diesem Fall handelt es sich um logisch abgeleitete Normen. Um Konfusionen zu vermeiden, beziehe ich mich in dieser Arbeit außer bei ausdrücklich anderslautenden Angaben auf die logisch abgeleiteten Normen. Die abgeleiteten Normen gründen sich konzeptuell auf ausformulierte Normen. Das bedeutet, dass letztendlich der Wahrheitswert eines Rechtssatzes immer von den Normen abhängt, die der Gesetzgeber ausformuliert hat. Da die Wahrheit der Rechtssätze von den in einem bestimmten System gültigen Normen abhängt, führt die Entfernung einer dieser Normen dazu, dass dann bestimmte Rechtssätze nicht mehr als wahr angesehen werden können. Diese Beziehung zwischen Rechtsgrundlagen und ausformulierten Normen soll durch das folgende Kriterium ausgedrückt werden. Dieses Kriterium soll es ermöglichen, sowohl die Grundlage der impliziten Normen als auch den Wahrheitswert der sich auf sie beziehenden Rechtssätze festzulegen. Der Einfachheit halber soll dieses Kriterium Grundlagentest genannt werden. Darunter ist Folgendes zu verstehen: Die Rechtsgrundlage einer abgeleiteten Norm AN zu identifizieren, bedeutet zu erkennen, welche Normen aus dem System aufgehoben werden müssten, damit AN nicht mehr implizit in dem konzeptuellen Inhalt dieses normativen Systems enthalten wäre. Wenn es nicht möglich ist, die Normen anzugeben, die aufgehoben werden müssen, damit die implizite Norm entfällt, dann ist der Rechtssatz, der sich auf AN bezieht, nicht wahr. Wie ich oben aufgezeigt habe, kann ein Rechtssatz auch ohne Grundlage im Hinblick auf bestimmte Moralkonzeptionen wahr sein, aber diese Lösung scheint sich grundsätzlich nicht zu eignen, um die Wahrheit des Rechtssatzes zu charakterisieren. Wenn wir keine spezifische Grundlage angeben können, dann ist die Aussage daher im besten Fall eine Äußerung darüber, wie das Recht sein sollte, aber es ist keine wahre Aussage über die Rechte und Pflichten, die die Personen tatsächlich in einem bestimmten Rechtssystem haben. Die einzige Art und Weise, um zu erreichen, dass eine abgeleitete Norm aus einem bestimmten Rechtssystem verschwindet, besteht darin, die ausformulierten Normen zu verändern, die sie implizieren.9 Dieses Ergebnis kann auf verschie9 Für eine Rekonstruktion des Phänomens der Beseitigung von Normen vgl. Alchourrón/Bulygin, Sobre la existencia de las normas jurídicas, 1997, S. 81.
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dene Weisen erreicht werden. Erstens kann die ausformulierte Norm aufgehoben werden, die die abgeleitete Norm impliziert, da die abgeleitete Norm entfällt, wenn ihre Rechtsgrundlage beseitigt wird. Damit dieses Ergebnis erzielt wird, ist es nicht notwendig, dass die normgebende Autorität weiß oder akzeptiert, dass die Aufhebung der ausformulierten Norm die Beseitigung der abgeleiteten Norm impliziert. Vielmehr ist es ausreichend, dass der Implikationszusammenhang zwischen ausformulierten und abgeleiteten Normen hinfällig wird. Zweitens kann der Gesetzgeber ausdrücklich eine mit der abgeleiteten Norm unvereinbare Norm erlassen. Unter Anwendung des Prinzips lex posterior wird die abgeleitete Norm beseitigt und um dieses Ergebnis zu erreichen, wird die sie implizierende ausformulierte Norm verändert oder aufgehoben. Üblicherweise wird als Ergänzung zu der lex-posterior-Regel angenommen, dass derjenige, der die Kompetenz hat, eine Norm in ein bestimmtes Rechtssystem einzuführen, auch die Kompetenz hat, sie auszuschließen.10 Dies bedeutet, dass die Reichweite der lex-posterior-Regel gewöhnlich von den unterschiedlichen hierarchischen Ebenen der Normen eines Rechtssystems begrenzt ist. Welche Hierarchiestufe haben also die abgeleiteten Normen? Dieses Problem hat in der Rechtstheorie nur unzureichende Beachtung gefunden. Die einfachste Intuition ist, dass die abgeleiteten Normen die Hierarchiestufe der sie begründenden Normen teilen, und auf der Grundlage dieser Idee kann zwischen verschiedenen Situationen unterschieden werden: a) Wenn eine implizite Norm AN sich von einer einzigen Norm GN herleitet, dann hat AN eine einfache Grundlage und ihre Hierarchiestufe entspricht dem Rang von GN. Dies bedeutet, dass es zur Beseitigung dieser impliziten Norm ausreicht, GN aufzuheben. b) Wenn ein Normenbündel NB besteht und jede dieser Normen allein ausreicht, um eine bestimmte Norm AN abzuleiten, dann kann gesagt werden, dass AN in diesem normativen System überdeterminiert ist. In diesem Fall ist das System redundant und bietet mehr als eine ausformulierte Norm, die dieselbe Lösung impliziert. Die Hierarchiestufe von AN entspricht in diesem Fall derjenigen der höchstrangigen Norm des Bündels NB, da AN nur dann beseitigt wird, wenn alle Normen, die als Grundlage dienen, aufgehoben werden. Dies bedeutet, dass eine Autorität mit ausreichender hierarchischer Stellung die Norm auf der höchsten Hierarchiestufe beseitigen muss. Nehmen wir zum Beispiel an, dass der einfache Gesetzgeber in seinen Gesetzen einige in den Verfassungsnormen implizit enthaltene Rechte oder Garantien wiederholt. In diesem Fall bedeutet die Derogation des Gesetzes nicht die Beseitigung des fraglichen Verfassungsrechts oder der Verfassungsgarantie. Die Abschaffung der Verfassungsnorm bedeutet ihrerseits nicht, dass auch das Gesetz aufgehoben wäre. Die Abschaffung der redundanten Norm mit dem höchsten Rang in der Hierarchie bringt nicht not10
Alchourrón/Bulygin (Fn. 9), S. 81.
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wendigerweise die Derogation der anderen Normen mit sich. Wenn angenommen wird, dass die redundante Norm niederen Ranges weiterhin Teil des Systems ist, muss jedoch anerkannt werden, dass sich auch die Hierarchiestufe der abgeleiteten Norm verändert.11 c) Wenn eine Norm AN sich aus einer Verbindung von mehreren ausformulierten Normen herleitet, kann vertreten werden, dass AN eine komplexe Grundlage hat. In diesem Fall sind alle Normen, die die abgeleitete Norm implizieren, disjunktiv notwendig und gemeinsam ausreichend für die Implikation, d. h. jede Norm trägt zur Herleitung von AN bei. Die Hierarchiestufe der abgeleiteten Norm hängt vom Rang der Normen ab, die ihre komplexe Grundlage bilden. In diesem Fall müssen zwei Möglichkeiten unterschieden werden: aa) Wenn all diese Normen dieselbe hierarchische Ebene haben (z. B. Gesetzesrang), dann teilt AN diesen Rang im System. bb) Wenn die Normen von Autoritäten unterschiedlichen Ranges formuliert wurden, dann entspricht die Hierarchiestufe der abgeleiteten Norm der Norm mit der niedrigsten Hierarchiestufe, die für die Implikation der abgeleiteten Norm notwendig ist. Die Normen, die nicht planmäßig beseitigt werden können, sind kein Teil des Rechtssystems. Es gibt keine „notwendigen Normen“ im positiven Recht (d. h. in dem von der Staatsgewalt geschaffenen Recht). Diese Rekonstruktion schließt aus, dass eine Norm, die nicht von der Gesetzgebungsgewalt ausformuliert wurde und die sich nicht aus einer anderen Norm des Systems herleitet, als Rechtfertigung für eine Entscheidung angeführt werden kann. Diese Konsequenz entspricht der Verpflichtung, die durch den oben eingeführten Grundlagentest übernommen wurde. Sein Hauptnutzen besteht darin, uns zu helfen, deutlich zu verstehen, wann eine Aussage über die Bewertung einer Handlung eine Rechtsgrundlage hat und wann es nur ein Ausdruck unserer Moralideale darüber ist, was das Recht enthalten sollte. In dem folgenden Teil werden wir einige Konsequenzen untersuchen, die dieser Standpunkt für die Lösung des Problems der Notstandsrechte hat.
III. Die hierarchische Stellung der Notstandsrechte Wenn das Notstandsrecht eine einfache Rechtsgrundlage hätte, wenn es sich z. B. nur aus den vom Strafgesetzbuch anerkannten Rechtfertigungsgründen herleiten würde, dann stünde es auf der gleichen Hierarchiestufe wie die gesetzlichen Verfügungen, die es begründen. In diesem Fall wäre die Rechtsgrundlage des Notstandsrechts klar, da man gemäß dem Grundlagentest zur Beseitigung 11 Ich danke Daniel Gonzalez Lagier für diese Bemerkung über die Modifizierung der Hierarchie der abgeleiteten Norm.
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dieses Notstandsrechts den Rechtfertigungsgrund aufheben müsste, z. B. Art. 20 Abs. 5 des spanischen Strafgesetzbuches oder Art. 34 Abs. 3 des argentinischen Strafgesetzbuches. Wenn das Notstandsrecht sich von einer Norm mit Gesetzesrang ableitet, bedeutet dies, dass andere Normen niedrigerer Hierarchiestufe diese normative Beziehung nicht verändern können. Es muss aber auch darauf hingewiesen werden, dass der Gesetzesrang des Notstandsrechts nicht andere Beziehungen verändern kann, die von Normen mit einem höheren Rang als dem Strafgesetzbuch festgelegt wurden. In diesem Sinne scheint es außer Frage zu stehen, dass die Normen, die ein Gesetz enthalten, nicht die von der Verfassung eingeführten Rechte und Garantien verändern können. Da die Mehrheit der Güter, die durch die Verhaltensweisen des Notleidenden beeinträchtigt werden, ausdrücklich durch spezifische Verfassungsnormen geschützt sind (z. B. das Eigentum, die Freiheit, die Gesundheit etc.), muss dieses Problem der Vorherrschaft und Grundlage dringend gelöst werden.12 Anderenfalls wäre die Reichweite des Notstandsrechts durch unsere verfassungsrechtlichen Verpflichtungen ernsthaft eingeschränkt. Im spanischen Rechtssystem legt Art. 18.2 der Verfassung Folgendes fest: Die Wohnung ist unverletzlich. Sie darf außer bei Verfolgung auf frischer Tat nicht ohne Zustimmung des Bewohners oder Gerichtsentscheidung betreten oder durchsucht werden. Stellen wir uns vor, eine Person A befindet sich in einer Notstandssituation. A wird zum Beispiel von einem tollwütigen Hund verfolgt und seine einzige Möglichkeit, dem Tier auszuweichen, besteht darin, in die Wohnung seines Nachbarn B einzudringen. Nehmen wir auch an, dass die einzige Art und Weise, in der B seinem Nachbarn A helfen kann, darin besteht, ihn in seine Wohnung eintreten zu lassen. B will aber nicht, dass A seine Wohnung betritt und schließt die Tür mit dem Schlüssel ab. Setzen sich in diesem Fall das Notstandsrecht und die entsprechende Toleranzpflicht, die Gesetzesrang haben, gegen die Unverletzlichkeit der Wohnung, welche Verfassungsrang hat, durch? Die Kategorien, die der Verfassungsgeber für die Regulierung des Zugangs zu einer Wohnung festgelegt hat, beschränken sich auf nur drei Gründe: Zustimmung des Bewohners, richterliche Genehmigung und Verfolgung auf frischer Tat. Der Fall von Personen, die sich in einer Notlage befinden, wird in der Formulierung des Verfassungsgebers nicht berücksichtigt und kann auch nicht logisch aus ihr abgeleitet werden. Da Art. 18.2 eine verfassungsrechtliche Erwartung höheren Ranges ausdrückt, überwiegt die gesetzliche Pflicht des B, das Eindringen des A in seine Wohnung zu tolerieren, nicht die verfassungsrechtliche Garantie der Unverletzlichkeit der Wohnung. In 12 Zum Beispiel legt die argentinische Verfassung in ihrem Artikel 17 fest: „Das Eigentum ist unverletzlich und keinem Bewohner der Nation kann es entzogen werden, außer durch ein durch das Gesetz begründetes Urteil.“
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einem einleitenden Text zur Rechtstheorie untersuchen Moreso und Vilajosana die Folgen der Auswahl der relevanten Kriterien, die der Verfassungsgeber für das gültige Betreten einer Wohnung trifft, und stellen Folgendes fest:13 „[…] es wurde einmal vorgeschlagen, dass Artikel 18.2 der Verfassung nur eine nicht abschließende Richtlinie festlegt, weil es andere Fälle wie den Notstand gibt (zum Beispiel: ein kleines Kind ist bei einem Feuerausbruch in einer bestimmten Wohnung eingeschlossen), in denen das Betreten der Wohnung auch zulässig (oder sogar obligatorisch) ist. Wenn dem so wäre, dann wäre der Kreis der Fälle nicht abschließend, es wäre eine offene Kategorisierung. Zumindest für diese Art von Fällen kann also argumentiert werden, dass es plausibel ist, sie in die Eigenschaft ,Zustimmung des Bewohners‘ einzuschließen, da besagte Zustimmung ausdrücklich oder stillschweigend sein kann (es scheint plausibel zu sein zu argumentieren, dass man stillschweigend einwilligt, dass man die Wohnung betreten darf, um das kleine Kind vor dem Feuer zu retten).“
Im Unterschied zu dem von Moreso und Vilajosana vorgeschlagenen Beispiel kann in dem von uns ausgedachten Fall, in dem eine Person ihrem von einem tollwütigen Hund verfolgten Nachbarn das Betreten ihrer Wohnung verweigert, nicht behauptet werden, dass eine stillschweigende Zustimmung vorliegt. Ganz im Gegenteil: Der Wohnungsbesitzer hat den Zutritt zu seiner Wohnung ausdrücklich verweigert. Man könnte vertreten, dass Art. 18.2 zur Lösung des genannten Problems korrekt ausgelegt werden muss. Aber welche Gründe könnten zur Fundierung dieser Auslegungsnotwendigkeit vorgebracht werden? In dieser Bestimmung der spanischen Verfassung hat der Verfassungsgeber einen klaren und präzisen Wortlaut verwendet, und die Tatsache, dass seine Entscheidungen bestimmte Situationen nicht lösen, oder dass sie sie nicht auf die Weise lösen, wie wir es gerne hätten, ist kein Grund dafür, seine Entscheidung zu ignorieren. Man könnte antworten, dass der Verfassungsgeber oft abstrakte Konzepte benutzt, die ausgehend von spezifischen Konzeptionen (z. B. dem fairen Verfahren) entwickelt werden müssen, und dass man in diesen Situationen zur Lösung schwieriger Fälle moralische Argumente entwickeln muss.14 Gemäß dieser Antwort könnte man auch argumentieren, dass der verfassungsrechtliche Schutz der Wohnung ein Konzept ist, das der Entwicklung verschiedener Moralkonzeptionen zugänglich ist, und dass insbesondere der konzeptuelle Gehalt des verfassungsrechtlichen Schutzes in Notstandsfällen beschränkt werden könnte. Aber wie Dworkin aufzeigt, trifft der Verfassungsgeber in anderen Fällen die Entscheidung, die Entwicklung von Moralargumenten ausdrücklich durch präzise Normen einzuschränken, die etwas Bestimmtes vorgeben.15 In diesen Fällen wählt der Verfas13
Moreso/Vilajosana, Introducción a la teoría del derecho, 2004, S. 102 f. Dworkin, Los derechos en serio, 2012, S. 215 f. 15 Ebd., S. 211; ders., Freedom’s Law, 1996, S. 8. 14
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sungsgeber – zum Guten oder zum Schlechten – eine bestimmte Art, normative Probleme zu lösen. Dieses Argument von Dworkin ist besonders wichtig, weil es dazu dient, auf zwei verschiedene Weisen die Vorrangstellung der Verfassung herauszufordern. Die erste, die gewöhnlich ein Merkmal des Originalismus16 ist, besteht darin, den Inhalt eines Verfassungskonzepts auf die Konzeption zu begrenzen, die der Verfassungsgeber in dem Moment der Ausarbeitung der Verfassung bevorzugt hätte oder die ihm vorgeschwebt hätte. Die zweite besteht darin, die spezifischen Konzeptionen, die der Verfassungsgeber für bestimmte Themen festgelegt hat, so zu behandeln, als wären es Konzepte, die offen sind für neue Ausgestaltungen ihres Inhalts. Folglich sind diejenigen Richter der verfassungsrechtlichen Vorrangstellung untreu, die die vom Verfassungsgeber ausgewählten Konzeptionen ersetzen und ihre eigenen Überzeugungen – selbst wenn diese gerechter oder nachhaltiger sind oder von der Dogmatik ihrer Gemeinschaft gestützt werden – als Antwort auf das normative Problem einführen.
IV. Die Verfassungsauslegung und die abgeleiteten Normen Wie sollen wir Verfassungsnormen wie den Artikel 18.2 der spanischen Verfassung auslegen? Sind sie der Ausdruck eines abstrakten Verständnisses des Wohnungsgrundrechts oder aber spezifische Konzeptionen? Im Unterschied zu dem, was gilt, wenn der Verfassungsgeber allgemein verkündet, dass Personen ein Recht auf Bildung, Gesundheit, etc. haben, und sodann anerkennt, dass der Inhalt dieser Rechte durch Gesetze reguliert wird,17 wird im Fall des Art. 18.2 die Reichweite der Garantie ausdrücklich festgelegt. Das Missfallen über die Art und Weise, wie diese Situation dort gelöst wird, ist ein Bewertungsproblem, und wenn man annimmt, dass der Gesetzgeber es unterlassen hat, eine Eigenschaft zu berücksichtigen, die relevant sein sollte, dann würden wir hier keine Gesetzeslücke, sondern eine axiologische Lücke vorfinden. Die Uneinigkeit mit den vom Gesetzgeber festgelegten Lösungen zeigt sich ganz klar in den Erwägungen, die zum Beispiel Carmen Argibay zum Notstand anstellt. Laut dem argentinischen Strafgesetzbuch darf die Person nichts mit dem schweren und imminenten Unrecht zu tun haben, dem sie sich gegenübersieht, damit das Verhalten gerechtfertigt ist. Hierzu behauptet Argibay Folgendes: „Man darf aber nicht so weit gehen, den Notstand nur wegen der vorhergehenden Handlung des Täters völlig auszuschließen. So wie wir von dem Feuerwehrmann nicht verlangen können, dass er 16 Zum Originalismus vgl. De Lora, La interpretación originalista de la constitución, 2000. 17 Art. 14 der argentinischen Verfassung legt zum Beispiel Folgendes fest: „Alle Bewohner der argentinischen Nation haben die folgenden Rechte gemäß den Gesetzen, die ihre Ausübung regulieren.“
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stirbt, um eine Sache zu retten, so könnte man auch nicht denjenigen verurteilen, der fahrlässig Gefahr läuft, zu ertrinken, und sich eines Bootes bemächtigt, um dies zu vermeiden.“18 Natürlich könnte man immer sagen, dass die tatbestandsmäßige Handlung nicht gerechtfertigt ist, wenn wir uns an den strikten Wortlaut und die Anforderung der Norm halten. In diesem Absatz scheint es, als wäre „sich an den strikten Wortlaut und die Anforderung der Norm zu halten“ eine einfache Auslegungsoption, eine Verpflichtung, die in „schwierigen Fällen“, in denen Konflikte zwischen Regeln und anderen Gerechtigkeitserwartungen entstehen, außer Betracht gelassen werden könnte. Dasselbe gilt in dem Fall des verfassungsrechtlichen Schutzes der Wohnung. Man kann annehmen, dass der Verfassungsgeber nicht alles gesagt hat, was er sagen wollte, und dass er auch nicht alles gesagt hat, was er sagen sollte, aber es bestehen keine Zweifel daran, was er tatsächlich gesagt hat. Folglich müssen diejenigen, die behaupten, dass es im Notstandsfall verpflichtend oder doch jedenfalls erlaubt ist, eine bestimmte Wohnung zu betreten (ohne dass die Zustimmung des Bewohners oder die anderen in Art. 18.2 der spanischen Verfassung genannten Umstände vorliegen würden), eine der folgenden Thesen vertreten: a) Die Verfassung hat keinen Vorrang vor der einfachen Gesetzgebung; b) die vom Verfassungsgeber ausdrücklich aufgenommenen Normen, Werte und Prinzipien und ihre logischen Konsequenzen erschöpfen den Verfassungsinhalt nicht; c) das Notstandsrecht und seine entsprechende Toleranzpflicht sind überdeterminiert, und das Notstandsrecht wird neben seiner gesetzlichen Gewährung im Strafgesetzbuch auch durch die Verfassung verbürgt. Die Strategie (a) ist undurchführbar, weil sie eine improvisierte Lösung zu sein scheint und unsere Institutionen und Praktiken nicht berücksichtigt. Die verfassungsrechtliche Überlegenheit über die einfachgesetzliche Gesetzgebung wurde vom Verfassungsgericht anerkannt. So hat es mehrmals die Verfassungsgarantie der Unverletzlichkeit der Wohnung bestätigt. Diese Vorherrschaft würde sogar dann bestehen bleiben, wenn die Richter Entscheidungen fällten, die das Notstandsrecht gegenüber der Unverletzlichkeit der Wohnung anerkennen. Man könnte behaupten, dass es sich dann um „verfassungswidrige“ Entscheidungen handeln würde, das heißt, dass die Richter über die involvierten normativen Verhältnisse zwar auf endgültige, aber falsche Weise entschieden haben.19 Selbstverständlich ist eine institutionelle Gestaltung, die es den Richtern und Juristen erlaubt, in die Verfassung einzugreifen und Rechte und Garantien zu verändern, 18 Argibay, Artículo 34, inciso 3. Estado de necesidad justificante, in: Baigún et al. (Hrsg.), S. 630. 19 Zur Endgültigkeit und Unfehlbarkeit von Entscheidungen derjenigen Personen, die als letzte die Verfassung auslegen, vgl. Hart (Fn. 2), S. 176 ff.
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vielleicht besser als die Struktur, die die Vorherrschaft der Verfassung schützt, aber es gibt gute Gründe, daran zu zweifeln, dass dies der in unseren Gemeinschaften gültige institutionelle Aufbau ist. Die Strategie (b) betrachtet die Verfassung als teilweise durch die Entscheidungen der Autoritäten und teilweise durch andere Moralstandards bestimmt, die nicht vom Verfassungsgeber übernommen wurden. Es gibt verschiedene Versionen dieses Arguments, die wir in diesem Text nicht ausführlich betrachten können. Dworkin betont zum Beispiel, dass die Verfassungsklauseln als abstrakte Moralverpflichtungen gelesen werden müssen und dass daher ihr Gehalt sich nicht aus den Details oder Spezifizierungen des Verfassungsgebers ergibt, sondern aus den Prinzipien, die sie rechtfertigen. Ich will natürlich nicht die Ansicht vertreten, dass das Recht eine trennbare Einheit von Normen ist, die nicht miteinander verbunden sind, deren Elemente untereinander keine Verbindung aufweisen. Diese Idee wäre mit einer systematischen Rekonstruktion des Rechts unvereinbar. Jedoch muss die Rolle der Entscheidungen der Autorität als Grundlage für die Wahrheit unserer Behauptungen über das Recht hervorgehoben werden. Diese Abhängigkeit der Rechtssätze von den Entscheidungen der Staatsgewalt zeigt sich zum Beispiel ganz klar in einer grundlegenden Institution des argentinischen Rechts: dem außerordentlichen Rechtsmittel vor dem höchsten Gericht (Corte Suprema de Justicia). Um Zugang zu dieser Instanz zu haben, muss ausdrücklich das verletzte Verfassungsrecht und der betreffende Artikel der Verfassung, der es positiviert, erwähnt werden. Wenn diese Anforderung nicht erfüllt ist, wird das Rechtsmittel nicht als statthaft angesehen. Jedenfalls trifft man auf einige Schwierigkeiten, wenn man behauptet, die Verfassung dürfe nicht wie ein Telefonbuch gelesen werden, sondern müsse als Moralprogramm verstanden werden, welches der Entwicklung durch Auslegung bedarf. Das erste Problem dieses Vorschlags ist, dass es willkürlich erscheint, die Einbindung der Moral allein auf die Verfassung zu beschränken. Sowohl die Verfassung als auch andere normative Texte stellen Prinzipien auf, schützen Werte und verteilen Lasten und Nutzen durch die Zuweisung von Rechten und Pflichten. Aus welchem Grund sollten wir also nicht auch das Zivilrecht oder das Strafrecht als teilweise von den Entscheidungen der Staatsgewalt determiniert ansehen? Warum sollten wir die Straftaten auf die vom Gesetz festgesetzten Formeln begrenzen, wenn wir zuvor angenommen haben, dass der Inhalt des Rechts nur teilweise von den Entscheidungen der Staatsgewalt bestimmt ist? Warum sollte man auf der Bestimmtheit der Strafrechtsnormen und der Tatbestandsmäßigkeit der Verhaltensweisen im Bereich des Strafrechts bestehen, die Verfassungsklauseln jedoch als offene Klauseln lesen? Vielleicht existieren gute Antworten auf diese Frage, aber diese Lösungen sind bestimmt nicht linguistischer Art, das heißt: Sie hängen nicht von der größeren oder geringeren Spezifizierung der verfassungsrechtlichen Sprache ab, sondern von unserer Haltung gegenüber der Verfassung
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und den Strafrechtsnormen. Einige Verfassungsnormen sind abstrakt und müssen entwickelt werden, aber andere – wie der Artikel 18.2 der spanischen Verfassung – sind detaillierter als viele Normen des Strafgesetzbuchs. Eine zweite Schwierigkeit besteht darin, dass es willkürlich erscheint, die implizite Reichweite der Verfassung auf den materiellen Gehalt der Verfügungen zu beschränken. Von einem grundlegenden Standpunkt aus ist es möglich, dass nicht nur gute moralische Gründe dafür bestehen, den von dem Verfassungsgeber festgelegten Inhalt zu überprüfen, sondern dass es auch gute moralische Gründe dafür geben kann, dass über die speziell in der Verfassung positivierten Verfahrensweisen und Institutionen hinaus andere Organe über Verfassungsfragen entscheiden. Aber wenn angenommen wird, dass die Verfassung sich nicht auf das beschränkt, was der Verfassungsgeber ausdrücklich oder logisch implizit sagt, dann scheint es in diesem Fall nicht plausibel, den starren Verfassungen ihre gewöhnlichen Funktionen der Organisation der politischen Macht und des Schutzes von Rechten zuzuschreiben. Mit diesem Standpunkt ist insbesondere die Gefahr verbunden, dass die Unterscheidung zwischen dem, was die Verfassung festlegt, und dem, was die Verfassung den Richtern zufolge sagt, verwischt wird. Silva Sánchez nimmt zum Beispiel an, dass der Konflikt zwischen einem einfachgesetzlichen Notstandsrecht und einem verfassungsrechtlichen Schutz bestimmter Güter wie der Wohnung eine große Tragweite hätte, und zwar bis zu dem Punkt, an dem er zumindest auf den ersten Blick das Bestehen eines Notstandsrechts, das das Betreten einer fremden Wohnung umfasst, verneinen würde.20 Nun ist es aber so, dass das spanische Verfassungsgericht, dessen Urteile „Recht“ sind, da das Gerichtsverfassungsgesetz in seinem Art. 5.1 Richter und Gerichte dazu verpflichtet, die Gesetze gemäß diesen Urteilen auszulegen, gerade das Gegenteil festgelegt hat. So fügt die ständige Rechtsprechung den Fällen der Zustimmung, Gerichtsentscheidung und Verfolgung auf frischer Tat, in denen das Betreten einer fremden Wohnung rechtmäßig sein kann, auch den des „Notstands“ hinzu. Hat das Verfassungsgericht durch die Festigung dieser Doktrin gegen die Verfassung verstoßen? Setzt es implizit voraus, dass einigen Notstandsrechten Verfassungsrang zugeschrieben wird? Silva Sánchez gibt keine Antwort auf diese Fragen, aber er scheint eine negative Antwort auf die erste und eine positive Antwort auf die zweite Frage anzudeuten. Diese Argumentation kann wiederum mit derselben Frage konfrontiert werden, die die vorliegende Arbeit leitet: Wäre es ausreichend, dass das Verfassungsgericht seine Rechtsprechung ändert, damit das Notstandsrecht verschwindet? Die Antwort auf diese Frage ist entweder nein oder ja: Wenn die Antwort verneinend ausfällt, dann folgt daraus, dass in der spanischen Verfassung – unabhängig von den Auslegungen des Verfassungsgerichts – das Notstandsrecht positiviert ist. 20
Silva Sánchez (Fn. 5), S. 183 f.
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Dies bringt uns zum Ausgangspunkt zurück: Was muss aus der Verfassung entfernt werden, damit es nicht mehr zutrifft, dass diese Notstandsrechte existieren? Nichts in Silva Sánchez’ Untersuchung erlaubt es anzunehmen, dass es eine Antwort auf diese Frage gibt. Wenn die Antwort bejahend ausfällt, dann ist das Notstandsrecht durch eine Entscheidung des Verfassungsgerichts geschaffen worden, und da diese Entscheidung nicht aus dem Inhalt der Verfassung folgt, hat sie eine regelwidrige Veränderung der Verfassung zur Folge. Schließlich ergibt sich eine eng mit dem vorherigen Einwand verbundene Kritik aus der politischen Natur des Rechts. Da hinsichtlich der Lösung sozialer Konflikte häufig Uneinigkeit über das vorzugswürdige Vorgehen besteht, entscheiden wir, einen Referenzrahmen für unsere Übereinstimmungen und Divergenzen festzulegen, damit wir uns nicht ständig in eine Moraldiskussion verwickeln müssen, wenn wir unsere Rechtsansichten festlegen müssen. Dies ist eine zentrale Funktion der Rechtsnormen. Die Staatsgewalt leistet der Gemeinschaft einen Dienst, wenn sie das Schema der auszuführenden Verhaltensweisen festlegt. Dies ist nur dann möglich, wenn die Mitglieder der Gemeinschaft identifizieren können, was sie tun sollen, ohne die Abwägung von Gründen wieder aufzunehmen, auf der die staatliche Entscheidung beruht.21 Ein nicht abschließendes Bündel von relevanten Moralstandards als implizite Ausnahmen einzufügen, ist unvereinbar mit dieser Organisationsfunktion, die das Recht durch die Entscheidungen der Staatsgewalt erfüllen soll. Diese Strategie führt zu einer Neuformulierung des Problems. Für diesen Standpunkt sind die Rechtsgrundlagen des Notstandsrechts nicht durch seine Positivierung im Strafgesetzbuch erschöpft. Dies bedeutet, dass man nach der Entfernung des Notstands aus den einfachgesetzlichen Rechtfertigungsgründen des Strafgesetzbuchs noch eine andere verfassungsrechtliche Norm, ein anderes Prinzip oder einen anderen Wert finden kann, die den Notstand ausdrücklich oder implizit festlegen. Hier ist daran zu erinnern, dass ein Konflikt auf verfassungsrechtlicher Ebene vorliegen würde, wenn das Notstandsrecht sich aus einem verfassungsrechtlich geschützten Wert, z. B. dem Leben, ableiten würde. In diesen Fällen kann die Lösung nicht einfach darin bestehen, eine allgemeine hierarchische Ordnung zwischen ihnen festzulegen. Die Abwägung der widerstreitenden Werte kann nur eine einzelfallbezogene Reichweite haben, da die Auferlegung einer hierarchischen Ordnung ein Vorgang ist, der in seinem Wesen der Aufhebung von Normen entspricht.22 Wenn angenommen wird, dass die 21
Zur Autorität als Dienst vgl. Raz, Ethics in the Public Domain, 1994, S. 199 ff. Eine elegante Vorstellung des Verhältnisses zwischen der Auferlegung einer hierarchischen Ordnung und der Löschung von Normen findet sich in Alchourrón/Makinson, in: Hilpinen (Hrsg.), New Studies in Deontic Logic, 1981. 22
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Richter eine lexikographische Ordnung der Verfassungswerte festlegen können, dann würde dies eine Verfassungsänderung bedeuten, was die Befugnisse der zur Auslegung der Verfassung Berufenen überschreitet.
V. Schlussfolgerungen Man könnte allgemein vertreten, dass eine Rechtsgrundlage immer ein Element des positiven Rechts (z. B. eine Norm) ist und dass die Hauptaufgabe der Dogmatik darin besteht, dieses Material zu identifizieren und zu systematisieren. Jedoch gehen die Autoren der zeitgenössischen Dogmatik mit der Rechtfertigung ihrer Behauptungen über die Entscheidungen des Gesetzgebers hinaus, und ihre Ansicht über die Dogmatik beschränkt sich nicht auf die Identifikation und Entwicklung positiver Normen.23 Für diese Autoren besteht die „wahre Mission“ der Dogmatik vielmehr darin, neue Lösungen für Fälle anzubieten, die der Gesetzgeber nicht gelöst hat, und manchmal auch darin, die Lösung bestimmter Probleme durch die staatliche Autorität zu korrigieren.24 Dies bedeutet, neue Normen in das Rechtssystem einzufügen, da nur auf diese Weise Situationen geregelt werden können, die nicht berücksichtigt wurden, oder die von dem Gesetzgeber festgelegten Rechtsstellungen verändert werden können. Im Notstandsfall werden diese neuen Normen als Grundlage des Notstandsrechts und der Toleranzpflicht angeführt. Der Einfachheit halber können diese Normen „dogmatische Normen“ genannt werden. Ihre herausragenden Eigenschaften sind die folgenden: Die dogmatischen Normen werden von Personen formuliert, die keine politische Autorität haben. Weil der Rang einer Norm von der Ebene der Autorität abhängt, haben die dogmatischen Normen keinen spezifischen hierarchischen Stellenwert. Da die Hierarchiestufe einer Norm festlegt, welche Autorität sie aus dem System entfernen kann, sind die dogmatischen Normen nicht an dem normalen Verfahren zur Systemveränderung, d. h. zur ausdrücklichen oder stillschweigenden Aufhebung, beteiligt. Jedes dieser Merkmale der dogmatischen Normen ist eine Herausforderung für die grundlegenden Vorstellungen vom Recht. In diesem Sinne sieht sich die zeitgenössische Dogmatik drei verschiedenen Problemen gegenüber: Legitimität: Die Pflichten, die von Normen auferlegt wurden, die nicht von politisch verantwortlichen Staatsgewalten ausgehen, haben keine Legitimität. Struktur: Die Einführung von dogmatischen Normen verwässert die hierarchische Struktur des Rechtssystems.
23
Vgl. zum Beispiel Roxin, Política criminal y estructura del delito, 1992, S. 35 ff. So u. a. Silva Sánchez, Aproximaciones al derecho penal contemporáneo, 1992, S. 42; Bacigalupo, Delito y punibilidad, 2. Aufl. 1999, S. 43 ff. 24
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Spezifität: Die Spezifität der institutionellen Macht der Rechtsnormen geht verloren.25 Es ist nicht so, dass die zeitgenössische Dogmatik diese Probleme nicht lösen könnte. Vielmehr nimmt die Ausarbeitung dieser Lösungen keinen zentralen Platz auf der Diskussionsagenda ein, und eine vollständige Untersuchung der Notstandsrechte und Toleranzpflichten muss eine Antwort auf diese Probleme bieten. Erst wenn diese Aufgabe ernsthaft angegangen wird, wird es möglich sein, die Herausforderung zu meistern, die der Beseitigungstest und die daraus folgende Auswirkung auf unsere Konzeption des Rechts als ein System von dynamischen und hierarchisch strukturierten Normen darstellen.
25 Im Unterschied zu der moralischen Macht einer Norm, die von ihrer endgültigen Richtigkeit abhängt, hängt die institutionelle Macht von dem Widerstand gegen Veränderung, Modifizierung oder Löschung in einem Rechtssystem ab. Siehe hierzu Waluchow, Inclusive Legal Positivism, 1994, S. 31 ff.; Navarro et al., Revista de la Facultad de Derecho, UNAM 53, Nr. 241, S. 187 ff.
Chantage als Ausbeutung* Über das Unrecht der bedingten Androhung erlaubter Taten Von José Milton Peralta José Milton Peralta José Milton Peralta: Chantage als Ausbeutung. Über das Unrecht der bedingten Androhung erlaubter Taten Chantage als Ausbeutung. Über das Unrecht der bedingten Androhung erlaubter Taten
I. Einleitung Die Chantage könnte als die bedingte Androhung einer erlaubten Tat definiert werden. Ein Beispiel dafür wäre folgendes: B1: T fordert von O Geld, ansonsten gehe er zu dessen Nachbarn und berichte ihnen, dass O vor zehn Jahren als Sexualtäter bestraft wurde. Diese Tat scheint offensichtlich falsch. Warum das aber so ist, steht nicht eindeutig fest. Das Problem kann auf verschiedene Arten formuliert werden. Eine Möglichkeit wäre zu fragen, weshalb zwei erlaubte Taten zusammen ein Unrecht ergeben können. Der typische Fall der Chantage besteht darin, dass man nicht nur etwas Erlaubtes ankündigt, sondern auch etwas Erlaubtes verlangt.1 Eine andere Möglichkeit wäre zu fragen, weshalb jemand etwas Illegales tue, wenn er eine in seinem Belieben stehende Handlung androhe. Wenn man das Angedrohte nach Belieben begehen dürfe, solle man auch damit drohen 2 sowie mitteilen dürfen, * Übersetzung ins Deutsche durch Anna Richter. Frühere Fassungen dieses Aufsatzes wurden in Deutschland im November 2011 in zwei Seminaren vorgetragen: einmal in dem Seminar der Bonner Strafrechtsprofessoren (Universität Bonn) und einmal im rechtsphilosophischen Donnerstagsseminar (Universität München). 1 Diese Frage wird normalerweise in der englischsprachigen Literatur gestellt: Lind gren, 84 Columbia Law Review (1984), S. 670; Altman, 141 University of Pennsylvania Law Review (1993), S. 1639; Katz, 141 University of Pennsylvania Law Review (1992 – 1993), S. 1567; Fletcher, 141 University of Pennsylvania Law Review (1993), S. 1617; Block/ Kinsella/Hoppe, Business Ethics Quarterly, Band 10 Nummer 3 (2000), S. 593; Russell L, 94 The Georgetown Law Journal. 739, S. 4. So vorgestellt ist das Problem eigentlich kein Problem. Wie Engelhard, Das Chantage-Problem im geltenden und künftigen deutschen Strafrecht, 1912, S. 31 und Fletcher aaO betont haben, gibt es mehrere Fälle, in welchen aus zwei erlaubten Handlungen zusammen ein Unrecht entsteht. Es ist erlaubt, drei Gläser Bier zu trinken, und es ist erlaubt, mit dem Auto zu fahren. Aber wenn man beide Handlugen zusammenbringt, begeht man ein Unrecht. Die erstgenannten Autoren wollen eigentlich herausstellen, dass es nicht offensichtlich ist, worin das Unrecht der Chantage liegt. 2 Horn, NStZ 1983, S. 498; Lesch, Festschrift für Rudolphi, 2004, S. 487 f.; Epstein, 50 The University of Chicago Law Review (1983), S. 559.
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unter welchen Bedingungen man von der Verwirklichung des Angedrohten absehen würde.3 In der deutsch- und englischsprachigen Literatur werden verschiedene Lösungen vorgeschlagen. Es gibt Autoren, die behaupten, die Chantage sei eine paradigmatische Straftat,4 und andere, die sagen, es gebe nichts Falsches an solchen Handlungen.5 Wieder andere schlagen vor, Differenzierungen vorzunehmen, je nachdem, wem was angekündigt wird.6 In diesem Aufsatz werde ich das Problem zunächst näher darstellen und einige ausgewählte Lösungsansätze der Literatur kritisieren. Danach werde ich zeigen, dass die Chantage eine Art Ausbeutung darstellt, und dass daraus folgt, dass die Legitimation der Strafbarkeit der Chantage in Frage gestellt werden muss.
II. Zweck des Aufsatzes und Bestimmung der Begriffsbedeutung Dieser Aufsatz will lediglich eine rechtspolitische und philosophische Frage beantworten: Ist es überhaupt sinnvoll, die Chantage strafrechtlich zu verbieten? Ich versuche nicht zu erläutern, was ein bestimmter Gesetzgeber verbieten will und worin seine Erklärungen hierfür bestünden. Ich werde daher keine Auslegungsarbeit leisten, sondern versuchen zu bestimmen, ob es überhaupt eine strafrechtliche Norm für die Chantage geben darf.
3 Arzt, Festschrift für Lackner, 1987, S. 643; Gorr, 21 Philosophy & Publics Affairs 43 (1992), S. 43; Berman, 65 The University of Chicago Law Review (1998), S. 796; Gómez-Pomar/Ortiz de Urbina-Gimeno, Chantaje e Intimidación, Navarra, 2005, S. 28. Dies ist eigentlich die richtige Darstellung des Problems (so auch Russell, 94 Geo. L.J. 739, S. 4 f.). Unbedingte Androhungen erlaubter Taten sind als solche nicht strafbar. Das Problem entsteht erst, wenn man Geld damit machen will oder andere Gegenleistungen verlangt. 4 Fletcher, 141 U. Pa. L. Rev (1993), S. 1617. Andere glauben sogar, das Unrecht der Chantage sei so evident, dass es keiner Erklärung bedürfe, siehe Krause, Festschrift für Spendel, 1992, S. 499 ff. 5 Mack, Philosophical Studies: An International Journal for Philosophy in the Analytic Tradition 41 (1982), S. 283; Block/Kinsella/Hoppe, Business Ethics Quarterly Band 10 Nummer 3 (2000), S. 593 und passim, beide mit einer sehr liberalen Markttheorie. Von einem logischen, ganz kreativen und interessanten Gesichtspunkt aus dieselbe Schlussfolgerung bei Russell L., 84 Geo. L.J. 739 (2006), S. 30 ff., insb. S. 44 f. 6 Murphy, The Monist 63 (1980), S. 169 ff. – Eine vierte Gruppe könnte u. a. von Jakobs, Festschrift für Peters, 1974, S. 69 ff.; Horn, NStZ 1983, S. 497 ff. und Lesch, Festschrift für Rudolphi, S. 483 ff. gebildet werden. Sie erklären die Chantage nicht für richtig oder falsch, sondern behaupten nur, die Chantage gehöre nicht zur Nötigung, und legen nahe, dass sie ein Fall des Wuchers sein könnte. Dripps, Criminal Law and Philosophy (2009), S. 247 ff. behauptet schließlich, dass die Chantage „the state’s claimed monopoly on enforcing the criminal law“ betreffe.
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Wie sogleich gezeigt wird, könnte man hinsichtlich der Begrifflichkeiten nicht nur von der Androhung eines Übels und von einer Täter-Opfer-Beziehung sprechen, sondern auch vom Anbieten eines Gutes und von einer Beziehung zwischen Anbieter und Leistungsempfänger. Dies hängt davon ab, ob man die Chantage als etwas Negatives ansieht oder nicht. Das heißt, wenn man eine dieser Begrifflichkeiten wählt, scheint schon vorausgesetzt, was erst bewiesen werden soll. Zur Vermeidung von vorschnellen Urteilen soll hier folgende Anmerkung dienen: Ich werde im Folgenden die ersten Begriffe (Androhung, Täter und Opfer) benutzen, weil sie in der Literatur am üblichsten sind. Dies impliziert aber keine Stellungnahme. Ich werde auch das Wort „Chantage“ anstatt „Nötigung“ verwenden. Damit beziehe ich mich auf die Fälle der „echten“ Chantage, wo grundsätzlich damit gedroht wird, Informationen, die das Opfer benachteiligen könnten, zu offenbaren – dabei gehe ich immer davon aus, dass die Information in einer zulässigen Weise erlangt worden ist. Die Schlussfolgerungen dieses Aufsatzes beziehen sich aber auf all diejenigen Fälle, in denen man mit einer erlaubten Tat, und nicht nur mit der Offenbarung von Informationen, droht. Man könnte hier von „unechter“ Chantage sprechen, um das Problem nicht mit den Fällen normaler Nötigung zu vermischen. Auf jeden Fall handelt es sich hier immer um eine fakultative Handlung, d. h. um eine Handlung, die nicht obligatorisch ist.
III. Das Problem: Unzulänglichkeit des Begriffs der Nötigung Bei der Chantage ist ein Rückgriff auf den „gewöhnlichen“ Begriff der Nötigung nicht ausreichend. Man braucht eine andere Erklärung, um das Unrecht dieser Handlung zu begründen. Warum? Es wäre nicht unverständlich, wenn O jemandem sagen würde: „T hat mich dazu gezwungen, ihm das Geld zu geben. Er hat mir angedroht, meine schandbare Vergangenheit zu offenbaren“. Weshalb ist dies nicht eine gewöhnliche Nötigung? Die Antwort kann nicht sein, dass diese Androhung keine Angst einflößt. Das tut sie durchaus. Das Problem besteht darin, dass T hier mit einer erlaubten Handlung droht, und dass es nicht einfach zu erklären ist, wieso jemand etwas Unerlaubtes tun sollte, indem er etwas Erlaubtes androht. Wäre es unverständlich, wenn man sagen würde, dass wir es hier nicht mit einer Nötigung zu tun haben, sondern mit einem Angebot? Eigentlich nicht. Man könnte sagen, dass T O anbietet, die schädliche Handlung nicht zu begehen, wenn O ihm Geld gibt; dass er sein Schweigen gegen Geld anbietet. Aber diese Beschreibung kann als solche auch nicht ausreichen, weil sie auf jede bedingte Androhung zutrifft, sogar auf diejenigen, die man ohne Weiteres unter die Nötigung subsumiert. Jede bedingte Androhung kann als ein Angebot verstanden werden, weil sowohl Angebote als auch Nötigungen die Struktur eines
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b idirektionalen7 Satzes haben, obwohl dieser normalerweise nicht komplett ausgesprochen wird.8 Wenn T zu O sagt: „Ich werde dich töten, wenn du mir kein Geld gibst“, sagt er gleichzeitig: „Ich werde dich nicht töten, wenn du mir Geld gibst“, also: „Ich biete dir an, dich nicht zu töten, falls du tust, was ich von dir verlange“. Und wenn T zu O sagt: „Wenn du für mich arbeitest, werde ich dir 10.000 Euro monatlich bezahlen“, droht er gleichzeitig an, ihm kein Geld zu geben, falls O nicht tut, was T von ihm verlangt.9 Bedeutet das, dass wir keinen Unterschied zwischen Nötigungen und Angeboten machen können? Sicherlich nicht. Die Frage ist jetzt, wie man diesen Unterschied bestimmen kann. Man würde intuitiv sagen, dass man nach einem Angebot besser gestellt ist als vor dem Angebot und dass man nach einer Nötigung schlechter gestellt ist als vor der Nötigung. Dass also Angebote im Unterschied zu Androhungen willkommen sind. Um zu wissen, ob man nach den Worten von T besser oder schlechter gestellt ist, muss man von einem Bezugspunkt ausgehen, anhand dessen man bestimmen kann, was gewesen wäre, wenn T diese Worte nicht ausgesprochen hätte. Nur so kann man die Situation vor und nach den Worten von T vergleichen.10 Aber wie bestimmt man diesen Bezugspunkt? Eine erste Möglichkeit besteht darin, sich auf das zu beziehen, was man erwarten kann.11 Da im Beispiel des Arbeitsangebots O kein Geld von T erwartete, bevor T ihm diesen Vorschlag unterbreitete, hat T also die Sachlage zugunsten 7 Manchmal spricht man hier von „Bikonditionalität“. Von einem logischen Gesichtspunkt aus ist die Terminologie irreführend. Bikonditional ist ein Satz, wenn seine beiden Komponenten sich gegenseitig implizieren. Im Fall der Chantage würde dies bedeuten, dass die folgenden beiden Sätze wahr sind: „Wenn du mir das Geld nicht gibst, töte ich dich“ und „wenn ich dich töte, gibst du mir das Geld nicht“. Dies ist aber bei der Chantage nicht gemeint. Deswegen ist es besser über Bidirektionalität zu sprechen, die keine solche Konnotation hat und anschaulich genug ist, um das Problem darzustellen. 8 Nozick, Socratic Puzzles, Cambridge u. a., 1997, S. 15, 23 ff.; Frankfurt, in: Honderich (Hrsg.), Essays on Freedom of Action, 1973, S. 65, 66; Fletcher, 141 U. Pa. L. Rev (1993), S. 1622; Kuhlen, Festschrift für Lüderssen, 2002, S. 650 f. und 652 f. 9 Das Beispiel stammt von Nozick (Fn. 8), S. 23. 10 Nozick (Fn. 8), S. 27 ff. 11 Grundsätzlich Schroeder, JZ, 1983, S. 286 und 287 (der den Begriff der Nötigung sowohl für Handlungen als auch für Unterlassungen von der „natürliche[n] Lebensauffassung“ abhängig macht. Trotzdem geht er auf ein normatives Konzept über, wenn es um die Androhung „unerlaubter“ Unterlassungen geht [S. 287]. Es scheint mir aber ganz willkürlich, derart von der Empirie zur Normativität zu springen.) Im selben Sinne Arzt, Festschrift für Lackner, S. 661 f.; Mañalich, Nötigung und Verantwortung, 2009, S. 259 f. (es entspricht auch einer „natürlichen Lebensauffassung“, dass man das angedrohte Übel nicht in den Bezugspunkt miteinbezieht. Wenn man dagegen von einem normativen Gesichtspunkt ausgeht, muss man natürlich das Übel miteinbeziehen. Siehe hierzu auch weiter unten im Text); Fletcher, 141 U. Pa. L. Rev (1993), S. 1623 f.; Green, Lying, Cheating, and Stealing, Oxford, 2006, S. 222 f.
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von O geändert. T hat O eine neue Tür geöffnet. Im besten Fall geht O durch diese Tür, weil das Angebot für ihn attraktiv ist, und im schlimmsten Fall tut er es nicht, womit alles beim Alten bleibt. Dagegen verschlechtert T die Lage von O im Beispiel der Morddrohung, weil O nicht erwartete, getötet zu werden. Indem T mit diesem bidirektionalen Satz zu O kam, verschlimmerte er die Lage des O. T hat für O eine Tür geschlossen, die früher offenstand (weiterzuleben). Vor der Nötigung musste O nicht dafür bezahlen. Ein solcher Bezugspunkt kann nicht befriedigen, weil das, was man in diesem Sinne erwarten kann, ganz beliebig ist.12 Die Realität ist variantenreich und sehr willkürlich. Z. B. muss man in manchen Vierteln bestimmter Städte erwarten, von ihren Einwohnern verprügelt zu werden, wenn man dorthin geht. Sollte man hier sagen, dass ein Bewohner eines solchen Viertels meine Situation verbessert hat, wenn er mich dort vor die Wahl zwischen meinem Geld und Prügeln stellt? Man kann sich leicht auch andere Fälle vorstellen, in denen man nicht erwarten kann, dass etwas eintritt, auf das man ein Recht hat.13 Von der wertfreien Empirie aus einen normativen Schluss zu ziehen, wäre in jedem Fall ein sonderbares Vorgehen. Um diese Konsequenzen zu vermeiden, braucht man einen normativen Maßstab, der nicht darauf basiert, was man erwarten kann, sondern darauf, was man erwarten darf14 – das heißt, ob O das Recht hat, dass T die angedrohte Handlung nicht begeht oder ob er kein solches Recht hat. Anhand eines solchen Maßstabs muss man dann fragen, ob dem Täter das eine oder das andere erlaubt ist. Wenn ihm ein solches Handeln erlaubt ist, dann begeht der Täter mit der Androhung dieser Handlung keine Nötigung. Er bietet O dann vielmehr an, sein Recht, die Handlung zu begehen, zu verkaufen.15 Im besten Fall kauft O das Recht von T, weil das für ihn günstig ist; im schlechtesten Fall lehnt O das Angebot ab und alles bleibt, wie es war. Wenn es T dagegen verboten ist, die Handlung zu begehen, dann kann er normativ nichts anbieten, weil er kein Recht dazu besitzt. In diesem Fall, wenn T also mit einer solchen Handlung droht, nimmt er O ein Stück von dessen Freiheit, weswegen wir hier einfach von Nötigung sprechen können. Wenn dies richtig ist, kann die Chantage offensichtlich nicht als Nötigung angesehen werden. Wir müssen die Begründung ihrer Strafbarkeit irgendwo anders suchen. 12 Außerdem ist es manchmal auch schwer zu bestimmen, was man eigentlich erwarten kann. Dazu u. a. Nozick (Fn. 8), S. 26 f. 13 Im selben Sinne Kollmann, Die Lehre der Erpressung nach deutschem Recht, 1910, S. 84 f.; Engelhard (Fn. 1), S. 34; Jakobs, Festschrift für Peters, S. 76; Nozick (Fn. 8), S. 27; Fletcher, 141 U. Pa. L. Rev. (1993), S. 1624. 14 Jakobs, Festschrift für Peters, S. 75 ff.; Horn, NStZ 1983, S. 497 ff. und Lesch, Festschrift für Rudolphi, S. 483 ff.; Nozick (Fn. 8), S. 27 f. 15 Jakobs, Festschrift für Peters, S. 82 f.; Horn, NStZ 1983, S. 498; Wertheimer, Exploitation, Princeton, 1996, S. 110 f.
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IV. Über die „Zweck-Mittel“-Lösung Im Unterschied zur angloamerikanischen Literatur16 besteht die h. L. in Deutschland17 aber darauf, dass es sich hier trotzdem um eine Nötigung handelt. Das Hauptargument lautet wie folgt: Obwohl beide Handlungen erlaubt sind, missbilligt die Rechtsordnung die Verbindung beider, wenn und weil „jeder innere Zusammenhang zwischen Zweck und Mittel fehlt“. In solchen Fällen kann „die Anwendung der Nötigungsmittel zur Durchsetzung des Anspruchs nicht (mehr) toleriert werden“.18 Das Problem an dieser Theorie ist, dass sie voraussetzt, was sie beweisen soll. Das Fehlen der Konnexität ist der Anfang des Problems, nicht das Ende. Niemand bestreitet, dass keine Nötigung begangen wird, wenn es eine klare Konnexität zwischen der angedrohten und der verlangten Handlung gibt. B2: T gibt O ein Darlehen für einen bestimmten Zeitraum. Nachdem das Darlehen fällig ist, gibt O trotz der Aufforderung des T das Geld nicht zurück. T droht O an, vor Gericht zu gehen, falls O das Darlehen nicht sofort zurückzahlt. Das ist offensichtlich erlaubt.19 Die Frage besteht gerade darin, wie es falsch sein kann, dass wir etwas androhen, das erlaubt ist, auch wenn es keine Konnexität gibt. Die Antwort kann nicht lauten, dass es falsch ist, weil es keine Konnexität gibt, denn das wäre eine petitio principii. Die angedrohte Handlung ist immer noch erlaubt und die Androhung kann immer noch als ein Angebot verstanden werden. Anders gesagt, das Fehlen der Konnexität ändert nichts daran, dass B nach der Chantage besser gestellt wird.20 Außerdem gibt es eine Fallkonstellation, in der man zwei vorher unverknüpfte Handlungen zusammen bringen darf und wo das sogar wünschenswert ist: bei
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Vgl. unten im Text und Fn. 97. Engelhard (Fn. 1), S. 51 ff.; Nipperdey, Grenzlinien der Erpressung durch Drohung, 1917, S. 77 ff.; Roxin, JuS 1964, S. 377 (obwohl dies für ihn nicht für die Androhungen von Unterlassungen gilt); Volk, JR 1981, S. 276 f.; Schroeder, JZ 1983, S. 285 f.; Arzt, Festschrift für Lackner, S. 646 und 658 ff.; Kuhlen, Festschrift für Lüderssen, S. 658 ff. Eser/ Eisele, in: Schönke/Schröder, § 240, Rn. 23; Kindhäuser, in: Nomos Kommentar, 3. Aufl. 2011, § 253, Rdn. 40. 18 Eser/Eisele in: Schönke/Schröder, § 240, Rdn. 23. 19 Kollmann (Fn. 13), S. 82 ff.; Engelhard (Fn. 1), S. 28; Nipperdey (Fn. 17), S. 72 ff.; Jakobs, Festschrift für Peters, S. 57; Arzt, Festschrift für Lackner, S. 644. Dies entspricht hier der sog. „Anspruchstheorie“, nach der man nur ein erlaubtes Übel androhen kann, wenn man einen gewissen Anspruch auf die verlangte Handlung hat und die angedrohte Handlung dafür gedacht wurde, genau das zu erlangen, was man verlangt. Vgl. dazu Kuhlen, Festschrift für Lüderssen, S. 654 ff. Über ein anderes Konzept der Konnexität siehe den Text unten. 20 So auch Horn, NStZ 1983, S. 498 f. und Lesch, Festschrift für Rudolphi, S. 487 f. 17
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jedem Angebot im Handel.21 Wenn es keine Konnexität zwischen dem Schweigen und dem Geld gibt, gibt es auch keine Konnexität zwischen meiner Schaufel und dem Geld, das ich für sie verlange. Die Antwort kann nicht sein, dass ich im Fall der Schaufel das Recht habe, sie zu behalten, und dass ich deswegen etwas für sie verlangen darf, wenn jemand sie haben will.22 Genau das passiert mit dem Offenbaren von Informationen im Fall der Chantage. T hat das Recht, die Information zu offenbaren, und niemand kann ihn davon abbringen. Darüber hinaus ist dies genau das, was Angebote charakterisiert: Sie haben definitionsgemäß keine Konnexität. Deswegen sind sie Angebote und keine Forderungen.23 Das Fehlen von Konnexität als solches erklärt also nichts. Man könnte aber sagen, der Unterschied bestehe darin, dass der potentielle Schaufelkäufer im oben genannten Beispiel keine Angst hat. Vielleicht ist die Angst keine ausreichende Bedingung für die Nötigung. Sie ist aber zumindest eine notwendige24 Bedingung. Aber man kann auch den Schaufel-Fall so kon struieren, dass der potenzielle Käufer Angst bekommt, falls er die Schaufel nicht erhält. Z. B. wenn er die Schaufel dringend braucht, um sein Auto vor einer Überschwemmung zu schützen.25 Jetzt hat O Angst, es gibt auch keine Konnexität 21 Die Schwierigkeit, zwischen manchen geschäftlichen Handlungen und der Chantage zu unterscheiden, wurde mehrmals hervorgehoben. Vgl. u. a. Engelhard (Fn. 1), S. 24 ff.; Murphy, Monist 63 (1980), S. 156; Mack, 50 U. Chi. L. Rev. (1983), S. 281 ff.; Green (Fn. 11), S. 216 f.; Epstein, 50 U. Chi. L. Rev. (1983), S. 558. Dies geschieht nicht nur in geschäftlichen Verhandlungen, vgl. Gómez Pomar/Ortiz de Urbina Gimeno (Fn. 3), S. 123 ff. 22 Berman, 65 U. Chi. L. Rev. (1998), S. 856. 23 Engelhard (Fn. 1), S. 51 ff. behauptete, das Wesen der Chantage läge in dem „Hineintragen [eines] wirtschaftlichen Moments in eine nicht wirtschaftliche Situation“. Aber dies kann keine Strafbarkeit begründen. So kann ich zum Beispiel Marx’ Werke zum Spaß und ohne wirtschaftliches Interesse lesen. Ich begehe aber keine Nötigung (oder Erpressung mit den Worten von Engelhard), wenn ich jemandem anbiete, diese Handlung gegen Geld durchzuführen oder nicht durchzuführen. Raritäten kann man auch gegen Geld anbieten. Nipperdey (Fn. 17), S. 77 ff. behauptet, dass die Chantage „freiheitsbeschränkend“ sei, weil T „mit der Zufügung des Übels“ nicht erreichen kann, was er durch dessen Androhung schaffen will. Aber genau das passiert mit jedem Angebot. Man droht an, das Brot nicht herzugeben, wenn man kein Geld dafür bekommt, aber durch die Zufügung des Übels (das Brot nicht herzugeben) kann man das Geld natürlich nicht erlangen. Das ist aber keine Nötigung. Bergmann, Das Unrecht der Nötigung, 1983, S. 179, behautet, dass man eine Rechtsfertigung brauche, um solche Angebote zu machen. Dies setzt aber voraus, dass etwas an diesen Angeboten prima facie falsch ist, was wir jedoch erst noch bestimmen müssen. 24 Fletcher, 141 U. Pa. L. Rev. (1993), S. 1621. Horn, NStZ 1983, S. 499 will die „Empfindlichkeit“ des Übels von seiner „Erlaubtheit“ abhängig machen. Das ist aber nicht richtig und auch nicht notwendig. Man kann bei der Notwehr nicht sagen, dass der Angreifer kein empfindliches Übel erlitten hat, nur weil der Angegriffene das Recht hatte, ihn zu töten. Es handelt sich vielmehr um ein erlaubtes empfindliches Übel. 25 Ein ähnliches Beispiel bei Wertheimer (Fn. 15).
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zwischen der Schaufel von T und seinem Geld, aber T begeht trotzdem keine Nötigung, nur weil er mit O ins Geschäft kommt. Das Fehlen der Konnexität plus Angst erklärt also auch nicht, was bei der Chantage falsch ist. Mir ist bewusst, dass es auch einen anderen Begriff von „Konnexität“ gibt, der nichts mit den „Ansprüchen“ des Täters zu tun hat, sondern damit, „wie viel“ er für seine Leistung verlangen darf.26 Das ist aber eine ganz andere Angelegenheit, über die ich später sprechen werde.
V. Chantage als Schaffung von Beherrschungsund Subordinationsverhältnissen Angesichts dieser Tatsachen haben manche Autoren andere Lösungswege gesucht. Eine Lösung wurde besonders von Fletcher mit dem provokativen Titel verteidigt: „Blackmail: The Paradigmatic Crime“.27 Damit will er sagen, dass es an der Chantage nichts Außergewöhnliches gibt. Sie sei sogar das beste Beispiel einer Straftat. Fletcher sagt, dass man sich auf die Art und Weise der Verhältnisse, die die Chantage generiert, konzentrieren muss, wenn man das Unrecht der Chantage bestimmen will. Das Problem der Chantage, das sie von anderen Fällen der Androhung erlaubter Taten unterscheidet, besteht darin, dass die Chantage Verhältnisse der „Beherrschung und Subordination“ schafft.28 Dies geschieht nicht in den Fällen, in denen Konnexität besteht, und auch nicht in Fällen wie demjenigen mit der Schaufel. Wenn O z. B. eine Schuld bezahlt hat, kann der Täter danach nicht mehr zu ihm kommen und androhen, zu Gericht zu gehen, um diese Leistung zu fordern. Er kann nichts mehr verlangen. Dasselbe geschieht bei jedem Handelsgeschäft. Wenn ich die Schaufel oder etwas anderes kaufe, habe ich das Objekt schon in meinem Besitz und niemand kann mir damit drohen, es mir nicht zu geben. Dagegen kann der Täter im Falle der Chantage immer wieder zu mir zurückkommen und mir drohen.29 Deswegen gibt es hier ein Beherrschungs- und Subordinationsverhältnis. Diese Ansicht wirft zwei Probleme auf. Das erste besteht darin, dass sie nicht alle Fallkonstellationen erfasst, die erfasst werden sollen. Zwar können solche Androhungen normalerweise wiederholt werden, dies ist jedoch nicht immer der Fall. Denken wir an folgendes Beispiel: 26 Siehe Schroeder, JZ 1983, S. 286; Horn, NStZ 1983, S. 498; Kuhlen, Festschrift für Lüderssen, S. 658 ff. Zu diesem Unterschied auch Arzt, Festschrift für Lackner, S. 656 ff. 27 Fletcher, 141 U. Pa. L. Rev. (1993), S. 1617 ff. 28 Fletcher, 141 U. Pa. L. Rev. (1993), S. 1627. 29 Fletcher, 141 U. Pa. L. Rev. (1993), 1627; im selben Sinne Krause, Festschrift für Spendel, S. 551; Kindhäuser, in: Nomos Kommentar, § 253, Rdn. 41.
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B3: O ist eine Politikerin, die in einer konservativen Gesellschaft als Abgeordnete gewählt werden will. T weiß, dass sie homosexuell ist und droht an, diese Information vor der Wahl an die Presse weiterzugeben, wenn O ihm kein Geld gibt.30 Wenn sich T an seine Ankündigung hält, gibt es hier keine Wiederholungsgefahr. Sobald O als Abgeordnete gewählt wurde, ist ihr Platz im Parlament gesichert. Wir würden aber trotzdem immer noch sagen, dass T hier etwas Falsches getan hat.31 Falls das Problem allein in der Wiederholungsgefahr bestünde, dürften wir außerdem erst die wiederholte Handlung verbieten.32 Wenn der Täter sich an seine Ankündigung hält, baut er kein Beherrschungs- und Subordinationsverhältnis auf. Fletchers Antwort darauf lautet folgendermaßen: Dieses Verhältnis sei etwas, „das schon im Voraus existiert, obwohl der Täter noch nicht zurückgekommen ist“.33 Aber dagegen gibt es eine einfache Lösung, und zwar, einen „Vertrag“, der den Täter an seine Zusage bindet. Das funktioniert angeblich ziemlich gut bei Rechtsanwälten und Ärzten.34 Natürlich kann diesem Vorschlag nicht mit der Behauptung widersprochen werden, es gebe hierfür keinen Vertrag.35 Es stellt sich also die Frage, warum wir einen solchen Vertrag als falsch ansehen. Anders gesagt: Die Chantage ist nicht falsch, weil wir keinen Vertrag über solche Geheimnisse abschließen dürfen, sondern umgekehrt, wir dürfen keinen Vertrag darüber abschließen, weil die Chantage falsch ist.36
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Dieses Beispiel kommt von Berman, 65 U. Chi. L. Rev. (1998), S. 825. Berman, 65 U. Chi. L. Rev. (1998), S. 825. 32 Altman, 141 University of Pennsylvania Law Review (1993), S. 1656; Berman, 65 U. Chi. L. Rev. (1998), S. 824; Gómez Pomar/Ortiz de Urbina Gimeno (Fn. 3), S. 55. 33 Fletcher, 141 U. Pa. L. Rev. (1993), S. 1638 f. 34 Dass dieser Vertrag in manchen Fällen undenkbar wäre, weil er undurchführbar wäre (z. B. wenn jemand mit einer Strafanzeige droht), spricht nur gegen diesen Vertrag (weil vielleicht hier andere Interessen auf dem Spiel stehen), aber nicht gegen jeden Vertrag über Geheimnisse an sich. Dass das Opfer seinen Ruf höher bewertet als sein Geld, spricht dafür, dass es für ihn besser wäre, wenn dieser Vertrag gültig wäre. Dazu auch Posner, 141 University of Pennsylvania Law Review (1993), S. 2; Block/Kinsella/Hoppe, Business Ethics Quarterly Band 10 Nummer 3 (2000), S. 612; Gómez Pomar/Ortiz de Urbina Gimeno (Fn. 3), S. 56. 35 Kindhäuser, in: Nomos Kommentar, § 253, Rdn. 41. 36 Außerdem sind nicht alle Subordinations- und Beherrschungsbeziehungen als solche falsch. Fletcher müsste auch erklären, warum gerade diese Beziehung falsch ist. Dazu Berman, 65 U. Chi. L. Rev. (1998), S. 825; Gómez Pomar/Ortiz de Urbina Gimeno (Fn. 3), S. 55. 31
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VI. Chantage als die Benutzung fremder Hebel Manche Fälle der Chantage werden dadurch charakterisiert, dass es außerhalb der Täter-Opfer-Beziehung auch einen Dritten D gibt, dessen eigene Interessen durch die Handlung von T beeinträchtigt werden. In unserem Ausgangsfall des bestraften Sexualtäters sind z. B. die Interessen der Nachbarn von O gefährdet, wenn T anbietet zu schweigen, und seine Interessen sind auf jeden Fall beeinträchtigt, wenn O das Angebot annimmt. Dasselbe kann man über den in Deutschland viel diskutierten Fall des Privatdetektivs sagen. Hier gibt es zwar keine bestimmte Person, deren Interesse beeinträchtigt ist, aber es gibt die Gemeinschaft, die einen legitimen Anspruch darauf hat, dass Straftaten verfolgt und bestraft werden. Diese „Dreiecksstruktur“ der Chantage hat Lindgren zu der Behauptung veranlasst, das Unrecht der Chantage liege darin, dass T zu seinen eigenen Zwecken „fremde Hebel“ benutzt. Das heißt, dass er sich eines Interesses bedient, das nicht ihm gehört, sondern einem Dritten, der deswegen seine eigenen Interessen nicht befriedigen kann.37 O bezahlt für das Schweigen des T, so dass D etwas, was O getan hat, nicht erfährt, und somit nichts gegen ihn unternehmen kann. Und T erwirtschaftet damit Geld. T stellt sich in parasitärer Form mitten in einen wirklichen oder potenziellen Disput, in dem er keine eigenständigen Interessen hat. Diese „parasitäre Natur“ der Chantage erklärt, worin ihr Unrecht liegt.38 Grundsätzlich gibt es fünf Kritikpunkte an dieser Ansicht: 1) Sie ist unter inklusiv. Es gibt wichtige Chantage-Fälle, in denen es keinen D gibt, die aber trotzdem die Struktur der bedingten Androhung erlaubter Taten haben und wo wir immer noch sagen würden, dass T etwas Falsches getan hat. Dies ist z. B. der Fall bei dem Onkel, der seiner Nichte sagt, er werde sie nicht mehr unterhalten, wenn sie nicht mit ihm schlafe,39 oder der Arbeitgeber, der der Bewerberin sagt, dass er sie nur gegen einen sexuellen Gefallen einstellen wird.40 2) Nicht immer, wenn es einen D gibt, hat dieser ein „Recht“ auf die Information über O und nicht 37 Lindgren, 84 Colum. L. Rev. (1984), S. 672 und 704. Es gibt auch zwei andere mögliche Interpretationen von Lindgrens These. Eine besagt, dass das Problem nicht in der Beeinträchtigung der Interessen von D liege, sondern darin, dass T sich ohne Grund bereichert. Dazu werde ich mich unten äußern. Eine andere Interpretation besagt, das Problem liege darin, dass T die Benutzung des Mittels versperrt, das das Recht für die Lösung mancher Probleme geschaffen hat. So z. B. in: „blackmail law is a manifestation of a core principle of our legal system, the assignment of enforcement rights to the victim“ (Lindgren, 84 Colum. L. Rev. [1984], S. 704). Der Schutzzweck der Norm wäre hier auch nicht D’s Interesse, sondern eine gewisse Organisation der Gesellschaft durch das Recht. Für diesen letzten Punkt gilt dasselbe wie für die Interpretation, die wir hier bevorzugt haben. Siehe dazu im Folgenden. 38 Lindgren, 84 Colum. L. Rev. (1984), S. 704; ihm folgend Mañalich (Fn. 11), S. 262 f. 39 Beispiel von Schroeder, JZ 1983, S. 287. 40 Oder sogar die Fälle, in denen ein Gläubiger seiner Schuldnerin droht, sie zu verklagen, wenn sie nicht mit ihm schläft. Dazu Green (Fn. 11), S. 218.
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immer besteht seine Reaktionsmöglichkeit in der Durchsetzung eines Rechts. So z. B., wenn T O androht, ihren Freunden mitzuteilen, dass sie als junges Mädchen von ihrem Vater vergewaltigt wurde, wenn O ihm kein Geld gibt.41 Hier haben die Dritten (D) kein Recht zu wissen, dass O vergewaltigt wurde und sie können mit dieser Information auch keinen rechtlichen Anspruch geltend machen.42 3) Diese Theorie kann nicht die Intuition erklären, dass O bei der Chantage das Opfer ist. Dieser Ansicht nach ist nämlich D der Betroffene. In der Tat wäre O, wenn er gerne bezahlt, vielmehr ein Mittäter, der dazu beiträgt, das Interesse des D zu beeinträchtigen.43 4) Die Theorie ist auch überinklusiv. Die Interessen von D werden auch geschädigt, wenn T einfach schweigt, ohne Geld dafür zu verlangen.44 Wenn es hier also überhaupt eine Verletzung gibt, dann wird diese nicht nur durch die typische Chantage-Handlung verursacht, sondern auch durch ein anderes Tun, dessen Verbindung mit der Chantage rein zufällig ist. 5) Schließlich gibt es Fälle, in denen man mit den Interessen anderer einen Gewinn erzielt, ohne eine Chantage zu begehen.45 Dies ist z. B. der Fall, wenn T schlicht deshalb Informationen an eine vierte Person, V, verkauft, weil V ein „Klatschmaul“ und einfach nur neugierig ist. Laut Epstein wäre dies auch eine Chantage, obwohl es hier nicht einmal eine psychische Androhung gibt.
VII. Ausbeutung, Wucher und Chantage Von manchen Autoren wurde die These vertreten, dass die Chantage nicht ein Fall der Nötigung, sondern des Wuchers sei.46 Ich werde mich dieser These anschließen. Dabei werde ich aber nicht das Wort Wucher verwenden, da ihm eine positivrechtliche Bedeutung anhaftet.47 Ich werde stattdessen den Begriff der Ausbeu41
Dazu auch Posner, 141 U, Pa. L Rev (1993), S. 5. Altman, 141 U. Pa. L. Rev. (1993), S. 1654 f. Eine gute Beschreibung möglicher Konstellationen von Chantage-Fällen findet sich bei Posner, 141 U. Pa. L Rev (1993), S. 4 ff. 43 Altman, 141 U. Pa. L. Rev. (1993), S. 1654. 44 Berman, 65 U. Chi. L. Rev. (1998), S. 824. 45 Laut Berman, 65 U. Chi. L. Rev. (1998), S. 824 besteht das Problem darin, dass Lindgren eigentlich nicht erklärt „why using someone else’s leverage for individual gain should be unlawful, let alone criminal“. Das gegebene Beispiel zeigt, dass dies das Unrecht der Chantage nicht erklären kann. Im selben Sinne Gómez Pomar/Ortiz de Urbina Gimeno (Fn. 3), S. 52. 46 Kollmann (Fn. 13), S. 83; Engelhard (Fn. 1), S. 45 ff.; Jakobs, Festschrift für Peters, S. 85 ff.; ihm folgend Horn, NStZ 1983, S. 498 und Lesch, Festschrift für Rudolphi, 2004, S. 491. Im selben Sinne Feinberg, The Moral Limits of Criminal Law, B. VI, Harmless Wrongdoing, Oxford, u. a. 1988, S. 238 ff.; Altman, 141 U. Pa. L. Rev. (1993), S. 1640 ff. 47 Arzt, Festschrift für Lackner, S. 258 f. und Kuhlen, Festschrift für Lüderssen, S. 650 Fn. 7 behaupten, dass die Chantage nicht zum Wucher gehören könne, weil der Wucher eine „geldwerte“ Leistung und Gegenleistung verlange. 42
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tung benutzen, der allgemeiner ist und den ich in diesem Kontext ohne rechtliche Konnotation verwende.48 Der Wucher ist aber sicher eine Art von Ausbeutung. Die Herausforderung besteht darin zu bestimmen, ob die Chantage auch dazu gehört. 1. Merkmale der Ausbeutung: das Beispiel des Wuchers Ausbeutung ist „eine Art und Weise, jemanden für unsere eigenen Zwecke zu benutzen, die irgendwie falsch oder verwerflich ist“.49 Es geht darum, von Eigenschaften oder Umständen des Anderen zu profitieren.50 Die uns hier interessierende Art der Ausbeutung kann auf folgende Weise charakterisiert werden: Sie hat drei positive Merkmale und ein negatives. Die positiven Merkmale sind die Zwangssituation des Opfers, die empirische Abhängigkeit des Opfers vom Täter und der Missbrauch, den der Täter mit dieser Lage treibt. Die negative Voraussetzung ist die fehlende Zuständigkeit des Täters für die Situation des Opfers. Zwangssituation bedeutet für unsere Zwecke, dass sich das Opfer einem zukünftigen Übel ausgesetzt sieht, das sowohl von einer subjektiven als auch von einer objektiven Betrachtungsweise aus als Übel verstanden werden kann.51 Empirische Abhängigkeit bedeutet, dass das Opfer sich nur mit Hilfe einer kleinen oder homogenen Gruppe von Leuten oder paradigmatisch nur mit Hilfe einer Person aus der Zwangssituation befreien kann. Wenn mehrere Personen die Hilfe leisten können, ist O für die Befreiung aus seiner Lage nicht vom Täter abhängig. In diesem Fall ist es möglich, dass O trotz der Zwangssituation eine für ihn positive Gestaltungsmöglichkeit bei der Interaktion mit T hat.52 Die dritte Eigenschaft besteht darin, dass T aus der Zwangssituation und der Abhängigkeit des O unverhältnismäßige Vorteile für sich selbst schöpft.53 Auch wenn die zwei oben genann48 Diese Analyse von einer weiten Perspektive aus wird es uns erlauben, die Möglichkeit des Verbots der Ausbeutung zu evaluieren, was bei der Chantage natürlich von Bedeutung ist. Beim Wucher verbietet man nicht jeden Kontakt zwischen O und T, sondern man reguliert ihn. Schon im Jahr 1912 hatte Engelhard (Fn. 1), S. 50 ff. hervorgehoben, dass der Wucher im Gegenteil zu der Chantage eine „quantitative“ und nicht eine „qualitative“ Natur hat. Die Grundlagen der Ausbeutungen decken beide Erscheinungsformen ab. Zu anderen Fällen der Ausbeutung siehe Feinberg (Fn. 46), S. 176 ff.; Wertheimer (Fn. 15), S. 3 ff. 49 Feinberg (Fn. 46), S. 178. 50 Feinberg (Fn. 46), S. 178 f.; Wertheimer (Fn. 15), S. 10; Arzt, Festschrift für Lackner, S. 651; Kindhäuser, NStZ 1994, S. 105 ff.; Heinisious, Das Rechtsgut des Wuchers, 1997, S. 49 f.; Wolf, in: Leipziger Kommentar, § 291, Rn. 1.; Altman, 141 U. Pa. L. Rev. (1993), S. 1644 ff. 51 Feinberg (Fn. 46), S. 184 f. 52 Wertheimer (Fn. 15), S. 266 ff. Diese zwei Merkmale werden auch von Arzt, Festschrift für Lackner, S. 651, genannt, nur mit anderen Namen und in einer anderen Reihenfolge. 53 Feinberg (Fn. 46), S. 192 ff.
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ten Merkmale gegeben sind, gibt es ohne ihren Missbrauch durch T keine Ausbeutung. Ziel des negativen Merkmals ist es, die klassischen Nötigungsfälle zu exkludieren. Wenn T dem O sagt, dass er (T) ihn (O) umbringen wird, falls dieser nicht eine bestimmte Handlung durchführt, dann kann man hier auch von einer Zwangssituation und empirischen Abhängigkeit sprechen, die von T missbraucht werden. Da sie aber von T rechtswidrig geschaffen wurden, kommt jedenfalls eine Nötigung in Betracht.54 Hier ist T für die Zwangssituation von O zuständig. Der Wucher ist ein paradigmatischer Fall der Ausbeutung. Daher sind hier die vier genannten Merkmale der Ausbeutung anzuführen. Wucher setzt eine Zwangssituation voraus, das heißt, dass sich O einem zukünftigen Übel ausgesetzt sieht. Ferner hängt O im Standardfall des Wuchers von T oder von einer kleinen oder homogenen Gruppe von Ts ab. Er kann das Geld auf keine andere Weise erhalten. Aber damit es sich um Wucher handelt, muss sich T einen unverhältnismäßigen Vorteil versprechen lassen. T muss also die Lage des O missbrauchen. Das letzte Merkmal der Ausbeutung ist anscheinend auch erfüllt, weil T beim Wucher nicht für die Zwangssituation des Opfers zuständig ist. Es ist jedoch notwendig, das letzte Merkmal ein wenig näher zu untersuchen. Was bedeutet es genau, dass T nicht für die Lage des O zuständig ist? Bedeutet es lediglich, dass T sie nicht geschaffen hat, oder bedeutet es etwas anderes? Dies ist eine wichtige Frage, weil T etwas gegen die Lage des O tun muss, falls er hierfür zuständig ist. Wenn er hingegen nicht dafür zuständig ist, dann kann er einfach sein Leben fortführen, ohne sich um die Lage des Opfers kümmern zu müssen. Auf den ersten Blick scheint es, als ob die Zuständigkeit von der rechtswidrigen Herstellung der Lage des Opfers abhängig wäre. Es ist klar, dass T für die Lage des O zuständig ist, wenn er sie in einer rechtswidrigen Weise geschaffen hat. Man spricht hier von einer Garantenstellung aus Ingerenz des Täters gegenüber dem Opfer. In diesem Fall ist der Täter verpflichtet, den status quo ante wiederherzustellen. Aber diese Verpflichtung hängt nicht immer von der Verursachung der Lage des O durch T ab, jedenfalls dann nicht, wenn man bedenkt, dass es legitime Mindestsolidaritätspflichten gibt. Dabei schafft T zwar nicht die Lage des O, aber er ist dafür zuständig. Er muss etwas gegen die Lage des O tun. Warum ist das so wichtig für unser Problem? Gerade weil dieser normative Faktor den Unterschied zwischen Nötigung und Ausbeutung ausmacht. Wenn man die Idee der Bidirektionalität von Androhung und Anbieten im Auge behält, kann man leicht erkennen, dass hinter jedem Wucher die Androhung einer Unterlassung steckt. Wenn T zu O geht und ihm sagt: „Ich werde dir Geld leihen, aber nur, wenn du es mir mit hohen Zinsen zurückzahlst“, droht er gleichzeitig an, ihm 54 Frankfurt (Fn. 8), S. 71 ff., bezeichnet mit anderen Worten die drei erstgenannten Merkmale als charakteristisch für die Nötigung. Da er das vierte Merkmal nicht erkennt, überlappen sich Ausbeutung und Nötigung bei ihm.
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kein Geld zu leihen, wenn O das Geld ohne hohe Zinsen zurückzahlt. Das wird nicht ausgesprochen, aber natürlich impliziert.55 Weshalb begeht T bei dieser Androhung keine Nötigung? Einfach weil er das Recht hat, kein Geld zu verleihen, weil er also mit einem erlaubten Übel droht.56 Wenn T dagegen für die Lage des O verantwortlich ist und etwas für seine Leistung verlangt, begeht er eine Nötigung. Hinter der Forderung von Geld versteckt sich die Androhung, keine Leistung zu bringen. Obwohl in der deutschen Literatur heftig diskutiert wird, ob man durch Androhung fakultativer Unterlassungen nötigen kann, besteht Einigkeit darüber, dass mit der Androhung unerlaubter Unterlassungen eine Nötigung begangen wird.57 Dies stellt eine Nötigung dar, weil man mit einer unerlaubten Handlung droht, nämlich der Androhung, nicht zu tun, wozu man verpflichtet ist. 2. Chantage als Ausbeutung Am Anfang dieses Aufsatzes haben wir gesehen, dass man mit erlaubten Handlungen nicht nötigen kann. Gerade haben wir gesehen, dass man mit unerlaubten Handlungen nicht ausbeuten kann. Ceteris paribus liegt der Unterschied zwischen Nötigung und Ausbeutung nicht darin, ob man eine Unterlassung oder ein positives Tun androht, sondern darin, ob man das Recht hat, das angedrohte Verhalten zu begehen oder nicht.58 Wenn man sich dies bewusst macht, kann man erkennen, dass die Chantage der Ausbeutung viel näher steht als der Nötigung. 55 Nipperdey (Fn. 17), S. 108 ff. behauptet, dass der Wucher nichts mit der Erpressung zu tun habe, weil der Wucher kein „übernormales Druckmittel“ darstellen kann. Wann ein Druckmittel übernormal ist, hängt laut Nipperdey davon ab, ob die angedrohte Handlung den Zweck hat „einen Vermögensvorteil zu erlangen, auf den [der Täter] keinen Anspruch hat“ und den er mit der Zufügung des Übels auch nicht erreichen kann. Aber genau das will der Wucherer mit der Androhung der Unterlassung schaffen. Bezüglich der „Unverhältnismäßigkeit“ will T durch die Androhung der Unterlassung einen Vermögensvorteil erreichen, den er sonst nicht erreichen könnte. Dass der „verhältnismäßige“ Teil eine legitime Quelle hat, stellt das zuvor Gesagte nicht in Frage. 56 Hohendorf, Das Individualwucherstrafrecht nach dem ersten Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität von 1976, 1982, S. 173 f.; Kindhäuser, in: Nomos Kommentar, § 253, Rdn. 14. Vgl. auch Laufen, Der Wucher (§ 392 Abs. 1 Satz 1 StGB), 2004, S. 49 ff. Es hängt also nicht nur bei der Chantage, sondern auch beim Wucher immer von der Entscheidung des Täters T ab, ob sich das Übel verwirklicht oder nicht. Wenn O damit rechnen kann, dass er das Geld von T bekommen wird, ist er konzeptuell nicht chancenlos. Beim Wucher schafft T auch die Ausweglosigkeit (also das zukünftige Übel), wenn er mit der Unterlassung droht. Damit spielt der Wucherer, wenn er mit dem Opfer handelt. 57 Roxin, JuS 1964, S. 377; Volk, JR 1981, S. 275; Hohendorf (Fn. 56), S. 173 ff.; Schroeder, JZ 1983, S. 287; Arzt, Festschrift für Lackner, S. 651; Scheffler, GA 1992, S. 11; Wertheimer (Fn. 15), S. 110 f. 58 Deswegen liegt der Unterschied nicht darin, ob T die Lage des O in einem empirischen Sinne vorgefunden hat oder nicht. Auch wenn die Lage schon vorlag, begeht der
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Es ist klar, dass sich O bei der Chantage in einer Zwangssituation befindet. Das Offenbaren der bestimmten Information bedeutet für O ein Übel, das sogar dem Übel im Sinne einer Nötigung ganz ähnlich sein kann. Es gibt hier auch eine empirische Abhängigkeit. Es hängt exklusiv vom Willen des T ab, ob sich dieses Übel verwirklicht oder nicht. Nur er kann das Angebot abgeben zu schweigen. Bildlich gesprochen hat er das „Monopol“ dieser Dienstleistung.59 T hat außerdem das Recht, die Information zu offenbaren, und deswegen ist T für die Lage des O nicht zuständig. In diesem Sinne ist es nicht seine Sache, ob O durch seine Handlung geschädigt wird oder nicht. Anders gesagt: T darf O schaden und O darf nichts dagegen tun. Jetzt stellt sich die Frage, ob T die Zwangssituation von O missbraucht hat oder nicht. Dies ist eine schwierige Frage, deren Antwort in vielen Fällen überhaupt nicht klar ist. Der Missbrauch setzt normalerweise einen Maßstab voraus, der angibt, wann ein Missverhältnis vorliegt. Die paradigmatischen Ausbeutungsfälle, etwa beim Wucher, gehen von einem ausgeglichenen Verhältnis aus, in dem jeder Vertragspartner erhält, was er bekommen soll. Aber wann wäre eine Gegenleistung bei der Chantage unverhältnismäßig? Oder ist jede Gegenleistung unverhältnismäßig? 3. Mögliche Maßnahmen gegen die Ausbeutung Die Ausbeutung kann auf zwei Arten unterbunden werden. Man kann entweder jede mögliche Interaktion zwischen Täter und Opfer verbieten (ich nenne dies „Verbotslösung“) oder sie regulieren, indem man die Bedingungen der Interaktion bestimmt (von mir „Regulierungslösung“ genannt). a) Zur Verbotslösung Ein Beispiel für die Verbotslösung kann in der Regulation von Organspenden gesehen werden. Einige Länder verbieten es, Organe zu verkaufen. Sie gehen davon aus, dass bei diesem Geschäft wirtschaftlich schlecht gestellte Personen ausgebeutet werden. Die Personen, die mit den Organen Geschäfte machen wollen, nutzen die Armut solcher Leute aus, um selbst Gewinn zu machen. Es ist aber schwer zu bestimmen, was hieran falsch ist, wenn die Interaktion zwischen mündigen Erwachsenen stattfindet.60 Dies hat mehrere Aspekte; ich Täter eine Nötigung, wenn er die Pflicht hat, die Lage des Opfers zu verbessern. Dagegen Kollmann (Fn. 13), S. 133. 59 Horn, NStZ 1983, 498. Dagegen unzutreffend Block/Kinsella/Hoppe, Business Ethics Quarterly Band 10 Nummer 3 (2000), S. 597 ff. 60 Grundlegend mit dem Beispiel der Leihmutter Wertheimer (Fn. 15), S. 96 ff. Wertheimer bemerkt, dass man glaubt, es sei nicht ausbeuterisch, wenn die Leistung kostenlos erbracht wird. Nach dieser Argumentation scheint es also schlechter zu sein, eine Ge-
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will hier aber nur zwei Anmerkungen machen. Zuerst möchte ich das erste Argument gegen die Erlaubnis der Chantage widerlegen. Es hat mit der Idee zu tun, dass es manche Dinge gibt, mit denen man keine Geschäfte machen sollte. Dies ist eine intuitive Begründung für das Verbot des Organhandels. Menschliche Organe sollten nicht kommerzialisierbar sein. Das Problem dieses Arguments ist, dass es sich nicht auf den paradigmatischen Fall der Chantage beziehen kann. Hier fordert T Geld, d. h. etwas, das gerade dazu erfunden wurde, um Geschäfte zu machen. Man könnte sagen, dass es nicht darum geht, was T verlangt, sondern darum, was er anbietet. Informationen über Dritte sollten nicht kommerzialisierbar sein. Als Beschreibung ist das falsch. Nicht nur die Paparazzi machen in gewissen Grenzen erlaubterweise Geld damit, sondern u. a. auch Schriftsteller und Journalisten, die Informationen über Dritte veröffentlichen. Das Wichtigste ist aber, dass dieses Argument gar nichts mit der Struktur der Ausbeutung zu tun hat. Sie bezieht sich auf das Objekt der Geschäfte, nicht aber auf die Umstände, unter denen solche Geschäfte stattfinden.61 Das ist leicht zu erkennen, weil man bei einem Geschäft mit illegaler Ware, wie z. B. Waffen, zwischen ausbeuterischen und nicht ausbeuterischen Umständen differenzieren kann. Das Gleiche passiert auch mit der Kommerzialisierung von Informationen, die andere benachteiligen könnten. Auch wenn man behauptet, dass diese Information nicht verkauft werden sollte, bleibt das Problem der Chantage unberührt. Man kann Geheimnisse verkaufen, ohne eine Chantage zu begehen. B4: D hat den Privatdetektiv T verpflichtet, um seine Frau O auszuspionieren. Wenn T Beweise findet, die den Verdacht bestätigen, dass O einen Liebhaber hat, wird T zusätzliches Geld bekommen. T findet Beweise und bekommt das zusätzliche Geld. In diesem Fall erzielt T Geld mit der Information über O, aber er begeht dabei keine Chantage. Nun zur zweiten Bemerkung. Ich möchte die Konsequenzen der Verbotslösung aufzeigen. Wenn wir die Chantage verbieten, nehmen wir O eine wichtige Chance, das Übel zu verhindern. Da T ihm nicht sagen darf, unter welchen Bedingungen er bereit wäre, auf die Zufügung dieses Übels zu verzichten, muss O in vielen Fällen das Übel ohne Weiteres hinnehmen, und das scheint nicht sachgerecht, wenn wir O schützen wollen.62 genleistung zu bekommen, als keine Gegenleistung zu erhalten, was sicherlich nicht so einfach zu verstehen ist. 61 Dieses Argument als solches kann keine Opfer-Täter-Beziehung erklären. Vgl. Wertheimer (Fn. 15), S. 103 ff. 62 Mack, 41 Phil. Stud. (1982), S. 275; Wertheimer (Fn. 15), S. 115. Das ist offensichtlicher in den Fällen der Androhung von Unterlassungen (siehe Horn, NStZ 1983, S. 499),
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Die letzte, einzig plausible These, um die Verbotslösung zu retten, besteht in der Annahme, dass O sich irrt, wenn er das Schweigen erkaufen will, weil es für ihn eigentlich nicht günstig ist, dieses Geschäft zu machen. Aber stimmt das so bei der Chantage wirklich? Lohnt es sich wirklich für O, das Schweigen nicht zu erkaufen?63 Wenn sich die Literatur darin einig ist, dass das angedrohte Übel ein „empfindliches“ ist, dann kann diese Aussage nicht stimmen. b) Zur Regulierungslösung Es scheint also am besten zu sein, sich für die Regulierungslösung zu entscheiden. Aber wie könnte man die Chantage regulieren? Wie viel ist das Schweigen wert? Es gibt Fälle, in denen es möglich ist, über einen Maßstab zu sprechen. Das sind die Fälle, in denen es einen Markt für Informationen gibt, der auch außerhalb der Täter-Opfer-Beziehung zugänglich ist. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn es sich um prominente Personen handelt. In diesen Fällen wäre es auch absurd, O von den möglichen Käufern zu exkludieren.64 B5: Der Schriftsteller T hat ein Buch über Heidi Klum geschrieben, in dem manche wahren Tatsachen stehen, die dem Ruf von Klum schaden könnten. Mehrere Verlage sind bereit, etwa 10.000 € für das Buch zu bezahlen. T geht zu Klum und sagt ihr: „Ich bin bereit, das Buch nicht zu veröffentlichen, aber nur, wenn du mir zahlst, was ein Verlag mir zahlen würde.“65 Aber was soll man tun, wenn es keinen Marktpreis gibt? Die Antwort auf diese Frage scheint von vornherein zur Erlaubnis der Chantage zu führen. Angeblich gibt es hier genau deswegen keinen Marktpreis, weil die Chantage verboten ist. Man könnte aber immer noch sagen, dass es selbst dann keinen Markt geben würde, wenn wir die Chantage erlauben würden. Niemand interessiert sich ausreichend für die Information über unbekannte Leute, um Geld dafür auszugeben. aber bei Androhungen von Handlungen gilt eigentlich dasselbe. Das wird von Bernsmann nicht gesehen, wenn er vorschlägt, dass jeder Austausch „sittenwidriger“ Waren verboten werden soll (obwohl er auch nicht erklärt, warum es sittenwidrig ist, mit Geheimnissen zu handeln, und auch nicht, wie man von der Sittenwidrigkeit zur Rechtswidrigkeit springen kann, ohne die Liberalität des Rechts zu gefährden) (Bernsmann, GA 1981, S. 161 und 167). 63 Arzt, Festschrift für Lackner, S. 658 ff. spricht ausdrücklich von „Unvernunft“. Er behauptet, man könne nur bei einem Konzept einer unvernünftigen Freiheit oder „Freiheit zur Unvernunft“ sagen, dass es für das Opfer in diesen Fällen besser ist, genötigt zu werden. Kindhäuser, NStZ, 1994, S. 105 seinerseits spricht von der „Bevormundung“ der Norm im Falle des Wuchers (obwohl er selbst anschließend sagt, dass beim Wucher nicht über einen Schaden gesprochen werden kann [S. 106 f]). 64 Altman, 141 U. Pa. L. Rev (1993), S. 1648; Berman, 65 U. Chi. L. Rev. (1998), S. 857 ff. 65 Murphy, The Monist 63 (1980), S. 156 ff. versucht normative Unterscheidungen zu machen, je nachdem, ob es sich um prominente oder nicht prominente Personen handelt. Hier fehlt leider der Platz, um diese Ansicht zu kritisieren. Dazu aber Mack, 50 U. Chi. L. Rev. (1983), S. 280.
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Bezüglich jeder Information gäbe es nur eine Person, die sich dafür interessiert.66 Aber was folgt daraus? Was ist, wenn jemand etwas kaufen will, wofür sich niemand mehr interessiert? Das betrifft den Fall des Exzentrikers, der T eine alte Zigarrenkiste abkaufen will, für die sich niemand interessiert. Wie viel darf T dafür verlangen? Wenn T nun eine bestimmte Summe verlangt und O das gerne bezahlt, sollte diese Interaktion dann verboten und strafbar sein, nur weil es keinen Markt für solche Waren gibt? Das scheint nicht plausibel zu sein.67 Wir können solche Geschäfte nicht ohne Weiteres verbieten.68 Das Fehlen eines Marktes an sich kann das Unrecht der Chantage nicht begründen.69 Man kann natürlich auch behaupten, dass es im Fall der Chantage anders sei. Bei der Chantage profitiert der Täter von der Verwundbarkeit des Opfers und nicht nur von seiner Sammelleidenschaft. Genau das charakterisiert die Ausbeutung, dass also der Täter die Zwangssituation des Opfers für sich ausnutzt, um Vorteile für sich selbst zu erlangen. Das Problem besteht darin, dass es auch bei der Ausbeutung nicht selbstverständlich ist, worin das Unrecht liegt.70
VIII. Über das Unrecht der Ausbeutung In der Literatur, die sich mit der Ausbeutung beschäftigt, kann man noch drei weitere mögliche Argumente zur Begründung des Chantageverbots finden.71 Diese werden im Folgenden analysiert. 66 Was für Mack schon einen Markt begründen würde, vgl. Mack, 50 U. Chi. L. Rev. (1983), S. 280 f. 67 Kindhäuser, NStZ 1994, S. 110 ff. und Wolf, in: Leipziger Kommentar, § 291, Rn. 31 behaupten, dass der Wuchertatbestand nicht anwendbar sei, wenn es keine Markt gibt. Wahrscheinlich sagt Kindhäuser dies, weil sich eine entgegengesetzte Ansicht nicht mit dem Wuchertatbestand vereinbaren ließe (kritisch zur Kohärenz dieser Ansicht von Kindhäuser Laufen [Fn. 56], S. 142). 68 Wertheimer (Fn. 15), S. 102; Laufen (Fn. 56) behauptet dagegen, dass man immer einen Marktpreis finden könne, wenn es sich um legale Waren handelt (S. 144 f.) – was für ein Zufall! – und wenn es um illegale und sittenwidrige Ware geht, kein „Verbraucherschutz“ notwendig sei. So lässt Laufen das Opfer der Chantage ohne jeden Schutz (S. 145). 69 Dass es keinen Markt gibt, ist außerdem etwas rein Zufälliges, das keine normative Relevanz haben darf. Sobald zwei oder drei Exzentriker zusammenkommen, haben wir einen Marktpreis. Das kann die Erlaubtheit eines Geschäfts nicht beeinflussen. 70 Roxin, JuS 1964, 371, und Lesch, Festschrift für Rudolphi, S. 491, behaupten, dass die Androhung von erlaubten Unterlassungen bzw. erlaubten Handlungen nicht rechtsbzw. sozialwidrig sei, sondern nur sittenwidrig. Jetzt stellt sich die Frage – die wir hier zu beantworten versuchen –, worin die Sittenwidrigkeit einer Handlung liegt, die die Lage des Opfers verbessert. 71 Diese Argumente sind auch von manchen Autoren aufgegriffen worden, um das Verbot der Chantage zu begründen, obwohl ihre Verwandtschaft mit der Ausbeutung nicht immer erkannt wurde.
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1. Der Schaden der Ausbeutung Das erste Argument besagt, dass O bei der Ausbeutung benachteiligt wird. Beim Wucher würde dies z. B. bedeuten, dass O zu hohe Zinsen für das Darlehen bezahlen muss, und dass dies für O einen Schaden (hinsichtlich der unverhältnismäßig hohen Zinsen) darstellt. Bei der Chantage würde dies bedeuten, dass O Dinge, die ihm gehören, an T herausgeben muss (Geld, usw.), obwohl diese Übergabe nicht richtig ist. So wäre die Ausbeutung in diesen Fällen einem Raub ähnlich.72 Dieses Argument überzeugt nicht. Natürlich ist O benachteiligt, wenn man seine Leistung isoliert betrachtet. Eine solche Isolierung berücksichtigt aber nur einen Teil der Interaktion. Wenn man das gesamte Ereignis im Auge behält, ergibt sich ein anderes Ergebnis.73 Man muss die Lage des O mit dem vergleichen, was gewesen wäre, wenn die Interaktion nicht stattgefunden hätte. Dabei wäre O schlechter gestellt. O will Opfer des Wuchers sein, weil es für ihn besser ist als keine Interaktion.74 Das ist bei der Chantage noch klarer. Wenn man nur einen Teil der Interaktion betrachtet, hat O natürlich Geld verloren. Aber auf diese Weise verliert man jedes Mal Geld, wenn man etwas kauft, egal wie günstig es ist. Man muss natürlich auch beachten, was man kauft und ob es für den Käufer einen größeren Wert hat als die Gegenleistung.75 Dass dies bei der Chantage der Fall ist, kann nicht angezweifelt werden, da das Opfer ja ein empfindliches Übel vermeidet.76 72
Hohendorf (Fn. 56), S. 168 f. Wertheimer (Fn. 15), S. 31 ff. 74 Bernsmann, GA 1981, 144 f.; Arzt, Festschrift für Lackner, S. 652 f.; Scheffler, GA 1992, S. 5, 7 f.; Kindhäuser, NStZ 1994, S. 105; Laufen (Fn. 56), S. 27; auch Mayer, Journal of Applied Philosophy, Band 24, Nr. 2, 2007, S. 140, der aber auch behauptet, es gebe hier einen „relativen“ Schaden, weil die Verhandlung unfair ist. Wie gezeigt wird, ist das falsch. Dagegen erkennt Wertheimer richtig, dass es hier keinen richtigen Schaden gibt. Die Ausbeutung ist in diesen Fällen „mutually advantageous“. Siehe Wertheimer, (Fn. 15), S. 14 ff., 20 ff. und 99 ff. 75 So auch Wertheimer (Fn. 15), 120. Kindhäuser, in: Nomos Kommentar, § 253 Rn. 41 behauptet, dass es hier keine richtige Gegenleistung von T gebe. Diese Behauptung ist nicht immer verständlich. Denken wir an das Beispiel des Arbeitgebers, der im Gegenzug für einen Arbeitsplatz Geld oder eine sexuelle Leistung verlangt. Natürlich gibt es hier eine Gegenleistung: den Arbeitsplatz. Aber auch in den Fällen, in denen T mit einer Strafanzeige droht, gibt es eine Gegenleistung. Natürlich kann T das Strafverfahren nicht verhindern. Aber das wird auch nicht versprochen. T verkauft nicht die „Strafverfolgung“ und O glaubt auch nicht, sie zu kaufen. Das Objekt des Geschäfts ist vielmehr der Beitrag von T zur Strafverfolgung, der natürlich für O wertvoll ist. Wenn es außerdem richtig wäre, dass O keine Gegenleistung anbieten kann, dann wäre es erst recht paradox, die Chantage zu verbieten. Dass T nichts anzubieten hat, bedeutet auch, dass er nichts androhen kann. 76 Manche Autoren sprechen z. B. beim Wucher vom Risiko für das Eigentum von O (Wolf, in: Leipziger Kommentar, 12. Aufl. 2008, § 291, Rdn. 3). Dieser Begründung nach wäre die Ausbeutung nicht falsch, wenn kein Schaden vorauszusehen wäre. 73
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Diesbezüglich könnte man immer noch sagen, dass das Opfer für etwas bezahlt, was es sowieso kostenlos bekommen hätte. In dem paradigmatischen Fall der Chantage hat der Täter keinen Grund, die Information zu offenbaren. Bestünde die Möglichkeit, Geld zu bekommen, nicht, so hätte er die Leistung in jedem Fall auch kostenlos erbracht.77 Das kann aber auch keine Strafbarkeit begründen, wie man am folgenden Beispiel sieht. B6: T will auf einem Flohmarkt seinen Verkaufsstand schließen und manche Dinge verschenken. O kommt und fragt nach dem Preis eines dieser Dinge. T sieht nun eine Verkaufschance und verlangt 10 € dafür.78 2. Mangelnde Freiwilligkeit Das zweite Argument besagt, das Unrecht der Ausbeutung liege in der Vorgehensweise, durch welche T an das Geld von O gelangt ist, unabhängig davon, wie das Ergebnis der Interaktion zwischen O und T aussieht.79 Es kann nicht geleugnet werden, dass die Vorgehensweise für das Strafrecht von Bedeutung ist. Unwerte Ergebnisse als solche sind normalerweise strafrechtlich belanglos. Verletzungen begründen z. B. kein Unrecht, wenn eine Einwilligung des Opfers vorliegt. Im Fall der Chantage gibt es zwar keinen Schaden, aber das Vorgehen ist irgendwie falsch, weil es gegen den Willen von O durchgesetzt wird.80 Dieses Argument überzeugt nicht. Aber nicht deswegen, weil es schwierig sein könnte zu bestimmen, wann der Druck so groß ist, dass dem O ein anderes Handeln nicht mehr zugemutet werden kann81, sondern deswegen, weil der Druck daher rührt, dass O das Ergebnis vermeiden will, welches T sowieso verursachen darf. O muss etwas zu seinen eigenen Gunsten tun. Wenn wir O diese Freiheit nehmen, nehmen wir ihm seine letzte Chance, sich aus seiner schwierigen Lage zu befreien. Das ist am besten zu erkennen, wenn man sich 77 Altman, 141 U. Pa. L. Rev (1993), S. 1640 ff. und 1650; Arzt, Festschrift für Lackner, S. 654. 78 Wenn dies außerdem die entscheidende Bedingung wäre, dann wäre die Strafbarkeit von T von einem rein faktischen willkürlichen Umstand abhängig. Die Gründe, die T für das Offenbaren der Information haben kann, müssen für ihn gute Gründe sein, was nicht unbedingt heißt, dass es gute Gründe als solche sind. Diese These basiert dann auf dem faktischen Begriff der Nötigung mit all seinen Problemen (siehe hierzu oben). 79 Siehe dazu auch Wertheimer (Fn. 15), S. 25 ff. 80 So Schwarzt, Exploitation, S. 158, 163 und 164; Träger/Altvater, in: Leipziger Kommentar, 12. Aufl. 2002, § 240, Rdn. 113; Volk, JR 1981, S. 275 und 276 f.; Arzt, Festschrift für Lackner, S. 646 f. 81 Man argumentiert in beide Richtungen und es gibt keinen Maßstab, es richtig zu bestimmen, es sei denn, wir sprechen über außerordentliche Fälle. Manche sagen, dass in diesen Fällen eine „ostensible voluntary transaction“ stattfinde. Siehe Posner, 141 U Pa. L Rev (1993), S. 2; ähnlich Wertheimer (Fn. 15), S. 25 ff.
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ein anderes Beispiel mit den gleichen Merkmalen ausdenkt und überlegt, was daraus folgen soll. B7: O hat eine Krankheit und müsste dringend operiert werden, um größere gesundheitliche Schwierigkeiten zu vermeiden. Der Arzt T sagt ihm: „Entweder lassen Sie sich operieren oder Sie werden nicht mehr laufen können.“82 War O hier unter Druck? Ja. Konnte er rational anders entscheiden? Nein. Sollten wir diese Interaktion also verbieten? Die Antwort ist nein. Der Druck „als solcher“83 kann kein Verbot begründen. Es handelt sich hier vielmehr um „unwiderstehliche Angebote“, die nicht verboten werden dürfen, weil sie für das „Opfer“ vorteilhaft sind.84 3. Verletzung einer Solidaritätspflicht Schließlich muss man die Idee der Verletzung einer Solidaritätspflicht seitens T untersuchen. Dies ist auch eine intuitive Idee zur Lösung bestimmter Ausbeutungsfälle, wenn man davon ausgeht, dass das Fehlen einer Zwangssituation des Opfers alles ändert. Wenn man an den Wucher zurückdenkt, könnte man sagen, dass T Solidaritätspflichten verletzt, wenn er angesichts der Zwangssituation von O wucherische Zinsen verlangt. Er ist nicht gezwungen, Geld kostenlos zu verleihen. Aber aus Empathie sollte er nicht zu viel als Gegenleistung verlangen. Er muss ein wenig Rücksicht auf die Lage des Opfers nehmen.85 Ein solches Argument verfängt aber auch nicht. Voraussetzung dieser Untersuchung ist, dass T das Recht hat, gegenüber O rücksichtslos zu sein. Die Fälle, in denen T die Pflicht hat, solidarisch zu sein, wurden schon der Nötigung zugeschrieben. Im Fall der Ausbeutung dagegen hat T gerade das Recht, völlig unsolidarisch zu sein und O seinen Schwierigkeiten zu überlassen. Außerdem ist es besonders bei der Chantage (aber nicht nur) manchmal sogar unmöglich, von irgendeinem Solidaritätsanspruch seitens des O zu sprechen,86 also von irgend-
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Dies ist eine Adaptation eines Beispiels von Wertheimer (Fn. 15), S. 110. Wertheimer (Fn. 15), S. 270. 84 Hier versteckt sich auch bei der Nötigung ein Problem. Obwohl es normal ist, bei der Nötigung von Angst zu sprechen, muss die Antwort auf diese Angst nicht irrational – im Sinne des Verlierens der Selbstkontrolle – sein. Diese Reaktion (auf die Drohung) ist – im Gegensatz zu Handlungen von Kindern oder Geisteskranken – meistens rational. 85 Laufen (Fn. 56), S. 59 ff., insb. S. 64 ff.; Kollmann (Fn. 13), S. 83 benutzt dasselbe Argument, um die Strafbarkeit der Chantage zu begründen. 86 Kollmann (Fn. 13), S. 90 ff. verneint hier kohärent einen Fall der Chantage, weil das Opfer keinen Schutz verdiene. Dabei vertritt er eine These, die, soweit ich weiß, niemand mehr vertritt, und behauptet fast das Gegenteil von dem, was Epstein zu begründen versuchte (siehe oben). 83
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einem („moralischen“?) Anspruch des O auf das Stillschweigen von T.87 Die einzige konsequente Weise, wie diese These begründet werden kann, besteht darin, dass T das Übel nicht zufügen dürfe. Denn am unsolidarischsten ist T nicht, wenn er O sein Schweigen anbietet, sondern wenn er ihm das Übel einfach zufügt. Aber wenn das verboten wäre, hätten wir hier kein Problem mehr, denn dann läge eine Nötigung vor. Bis jetzt hat sich gezeigt, dass es keinen deontologischen Grund gibt, die Chantage strafrechtlich zu verbieten. Ein solches Ergebnis hinterlässt aber einen bitteren Nachgeschmack. In unserem Innersten glauben wir trotzdem, dass bei der Chantage O das Opfer ist. Daher macht es jetzt auch Sinn zu fragen, warum die Chantage noch immer so verwerflich erscheint.
IX. Warum erscheint die Chantage noch immer verwerflich? Man findet den Schlüssel zur Antwort hierauf, wenn man an den unvollkommenen Charakter des Rechts denkt. Insbesondere im Bereich der Chantage (aber eigentlich auch beim Wucher) wurden die Befugnisse, die der Täter hat, über das Schicksal des Anderen zu entscheiden, für andere Zwecke vorgesehen. Nur so kann man erklären, dass jemand das Recht hat, beliebig über das Wohl anderer zu verfügen.88 Das Recht, z. B. über andere frei zu reden und ihnen so schaden zu dürfen, wurde als Erlaubnis konzipiert – also als etwas, das weder verboten noch geboten ist –, und stellt ein second best dar. In den Fällen, in denen jemand mit der Ausübung eines solchen Rechts einem anderen schaden könnte, wäre es am besten, exakt bestimmen zu können, wann er dieses Recht ausüben kann. Und warum bestimmen wir diese Umstände nicht und kontrollieren anschließend, ob sich der Täter entsprechend verhalten hat?89 Dafür gibt es mindestens zwei gute Gründe. Zunächst ist manchmal absolut nicht klar, wie die korrekte Lösung unter bestimmten Umständen aussieht. Im Fall des Ehebruchs z. B. ist es manchmal nicht leicht zu sagen, ob mehr dafür spricht, sich in die Angelegenheit Anderer einzumischen oder sich gerade nicht einzumischen. Wahrscheinlich gibt es Gründe für beides.90 Es ist wahr, dass in manchen Fällen der Chantage leicht 87 Laufen (Fn. 56), S. 64 behauptet, dass die Zwangslage des Bewucherten „per se beachtlich“ sei. Es ist wahr, dass der Wuchertatbestand nicht die Verantwortlichkeit des Opfers berücksichtigt (Laufen, zit., S. 67). Das ist aber ein Beweis dafür, dass dieser Tatbestand nichts mit Solidaritätspflichten zu tun hat, und kein Beweis gerade für das Gegenteil. 88 Ähnlich, aber bezogen auf Motive Berman, 65 U. Chi. L. Rev. (1998), S. 844. 89 Gorr, 21 Phil & Pub Aff 43 (1992), S. 44; Berman, 65 U. Chi. L. Rev. (1998), S. 844 behauptet seinerseits, der Grund bestehe darin, dass es wahrscheinlich ist, dass T das Übel aus guten Gründen zufügt. Es ist sicherlich sehr problematisch, alles auf „Gründe“ zu reduzieren. Leider habe ich hier nicht den Raum, um das zu diskutieren. 90 Gorr, 21 Phil & Pub Aff 43 (1992), S. 52 und 55 f.; Wertheimer (Fn. 15), S. 284 ff.
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zu erkennen ist, was der Täter tun soll. Wenn es um Klatsch und Tratsch aus Freude am peinlichen physischen Defekt Anderer geht, sollte der Täter gewiss schweigen.91 Aber auch wenn es möglich wäre, einen Maßstab vorzugeben, wäre die Kontrolle eine starke Einmischung des Staates in die Privatsphäre der Bürger. Dies würde einen Verlust an Freiheit bedeuten, den ein liberaler Staat nicht akzeptieren kann. Angesichts dieser Tatsache gibt es nur eine vernünftige Lösung, die darin besteht, die Leute frei über andere sprechen zu lassen92 und Handlungen zu erlauben, die vielleicht schädlich und sittenwidrig sein könnten,93 wobei es nur ausnahmsweise Sonderfälle zu berücksichtigen gibt. Eine Nebenfolge solcher Entscheidungen ist die Möglichkeit der Chantage. Manche Leute missbrauchen diese Freiheit, um sich unverdiente Vorteile versprechen zu lassen. Dies ist der externe Effekt der Chantage, von dem die Rechts ökonomen reden.94 Das ist gewiss nicht richtig. Aber dabei wird das Opfer nicht durch die Chantage geschädigt. Das Unrecht liegt vielmehr darin, dass sich der Täter durch einen gewissen Missbrauch des Rechts bereichert.95 Das Sich-Bereichern ist normalerweise nicht schlecht und sicherlich nicht strafbar, auch nicht, wenn es unverdient geschieht.96
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Gorr, 21 Phil & Pub Aff 43 (1992), S. 51; Altman, 141 U. Pa. L. Rev. (1993), S. 1652. Diesem Argument entspricht natürlich die These, nach der das angedrohte Übel immer noch erlaubt sein muss. Aber sogar für diejenigen, die manche dieser angedrohten Handlungen verbieten wollen, ist die Chantage kein Schaden für das Opfer, solange diese Handlungen erlaubt sind, weil es sich eigentlich um ein formelles Problem handelt. Dagegen Berman, 65 U. Chi. L. Rev. (1998), S. 844 ff.; Gorr, 21 Phil & Pub Aff 43 (1992), S. 52 ff. Es gibt Autoren, die das Problem durch die Infragestellung der Erlaubtheit der angedrohten Handlung lösen wollen: Feinberg (Fn. 46), S. 240 ff. (in manchen Fällen auch Gorr, 21 Phil & Pub Aff 43 [1992], S. 51). 93 Siehe dazu Wertheimer (Fn. 15), S. 281 ff. Aber natürlich ist Sittenwidrigkeit nicht gleich Rechtswidrigkeit. Dagegen Kollmann (Fn. 13), S. 93 ff. 94 Siehe Block/Kinsella/Hoppe, Business Ethics Quarterly Band 10 Nummer 3 (2000), S. 596 ff. 95 Feinberg (Fn. 46), S. 197 f.; Mayer, Journal of Applied Philosophy, Band 24, Nr. 2, 2007, S. 139 f. Wertheimer (Fn. 15), S. 207 ff. spricht von „unfairness“, wenn er das Unrecht der Ausbeutung bestimmen will. Ein solcher Begriff kann einfacher beim Wucher oder anderen Fällen der Ausbeutung verwendet werden als bei der Chantage. Aber auf jeden Fall wäre dies nur ein raffinierter Begriff für ein „unverdientes Sich-Bereichern“, der erklärt, dass T unverdientes Geld erzielt, ohne O benachteiligt zu haben. 96 Kindhäuser, NStZ 1994, S. 106; Wertheimer (Fn. 15), S. 28 ff. Laufen (Fn. 56), S. 62 f. versucht zu zeigen, dass „das Gesetz eigennützige Übergriffe auf Rechtsgüter anderer stärker als bloße Destruktion“ bestraft, auch wenn dies von der Opferperspektive aus dasselbe sei. Laut manchen Autoren könne man die Ausbeutung nur auf der Basis eines Moralismus bestrafen, vgl. Feinberg (Fn. 46), S. 176 und 240; Wertheimer (Fn. 15), S. 305 ff. 92
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Es bleiben noch die konsequentialistischen Argumente, die vielleicht das Verbot der Chantage erklären könnten.97 Dabei muss man aber immer gut begründen, weshalb jemand, der niemanden geschädigt hat, nur deshalb für drei bis fünf Jahre ins Gefängnis kommen soll, weil dies anderen gelegen kommt.98
97 Grundlegend Nozick, Anarchy, State, and Utopia, 1974, S. 84 ff.; Epstein, 50 U. Chi. L. Rev. (1983), S. 562 ff. und 565 ff.; Posner, 141 U Pa. L Rev (1993), S. 1 ff. Dazu kritisch Berman, 65 U. Chi. L. Rev. (1998), S. 810 ff.; Altman, 141 U. Pa. L. Rev. (1993), S. 1656; Block/Kinsella/Hoppe, Business Ethics Quarterly Band 10 Nummer 3 (2000), S. 593 und passim. 98 Hierher gehören vielleicht die Thesen von Arzt, Festschrift für Lackner, S. 653; Kindhäuser, NStZ 1994, passim; Heinsius, Das Rechtsgut des Wuchers, S. 50 ff. und Wertheimer (Fn. 15), S. 300 ff. Indem wir verbieten, dass T die Schwäche von O missbraucht, wird vermieden, dass T diesen Faktor berücksichtigt, wenn er mit O verhandelt. Beim Wucher verbessern wir so die Lage von O, da wir davon ausgehen können, dass T sowieso Geld verleihen würde. O würde ohne das Bestehen der Möglichkeit des Wuchers günstigere Kredite bekommen. Das Argument könnte auch für die Chantage funktionieren. Weil wir davon ausgehen können, dass T ohne die Möglichkeit, Geld zu verdienen, die Information nicht offenbaren würde, stellt das Verbot der Chantage das Opfer normalerweise besser. Es würde die Leistung kostenlos bekommen. Natürlich müssten wir in beiden Fällen auch berücksichtigen, dass es manche Opfer gibt, die wegen des Verbots der Interaktion mit T schlechter gestellt werden (so Altman, 141 U. Pa. L. Rev. [1993], S. 1650; Gorr, 21 Phil & Pub Aff 43 [1992], S. 60, Wertheimer [zit.], S. 115 und 303 f.). Das wichtigste ist aber, dass obwohl das Verbot Sinn ergeben kann, dies nicht die Strafbarkeit der Ausbeutung begründen kann. Das konkrete Opfer wird bei solchen Handlungen nicht benachteiligt. So, wie die Strafbarkeit des Rauchens zwar Sinn ergeben kann, um vom Rauchen abzuhalten, dies aber keine Bestrafung des Rauchens legitimieren kann.
Wahrheit und Beweis im Strafprozess* Plädoyer für eine begriffliche Verbindung Von Gabriel Pérez Barberá Gabriel Pérez Barberá Gabriel Pérez Barberá: Wahrheit und Beweis im Strafprozess. Plädoyer für eine begriffliche Verbindung Wahrheit und Beweis im Strafprozess
I. Das Problem Nehmen wir an, die Hauptverhandlung ist beendet, der Strafrichter hat sämtliches Beweismaterial der Hauptverhandlung gewürdigt und schreibt nun sein Urteil. Seine Schlussfolgerung ist, dass p (d. h. beispielsweise, dass A den B getötet hat) bewiesen ist. Aber in diesem Moment betritt ein erschrockener Beamter des Gerichts sein Zimmer und sagt ihm, dass gerade im Fernsehen eine Person zu sehen gewesen ist, die gesagt habe, dass p falsch sei, und dass diese Person sich zwar nur informell, aber sehr überzeugend auf Tatsachen beziehen könne. Kann der Richter trotz dieser Information an seinen getroffenen Schlussfolgerungen festhalten und im Urteil sagen, dass p bewiesen sei? Glücklicherweise beinhalten viele Strafprozessordnungen – wie u. a. Art. 397 StPO Argentiniens – eine Norm, die ausdrücklich festlegt, dass, wenn es absolut nötig ist, der Richter vor dem Erlass des Urteils eine schon geschlossene Hauptverhandlung wieder eröffnen kann, um neue Beweise einzuführen. Aber selbst wenn es keine ausdrückliche Norm wie diese gäbe – wie in Deutschland –, ist nicht zu erwarten, dass ein Richter nach einem so außergewöhnlichen Ereignis sein Urteil weiterschreiben würde, als ob nichts passiert wäre, indem er behauptet, dass p bewiesen sei. Er müsste sonst die Auffassung vertreten, dass allein entscheidend sei, was innerhalb des Prozesses bewiesen werde, da der Richter die Pflicht habe, das Urteil nach seiner „aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung“ zu bilden. Anderweitige Informationen, von denen * Übersetzung ins Deutsche durch Anna Richter. Der Text gehört zu einem Forschungsprojekt, das ich dank eines Stipendiums der Alexander-von-Humboldt-Stiftung durchführen konnte. Ein Teil des Textes wurde als Vortrag aufgrund der Einladung Helmut Satzgers im September 2014 an der Universität München gehalten. Später wurde eine umfassendere Version des Textes im Rahmen eines von Kai Ambos geleiteten Seminars über Beweisrecht in Lima und Ushuaia referiert. Die erste Version wurde sprachlich von Frank Zimmermann überarbeitet. Ihm danke ich auch für wichtige inhaltliche Anmerkungen. Mein Dank gilt auch Rodrigo Sánchez Brígido, Luís Greco und insbesondere Alejandra Verde sowie den an den gennanten Seminaren Beteiligten.
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er außerhalb des Prozesses Kenntnis erlangt, seien irrelevant und dürften nicht mehr in den Prozess eingeführt werden. Ich glaube vielmehr, dass ein deutscher Richter, indem er sich auf allgemeine Normen beruft (wie z. B. auf § 244 II StPO), sicherlich auf irgendeine Weise diese neue, entscheidende und außerhalb des Prozesses erschienene Information berücksichtigen würde, um innerhalb des Prozesses prüfen zu können, ob p tatsächlich bewiesen ist. Das Gesagte deutet an, dass es nicht vernünftig wäre, wenn ein Richter aus seiner prozessual gewonnenen Überzeugung heraus etwas als bewiesen bezeichnet, wenn sich außerhalb des Prozesses gezeigt hat, dass dies nicht wahr ist. Entweder gibt es Normen, die ausdrücklich solche Situationen lösen (wie in Argentinien), oder das gleiche Ergebnis wird durch Verweis auf allgemeine Grundsätze und Normen erzielt (wie in Deutschland). Diese Gesetzgebung und Praxis können „wahrheitsempathisch“ genannt werden.
II. Keine begriffliche Verbindung zwischen Wahrheit und Beweis? Im Hinblick auf die Verbindung zwischen Wahrheit und Beweis wird allerdings von Erkenntnistheoretikern, die sich mit strafprozessualen Problemen beschäftigen, vertreten, dass das, was von mir als unvernünftig beschrieben wurde, als durchaus plausibel angesehen werden kann.1 Es geht in der Tat um eine sehr geschickt begründete These, deren Widerlegung viel schwieriger ist, als man auf den ersten Blick meint. Und da es sich um eine philosophische These handelt, die juristische Folgen impliziert, müssen wir Juristen uns sowohl mit der These selbst und ihren juristischen Folgen als auch mit ihren philosophischen Grundlagen beschäftigen. Zunächst muss aber darauf hingewiesen werden, dass weder die These noch meine Kritik auf Konstellationen eingeht, bei denen auf die Wahrheit aus juristischen und rechtstaatlichen Gründen (wie in dubio pro reo und ne bis in idem) mit materieller Rechtskraft – also für immer – verzichtet wird, z. B. wenn der Angeklagte wegen nicht zu überwindender Zweifel freigesprochen wird. Vielmehr geht es vorliegend um Konstellationen, bei denen die Wahrheit als eine im Prinzip unabdingbare Voraussetzung erscheint, um ein gültiges Urteil verkünden zu können. Ist dies aber wirklich so? Braucht man Wahrheit (d. h. materielle Wahrheit), um eine wirksame Verurteilung zu verkünden? Manche Rechtsphilosophen begegnen dieser Frage mit einem ausdrücklichen „Nein“.2 Hassemer und viele
1
So z. B. Ferrer Beltrán, Prueba y verdad en el derecho, 2. Aufl. 2005. So bekanntlich bereits Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 245; auch Ferrer Beltrán (Fn. 1), S. 35 f.; Gascón Abellán, Los hechos en el derecho, 3. Aufl. 2010, S. 107 ff. 2
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andere deutsche Strafrechtslehrer sind sachlich der gleichen Meinung, da ihnen für eine Verurteilung die sog. „forensische Wahrheit“ genügt.3 Da aber nicht von verschiedenen Arten von Wahrheit gesprochen werden kann,4 lehnt beispielsweise Ferrer-Beltrán anhand einer viel anspruchsvolleren Argumentation diese Idee der forensischen Wahrheit – zu Recht – ab.5 Er untersucht, ob zwischen der objektiven bzw. absoluten Wahrheit und dem Beweis eine begriffliche bzw. konzeptuelle Verbindung besteht.6 Denn wenn dies der Fall wäre, wäre doch die Wahrheit eine notwendige Bedingung jeder Verurteilung. Im Ergebnis verneint Ferrer-Beltrán jedoch, dass zwischen der Wahrheit und dem Beweis eine begriffliche Verbindung existiert.7 Präziser: Er unterscheidet zwischen dem Ergebnis der Beweisaufnahme (von nun an: Beweisergebnis) und der Beweisaufnahme als Tätigkeit (von nun an: Beweistätigkeit) und meint, dass es zwischen Wahrheit und Beweisergebnis keinerlei begriffliche Verbindung gebe.8 Das Beweisergebnis besteht bekanntlich aus einer Aussage, deren paradigmatische Formulierung wie folgt lautet: „Es ist bewiesen, dass p“.9 Gewöhnlich spricht man von einer begrifflichen bzw. internen Verbindung zwischen zwei Termini, wenn ein Terminus ohne den anderen nicht sein kann, sodass ein Terminus notwendige Bedingung des anderen ist. Fehlt diese Notwendigkeit, ist die Verbindung aber möglich, dann sagt man, dass diese Verbindung kontingent bzw. empirisch sei, nicht aber begrifflich oder konzeptuell. Was die Verbindung zwischen der Wahrheit und dem prozessualen Beweis betrifft, so vertritt Ferrer-Beltrán die These, dass sie nicht begrifflicher, sondern rein kontingenter oder empirischer Natur sei. So kann es der Fall sein, dass das Bewiesene auch tatsächlich wahr ist. Es sei aber nicht notwendig, dass das Erwiesene auch wahr ist, um bewiesen sein zu können. Dass p bewiesen ist, hänge nicht von der realen Welt, sondern lediglich von dem innerhalb des Prozesses aufge3 Vgl. Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, 2. Aufl. 1990, S. 153; auch – unter vielen anderen – SSW-StPO/Beulke, 2. Aufl. 2016, Einleitung Rdn. 7. – Diese These ist aber viel älter und gilt als traditionell in der Beweistheorie. Vgl. bereits und unter vielen anderen v. Canstein, in: Zeitschrift für deutschen Zivilprozeß, Bd. 2 (1880), S. 297 ff., 306 ff.; auch Walter, Freie Beweiswürdigung, 1979, S. 77 ff. – Rechtsvergleichend ist diese These ebenso seit langem zu finden, wie z. B. in der italienischen Literatur (vgl. u. a. Furno, Contributo alla teoria della prova legale, 1940, S. 18 ff.). Selbst kein Geringerer als Ferrajoli vertritt diese These noch heute (vgl. Ferrajoli, Derecho y razón, 1995, S. 44 f.). 4 Vgl. dazu unter vielen anderen Taruffo, La prueba de los hechos, 2002, S. 24 f. 5 Vgl. Ferrer Beltrán (Fn. 1), S. 61 ff. 6 Ebd., S. 25 ff. 7 Ebd., S. 31, 35 f., 55 ff. 8 Ebd., S. 31 f. 9 Ebd., S. 19 ff.
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nommenen Beweis ab. Sofern man das unter den Regeln der freien Beweiswürdigung geschaffene Beweisergebnis als bewiesen ansieht, gilt dies, auch wenn es falsch ist.10 Und so scheint es in der Tat zu sein. Nehmen wir an, der BGH hat nach einer Revision die Beweiswürdigung einer Verurteilung bestätigt. Aber ein Jahr später beantragt der Verurteilte die Wiederaufnahme des Verfahrens aufgrund neuer Tatsachen, die seine Unschuld bestätigen (§ 359 Nr. 5 StPO). Selbst wenn die Wiederaufnahme Erfolg hätte, würde das neue Urteil nicht sagen, dass im ersten Urteil des Tatrichters p nicht bewiesen war; es würde nur sagen, dass dies falsch war, was freilich keinen Einwand gegen die Gültigkeit des vorherigen Urteils des Tatrichters bedeutet, denn seine Beweiswürdigung bleibt unberührt. Diese Regelung zeigt deutlich, dass die Tatsache, dass p (also: dass A den B getötet hat) bewiesen ist, eine hinreichende Bedingung für eine gültige Verurteilung des A darstellt, auch wenn dies falsch ist. Folglich wäre die Wahrheit von p keine notwendige Bedingung für die Aussage „es ist bewiesen, dass p“, und die These, dass es zwischen Wahrheit und Beweis keine begriffliche Verbindung gebe, träfe zu. Folgt man dieser These, könnte man annehmen, der Richter unseres Ausgangsbeispiels könne am Ende des Strafprozesses sagen, etwas sei bewiesen, obwohl er durch außerprozessuale, aber öffentliche Information von dessen Unwahrheit weiß. Meiner Auffassung zufolge ist dies allerdings nicht überzeugend. Zwar ist es nicht notwendig, dass eine Aussage wahr ist, um sie in einem Prozess als bewiesen ansehen zu können. Allerdings folgt daraus nicht, dass zwischen Wahrheit und Beweis keine begriffliche Verbindung besteht. Gerade weil eine solche Verbindung existiert, ist es in einem bestimmten Sinn nicht möglich, während eines Prozesses zu sagen, dass etwas bewiesen sei, wenn schon in diesem Moment außerhalb des Prozesses auf irgendeine Weise festgestellt wurde, dass dies falsch oder zumindest wahrscheinlich falsch ist, und diese Feststellung im Prozess sogar bereits informell bekannt ist („festgestellt“ bedeutet hier, dass diese Feststellung sehr überzeugend und intersubjektiv zugänglich ist).
III. Wahrheit, Falschheit und Rechtfertigung Vor der Begründung meiner Position ist daran zu erinnern, dass der Ausdruck „Wahrheit“ bekanntlich hochproblematisch ist. Selbst wenn man allen Schwierigkeiten aus dem Weg geht, die mit der Idee der Wahrheit als Korrespondenz zwischen Aussage und Welt verbunden sind, und man diese Idee akzeptiert – so wie es auch die hier kritisierte These tut –,11 muss man einige Differenzierungen vornehmen, um Verwirrungen zu vermeiden. 10 11
Ebd., S. 36, 42 ff., 55 ff., 68 f. Ebd., S. 18.
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„Wahrheit als Korrespondenz“ ist erstens eine Vorstellung von der Wahrheit mit einer starken ontologischen Belastung, die erhebliche epistemologische Schwierigkeiten mit sich bringt.12 So ist es aus selbstverständlichen, logischen Gründen, die im Folgenden kurz überprüft werden, nicht möglich, ganz sicher zu sein, dass eine faktische Aussage wahr ist. Ein einfaches Beispiel: Wir können nicht sicher sagen, dass sich ein Metallstück dehnen wird, wenn ich es erwärme. Denn meine Kenntnisse bezüglich dieser Möglichkeit von Dehnung entstammen meiner Erfahrung und aus der Erfahrung kann man keine endgültigen Schlussfolgerungen ziehen.13 Es handelt sich um induktive und nicht um deduktive Erkenntnisse und deshalb ist die Wahrheit der Prämisse nicht in die Schlussfolgerung zu übertragen; eine faktische Schlussfolgerung kann also nicht mehr als wahrscheinlich sein.14 Jedoch kann eine bestimmte Wahrscheinlichkeit mich dazu berechtigen, etwas – zumindest vorübergehend – für bestätigt und somit – noch immer vorübergehend – für nicht falsch und in diesem schwachen Sinn für wahr zu halten.15 Es geht um den sogenannten „billigenden Gebrauch“ (endorsing use) des Prädikats „wahr“.16 In bestimmten Bereichen muss man für diese Annahme aber methodisch vorgehen, damit das Ergebnis als rational gilt.17 Dieser Vorgang, mit dem wir argumentativ und rational zu beweisen versuchen, dass etwas wahr ist, wird von der Erkenntnistheorie „Rechtfertigung“ genannt.18 Es ist hervorzuheben, dass in einem gerichtlichen bzw. prozessualen Kontext der „Beweis“ eigentlich der Rechtfertigung entspricht und nicht der Wahrheit. So kommen wir zur zweiten Besonderheit – und zu der Komplexität – der Idee der Wahrheit als Korrespondenz, nämlich zu der Frage, welche Verbindung zwischen Wahrheit und Rechtfertigung besteht.19 Es handelt sich um eine wichtige Frage, denn wie gerade erwähnt ist die Verbindung zwischen (gerichtlichem) 12 Vgl.
Grundmann, Analytische Einführung in die Erkenntnistheorie, 2008, S. 62 f. dazu Hempel, in: Mind, New Series 54 (1945), S. 1 f.; ders., in: Mind, New Series 54 (1945), S. 97 f. 14 Vgl. dazu statt aller Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2. Aufl. 2001, S. 117 ff. 15 Natürlich von den technischen Problemen der Verifikation bzw. Bestätigung abgesehen. Vgl. dazu Hempel (Fn. 13), S. 1 ff., 97 ff. 16 Vgl. dazu Rorty, Objectivity, Relativism and Truth, 1991, S. 56. 17 Was impliziert, dass in manchen Bereichen (wie vor allem im alltäglichen Leben) viele Bestätigungen dieser Art ohne Methode erreicht werden können. Dies bezieht sich auf die grundlegende Differenzierung von Habermas zwischen „Handeln“ und „Diskurs“: Vgl. Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, 1984, S. 127 ff. 18 Vgl. Grundmann (Fn. 12), S. 223 ff., 277 ff. 19 Vgl. dazu Rorty, Truth and Progress. Philosophical Papers, 1998, S. 1 ff.; Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, S. 230 ff. 13 Vgl.
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Beweis und Wahrheit nicht mehr als eine spezifische Instanziierung der allgemeinen Verbindung zwischen Wahrheit und Rechtfertigung. Die hier kritisierte These hat sich darum bemüht zu zeigen, dass der Beweis nicht der Wahrheit entspricht, und das ist m.E. ohne Zweifel zutreffend. Diese These hat aber nicht dargelegt, dass der Beweis der Rechtfertigung entspricht. So wurde die Gelegenheit versäumt, mit mehr Genauigkeit in dieser spezifischen, juristischen Diskussion das anzuwenden, was im Allgemeinen schon seit Langem über die Verbindung zwischen Wahrheit und Rechtfertigung gesagt wird. Denn zu behaupten, dass p bewiesen ist, bedeutet eben nicht, dass dies wahr ist, sondern nur, dass es in einem bestimmten Kontext gerechtfertigt ist, zu sagen, dass p bewiesen ist. Damit ist die Stellungnahme zur These der heutigen Erkenntnistheorie insofern vorgezeichnet, als die Prädikate „wahr“ und „gerechtfertigt“ nicht äquivalent bzw. von gleicher Extension sind.20 Berühmte Namen wie Habermas,21 Putnam22 und Rorty23 verknüpft man automatisch mit einem epistemischen Wahrheitsbegriff. „Epistemisch“ meint hier, dass die Wahrheit kein ontologischer, also auf die Welt bezogener Begriff ist (wie der Wahrheitsbegriff der Korrespondenztheorie), sondern ein Begriff, der sich lediglich auf unsere Kenntnis bezieht. Diesem Standpunkt nach gäbe es keinen relevanten Unterschied bei der Extension zwischen den Prädikaten „wahr“ und „gerechtfertigt“. Wahrheit sei nichts anderes als gerechtfertigte Behauptbarkeit. „Wahr“ sei dann, was wir gerechtfertigt behaupten können, je nach den verschiedenen Meinungen unter faktischen oder idealen Bedingungen. Gegen solche epistemischen Wahrheitsbegriffe gibt es aber m.E. einen konkludenten Einwand. Wer meint, dass Wahrheit nicht mehr als faktische Rechtfertigung sei (wie Rorty), setzt sich in Widerspruch zur Erfahrung der Wissenschaftsgeschichte und sogar des alltäglichen Lebens: Viele zeitweise gerechtfertigte Behauptungen wurden später eindeutig als falsch bewiesen, und dies wird sicherlich auch weiterhin geschehen. Und wer, um diese Schwierigkeit zu überwinden, noch weiter auf eine Rechtfertigung unter idealen Bedingungen abstellt (wie Putnam und Habermas), übersieht, dass dies die Verneinung der Fallibilität unseres Wissens impliziert. Denn wie Lafont zu Recht sagt, wären die Ergebnisse dieser Rechtfertigung nicht mehr falsifizierbar, wenn wir solche idealen Rechtferti20 So
Wright, Truth and Objectivity, 1992, S. 71 f. Habermas (Fn. 17), S. 127 ff. 22 Vgl. Putnam, Reason, Truth and History, 1981, S. 49 ff. 23 Vgl. Rorty (Fn. 19), S. 19 ff.; ders. (Fn. 16), S. 56 f. – Hier aber führt Rorty den sog. „warnenden Gebrauch“ (cautionary use) der Wahrheit ein, der eigentlich einen Unterschied bei der Extension der Prädikate „wahr“ und „gerechtfertigt“ voraussetzt (so zutreffend Habermas [Fn. 19], S. 247). 21 Vgl.
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gungsbedingungen erreichen würden, was freilich unvereinbar mit der fallibilistischen Eigenschaft des menschlichen Wissens ist.24 Eine Folge also, die auch im Licht der Wissenschaftsgeschichte und des alltäglichen Lebens unannehmbar ist. Unabhängig davon, ob man einen deflatorischen oder einen robusten Wahrheitsbegriff bevorzugt,25 scheint es richtig zu sein, dass jede Option einen Unterschied bei der Extension der Prädikate „wahr“ und „gerechtfertigt“ akzeptieren sollte und dass diese nicht nur verschiedene Prädikate, sondern auch verschiedene Normen sind. Denn wie Crispin Wright gezeigt hat, bestimmen sie, was im Rahmen eines assertorischen Diskurses gesagt werden darf und was nicht, und so erfüllen sie eine klare normative Funktion.26 Grob gesagt lässt sich daher behaupten, dass die Tätigkeit des Rechtfertigens lediglich der Norm der Rechtfertigung unterliegt, während die Rechtfertigung als Ergebnis auch der Norm der Wahrheit unterzogen ist. Dies gilt freilich unter der Annahme, dass es sich um Diskurse handelt, die einigermaßen daran interessiert sind, etwas über die Welt zu sagen. Deshalb denke ich, dass es immer noch sinnvoll ist, zwischen Wahrheit und Rechtfertigung zu differenzieren, selbst wenn man – wie Rorty – annimmt, dass jede Art von Forschung nur Rechtfertigung – und nicht Wahrheit – suchen muss und suchen kann.27 Angesichts unserer aktuellen Vorstellungen bezüglich der einzigen Art von Rechtfertigung, die wir als gültig akzeptieren und somit brauchen (kurz: Gründe angeben und verlangen), sowie unserer Intuition für die Möglichkeit genuiner Unstimmigkeiten und Lernprozesse28 erscheint es mir als notwendig, eine von der Rechtfertigung selbständige Instanz zu haben, um Rechtfertigungsstreitigkeiten aufzulösen. Diese selbständige Instanz ist, was wir „Wahrheit“ nennen. Sieht man die Problematik auf diese Weise – und ich sehe sie so –, erscheint die Wahrheit zwar als parasitär in Bezug auf die Rechtfertigung oder lediglich als deren Produkt, was überrascht, denn üblich ist es, das Gegenteil zu glauben. Gleichwohl schränkt uns die Wahrheit nicht weniger ein. Denn von ihrer untergeordneten Position aus führt und ordnet die Wahrheit die Rechtfertigung – genau wie Ideen oder Entitäten, die wir wegen unserer menschlichen Bedürfnisse konstruieren (wie Gott, eine Norm oder ein Auto) –, um uns stets Verhaltensweisen und Einschränkungen jeder Art aufzwingen. 24 Vgl. Lafont, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 42 (1994), S. 1007 ff., 1017. – Es ist wichtig, daran zu erinnern, dass Habermas wegen dieser Kritik von Lafont seinen epistemischen Wahrheitsbegriff aufgegeben hat (vgl. Habermas [Fn. 19], S. 256). 25 Eine für Juristen sehr anschauliche Einführung in diese Diskussion liefert Sucar, Concepciones del derecho y de la verdad jurídica, 2008, S. 102 ff. 26 Vgl. Wright (Fn. 20), S. 12 ff. 27 So Rorty (Fn. 19), S. 3 f. 28 Vgl. dazu Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, 1981, S. 44.
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Schränkt uns aber wirklich die Wahrheit ein? Haben wir nicht bereits akzeptiert, dass wir über die Wahrheit unserer Aussagen nie sicher sein können, und deswegen gerechtfertigte bzw. bewiesene Aussagen ausreichen, um in bestimmten Kontexten wie in einem Strafprozess etwas über die Welt sagen zu können? Hier deutet sich die dritte Besonderheit dieser Konzeption der Wahrheit an: Zwar können wir nie über die Korrespondenz einer Aussage mit der Welt sicher sein, über das Fehlen dieser Korrespondenz können wir jedoch völlig sicher sein. Um dies mit Hilfe des vorherigen Beispiels zu verdeutlichen: Es genügt, dass ein Körper sich nur einmal beim Erwärmen nicht dehnt, um zu wissen, dass die Aussage „jeder Körper dehnt sich bei Erwärmen“ falsch ist. Deshalb bestand Popper darauf, dass das Fehlen der Falsifikation (bzw. der Widerlegung) einer empirischen Hypothese das einzige ist, was uns berechtigt, sie für wissenschaftlich gültig halten zu können.29 Eine nicht als falsch festgestellte Aussage kann wahr oder falsch sein. Aber eine bereits als falsch festgestellte Aussage ist – bei allgemeinen empirischen Hypothesen in deterministischen Bereichen – definitiv falsch, und somit können wir ganz sicher sein, dass sie nicht wahr ist. Also: Die Kraft der Falsifikation ist so stark, dass z. B. bei nicht determinierten Bereichen oder auch bei singulären, empirischen Hypothesen determinierter Bereiche30 nur ihre Andeutung (d. h. die Feststellung der bloßen Wahrscheinlichkeit der Falsifikation) genügt, um einerseits nicht mehr sagen zu können, dass diese Aussage wahr ist, und um andererseits in einem bestimmten Sinn und von einer bestimmten Sprache aus auch nicht einmal sagen zu können, dass diese Aussage gerechtfertigt (oder bewiesen) ist.
IV. Wahrheit und Beweis: Gründe für eine begriffliche Verbindung Ich habe bereits erwähnt, dass die Rechtfertigung als Ergebnis auch der Norm der Wahrheit unterliegt. Beziehen wir uns in einem gerichtlichen Kontext auf das Beweisergebnis und nehmen wir an, dass der Beweis der Rechtfertigung entspricht, dann ist klar, dass das Beweisergebnis, sofern es das Ergebnis einer Rechtfertigungstätigkeit ist, der Norm der Wahrheit unterliegt. Zwar nicht insofern, als das Beweisergebnis wahr sein muss, um „gelten“ zu können, aber doch so, dass zumindest auf keine Weise – gleich, ob innerhalb oder außerhalb des Prozesses, methodisch oder zufällig – festgestellt wurde, dass das Beweisergebnis falsch oder wahrscheinlich falsch ist. 29 Vgl.
Popper, Logik der Forschung, 10. Aufl. 1994, S. 14 ff. Auf den Unterschied von determinierten und undeterminierten Bereichen und seine Bedeutung für das Strafrecht bin ich schon näher eingegangen: vgl. Pérez Barberá, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 114 (2002), S. 600 ff. 30
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Der Standpunkt, dem hier widersprochen wird, lehnt diese Schlussfolgerung ausdrücklich ab.31 Er verkennt aber, dass man über das Bewiesene auf verschiedenen Sprachebenen diskutieren kann. Man kann also, wenn man weiß, dass p falsch ist, auf einer bestimmten Sprachebene sagen, dass p trotzdem bewiesen ist. Auf einer anderen Sprachebene ist dies aber nicht möglich, und das zeigt, dass eine bestimmte begriffliche Beziehung zwischen Wahrheit und Beweis besteht. Fragt man nach der Art dieser Beziehung, ist zu antworten: Es ist dieselbe, die zwischen Wahrheit und Rechtfertigung besteht. Obwohl es zutrifft, dass eine gerechtfertigte Aussage falsch sein kann, trifft es auch zu, dass die festgestellte oder wahrscheinliche Falschheit einer Aussage nicht nur verhindert, sie als wahr zu behaupten, sondern auch, dass sie, zumindest von einem bestimmten Begriffsverständnis aus, als gerechtfertigt (bzw. bewiesen) angesehen werden kann. Bevor dies näher auszuführen ist, muss zuerst noch Folgendes berücksichtigt werden. Wird eine faktische Behauptung nach den Regeln der entsprechenden rechtfertigenden Tätigkeit getroffen, dann erfüllt sie die Norm der Rechtfertigung. Wenn aber diese Behauptung falsch ist, dann erfüllt sie nicht die Norm der Wahrheit. Selbstverständlich werden wir so etwas erst wissen, sobald wir die Falschheit dieser Aussage kennen, und es ist sehr wichtig, dass wir dies nicht außer Acht lassen. Aber noch wichtiger ist es, darauf hinzuweisen, dass Wahrheit und Rechtfertigung, salopp gesprochen, auf verschiedenen diskursiven Bahnen fahren, oder präziser: Der Kontext, der es erlaubt zu behaupten, dass eine Aussage gerechtfertigt ist, ist immer begrenzter als derjenige, der es erlaubt zu behaupten, dass eine Aussage falsch ist (gerade deshalb kann eine Behauptung gerechtfertigt – oder anders gesagt, bewiesen – und trotzdem falsch sein). Den Diskurs eines rechtfertigenden Kontextes mag ich als „idiosynkratisch“ bezeichnen.32 Denn er folgt spezifischen Regelungen der entsprechenden rechtfertigenden Tätigkeit, wie z. B. den Beweisregeln eines Strafprozesses oder den wissenschaftlichen Regeln der empirischen Forschung. Der gerichtliche Beweis ist eben nichts anderes als eine besondere idiosynkratische Art von Rechtfertigung. Hingegen ist derjenige Diskurs nicht idiosynkratisch, mit dem man feststellen kann, dass eine faktische Aussage falsch ist. Zumindest ist dieser Diskurs weniger idiosynkratisch als der rechtfertigende Diskurs. Dies hängt von unserer Annahme über die Beziehung zwischen Welt und Sprache ab.33 Die Prädikate „wahr“ und „falsch“ sind keiner Rechtfertigungsnorm unterzogen, um „gelten“ zu können. Selbst wenn man zufällig und sogar jenseits des rechtfertigenden Kontextes entdeckt, dass das Ergebnis einer hoch wissenschaftlichen empiri31 Vgl.
Ferrer Beltrán (Fn. 1), S. 69. Vgl. dazu bereits Habermas (Fn. 28), S. 36 f., der aber diesen Ausdruck nur für ganz private, für die Allgemeinheit völlig unverständliche Aussagen verwendet. 33 Vgl. dazu Lafont, The Linguistic Turn in Hermeneutic Philosophy, 1999, S. 5 ff., 125 ff., 227 ff. 32
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schen Forschung falsch ist, dann gilt dieses Ergebnis schlichtweg, auch wenn diese Falschheit kein Produkt der Befolgung rechtfertigender Regeln ist, sondern – wie gerade gesagt – des Zufalls. Selbstverständlich beschränkt sich meine These nicht auf die Aussage, dass, um behaupten zu können, „p“ sei bewiesen, es erforderlich ist, dass nicht „nicht p“ bewiesen ist. Dies würde die Dinge in dem sehr idiosynkratischen internen Kontext der Rechtfertigung belassen. Wir stimmen alle darin überein, dass, um in einem Strafverfahren sagen zu können, p sei bewiesen, es notwendig ist, dass im selben Strafverfahren nicht „nicht p“ bewiesen ist. Dies zielt darauf ab, nichts weiter als eine logisch unausgesprochene Rechtfertigung (d. h. intern nicht verdorben) als ein idiosynkratisches Argument zu verlangen, um die Behauptung zu stützen – auch idiosynkratisch –, dass p bewiesen ist. Ergänzend ist zu sagen, dass es vom Strafprozess und von einer bestimmten Sprachebene aus möglich ist zu behaupten, dass p bewiesen ist, vorausgesetzt, dass nirgendwo – auch nicht außerhalb des Prozesses – festgestellt ist, dass p nicht wahr ist, oder dass p wahrscheinlich falsch ist. Welche ist dann diese bestimmte Sprachebene, die innerhalb des Rechtfertigungskontextes liegt und von der nicht behauptet werden kann, dass gerechtfertigt oder bewiesen sei, was sich von außerhalb des Rechtfertigungskontextes als falsch oder wahrscheinlich falsch offenbart hat? Vor allem geht es hier um die Sprache des Richters. Wurde außerhalb des Strafprozesses intersubjektiv festgestellt, dass p nicht bewiesen ist, und wird dies im Prozess sogar informell bekannt, dann könnte der Richter die Aussage „es ist bewiesen, dass p“ schlechthin nicht tätigen. Und dies nicht nur in dem bloß faktischen Sinn, dass kein vernünftiger Richter so etwas tun würde (das ist rein kontingent), sondern auch und insbesondere in dem Sinn, dass bei theoretischen (also faktischen) Diskursen die Rechtfertigung (die in diesem Fall der gerichtliche Beweis ist) begrifflich und nicht nur faktisch eine vermittelnde Institution ist, die die Funktion hat zu gewährleisten, dass dieser Diskurs tauglich ist, um etwas – und zwar gerechtfertigt – über die Welt zu sagen. Was die Verbindung des Strafprozesses und des Beweisergebnisses mit der Welt erklärt, ist die Tatsache, dass die Aussage „es ist bewiesen, dass p“, deren Formulierung notwendige und hinreichende Bedingung ist, um den Beweis als geführt erachten zu können, eine enthymematische Aussage ist, eine Aussage also, die eigentlich Folge einer impliziten Prämisse ist. Diese implizite Prämisse lautet hier, wie bereits erwähnt, dass keinesfalls und nirgendwo – auch nicht außerhalb des Prozesses – festgestellt ist, dass diese Aussage falsch oder wahrscheinlich falsch ist. Es ist diese implizite Prämisse, welche die technische Aussage der Beweisaufnahme, dass p bewiesen ist, mit der institutionellen Aussage des Strafprozesses verknüpft, die sagt – und sagen muss –, dass p wahr ist. In einem Strafprozess kann der Richter auf verschiedenen Sprachebenen sprechen. Wenn also lediglich außerhalb des Strafprozesses festgestellt wird, dass
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es zumindest wahrscheinlich ist, dass p nicht vorliegt, ist es selbstverständlich, dass der Richter (und auch ein externer Beobachter), der darüber Bescheid weiß, trotzdem problemlos behaupten kann, dass jenseits dieser außerprozessualen Feststellung im Prozess p bewiesen ist. Aber wenn diese Behauptung vom Richter aufgestellt wird, dann würde sie mit einer Sprache getroffen, die zwar zum Prozess gehört, die aber nicht die Sprache ist, mit der der Prozess durch den Richter etwas über die Welt sagt. Es würde eigentlich um eine Prozesssprache gehen, die über eine andere Sprache dieses Prozesses sprechen würde, und zwar über eine, die sich auf das Beweisergebnis bezieht. Einfacher gesagt: Es würde um eine Prozesssprache gehen, die nicht über die Welt, sondern über den Prozess spricht. Da diese Sprache sich vom Prozess aus auf eine andere Prozesssprache bezieht (oder sich von der Rechtfertigung aus auf eine Rechtfertigungssprache bezieht), stellt sie eine Metasprache dieser Objektsprache dar. Wir können sagen, dass es sich um die Sprache eines – internen oder externen – Erzählers bzw. Historikers handelt, eine Sprache, die uns informiert, was in diesem Prozess geschieht oder geschehen ist. Indes geht es nicht um die Prozesssprache, die die Welt als Objekt bzw. als Referenz hat. Mit der Sprache des Strafprozesses, die nur das Beweisergebnis wiedergeben kann, ist es unmöglich zu sagen, dass etwas bewiesen ist, was in der Welt schon als falsch festgestellt wurde. Denn mit der Sprache des Strafprozesses etwas als bewiesen zu bezeichnen, setzt voraus, dass dies zumindest wahrscheinlich wahr sein kann. Wenn wir aber von der Welt aus bereits wissen, dass dies nicht wahr ist, dann ist ganz klar, dass die Wahrheit die Rechtfertigung ausschließt, und zwar in dem Sinn, dass die Wahrheit die Rechtfertigung als Diskurs für untauglich bzw. für sinnlos erklärt. Das ist ein begriffliches bzw. konzeptuelles Argument. Demnach ist die Aussage „es ist bewiesen, dass p“ nicht kompatibel mit der Aussage „es ist falsch, dass p“. Die Aussagen sind nicht kompatibel im Sinne der expressiven Funktion, die etwa Brandom der Logik zuschreibt: Im Rahmen eines inferentiellen Verständnisses der begrifflichen Verbindungen zwischen Sätzen hilft die Logik, um zu bestimmen, welcher impliziten Aussage eine explizite Aussage folgt, oder ob eine Aussage einer anderen folgen kann oder nicht.34 Es geht dann offensichtlich nicht um eine empirische Analyse, sondern um eine begriffliche Prüfung, die zeigt, dass zwischen Wahrheit und Beweis gerade wegen dieser begrifflichen Gründe eine konzeptuelle Verbindung besteht. Bei assertorischen Diskursen schränkt nicht die Welt, sondern die Logik die Rechtfertigung als Tätigkeit ein. Die Welt schränkt aber doch die Schlussfolgerung bzw. das Ergebnis dieser Tätigkeit ein. Denn die enthymematische Aussage, 34 Vgl. Brandom, Articulating Reasons, 2000, S. 193 ff.; ders., Making it Explicit, 1994, S. 157 ff.
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die dieses Ergebnis ausdrückt, impliziert auch die Welt, und zwar durch jene implizite Prämisse, aus der diese Ergebnisaussage folgt. Angesichts der Fallibilität unseres Wissens kann natürlich nicht vermieden werden, dass es gerechtfertigte, aber falsche Aussagen geben kann. Wenn wir aber wissen, dass etwas falsch ist, wissen wir auch, dass wir nicht sagen können, dass dies bewiesen ist. Zumindest nicht, wenn beide Aussagen von der gleichen Sprachebene aus erfolgen. Dann greift eine interne oder begriffliche Verbindung zwischen Wahrheit und Rechtfertigung bzw. zwischen Wahrheit und (gerichtlichem) Beweis, welche mit völliger Klarheit erkennbar ist, wenn man beachtet, dass man mit einer rechtfertigenden Sprache, die aber über die Welt spricht, nicht sagen kann, dass eine Aussage über die Welt gerechtfertigt oder bewiesen ist, wenn sie sich in der Welt schon als falsch oder wahrscheinlich falsch gezeigt hat.35 Natürlich wäre die hier vertretene These falsch, wenn es einen Strafprozess gäbe, der gar nicht an der Welt, und somit an der Wahrheit, interessiert ist. Solche Strafprozesse gibt es aber – zumindest im Westen – nicht. Selbst die verschiedenen US-amerikanischen Strafprozessordnungen, die den Vereinbarungen zwischen Staatsanwaltschaft und Angeklagten sowie der internen Überzeugung des Geschworenengerichts eine sehr wichtige Rolle zuweisen, sind institutionell auf die Wahrheitsfindung ausgerichtet.36 Dasselbe gilt sogar für den Zivilprozess.37 Demgegenüber könnte man dennoch einwenden, dass die hiesige These letzten Endes kontextabhängig sei, denn ihre Richtigkeit hinge von der konkreten Gestaltung der jeweiligen Strafprozessordnung ab. Dieses erste Argument ist zugegebenermaßen rein deskriptiv. Es gibt aber auch ein normatives Argument: Gesteht man der Vergeltung und dem Verdienst zumindest eine partielle Rolle bei der Rechtfertigung der Strafe zu, wie es im Westen ausnahmslos getan wird,38 35 Auch Habermas glaubt, dass es „eine interne Beziehung zwischen Wahrheit und Rechtfertigung geben (muss)“ (ders., [Fn. 19], S. 247). Denn „wie sonst ließe sich erklären, dass eine nach unseren Maßstäben erfolgreiche Rechtfertigung von ‚p‘ für die Wahrheit (scil., nicht nur für die Rechtfertigung [GPB]) von ‚p‘ spricht, obgleich Wahrheit kein Erfolgsbegriff ist und nicht davon abhängt, wie gut sich eine Aussage rechtfertigen lässt?“ (ebd.). Dies beweist aber keine interne Beziehung zwischen beiden Termini, sondern nur, dass das Prädikat „wahr“, wie bereits gesehen, auch einen billigenden Gebrauch hat (vgl. nochmals Rorty [Fn. 16], S. 56), in dem Sinn, wonach es uns erlaubt ist, solche gerechtfertigten Aussagen, deren Falschheit noch nicht festgestellt wurde, als „wahr“ zu bezeichnen. 36 Vgl. statt aller Laudan, in: Legal Theory 9 (2003), S. 295 ff. Auch im Internet unter https://www.academia.edu/805698/Is_Reasonable_Doubt_Reasonable, hier S. 2, zuletzt aufgerufen am 26. 08. 2016. 37 Vgl. dazu Taruffo (Fn. 4), S. 57 ff., 71 ff., der sehr ausführlich beweist, dass auch im Zivilprozess die Wahrheit als institutionelles Ziel des Prozesses nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch möglich ist. 38 Vgl. Pérez Barberá, in: Goltdammer’s Archiv für Strafrecht 161 (2014), S. 504 ff.; für die USA vgl. statt aller Moore, Placing Blame, 1997, S. 83 ff.
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dann muss es wahr sein (durchaus im Sinne des billigenden Gebrauches des Prädikates „wahr“), dass der Angeklagte der Täter ist. Aus Gerechtigkeitsgründen ist die Wahrheit auch für den Zivilprozess maßgeblich.39 Es könnte zwar Straf- bzw. Zivilverfahren geben, die vom Gesetzgeber anhand einer völligen Geschlossenheit gegenüber der Welt gestaltet werden, sie würden aber in unserer Kultur mit Sicherheit als illegitim angesehen werden.
V. Wahrheit und Beweis: Teleologische Verbindung? Abgesehen davon birgt die hier kritisch dargestellte These ein weiteres Problem, indem der Wahrheit keinerlei Bedeutung für den Beweis zugemessen wird. Denn sie verweigert eine begriffliche Verbindung zwischen Wahrheit und Beweis und spricht der Verbindung zwischen Wahrheit und Beweis eine teleologische Natur dergestalt zu, dass die Wahrheitserforschung das institutionelle Ziel der Beweistätigkeit sei.40 Dies ist meiner Ansicht nach unzutreffend. Die Fehlerhaftigkeit dieser Annahme beruht auf der bereits erwähnten Tatsache, dass die kritisierte These außer Acht lässt, dass die gerichtliche Beweistätigkeit nicht mehr als eine spezifische rechtfertigende Tätigkeit ist. Dann kann ihr Ziel nur die Erlangung von gerechtfertigten Aussagen sein, ein Ziel übrigens, das – wie die hier abzulehnende These selbst anerkennt – auch dann als erfüllt zu betrachten ist, wenn diese gerechtfertigte Aussage falsch ist. Die Ermittlung der Wahrheit ist dann nicht das Ziel der Beweistätigkeit und muss dies auch nicht sein. In Bezug auf die Wahrheit hat Rorty bereits zu Recht gesagt, das Ziel einer Sozialpraktik könne nicht etwas sein, wovon wir wegen der Fallibilität unseres Wissens nie wissen können, ob es wirklich erreicht wurde oder nicht.41 Weiterhin würde ich hinzufügen, dass ein Ziel nicht etwas sein kann, dessen Nichterfüllung nicht von Bedeutung ist. Und es wurde schon mehrmals erwähnt, dass die Beweistätigkeit auch dann gültig ist, wenn sie im Rahmen der Rechtfertigung eine falsche Aussage – deren Falschheit ja unbekannt ist – zum Ergebnis hat. Trotz des Scheiterns der Wahrheit scheitert die faktische Schlussfolgerung der Beweistätigkeit als Ergebnis dieser Tätigkeit nicht. Die Wahrheit kann nicht das Ziel des Beweises sein. Häufig begegnet man dem Tarskischen und auch Popper’schen Argument, dass die Tatsache, dass wir nicht ganz sicher über die Erlangung der Wahrheit sein können, nicht verhindere, dass sie trotzdem für den Beweis die Rolle als ein
39 Vgl.
Taruffo (Fn. 4), S. 62 ff. Ferrer Beltrán (Fn. 1), S. 56, 69 ff.; auch Taruffo (Fn. 4), S. 80, 84 ff. 41 Vgl. Rorty (Fn. 19), S. 3 f. 40 So
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„regulatives Ideal“ einnehme.42 Ein regulatives Ideal ist allerdings nicht dasselbe wie ein Ziel. Ein Ziel ist ein (potenziell) faktischer Umstand; ein regulatives Ideal ist bestenfalls eine Norm, die eine bestimmte Tätigkeit zu ihrem Ziel führt.43 Aber warum denken wir immer noch – und sicherlich zu Recht –, dass die Wahrheit wichtig, wenn nicht sogar wesentlich für einen Strafprozess ist? Ich beantworte dies, indem ich zunächst meine Aufmerksamkeit auf andere Bereiche richte, wie z. B. die Forschung in den Naturwissenschaften. Das Ziel der Experimente, die wissenschaftlich eine empirische Hypothese prüfen, besteht lediglich darin, zu bestimmen, was diesbezüglich empirisch gerechtfertigt gesagt werden kann, selbst wenn nichts anderes übrig bleibt, als anzunehmen, dass dies falsch sein könnte. Aber abgesehen davon würde niemand daran zweifeln, dass es ein sehr wichtiges Ziel der Wissenschaft als Institution ist, etwas über die Welt, und nicht nur über die Experimente, sagen zu können. Und dies verknüpft die Wissenschaft freilich auch mit der Wahrheit und nicht nur mit der Rechtfertigung. Dasselbe gilt für den Strafprozess: Ziel der Beweistätigkeit oder des Beweises schlechthin ist nicht die Wahrheit, sondern die Rechtfertigung. Aber offensichtlich ist die Wahrheit – präziser: eine wahre Aussage ausdrücken zu können – von höchster institutioneller Bedeutung für den Strafprozess. Der Strafprozess muss eben, wie mehrmals erwähnt, etwas über die Welt sagen können, und nicht nur etwas über den Beweis oder über etwas, das bewiesen ist. Damit die Subsumtion dieser faktischen Aussage unter die Norm des materiellen Strafrechts legitim ist, muss der Prozess belegen können, dass dies geschehen ist, und nicht nur, dass dies bewiesen ist. Die Frage ist jedoch, wie Strafprozesse und Naturwissenschaften das Ziel erreichen können, wahre Aussagen auszudrücken, wenn sie faktische Aussagen nur durch Beweis- bzw. Rechtfertigungsergebnisse ausdrücken können und diese Ergebnisse mit völliger Unabhängigkeit von der Möglichkeit ihrer Falschheit gültig sein können. Wenn es wirklich keinerlei begriffliche Verbindung zwischen Wahrheit und Beweis – oder zwischen Wahrheit und Rechtfertigung – gäbe, dann wäre die Antwort sehr enttäuschend: Man sollte akzeptieren, dass dieses angebliche Ziel des Strafprozesses, eine wahre Aussage über die Welt zu treffen, eigentlich nicht mehr als ein Trugbild sei; es bliebe nichts anderes übrig, als sich mit der Rechtfertigung oder mit dem Bewiesenen zu begnügen – dies ähnelt der bereits dargelegten Lösung Rortys. Das ist jedoch für das Strafrecht und insbesondere für die Rechtfertigung der Strafe gegenüber dem Straftäter – durch zumindest teilweise vergeltende Gründe – ein sehr hoher Preis, den man nicht zu zahlen braucht. Jeder Strafrichter würde 42 43
chen.
So u. a. Ferrajoli (Fn. 3), S. 50 f. Ich habe hier bereits – Wright folgend – eben über die „Norm der Wahrheit“ gespro-
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außerdem eine Bemerkung, die sagt, dass die Wahrheit kein wichtiges institutionelles Ziel des Strafverfahrens sei, als sehr seltsam ansehen. Solche unangemessenen Folgerungen erklären sicherlich, warum die hier kritisierte These an der Idee der Wahrheit als Ziel der Beweistätigkeit festhält. Hingegen hat die hier vertretene These kein Problem in Bezug auf die Beziehung zwischen dem Strafverfahren und der Welt. Denn obwohl insofern eine teleologische Verbindung zwischen Wahrheit und Beweistätigkeit in Abrede gestellt wird, wird akzeptiert, dass zwischen Wahrheit und Beweisergebnis eine begriffliche bzw. konzeptuelle Verbindung besteht. Von dieser begrifflichen Verbindung ausgehend – und nicht aufgrund einer unplausiblen telelogischen Verbindung zwischen Wahrheit und Beweis – kann eine feste Brücke (und zwar institutioneller Art) zwischen Wahrheit und Strafprozess geschlagen werden. Will der Strafprozess über die Welt sprechen, dann kann er dies nur mittels des Beweises tun, dessen Ziel jedoch nicht die Wahrheitsfindung ist. Aber: Ziel des Beweises ist es doch, faktische Aussagen zu treffen, die gerechtfertigt sind, d. h. die bewiesen sind. Aufgrund der begrifflichen Verbindung zwischen Wahrheit und Beweis können auch Aussagen getroffen werden, die unter keinem Gesichtspunkt als falsch oder höchstwahrscheinlich falsch zu bezeichnen sind. Diese Aussagen sind dann mit den Normen der Rechtfertigung und der Wahrheit vereinbar.
VI. Eine kleine Änderung der deutschen Strafprozessordnung Zum Schluss sei eine Anmerkung de lege ferenda über die deutsche Strafprozessordnung gestattet. Es wäre meiner Meinung nach angemessen, dass der deutsche Gesetzgeber eine spezifische Norm hinzufügt, die ausdrücklich vor dem Erlass des Urteils die Wiedereröffnung einer schon geschlossenen Hauptverhandlung gestattet, um Situationen wie die unseres Ausgangsbeispiels auf einer gesetzlichen Basis lösen zu können. Verde vertritt mit guten Gründen, dass eine solche Norm illegitim sei, wenn sie zu Lasten des Angeklagten angewandt werden würde.44 Wenn aber die Reichweite dieser Norm nur auf einen Freispruch begrenzt wäre, kann man an ihrer rechtsstaatlichen Legitimität keinen Zweifel haben. Gerade weil der Strafprozess verschiedene institutionelle Ziele hat, von denen manche der Wahrheitsfindung vorgehen,45 ist es richtig, eine Wiedereröffnung des Strafverfahrens in bestimmten Fällen auszuschließen. Gibt es aber keine auf rechtstaatlichen Einwänden basierenden Gründe, auf die Wahrheit zu verzichten, spricht nichts gegen den hiesigen Vorschlag. Denn zwischen den faktischen Aussagen eines Strafprozesses und der Wahrheit besteht eine begriffliche Verbindung. 44 Vgl. 45 Vgl.
Verde, Revista de Derecho Procesal Penal, Bd. 2, 2010, S. 237 ff. Hassemer (Fn. 3), S. 147 ff.
Strafrecht, Autorität und die epistemische Konzeption* Von Rodrigo Sánchez Brígido Rodrigo Sánchez Brígido Rodrigo Sánchez Brígido: Strafrecht, Autorität und die epistemische Konzeption Strafrecht, Autorität und die epistemische Konzeption
Ein Weg, das Problem der Legitimität des Strafrechts anzugehen, ist die Untersuchung der weit allgemeineren Frage, unter welchen Bedingungen das Recht legitim ist. Diese Strategie mag freilich nicht auf spezifisch strafrechtliche Bedenken eingehen. Doch ihre Relevanz ist klar: Wenn nicht die allgemeine Frage beantwortet werden kann, ist auch keine spezifische Rechtfertigung des Strafrechts ersichtlich. Eine gängige Annahme bezüglich der Legitimität von Recht im Allgemeinen ist, dass seine Anweisungen nur dann legitim sind, wenn sie von einer legitimen Autorität stammen. Doch wenn man die Frage der Legitimität autoritativer Anweisungen untersucht, treten Probleme im Bereich ihrer praktischen Anwendung auf. Ein Standardproblem der Theorien legitimer Autorität ist die Tatsache, dass legitime autoritative Anweisungen begründeten Anlass für Handlungen darzustellen scheinen. Dies ist problematisch, wenn man annimmt, Gründe seien in dem Sinne objektiv, dass eine Autorität sich über ihre maßgebenden Gründe irren kann. Es ist schwierig zu erklären, warum die Tatsache, dass eine Autorität eine Anweisung erteilt hat, im Ergebnis einen praktischen Unterschied machen sollte: Wenn es einen Grund gibt, ϕ zu tun, dann ist die Erteilung der Anweisung durch die Autorität redundant; und wenn die Autorität angewiesen hat, ϕ nicht zu tun, ist ihre Anweisung schlicht falsch und kann dementsprechend nicht einmal anstreben, ein Grund zur Handlung zu sein.1 * Übersetzung ins Deutsche durch Carl Robert Whittaker. Ich möchte Federico Arena, Hernán Bouvier und Juan Iosa für ihre hilfreichen Kommentare zu einer früheren Fassung dieses Aufsatzes danken. 1 Das Problem ist bereits von vielen Autoren formuliert worden und gilt als ein gewichtiges Argument für den philosophischen Anarchismus. Für einige Beispiele der Formulierungen des Problems innerhalb der Rechtstheorie vgl. Raz, The Authority of Law: Essays on Law and Morality, 2009; ders., The Morality of Freedom, 1986; Shapiro, Authority, in: Coleman/Shapiro (Hrsg.), The Oxford Handbook of Jurisprudence and Philosophy of Law, 2002, S. 1159; Caracciolo, El derecho desde la filosofía, 2009, S. 206; Nino, Ética y derechos humanos, 1989, S. 370; ders., El constructivismo ético, 1989, S. 118; Bayón, Doxa 10 (1991), S. 27. − Ein großer Anteil der Diskussion innerhalb der Rechtstheorie (z. B. zwischen inklusivem oder exklusivem Rechtspositivismus) beruht auf der Annahme, dass Autoritäten einen praktischen Unterschied ausmachen, und demnach auf der Annahme, dass das Problem des praktischen Charakters von Autoritäten eine Lösung hat. Vgl.
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Ein Ansatz zur Bewältigung des Problems ist die Behauptung, dass autoritative Anweisungen auch verbindlich sind, wenn sie falsch sind. Raz’ bekannte Autoritätstheorie folgt diesem Weg.2 Doch der Ansatz scheint paradox. Denn wenn auch falsche autoritative Anweisungen verbindlich sind, ist es völlig unklar, inwiefern sie begründeter Anlass für Handlungen sein können. Wenn die Anweisungen falsch sind, liegt auch kein Grund für eine Handlung vor. Raz’ Theorie wurde auf dieser Grundlage kritisiert und teilweise wurden seitens der Kritiker andere Lösungsansätze angeboten.3 Diese Theorien behaupten, dass autoritative Anweisungen eine besondere Art von Gründen darstellen: Sie seien indikative Gründe. Am deutlichsten wird diese Sichtweise anhand eines Beispiels von Regan. Ihm zufolge ist ein intrinsischer Grund ein Umstand im Rahmen einer vorgeschlagenen Handlungsweise, der aus sich selbst heraus für das praktische Denken von Bedeutung ist. Im Gegensatz dazu bietet ein indikativer Grund einen Anhaltspunkt für die Existenz (oder Nichtexistenz) eines Umstands, der einen intrinsischen Grund begründet. Autoritative Anweisungen sind indikative Gründe: Aufgrund ihres überlegenen Wissens geben legitime Autoritäten uns Anhaltspunkte für die einschlägigen intrinsischen Gründe.4 Diese Theorie, die ich als „epistemische Konzeption von Autorität“ bezeichnen werde, scheint eine Lösung für das Problem zu sein. Zugegebenermaßen ist diese Lösung nicht optimal. Das Problem – wir erinnern uns – liegt darin, dass autoritative Anweisungen beanspruchen, etwas in der Praxis zu verändern, und folglich begründeten Anlass für Handlungen zu geben. Der epistemischen Konzeption zufolge sind dagegen autoritative Anweisungen letztlich Gründe für Annahmen. Eine Anweisung, dass man ϕ tun sollte, ist streng genommen nicht ein Grund für ϕ, sondern ein Grund für die Annahme, dass ϕ die richtige Handlungsweise ist. Doch nach der epistemischen Konzeption liegt darin trotzdem eine gute Lösung beispielsweise Coleman, Hart’s Postscript: Essays on the Poscript to The Concept of Law, 2001, S. 99 ff.; Shapiro, Legal Theory 6 (2000), S. 127 ff. 2 Raz’ Position ist allerdings nicht völlig klar. Denn er verweigert sich der Stellungnahme bezüglich der Frage, ob man eine autoritative Anweisung, die offensichtlich falsch ist, befolgen sollte. Vgl. Raz (Fn. 1, 1986), S. 62. Später behauptete Raz, man dürfe ihn nicht als darüber urteilend verstehen, ob ein offensichtlicher Fehler eine Anweisung von der Zuständigkeit der Autorität ausschließt, vgl. dazu ders., Southern California Law Review 62 (1989), S. 1184. 3 Regan, Canadian J. L. & Juris 3 (1990), S. 20; ders., Southern California Law Review 62 (1989), S. 1989; Bayón (Fn. 1), S. 50 ff. 4 Regan, University of Michigan Law School of Scholarship Repository 62 (1989), S. 995 ff. − Regan hat seine Ansicht in Regan (Fn. 3, 1990), S. 3 ff. später erweitert und klargestellt und ich werde mich vorrangig mit diesem Text befassen. Für eine andere Darstellung dessen, was ich die epistemische Konzeption von Autorität nenne, siehe Bayón (Fn. 1), S. 25 ff.
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für die Anwendung von Autorität in der Praxis: Wenn autoritative Anweisungen indikative Gründe sind, dann besteht indirekt mittels des Rationalitätsprinzips auch immer eine Verbindung zu Begründungen für die Handlungen autoritativer Anweisungen. Das Prinzip besagt Folgendes: Auch wenn die Anweisungen falsch sind, sollte man immer den indikativen Gründen entsprechend handeln, wenn man nicht in der Lage ist, die intrinsischen Gründe zu ermitteln. In anderen Worten behauptet die epistemische Konzeption, dass im Rahmen unvollständiger Rationalität das Prinzip, dass man indikativen Gründen entsprechend handeln sollte, auch dann zwingend ist, wenn diese falsch sind. Und es ist deshalb zwingend, weil die Befolgung eines solchen Prinzips unter den konkreten Umständen das Vernünftigste ist, was man tun kann. Die epistemische Konzeption hat nach der Diskussion mit Raz nicht viel Aufmerksamkeit von Rechtstheoretikern erfahren. Doch jüngere Entwicklungen in der Metaethik und der Theorie der rationalen Handlung legen nahe, dass eine Neubewertung ihrer Vorzüge lohnenswert ist. Denn die epistemische Konzeption hat sich mit dem Problem der rationalen Handlung auseinandergesetzt, einem Problem, das in diesem Feld stark diskutiert wurde. Diese Diskussion in der epis temischen Konzeption hilft dabei, allgemeine Schwierigkeiten zu erkennen, die jede Theorie von Autorität (nicht nur die epistemische Konzeption) betreffen. Mit Blick auf das Allgemeine gesprochen, besteht ein Problem in der Spannung zwischen der Idee, dass man entsprechend den intrinsischen Gründen handeln sollte, einer Ansicht, die ich als „Objektivismus“ bezeichnen werde, und der Idee, die ich als „Prospektivismus“ bezeichnen werde, welche besagt, dass man rationalen Anforderungen gerecht werden sollte, wie etwa dem Prinzip, demzufolge man nach indikativen Gründen handeln sollte, auch wenn diese falsch sind. Dies ist problematisch, weil intrinsische Gründe und rationale Anforderungen auseinanderfallen können. Es kann sein, dass ein intrinsischer Grund dafür besteht, ϕ zu tun, während die verfügbaren Anhaltspunkte für einen Grund sprechen, ψ zu tun. Außerdem können die verfügbaren Anhaltspunkte irreführend sein. Im Folgenden werde ich zeigen, dass unter bestimmten Annahmen hierin eine ernstzunehmende argumentative Schwierigkeit für die epistemische Konzeption liegt, die diese derzeit auch nicht bewältigen kann.5 Ich werde ferner argumentie5 Die epistemische Konzeption begegnet auch anderen Schwierigkeiten, die ich hier nicht untersuchen kann. Regan erkennt, dass seine Theorie inkompatibel mit der Behauptung ist, dass Autoritäten nie in ihrem Verlangen nach Gehorsam gerechtfertigt sind, sofern man unter „Gehorsam“ ein Tun versteht, das einzig aufgrund eines Befehls, es zu tun, vorgenommen wird. Und eine Theorie, welche die Verbindung zwischen Autorität und Gehorsam auftrennt, wird zumindest in bestimmter philosophischer Literatur nicht als Auseinandersetzung mit unserem gewöhnlichen Konzept von Autorität angesehen. Für Regans Replik vgl. Regan (Fn. 3, 1990), S. 15 ff.
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ren, dass aus genau diesem Grund die angebliche Lösung des Problems des praktischen Charakters von Autorität, welche die epistemische Konzeption anbietet, nicht zufriedenstellend ist. Schließlich werde ich ausführen, dass jede Theorie von Autorität, die das Problem des praktischen Charakters von Autoritäten angreift (nicht nur die epistemische Konzeption) von dem gleichen Problem betroffen ist. Die Diskussion besteht aus drei Teilen. Zuerst werde ich die epistemische Konzeption charakterisieren (Teil 1). Dann werde ich sehr knapp ein Modell rationaler Handlung von Michael Smith darstellen. Dieses Modell hilft dabei zu verstehen, dass eine Schwierigkeit hinsichtlich der epistemischen Konzeption besteht, weil die Konzeption sowohl eine objektive als auch eine prospektive Sicht hinsichtlich dessen beinhaltet, was zu tun ist. Unter bestimmten plausiblen Annahmen sind beide Sichtweisen unvereinbar und die epistemische Konzeption ist folglich instabil (Teil 2). Diese Instabilität hat Einfluss auf die epistemische Konzeption und ihren Versuch, das Problem des praktischen Charakters von Autorität zu lösen. Denn die epistemische Konzeption sollte sich zwischen einer objektiven und einer prospektiven Sicht von Normativität entscheiden, wobei nach beiden Ansichten den Autoritäten nicht die praktische Bedeutung zukommt, die ihnen zugeschrieben wird. Dennoch kann jede dieser Sichtweisen eine Erklärung dafür anbieten, warum es so scheint, als hätten Autoritäten eine solche praktische Bedeutung. Diese Schlussfolgerungen greifen im Prinzip für jede Theorie von Autorität. Denn jede Theorie von Autorität, die sich mit dem Problem ihres praktischen Charakters auseinandersetzt, braucht eine Hintergrundtheorie dazu, was getan werden sollte, und Objektivismus und Prospektivismus scheinen die einzigen verfügbaren Optionen zu sein (Teil 3). Zunächst ist eine Klarstellung angezeigt. Der Kürze halber werde ich im Folgenden, wann immer ich von Autoritäten oder autoritativen Anweisungen spreche, auf legitime Autoritäten und legitime Anweisungen Bezug nehmen. Diese Einschränkung sollte also hineingelesen werden.
I. Die epistemische Konzeption von Autorität Nach der epistemischen Konzeption muss zwischen intrinsischen Gründen und indikativen Gründen unterschieden werden. Ein intrinsischer Grund ist ein Umstand im Rahmen einer vorgeschlagenen Handlungsweise, der aus sich selbst heraus für die praktische Vernunft bedeutsam ist. Es ist ein Umstand für oder gegen eine Handlungsweise, der im Rahmen vollständiger Rationalität einen Platz in den Erwägungen des Handelnden hätte. Ein indikativer Grund ist demgegenüber ein Anhaltspunkt für die Existenz (oder Nichtexistenz) eines Umstands, der einen intrinsischen Grund darstellt.6 Also ist beispielsweise die Hilfsbedürftigkeit 6
Regan (Fn. 3, 1990), S. 5.
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meines Sohnes ein intrinsischer Grund für mich, ihm zu helfen. Der Umstand, dass er nach Hilfe ruft, ist wiederum ein indikativer Grund für den Umstand, dass ich ihm helfen sollte. Indikative Gründe sind Gründe für Annahmen. Dies könnte irreführend sein, wenn man mit „Gründen für Annahmen“ lediglich die Gründe meint, die das Verhalten des Handelnden erklären. Wenn ich meinem Kind tatsächlich helfe, ist sein Schrei nach Hilfe nicht nur der Grund, der meine Hilfeleistung erklärt, sondern außerdem, nach der epistemischen Konzeption, der Grund, den ich dafür hätte berücksichtigen sollen (was ich auch tatsächlich getan habe). Also sind indikative Gründe nicht bloß Gründe, die Handlungen erklären, sondern auch Gründe, die für die praktische Vernunft bedeutsam sind. Sie sind verhaltensleitend. Wie Regan formuliert, leitet „der indikative Grund […] mein Verhalten indirekt, indem er meine Annahmen über einen intrinsischen Grund leitet; […] selbst indirekte Leitung ist Leitung“.7 Dennoch sind indikative Gründe anfechtbar. Verfügbare Anhaltspunkte sollten Verhalten leiten, doch ihre Relevanz hängt von dem Zustand des relevanten allgemeinen Wissens und der Annahmen des Handelnden ab. Ein indikativer Grund kann seine Kraft verlieren, wenn bessere Anhaltspunkte zur Beurteilung der Lage zur Verfügung stehen.8 So mag ich wissen, dass der Schrei meines Sohnes üblicherweise ein guter Indikator für sein Hilfebedürfnis ist, doch kann ich von konkreten Umständen wissen, weswegen dies nicht der Fall ist. Mein Kind kann überdreht sein, manipulativ oder es mag einfach nach Aufmerksamkeit rufen. Dann sind seine Schreie kein Anhaltspunkt mehr dafür, dass ich ihm helfen sollte. Indikative Gründe sind verlässliche Indikatoren. Obwohl Regan bezüglich dieser Frage nicht ganz eindeutig ist, ist festzuhalten, dass indikative Gründe Umstände sind, hinsichtlich derer Gründe für die Annahme bestehen, dass sie nicht irreführen.9 Deshalb behauptet Regan, dass indikative Gründe nur gelegentlich irreführen.10 Da Gründe für die Annahme bestehen, dass sie nicht irreführen, sind indikative Gründe in einem gewissen Sinn objektiv. Ich mag mich darüber irren, was die indikativen Gründe sind. Also bedeutet Handeln entsprechend indikativen Gründen nicht, entsprechend dem zu handeln, was das Bewusstsein zufällig diktiert.11 Wir können sie also „objektive epistemische Gründe“ nennen. Dennoch sind indikative Gründe auch fehlbar. Sie sind Indikatoren, die auf die 7
Ebd., S. 10. Ebd., S. 12. 9 Deshalb behauptet Regan: „Was einen indikativen Grund ausmacht, ist, dass etwas intrinsische Gründe derart reflektiert, dass es eine gute Sache wäre, nach diesem Etwas zu handeln, als sei es ein indikativer Grund“, vgl. Regan (Fn. 3, 1990), S. 24. 10 Ebd., S. 8. 11 Dies zeigt, dass der Gedanke eines indikativen Grundes bereits ein bestimmtes Maß an Idealisierung in sich trägt. Ihre Verlässlichkeit hängt davon ab, was ein Handelnder 8
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Existenz eines intrinsischen Grundes hinweisen, und das ist üblicherweise auch zutreffend, dennoch können sie auch fehlgehen. Die von ihnen gelieferten Anhaltspunkte können schlechte Anhaltspunkte sein.12 Doch wenn man nicht genug Zeit, Ressourcen etc. zur Verfügung hat, ist die beste Vorgehensweise, entsprechend den indikativen Gründen zu handeln − die normalerweise verlässlich sind −, selbst wenn sie irreführend sind. Also bevorzugt die epistemische Konzeption das Prinzip, demzufolge man entsprechend den indikativen Gründen handeln sollte, selbst wenn sie irreführend sind, zumindest in Umständen unvollständiger Rationalität.13 Die epistemische Konzeption von Autorität behauptet also, dass autoritative Anweisungen indikative Gründe und folglich indirekte Gründe für Handlungen sind. Der Grund der Befolgung autoritativer Anweisungen (sofern solche Gründe bestehen) ist, dass Autoritäten überlegenes Wissen haben und deshalb in einer besseren Lage sind, unsere intrinsischen Gründe zu identifizieren.14 So löst die epistemische Konzeption das Problem der praktischen Relevanz von Autorität. Autoritative Anweisungen sind im Rahmen unvollständiger Rationalität zwingend, selbst wenn sie falsch sind. Natürlich entfällt im Rahmen vollständiger Rationalität der Zwang von Autorität. So erklärt sich die Behauptung der epistemischen Konzeption, dass Autoritäten zwingend sind, selbst wenn sie falsch sind, solange sie nicht offensichtlich falsch sind. Das „offensichtlich“ soll meinem Verständnis nach bedeuten, dass bei einem hinreichend klaren Fehler die unvollständige Rationalität nicht so schwer wiegt, dass man gehindert wäre, die fehlende Verlässlichkeit des Indikators zu erkennen.
II. Eine Schwierigkeit der epistemischen Konzeption von Autorität Trotz der Attraktivität der epistemischen Konzeption ist sie in ihrer derzeitigen Fassung nicht unproblematisch. Um die Schwierigkeit darzustellen, werde ich auf ein Modell rationaler Handlungen von Michael Smith zurückgreifen. Dies ist, so sollte ich klarstellen, lediglich ein Mittel der Darstellung. Das Problem kann auch anders gezeigt werden. Doch Smiths Theorie ist eng verwandt mit der epistemischen Konzeption und verdeutlicht die Problematik sehr klar. mit einem bestimmten Maß an Rationalität (wenngleich keiner perfekten Rationalität) für einen guten Grund dafür hielte, dass ein indikativer Grund vorliegt. 12 Regan (Fn. 3, 1990), S. 8. 13 Diese spezifische Behauptung teilen andere Autoren, welche die epistemische Konzeption verteidigen, siehe Nino (Fn. 1), S. 118; Bayón (Fn. 1), S. 27. 14 Regan (Fn. 3, 1990), S. 14.
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1. Smiths Modell rationaler Handlungen Smiths Ansicht nach ist Rationalität die charakteristisch menschliche Kapazität, Dinge richtig zu machen, die, richtig eingesetzt, zu guten Handlungen führt (die er als „orthonome Handlungen“ bezeichnet).15 Dabei ist zwischen voll rationalen Handlungen (die er als „voll orthonome Handlungen“ bezeichnet) und Handlungen, die wegen Umständen, die der Handelnde nicht beeinflussen kann, dahinter zurückbleiben („enge orthonome Handlungen“) zu differenzieren. Um diese Differenzierung zu veranschaulichen, ist Smith zufolge die normative Ebene zu betrachten. Angenommen, es bestehe ein normativer Grund, ϕ zu tun, und es wären Anhaltspunkte für das Bestehen eines solchen Grundes gegeben, dann verfügen wir unter diesen Umständen nach dem gesunden Menschenverstand über eine Konzeption von voll rationalen oder orthonomen Handlungen. Diese Konzeption „setzt voraus, dass wir ideale Kapazitäten zur Begründung von Annahmen über die normativen Gründe, die im Lichte unserer Anhaltspunkte bestehen, und ideale Kapazitäten zur Begründung von Bedürfnissen im Lichte der Bewertungen unserer normativen Gründe haben und anwenden. Voll orthonome Handlungen sind paradigmatisch tugendhafte Handlungen“.16 Außerdem ist anzumerken, dass es zwei Gruppen von Elementen gibt, die voll rationale Handlungen definieren. Einerseits gibt es Merkmale der Welt. Die Welt zeichnet sich dadurch aus, dass normative Gründe bestehen und Anhaltspunkte, die zeigen, worin diese Gründe liegen. Es sind Anhaltspunkte, die aus den Umständen hervorgehen, so, dass eine Beziehung zwischen Umständen und Anhaltspunkten auszumachen ist, derentwegen von den Anhaltspunkten abgeleitete Annahmen als Wissen bezeichnet werden können. Andererseits gibt es Merkmale der rationalen Psychologie des Handelnden. Der Handelnde hat die Fähigkeit, Annahmen über den normativen Grund zu machen. Dies ist keine Fähigkeit, die versehentlich oder durch glücklichen Zufall zum Einsatz kommt, sondern auf eine richtige und genaue Art und Weise eingesetzt wird, indem eine Annahme im Lichte der vorhandenen Anhaltspunkte begründet wird. Damit führt diese ideale Fähigkeit zum Einklang rationaler Annahmen mit den vorhandenen Anhaltspunkten.17 Zu dieser Fähigkeit gehört auch das Bedürfnis, Handlungen auf Grundlage dieser rationalen Annahme zu entwickeln. Dieses Bedürfnis ist das Produkt einer Fähigkeit, sich von der Bewertung der normativen Gründe für Handlungen motivieren zu lassen.18 Voll rationale Handlungen erfolgen, wenn diese Fähigkeiten in vollem Umfang genutzt werden. Voll rationale Handlungen sind also Idealisierungen. Sie sind Idealisierungen der Welt, in welcher der Han15
Smith, in: Hyman/Steward (Hrsg.), Agency and Action, 2004, S. 165 ff. Smith (Fn. 15), S. 178. 17 Smith (Fn. 15), S. 169. 18 Ebd., S. 177. 16
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delnde sich befindet, die Smith eine „passend gefügige Welt“ nennt,19 und sie sind Idealisierungen des Handelnden selbst, der ein gänzlich rational Handelnder ist. Menschliche Handelnde sind natürlich weit davon entfernt, ideale Handelnde zu sein, und unsere Welt ist nicht immer passend gefügig. Trotz dieser Beschränkungen gibt es – so behauptet Smith – nach dem gesunden Menschenverstand eine Konzeption für ein richtiges Handeln, indem entsprechend den tatsächlichen, beschränkten Fähigkeiten so gut wie in einer imperfekten Welt möglich zu handeln ist. Dies ist eine Konzeption von engen rationalen oder orthonomen Handlungen. Was zählt ist, dass die Handelnden die Fähigkeiten zur rationalen Handhabung ihrer eigenen Psychologie voll ausüben.20 Im Fall der normativen Ebene verlangt diese enge Konzeption rationaler Handlung, dass die Bewertungen der Handelnden in Bezug auf ihr Handeln, von dem sie glauben, es mit normativen Gründen zu tun, selbst das Produkt solcher Bewertungsfähigkeiten sind, die sie aufgrund der ihr zugänglichen Anhaltspunkte haben, und dass ihre Bedürfnisse nach Ergebnissen das Produkt solcher Fähigkeiten zur Begründung von Bedürfnissen sind, die sie im Lichte der Bewertungen des Handelns haben, von dem sie glauben, es mit normativen Gründen zu tun.21 Man bemerke, dass auch weniger-als-voll rationale Handlungen noch eine Idealisierung sind, aber eine, die unsere tatsächliche Lage besser erfassen kann. Diese Konzeption funktioniert in einer Welt, wie sie tatsächlich ist. So können normative Gründe in dieser Welt existieren, auch wenn unsere Anhaltspunkte hinsichtlich der Umstände irreführend sind.22 Außerdem funktioniert diese Konzeption für Handelnde, wie wir es sind, mit unseren tatsächlichen, beschränkten rationalen Fähigkeiten. 2. Eine Zweideutigkeit der epistemischen Konzeption Smiths Modell ist eng verwandt mit der epistemischen Konzeption. Sowohl das Modell als auch die Konzeption nehmen an, dass es Gründe für Handlungen gibt. Gründe für Handlungen sind, was Smith „normative Gründe“ nennt und was die epistemische Konzeption als „intrinsische Gründe“ bezeichnet. Beide behaupten auch, dass normative oder intrinsische Gründe und das, was die Rationalität von uns verlangt, manchmal auseinanderfallen können. In manchen Fällen besteht keine Möglichkeit, normativen oder intrinsischen Gründen entsprechend zu handeln. Man mag falsch informiert sein oder man mag zu wenig Zeit oder Ressourcen haben, man mag sich also in Umständen unvollständiger Rationalität 19
Ebd., S. 171.
20 Ebd. 21 22
Ders., The Structure of Orthonomy, S. 178. Ebd., S. 171.
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wiederfinden. In diesen Fällen verlangt die Rationalität von uns, dass wir unsere rationalen Kapazitäten so weitgehend wie möglich nutzen. Der Fall, in dem die Anhaltspunkte irreführend sind, ist hier einschlägig. Wenn die verfügbaren Anhaltspunkte, die die epistemische Konzeption als „indikative Gründe“ bezeichnet, irreführend sind, es jedoch keine tatsächliche Möglichkeit gibt, die intrinsischen oder normativen Gründe zu ermitteln, scheint die beste Vorgehensweise zu sein, aufgrund der verfügbaren Anhaltspunkte zu handeln. Dies scheint eine Anwendung des Prinzips „das Sollen impliziert das Können“ zu sein sowie der Idee, dass man seine rationalen Kapazitäten so weitgehend wie möglich einsetzen sollte. Tatsächlich ist das Prinzip der epistemischen Konzeption zur Analyse von Autorität gerade Ausdruck dieser Idee. Also ergänzt sich Smiths Modell rationaler Handlungen gut mit der epistemischen Konzeption. Doch das Modell rationaler Handlungen zeigt auch, dass die epistemische Konzeption eine bedeutende Schwierigkeit aufweist. Denn die Konzeption ist an einem entscheidenden Punkt zweideutig, zumindest unter bestimmten plausiblen Annahmen. Die epistemische Konzeption behandelt das Problem, ob autoritative Anweisungen zwingend sind, sodass sie befolgt werden müssen. Was zu tun ist, ist nicht zweideutig. Immer dann, wenn die epistemische Konzeption die Idee nennt, dass „man ϕ tun sollte“, ist das „sollte“ gleichbedeutend mit „muss“. Wenn die epistemische Konzeption ein Prinzip vorschlägt, nach dem man im Fall unvollständiger Rationalität auf Grundlage der verfügbaren Anhaltspunkte handeln sollte, auch wenn sie irreführend sind, ist das „sollte“ gleichbedeutend wie in dem Fall, in dem sie behauptet, man sollte intrinsischen Gründen entsprechend handeln. Dieses Prinzip ist als strenge Bedingung zu verstehen. Wenn man sich in Umständen unvollständiger Rationalität befindet, ist das ausreichend, um entsprechend den verfügbaren Anhaltspunkten handeln zu dürfen. Regan gesteht so viel zu, wenn er behauptet, über letztgültige Gründe zu sprechen, also Gründe, die der Handelnde bei seinen Erwägungen für entscheidend halten sollte. Unter der Annahme, dass die epistemische Konzeption diesen Annahmen treu ist, besteht das Problem darin, dass sie zweideutig im Hinblick darauf ist, was getan werden sollte. An einigen Punkten behauptet die epistemische Konzeption im Ergebnis, dass man intrinsischen Gründen entsprechend handeln sollte. Denn Regan, wie oben erwähnt, behauptet, dass intrinsische Gründe Umstände sind, die aus sich selbst heraus für die praktische Vernunft bedeutsam sind. Sie sind logisch vorrangig. Diese Umstände sind unabhängig von der Ausübung unserer gegebenen rationalen Fähigkeiten. Daraus folgt, dass wir entsprechend diesen Gründen, deren Existenz von der Ausübung unserer gegebenen rationalen Fähigkeiten unabhängig ist, handeln sollten. An anderen Punkten behauptet die epistemische Konzeption allerdings, dass man seine tatsächlichen rationalen Fähigkeiten einsetzen sollte, was einschließt,
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dass man entsprechend den verfügbaren Anhaltspunkten handeln sollte, auch wenn sie irreführend sind. Und die Anhaltspunkte sind irreführend in dem Sinn, dass sie fälschlich die intrinsischen Gründe indizieren. Die Idee besteht genau darin, dass man unter Rahmenbedingungen wie Zeit- und Ressourcenmangel seine rationalen Fähigkeiten so weitgehend wie möglich ausüben sollte. Folglich ist das, was man tun sollte, nicht unabhängig von der Ausübung der eigenen tatsächlichen rationalen Fähigkeiten. In diesem Sinn behauptet Regan: „Die objektivste Art der Verpflichtung ist die Verpflichtung, das zu tun, was tatsächlich das Richtige ist – was man als richtig erkennen würde, wenn man voll informiert, voll empfänglich für sämtliche moralischen Erwägungen, und völlig rational im eigenen Denken wäre. Dem vorgelagert ist eine Verpflichtung, für moralische Entscheidungen die beste verfügbare Methode zur Entscheidungsfindung anzuwenden. Die beste Methode zur Entscheidungsfindung ist eine Antwort auf unvollständige Information und beschränkte Rationalität, auch wenn sie nicht unfehlbar ist, um die tatsächliche, objektive Verpflichtung zu ermitteln.“23 Das Problem besteht natürlich darin, ob wir als Menschen stets der strengsten aller Verpflichtungen unterliegen oder nur der weniger strengen. Die epistemische Konzeption ist folglich zweideutig hinsichtlich dessen, was getan werden sollte. An einigen Punkten behauptet sie, dass man den Gründen entsprechend handeln sollte, deren Existenz unabhängig von der Ausübung unserer rationalen Fähigkeiten ist. An anderen Punkten behauptet sie, dass das, was man tun sollte, nicht unabhängig von der Ausübung der eigenen, tatsächlichen rationalen Befähigung ist. Diese Art der Zweideutigkeit ist häufig. Beispielsweise scheint sie bei einer bestimmten Lesart auch Smiths Modell der Rationalität zu betreffen. Smith behauptet, dass intrinsische Gründe Erwägungen sind, die Handlungen rechtfertigen, was voraussetzt, dass man intrinsischen Gründen entsprechend handeln sollte. In anderen Arbeiten behauptet Smith, dass „sollte“ genau genommen im Sinne intrinsischer Gründe zu verstehen ist, die unabhängig von der Ausübung der eigenen tatsächlichen rationalen Fähigkeiten sind.24 Doch Smiths Terminologie bei der Präsentation seines Modells von Rationalität kann auch so verstanden 23 Regan (Fn. 4), S. 1006. − Die Zweideutigkeit ist ebenfalls bei anderen Repräsentanten der epistemischen Konzeption offensichtlich. So behauptet Bayón (Fn. 2, S. 50), dass Rationalität von uns verlangt, dass wir unter der Bedingung vollständiger Rationalität Gründen entsprechend handeln. Doch er behauptet, Nino zitierend, auch, dass in Abwesenheit dieser Umstände „wir Grund haben, das zu tun, für das wir Grund zu dem Glauben haben, wir hätten Grund, es zu tun“ (ebd., S. 52). 24 Wenn jemand ϕ tun „sollte“ oder eine Pflicht dazu hat, bedeutet das Smith zufolge, dass er einen normativen Grund für ϕ hat. Dies zu sagen, kommt der Behauptung gleich, dass es für den Handelnden wünschenswert wäre, ϕ zu tun, sofern letzteres im Hinblick
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werden, dass man auch rationale Anforderungen befolgen sollte. Er behauptet, dass die Konzeption von Orthonomie „erfordert“, dass man verfügbaren Anhaltspunkten entsprechend handelt, selbst wenn diese irreführend sind, und dass sie „verlangt“, dass man seine rationale Kapazität ausübt. Es besteht kein Grund zur Annahme, dass er von „Verlangen“ und „Anforderungen“ spricht, ohne zu implizieren, dass diese befolgt werden „sollten“. Tatsächlich manifestiert sich die Möglichkeit dieser Lesart darin, dass Smith selbst in anderen Arbeiten explizit behauptet, man sollte bestimmte Anforderungen der Rationalität befolgen, wie etwa jene, die nach einer Kohärenz verlangen zwischen den Überzeugungen des Handelnden hinsichtlich dessen, was zu tun ist, einerseits und seiner befürwortenden Einstellung hinsichtlich dieser Handlungsweise andererseits.25 Kurz gesagt besteht bei der Frage, was getan werden sollte, eine recht häufig anzutreffende Zweideutigkeit. Dem ist so, weil der Frage danach, was zu tun ist, ein tiefgreifendes Problem zu Grunde liegt, nämlich das Problem, ob Normativität die eine Art von Verhältnis (das Verhältnis zwischen grundlegendem Umstand – der ein Grund zur Handlung ist – und dem eigenen Verhalten) oder eine andere Art von Verhältnis kennzeichnet (die Verhältnisse, die unter anderen Anforderungen objektiver epistemischer Rationalität durch die Anforderungen der Rationalität bestimmt werden – und dem eigenen, vom grundlegenden Umstand abstrakten Handeln).26 Gibt es Gründe, rationale Anforderungen allgemein zu befolgen (wie die Anforderung, dass man objektiv oder epistemisch rational sein sollte, oder dass man Kohärenz wahren sollte), selbst wenn diese uns nicht dazu veranlassen, im Einklang mit Gründen für Handlungen zu handeln? 3. Objektivismus, Prospektivismus und ein Mittelweg Das Problem greift tief. Es hat offensichtliche Implikationen für das Wesen von Verantwortlichkeit. In der Literatur werden zwei gegensätzliche Ansätze diskutiert. Eine Ansicht, die als „Objektivismus“ bezeichnet werden kann, behauptet, dass man Gründen entsprechend handeln sollte, die unabhängig von den eigenen tatsächlichen rationalen Fähigkeiten sind. Es gibt natürlich unterschiedliche inauf das analysiert werden kann, was wir uns bei voller Rationalität wünschen würden. Vgl. Smith, The Moral Problem, 1994, S. 150 ff. 25 Smith, Philosophy and Phenomenological Research 55 (1995), S. 129. Smith änderte, wie er anerkennt, diesbezüglich später seine Meinung. Vgl. Smith, Analysis 56 (1996), S. 162. Die Tatsache, dass Smith seine Meinung änderte, zeigt, wie verbreitet die Zweideutigkeit ist, die ich im Text herausarbeitete. Für eine Analyse dazu, wie dies zu einer instabilen Position führt, siehe Sánchez Brígido/Seleme, Internalism vs. Constitutivism: a Critical Examination of Michael Smith’s Approach, Manuskript. 26 Kolodny, Mind 114 (2005), S. 509, 511.
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haltliche Vorstellungen davon, worin diese einschlägigen Gründe liegen. Folglich kann der Objektivismus eine richtige Handlung unter anderem in Bezug auf ihre Konsequenzen, in Bezug auf die Vorgaben von Rationalität, oder in Bezug auf das, was eine tugendhafte Person unter diesen Umständen tun würde, beschreiben. Der Objektivismus erkennt natürlich, dass unsere Anhaltspunkte für die relevanten Gründe meistens unverschuldet fehlerhaft sind. Meistens befinden wir uns nicht, um Smiths Terminologie zu verwenden, in einer „passend gefügigen Welt“. Wenn wir in der nicht passend gefügigen Welt den verfügbaren Gründen entsprechend handeln, sind wir nicht verantwortlich für unser Versagen, auch wenn wir falsch handeln. Nach dieser Ansicht können demnach falsche Handlungen und Vorwerfbarkeit auseinanderfallen. Eine Entschuldigung zu haben, bedeutet, falsch gehandelt zu haben (entgegen dem, wie man hätte handeln sollen), aber dafür nicht verantwortlich zu sein.27 Die zweite Ansicht behauptet, dass man entsprechend der Ausübung der eigenen tatsächlichen rationalen Kapazitäten handeln sollte, selbst wenn man nicht intrinsischen Gründen entsprechend handelt. Das vielleicht klarste zeitgenössische Beispiel dieses Ansatzes stammt von Michael Zimmerman. Nach seiner Ansicht kann der Objektivismus mit bestimmten Fällen nicht richtig umgehen. Man erwäge die folgende Situation: Nehmen wir an, Jill, eine Ärztin, hat einen Patienten, der an einer kleinen, aber nicht trivialen Erkrankung leidet. Sie kann zwischen drei Arzneien wählen: A, B und C. Arznei A kann die Erkrankung lindern, den Patienten aber nicht vollständig heilen, Arznei B kann ihn vollständig heilen und Arznei C wird ihn töten. Alle Jill zur Verfügung stehenden, tatsachenbasierten Anhaltspunkte deuten darauf hin, dass der Patient dauerhaft unheilbar krank bleibt, wenn er jetzt keine Arznei verabreicht bekommt, und dass die Verabreichung von Arznei A ihn zumindest teilweise heilen wird. Doch ist nach den zur Verfügung stehenden Anhaltspunkten vollkommen offen, welche der beiden Arzneien B oder C den Patienten vollständig heilen oder aber töten wird. Was sollte Jill tun? Nehmen wir an, auf Grundlage der Anhaltspunkte verabreicht Jill Arznei A und heilt den Patienten teilweise. Der Objektivist muss nun behaupten, dass sie nicht so gehandelt hat, wie sie hätte handeln sollen, denn die 27 Der Objektivismus hat eine lange Tradition. Er kann bis zu Aristoteles zurückverfolgt werden. Siehe The Nichomachean Ethics, L. III, 1111 – 1113. Ferner kann der Objektivismus unterschiedliche Verständnisse des Status der Umstände annehmen, welche die richtige Handlung bestimmen. Er kann die Form eines sehr starken Realismus annehmen. Beispielsweise ist Warren Quinn (den ich als deutlichen zeitgenössischen Repräsentanten dessen ansehe, was ich als Objektivismus bezeichne) der Meinung, dass „Wahrheit im moralischen Denken unsere Kapazität transzendiert, Gründe für unsere moralischen Urteile zu finden“, sodass eine wahre moralische Behauptung mit dem Zustand der Welt in einer bestimmten Art korrespondiert: es ist „ein Zustand der Welt, der unsere Fähigkeit transzendieren mag, seine Präsenz durch vernunftbasierte Argumente zu erfassen“. Vgl. Quinn, in: Hursthouse/Lawrence/Warren, Virtues and Other Reasons, 1991, S. 153.
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Verabreichung von Arznei A war nicht die beste Handlungsweise. Oder, um die bislang verwendete Terminologie zu gebrauchen, die Verabreichung von Arznei A ist kein intrinsischer Grund. Allerdings erscheint dies kontraintuitiv. Unsere Intuition ist, dass Jill Arznei A verabreichen sollte. Dieser Reaktion kann der Objektivist nicht Rechnung tragen, indem er behauptet, Jill habe durch die Verabreichung von Arznei A auf Grundlage der verfügbaren Anhaltspunkte das Beste für den Patienten zu tun versucht. Denn die verfügbaren Anhaltspunkte deuten das, wie die Ärztin auch weiß, nicht an. Die beste Handlungsweise wäre die Verabreichung von Arznei B. Die Verabreichung von Arznei A ist, wie die Ärztin weiß, die zweitbeste Handlungsweise. Demnach scheint es, dass wir es nicht für richtig halten – so Zimmerman –, die beste Handlungsweise zu wählen (oder, um die bisher gebrauchte Terminologie zu verwenden, intrinsischen Gründen entsprechend zu handeln), wie der Objektivist annimmt. Zimmerman grenzt dann zwischen der Förderung des tatsächlichen Wertes (Verabreichung von Arznei B) und der Förderung des erwarteten Wertes (Verabreichung von Arznei A) ab. Der erwartete Wert einer Handlung ist eine Funktion der Wahrscheinlichkeit seiner möglichen Ergebnisse und der tatsächlichen Werte dieser Ergebnisse,28 wobei die Wahrscheinlichkeit im Sinne der dem Handelnden zur Verfügung stehenden Anhaltspunkte zu verstehen ist. Verfügbare Anhaltspunkte sind solche, derer sich jemand bedienen kann und sollte. Also sind Anhaltspunkte das, was die größere oder geringere Sicherheit einer Person hinsichtlich einer Aussage rechtfertigt.29 Ohne die Terminologie zu überspannen, bezeichnet die Förderung des erwarteten Wertes das Handeln entsprechend dem, was ich bislang die „verfügbaren Anhaltspunkte“ genannt habe. Folglich ist es nach Zimmermans Ansatz, den man als „Prospektivismus“ bezeichnen kann,30 nicht wahr, dass man zur Förderung des tatsächlichen Wertes handeln sollte. Es ist nicht wahr, dass man intrinsischen Gründen entsprechend handeln sollte. Vielmehr sollte ein Handelnder eine Handlung dann und nur dann vornehmen, wenn dies den erwarteten Wert maximiert.31 Anders ausgedrückt sollte man entsprechend den verfügbaren Anhaltspunkten handeln. 28
Zimmerman, Utilitas 18 (2006), S. 339. Ebd., S. 346. − Zimmermans voll entwickeltes Modell ist weitaus komplexer, aber wir können hier auf diese Feinheiten verzichten. Siehe für deren Zusammenfassung ebd., S. 347 – 352. 30 Ich habe den Begriff von Zimmerman übernommen, der behauptet, dass nur dann gehandelt werden sollte, wenn, und nur wenn, die Handlung die beste der in Aussicht stehende Optionen ist. 31 Zimmermans Ansichten sind erschienen in Zimmerman, The Concept of Moral Obligation, 1996. − Ich berücksichtige an dieser Stelle einen späteren Artikel, in dem er seine These kurz und bündig in einer Art und Weise verdeutlicht, die für meine Argumentation relevant ist. Vgl. ders. (Fn. 28), S. 330. Für andere Auffassungen zu seiner Ansicht vgl. Zimmerman (Fn. 28), S. 330. 29
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Es trifft zu, dass Zimmermans Ansicht durch einen konsequenzialistischen Ansatz veranschaulicht wird. Aber das ist Zufall. Die Idee des tatsächlichen Wertes kann, wie gesagt, in verschiedener Weise ausgefüllt werden. Der springende Punkt ist, dass der tatsächliche Wert, wie auch immer er verstanden wird, unabhängig von der Ausübung der eigenen tatsächlichen rationalen Fähigkeiten ist. Und Zimmerman bestreitet, dass man entsprechend dem tatsächlichen Wert handeln sollte. Handeln nach dem erwarteten Wert ist Handeln entsprechend den verfügbaren Anhaltspunkten, selbst wenn diese irreführend sind. Aus diesem Grund ist Zimmermans Ansicht ein Beispiel eines Ansatzes, nach dem Normativität (was man tun sollte) nicht unabhängig von der Ausübung unserer tatsächlichen rationalen Fähigkeiten verstanden werden kann. Die epistemische Konzeption von Autorität ist also zweideutig hinsichtlich dessen, was getan werden sollte. An einigen Punkten neigt sie zum Objektivismus. Sie behauptet, dass man entsprechend den Gründen handeln sollte, die unabhängig von den gegebenen rationalen Kapazitäten sind. An anderen Punkten neigt sie zum Prospektivismus, einer Ansicht, die das bestreitet. Da beide Ansichten inkompatibel sind, ist die epistemische Konzeption inkonsequent. Diese Inkonsequenz kann nicht ohne weiteres überwunden werden. Zu deren Überwindung wird behauptet, dass die Bedingungen, unter denen das soll greift, unterschiedlich sind. Demnach sollte man nur dann intrinsischen Gründen entsprechend handeln, wenn man genug Zeit und Ressourcen hat. Anders ausgedrückt, sollte man im Falle vollständiger Rationalität intrinsischen Gründen entsprechend handeln. Ändern sich die Umstände und sieht man sich Umständen unvollständiger Rationalität gegenüber, sollte man aber indikativen Gründen entsprechend handeln. Nach dieser Argumentation wäre die epistemische Konzeption doch nicht inkonsequent. Mir scheint aber, dass diese Argumentation nicht trägt. Es ist plausibel anzunehmen, dass in Umständen vollständiger Rationalität der Handelnde in der Lage ist zu wissen, was intrinsische Gründe sind, und dass dieses Wissen von der angemessenen Zuordnung zu den Anhaltspunkten abhängt.32 Davon geht Smiths Modell bei der Untersuchung voll orthonomer Handlungen aus. Folglich fallen in Umständen vollständiger Rationalität die verfügbaren Anhaltspunkte, die zwischen dem Handelnden und den intrinsischen Gründen vermitteln, und die intrinsischen Gründe selbst nicht auseinander. Der Objektivismus und der Pro32 Regan scheint das zuzugestehen: „Wann immer wir handeln, verlassen wir uns auf unsere Annahmen hinsichtlich der Existenz intrinsischer Gründe […] (in einem offensichtlichen Sinn sind uns die Umstände nur über unsere Annahmen zugänglich)“, Regan (Fn. 3, 1990), S. 10. Ferner ist es, wie Smiths Modell von Rationalität deutlich macht, zweifelhaft, dass die Annahme von p als Wissen gilt, sofern sie nicht irgendeine Beziehung ausdrückt zwischen dem Umstand p, Anhaltspunkten für p und der Annahme von p durch Anhaltspunkte für p.
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spektivismus wären sich demnach einig darüber, was der Handelnde tun sollte. Wenn also ein intrinsischer Grund besteht, ϕ zu tun, und der Handelnde in Umständen vollständiger Rationalität dies anhand der verfügbaren Anhaltspunkte weiß, würden sowohl Objektivismus als auch Prospektivismus behaupten, dass der Handelnde ϕ tun sollte. Möglicherweise würden beide Theorien unterschiedliche philosophische Erklärungen dafür abgeben, warum der Handelnde ϕ tun sollte. Doch beide Theorien würden, vermute ich, behaupten, dass der Handelnde ϕ tun sollte. Der eigentliche Unterschied zwischen Objektivmus und Prospektivismus liegt darin, wie sie die Frage beantworten, was der Handelnde in Umständen unvollständiger Rationalität tun sollte. Zu behaupten – wie die Antwort, die ich untersuche, es tut –, dass man in Umständen vollständiger Rationalität Objektivist und in Umständen unvollständiger Rationalität Prospektivist sein kann, ist keine echte Option. Kurz gesagt scheint es, dass entweder Objektivismus oder Prospektivismus wahr sind und dass es keine Möglichkeit eines Mittelweges gibt. Dies ist der Fall, solange man im Sinn einer grundlegenden Annahme davon ausgeht, dass das sollte nicht zweideutig ist, und zweitens annimmt, dass das Prinzip als strenge Bedingung gilt. Dies ist vor dem Hintergrund der Natur von Normativität zu beleuchten. Betrachtet man die mögliche Zweideutigkeit des Sollensbegriffs, ist Folgendes zu berücksichtigen: Mehrere Theorien zur Natur der Normativität behaupten, dass die Idee, es gebe einen intrinsischen Grund, ϕ zu tun, insofern ein primitiver Gedanke ist, als er nicht in anderen Gedanken erklärt werden kann.33 Dennoch kann man argumentieren, dass man rationale Anforderungen befolgen sollte (wie etwa „handle entsprechend den objektiven epistemischen Gründen“), wo sollte nicht als intrinsischer Grund zur Befolgung rationaler Anforderung zu verstehen ist, sondern in einem anderen Sinn. Auch wenn es wahr ist, dass man ϕ tun sollte (1), ist es demnach ebenfalls wahr, dass man rationale Anforderungen befolgen sollte (2). Dies wäre ein Weg, die Annahme aufzugeben.34 Kann aufgrund der epistemischen Konzeption die Annahme aufgegeben werden, dass sollen nicht zweideutig ist? Wenn die epistemische Konzeption vorschlägt, in Umständen unvollständiger Rationalität nach dem Prinzip entsprechend den verfügbaren Anhaltspunkten zu handeln, selbst wenn diese irreführend sind, ist es plausibel anzunehmen, dass sollte in dem Sinne zu verstehen ist, in dem sie darüber spricht, ob man intrinsischen Gründen entsprechend 33 Raz, Engaging Reason, 1999; Broome, in: Wallace/Pettit/Scheffer/Smith (Hrsg.), Reasons and Value, 2004, S. 28 ff.; Scanlon, What We Owe to Each Other, 1998. 34 Für eine Besprechung der Möglichkeit, das „sollte“ der Rationalität im Sinne des „sollte“ von Gründen zu verstehen, vgl. Kolodny (Fn. 26), S. 509 ff., 512. Für eine Replik vgl. Bridges, Mind 118 (2009), S. 353 ff. und für eine Duplik siehe Kolodny, Mind 118 (2009), S. 369 ff.
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handeln sollte. Es gibt kein Anzeichen des Gegenteils oder einen Grund, etwas anderes zu denken. Würde die epistemische Konzeption diese Annahme verwerfen, verstieße das gegen ihre natürliche Lesart. Außerdem darf von der Theorie erwartet werden, Antworten auf diverse Fragen zu liefern, die sie gegenwärtig nicht annähernd behandelt. Sie hätte klarzustellen, welche Bedeutung sollte − sollte (1) oder sollte (2) − in der Frage hat, ob man autoritative Anweisungen befolgen sollte, und warum dies einen Unterschied macht. Sie müsste das allgemeinere Problem der Proliferation von sollte behandeln. Wenn eine Theorie die Frage nach der richtigen Handlungsweise beantworten will, dann müsste sie zudem die beiden Interpretationen von sollte im Sinne eines externen Kriteriums priorisieren und anschließend den Sinn von sollte erklären, der in der Idee des „man sollte den Konflikt in dieser oder jener Weise lösen“ liegt. Kurz gesagt, wenn die epistemische Konzeption die Annahme verwürfe, fiele eine natürliche Interpretation ihrer Behauptungen auseinander. Sie müsste schließlich auch ein Argument anbieten, das eine prinzipienbasierte Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Deutungen von sollte ermöglicht, und erklären, wie diese zu priorisieren sind, sodass ein solches Argument (vielleicht) eine drastische Umformulierung der Kernbehauptungen der Konzeption erfordern würde. Hinsichtlich der zweiten Annahme − der strengen Bedingung − ist Folgendes zu berücksichtigen: Eine Theorie von Rationalität muss nicht behaupten, dass die Anforderungen der Rationalität als strenge Bedingungen verstanden werden müssen. Man betrachte die Anforderung der Rationalität, der zufolge „man beabsichtigen sollte, ϕ zu tun, wenn man ϕ für die richtige Handlungsweise hält“. Verstanden als strenge Bedingung (oder, um eine gängigere Terminologie zu verwenden, in einer eng ausgelegten Interpretation), ist es zulässig, sich von der Folgemaßnahme zu distanzieren. Demnach ist es ausreichend, ϕ zu tun, wenn man ϕ für die richtige Handlungsweise hält. Doch die Anforderung kann auch weit interpretiert werden: „Man sollte, wenn man ϕ für richtig hält, beabsichtigen, ϕ zu tun“. Wie man sieht, erscheint das sollte nun nicht im Aktionsteil des Satzes und wirkt sich auf den ganzen Bedingungsteil des Satzes aus. Deshalb kann es auch nicht losgelöst werden. Aus dem Umstand, dass man ϕ für die richtige Handlungsweise hält, folgt nicht, dass man eine Absicht bilden sollte. Die weit verstandene Anforderung besagt, dass das Erforderliche entweder ist, die erste Einstellung nicht zu haben oder die zweite Einstellung nicht zu haben. Erforderlich ist, dass der Handelnde entweder nicht die Annahme oder nicht die Absicht hat. In anderen Worten befiehlt die Anforderung dem Handelnden, entweder den einen Zustand oder den anderen Zustand zu beenden. Dies mag vernünftig erscheinen.35 35 Broome zufolge sollte das, was ich Anforderungen der Rationalität nenne, als weit zu verstehende Prinzipien angesehen werden, vgl. Broome (Fn. 33), S. 51.
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Kann man aufgrund der epistemischen Konzeption diese Annahme nun verwerfen und die relevante Anforderung weit verstehen? Wenn die epistemische Konzeption ein Prinzip vorschlägt, demzufolge „man in Umständen unvollständiger Rationalität den verfügbaren Anhaltspunkten entsprechend handeln sollte, selbst wenn diese irreführend sind“, ist es eine plausible Annahme, dass sie von einer strengen Bedingung spricht. Es gibt kein Anzeichen des Gegenteils oder einen Grund, etwas anderes zu denken. Würde die epistemische Konzeption diese Annahme verwerfen, fiele ihre natürliche Lesart auseinander. Außerdem sollte die Theorie schwierige Fragen in Angriff nehmen, die sie gegenwärtig nicht annähernd behandelt. Gleiches folgt aus dem Prinzip, das der Konzeption zugrunde liegt. Das Prinzip besagt: „Wenn Du dich bei der Handlungsentscheidung in Umständen unvollständiger Rationalität befindest, solltest Du den verfügbaren Anhaltspunkten entsprechend handeln, selbst wenn sie irreführend sind“. In einem weiten Sinn interpretiert bedeutet das Prinzip Folgendes: „Man sollte, wenn man sich bei der Handlungsentscheidung in Umständen unvollständiger Rationalität befindet, den tatsächlichen Anhaltspunkten entsprechend handeln“. Also erfordert das Prinzip entweder, dass man sich nicht in Umständen unvollständiger Rationalität befindet (oder, was dasselbe ist, die korrekte Handlungsweise kennt) oder dass man nicht den verfügbaren Anhaltspunkten entsprechend handelt. Aber hier kann nicht sinnvoll vom Handelnden verlangt werden, den einen oder den anderen Zustand zu beseitigen. Warum wäre es sinnvoll, den ersten Zustand zu beseitigen, also den Zustand, in dem man weiß, was zu tun ist? 36 Kurz gesagt, wenn die epistemische Konzeption diese Annahmen verwürfe, würde eine natürliche Interpretation ihrer Behauptungen unmöglich; dann sollte sie diverse Probleme in Angriff nehmen, die sie derzeit nicht annähernd behandelt, und möglicherweise wäre dann auch eine wichtige (sogar drastische) Neuformulierung ihrer Grundlagen nötig. Unabhängig davon sollte die epistemische Konzeption von Autorität, solange sie die eben genannten Annahmen aufrechterhält, entweder den Objektivismus oder eine Art von Prospektivismus als Hintergrundtheorie von Normativität bevorzugen. Dies ist natürlich nicht der Ort, um ein Urteil über diese beiden gegenläufigen Theorien von Normativität zu fällen. Diverse Argumente dafür und dagegen sind diskutiert worden. Kritisiert am Prospektivismus wird vor allem, dass er zu kontraintuitiven Ergebnissen führt. Nehme man mit Zimmerman an, man müsse sich dazwischen entscheiden, entweder einigen unschuldigen Menschen große Schmerzen zuzufügen oder davon abzusehen, und nehme man an, dass es tatsächlich das Beste wäre, davon abzusehen, doch wegen irreführender verfügbarer Anhaltspunkte würde der erwartete Wert durch die Zufügung von Schmerzen 36 Für weitere Schwierigkeiten mit der weiten Interpretation rationaler Anforderungen im Allgemeinen vgl. Kolodny (Fn. 26), S. 520 ff.
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maximiert. Der Prospektivismus verpflichtet sich zur Behauptung, man müsse dann Schmerzen zufügen.37 Anders ausgedrückt könnte man, wenn die Anhaltspunkte hinreichend verzerrt sind, eine fürchterliche Handlung durchführen und dennoch richtig handeln. Der Prospektivismus verpflichtet sich auch zu einem revisionistischen Verständnis von Fahrlässigkeit. Denn er kann nicht behaupten, dass man moralisch verpflichtet ist, sich der relevanten Anhaltspunkte zu bedienen, weil das einen Zirkelschluss in die Argumentation einbauen würde (der zufolge moralische Verpflichtungen darin bestehen, dass man verfügbaren Anhaltspunkten entsprechend handelt). Also schafft man kein moralisches Unrecht, wenn man fahrlässig handelt.38 Andererseits scheint der Objektivismus nicht angemessen mit Fällen wie dem der Ärztin Jill umgehen zu können, und das erscheint kontraintuitiv. Allgemeiner ist auch er einer wenig ansprechenden Idee verpflichtet: Grob gesagt kann man sich seinen Fähigkeiten entsprechend bestmöglich verhalten (mehr könnte nach den Umständen nicht verlangt werden) und dennoch falsch handeln. Anstelle einer Darstellung oder Bewertung der Argumente für den Objektivismus oder Prospektivismus wird es hilfreicher sein, die Konsequenzen der epistemischen Konzeption von Autorität darzustellen, die entweder den Objektivismus oder den Prospektivismus als Hintergrundtheorie von Normativität wählt.
III. Der Einfluss auf eine epistemische Konzeption von Autorität Man nehme an, die epistemische Konzeption von Autorität bevorzuge den Objektivismus. Dem Objektivismus zufolge sollte man intrinsischen Gründen entsprechend handeln. Es scheint demnach klar zu sein, dass die epistemische Konzeption keine andere Wahl hat, als das Prinzip fallen zu lassen, auf das sie sich zur Stärkung ihrer Erklärung von Autorität berufen hat. Das Prinzip – man erinnere sich – besagt, dass man in Umständen unvollständiger Rationalität entsprechend autoritativen Anweisungen handeln sollte, selbst wenn diese irreführend sind. Angenommen, es besteht ein intrinsischer Grund, ϕ zu tun, aber es ist für die Handelnde unmöglich, das zu wissen. Die verfügbaren Anhaltspunkte deuten darauf hin (weil die Autorität ihr das sagt), dass sie ψ tun sollte. Die Konzeption kann nicht behaupten, dass sie den verfügbaren Anhaltspunkten entsprechend handeln 37
Zimmerman (Fn. 28), S. 352. Seine Antwort ist, kurz gesagt, dass der Objektivismus ebenfalls kontraintuitiven Ergebnissen verpflichtet ist. Er erkennt also an, dass eine Anwendung seiner Ansicht das unwillkommene Ergebnis liefern könnte, dass Hitler nichts Falsches tat (abhängig von den ihm zur Verfügung stehenden Anhaltspunkten hinsichtlich der relativen Werte der Tötung von Millionen von Menschen). Doch er behauptet, dass eine Anwendung der objektivistischen Ansicht ihrerseits das unwillkommene Ergebnis liefern könnte, dass er Falsches tat, aber dafür nicht zu beschuldigen ist. 38 Wie Zimmerman (Fn. 28), S. 346 bemerkt.
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und folglich ψ tun sollte. Denn das würde bedeuten, dass keine Pflicht zum Tun von ϕ besteht, wie es aber ex hypothesi der Fall ist. Demnach kann man nicht behaupten, dass den Anweisungen der Autorität entsprechend gehandelt wird und man ψ tun sollte. In anderen Worten kann das Prinzip nach dieser Ansicht nicht verbindlich sein, und folglich können Autoritäten auch nicht binden. Also sind Autoritäten entweder irrtumsbehaftet oder ihre Anweisungen sind redundant. Das Problem des praktischen Charakters von Autorität kann nicht gelöst werden. Damit soll nicht behauptet werden, dass die epistemische Konzeption von Autorität, unterfüttert durch eine objektivistische Sicht von Normativität, darüber hinaus nichts Interessantes zur Natur von Autorität sagen könnte. Sie sollte erklären, warum autoritative Anweisungen irgendeine Art von Normativität zu haben scheinen und warum das Problem des praktischen Charakters von Autorität überhaupt von Interesse ist. Weiter gibt es keinen Grund zu denken, dass die objektivistische Konzeption nicht in der Lage ist, eine solche Erklärung zu bieten. Beispielsweise kann sie ein Argument liefern, das auf dem Wert der Ausübung unserer rationalen Kapazitäten beruht. Die Idee, dass es eine Anforderung von Rationalität gibt – so wäre zu argumentieren –, besteht darin, dass man durch die Ausübung seiner rationalen Kapazitäten häufiger richtig handelt als falsch. Wie Smith behauptet, werden unsere rationalen Fähigkeiten als Befähigungen geschätzt, deren richtige Ausübung dazu führt, dass wir Dinge richtig machen. Das ist die Idee hinter dem Konzept der Orthonomie. Also haben autoritative Anweisungen trotz ihrer Unverbindlichkeit immer noch eine bewertende oder pseudo-normative Kraft. Es ist nicht wahr, dass man entsprechend den rationalen Anforderungen handeln sollte, wenn diese nicht dazu führen, Dinge richtig zu machen. Rationale Anforderungen haben nur instrumentellen Wert. Doch trotzdem gibt es etwas zugunsten der Ausübung solcher Fähigkeiten zu sagen, unabhängig von dem Guten, das aus ihnen hervorgeht. Die Ausübung solcher Fähigkeiten ist etwas, das wir bewundern. Wenn die Ausübung einer solchen Fähigkeit scheitert, also ihr instrumenteller Wert entfällt, hat sie immer noch eine Art von nichtinstrumentellem Wert (etwa expressivem Wert). Die Ausübung solcher Fähigkeiten drückt unseren Respekt für den Wert dessen aus, das die Fähigkeit verkörpert (der Wert, Dinge richtig zu machen).39 Das könnte die Erklärung dafür sein, warum autoritative Anweisungen normativ erscheinen. Eine Art von Pseudo-Normativität haftet ihnen an. 39 Dies kann als Anwendung von Hurkas Prinzip angesehen werden: Wenn V ein nicht-instrumenteller Wert in einem Bereich ist, haben die richtigen Arten der Bewertung von V in diesem Bereich und ihre Manifestationen derivativen nicht-instrumentellen Wert relativ zu V in diesem Bereich. Vgl. Hurka, Virtue, Vice and Value, 2001. Man kann diesen nicht-instrumentellen Wert von Tugend (wenn man das Handeln entsprechend epis temischen objektiven Gründen als tugendhaft ansieht, auch wenn sie irreführend sind) annehmen, während man behauptet, Tugend habe lediglich eine parasitäre Art von Wert.
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Man nehme nun an, die epistemische Konzeption von Autorität bevorzuge den Prospektivismus als Hintergrundtheorie von Normativität. Man nehme wieder an, es gebe einen intrinsischen Grund, ϕ zu tun, doch die verfügbaren Anhaltspunkte deuten darauf hin, dass man ψ tun sollte. Da man verpflichtet ist, seine eigenen rationalen Fähigkeiten auszuüben, sollte man ψ tun. Also befiehlt die Autorität dem Handelnden, ψ zu tun (ich spreche, wie gesagt, durchgehend von legitimen Autoritäten). Nach dieser Ansicht ist das Prinzip, das die epistemische Konzeption zur Stärkung ihrer Konzeption von Autorität bevorzugt, sinnlos und kann nicht verbindlich sein. Denn das Prinzip besagt, dass man in Umständen unvollständiger Rationalität den autoritativen Anweisungen entsprechend handeln sollte, selbst wenn sie irreführend sind. Doch wenn der Prospektivismus wahr ist, können Autoritäten in keiner Hinsicht irreführend sein. Denn autoritative Anweisungen sorgen immer dafür, dass man so handelt, wie man sollte. Die autoritative Anweisung, dass man ψ tun sollte, bewirkt, dass man ψ tun sollte. Man handelt keinesfalls falsch, wenn man so handelt, wie man sollte.40 Also sollte das Prinzip umformuliert werden: Man sollte autoritativen Anweisungen entsprechend handeln. Doch dann ist das Problem des praktischen Charakters von Autorität illusorisch. Das Problem geht davon aus, dass Autoritäten irreführend sein können. Die epistemische Konzeption von Autorität, unterstützt von einer prospektivistischen Sicht von Normativität, sollte auch etwas dazu sagen, warum das Problem ihres praktischen Charakters überhaupt von Interesse ist. Sie sollte erklären, warum autoritative Anweisungen in einem gewissen Sinn zu scheitern scheinen. Und sie kann eine Erklärung liefern. Das Problem des praktischen Charakters von Autorität – so würde die prospektivistische Antwort lauten – ist nur bei objektivistischen Annahmen ein echtes Problem, also nur unter der Annahme, dass man intrinsischen Gründen entsprechend handeln sollte oder, wie Zimmerman sagen würde, tatsächlichem Wert entsprechend. Autoritäten können nicht als Identifikatoren dessen, was getan werden sollte, scheitern. Doch es gibt einen Fall, in dem sie irreführend sein können. Sie können als Identifikatoren intrinsischer Gründe (tatsächlichen Wertes) irreführen. Doch nur unter dem Bann des Objektivismus scheint dieses Scheitern in irgendeiner Weise praktisch bedeutsam dafür zu sein (während es das tatsächlich nicht ist), die Normativität von Autorität in Frage zu stellen.
40 Zimmerman gesteht das ein. Er untersucht den Fall des Patienten, eines Individuums, das „über eine Autorität verfügt, durch die seine bloßen Äußerungen eine besonders überzeugende Bedeutung für Jill haben. In einem solchen Fall wäre seine Äußerung gegenüber Jill, dass sie ihm die Arznei B verabreichen solle, unter den Umständen ausreichend dafür, dass sie das sollte“, vgl. Zimmerman (Fn. 28), S. 345.
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IV. Schlussfolgerungen Die epistemische Konzeption sieht sich also einem Dilemma gegenüber. Bevorzugt sie den Objektivismus, ist das Prinzip, das sie zur Verteidigung ihrer Konzeption von Autorität bevorzugt, nicht verbindlich. Andererseits ist dann, wenn die epistemische Konzeption den Prospektivismus bevorzugt, das Prinzip verbindlich, es besteht jedoch das Problem, dass der praktische Charakter von Autorität bei näherer Betrachtung nur illusorisch ist. Die epistemische Konzeption kann natürlich diese Ergebnisse umgehen, indem sie die Annahmen, auf denen sie gründet, verwirft. Sie könnte im Einklang mit vielen Versuchen in der Meta-Ethik behaupten, dass es verschiedene Bedeutungen von „sollte“ gibt. Oder sie könnte die Idee des „Sollens“ in der weiteren Interpretation verteidigen, eine Thematik, die ebenfalls Teil der andauernden Diskussion in der Meta-Ethik ist. Doch sie sollte (vielleicht in grundlegender Weise) neu aufgestellt werden, wenn sie diesen Weg wählt. Abschließend möchte ich betonen, dass dieses Problem der epistemischen Konzeption nicht aus den von ihr vertretenen spezifischen Prinzipien herrührt. Vielmehr ist es Folge eines tiefergehenden Problems und ist daher von allgemeiner Natur. Demnach betrifft es jede Theorie, die das Problem des praktischen Charakters von Autorität zu lösen versucht, nicht nur die epistemische Konzeption. Das Problem des praktischen Charakters von Autoritäten (wie oben dargestellt, in seiner klassischen Formulierung) gründet auf der Idee, dass das, was getan werden sollte, vor dem Hintergrund von Gründen zu verstehen ist, die dafür sprechen, das auch zu tun. Das Problem geht ferner davon aus, dass die Frage, ob ein Grund für ϕ gegeben ist (und man folglich ϕ tun sollte), nicht in Bezug darauf verstanden werden kann, ob man bestimmte davon abhängige (kognitive oder nicht kognitive) Haltungen hat. Ob man ϕ tun sollte, hängt also nicht davon ab, ob man ϕ für richtig hält oder nicht, oder ob man begehrt (oder bevorzugt, wünscht, will, etc.), ϕ zu tun. In diesem Sinne ist das Problem um die Idee herum strukturiert, dass es einschlägige Gründe gibt, deren Status nicht subjektiv ist. Es scheint, dass es nur zwei unterschiedliche und sehr weite Sichtweisen für das Verständnis dieses nicht-subjektiven Status von Gründen gibt. Entweder sind Gründe unabhängig von der Ausübung der eigenen rationalen Fähigkeiten, wie der Objektivismus behauptet, oder sie bestehen in der Ausübung der eigenen rationalen Fähigkeiten, wie der Prospektivismus behauptet. Nach der objektivistischen Sicht kann das Problem des praktischen Charakters von Autorität nicht gelöst werden. Denn es gibt keinen Grund zur Annahme, dass Autoritäten nicht irren können. Selbst wenn Autoritäten rational sind (ich spreche, wie gesagt, durchgehend von legitimen Autoritäten), können sie als Identifikatoren dessen, was getan werden sollte, scheitern. Kurz gesagt ist es nach der objektivistischen Sichtweise so, dass
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Autoritäten Verbindlichkeit beanspruchen, aber sich entweder irren (und demnach nicht binden) oder uns zu einer Handlungsweise führen, die wir ohnehin verfolgen sollten (sodass die Autoritäten dann redundant sind). Andererseits ist nach der prospektivistischen Ansicht das Problem des praktischen Charakters von Autoritäten bei näherer Betrachtung illusorisch. Autoritäten (um darauf zu bestehen, legitime Autoritäten) sollten zumindest prinzipiell als rational verstanden werden; und folglich bewirken ihre Anweisungen immer, dass man so handelt, wie man sollte. Nur unter der Annahme, dass letzteres falsch ist, lohnt sich die Frage nach der praktischen Relevanz von Autorität. Diese Schlussfolgerungen versuchen nicht, spezifische Bedenken hinsichtlich der Rechtfertigung des Strafrechts zu behandeln, die normalerweise mit dem Problem der Rechtfertigung der Zufügung von Schmerzen zusammenhängen. Aber gerade weil das Strafrecht mit der Zufügung von Schmerzen zusammenhängt, sind die Schlussfolgerungen relevant. Strafrecht ist das Gebiet, in dem die Auswirkungen von autoritativen Behauptungen am nachhaltigsten sind, sodass das Bedürfnis, diese Behauptungen zu rechtfertigen, im Strafrecht weit dringender ist als in anderen Gebieten.
Frankfurt und seine beiden Schulen* Ähnlichkeiten, Unterschiede und Verbindungen mit Argentinien Von Eugenio C. Sarrabayrouse Eugenio C. Sarrabayrouse Eugenio C. Sarrabayrouse: Frankfurt und seine beiden Schulen Frankfurt und seine beiden Schulen. Ähnlichkeiten, Unterschiede und Verbindungen mit Argentinien
I. Einleitung In der vorliegenden Arbeit sollen zwei Denkströmungen untersucht werden, die zwar in unterschiedlichen Fächern, aber beide ausgehend von der Universität Frankfurt am Main weltweit Ruhm und Anklang erlangt haben: die lange Zeit von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno geleitete philosophische Schule und die von Winfried Hassemer, Wolfgang Naucke und Klaus Lüderssen angeführte Gruppe von Strafrechtsprofessoren. Schon der Titel verdient einige Erläuterungen. Die Behauptung, es handele sich um zwei „Schulen“, ist hinsichtlich der Frankfurter Strafrechtler nicht ganz klar, weil sie selbst sich ungern als eine solche angesehen haben. Daher wird in dieser Arbeit festzustellen versucht, ob diese Bezeichnung korrekt ist. In einigen Absätzen wird jedoch der Begriff der Schule verwendet, um die Darstellung zu vereinfachen. Es sollen darüber hinaus einige Aspekte der Verbindung beider Schulen mit Argentinien hervorgehoben werden. Außerdem muss vorab klargestellt werden, dass der Autor kein Philosoph ist, sondern bloß ein Neugieriger, der sich nur aus dem Verlangen nach neuem Wissen diesen anderen Materien nähert. Daher werden beide Schulen nur mit „groben Pinselstrichen“ charakterisiert, meist durch die Wiederholung von Ansichten anderer, die diese Themen mit größerer Autorität bearbeitet haben.
II. Die Frankfurter „Strafrechtsschule“ Mit der Bezeichnung „Frankfurter Strafrechtsschule“ wird die in dieser Stadt ansässige Gruppe von Professoren und Autoren bezeichnet, deren Konzeptionen als einer der wichtigsten Pole in der strafrechtlichen Diskussion der Neunzigerjahre angesehen werden können und die die Entwicklung der deutschen Straf* Übersetzung ins Deutsche durch Anna Richter.
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rechtswissenschaft in jenen Jahren geprägt haben.1 Ihre Mitglieder haben sich aus unterschiedlichen Perspektiven dem Strafrecht genähert und hatten im Wesentlichen eine einheitliche Haltung in Bezug auf die Hauptfragen des Strafrechts, auch wenn mit der Zeit einige Unterschiede deutlich geworden sind. Zu ihren Hauptvertretern zählen der kürzlich verstorbene Winfried Hassemer, Klaus Lüderssen, Wolfgang Naucke, Peter-Alexis Albrecht, Felix Herzog, Cornelius Prittwitz, Ulfrid Neumann, Olaf Hohmann und Walter Kargl, um nur einige zu nennen. Eines ihrer bevorzugten Themen, das sogar zu einem ihrer Unterscheidungsmerkmale geworden ist, ist die Beziehung zwischen der Strafrechtswissenschaft und der Kriminalpolitik. Mit dem Ende des sozialen Befreiungsprozesses in Deutschland zwischen 1960 und 1970 nahmen ihre Mitglieder eine kritische kriminalpolitische Haltung ein; sie setzten es sich zum Ziel, die Reichweite des Strafrechts einzugrenzen, und versuchten, den Einfluss der Sozialwissenschaften auf das Strafrecht zu stärken. Der erste dieser Programmpunkte ist auch heute noch von Brisanz, denn die Entwicklung der deutschen Gesetzgebung hat den entgegengesetzten Weg einer permanenten Ausdehnung des Strafrechts eingeschlagen. Was den Einfluss der Sozialwissenschaften angeht, konnte die Frank furter Schule keinen großen Erfolg verzeichnen, denn der Beitrag der Sozialwissenschaften zur Entwicklung des Strafrechts ist immer noch unbedeutend.2 Daneben beschäftigte sich die Gruppe mit dem Strafrecht im Kontext neuer, großer industrieller Gefahren, unter anderem dem Umweltstrafrecht, der strafrechtlichen Produkthaftung und dem Wirtschaftsstrafrecht, und prägte durch die Analyse der diesen Lebensbereichen innewohnenden kriminellen Strukturen die strafpolitische Diskussion in den Neunzigerjahren. Einer ihrer Untersuchungsgegenstände war die Frage nach der Möglichkeit, diese neuen Bereiche durch die „alten“ traditionellen europäischen Strafrechtsprinzipien (wie Rechtsgutsverletzung, Handlung, Kausalität und individuelle Schuld) zu erfassen. Die Mehrheit zog eine negative Schlussfolgerung; sie lehnte die modernen Gesetzgebungsmethoden zur Behandlung dieser neuen Phänomene ausdrücklich ab (vor allem die übertriebene Vorverlegung des Rechtsgüterschutzes durch abstrakte Gefährdungsdelikte sowie die diffuse und wenig verständliche Schaffung von kollektiven Rechtsgütern). Das eng mit den neuen Technologien und den aus ihrer Anwendung hervorgehenden Schäden verbundene Konzept der „Gefahr“ hat sich zusammen mit der „Risikogesellschaft“ in allgegenwärtige Begriffe verwandelt. Der letztere Terminus war von dem Soziologen und Münchener Universitätsprofessor Ulrich Beck geprägt worden und wurde schnell zum Mittelpunkt der Diskussion über die neu1
Schünemann, in: Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal, Bände 1 – 2, S. 18 f. Roxin, in: Neumann/Prittwitz (Hrsg.), Kritik und Rechtfertigung des Strafrechts, 2005, S. 175 ff. 2
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en Funktionen des Strafrechts, d. h. über die Pönalisierung von bis dahin der traditionellen Dogmatik unbekannten Verhaltensweisen, die massive Schäden verursachen. Sowohl Prittwitz als auch Herzog behandelten dieses Gefahrkonzept in ihren Habilitationsschriften.3 Anstatt in diesen Bereichen abstrakte Gefährdungstatbestände einzuführen, forderten die Frankfurter Strafrechtler den Rückzug des Strafrechts und seine Begrenzung auf einen hauptsächlichen Schutz des Lebens, des Körpers und der Freiheit des Individuums durch ein „Kern-“ oder „Minimalstrafrecht“.4 Um die Forderungen der Mitglieder dieser Strömung zu erläutern, sollen im Folgenden einige Ideen zweier Strafrechtler aus Frankfurt, Hassemer und Naucke, genauer ausgeführt werden, um dann ihre Übereinstimmungen und die sie trennenden tiefgreifenden Unterschiede zu betrachten. 1. Die Vorschläge von Winfried Hassemer5 Hassemers Habilitationsschrift Theorie und Soziologie des Verbrechens6 übte einen enormen Einfluss auf die Art und Weise aus, wie die materiellen Grundlagen des Straftatkonzepts aufgefasst werden. Sein Hauptwerk ist die 1982 erschienene Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, in welcher er die Fundamente für ein globales Verständnis des Strafphänomens schuf und die grundlegenden Probleme der Kriminologie, Kriminalpolitik und Strafrechtsdogmatik darlegte. Wenige Jahre später von Francisco Muñoz Conde und Luis Arroyo Zapatero ins Spanische übersetzt, übte das Werk schnell einen enormen Einfluss in Spanien und Lateinamerika aus.7 1987 kam Hassemer nach Argentinien, um am Symposium „Hacia una nueva Justicia Penal“ (Auf dem Weg zu einer neuen Strafrechtsgerechtigkeit) teilzunehmen, wo ein von einer Juristengruppe unter der Leitung des Strafrechtsprofessors Julio B. J. Maier ausgearbeiteter Entwurf eines Strafprozessgesetzbuchs 3 Roxin, Strafrecht AT, 3. Aufl. 1997; Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit und strafrechtliche Daseinsvorsorge, 1991; Prittwitz, Strafrecht und Risiko, 1993; Kuhlen, in: GA 1994, S. 347 ff. 4 Roxin (Fn. 2), S. 176 ff. 5 Am 9. Januar 2014 starb Winfried Hassemer in Frankfurt am Main. Dieser Aufsatz soll an ihn erinnern und ihm noch einmal für seinen Einfluss auf zwei Schlüsselmomente meines akademischen Lebens danken: die Wahl meines Dissertationsthemas, La respon sabilidad penal por el producto en el Derecho penal argentino, das von seinem Werk Produktverantwortung im modernen Strafrecht inspiriert wurde, und seine uneingeschränkte Unterstützung bei meiner erfolgreichen Bewerbung um ein Stipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung durch meine Verbindung mit Cornelius Prittwitz. 6 Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, 1973. 7 Hassemer, Fundamentos del Derecho penal, 1984.
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diskutiert wurde.8 Seitdem war sein Kontakt mit Argentinien intensiv und ergiebig: Ein Großteil seiner Aufsätze wurde übersetzt und in Form von Büchern oder einzelnen Artikeln veröffentlicht. Er hat Argentinien auch einige Male besucht, unter anderem hielt er im März 1998 zwei Vorträge in Ushuaia, der südlichsten Stadt der Welt. Hassemer entwickelte an dem von ihm sogenannten modernen Strafrecht folgende Kritik: Seiner Ansicht nach konnte im Strafrecht ein Phänomen beobachtet werden, das man, ähnlich der von Horkheimer und Adorno sogenannten Dialektik der Aufklärung, als Dialektik der Moderne bezeichnen könnte. Damit veranschaulichte er, dass das moderne Strafrecht sich bis zur Kontraproduktivität und Anachronisierung weiterentwickelt hat. Unter „modernem“ Strafrecht versteht Hassemer folgende Eigenschaften und Entwicklungen, die sich sowohl auf dessen Konzeption als auch auf das praktische Vorgehen beziehen: – Es wendet sich von metaphysischen Konzepten ab und schreibt eine empirische Methodologie vor. – Durch seine Ausrichtung auf die Konsequenzen trägt es seinem Hang zum Empirischen Rechnung. – Daher zieht es die präventiven theoretischen Kriterien den retributiven Kriterien vor. – Es versucht, den Gesetzgeber durch Prinzipien wie das des Rechtsgüterschutzes (notwendige Schädlichkeit der Handlung) zu binden und seine Entscheidungen zu kontrollieren.9 Dieser konzeptuelle Rahmen begründet drei wichtige Folgen für die Aufgaben und Grenzen des Strafrechts. Zunächst dürfen als Straftaten nur die Verletzungen der gesellschaftsvertraglich anerkannten Individualfreiheiten festgelegt werden. Es gelten die persönlichen Rechtsgüter. Das Strafrechtsgut dient als negatives Kriterium für eine legitime Kriminalisierung. Ohne eine greifbare Verletzung des Rechtsguts kann es keine Straftat geben. Weiter müssen die Grenzen des im Gesellschaftsvertrag vereinbarten Freiheitsverzichts hermetisch und undurchlässig sein. Spätere Korrekturen, die sich auf soziale oder staatliche Eingriffe in den Gesellschaftsvertrag gründen, sind unter allen Umständen zu unterlassen. Auch die gegenseitige Aufgabe der Freiheit darf nicht der Auslegungsmacht eines Dritten, sei es eines Gerichts oder der Exekutive, ausgesetzt werden. So erklärt sich das „Ethos“ des Rechtspositivismus, das zu 8 Vgl. Die Strafverfolgung: Legalität und Opportunität, in: Consejo para la Consolidación de la Democracia (Hrsg.); Simposio Internacional sobre la transformación de la justicia penal en la República Argentina, Band 1, 1988, S. 29 ff. 9 Hassemer, Produktverantwortung im modernen Strafrecht, 2. Aufl. 1996, S. 1 f.
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einer gewissen Zeit die Kommentierung oder Auslegung des Gesetzes verbot. Das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot findet hier seine tiefgreifendste Bedeutung. Zuletzt ist der Staat eine von den Rechten des Bürgers abgeleitete Institution und seine Macht muss in ihnen seine Begründung und Grenze finden. Der Gesellschaftsvertrag erträgt weder eine Macht, die nicht von ihm ausgeht, noch toleriert er irgendeinen Usurpator. Daher muss die Macht des Staates im Strafrecht, wo sie sich besonders energisch und bedrohlich zeigt, zum Schutz der im Gesellschaftsvertrag wurzelnden Rechte ausgestaltet sein. Hier finden Strafrechtsprinzipien wie der in dubio pro reo-Grundsatz, das Verteidigungsrecht, das Schweigerecht und auch grundlegende Prinzipien wie das der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit ihre Erklärung. Für die klassische Konzeption ist das Strafrecht zweifellos ein gewaltsames Mittel, aber gleichzeitig auch ein Instrument der Freiheit des Bürgers. Daher ist es für das Zusammenleben der Menschen unverzichtbar;10 es ist kein „Generalschlüssel“, sondern das letzte Mittel (ultima ratio) für die Lösung sozialer Probleme. Das moderne Strafrecht brach mit dieser Tradition und stellt inzwischen eine andere Institution dar als das klassische Strafrecht. Zusammengefasst „modernisierte“ sich das Strafrecht (nicht nur in Westeuropa) in einer Zeit, die sich durch starke soziale Kontrollbedürfnisse auszeichnete. Eines seiner Hauptinstrumente ist der rechtliche Zwang durch Eingriffe in die Freiheitssphäre der Bürger. Das Strafrecht war nicht länger eine fragmentarische Antwort des Staates auf die schuldhaften Verletzungen wichtiger Rechtsgüter, sondern verwandelte sich in ein flexibles Eingriffsinstrument in Krisensituationen. Dies nennt Hassemer „Modernisierung“ des Strafrechts.11 Zur Verdeutlichung dieses Gesichtspunkts können drei Charakteristika des „modernen“ Strafrechts angeführt werden: Rechtsgüterschutz, Prävention und Ausrichtung an den Konsequenzen. Der Rechtsgüterschutz im „modernen“ Strafrecht ist von einem negativen zu einem positiven Kriminalisierungskriterium geworden. Was klassisch als Kritik am Gesetzgeber formuliert wurde, der sich auf den Schutz eines Rechtsguts stützen musste, um zu kriminalisieren, verwandelte sich zu einer Forderung, um bestimmte Verhaltensweisen zu bestrafen. In diesem Zusammenhang hat sich das Prinzip des Rechtsgüterschutzes zu einem Pönalisierungsgebot umgewandelt. Diese Änderung begrenzt den Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers. Nunmehr verpflichtet das Rechtsgüterschutzprinzip zur Pönalisierung, wobei das „Exzessverbot“ sich zu einem reflexhaften Verbot gewandelt hat.12 10
Hassemer (Fn. 9), S. 6. Hassemer, in: Schünemann (Hrsg.), Festschrift für Claus Roxin, 2001, S. 1005. 12 Hassemer (Fn. 9), S. 7. 11
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Die Prävention, die im klassischen Strafrecht nur ein Nebenziel war, hat sich zu einem herrschenden Paradigma gewandelt. Dadurch wird das „moderne“ Strafrecht in den Bereichen angewandt, in denen die modernen Gesellschaften „große Gefahren“ sehen.13 Auch die Ausrichtung an den Konsequenzen, worin klassischerweise ein Ergänzungskriterium für eine korrekte Gesetzgebung gesehen wurde, hat sich im „modernen“ Strafrecht zu einem Hauptziel gewandelt. Die gegenwärtigen Anforderungen im Bereich des Umweltschutzes oder die feministischen Proteste gegen Diskriminierung sind Indikatoren dafür, dass das Strafrecht als pädagogisches Instrument zur Sensibilisierung der Bevölkerung eingesetzt wird. Die Ausrichtung an den Konsequenzen hat die gerechte Verbrechensbekämpfung an den Rand des Strafrechts gedrängt. Ein anderes Beispiel für die exzessive Entwicklung dieser Orientierung ist die wachsende Tendenz, das Strafrecht nicht mehr als ultima ratio, sondern als einziges Mittel oder „prima ratio“ für die Lösung sozialer Probleme zu benutzen. Alles führt zu der „Dialektik der Moderne“, die das Strafrecht in ein Instrument zur Lösung sozialer Konflikte verwandelt hat, das sich in der öffentlichen Wahrnehmung hinsichtlich seiner Leistungsfähigkeit und Gefährlichkeit nicht von anderen Konfliktlösungsinstrumenten unterscheidet. Das Strafrecht ist trotz seiner harten Elemente ein soft law zur Steuerung der Gesellschaft.14 Eine weitere Folge des „modernen“ Strafrechts ist nach Ansicht Hassemers15 die Korrumpierung des Strafprozessrechts.16 Zur Lösung der vorgestellten Schwierigkeiten schlägt Hassemer vor, das deutsche Strafgesetzbuch auf ein Kernstrafrecht zu reduzieren, welches alle Verletzungen der klassischen individuellen Rechtsgüter und schweren Gefahren sowie einige der in den §§ 306 ff. StGB enthaltenen Tatbestände (Brandstiftung, Trunkenheit im Verkehr, gefährliche Eingriffe in den Luftverkehr) umfassen solle. Außerdem schlägt Hassemer vor, das „moderne“ Strafrecht in ein „Interventionsrecht“ zu überführen, das zwischen dem Verwaltungsrecht und dem Zivilrecht verortet wird und weniger Garantien hat, aber auch nur geringere Sanktionen anwendet. Dies sei angemessener, um auf die neuen Herausforderungen zu antworten und das traditionelle Strafrecht von präventiven Anforderungen zu befreien, welche es nicht erfüllen kann.17 13
Hassemer (Fn. 11), S. 1006 f. Hassemer (Fn. 9), S. 9. 15 Hassemer (Fn. 9), S. 16. 16 Hassemer (Fn. 9), S. 17. 17 Hassemer (Fn. 9), S. 23 f. – Wie Hirsch aufzeigt, stimmt Hassemers Vorschlag eines „Interventionsrechts“ mit dem von Naucke in seinem Werk „Die Wechselwirkung zwischen Strafziel und Verbrechensbegriff“, 1985, S. 38 ff. vorgebrachten Gedanken überein; 14
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2. Wolfgang Naucke, ein einzigartiger Strafrechtler Um die Gedanken von Naucke zu verstehen, dürfen weder der Werdegang dieses scharfsinnigen deutschen Professors noch die Unerbietigkeit seiner Visionen und seine entschiedene Ablehnung von jeglicher Anbiederung an die Macht und deren willkürlicher Ausübung gegenüber dem Individuum aus den Augen verloren werden. Wir erinnern uns an seine kompromisslose Kritik an der Entwicklung des deutschen Strafrechts seit 1871, seine Einwände gegen Beccaria, die „Demythifizierung“ der großen Meister des Strafrechts wie Karl Binding oder Franz von Liszt, seine gegen die „herrschende Meinung“ gerichteten Pfeile, die der deutschen Dogmatik so lieb und teuer sind, seine befürwortende Einstellung hinsichtlich der Bestrafung unter staatlichem Schutz begangener Straftaten – er lehnte sogar die Anwendung des Gesetzlichkeitsprinzips auf sie ab – und seine kritische philosophische Haltung gegenüber den gegenwärtigen Entwicklungen der Rechtstheorie. Kurz gesagt erkennt man in seinen Arbeiten ein konstantes Interesse daran, sie von Gemeinplätzen fernzuhalten und bestimmte, nicht verhandelbare Prinzipien festzusetzen. Unter anderem kritisiert Naucke scharf die Vision der gegenwärtigen Strafrechtler, das Strafrecht sei ausgehend von der Bewegung der Aufklärung des 18. Jahrhunderts modernisiert worden, d. h. es sei säkularisiert, verstaatlicht, rationalisiert, präzisiert und humanisiert worden. Nach dieser herrschenden Auffassung handelte es sich um einen unmerklichen Prozess, der zu einem gerechten Strafrecht führte. Dies ist die Konzeption zweier dem Anschein nach völlig unterschiedlicher Theoretiker: Binding und von Liszt. Jedoch passt die spätere Entfaltung des Strafrechts nicht in diese Entwicklung, insbesondere das Strafrecht der Nationalsozialisten, welches in beruhigender Absicht als ein „perverses Modell“ beurteilt wurde, das von jener historischen Linie abgekommen sei. Naucke behauptet aber, dies sei ein schwaches Argument. Seit der Aufklärung folge ein perverses Modell auf das andere: das Strafrecht der Restauration, das der deutschen Kolonien in Afrika, das gegen politische Feinde nach 1871 angewandte Strafrecht, das des Ersten Weltkrieges, das der Revolutionäre von 1918/1919, das der Sicherungsmaßnahmen gegen Unruhen in der Weimarer Republik, das bestimmter Praktiken nach dem Zweiten Weltkrieg und das in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) gegen die politischen Abweichungen angewandte Strafrecht; sie alle seien ebenfalls „perverse“ Modelle. So sei das, was angeblich eine Ausnahme darstelle, in Wirklichkeit der Normalzustand des Strafrechts.18 vgl. Hirsch, in: Kühne (Hrsg.), Neue Strafrechtsentwicklungen im deutsch-japanischen Vergleich, 1995, S. 12. – Diesem Vorschlag gegenüber kritisch sind: Roxin, in: Kühne, ebd., S. 410 f.; Stratenwerth, in: ZStW 105 (1993), S. 687 ff. 18 Vgl. Naucke, Über die Zerbrechlichkeit des rechtsstaatlichen Strafrechts, 2000, S. V – VIII.
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In seiner Kritik an Beccaria erklärt Naucke, dessen Werk enthalte zwei verschiedene Bilder: Zum einen das des jungen aufklärerischen Denkers, des Humanisten und Kämpfers gegen die sinnlose Brutalität der Strafe und der Folter, der ein Mitbegründer eines auf den Rechtsstaat gegründeten Strafrechts war. Zum anderen offenbart es in subtiler Weise aber auch den Kriminalpolitiker, den Kämpfer gegen Straftaten, den Initiator einer säkularisierten, nicht metaphysischen, rationalen, präventiven, staatlichen und effektiven Kriminalpolitik. In dieser letzten Darstellung finden sich die Wurzeln der im aktuellen Strafrecht gipfelnden Entwicklung. Beccaria war kein Revolutionär; sein Verdienst bestand in der Kritik von Todesstrafe und Folter. Aber in ebendieser Kritik findet sich der Ursprung der Schwäche des seitdem aufgebauten Strafrechts. Denn Beccaria selbst bot dem aufkommenden Rechtsstaat eine neue Begründung des Strafrechts an, die in zwei entgegengesetzte Richtungen führte: die Begrenzung der Macht und gleichzeitig ihre Anerkennung als eine Möglichkeit, die Sicherheit der Bürger durch Effektivität zu stärken.19 Nauckes Arbeit Rechtsphilosophische Grundbegriffe20 ist ein Schlüsselwerk für die Rechtsphilosophie, das in Argentinien dank der Übersetzung von Leonardo Brond unter dem Titel Filosofía del Derecho. Conceptos básicos bekannt ist. In diesem Buch zeigt sich Kants Einfluss auf die Denkweise von Naucke und dessen erbarmungsloser Kritik an den gegenwärtigen Strömungen der Rechtstheorie.21 Für die Vorwürfe, die Naucke gegen die deutsche Dogmatik formuliert, ist seine Einleitung zu dem 2006 erschienenen Neudruck des Buches Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens von Karl Binding und Alfred Hoche beispielhaft, das ursprünglich 1920 veröffentlicht wurde.22 Dort stellt er den Positivismus der Normentheorie von Binding in Frage, der in der Praxis die Umwandlung der Macht in eine Rechtsfigur bedeutet.23 In diesem Überblick muss auch an Nauckes Haltung gegenüber den vom Staat begangenen oder von ihm geschützten Straftaten erinnert werden. Seine Einstellung spielt eine zentrale Rolle in seinem Versuch, das Konzept der politischen Wirtschaftsstraftat zu beschränken. Das Schlüsselwerk hierzu ist Die strafjuristische Privilegierung staatsverstärkter Kriminalität.24 Dieses Buch ist das Ergebnis eines Seminars an der Universität Frankfurt am Main, dessen Gegenstand 19 Vgl.
Naucke, Einführung, in: Beccaria, Von den Verbrechen und von den Strafen, 2005, S. 1 ff.; ders., (Fn. 18), S. 13 ff. 20 Naucke, Rechtsphilosophische Grundbegriffe, 4. Aufl. 2000. 21 Naucke/Harzer, Filosofía del Derecho, 2008, S. 36 ff. 22 Die Neuauflage wurde vom Berliner Wissenschafts-Verlag realisiert. 23 Naucke, Einleitung, in: Binding/Hoche, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, 2006, insbesondere S. LIV. 24 Naucke, Die strafjuristische Privilegierung staatsverstärkter Kriminalität, 1996.
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vom Autor auch am Institut für Kriminalwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin diskutiert wurde. In der Arbeit geht es um ein mögliches Privileg der staatlichen Kriminalität, die außerhalb des strafrechtlichen Bereichs stattfindet. Ausgangspunkt ist der Prozess gegen Erich Honecker, Generalsekretär der SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) und vorletzter Staatschef der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), der unter anderem wegen Totschlags an verschiedenen Personen verurteilt wurde, die versucht hatten, aus dem Land zu fliehen und die Grenze zur Bundesrepublik Deutschland, insbesondere die Berliner Mauer, zu überqueren. Zur Behandlung dieses Problems sieht Naucke die ab 1871 geschaffene deutsche Strafrechtsdogmatik als ungeeignet an. Er kritisiert unter anderem, dass im Mauerschützenfall Besonderheiten der staatlichen Kriminalität außer Acht gelassen wurden. Der Autor greift hier wiederum auf das Studium der Geschichte zurück. Er erinnert an die alten lateinischen Sprüche princeps legibus solutus sowie par in parem non habet imperium und vertritt, dass sie in den Vorschlägen der gegenwärtigen Strafrechtsdogmatik zum Rückwirkungsverbot versteckt wieder erscheinen. Hier zeigt sich auch Nauckes Auffassung von der herrschenden deutschen Ansicht über die Geschichte des Strafrechts, wonach der Zeitraum, in dem eine staatlich bestärkte Kriminalität existierte – der Nationalsozialismus – einen Ausnahmezustand darstelle, der außerhalb jener optimistischen Vision von der kontinuierlichen Entwicklung eines mit dem Rechtsstaat übereinstimmenden Modells stehe (deswegen beurteilt Naucke diese Haltung als eine „Friedensdogmatik“). Nach der Wiederholung seiner Kritiken am Positivismus erklärt er, dass zwei Arten von Strafrecht angewandt würden: In der tagtäglich verfolgten gewöhnlichen Kriminalität sei das positive Recht flexibel, das Rückwirkungsverbot des Strafgesetzes werde beiseitegelassen, wenn dies opportun erscheine, und im strafrechtlichen Denken würden naturrechtliche Argumente benutzt. Hingegen würde für die staatlichen Straftaten eine exakte positive Regulierung sowie eine unbeschränkte Anwendung des Gesetzlichkeitsprinzips gefordert und der Gebrauch des Naturrechts ausgeschlossen. Zur Überwindung dieser dualen Anwendung des Strafrechts befürwortet Naucke die Entwicklung eines zeitgenössischen internationalen Strafgesetzbuchs. Im Übrigen kann anhand dieser Arbeit präzisiert werden, was Naucke unter „politisch“ versteht: die staatliche Intervention, Toleranz, Unterlassung oder sogar Bestärkung krimineller Verhaltensweisen. Auf diese Weise ist die politische Wirtschaftsstraftat die vom Staat tolerierte oder sogar bestärkte Tat. Das Erscheinen von Nauckes neuestem Werk Der Begriff der politischen Wirtschaftsstraftat im Jahr 2012 war zweifellos eine Überraschung, weil er einen energischen Eingriff des Strafrechts in bestimmte Bereiche des gesellschaftlichen Lebens fordert. Er erklärt, dass das Strafrecht gegenüber den Finanzmärkten, die viele für die 2008 ausgelöste weltweite Wirtschaftskrise verantwortlich
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machen, energisch handeln müsse, um die Freiheit des Bürgers zu schützen. Diese dem Anschein nach paradoxe Haltung entfernt ihn ausdrücklich von anderen paradigmatischen Frankfurter Professoren, z. B. von Hassemer und Lüderssen. Dies bedarf einer Erklärung. Um den Rahmen zu verstehen, in dem Naucke dieses Werk schrieb, müssen wir kurz auf die Eigenarten der Wirtschaftskrise, unter der mehrere europäische Länder leiden, auf das kapitalistische System im Allgemeinen, sowie auf die Forderung eingehen, der Staat solle eingreifen und die Finanzmärkte auf energische Weise regulieren. Die Wirtschaftskrise wurde durch die Spekulationsgeschäfte der Banken ausgelöst, die sogenannte „toxische Vermögenswerte“ kauften, das heißt, Werte, die sich auf unterbewertete nordamerikanische Hypotheken stützten. Diese Krise hat zweifellos die in den Achtziger- und Neunzigerjahren erlassenen Normen in Frage gestellt, die zur Deregulierung der Märkte und Zurückhaltung des Staates neigen. Nun wird der Staat jedoch nicht nur herausgefordert, die Banken zu retten, sondern es wird auch von ihm gefordert, die ihm obliegende Rolle wieder einzunehmen. In diesem Zusammenhang wird auch wieder diskutiert, welche Rolle dem Strafrecht angesichts dieser Finanzkrise und insbesondere gegenüber den Hauptakteuren des Finanzsystems zukommt. In dem bereits erwähnten Buch vertritt Naucke eine klare und entschiedene Ansicht. Schon in der Einleitung dieses Werks wirft Naucke die Hauptfrage auf, die er zu beantworten sucht: „Die strafrechtliche Frage, ob es politische Wirtschaftsstraftaten gibt, ob es also Straftaten gibt, deren Strafwürdigkeit in der Vernichtung der Lebensgrundlage vieler Bürger als Folge zu verantwortender wirtschaftlicher Entscheidungen liegt, begleitet die Wirtschafts- und Finanzkrisen der Moderne.“25 Hinsichtlich der Finanzkrise von 2008 vertritt Naucke folgende zentrale Idee: Es handelt sich nicht um einen Fehler des Systems, sondern um Taten, die gemäß dem Gesetz, der Doktrin und der Rechtsprechung strafbar sind, möglicherweise sogar in der Form einer weltweit organisierten Kriminalität. Diese Konzeption kollidiert ihrerseits mit dem von Seiten der Wirtschaftswissenschaften erhobenen Vorwurf, die diese Vorschläge als „populistisch“ und „vereinfachend“ bezeichnen.26 Diese Kritik findet Anklang im Strafrecht. Wie oben aufgezeigt wurde, handelt es sich bei zweien dieser Kritiker um die Frankfurter Professoren Lüderssen und Hassemer, die eine Nauckes Idee diametral entgegengesetzte Lösung vorschlagen. Lüderssen schlägt eine interdisziplinäre Behandlung des Themas 25
Naucke, Der Begriff der politischen Wirtschaftsstraftat – Eine Annäherung, 2012,
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Dies vertritt zum Beispiel Pumple, Wirtschaftskrisen, 2010, S. 7 ff.
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vor. Hassemer empfiehlt hinsichtlich des Wirtschaftsstrafrechts die Konzentration der Strafbarkeit auf die Fälle, in denen sich eine tatsächliche Verletzung von Rechtsgütern ergibt, die Beibehaltung und Sicherstellung eines Kernbereichs, in dem die Wirtschaft sich durch ihre eigene Logik regelt sowie die Festlegung von Verfahren, die im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung Transparenz und Kontrolle ermöglichen und auf beiläufige Weise vom Strafrecht abgesichert werden.27 Die Hauptaspekte des Werkes sind die Definition der Freiheit, die Funktion des Strafrechts und, ausgehend von einer methodologischen Perspektive, unter Rückgriff auf die Rechtsgeschichte eine konstante Kritik an den Entwicklungen der deutschen Strafrechtsdogmatik. Unter starkem kantianischen Einfluss fasst Naucke die Freiheit als die Unabhängigkeit vom willkürlichen Zwang eines anderen auf. Laut Kant ist dies das „einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschlichkeit zustehende Recht“, das selbst der Verletzlichste innehat und das unverletzlich ist. Es ist unabhängig von seiner positiven Anerkennung, von den staatlichen Grenzen und verfassungsrechtlichen Formen; es ist eine Forderung, die keinen Beweis erfordert, und es ist keine Ableitung. Vor dem Hintergrund dieser Freiheitsdefinition formuliert Naucke zwei Unterarten eines allgemeinen Straftatkonzepts: die Wirtschaftsstraftat und die politische Wirtschaftsstraftat. Diese drücken die zentrale Idee einer säkularen Entwicklung des Strafrechts aus, nämlich die Verteidigung der individuellen Freiheit gegen jede überwältigende Macht eines anderen. Diese Konzeption entfernt sich von der Auffassung, das Strafrecht solle zur Steuerung sozialer Prozesse beitragen und sich vom Finanz- und Wirtschaftssystem fernhalten, da dieser Bereich wegen seiner Komplexität nicht vom Strafrecht beherrscht werden könne. Das Konzept der politischen Wirtschaftsstraftat stützt Naucke auf eine Parallele zwischen der politischen Wirtschaftskriminalität und der staatlichen Kriminalität. Dafür greift er auf historische Vorkommnisse zurück: den Vertrag von Versailles von 1919, die Nürnberger Prozesse, die von 1947 bis 1949 zur Ahndung von mit dem nationalsozialistischen Regime verbundenen Straftaten stattfanden, den Prozess gegen den ehemaligen „starken Mann“ der DDR, Erich Honecker, das 2010 begonnene Verfahren gegen den Premierminister von Island sowie die Untersuchung neuerer Fälle der deutschen Rechtsprechung. All diese Fälle ermöglichen es ihm, § 266 StGB zu analysieren. Naucke überprüft auch die Straftatbestände der strafbaren Insolvenz sowie den Druck, den Gruppen aus Politik und der Finanzwelt ausüben, damit das deutsche Parlament wirtschaftliche Hilfen für Institutionen verabschiedet, die vom Konkurs bedroht sind (dies stuft er als echte Erpressungen im strafrechtlichen Sinne ein). 27 Lüderssen, in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Die Handlungsfreiheit des Unternehmers, 2009, S. 21 ff.; Hassemer, in: Kempf/Lüderssen/Volk, ebd., S. 29 ff.
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Die Aktualität des Werkes wird dadurch bekräftigt, dass Nauckes Untersuchungen sich nicht auf die hier beschriebenen Aspekte beschränken, sondern er auch Institutionen überprüft, die heutzutage intensiv diskutiert werden: die sogenannte „Compliance“, die er als einen Arbeitsbereich zur Vermeidung von staatlich verstärkten Wirtschaftsstraftaten ansieht und die er mit Präventionsmaßnahmen der allgemeinen Kriminalität vergleicht, sowie die Debatte um den Corporate Governance Kodex, den Bereich der Wirtschaftsethik und die Initiative der Vereinten Nationen, die sich in ihrem sogenannten Globalen Pakt ausdrückt. Naucke sagt voraus, dass all diese neuen Gebiete die Vorreiter eines zukünftigen Finanzmarktstrafrechts sind, das die individuelle Freiheit schützt.
III. Die Frankfurter Philosophische Schule Zum inneren oder äußeren Kreis der Frankfurter Philosophischen Schule gehören der Psychoanalytiker Erich Fromm, der Philosoph Herbert Marcuse, der Philosoph und Soziologe Theodor W. Adorno, die Politologen Franz Neumann und Otto Kirchheimer, der Literaturkritiker, Philosoph und Essayist Walter Benjamin, der Literatursoziologe Leo Löwenthal, der China- und Asienexperte Karl August Wittfogel sowie der Mentor dieser Strömung Max Horkheimer.28 Sie stellten einen Wendepunkt zwischen den ausgedehnten philosophischen Erzählungen und dem Bruch des utopischen Gedankens des 20. Jahrhunderts dar. Sie sahen die Barbarei des Nationalsozialismus voraus, die Verwandlung der Kunst in Industrie, die Vernunft als Mittel der Kontrolle und Unterdrückung.29 Aus Platzund Zeitgründen wird die Untersuchung auf die „ersten“ Mitglieder der Schule beschränkt und der Schwenk zur Hermeneutik und zum Pragmatismus ebenso beiseitegelassen wie der Diskurs, den die kritische Theorie nach dem Zweiten Weltkrieg mit Jürgen Habermas erfuhr.30 Mit der Frankfurter Schule begibt sich die Kritik auf eine Ebene, auf der sich die Philosophie noch nie betätigt hatte. Sie versucht, die perversen Mechanismen der Kulturindustrie zu demontieren: das Kino, den Jazz, das architektonische Design, die leichte und „klassische“ Musik, das Radio, das Fernsehen, die Populärwissenschaft. Die Arbeiten der Frankfurter Schule sind in Lateinamerika und hauptsächlich in Argentinien stärker als in Europa Jahr für Jahr Gegenstand erneuter Studien und Untersuchungen.31 28
Wiggershaus, Max Horkheimer zur Einführung, 1998, S. 13 f. Entel, in: Entel/Lenarduzzi/Gerzovich (Hrsg.), Escuela de Frankfurt 2004, S. 10. 30 Frankenberg, in: Academia, Jahrgang 9 (2011), S. 73 f. 31 Zur Rezeption der Frankfurter Schule in Lateinamerika vgl. Entel/Lenarduzzi/ Gerzovich (Fn. 29), S. 201 ff. 29
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Zur Festlegung einiger Hauptmerkmale dieser Schule sollen hier beispielhaft Adorno und Horkheimer durch eine Zusammenfassung ihrer Biographien und deren Verflechtung mit ihren wesentlichen Gedanken vorgestellt werden. 1. Der Ursprung des Instituts für Sozialforschung Der Ursprung dieses Instituts, das die Frankfurter Schule hervorrief, steht in enger Verbindung mit einem in Argentinien geborenen Intellektuellen und Mäzen: Lucio Félix José Weil. Der als Sohn eines reichen Getreidehändlers32 geborene Félix Weil ist nur für die Finanzierung des Instituts33 bekannt, nicht aber für sein akademisches Werk. Aus diesem sticht The Argentine Riddle hervor, in dem Weil seine Qualitäten als Historiker und Wirtschaftswissenschaftler zeigt und eine der besten Arbeiten seiner Zeit über die Wohlstandsverteilung in Argenti nien hervorbringt. Das Werk wurde 1944 in New York veröffentlicht und erst 2010 ins Spanische übersetzt.34 Trotz der Finanzierung des Instituts durch Weil lag der Interessensschwerpunkt des Instituts nicht auf Argentinien. Nur Weil widmete dem Land neben dem schon erwähnten Argentine Riddle wichtige Studien. Unter ihnen ist die in Deutschland geschriebene Arbeit Die Arbeiterbewegung in Argentinien hervorzuheben.35 2. Theodor W. Adorno Adorno wurde am 11. 07. 1903 in Frankfurt geboren. Der Sohn eines zum Protestantismus konvertierten jüdischen Vaters – Oskar Wiesengrund – und einer 32 Die Familie Weil kam Ende des 19. Jahrhunderts nach Argentinien und wurde durch die von Hermann Weil, Félix’ Vater, gegründete Getreidefabrik sehr schnell reich. Anstatt sein Vermögen für Reisen oder den Bau von Palästen auszugeben, wie es die argentinische Oligarchie zu tun pflegte, kam Félix kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs nach Deutschland. 1931 kehrte er nach Argentinien zurück und arbeitete mit den konservativen Regierungen jener Zeit zusammen, um eine Steuer auf Kapitalerträge einzuführen und sein Hauptwerk, El enigma argentino, zu schreiben. Vgl. Rapoport, Bolchevique de salón. Vida de Félix J. Weil, 2014, S. 21 ff.; Scarfó, Estudio preliminar, in: Weil, El enigma argentino, 2010, S. I f. 33 Das Institut für Sozialforschung wurde in den Zwanzigerjahren ins Leben gerufen. Hermann Weil, ein in Argentinien lebender deutscher Kaufmann leistete auf Anregung seines Sohns eine jährliche Zuwendung von 120.000 Reichsmark für die Gründung und die Erhaltung des Instituts. „[…] Weils Spenden waren zwar nicht enorm, ermöglichten aber die Errichtung und den Unterhalt einer Institution, deren finanzielle Unabhängigkeit sich während ihrer gesamten späteren Historie als ein großer Vorteil erwies […]“. Vgl. Jay, La imaginación dialéctica, 1991, S. 32 f. 34 Die Übersetzung und Vorarbeiten wurden von Daniel Scarfó vorgenommen; für die 2010 erfolgende Veröffentlichung unter dem Titel El enigma argentino in der Reihe Los raros war die Biblioteca Nacional (Nationalbibliothek) verantwortlich. 35 Weil, Die Arbeiterbewegung in Argentinien, 1923.
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berühmten italienischen Künstlerin – María Calvelli-Adorno della Piana – besaß laut Thomas Mann ein ähnliches Genie wie Benjamin.36 Er wuchs in einer Familienatmosphäre voller theoretischer, politischer, künstlerischer und vor allem musikalischer Interessen auf. Er hatte eine glückliche Kindheit und Jugend, die nur von seinen groben Mitschülern getrübt wurde, die Adorno selbst als „Boten des Faschismus“ beschrieb.37 Diese bitteren Jugenderfahrungen bildeten das Fundament seines gegen die „konformistische Identität“ gerichteten Charakters, die er ab den Zwanzigerjahren mit innovativen soziologischen Methoden studierte. Sein alter Freund Siegfried Kracauer bildete ihn philosophisch aus und schon in seinen Studentenjahren tat sich Adorno als brillanter und einflussreicher Musikkritiker hervor. Er trat früh in Kontakt mit der Schönberg-Schule, wo er Musikkomposition und Klavier bei Alban Berg studierte, zwei Aktivitäten, die ihn den Rest seines Lebens begleiteten.38 Während seines ganzen Lebens entschied sich Adorno nie für die Musik oder die Philosophie, sondern widmete beiden die gleiche Aufmerksamkeit. Laut Thomas Mann verfolgte er in beiden Bereichen dasselbe Ziel; gleichzeitig fanden sein dialektisches Denken und seine philosophisch-historisch-soziale Tendenz eine Grenze in seiner Passion für die Musik. Sein Studium der Philosophie, Musikwissenschaft, Psychologie und Soziologie bei Hans Cornelius, der auch Professor von Horkheimer und ein Urenkel des Malers Peter Cornelius, dem Freund von Goethe, war, beendete Adorno im Alter von 21 Jahren.39 Nach einem Jahr in Wien kehrte er nach Frankfurt zurück, wo er seinen Kontakt zum Institut für Sozialforschung intensivierte, mit dessen Direktor, Horkheimer, er schon seit Studienzeiten an der Universität verbunden war.40 36 Mann, Die Entstehung des Doktor Faustus, Roman eines Romans, S. 708 ff. (zitiert nach Schweppenhäuser, Theodor W. Adorno zur Einführung, S. 7). Zum Werk und Leben von Benjamin siehe Scholem, Walter Benjamin y su ángel, 2003; Adorno, Sobre Walter Benjamin, 1995. 37 Adorno, in: Tiedemann (Hrsg.), Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 217 (zitiert nach Schweppenhäuser [Fn. 36], S. 7 f.). 38 Vgl. Aguilera, in: Adorno, Actualidad de la filosofía, 1991, S. 12. Dieses Werk stellt Adornos Antrittsvorlesung als Universitätsprofessor dar. 39 Horkheimer selbst erzählte, dass Hans Cornelius zwar Professor war, gleichzeitig aber der Universität und seinen Kollegen kritisch gegenüberstand; er lehrte sie, dass sie, um Philosophen zu sein, die Naturwissenschaften kennen sowie etwas über Kunst, Musik und Komposition wissen müssten. Er selbst gab ihnen sein Wissen auf diesen Gebieten weiter. Vgl. Horkheimer in: Brede (Hrsg.), Gesellschaft im Übergang, 1981, S. 162. 40 Laut Horkheimer sollte das Institut privat und unabhängig vom Staat sein, ein Treffpunkt für diejenigen Personen, die gemeinsam wichtige Themen für die Gegenwart der Gesellschaft studieren wollten. Nach dem Tod seines ersten Direktors durch einen Herzin-
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Das Institut untersuchte vor allem die Gründe für den Prozess der Selbstauflösung der deutschen Gesellschaft, der – wie seine Mitglieder warnten – zu einem totalitären Staat führen müsse. Um die Gründe zu verstehen, aus denen die herrschenden Klassen nicht nur ihre Herrschaft entgegen ihren eigenen Interessen aufgaben, sondern sich außerdem mit ebenjenen Vorstellungen identifizierten, die ihren eigenen Interessen entgegenstanden, vereinte die in dem Institut erarbeitete kritische Theorie marxistische Gesichtspunkte mit sozialpsychologischen Aspekten und begann gleichzeitig, bis dahin unbekannte empirische Methoden der Sozialforschung anzuwenden. In dem von Horkheimer geleiteten Institut hatte die Philosophie die Aufgabe, die Forschungen systematisch in einer materialistischen Theorie zu vereinen, welche die noch nicht stattgefundenen sozialen Revolutionen erklären sollte, in der Hoffnung, so zu ihrem Geschehen beizutragen.41 In dem Institut arbeitete Adorno als Musiktheoretiker zusammen mit Marcuse, Löwenthal und Fromm an einer interdisziplinären Theorie, die auf die kritische Theorie der sozialen Entwicklung angewendet wurde. Adorno trat dem Institut nicht in der produktiven Phase der interdisziplinären Arbeit bei, sondern erst Ende der Dreißigerjahre, als diese Arbeitsweise in die Krise geriet. Vielleicht kann der Grund für diesen späten Beitritt in den unterschiedlichen Haltungen gefunden werden, die Horkheimer und er in Bezug auf die Philosophie hatten. Für Horkheimer handelte es sich nicht um eine rein theoretische, sondern eine praktisch-theoretische Angelegenheit: Die Philosophie – das Denken – müsse sich in der Geschichte verwirklichen, um ihren Sinn zu erfüllen, nämlich das Recht auf Glück derjenigen zu realisieren, die Opfer der Geschichte sind. Für Adorno enthielt die Philosophie eine Wahrheit, die sich den Wissenschaften entzieht. Sie ist der Theologie näher, wenn auch einer wie schon bei Benjamin materialistisch interpretierten Theologie.42 Außerdem untersuchte Adorno den sozialen Gehalt der Musik, um Informationen über den Doppelcharakter der Kunstwerke zu erhalten, die er gleichzeitig als autonome Bereiche und determinierte soziale Produkte konzeptualisierte.43 Aus den ästhetischen Gesetzen, die dem musikalischen Werk Form geben, leitete er Elemente für die soziologische Analyse und vor allem für die Ausübung von Kritik ab, denn er meinte, dass er ausgehend von diesem Spezialbereich Schlussfolgerungen für die gesamte Gesellschaft ziehen könne. Folgendes Beispiel kann diese Denkweise aufzeigen: Er sah den Jazz als ein Produkt der Kulturindustrie mit starker Anziehung in der Massengesellschaft. Laut Adorno war es farkt wurde Horkheimer zum Direktor gewählt. Die erste gemeinsame Arbeit war „Autorität und Familie“; vgl. Horkheimer (Fn. 39), S. 162. 41 Schweppenhäuser (Fn. 36), S. 9. 42 Sánchez, in: Horkheimer/Adorno, Dialéctica de la Ilustración, 4. Aufl. 2001, S. 19 ff. 43 Schweppenhäuser (Fn. 36), S. 10.
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eine dürftige musikalische Struktur, in welcher die Komponisten nichts anderes waren als Schildknappen der Beherrschung.44 Parallel zu seinen Musikstudien erarbeitete er seine Habilitationsschrift über Kierkegaard. Zur gleichen Zeit lernte er seinen Meister Benjamin kennen und freundete sich mit ihm an.45 1931 habilitierte er sich an der Universität von Frankfurt, wo er Philosophie lehrte, bis die Verfolgung durch die Nationalsozialisten ihn zwang, in die USA zu emigrieren. Auch wenn er die Kultur dieses Landes nie völlig akzeptierte, war er dennoch dafür dankbar, dass er dort die Fähigkeit erlernte, Kulturen von außen zu betrachten. Er schätzte auch, dort wesentliche Formen der Demokratie zu erfahren. So erachtete er die Regeln des demokratischen Spiels in Deutschland als bloß formell. Adorno bezeichnete diese persönliche und gesellschaftliche Erfahrung mit einem von Marx und Engels stammenden Konzept, das er schon vor seinem Exil als zentral ansah: dem realen Humanismus. Er wies darauf hin, dass sogar in den Demokratien Tendenzen bestünden, die zum totalitären Staat führen können. Mit der Kritik an der Kulturindustrie in den USA, die inzwischen durch ihre weltweite Kommerzialisierung den Charakter einer „Massenkultur“ erlangt hatte, trug Adorno aus dem Exil dazu bei, die Vorstellung der demokratischen Gesellschaft und ihre ambivalenten Tendenzen zu skizzieren. Seiner Ansicht nach bestand der interne Widerspruch der Kultur darin, Menschlichkeit auf Grundlage einer – sich schließlich selbst widerlegenden – Gesellschaftsordnung zu versprechen, die als Kulturindustrie in ihrer völligen Unterwerfung unter die Regeln der Warenproduktion inhuman und repressiv war. Es war kein Zufall, dass er den autoritären Charakter in demokratischen Ländern untersuchte: Er maß die Tendenz zur Selbstunterhöhlung mittels einer Skala, die später weltweite Berühmtheit erlangen sollte. Während seines Aufenthalts in den USA verfasste Adorno auf dem Gebiet der Musiktheorie die Werke Versuch über Wagner und Philosophie der neuen Musik; im Bereich der Philosophie Minima Moralia, und zusammen mit Horkheimer die Dialektik der Aufklärung. 1949 kehrte er nach Frankfurt zurück. Als er Anfang der Sechzigerjahre nach den Gründen für seine Rückkehr gefragt wurde, führte er „[…] die Kontinuität seiner eigenen Existenz […]“, die enge dialektische Verbindung seines Denkens mit der deutschen philosophischen Tradition, die Sprache und sein Gefühl an, dass er sich dort frei von dem Druck des Marktes und der öffentlichen Meinung fühlen würde. 44
Adorno, Zeitlose Mode, Bd. 10-I, 1977, S. 129, 805. Adorno und Benjamin lernten sich 1923 kennen. Ihre Freundschaft bekam einen entscheidenden Schub nach einer Reihe von Gesprächen, die sie 1929 führten, und durch die sie sich fortan gegenseitig inspirierten. Ausführlicher dazu s. Muñoz, in: Correspondencia 1928 – 1940. Theodor W. Adorno y Walter Benjamin, 1998, S. 9. 45
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Seit jenem Jahr hatte er eine Stelle als außerordentlicher Professor in Philosophie und Musikwissenschaften an der Universität Frankfurt inne, die sich sieben Jahre später in einen ordentlichen Lehrstuhl umwandeln sollte. Ab 1950 leitete er zusammen mit Horkheimer das wiedergegründete Institut für Sozialforschung. In den Sechzigerjahren wurde er zu einem der wichtigsten Intellektuellen der jungen Bundesrepublik. Zwischen 1963 und 1968 war er Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und sein Einfluss ging durch ständige Beiträge in Rundfunk und Presse über den universitären und intellektuellen Bereich hinaus. In diesen Jahren war er zum Beispiel ein vehementer Verfechter der Liberalisierung des Strafrechts.46 Sehr wichtig war für Adorno außerdem der Kampf gegen das Vergessen in der deutschen Gesellschaft, die anfing, das Wirtschaftswunder zu erleben. Mitte der Sechzigerjahre verwandelte sich die Frankfurter Schule schnell in die Mentorin der hauptsächlich studentischen Protestbewegungen. Die Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg, die „Kommune 1“, die Ermordung Benno Ohnesorgs und das Attentat gegen Rudi Dutschke beeinflussten das politische Klima der Bundesrepublik in den folgenden Jahren. Schnell zeigte sich, dass zwischen Adorno und der Protestbewegung offensichtliche Übereinstimmungen hinsichtlich der Gesellschaftskritik, aber Unterschiede bezüglich der Mittel zur Erreichung von Veränderungen bestanden. Adorno solidarisierte sich öffentlich mit den Studentenprotesten, die sich nicht nur auf die Reform der Universität richteten, sondern auch gegen die gesellschaftlichen Übereinstimmungen mit dem Nationalsozialismus. Seine wesentliche Differenz zu den jungen Demonstranten bestand in der Ablehnung von Gewalt, weil er nur friedliche, sich innerhalb des Grundgesetzes bewegende Handlungen akzeptierte.47 In diesen letzten Jahren konzentrierte sich die philosophische Arbeit Adornos auf zwei Werke: Negative Dialektik (1966) und Ästhetische Theorie (1970). Nach einem Vorfall mit Studenten der Universität Frankfurt begann eine Kampagne gegen ihn wegen der Herausgabe der Schriften Benjamins. Ihm wurde ungerechtfertigterweise vorgeworfen, während seiner Exilzeit die Abhängigkeit Benjamins vom Institut für Sozialforschung ausgenutzt und später dessen Schriften gefälscht zu haben. Nachdem er an einem Strafprozess gegen einen seiner Schüler, Hans-Jürgen Krahl, teilgenommen hatte, begab er sich in die Schweiz in den Urlaub, wo er am 6. August 1969 an einem Herzinfarkt verstarb.48 46
Schweppenhäuser (Fn. 36), S. 13 f. Adorno, Band 20.1, S. 399 (zitiert nach Schweppenhäuser [Fn. 36], S. 15 f.). 48 Krahl, ein brillanter und leidenschaftlicher Studentenführer, ein scharfsinniger und kritischer philosophischer Schriftsteller und Hilfskraft am Lehrstuhl von Adorno, starb auch 1969 – kurz vor seinem Meister, mit dem er sich in offenem Streit befand – bei einem Autounfall (vgl. Domenech, in: Habermas, Historia y crítica de la opinión pública, 1981, S. 12). 47
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3. Max Horkheimer Die Biographie von Horkheimer ist untrennbar mit seinen vielfältigen Aktivitäten verbunden. „Philosophie ist dazu da, daß man sich nicht dumm machen läßt.“ Dieser aus einem Vortrag über Schopenhauer und die Gesellschaft stammende Satz fasst die zentrale Idee seines gesamten Denkens zusammen. Dazu gesellt sich der Glaube – oder die Hoffnung –, dass die Demaskierung der Lüge und der Illusionen befreiend wirken kann. Wer Macht- und Ungerechtigkeitsstrukturen aufdeckt, wer die Ausschlussmechanismen entlarvt, erhöht die Möglichkeiten der Selbstbestimmung und der gesellschaftlichen Beziehungen.49 a) Lebenslauf und akademische Karriere Horkheimer wurde 1895 in der Nähe von Stuttgart geboren. Als Sohn eines Multimillionärs und Textilfabrikanten wurde er schon mit zwanzig Jahren Leiter der väterlichen Fabrik; mit dreißig war er Privatdozent für Philosophie an der Universität Frankfurt und Direktor des Instituts für Sozialforschung; später war er Direktor desselben Instituts im Exil und nahm diesen Posten auch nach seiner Rückkehr nach Deutschland wieder ein. Mitte der Vierzigerjahre war er Direktor des Department of Scientific Research of the American Jewish Committee; zwischen 1951 und 1953 war er Rektor der Universität Frankfurt und zusammen mit Konrad Adenauer und Theodor Heuss einer der höchsten Vertreter des deutschen Staates. Er war zudem Ehrenbürger der Stadt Frankfurt, als Gründer der Frankfurter Schule anerkannt und auch nach seiner Pensionierung ein gefragter Redner und Teilnehmer an Diskussionsforen. Bis zu seinem Tod im Jahr 1973 war er Gesprächspartner in zahlreichen Interviews und schrieb Zeitungsartikel mit seinen Ansichten über Religion, Gesellschaft, die Welt und das Individuum sowie die kritische Theorie. Ein Leben voller Wohlstand, Anerkennung und Ruhm, ohne Not oder Tiefschläge, mit guten Freunden und einer treuen Ehefrau; ein so prächtiges Leben, das es fast unmöglich macht, sich die katastrophalen Zeiten vorzustellen, in denen es stattfand.50 Ein erfolgreicher und in einer kapitalistischen Gesellschaft gut angesehener Bürger zu sein, war Horkheimers Albtraum; um dies zu verhindern und sich völlig von seinem Vater oder anderen Stuttgarter Multimillionären zu unterscheiden, verschwor sich Horkheimer mit seinem alten Freund Friedrich Pollock.51 Ihre Freundschaft sollte „Ausdruck eines kritisch-humanen Elans“ sein und zur „Schaffung der Solidarität aller Menschen“ dienen. Sein eigener Wohlstand im Vergleich zur Armut anderer verursachte Horkheimer sowohl in seiner Jugend als auch als Erwachsener Gewissensbisse. „Wir sind Menschenfresser, die sich 49
Wiggershaus (Fn. 28), S. 8. Wiggershaus (Fn. 28), S. 10. 51 Eine der etwas in Vergessenheit geratenen Figuren der Frankfurter Schule ist Friedrich Pollock, dem Adorno und Horkheimer ihre Dialektik der Aufklärung widmeten. 50
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darüber beklagen, dass das Fleisch der Geschlachteten Bauchweh macht. […] Wir sind Ungeheuer, doch wir sind zuwenig gequält“, schrieb er 1916 als 21-Jähriger seinem Vater in einem Brief. 1956 erklärte er in einer Aufzeichnung: „Wir dürfen uns nicht beklagen, was auch kommt, denn wir sitzen ruhig und bequem in unseren Fauteuils, wir dinieren und diskutieren, wenngleich wir wissen, dass die Hölle los ist. Auch wir gehören zu den Teufeln – auch wir – […]“.52 Wie viele seiner Generation, die aus wohlhabenden und angesehenen bürgerlichen Familien stammten, führte die Weigerung, so wie sein Vater zu sein, ihn zu einer antikapitalistischen, antiautoritären und kulturkritischen Anschauung, zu einer „roten Assimilation“, das heißt, der Verbindung der eigenen Emanzipation mit derjenigen der Arbeiterbewegung, statt zu einer konservativen oder nationalistisch-jüdischen Haltung.53 Als 1927 der Direktor des Instituts für Sozial forschung einen Herzinfarkt erlitt, erhielt er die Gelegenheit, die Widersprüche zu überwinden, in denen sich sein Leben entwickelte. Mit Pollocks Unterstützung – der seinerseits ein Freund von Weil, dem Mäzen des Instituts, war – wurde Horkheimer als sein Nachfolger gewählt. Gleichzeitig bekam er die Stelle als ordentlicher Professor für Sozialphilosophie und bereits Anfang der Dreißigerjahre hatte das Institut ein neues Programm, eine neue Zeitschrift und neue Mitarbeiter. Es sollte nicht mehr in der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart geforscht werden. Die Sichtweise sollte nicht mehr die der – in ihrer Reichweite begrenzten – Wirtschaftsgeschichte sein, sondern die eines multidisziplinären Materialismus, der unter anderem die psychologische Analyse und die analytische Sozialpsychologie beinhaltete. Unter der Leitung eines Sozialphilosophen sollten sich Soziologen, Wirtschaftswissenschaftler, Historiker und Psychologen in einem langlebigen Gremium vereinen, um eine Theorie der aktuellen Epoche zu schaffen, die es ermöglichen würde, die Krise der marxistischen Theorie zu überwinden. Mit seinem charismatischen Führungsstil wurde Horkheimer der Mentor der später sogenannten Frankfurter Schule. 1933 wurde er Opfer der ersten nationalsozialistischen Verfolgung, die mit der Entlassung aller jüdischen, kommunistischen und sozialdemokratischen Beamten begann. Nach einem kurzen Aufenthalt in Genf emigrierte er in die USA, wo er an der New Yorker Columbia-Universität die Aufgaben des Instituts fortführte, welches dann „Institute for Social Research“ genannt wurde. Seine wichtigsten Arbeiten stammen aus seiner Zeit im Exil: Studien über Autorität und Familie, die zusammen mit Adorno verfasste Arbeit Dialektik der Aufklärung und Eclipse of Reason.54 52 Nachschrift der Tonbänder „Biographisches Interview“ mit Ernst von Schenck, Max-Horkheimer-Archiv, X 132 b, S. 220 (zitiert nach Wiggershaus [Fn. 28], S. 11). 53 Wiggershaus (Fn. 28), S. 11. 54 Wiggershaus (Fn. 28), S. 14.
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Horkheimer und Adorno übergaben der Öffentlichkeit den Text ihres Werkes Dialektik der Aufklärung nur mit äußerster Vorsicht. Hinter der ersten, 1944 vervielfältigten Auflage (mit dem Namen Philosophische Fragmente) standen keine wirtschaftlichen Interessen, da ihre 500 Exemplare sorgfältig verteilt wurden. Mit diesem Text strebten die Autoren nicht nach Ruhm, sondern sie – vor allem Horkheimer – taten im Gegenteil alles, um seinen Vertrieb und seine Auswirkung zu begrenzen.55 Trotz des Exils und der schwierigen Arbeitsbedingungen konnte sich das Institut – wenn auch zweigeteilt – erhalten. Horkheimers Zeit in den USA war aber von Krisen und Beklemmung geprägt. Das Institut musste sich gegen den Verdacht des Marxismus verteidigen und litt bei seinen Forschungen unter finanziellen Schwierigkeiten. Während dieser Zeit sprachen die Mitglieder des Instituts weiterhin Deutsch: Ihrem Selbstverständnis nach hatte die deutsche Kultur sie ins Exil begleitet, und sie hatten die Mission, sie zu schützen.56 Mit seiner ersten Reise nach Deutschland zwischen 1948 und 1949 begann die dritte Phase in Horkheimers Karriere und die Rückkehr an das Institut. b) Die kritische Theorie Horkheimers Hauptverdienst war die Ausarbeitung der kritischen Theorie. Wie er selbst anerkannte, beeinflussten die Philosophen Schopenhauer und Marx ihn zu Beginn seines Gedankenansatzes entscheidend. In den Werken, in denen Horkheimer die kritische Theorie entwickelt, kann weder eine Verleugnung der Moderne und ihrer emanzipatorischen Ideale gefunden werden, noch ein unheilbares Misstrauen gegen sie oder ein radikaler Skeptizismus gegenüber der Macht der Vernunft. Was dort hinterfragt wird, ist gerade der „Fundamentalismus“ der Moderne, der schon als Horkheimer die Theorie in den Dreißigerjahren erarbeitete, verhinderte, dass die freien und demokratischen Gesellschaften die irreführende Freiheit der Revolution bis zur Gerechtigkeit fortführten, und der später zur „Risikogesellschaft“ führte. Daher ist die Seele seiner Werke nicht die Leugnung der Moderne und ihrer Rationalität, sondern die Kritik an der Logik, die sie wie eine unkontrollierte Furie blind zu ihrer eigenen Selbstzerstörung und Selbstverleugnung treibt, die alles auf die Gleichförmigkeit, Gleichwertigkeit, Gleichheit, die pure Immanenz des Gegebenen reduziert und die den Sinn und die Dichte des Andersartigen, des Anderen, des Individuums beseitigt. Ziel der kritischen Theorie ist also, eine selbstkritische und selbstreflexive Aufklärung zu fördern.57 55
Sánchez (Fn. 42), S. 14 ff. Horkheimer (Fn. 39), S. 162. 57 Sánchez, in: Horkheimer, Anhelo de Justicia, 2000, S. 14 f. 56
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Horkheimer vertritt, dass die kritische Theorie klar von der traditionellen Theo rie unterschieden werden muss, um ihre Bedeutung zu verstehen. Was ist die traditionelle Theorie? Was ist Theorie im Sinne der Wissenschaft?58 Eine einfache Definition der Wissenschaft lautet, dass die Ordnung der Dinge in unserem Bewusstsein uns befähigt, das Wahre am richtigen Ort in Raum und Zeit zu erkennen. Diese Definition ist auch für die Geisteswissenschaften gültig: Wenn ein Historiker etwas mit dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit hervorhebt, dann muss er in der Lage sein, dies in den Archiven nachzuweisen. In diesem Sinne ist die Richtigkeit das Ziel oder der Zweck der Wissenschaft; aber (und dies ist das erste Motiv der kritischen Theorie) die Wissenschaft selbst weiß nicht, warum sie die Tatsachen in dieser Richtung anordnet und sich auf bestimmte Gegenstände und nicht auf andere konzentriert. Der Wissenschaft fehlt die Selbstreflexion, um die sozialen Grundlagen und Gründe zu kennen, aus denen sie sich nicht auf die Suche nach dem Wohlergehen aller Menschen begibt. Nach Horkheimer sollte die Wissenschaft gegenüber ihrem Verhalten und der Gesellschaft, die sie erzeugt, selbstkritisch sein. Die kritische Theorie entstand außerdem aus der Feststellung heraus, dass einige der Vorhersagen von Marx falsch waren. Erstens hatte der Autor von Das Kapital erklärt, die Revolution sei ein Ergebnis der immer stärkeren Wirtschaftskrisen, verbunden mit der zunehmenden Verarmung der Arbeiterklasse in allen Ländern. Dies würde das Proletariat schließlich dazu bringen, diesem Zustand ein Ende zu setzen und eine gerechte Gesellschaft zu schaffen. Jedoch ging es der Arbeiterklasse schon in den Sechzigerjahren bedeutend besser als zu Marx’ Zeiten. Viele Arbeiter waren von bloßen Handwerkern zu Angestellten mit einem höheren gesellschaftlichen Status und besserem Lebensstandard aufgestiegen. Außerdem war die Zahl der Angestellten im Gegensatz zu der der Arbeiter in dieser Zeit ständig gewachsen. Zweitens war bis dahin deutlich geworden, dass die Wirtschaftskrisen immer seltener geworden waren und außerdem mit wirtschaftspolitischen Eingriffen verhindert werden konnten. Schließlich war das, was Marx sich von der gerechten Gesellschaft erwartete, wahrscheinlich falsch, denn für die kritische Theorie sind Freiheit und Gerechtigkeit sowohl verbunden als auch entgegengesetzt: je mehr Gerechtigkeit, desto weniger Freiheit. Für Horkheimer müssen den Menschen viele Dinge verboten werden, insbesondere, sich über die anderen zu erheben, wenn man Gerechtigkeit walten lassen will. Aber je mehr Freiheit es gibt, desto mehr Personen wird es geben, deren Macht sich entwickelt und die schließlich in der Lage sein werden, die anderen zu unterwerfen; daher gibt es dann auch weniger Gerechtigkeit.59 Laut Horkheimer hat die Gesellschaft einen ganz anderen Weg eingeschlagen und sich zu einer völlig verwalteten Welt entwickelt. Er erklärte, „daß alles gere58 59
Horkheimer (Fn. 39), S. 162. Horkheimer (Fn. 39), S. 164 f.
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gelt sein wird, alles!“. Es gibt eine der Entwicklung der Menschheit immanente Tendenz, alles zu regeln, die aber durch Katastrophen, sogar durch solche terroristischer Art, unterbrochen werden kann. Symptome oder Beispiele hierfür sind Hitler und Stalin, die schnell vom Mittel der Gleichschaltung Gebrauch machten und all diejenigen eliminierten, die sich nicht anpassten. Diese Art von Katas trophen kann ein Konkurrenzdenken hervorrufen, das vom Individuum auf den Staat übertragen wird und von diesem auf die Blöcke, die zu Kriegen führen, welche die ganze erreichte Entwicklung zerstören können.60 Irgendwann hörte die kritische Theorie auf, für die Revolution zu kämpfen, denn ihre Vertreter dachten, dass diese nach dem Fall des Nationalsozialismus in den westlichen Ländern zu einem neuen Terrorismus, zu einer weiteren schrecklichen Situation führen könnte. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass Horkheimers Denken einen kritischen und kontrafaktischen Pessimismus gegenüber der Realität ausdrückt – gegenüber der Logik der Macht, gegenüber dem, was in der Geschichte triumphiert – und es solidarisch mit dem ist, was in diesem Rahmen übergangen, ausgegrenzt und vergessen wurde. Gerade von diesem Rahmen aus proklamiert der späte Horkheimer die Gültigkeit der Religion.61
IV. Schlussfolgerungen Die hier durchgeführte Untersuchung offenbart, dass zwischen der Frankfurter Philosophischen Schule und den Frankfurter Strafrechtlern Berührungspunkte bestehen, die über den geographischen Rahmen hinausgehen. Es genügt, an die ähnlichen Haltungen während des Liberalisierungsprozesses des deutschen Strafrechts in den Sechzigerjahren zu erinnern, insbesondere die Untersuchung von Hassemer, in der er feststellt, dass sich in unserer Disziplin dasselbe Phänomen ereignet hat, welches Adorno und Horkheimer für die Dialektik der Aufklärung nachgewiesen hatten: Die Kritik am modernen Strafrecht, das sich auf die von Ulrich Beck sogenannte „Risikogesellschaft“ konzentriert, welche eine Folge der gleichen partiellen Entwicklung der aufklärerischen Ideale ist. Es bestehen jedoch auch grundlegende Unterschiede. Die Frankfurter Philosophen hatten weder das Strafrecht noch seine Entwicklungen zum Hauptgegenstand. Hier können nur die Arbeiten von Otto Kirchheimer und Franz Neumann genannt werden.62
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Horkheimer (Fn. 39), S. 166. Sánchez (Fn. 57), S. 19 f. 62 Rusche/Kirchheimer, Pena y estructura social, 2004; Neumann, Behemoth. Pensamiento y acción del nacionalsocialismo, 2005. 61
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Es wurde viel darüber diskutiert, ob die Frankfurter Strafrechtler eine echte Schule darstellen. Zweifellos einten sie einige gemeinsame Ideen und die Verwirklichung von gemeinschaftlichen akademischen Aufgaben, unter ihnen das berühmte Dienstagsseminar. Dies verbarg ihre methodologischen Unterschiede. Aber sogar die Mitglieder dieser Strömung selbst waren nie davon überzeugt, dass sie eine „Schule“ darstellen. Bei der Eröffnung des Kongresses von Toledo über die Frankfurter Strafrechtler erklärte Hassemer mit einer gewissen Ironie: „[…] Dabei wird sich möglicherweise herausstellen, ob es wirklich so etwas wie ein ,Frankfurter Strafrecht‘ gibt. Wir können gesichert davon ausgehen, dass es drei ,Frankfurter Schulen‘ gibt: die Schule der Philosophen, die Schule der Cartoonisten und – in Frankfurt an der Oder – die Schule der Boxer. Sehen wir also zu, wie weit wir kommen […]“.63 Meiner Ansicht nach ist es über das gemeinsame Arbeitsklima und die kritische Haltung gegenüber den Entwicklungen des Strafrechts hinaus nicht möglich, von einer echten „Schule“ zu sprechen.64 Es besteht jedoch eine Gemeinsamkeit zwischen den Strafrechtlern und den Philosophen von Frankfurt: ihre enge Verbindung zu Argentinien. Ihre Mitglieder werden in unserem Land verehrt und studiert, was zum einen durch die Übersetzungen ihrer Arbeiten bezeugt wird,65 zum anderen dadurch, dass ihre Gedanken die Grundlage für neue Vorschläge zur Verbesserung unserer Gesellschaft sind. Ich hoffe, dass diese Arbeit dazu gedient hat, diese Verbindung deutlich zu machen.
63
Hassemer (Fn. 2), S. 11. selben Sinne Silva Sánchez, in: Institut für Kriminalwissenschaften Frankfurt a.M. (Hrsg.), La insostenible situación del derecho penal, 2000, S. XII; Seelmann, in: GA 1997, S. 232 ff.; siehe auch Jahn/Ziemann, in: JZ 2014, S. 943 ff. 65 Im Oktober 2010 unterschrieb die argentinische Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner in Frankfurt eine Absichtserklärung mit dem Institut für Sozialforschung, um in Argentinien einen Ort für das Studium und die Aktualisierung des Denkens der Frankfurter Schule einzurichten. Vgl. Rapoport (Fn. 32), S. 21. 64 Im
Sollen die Moralphilosophen von den Juristen lernen?* Von Hugo Seleme Hugo Seleme Hugo Seleme: Sollen die Moralphilosophen von den Juristen lernen? Sollen die Moralphilosophen von den Juristen lernen?
I. Die Moralphilosophie und das Recht Am 11. Oktober 2000 verlieh der New York Council for the Humanities Ronald Dworkin die Auszeichnung „Scholar of the Year“. Anlässlich dieses Ereignisses hielt Dworkin einen Vortrag mit dem Titel „Must Our Judges Be Philosophers? Can They Be Philosophers?“. Die von ihm bei dieser Gelegenheit vorgetragene Ansicht ist in unserem akademischen Umfeld zum Konsens geworden.1 Demnach beschäftigen sich Juristen mit Problemen, die Gegenstand ausführlicher philosophischer Erörterungen sind, und täten daher gut daran, den philosophischen Aussagen Aufmerksamkeit zu schenken. So ähneln bzw. gleichen sich insbesondere juristische und moralphilosophische Konzepte und Fragestellungen. Beide versuchen zu erkunden, worin Gleichheit, Freiheit, Verantwortlichkeit, Demokratie oder Absicht bestehen. Es wäre folglich wünschenswert und logisch, wenn Juristen von dem Wissen und den Erfahrungen der Moralphilosophen profitieren würden, die letztere über Jahrhunderte angesammelt haben. Auch wenn Dworkins Empfehlung an die Juristen auf der von ihm vertretenen Rechtskonzeption fußt, wonach eine moralische Lesart der Verfassung geboten ist, ist seine These keinesfalls nur auf diese Grundlage beschränkt. So hat insbesondere Martha Nussbaum eine ähnliche Position vertreten, ohne der Rechtskonzeption Dworkins zu folgen.2 Nach Nussbaum kann die Philosophie für Juristen in mehrfacher Hinsicht nützlich sein. Zum einen beschäftigen sich Philosophen und Juristen mit denselben Konzepten, wobei Nussbaum die Begriffe der Willensfreiheit, Emotion, Sexualität und Lebensqualität hervorhebt. Zum anderen kann die Philosophie auch bei methodologischen und epistemologischen Fragen zur Klarheit beitragen, Lö-
* Übersetzung ins Deutsche durch Anna Richter. 1 Ich beziehe mich auf die Juristischen Fakultäten mit einer starken rechtspositivistischen Tradition in Spanien, Italien und Lateinamerika. 2 Nussbaum, in: Stanford Law Review 45 (1993), S. 1627 ff.
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sungen für konkrete politische Probleme anbieten,3 die Natur der Rechtssysteme erforschen – dies tun zum Großteil die Rechtsphilosophen – und dazu beitragen, dass die Juristen sich weiterhin mit Hingabe auf die Erörterung umstrittener Fragen konzentrieren können, anstatt zu versuchen, schnelle Lösungen zu finden. Auch Richard Posner, dem die von Dworkin vertretene Rechtskonzeption fernliegt, scheint zuzugestehen, dass philosophische Werkzeuge für Juristen nützlich sind. Posner meint: „[…] die Techniken der analytischen Philosophie und des juristischen Denkens sind ähnlich […]“.4 Jedoch geht Posner davon aus, dass die Juristen bereitwilliger waren, sich die Entwicklungen der Philosophie anzueignen, als es die Philosophen angesichts der Aufgabe gewesen sind, rechtliche Angelegenheiten zu verinnerlichen. Aus diesem Grund meint er im Unterschied zu Nussbaum, dass die Philosophen an den juristischen Fakultäten keinen relevanten Beitrag leisten können. Was Posner von Nussbaum und Dworkin unterscheidet, ist nicht die Idee, dass die Philosophie Beiträge zum Recht leisten könnte, dahingehend stimmen sie nämlich überein, sondern die Bedeutung des Beitrages der Philosophen daran.5 Die Vorstellung, dass die Juristen von der Philosophie lernen sollen, ist auch nicht auf eine bestimmte Epoche beschränkt. Es handelt sich nicht um eine Idee, die erst kürzlich von zeitgenössischen Autoren wie den oben genannten eingeführt worden wäre. Nussbaum hat aufgezeigt, dass dieselbe Idee, wenn auch mit unterschiedlichen Abstufungen, schon bei Sokrates und Aristoteles gefunden werden kann. Laut Sokrates sollte der Philosoph die von den Juristen und Amtsträgern im Allgemeinen ausgearbeiteten Konzepte aufnehmen, um ihnen größere Genauigkeit und Klarheit zu geben. Hierin lag letztlich auch das Ziel der mäeutischen Methode. Aristoteles teilte diese Vision der Philosophie als Werkzeug für konzeptuelle Klarheit und Genauigkeit.6 Die Bedeutung der analytischen Philosophie für die Rechtswissenschaft ist kürzlich auch von der American Bar Association bestätigt worden. Diese Gesellschaft setzte Anfang des Jahres 1989 durch den Rat der Sektion für Juristische Ausbildung und Zulassung zur Berufsausübung eine sogenannte „Taskforce“ ein. 3
Beispielsweise für solche, die mit der Regulierung des Arztberufs verbunden sind. Posner, Overcoming Law, 1993, S. 465. 5 Posner denkt, dass Studenten, die Talent für die Philosophie haben, sich von dem Studium der Rechtswissenschaften angezogen fühlen, da es sich um dasselbe Talent handelt, das für ein Anwaltsdasein erforderlich ist, und der Anwaltsberuf viel besser bezahlt ist als der des Philosophen. Er zeigt hierzu auf: „[…] A college student who has done well in philosophy and thinks he might like to apply philosophy to law has a reasonable expectation of doing well in law school, and a law degree is the only graduate degree he needs in order to become a law professor at twice the salary a philosophy professor can command or to become a legal practitioner at several times the salary that either can command […]“ (Posner, ebd.). 6 Vgl. Nussbaum (Fn. 3), S. 1627 f. 4
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Ihr Ziel war die Entwicklung einer Liste von Fähigkeiten und Werten, die ein Anwalt haben sollte und die daher von einer juristischen Fakultät vermittelt werden sollten. 1992 hat die „Taskforce“ nach einer mehr als zwei Jahre währenden Untersuchung eine Liste mit zehn Fertigkeiten veröffentlicht, darunter auch Fähigkeiten aus dem Bereich des philosophischen Denkens – wie Problemlösung oder -analyse – sowie ausdrücklich mit der Moralphilosophie in Zusammenhang stehende Fertigkeiten. In diesem Sinne wurde empfohlen, dass die Anwälte „Fertigkeiten zur Erkennung und Lösung von ethischen Dilemmata“ entwickeln sollten,7 insbesondere „[…] (a)spects of ethical philosophy bearing upon the propriety of particular practices or conduct (such as, for example, general ethical precepts calling for honesty, integrity, courtesy and respect for others; general ethical prohibitions against lying and misrepresentation) […]“.8 Die Überzeugung, dass die Philosophie im Allgemeinen und die Moralphilosophie im Besonderen etwas zum Recht beitragen kann, hat in den letzten Jahren nicht nur unter den Rechtstheoretikern, sondern auch unter Anwälten zunehmend Beachtung gefunden. Dies hat eine Verstärkung der Interdisziplinarität in der Rechtslehre begünstigt. Die juristischen Fakultäten haben ihre Türen renommierten Moralphilosophen geöffnet, und Rechtstheoretiker und Anwälte haben sich angeschickt, den Umgang mit ethischen Werkzeugen zu erlernen, der Spezialität der Philosophen. Die Juristen nahmen dabei die Rolle der Schüler ein, um die moralphilosophischen Ansichten zu aktuellen rechtlichen Problemen kennenzulernen, wie etwa im Bereich der Abtreibung oder Sterbehilfe. Allerdings ist dieses Unterfangen nicht durchweg positiv zu bewerten. Dies ist teilweise der Eile der Juristen geschuldet, Lösungen für die praktischen Probleme zu finden, mit denen sie sich konfrontiert sehen. Sie haben das Gefühl, dass sie gegenüber ihren Mandanten und der Gesellschaft im Allgemeinen eine Verantwortung haben. Sie müssen als Richter entscheiden, als Prozessanwälte argumentieren oder als Rechtsberater empfehlen, was zu tun ist. Dies begünstigt die Tendenz, vor allem eine Lösung für praktische Probleme zu finden, statt zu versuchen, die Probleme in ihrer ganzen Komplexität zu verstehen. Die Juristen sind insofern ungeduldiger als die Moralphilosophen. Finden die Moralphilosophen eine größere Befriedigung darin, Probleme zu präsentieren, versuchen Juristen in erster Linie, Lösungen für diese Probleme zu entwickeln. Aus der juristischen Perspektive gesehen können sich die Moralphilosophen den Luxus der Reflexi7 ABA, Section of Legal Education and Admission to the Bar, 1992, S. 135. – In dem Bericht wird behauptet: „In order to represent a client consistently with applicable ethical standards, a lawyer should be familiar with: the nature and sources of ethical standards; the means by which ethical standards are enforced; the processes for recognizing and resolving ethical dilemmas.“, ABA, Section of Legal Education and Admission to the Bar, 1992, S. 140. 8 ABA, Section of Legal Education and Admission to the Bar, 1992, S. 204.
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on ohne Ziel nur leisten, weil sie keinerlei praktische Verantwortung haben. Die Moralphilosophen können sich diesen Luxus, unbegrenzt nachzudenken, leisten, weil sie keine Eile haben, eine Entscheidung zu treffen. Judith Jarvis Thomson, eine der renommiertesten Moralphilosophinnen, hatte die Gelegenheit, die Ungeduld der Juristen am eigenen Leib zu erleben. Sie war eingeladen worden, einen Kurs an der juristischen Fakultät Yale zu geben, und entschied sich, ihren Studenten die berühmten trolley cases zu erklären. Die Idee dieses Gedankenexperiments besteht darin zu zeigen, wie schwierig es ist, unsere Moralintuitionen über das Töten durch ein Handeln oder Unterlassen, über gewollte oder nur vorhergesehene Konsequenzen, über direkte und indirekte Verantwortlichkeit etc. in Einklang zu bringen. Die Fälle zeigen allem Anschein nach ausweglose Dilemmata. Thomson gelang es nicht, den Jurastudenten die Komplexität des Problems zu zeigen, weil diese nicht innehielten, um die von den Fällen aufgeworfenen Probleme wahrzunehmen, sondern immer wieder von ihr forderten, sie solle ihnen die richtige Antwort verraten.9 Es gibt viele solcher Anekdoten und jeder, der Kontakt zu Moralphilosophen hat, die Erfahrungen an einer juristischen Fakultät gesammelt haben, hat sicher irgendeine Version davon gehört. Die Juristen interessieren sich danach mehr dafür, Lösungen zu entwickeln, als dafür, über Probleme nachzudenken. Auch wenn darin meiner Ansicht nach ein wahrer Kern liegt, glaube ich nicht, dass sich darin die ganze Wahrheit erschöpft. So bin ich überzeugt, dass die juristische Ungeduld nicht als ein bloßes Produkt des voreiligen Charakters der Juristen abzutun ist. Auch sollten die Juristen nicht die selbstgefällige Diagnose der Moralphilosophen teilen, dass Juristen die Fähigkeit fehle, in die Höhen der philosophischen Reflexion aufzusteigen. Vielmehr sollte die juristische Ungeduld nicht einfach übergangen werden, denn auch die Moralphilosophen können daraus etwas lernen. Im Folgenden werde ich einen anderen Blickwinkel auf die Ungeduld der Juristen darlegen. Denn ich bin der Ansicht, dass die juristische Ungeduld vielmehr Ausdruck einer kritikwürdigen Herangehensweise der Moralphilosophie ist als Ausdruck einer mangelnden Reflexionsfähigkeit der Juristen. Außerdem werde ich aufzeigen, dass die juristische Verantwortlichkeit, Lösungen für konkrete Probleme zu entwickeln, sie zwar in einer theoretischen und abstrakten Reflexion beschränkt, dafür aber Ausdruck eines besseren Verständnisses für das menschliche Ausmaß von Moralproblemen ist. Die Art des verantwortungsvollen Nachdenkens, das in der Erfahrung der juristischen Ausbildung wurzelt, kann helfen, die Belanglosigkeit einer von jeglicher praktischen Verantwortung unabhängigen Moralphilosophie zu korrigieren. Ich hoffe, dazu beitragen zu kön9 Thomson berichtete Nussbaum diese Erfahrung und Letztere erwähnt sie in Nussbaum (Fn. 3), S. 1640.
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nen, dass die Moralphilosophen die Bedeutung der juristischen Reflexion für ihre Arbeit wahrnehmen, und ihre theoretischen Überlegungen wieder in Verbindung mit den menschlichen Erfahrungen bringen. Denn letztendlich können und – wie Dworkin meint – sollten auch die Moralphilosophen von den Juristen lernen. So gibt es vielleicht nicht nur einen Platz für die Philosophen an den juristischen Fakultäten, sondern auch einen Platz für die Juristen an den philosophischen Fakultäten.
II. Eine verzerrte Moralphilosophie Thomsons Anekdote zeigt die schlechte Seite der Ungeduld der Juristen. Thomson ist eine raffinierte, für moralische Erfahrungen äußerst sensible Moralphilosophin, sodass die Juristen gut daran getan hätten, ausreichend Geduld aufzubringen, um die Größe der Probleme zu erfassen, die sie ihnen vermitteln wollte. Aber nicht alle Fälle sind wie der Thomsons. Einmal nahm ich an einem Seminar teil, in dem der Referent nach einem zwanzigminütigen Vortrag die Schlussfolgerung zog, es gebe eine moralische Pflicht abzutreiben, wenn durch die finanziellen Mittel, die sonst auf den Fötus verwendet werden müssten, das Leiden eines anderen fühlenden Wesens gelindert werden könnte. In einem anderen Fall bestand das Fazit eines Vortrags darin, dass eine moralische Pflicht bestehe, fleischfressende Tiere auszurotten, um das Leiden der Tiere zu vermeiden, die ihnen als Nahrung dienen. Diese Liste könnte noch weiter fortgesetzt werden. Die Bestürzung und Ungeduld der Juristen angesichts dieser Behauptungen sollten aber sorgfältig von der Ungeduld von Thomsons Studenten unterschieden werden. In beiden Fällen erklärt sich die Ungeduld durch ein Laster, aber während in Thomsons Fall das Laster in dem unbedachten Charakter ihrer Studenten lag, besteht es in der zweiten Art von Fällen in einer defizitären Art und Weise, Moralphilosophie zu betreiben, die beispielhaft in diesen Fällen zum Ausdruck kommt. Es gibt nichts, was die Juristen hinsichtlich ihrer negativen Reaktion gegenüber dieser verzerrten Art, Moralphilosophie zu betreiben, korrigieren oder überprüfen sollten. Meiner Ansicht nach ist es außerordentlich wichtig, dass seitens der Juristen zwischen diesen beiden Arten der Moralphilosophie unterschieden wird. Denn eine mangelnde Unterscheidung kann zu zwei unerwünschten Ergebnissen führen: Zum einen könnten die Juristen denken, weil ihre Haltung gegenüber Ansichten wie der Thomsons ungerechtfertigt war, müsse dasselbe auch für ihre Ungeduld und ihr Unbehagen gegenüber der defizitären Art und Weise der Moralphilosophie gelten, die zum Beispiel behauptet, es bestehe eine allgemeine Pflicht abzutreiben oder Tierspezies auszurotten. Weil ihr Unverständnis gegenüber dieser zweiten Art der Moralphilosophie gerechtfertigt ist, könnten sie zum anderen aber denken, dass sie überhaupt nichts Vernünftiges von dieser Disziplin
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lernen könnten, und würden schlussfolgern, dass ihre Ungeduld gegenüber Philosophen wie Thomson gerechtfertigt sei. Im Folgenden sind deshalb die kritikwürdigen Unsitten der Moralphilosophie zu identifizieren. Dazu beziehe ich mich auf die drei von Bernard Williams aufgezeigten Laster: Die Obsession für die Metaethik, den dilettantischen Aktivismus und die Insensibilität gegenüber der moralischen Erfahrung. Von diesen drei Lastern ist das letztere bei weitem das Schädlichste. Dass es ein Moralphilosoph war, der die Unsitten einer bestimmten Art der Moralphilosophie identifiziert hat, ist ein Beweis dafür, dass die Juristen zu schnell urteilen würden, wenn sie alle wegen der Laster einiger verurteilten, oder umgekehrt, wenn sie die Unsitten einiger wegen der Tugenden anderer übersehen würden. Im Vorwort seines Buches Morality identifizierte Williams im Jahr 1972 das erste Laster der Moralphilosophie, die Obsession für die Metaethik. Dahinter verberge sich das Problem, dass die Moralphilosophie sich nicht um praktische Probleme kümmere. Vielmehr fokussiere sie sich zunehmend darauf, die Bedeutung von Moralbegriffen zu identifizieren, wobei eine Entwicklung zu einer Art Sprachphilosophie der Moral zu verzeichnen sei. Dazu sagt Williams: „Contemporary moral philosophy has found an original way of being boring, which is by not discussing moral issues at all […]“.10 Diese kritikwürdige Vorgehensweise der Moralphilosophie hat an den juristischen Fakultäten an Raum gewonnen und ihn gleichzeitig in der Moralphilosophie verloren. Ein möglicher Grund dafür kann im Moralskeptizismus liegen, der sich durch eine bestimmte Art des Rechtspositivismus auszeichnet. Folge des moralskeptischen Standpunktes ist nämlich ein geringes materielles Interesse an moralischen Diskursen und ein besonderer Fokus auf die Bedeutung moralischer Begriffe. Ein anderer Grund stellt die Bedeutung und Auslegung von Begriffen in der Rechtswissenschaft dar. Das erklärt, warum sich das juristische Interesse an der Moralphilosophie auf die Bedeutung von Begrifflichkeiten konzentriert.11 10
Williams, Morality, 1972, S. xvii. Pettit hat methodologische und materielle Gründe für den Glauben der analytischen Philosophen – inklusive des analytischen Rechtspositivismus – identifiziert, dass es in der Diskussion über die materiellen moralischen und politischen Fragen nichts von Interesse gebe, und dargetan, dass sie in die von ihm so genannte „long silence“ fielen. Bezüglich der methodologischen Gründe zeigt Pettit auf, dass in den 1920er und 1930er Jahren zwei Aussagen Teil der Orthodoxie der analytischen Philosophie wurden: „One of these propositions was that evaluative or normative assertions did not serve, or at least did not serve primarily, to essay a belief as to how things are; their main job was to express emotion or approval/disapproval, much in the manner of an exclamation like ,Wow!‘ or ,Ugh!‘. The other proposition was that among assertions that do express belief, there is a fairly exact divide between empirical claims that are vulnerable to evidential checks and analytical or a priori claims, such as mathematical propositions, that are true in virtue of the meaning of their terms.“ Da die politische Philosophie und die Moralphilosophie allgemein weder 11
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Ein Merkmal der Metaethik ist ihr Streben nach Neutralität hinsichtlich materieller Moralprobleme. Der metaethische Diskurs präsentiert sich als ein Diskurs zweiter Ordnung, der nicht dem Moraldiskurs erster Ordnung verpflichtet ist. Er strebt zwei Arten von Neutralität an: die referenzielle und die prädikative Neu tralität. Eine metaethische Konzeption besitzt referenzielle Neutralität, wenn das, was sie über die Rechtfertigung oder Bedeutung der moralischen Urteile behauptet, sich auf alle moralischen Auffassungen erster Ordnung bezieht und mit ihnen vereinbar ist.12 Die erste metaethische Position mit diesem Neutralitätsanspruch war der Emotivismus, denn das, was er über die Moralurteile behauptet, ist auf alle anwendbar, ohne dass hinsichtlich ihrer materiellen Richtigkeit oder Unrichtigkeit unterschieden wird.13 Eine metaethische Konzeption besitzt hingegen prädikative Neutralität, wenn das Prädikat, das sie den Moralurteilen erster Ordnung zuschreibt – und mit der sie diese beurteilt –, keinen Moralcharakter hat, sondern eine logische, epistemologische, ontologische oder anders geartete Qualität aufweist.14 empirische Disziplinen waren, noch sich damit beschäftigten, apriorische Wahrheiten zu finden, fährt Pettit fort, „[…] its only task in politics can be to explicate the feelings or emotions we are disponed to express in our normative political judgements. But that job may not have seemed very promising to many philosophers […]“ (Pettit, A Companion to Contemporary Political Philosophy, 2. Aufl. 2007, S. 5 ff.). Pettit zeigt, dass der materielle Grund für die Stille („longsilence“) damit zu tun hat, dass für die analytischen Philosophen – außer für diejenigen wie Popper, die erlebt hatten, wie attraktiv der Totalitarismus sein kann – Werte wie Freiheit und Gleichheit unumstritten erschienen. Der Großteil der Philosophen bewegte sich in einem Umfeld, „[…] where such values as liberty and equality and democracy held unchallenged sway. There were debates, of course, about the best means, socialist or otherwise, of advancing those val ues. But such debates would have seemed to most analytical philosophers to belong to the empirical social sciences. Hence those philosophers may not have seen any issues worth pursuing in the realm of political philosophy itself.“ (Pettit , ebd., S. 8). 12 Vgl. Gewirth, in: Ethics 78 (1968), S. 214 ff. 13 Wie Gewirth aufzeigt, haben alle Moralphilosophien eine Antwort auf die Frage nach der Bedeutung oder Rechtfertigung der Moralurteile angeboten. Aber diese Antworten wurden nur auf die Urteile angewandt, die sie für richtig hielten, nicht auf alle Moralurteile unabhängig von ihrem Inhalt. In diesem Sinne behauptet er, die referenzielle Neutralität sei dem metaethischen Diskurs eigen, der mit dem Emotivismus beginnt. Gewirth denkt, dass die Reflexionen der klassischen Philosophen – wie Aristoteles – über die Bedeutung und Rechtfertigung der Moralurteile diese Neutralität weder besaßen noch anstrebten. Er behauptet zudem, dass dies auch für Philosophen wie Kant und Hume und die Moralphilosophie vor dem Emotivismus gilt. Er zeigt auf: „[…] When the intuitionists discussed the intuitions by which they held that the meanings of basic moral concepts and the truth of basic moral propositions are grasped, they took as their ,data‘ what they regard ed as ,the moral convictions of thoughtful and well-educated people.‘ They did not think that the moral doctrines which, in their view, were untrue or incorrect, such as those of Hitler or Mussolini, were themselves grasped by intuition […]“ (Gewirth (Fn. 12), S. 215). 14 Ebd., S. 216. – Nur diese Art von metaethischem Diskurs, die wegen ihres Neutralitätsanspruchs auch Anhänger an den juristischen Fakultäten mit einer starken positivis-
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Wie auch die originellste Art, langweilig zu sein, schließlich langweilig wird, so hat auch die Situation an den juristischen Fakultäten begonnen, sich zu ändern, auch an solchen mit einer starken positivistischen Tradition wie in Spanien, Italien und Lateinamerika.15 Die metaethische Diskussion hat allmählich an Raum verloren, außer in bestimmten Bollwerken, wo der Skeptizismus fast wie ein Dogma weiterhin gepredigt wird. Schrittweise hat die materielle ethische Reflexion begonnen sich auszubreiten, und das akademische Umfeld ist nun gegenüber der moralischen Reflexion weniger feindselig eingestellt. Damit einher geht die Auffassung der Juristen, dass sie etwas über die materiellen Moralthemen zu lernen und zu sagen haben. So vorteilhaft diese Wendung hin zu einer materiellen Moraldiskussion auch war, birgt jede Veränderung auch Gefahren, und so wurden vorliegend die Rahmenbedingungen für das Auftreten einer zweiten verzerrten Art der Moralphilosophie geschaffen, den dilettantischen Aktivismus. Eine wachsende Anzahl an Akademikern, die an den philosophischen Fachbereichen der juristischen Fakultäten ausgebildet wurden, in denen sie nur eine metaethische Ausbildung genossen haben, fingen an, von materiellen Problemen zu sprechen. Im besten Fall von Moralinteressen bewegt, im schlechtesten nur, weil sie mit der Mode gehen oder nicht mehr langweilen wollten, haben sie sich mit moralischen und politischen Diskussionen befasst. Das Resultat war eine Mischung aus politischem Aktivismus und Gemeinplätzen. Diese zweite Unsitte betrifft hauptsächlich die Moralphilosophie, die an juristischen Fakultäten mit einer starken positivistischen Tradition praktiziert wird, wo das Interesse an der Metaethik es verhindert hat, dass ihre Akademiker eine Ausbildung in ethischer Reflexion über materielle Fragen erhielten.16 Das Probtischen Tradition gewonnen hat, ist Williams’ Kritik unterworfen, die ich hier formuliert habe. Die von Scanlon vorangebrachte Diskussion über die letzte Rechtfertigung der Moral oder die Erörterung der Rechtfertigung der Gerechtigkeitstheorien auf Grundlage des von Rawls entwickelten reflective equilibrium, um nur zwei Beispiele zu nennen, trachten nicht danach, in materieller Hinsicht neutral zu sein, und haben nicht das Problem, das ich im Text kritisiere. Auch wenn der Begriff Metaethik ausgeweitet wurde, um auch materielle Reflexionen wie die oben genannten zu umfassen, ist eine nach Neutralität strebende Art, Metaethik zu betreiben, immer noch dominant. Der Expressivismus von Gibbard und der Projektivismus von Blackburn sind paradigmatische Beispiele für diese Einstellung. Wie Dworkin aufzeigt, denken die Philosophen, dass „[…] the most fundamental questions about morality are not themselves moral, but rather metaphysical, questions […]“ (Dworkin, Justice for Hedgehogs, 2011, S. 25). Ich danke einem anonymen Kritiker dafür, dass er mir die Notwendigkeit aufgezeigt hat, die in dieser Fußnote enthaltenen Erläuterungen vorzunehmen. 15 Diese Veränderung geschah schon vorher an den juristischen Fakultäten der angelsächsischen Welt. 16 Glücklicherweise gibt es immer mehr juristische Fakultäten, die nicht den skeptischen Standpunkt und die metaethische Obsession vertreten. Ein Indiz hierfür ist die
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lem besteht darin, dass die fachliche Ausbildung zwar keine ausreichende Bedingung dafür ist, Moralphilosophie zu betreiben, aber „[…] (a)nybody who is going to be interested in moral philosophy must have a decent technical grounding, unless he or she happens to be a genius […]“.17 Die Ungeduld der Juristen gegenüber diesen beiden verzerrten Arten, Moralphilosophie zu betreiben, die zwischen der Sorge um die Bedeutung der moralischen Begriffe und dem Dilettantismus oszilliert, ist gerechtfertigt. Die Langeweile, die bei ihnen durch die endlosen metaethischen Überlegungen oder Predigten voller Offensichtlichkeiten ohne jegliche intellektuelle Genauigkeit hervorgerufen wird, soll sie aber nicht zum Selbstzweifel veranlassen. Diese Langeweile ist vielmehr ein verheißungsvolles Symptom geistiger Gesundheit. Die dritte Unsitte der Moralphilosophie hat Williams ausführlich analysiert. Er zeigte dabei die Schwierigkeit auf, die bei dem Streben nach einer allumfassenden Moraltheorie mit einer „[…] philosophical structure which, together with some degree of empirical fact, will yield a decision procedure for moral reasoning […]“18 besteht. Dieses Problem beruhe darauf, dass eine solche Theorie unvermeidlich den Kontakt zur moralischen Erfahrung verliere. Schlimmer noch, die Theorie trete als eine Art Gesetzgeberin der moralischen Gefühle auf. Im Gegensatz zu der von der Metaethik verfälschten Herangehensweise beschäftigt sich diese Art der Moralphilosophie mit konkreten Problemen und im Unterschied zum ungeschickten Aktivismus tut sie dies mit philosophischem Instrumentarium. Zwar sind philosophische Techniken und ein praktisches Interesse notwendig, aber keinesfalls ausreichend. Die Moralphilosophie muss mit der moralischen Erfahrung beginnen und in ihr gipfeln. Eine philosophische Reflexion, die nicht von einem geschärften Bewusstsein im Hinblick auf das menschliche Drama ausgeht, welches den moralischen Problemen zugrunde liegt, und die
wachsende Zahl an Doktorarbeiten, die mit der politischen Philosophie verbundene materielle Themen in Angriff nehmen, wie zum Beispiel die Rechtfertigung der sozialen Rechte, die moralische Bewertung der Rechtsinstitutionen, der Menschenrechte oder der globalen Gerechtigkeit. Die Sorge um die mit der Systematisierung des Rechts verbundenen formalen Probleme oder um die mit der Sprachphilosophie verbundenen Probleme sind zwar immer noch vorhanden, haben aber den hohen Stellenwert verloren, den sie einst innehatten. Einige der rechtsphilosophischen Fachbereiche dieser Fakultäten beschäftigen heute Personen mit einer soliden Ausbildung in politischer Philosophie und Moralphilosophie. Ein Beispiel ist der rechtsphilosophischen Fachbereich der Universität Pompeu Fabra in Barcelona, der heute über eine starke Gruppe an Wissenschaftlern der politischen Philosophie verfügt. Dasselbe gilt für andere universitäre Zentren wie die Universität von Alicante oder die Autónoma-Universität von Madrid, um nur die namhaftesten Fälle in Spanien zu nennen. 17 Williams, in: The Center Magazine, November/Dezember 1983, S. 43. 18 Williams, Moral Luck, 1981.
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nicht bereit ist, ihre Schlussfolgerungen zu ändern, wenn diese zu weit von der moralischen Erfahrung entfernt sind, ist eine verfälschte Art der Reflexion. Dieses Laster hat eine spezielle Richtung, die sogenannte „angewandte Philosophie“, hervorgerufen. Sie besteht darin, eine Ansammlung von generellen Moralprinzipien als Sieb zu benutzen und alle Moralprobleme hindurch zu sieben, um Antworten auf konkrete Fragen zu erhalten. Zuerst werden die Angelegenheiten von theoretischen Belangen losgelöst, und dann werden die generellen Prinzipien auf die konkreten Probleme angewandt. Da die bedeutenden Fragen schon gelöst wurden, gibt es im Moment der Anwendung nichts mehr, was die generellen Prinzipien verändern könnte. Es handelt sich um eine quasi juristische Art, Moralphilosophie zu betreiben. Dies hat laut Williams dazu geführt, dass „[…] (a)ll the philosophical journals are full of issues about women’s rights, abortion, social justice, and so on. But an awful lot of it consists of what can be called in the purely technical sense a kind of casuistry, an application of certain moral systems or principles or theories to discussing what we should think about abortion […]“.19 Williams bringt ein Beispiel für diese Art der verzerrten Reflexion, das leider allzu sehr der moralischen Reflexionsweise ähnelt, die in einigen Seminaren über Moralphilosophie an juristischen Fakultäten zu finden ist: „[…] I recall a notorious article written by a moral philosopher who argues that if abortion is legitimate, then so is infanticide. That is an inference which Catholics have used in the past, but they have always used it to show that abortion was wrong. He uses it to show that infanticide is permissible. I regard his argument as simply fallacious, unsound. But the point is that there is something mildly grotesque about the idea that one can arrive at a conclusion of that human magnitude by pushing around a few quick arguments in a philosophical journal. There is just something odd about that. The moral philosopher has to be reflective about the kind of discourse he is engaged in, the kind of dialogue he is engaged in with the public“.20 Wie Williams aufzeigt, ist es grotesk, dass jemand ausgehend von einigen Prämissen schließen kann, der Kindsmord sei erlaubt – wie es der von Williams zitierte Artikel behauptete, – oder dass die Abtreibung oder die Ausrottung fleischfressender Tiere eine moralische Pflicht sei21 – wie ich es mir anhören durfte. Das 19
Williams (Fn. 17), S. 44. Ebd. - Es handelt sich um den Artikel von Tooley, Abortion and infanticide (1972), den Williams später erwähnt und kritisiert (Williams, Ethics and the Limits of Philosophy, 1985, S. 112). 21 Sowohl die Schlussfolgerung, dass der Kindsmord erlaubt sei, als auch diejenige, dass eine moralische Pflicht existiere, bestimmte fleischfressende Spezies auszurotten, waren ursprünglich als reductiones ad absurdum der sie stützenden Prämissen gedacht. In dem letzteren Fall war David Ritchie Ende des 19. Jahrhunderts der Erste, der diese Schlussfolgerung als eine reductio ad absurdum aus der Prämisse zog, dass die Tiere Rechte besitzen. Er erklärte: „[…] Well, then, in our exercise of our power and in our guardian20
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Groteske besteht darin, dass man zu solchen Schlussfolgerungen gelangen kann, ohne die Prämissen der Argumentation zu überprüfen. Es ist unglaublich, dass diese Konklusion nicht als eine reductio ad absurdum des gesamten Arguments betrachtet wird. Obwohl die Kritik von Williams sich gegen jede Art von Moraltheorie richtet, glaube ich, dass sie hinsichtlich des zu beanstandenden Objekts präzisiert werden kann. Die Kritik richtet sich an diejenigen Formen der moralischen Reflexion, die nicht anerkennen, dass teilweise Überlegungen als moralische Gründe angeboten werden können, die ihrerseits nicht von generelleren moralischen Gründen unterstützt werden müssen. Wenn man sich auf diese lineare Suche nach Gründen einlässt – so behauptet Williams –, „[…] there will have to be at least one practice of reason-giving for which no reason is given and which holds itself up. Looked at in one way, this result may encourage the simplification principle I mentioned before: ,if having an unrationalized principle that is irrational, it is good to have as little irrationality as possible‘“.22 Wer diese Schlussfolgerung zieht, begeht jedoch einen Fehler: Er erfasst nämlich den zentralen Charakter einiger unserer moralischen Erfahrungen nicht. Zwar bedeutet dies nicht, dass das Kriterium für die Entscheidung, welche moralischen Überzeugungen richtig sind, sich auf die „öffentliche Meinung“ oder auf das, was die Mehrheit als richtig ansieht, berufen müsse. Die Mehrheit kann genauso unsensibel gegenüber dem „menschlichen Ausmaß“ der moralischen Probleme sein oder ebensolche unbedachten Überzeugungen haben wie derjenige, der die Art von Moralphilosophie betreibt, die Williams zu Recht kritisiert. Der von Williams aufgezeigte Fehler besteht nicht darin, dass die von ihm kritisierten Moralphilosophen keine Meinungsumfragen durchführen.23 Er besteht ship of the rights of animals, must we not project the weak among them against the strong? Must we not put to death blackbirds and thrushes because they feed on worms, or (if capital punishment offends our humanitarianism) starve them slowly by permanent captivity and vegetarian diet? What becomes of the ‚return to nature‘ if we must prevent the cat’s nocturnal wanderings, lest she should wickedly slay a mouse? Are we not to vindicate the rights of the persecuted prey of the stronger? […]“ (Ritchie, Natural Rights, 1894, S. 109). 22 Williams (Fn. 20), S. 113. 23 Diesen Appell an die „öffentliche Meinung“ zur Validierung der Moralurteile über die Gerechtigkeit hat Adam Swift zu Recht kritisiert. Swift behauptet, dass dies – zum Teil – die von David Miller vertretene Position sei. Er denkt, dass diese „konstitutive Beziehung“ zwischen der „öffentlichen Meinung“ und der Gültigkeit der Gerechtigkeitsurteile falsch sei. Trotzdem meint er, dass andere Arten der Verknüpfung bestünden, die gültig seien. Die „öffentliche Meinung“ sei für die Feststellung relevant, ob es möglich ist, eine Gerechtigkeitskonzeption in der Praxis umzusetzen, um festzulegen, ob es legitim wäre, dies zu tun oder um den Inhalt der Gerechtigkeitsanforderungen zu bestimmen, wenn die korrekten Gerechtigkeitsprinzipien die Erwartungen der Individuen berücksichtigen (Swift, in: Beel/de-Shalit [Hrsg.], Forms of Justice, 2002, S. 13 ff.).
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auch nicht in dem bloßen Vorwurf eines argumentum ad infinitum. Der Fehler besteht aber in dem Glauben, dass eine moralische Überzeugung unüberlegt ist und nicht als Grund angeführt werden kann, wenn nicht begründet werden kann, warum diese als Grund anzuführen ist. Der Irrtum besteht darin, die moralische Reflexion von der moralischen Erfahrung zu trennen, um zu folgern, dass jeder moralische Glaube, der nicht durch einen weiteren Grund gerechtfertigt werden kann, gerade deswegen ein Vorurteil ist und nicht berücksichtigt werden darf.24 Dieses falsche Verständnis davon, wann ein moralischer Glaube ungerechtfertigt ist, führt zwangsläufig zu einer fundamentalistischen Konzeption der moralischen Rechtfertigung. Jeder moralische Glaube, der nicht unüberlegt und vorurteilsvoll sein soll, muss durch einen anderen Glauben oder ein Moralprinzip mit einem größeren Grad an Allgemeinheit gerechtfertigt werden. Je allgemeiner ein Prinzip ist, desto grundlegender oder wichtiger ist der Wert, auf den es sich bezieht. Wenn ein Prinzip mit einem bestimmten moralischen Glauben in Konflikt gerät – zum Beispiel, dass es unmoralisch ist, dieses Kind zu töten, oder dass es unrichtig ist, das schmerzlose Aussterben dieses fleischfressenden Tieres hervorzurufen –, dann muss diese bestimmte moralische Intuition zurücktreten, außer es findet sich ein allgemeines rechtfertigendes Prinzip. Nur in diesem Fall ist die Tiefgründigkeit der in Konflikt stehenden Werte vergleichbar. Diese fundamentalistische Konzeption hat zwei Varianten. Die erste, extremere, spricht den einzelnen Moralvorstellungen oder Intuitionen jeglichen Wert ab. Sie haben nicht einmal epistemischen Wert für die Entdeckung der korrekten Moralprinzipien. Die Moralprinzipien sind selbsterklärend – eine Berufung auf bestimmte moralische Überzeugungen ist also nicht nötig, um von dort zu den sie rechtfertigenden allgemeinen Prinzipien aufzusteigen –, und die einzelnen moralischen Glaubensvorstellungen sind nur gerechtfertigt, wenn sie sich aus diesen allgemeinen Prinzipien herleiten. Peter Singer, ein Vertreter dieser Art der Moralphilosophie, stellt seine Auffassung folgendermaßen dar: Seiner Ansicht nach sollte ein Moralphilosoph „[…] search for undeniable fundamental axioms; build up a moral theory from them; and use particular moral judgments as supporting evidence, or as a basis for ad hominem arguments, but never so as to suggest that the validity of the theory is determined by the extent to which it matches them […]“.25 24 Hierzu erklärt Williams: „,Prejudice‘ is a powerful and ambiguous word, and its relations to theory are equally ambiguous. It has played a large role in the Cartesian tradition, in which any belief counts as a prejudice that has not yet been given a foundation. In this sense, it is certainly contrasted with theory, but in this sense, as I have already said, every thing is a prejudice, in science as in ethics. In another and narrower sense, it means any belief one holds only because one has not reflected on it. In this sense, it may well be that we inevitable have prejudices, but at any rate the reflection demanded, which some beliefs will survive, need not be the reflections of ethical theory […]“ (Williams [Fn. 20], S. 117). 25 Singer, in: The Monist 58 (1974), S. 517. – Singer vertritt die Ansicht, dass diese Methode von Sidgwick benutzt werde. Er zweifelt die Behauptung von Rawls, A Theory
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Die zweite Variation gesteht den einzelnen Moralvorstellungen eine epistemische Rolle zu. Die moralischen Intuitionen sind unüberlegt und ungerechtfertigt, außer wenn sie von einem allgemeinen Prinzip unterstützt werden, das sie begründet. Darin unterscheidet sie sich nicht von der vorigen Ansicht. Übereinstimmend wird außerdem den allgemeinen Prinzipien eine größere Bedeutung als bestimmten Moralvorstellungen zugestanden, wenn beide in Konflikt geraten. McMahan, ein Vertreter dieser zweiten Variante, erklärt: „[…] the principles seem to be epistemically more basic, more secure. They articulate our core values which unify, explain, and justify our intuitive judgments […] In short, the principles are foundational with respect to the intuitions […]“.26 Sie unterscheidet sich jedoch von der vorigen Position insofern, als sie vertritt, dass „[…] it does not regard the foundational principles as self-evident […]“.27 Die fundamentalen Prinzipien werden durch ein reflective equilibrium entdeckt, dessen Ausgangspunkt die einzelnen moralischen Intuitionen oder Vorstellungen sind.28 Wichtig ist, dass beide Positionen die irrige Vorstellung teilen, es sei unüberlegt und ungerechtfertigt, etwas als einen Grund anzusehen, sofern nicht ein anderer Grund dafür existiert. Die von ihnen bevorzugte Art der moralischen Reflexion ist subsumtiv. Demnach gilt: „(W)hen one’s moral intuition is challenged by another person, it is natural to respond by appealing to claims of a higher level of generality that imply or explain the intuition. The assumption is that the credibility of the intuition is enhanced if it can be subsumed under a plausible moral principle […]“. Nach dieser Sichtweise liefert uns das allgemeine Prinzip Gründe dafür, den Inhalt unserer persönlichen Intuition für gerechtfertigt zu halten.29 Zur Erläuterung diene folgendes Beispiel. Angenommen, ich habe die Intuition, dass es moralisch unrichtig ist, Menschen zu töten. Stellt nun jemand dieses Prinzip in Frage, müsste ich – nach dieser verfälschten Art, Moralphilosophie zu betreiben – ein allgemeineres Prinzip suchen, das meine spezifische Intuition über die Menschen rechtfertigt.30 Dieses Prinzip könnte zum Beispiel darin beof Justice, an, wonach Sidgwick das reflective equilibrium als Rechtfertigungsmethode benutzt habe. 26 McMahan, in: LaFollete/Persson (Hrsg.), The Blackwell Guide to Ethical Theory, 2. Aufl. 2013, S. 114. 27 Ebd. 28 Ebd., S. 111. Auch wenn diese Art der Moralphilosophie sich von der von Williams so genannten „angewandten Philosophie“ entfernt, teilt sie doch mit ihr die Überzeugung, dass es nur rational oder reflexiv sei, etwas als einen Grund anzusehen, wenn allgemeinere Gründe bestehen, dies zu tun. 29 Ich danke einem anonymen Kritiker, der mich auf die Notwendigkeit aufmerksam gemacht hat, diese Präzisierungen einzufügen. 30 Es muss hervorgehoben werden, dass dies nicht impliziert, dass jede Art von Fundamentalismus eine fehlerhafte Art, Moralphilosophie zu betreiben. Die Idee der subsumtiven Reflexion, die dazu führt, sich auf der Suche nach immer allgemeineren Prinzipien
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stehen, dass es moralisch unrichtig ist, fühlende Wesen zu töten. Wenn ich kein allgemeines Prinzip finden würde, das meine Intuition über die Menschen stützt, dann wäre die Behauptung, die bloße Menschlichkeit sei ein Grund dafür, nicht zu töten, unüberlegt. Es wäre nicht mehr als die Äußerung eines speziezistischen Vorurteils.31 Gibt man die irrige Vorstellung auf, es sei unüberlegt, etwas als einen Grund anzunehmen, es sei denn, es gibt fundamentalere Gründe, dies zu tun – und die Notwendigkeit, die Moral in allgemeinen Prinzipien (im Extremfall in einem einzigen Prinzip) zu vereinheitlichen –, so verschwindet die falsche Verbindung zwischen Allgemeinheit und Bedeutung oder Tiefgründigkeit. Bestimmte Moralvorstellungen sind nicht unüberlegt, bloß weil kein allgemeines Prinzip zu ihrer Unterstützung angeführt werden kann, und die allgemeinen Prinzipien haben nicht zwangsläufig eine größere Bedeutung als die einzelnen Moralvorstellungen.32 Eine Vorstellung erlangt ihren reflexiven Charakter nicht dadurch, dass sie durch eine andere allgemeine Vorstellung gerechtfertigt ist, die einen moralischen Wert von größerer Bedeutung verkörpert. Auch auf die Gefahr hin, etwas von der moralischen Erfahrung zu entfernen, ist verzerrt. Zwar führt sie zum Fundamentalismus, allerdings gibt es weitere Gründe, die zugunsten des Fundamentalismus vorgebracht werden können. 31 Williams selbst hat auf dieses Beispiel angespielt. Williams dachte, es sei absurd zu behaupten, dass so etwas wie das speziesistische Vorurteil existiere; dies kann meiner Meinung nach auf die im Text dargelegten Gründe zurückgeführt werden. Williams’ Ansicht zu diesem Thema findet sich ausführlich in Williams, Philosophy as a Humanistic Discipline, 2006. 32 Diese Art, die moralischen Intuitionen als mit einer Bedeutsamkeit versehen aufzufassen, die derjenigen der allgemeinen Prinzipien vergleichbar ist, stimmt mit der Art und Weise überein, wie Rawls die moralische Rechtfertigung versteht. So wie Rawls das reflective equilibrium versteht, muss es – im Unterschied zu McMahans Auffassung – Folgendes enthalten: „[…] our considered convictions at all levels of generality; no one level, say that of abstract principles or that of particular judgments in particular cases, is viewed as foundational. They all may have an initial credibility […]“ (Rawls, Political Liberalism, 1993, S. 8). Danach fügt er hinzu: „[…] it is a mistake to think of abstract conceptions and general principles as always overriding our more particular judgments […]“ (ebd., S. 45). Dies ist ein Punkt, zu dem Rawls’ Gedanken sich weiterentwickelt haben. Die bestimmten Moralurteilen oder -intuitionen zugestandene Rolle ist in seinen ersten Schriften sehr viel wichtiger. Dort schlug Rawls ein Verfahren zur Validierung allgemeiner Prinzipien vor, dessen Ausgangspunkt in der Auswahl der Moralurteile bestand, die den Reflexionstest bestanden hatten. Danach waren allgemeine Prinzipien zu erzielen, deren Anwendung auf die konkreten Fälle zu den Resultaten führen, von denen man ausgegangen war (Rawls, in: Philosophical Review 60 [1951], S. 177 ff.). Hinsichtlich der Methode des reflective equilibrium muss hervorgehoben werden, dass auch Williams die Idee teilt, es handele sich um das angemessene Werkzeug im Bereich der Moral. So erklärt er: „[…] to the extent that we are thinking about the systematic representation of the content of ethics, the right method is something like reflective equilibrium. […] I think that that aspect of Rawls’s project is admirable […]“ (Williams, in: Ethical Perspectives 6 [1999], S. 245).
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Offensichtliches zu sagen, muss aufgezeigt werden, dass eine Vorstellung reflektiert ist, wenn sie Gegenstand der Reflexion war, das heißt, wenn sie überprüft wurde und keine Gründe dafür bestehen, dass sie von Faktoren hervorgerufen worden sei, die an ihrer Richtigkeit zweifeln lassen, wie Eigeninteresse, Indok trinierung, Manipulation oder Gruppenzwang. Nichts garantiert, dass allgemeine Prinzipien gegenüber dieser Art von verzerrenden Faktoren immuner sind als einzelne Moralvorstellungen. Denn auch ein allgemeines moralisches Prinzip, wie beispielsweise, dass Lebewesen fühlen können, unabhängig davon, ob sie Menschen sind, kann das Ergebnis einer falschen moralischen Intuition sein. Beispielsweise, wenn sich Einzelne dieser Auffassung nur anschließen, um von Vertretern dieses Prinzips Anerkennung und Halt zu bekommen; oder wenn – vor allem extreme – allgemeine Prinzipien nur mit dem Ziel vertreten werden, Gehör zu finden und Berühmtheit zu erlangen; oder dies Ausdruck von Verachtung und Groll gegenüber anderen Menschen ist; oder ein Verlangen sich gegenüber der Mehrheit, die diese extreme Position nicht akzeptiert, als moralisch überlegen darzustellen.33 Von den einzelnen Moralvorstellungen zu allgemeinen Prinzipien aufzusteigen ist nicht gleichbedeutend mit Nachdenken, und noch viel weniger damit, gegenüber der moralischen Erfahrung unsensibel zu sein. Die Ungeduld der Juristen mit dieser Art der Moralphilosophie darf weder korrigiert noch kontrolliert werden. Was korrigiert werden muss, ist die Art, Moralphilosophie zu betreiben, die, mit den Worten Williams’ „[…] becomes so aridly simplified that it really does not help people to think very well“.34 Vielleicht ist die Ungeduld der Juristen nicht ihrem vorschnellen Charakter oder ihrem mangelnden Wissen über das philosophische Instrumentarium geschuldet, wie der unverstandene Moralphilosoph gewöhnlich denkt, um sich in seiner Position zu bestärken. Vielleicht kommt ihre Ungeduld daher, dass sie dem „menschlichen Ausmaß“ der Schlussfolgerungen, die gezogen werden, oder der öffentlichen Meinung nicht gleichgültig gegenüberstehen.35 33 In Bezug auf diejenigen, die die anti-speziesistische Position vertreten, und im Einklang mit der Art von Erklärungen, die ich im vorliegenden Text vorschlage, zeigt Williams Folgendes auf: „In many, more limited, connections hopes for self-improvement can lie dangerously closet to the risk of self-hatred. When the hope is to improve humanity to the point at which every aspect of its hold on the world can be justified before a higher court, the result is likely to be either self-deception, if you think you have succeeded, or self-hatred and self-contempt when you recognize that you will always fail. The self-hatred, in this case, is a hatred of humanity […]“ (Williams [Fn. 31], S. 152). 34 Williams (Fn. 18), S. 44. 35 Dieses dritte Laster muss von der Insensibilität der Moralprinzipien gegenüber empirischen Erwägungen unterschieden werden. Es gibt gegenwärtig eine übermäßig große Debatte um die Relevanz der sogenannten idealen Theorien. Der im Text offenbarte De-
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III. Die Tugenden der juristischen Reflexion Von den drei dargestellten Unsitten, der metaethischen Obsession, dem dilettantischen Aktivismus und der Distanzierung von der moralischen Erfahrung, ist zweifellos die letzte am gefährlichsten. Die generelle menschliche Tendenz, sich mit den materiellen, wichtigen Problemen zu beschäftigen, und der juristische Fokus auf den praktischen Fall bilden ein ausreichend starkes Gegengewicht zur metaethischen Obsession. So hat die materielle Reflexion auch tatsächlich zunehmend an Raum gewonnen und es ist zu hoffen, dass diese Tendenz, die im Bereich der Philosophie begonnen hat, in den philosophischen Fachbereichen der juristischen Fakultäten weiter fortschreitet. An den Orten, an denen sich heute noch die metaethische Obsession hält, ist dies eher historischen und persönlichen Umständen als theoretischen Gründen geschuldet.36 Hingegen ist das Gefahrenpotenzial des aktivistischen Dilettantismus kritischer zu bewerten, weil er an der Stelle der eigentlich notwendigen moralischen und politischen Reflexion zu Tage tritt. Kennzeichnet die metaethische Obsession ein Fehlen jeglicher materiellen Reflexion, führt der dilettantische Aktionismus zu einem Mangel an Reflexion bei vermeintlichen materiellen Diskursen. Das birgt die Gefahr, dass die Juristen letztendlich annehmen, die Moralphilosophie bestehe nur aus einer Gesamtheit von Trivialitäten und Ermahnungen, die der Dilettant von sich gibt. Trotzdem sind die Juristen mehr als jeder andere darin geschult, Wortklauber und Schwindler zu identifizieren. Womöglich gründet gerade darin ein Teil ihrer Ungeduld gegenüber dieser kritikwürdigen Art der Moralphilosophie. Am schwierigsten ist es, die dritte Unsitte, den Mangel an Sensibilität gegenüber der moralischen Erfahrung, auszumerzen. Jedoch kann gerade diesbezüglich die juristische Reflexion ein starkes Gegengewicht bilden. Denn kulturgeschichtlich betrachtet waren es das Recht und die juristische Reflexion, die eine Antwort auf die praktischen Probleme der menschlichen Gesellschaften geben mussten. Seit fast 400037 Jahren waren es Juristen, die sich den persönlichen und fekt ist nicht mit der Insensibilität gegenüber empirischen Daten verbunden, sondern mit der Insensibilität gegenüber bestimmten Moralintuitionen. 36 José Juan Moreso ist einer der Juristen, der mit dem größten Nachdruck diese Obsession in den juristischen Fakultäten bekämpft hat. Er hat seine Kraft insbesondere dem Beweis gewidmet, dass keinerlei konzeptuelle Verbindung zwischen dem Rechtspositivismus, dem Moralrelativismus und dem politischen Liberalismus oder der Toleranz besteht. Vgl. Moreso, in: Teoría política 2 (2012), S. 103 ff.; ders., in: Teoría política 3 (2013), S. 287 ff. 37 Als Bezugspunkt nehme ich hier ungefähr 1770 v. Chr., das Datum, an dem der Kodex Hammurabi zeitlich verortet wird.
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den materiellen Problemen ihrer Mitmenschen stellen mussten, erwähnt seien hier nur Fragen wie Abtreibung, Sterbehilfe, Verantwortlichkeit für Schäden etc. Dies prädestiniert die Juristen in besonderem Maße, das „menschliche Ausmaß“ der Probleme wahrzunehmen, denen sie gegenüberstehen. In den verschiedenen Rechtsgebieten – Zivil-, Familien-, Straf-, Umweltrecht etc. – werden sie täglich mit den gleichen menschlichen Dramen konfrontiert, denen auch die Moralphilosophie gegenübersteht. Die praktischen Probleme von Personen aus Fleisch und Blut sind jahrhundertelang vor den Augen der Juristen vorbeigezogen. Diese Unmittelbarkeit gegenüber den praktischen Problemen ermöglicht es ihnen zu bemerken, was einigen Moralphilosophen verborgen bleibt. Diese Umstände haben zu einer besonderen Sensibilisierung beigetragen und die juristische Ungeduld gegenüber von der menschlichen Erfahrung entfernten Lösungen begünstigt. Wer täglich mit Familienproblemen arbeitet, kann nicht begreifen, dass zugunsten einer allgemeinen Abtreibungspflicht argumentiert wird. Wer sich täglich Umweltproblemen gegenübersieht, wird ungeduldig, wenn man ihm sagt, dass eine allgemeine Pflicht bestehe, Spezies auszurotten. Die Sensibilität gegenüber der Komplexität und Größe des Problems verhindert, diese platten Lösungen ernst zu nehmen. Außerdem ist juristischem Arbeiten eine praktische Verantwortung inhärent. Juristen müssen sich mit realen Problemen beschäftigen und angemessene Lösungen anbieten. Das Hauptziel der Reflexion der Juristen besteht nicht darin, in Fachzeitschriften zu veröffentlichen oder ihren Mentor zu überraschen. Ihr Ziel ist es, die angemessene Lösung für einen Fall zu finden, für dessen Lösung sie verantwortlich sind. Diese der Realität verantwortliche Reflexion, die theoretische Probleme im konkreten Praxisbezug betrachtet, kann als Korrektiv für eine Art der Moralphilosophie dienen, die gegenüber dem kontraintuitiven oder rein theoretischen Charakter ihrer Schlussfolgerungen vollkommen unbekümmert ist. Die der Rechtswissenschaft eigene Notwendigkeit, konkrete Lösungen für reale Probleme anzubieten, unter der Thomson litt, stellt vielleicht letztendlich auch eine Tugend dar. Zu guter Letzt kann der Stil der juristischen Reflexion dazu beitragen, die Distanzierung zwischen der Reflexion und der moralischen Erfahrung zu korrigieren. In dem Versuch, die ersten, grundlegenden Prinzipien der Moral zu beschreiben, läuft die moralische Überlegung Gefahr, den Bezug zu den moralischen Erfahrungen zu verlieren, die aber eigentlich der Ausgangspunkt sind. Der Aufstieg im Abstraktionsniveau birgt die Gefahr, die Reflexion über die menschliche moralische Erfahrung zu verfälschen, bis der menschliche Charakter aus den Augen verloren ist. Die juristische Reflexion hingegen berücksichtigt die in der Vergangenheit gesammelte menschliche Erfahrung. Sie sieht in den reflexiven Antworten, die andere zuvor auf die problematischen Fragen der Menschheit gegeben haben, et-
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was Wertvolles, wenn auch nur im Keim. Die Juristen sind in dieser Argumentationsweise trainiert. Natürlich ist diese Argumentationsweise mit der Gefahr verbunden, den status quo zu verherrlichen. Daher benötigt sie die philosophische Reflexion als Ansporn. Jedoch stellt diese Art der juristischen Reflexion auch eine Tugend dar. Sie stellt eine kollektive menschliche Unternehmung dar, die in der Erfahrung verwurzelt ist. Für die verzerrte Moralphilosophie, auf die ich mich hier bezogen habe, ist hingegen der Solipsismus eine Tugend. Je einsamer diese Art der Moralphilosophie in ihren Positionen ist, desto größer ist ihre Überzeugung, dass sie zu den höchsten Moralprinzipien gelangt ist, zu denen hinaufzusteigen niemand zuvor den Mut oder die Intelligenz hatte. Ihre Einsamkeit – das heißt der kontraintuitive Charakter ihrer Schlussfolgerungen – wandelt sich in den Beweis ihres Erfolges. Auf dem Gipfel ist man immer alleine. Es bleibt einem höchstens, sich mit den anderen Wenigen zusammenzuschließen, die es geschafft haben, dieselben Höhen zu erreichen. Diese Art der moralischen Reflexion kann als elitär und ehrgeizig beschrieben werden. Ich denke, dass der kollektive und bescheidenere Charakter der juristischen Reflexion ein Korrektiv dieser elitären Art der Moralphilosophie sein kann. Er kann dazu beitragen, dass die Moralphilosophie aufhört, den extremen Charakter ihrer Schlussfolgerungen als eine Tugend anzusehen, und ihre Isolierung nicht mehr als Beweis ihres Erfolges wahrzunehmen, so dass die Moralphilosophie wieder in Kontakt mit der moralischen Erfahrung kommt, auf der sie letztlich gründet. Mit Blick auf die die Erfahrung respektierende juristische Reflexion kann vielleicht auch diese Art der Moralphilosophie erkennen, dass ein Philosophiestil möglich ist, der die moralische Erfahrung integriert. Klarstellend sei allerdings betont, dass es nicht darum geht, eine Art philosophische Rechtsprechung zu schaffen, die an die Autorität der Meinungen der Vergangenheit oder an die weit verbreiteten Ansichten der Gegenwart appelliert. Vielmehr ist eine Aussage von Sidgwick, der allerdings auch daran interessiert war, sich bis zum letzten Prinzip der Moral zu erheben, in Erinnerung zu rufen: Laut ihm kann die Identifizierung des moralisch Richtigen nicht ausschließlich in den Händen der Moralphilosophen bleiben, „[…] because their moral judgment on any particular question of duty, even supposing them to have obtained all available information as to the particular facts of the case, is not to be trusted, unless it is aided, checked, and controlled by the moral judgment of persons with less philosophy but more special experience“.38 Niemand hat mehr Erfahrung darin, praktische Probleme anzugehen, als die Juristen. Den Beitrag, den die Juristen für die Moralphilosophie leisten können, hat Dworkin in seinem eingangs zitierten Vortrag hervorgehoben. Die Bedeutung 38
Sidgwick, in: International Journal of Ethics 4 (1893), S. 7.
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dieses juristischen Beitrages wird offensichtlich, wenn man die Gefahren der zu kritisierenden Unsitten der Moralphilosophie betrachtet, die es zu korrigieren gilt. Dworkin beendete seinen Vortrag mit dem Hinweis, dass die Juristen fähig sind, die Auswirkungen der moralischen und politischen Prinzipien mit größerem Scharfsinn wahrzunehmen und die Moralfragen in realen Kontexten zu betrachten.39 Während seine Aufforderung, der Moralphilosophie Aufmerksamkeit zu schenken, von den Juristen befolgt wurde, bin ich mir allerdings nicht sicher, ob sich auch die Moralphilosophen den umgekehrten Rat zu Herzen genommen haben.
IV. Schlussfolgerung Es gibt verschiedene Dienste, die die Moralphilosophen den Juristen leisten können. Erstens kann die Moralphilosophie – zumindest die analytische – den Juristen ihre Untersuchungswerkzeuge nahebringen und ihnen deren Gebrauch für die Inangriffnahme von praktischen Problemen zeigen. Die Moralphilosophie und die juristische Reflexion teilen das technische Instrumentarium; der Kontakt zwischen ihnen kann deshalb nur vorteilhaft sein. Zweitens kann der bedächtige Charakter der moralischen Reflexion, der nicht unter dem Druck institutioneller Dringlichkeiten steht, helfen, die Tendenz der Juristen zu lindern, sich nur um die Suche nach Lösungen zu bemühen. Drittens kann die juristische Reflexion von den inhaltlichen Schlussfolgerungen über praktische Themen profitieren, zu denen die Moralphilosophen gelangt sind. Denn letztendlich ähneln sich die Probleme und Fragestellungen der Moralphilosophie und der Rechtswissenschaft. Es gibt jedoch drei verzerrte Arten, Moralphilosophie zu betreiben, denen gegenüber die Juristen gut daran getan haben, sich ungeduldig zu zeigen. Die erste besteht in der metaethischen Obsession, die auf einem skeptischen Standpunkt gegenüber jeder materiellen Reflexion gründet. Die zweite ist der aktivistische Dilettantismus derjenigen, die ohne jegliche theoretische Vorbereitung über moralische und politische Probleme sprechen. Die dritte besteht in einer Form der philosophischen Reflexion, die in ihrem Streben nach den höchsten Prinzipien jeden Kontakt mit der menschlichen moralischen Erfahrung verloren hat. Der Kontakt mit den Juristen kann helfen, diese Unsitten zu bekämpfen, so dass die juristische Reflexion auf diese Weise der Moralphilosophie einen Dienst erweisen kann. Auch wenn die metaethische Obsession, wie aufgezeigt, unter ihrem eigenen Gewicht zusammengebrochen ist, kann der Kontakt mit den Juristen doch aktiv zu ihrem definitiven Untergang beitragen. Die Juristen sind begierig, 39 Vgl.
Dworkin (Fn. 1), S. 14.
Hugo Seleme
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Lösungen für materielle Probleme zu finden, was mit der „linguistischen Diät“ der von der Metaethik Besessenen unvereinbar ist. Auch wenn der aktivistische Dilettantismus ebenfalls keine große Gefahr darstellt, kann auch er durch den Kontakt mit den Juristen bekämpft werden. Diese Art des Dilettanten neigt dazu, sich gegenüber den Philosophen als Jurist und gegenüber den Juristen als Philosoph zu gerieren. Die Philosophen verzeihen ihm seinen Mangel an fachlicher Ausbildung, weil sie davon ausgehen, dass das, was er zu sagen habe, irgendeine juristische Relevanz habe. Die Juristen hören ihm gewöhnlich zu, weil er sich als Philosoph präsentiert. Es gibt nichts besseres, als dass die einen und die anderen zusammentreffen, damit offensichtlich wird, dass der Dilettant weder Philosoph noch Jurist ist. Schließlich, und das ist am wichtigsten, kann der Kontakt mit den Juristen helfen, das schädlichste Laster der Moralphilosophie zu korrigieren, indem die Moralphilosophen ihr Bewusstsein hinsichtlich des „menschlichen Ausmaßes“ der Probleme, denen sie gegenüberstehen, und der Lösungen, die sie vorschlagen, schärfen. Aufgrund ihres konkreten, praktischen und verantwortungsvollen Charakters kann die juristische Reflexion dazu beitragen, dass die Moralphilosophen in ihrem Streben nach den letzten Prinzipien nicht den Kontakt mit der primären Erfahrung, Menschen zu sein, verlieren. Der Kontakt mit den Juristen kann helfen, dass die Moralphilosophen nicht der Versuchung erliegen zu glauben, dass sie – wenn sie nicht irrational sein wollen – für jeden Grund einen weiteren, ihn stützenden Grund finden müssen. Dieser Fehler hat die Moralphilosophen dazu geführt, auf die grundlegendsten Moral erfahrungen zu verzichten. Dass wir keinen Grund für die Vorstellung anführen können, dass die Tötung eines Menschen wegen der bloßen Tatsache, dass es sich um einen Menschen handelt, unmoralisch ist, führt beispielsweise nicht dazu, dass wir die Idee von dem grundsätzlichen Wert eines Menschen aufgeben müssten. Wie Williams aufzeigt, beweist dies vielleicht einfach nur, dass der moralische Wert der Menschheit „[…] is more directly convincing than any reason that might be advanced for it […] is more convincing as a reason than any reason which might be advanced for its being a reason […]“.40
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Williams (Fn. 18), S. 81.
Autoren und Herausgeber Autoren und Herausgeber Autoren und Herausgeber Autoren und Herausgeber
Arena, Federico: 1979 in Córdoba (Argentinien) geboren. Sein Doktorat in Rechtsphilosophie und juristischer Bioethik erwarb er an der Universität Genua. Forschungsaufenthalte führten ihn an die Université Paris X und an das King’s College in London. Er ist Mitglied des Nationalrats für wissenschaftliche und technische Forschung (CONICET) und Gastprofessor an der Universidad Alberto Hurtado (Chile) und sowie am ITAM (Mexiko). Bouvier, Hernán: 1974 in Corrientes (Argentinien) geboren. Er promovierte sowohl an der Universität Genua als auch, unterstützt durch den DAAD, in Deutschland. Bouvier ist Mitglied des Nationalrats für wissenschaftliche und technische Forschung (CONICET) und Professor an der Universität Córdoba. Chehtman, Alejandro: 1976 in Buenos Aires geboren. Seinen Doktortitel erwarb er an der London School of Economics. An der Universität von Buenos Aires qualifizierte er sich zudem zum Magister in Politischer Theorie. Er ist außerordentlicher Professor an der Universidad Torcuato Di Tella (Buenos Aires) und Mitglied des Nationalrats für wissenschaftliche und technische Forschung (CONICET). Ferrante, Marcelo: 1970 in Buenos Aires geboren. Er ist Master und Doktor der Rechte der Yale University (USA), wo er seine Studien dank eines Fulbright- und eines Universitätsstipendiums absolvierte. Ferrante ist Professor für Strafrecht an der Universidad Torcuato Di Tella (Buenos Aires). Er war Juristischer Sekretär am Obersten Gerichtshof Argentiniens und ist aktuell Juristischer Sekretär bei der Bundesstaatsanwaltschaft. Iosa, Juan: 1975 in Córdoba (Argentinien) geboren. Sein Doktorat erwarb er an der Universität Córdoba. Er war Fulbright-Stipendiat. Gegenwärtig ist er Mitglied des Natio nalrats für wissenschaftliche und technische Forschung (CONICET) und Professor für Rechtsphilosophie an der Universität Córdoba. Manrique, María Laura: 1976 in Córdoba (Argentinien) geboren. Ihr Magister- und Promotionsstudium absolvierte sie an der Universität Pompeu Fabra (Barcelona). Ihr Postdoktorandenstudium führte sie an das Institut für Philosophische Forschung der Universidad Autónoma de México. Sie ist Mitglied des Nationalrats für wissenschaftliche und technische Forschung (CONICET). Navarro, Pablo: 1963 in Santiago del Estero (Argentinien) geboren. Er ist Doktor der Rechte der Universität Córdoba und war Professor für Rechtstheorie an der Universität Pompeu Fabra (Barcelona). Als Postdoc verbrachte er einen Forschungsaufenthalt an der Universität Oxford. Navarro war Stipendiat der Guggenheim-Stiftung. Er ist Leiter des Nationalrats für wissenschaftliche und technische Forschung (CONICET) und des CórdobaSeminars.
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Autoren und Herausgeber
Pawlik, Michael: 1965 in Düsseldorf geboren. Seine Promotion und Habilitation erfolgten an der Universität Bonn, den Master of Laws erwarb er an der Universität Cambridge. Seit 2013 ist er Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Freiburg, zuvor war er an den Universitäten Rostock und Regensburg tätig. Pawlik ist Mitglied der Leopoldina, der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und Künste sowie Inhaber mehrerer Ehrendoktorate und Gastprofessuren. Peralta, José Milton: 1975 in Córdoba geboren. Er ist Doktor der Rechte und Professor für Strafrecht an der dortigen Universität. Als Doktorand und Postdoc forschte er als Stipendiat des DAAD in Deutschland, als Fulbright-Stipendiat in den Vereinigten Staaten und als externer CONICET-Stipendiat in England. Er ist Mitglied des Nationalrats für wissenschaftliche und technische Forschung (CONICET). Pérez Barberá, Gabriel: 1967 in Córdoba geboren. Er ist Doktor der Rechte der Universität Córdoba, Professor für Strafrecht ebendort und Professor für Postgraduiertenstudien an der Universidad Torcuato Di Tella (Buenos Aires). Ferner war Pérez Barberá Richter an einer Berufungskammer für Strafsachen; gegenwärtig arbeitet er als Bundesstaatsanwalt für Wirtschaftsstrafrecht. Seine Promotions- und seine Postdoc-Zeit verbrachte er in Deutschland. Er war Stipendiat des DAAD und der Alexander von Humboldt-Stiftung. Sánchez Brígido, Rodrigo: 1973 in Córdoba geboren. Er erwarb seinen Magister der Philosophie an der Universität Córdoba und seinen Doktor der Rechte an der Universität Oxford, wo er als Stipendiat der Europäischen Union und des Clarendon Fund tätig war. Er ist Professor für Rechtsphilosophie an der Universität Córdoba. Außerdem ist er Juristischer Sekretär am Obersten Gerichtshof Argentiniens. Sarrabayrouse, Eugenio: 1964 in Buenos Aires geboren. Seinen Doktortitel erwarb er an der Universität Buenos Aires. Er absolvierte seine Promotions- und Postdoktorandenstudien als Stipendiat des DAAD und der Alexander von Humboldt-Stiftung. Gegenwärtig ist er Professor für Strafrecht für das Aufbaustudium an der Universidad de Buenos Aires und an der Universidad de Palermo (Buenos Aires). Außerdem ist er Revisionsrichter in Strafsachen. Seleme, Hugo: 1968 in Córdoba geboren. Er ist Doktor der Universität Córdoba. Gegenwärtig wirkt er als Professor für Rechtsethik und -philosophie an der Universität Córdoba. Zudem ist er Gastprofessor an der Universidad Pompeu Fabra (Barcelona), am Heidelberg Center for Latin America (Chile) und an der Universidad San Andrés (Buenos Aires). Zudem ist er Mitglied des Nationalrats für wissenschaftliche und technische Forschung (CONICET).
Textnachweise Textnachweise Textnachweise Textnachweise
Gabriel Pérez Barberá/Michael Pawlik: Einleitung. Originalbeitrag. Federico José Arena: Normative Stereotype und Strafrecht. Erstveröffentlichung unter dem Titel „Los estereotipos normativos en la decisión judicial. Una exploración conceptual“ in: Revista de derecho, Vol. 29, Valdivia (Chile), 2016, S. 51 ff. Hernán G. Bouvier: Determinismus, Irrtum und Freiheit. Originalbeitrag. Alejandro Chehtman: Die extraterritoriale Reichweite des Rechts zur Bestrafung. Erstveröffentlichung unter dem Titel „The Extraterritorial Scope of the Right to Punish“ in: Law and Philosophy, Vol. 29, 2010, S. 127 ff. Marcelo Ferrante: Neubetrachtung des „glücklichen Zufalls“. Erstveröffentlichung unter dem Titel „Recasting the Problem of Resultant Luck“ in: Legal Theory, Vol. 15, 2009, S. 267 ff. Juan Iosa: Negative Freiheit, persönliche Autonomie und Verfassung. Erstveröffentlichung unter dem Titel „Libertad negativa, autonomía personal y constitución“ in: Revista chilena de derecho, Vol. 44, Santiago de Chile, 2017, S. 495 ff. María Laura Manrique: Handlung, dolus eventualis und Doppelwirkung. Erstveröffentlichung unter dem Titel „Acción, dolo eventual y doble efecto“ in: Revista Brasileira de Filosofía, Vol. 236, Sao Paulo, 2012, S. 91 ff. Pablo E. Navarro: Implizite Rechte und Verfassungsgrenzen. Erstveröffentlichung unter dem Titel „Derechos implícitos y límites constitucionales“ in: Revista Brasilera de Filosofía, Vol. 58, Sao Paulo, 2009, S. 38 ff. José Milton Peralta: Chantage als Ausbeutung – Über das Unrecht der bedingten Androhung erlaubter Taten. Erstveröffentlichung in: ZStW 124 (2012), S. 881 ff. Gabriel Pérez Barberá: Wahrheit und Beweis im Strafprozess. Originalbeitrag. Rodrigo Sánchez Brigido: Strafrecht, Autorität und die epistemische Konzeption. Originalbeitrag. Eugenio C. Sarrabayrouse: Frankfurt und seine beiden Schulen. Erstveröffentlichung unter dem Titel „Frankfurt y sus dos escuelas: un estudio comparativo de la escuela penal y la filosófica“ in: Baigún, David (Hrsg.), Estudios sobre justicia penal. Homenaje al profesor Julio B. J. Maier, Del Puerto, Buenos Aires, 2005, S. 925 ff. Hugo Seleme: Sollen die Moralphilosophen von den Juristen lernen? Erstveröffentlichung unter dem Titel „¿Deben los filósofos morales aprender de los juristas?“ in: Doxa. Cuadernos de Filosofía del Derecho, Vol. 37, 2014, S. 263 ff.