Stoffwechsel: Materialverwandlung in der Architektur 9783035608199, 9783035610185

Constructing material Materiality is a recurring and central issue in architecture. This book explains how materials a

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German Pages 320 Year 2017

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Table of contents :
INHALT
VORWORT: ANOTHER BRICK IN THE WALL
1. EINFÜHRUNG: WEITERSTRICKEN
2. WEGE ZUR MATERIE
3. STOFFE DER NATUR
4. DIE VIER ELEMENTE DER ARCHITEKTUR
5. DIE NATUR DER STOFFE
6. DAS LEBEN DER MATERIE
7. DIE THEORIE UND PRAXIS DES STOFFWECHSELS
8. DAS PRINZIP DER BEKLEIDUNG
9. AFFEN DER STOFFE
10. IMMATERIALITÄT UND FORMLOSIGKEIT
LITERATUR
PERSONENREGISTER
ABBILDUNGSNACHWEIS
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Stoffwechsel: Materialverwandlung in der Architektur
 9783035608199, 9783035610185

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STOFFWECHSEL

Ákos Moravánszky

STOFF WECH SEL Materialverwandlung in der Architektur

Birkhäuser Basel

INHALT Vorwort: Another Brick in the Wall  7 1.

Einführung: Weiterstricken  15 2.

Wege zur Materie  29 3.

Stoffe der Natur  61 4.

Die vier Elemente der Architektur  93 5.

Die Natur der Stoffe  133 6.

Das Leben der Materie  163 7.

Die Theorie und Praxis des Stoffwechsels  187 8.

Das Prinzip der Bekleidung  217 9.

Affen der Stoffe  265 10.

Immaterialität und Formlosigkeit  289 Literatur  311 Personenregister  315 Abbildungsnachweis  318

VORWORT: ANOTHER BRICK IN THE WALL Lust werde rege zum Sang, wie sich Formen in andere Körper wandelten. Götter, o seid – denn ihr ja habt gewandelt − meinem Beginnen geneigt und vom Uranfange der Schöpfung führt bis auf unsere Zeit des Gedichts fortlaufenden Faden. Ovid, Metamorphosen1

Die Mitgliedschaft in der Tégla-brigád (Backsteinbrigade) gehört zu den prägenden Ereignissen meines früheren Lebens als junger Architekt in Budapest. Damals war das Stadtbild stärker als heute von Backsteinfassaden geprägt. Vor allem die vielen infolge des Zweiten Weltkriegs geschlagenen Baulücken offenbarten ihre zu Fassaden gewordene rohe, ausdrucksvolle Materialität. (Abb. 0.1) In dem großen, für die Planung öffentlicher Bauten spezialisierten Architekturbüro in Budapest, wo ich nach meinem Diplom angestellt wurde, waren die Ateliers der leitenden Architekten als sozialistische Brigaden bezeichnet. Obwohl die meisten Brigaden des Büros die Namen berühmter Architekten trugen (es gab unter anderem eine Vitruv-Brigade), hatte unser Atelierchef, ein in Ungarn bekannter Architekt und Chefredakteur der wichtigsten Architekturzeitschrift des Landes, große Freude daran, den unheroisch klingenden Namen eines bescheidenen Werkstoffs zu wählen. Er war ein Kenner der englischen und skandinavischen Backsteinarchitektur und unternahm alles, um in seinen eigenen Projekten dieses wegen des hohen Arbeitsaufwands und der niedrigen Lohnnormen für Maurerarbeiten in der staatlichen Bauindustrie ungeliebte, oft sogar abgelehnte Material zu verwenden. Ich war damals an der Entwicklung eines vorgefertigten Panelsystems mit Backsteinverkleidung beteiligt, das bei dem Bau eines Institutsgebäudes der Technischen Universität Budapest zur Verwendung kommen sollte. Dass Mitarbeiter der Baufirma nach Dänemark reisen durften, um entsprechende Vorbilder zu studieren, war für die Akzeptanz des Namens unserer Brigade bestimmt nicht abträglich. Es gab noch einen weiteren Grund für die Namensgebung, was nur mit der zur Ironie neigenden Welt des Spätsozialismus erklärbar ist. Der heroische Klang der »Backsteinbrigade« schien gut zu der von Lenin definierten Rolle der Gewerkschaften als Antriebsriemen der Partei in den Produktionsbetrieben zu passen, um die »arbeitende Intelligenz« zu höheren Leistungen anzuspornen. Das Mauern mit Ziegeln, ein Thema in Traktaten und Darstellungen seit den Anfängen des Buchdrucks, wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Experimentierfeld, um Methoden zur Erhöhung der Arbeitseffizienz zu erforschen. (Abb.  0.2) Der amerikanische Pionier von time and motion studies, Frank Bunker Gilbreth, hatte bereits um 1900 die Arbeit eines Maurers gefilmt, seine Bewegungen ausgewertet und Vorschläge zur Reduktion der Bewegungen gemacht.2 In der Sowjetunion sollte die nach dem Alexej G. Stachanow benannte

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Vorwort: Another Brick in the Wall

0.1 Brandmauer in einer Bau­lücke

in Budapest, Dessewffy utca.

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Stachanow-Bewegung durch eine Erhöhung der Normen die Maurer zu Rekordleistungen motivieren. Den Begriff »Backstein« konnte man aber auch als einen Hinweis auf die konspirative Vergangenheit der Arbeiterbewegung verstehen, aus der die Brigaden hervorgegangen waren. Dort hatte man den beim Feind »eingebauten« Informanten als »Ziegel« bezeichnet, also jemanden, der sich nur scheinbar mit der Organisation identifizierte. Natürlich hatte diese Formulierung vor dem Hintergrund des Staatssozialismus wiederum eine andere Bedeutung, die zwar von unserem Chef intendiert war, wobei es aber zu den Spielregeln gehörte, sie unbemerkt zu lassen. Solche Doppeldeutigkeiten gehörten zum Instrumentarium der politischen Kunst und Architektur der 1970er-Jahre in Ost- und Mitteleuropa. Damals war eine beliebte Taktik der sogenannten Andersdenkenden, den bürokratischen Staatsapparat zu provozieren, indem sie diesen mit der eigenen Rhetorik der revolutionären Anfänge konfrontierten. Dieses Ziel war in unserem Fall aufgrund der Ambivalenz des Backsteins erreicht. Das Vibrieren zwischen Eingliederung und Individualität bis zur Opposition oder gar Subversion sagt jedoch auch viel über die Komplexität von Bedeutungen aus, die mit dem Werkstoff Backstein assoziiert werden, aber durchaus zum Alltagsleben der Intelligenz im Sozialismus gehörten. Die Bezeichnung »Backstein« hat in vielen Sprachen einen metaphorischen Sinn. »She was a perfect brick«, bedeutet in Großbritannien, dass die Stärken der betreffenden Person Verlässlichkeit und Wärme sind, dass sie sich in eine Familie oder Gruppe bereitwillig einfügt. Die Fügsamkeit des perfect brick ist aber nicht gefragt, wenn man nichts mehr ist als another brick in the wall (Pink Floyd). Der in mehreren Sprachen verbreitete Ausdruck, »den eigenen Ziegelstein in den gemeinsamen Bau einzufügen« bedeutet, den eigenen Beitrag für die gemeinsame Sache zu leisten. Solche Ausdrücke verweisen auf den Verband, der den Sinn des Mauerwerks und damit den des Ziegels ausmacht. Sonst wäre der geometrisch geschnittene Tonklumpen kaum dafür geeignet, so zahlreiche vielschichtige Assoziationen hervorzurufen. Oder doch: Selbst mit dem Ziegelstein »in sich« sind mensch-

Vorwort: Another Brick in the Wall

0.2 Abbildung zum Stichwort Mauerwerk (Maçonnerie) in der Encyclo­pédie. Recueil de planches, sur les sciences, les arts libéraux, et les arts méchaniques, avec leur explication. Paris 1769.

liche Qualitäten verbunden – andere als mit dem Naturstein. Im Kontrast zur Härte des Granits, zur Ewigkeit des Marmors, zu eher übermenschlichen Eigen­schaften, erweckt der von menschlicher Hand hergestellte und eingebaute Ziegel Assoziationen an Wärme. Dabei ist der Ziegel ein Industrieprodukt: Seine Abmessungen sind normiert, er wird aus mineralischen Rohstoffen (genau wie sein kultureller Gegenpol, der oft als »unmenschlich« bezeichnete Beton, der Sündenbock für Naturzerstörung) am laufenden Band hergestellt und eingebaut. Alvar Aalto nahm dies als Ausgangspunkt, um sein Verständnis von Architektur zusammenzufassen: »Ich war einmal in Milwaukee zusammen mit meinem alten Freund Frank Lloyd Wright, der dort einen Vortrag hielt, welcher folgendermaßen begann: ›Wissen Sie, meine Herrschaften, was ein Ziegelstein ist? Er ist eine Bagatelle, er kostet 11 Cents, er ist ein wertloses banales Ding, das aber eine besondere Eigenschaft hat. Geben Sie mir diesen Ziegelstein und er wird sofort umgewandelt in den Wert seines Gewichtes in Gold.‹ Es war vielleicht das einzige Mal, dass ich so brutal und demonstrativ einem

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Vorwort: Another Brick in the Wall

0.3 Die Fassade des Weinguts Gan-

tenbein in Fläsch mit Backsteinelementen ausgefacht, die von einem Roboter gelegt wurden. Architektur: Bearth & Deplazes, Fassade: Gramazio & Kohler, 2006.

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Publikum sagen hörte, was Architektur ist. Architektur ist, den wertlosen Stein zu einem goldenen Stein umzuwandeln.«3 Adolf Loos war von dem relativen Wert von Stoffen für den Künstler ebenfalls überzeugt: »Was ist mehr wert, ein kilo stein oder ein kilo gold? […] Der künstler wird antworten: Für mich sind alle materialien gleich wertvoll. […] Der künstler […] hat nur einen ehrgeiz: Das material in einer weise zu beherrschen, die seine arbeit von dem werte des rohmaterials unabhängig macht.«4 Ludwig Mies van der Rohe formuliert seine Auffassung vom Wert in der Architektur anders, aber die Aussage klingt ähnlich: »Ob wir hoch oder flach bauen, mit Stahl und Glas bauen, besagt nichts über den Wert dieses Bauens. […] Aber gerade diese Frage nach dem Wert ist entscheidend.«5

Vorwort: Another Brick in the Wall

0.4 Roboter beim Mauern eines Fassadenelements.

Einen wertlosen Stein in einen goldenen Stein zu verwandeln, Architektur als Alchemie: Das wäre eine mögliche Auslegung der Stoffwechseltheorie Gottfried Sempers, die aus der Betrachtung der Produkte des menschlichen techné die Umwandlungsfähigkeit der Werkstoffe erklärt. Heute beschleunigt sich aufgrund der neuen Möglichkeiten, welche die Materialforschung der Baustoff­ industrie eröffnet, der Prozess der Umwandlung. Aus einem alten Handwerk, bei dem Steinblöcke und Holzscheite aufeinandergelegt oder zusammengefügt wurden, ist eine Präzisionstechnologie geworden, die sich aber weiterhin auf die mythischen Anfänge des Konstruierens beruft. Die am Beispiel der Backsteinbrigade gezeigte Doppeldeutigkeit des Ziegels ist nicht nur linguistischer Art. Sie hat mit der Ambivalenz dieses Werkstoffs selbst zu tun. Wohin gehört der Backstein: zum Handwerk oder zur Industrie? Ist es das abstrakte dreidimensionale Modulnetz, das in den bekannten Axonometrien der Häuser von Mies van der Rohe zur Architektur wird? Ist es die Präsenz des gebrannten Tons wie bei der Fassade des MIT-Studentenheims von Aalto? Oder steht vielmehr die sorgfältige Arbeit des Maurers im Vordergrund? An welchen Aspekt denkt der Architekt, wenn er am Bildschirm mit ein paar Mausklicks ein Ziegelmuster mit Roll- und Laufschichten füllt? Ist Backstein immer noch »Bedeutungsträger«, oder kommt es ausschließlich auf den auch optisch vermittelten, aber durchaus haptischen Reiz der Oberfläche an, wie es viele Architekten neuerdings verkünden? Dem verbreiteten Bild von einem festen Backstein steht die Wirklichkeit seiner Entstofflichung oder Verflüssigung gegenüber. Ziegelfabriken können aus Ton Steine in den verschiedensten Formen und Formaten herstellen, die dann Roboter oder computergesteuerte Drohnen zusammensetzen und mit synthetischen Klebstoffen fixieren. Für das Weingut Gantenbein in Fläsch von Bearth & Deplazes Architekten entwickelte das Büro von Fabio Gramazio und Mat­ thi­as Kohler mithilfe von Robotern vorgemauerte Mauerwerkelemente, die in ein Betonfachwerk eingefügt wurden. (Abb. 0.3, 0.4) Der Maurerroboter wurde so programmiert, dass er die Backsteine einem Muster entsprechend drehte. So entstand eine textilartige plastische Oberfläche. Da die Steine mit einem von

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Vorwort: Another Brick in the Wall

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dem Roboter aufgetragenen synthetischen Zweikomponentenkleber zusammengeklebt wurden, gibt es keine Lagerfugen. Die Stoßfugen hingegen sind offen, was der Mauer eine leichte Wirkung verleiht.6 Die früher als moralische Eigenschaft verstandene Widerstandsfähigkeit des Ziegels lebt hier auf einer Metaebene weiter, selbst wenn jetzt die unsichtbare Klebeschicht fester ist als keramischer Stein. Obwohl das auf das Handwerk des Maurers abgestimmte Format für den Robotermaurer oder für die ebenfalls von Gramazio und Kohler entwickelten Maurerdrohnen keine Rolle mehr spielt, bleibt der »traditionelle« Ziegelstein unverzichtbar, weil die Architekten die mit ihm assoziierten, noch aus dem Handwerk stammenden Bedeutungen des Backsteins weiterhin brauchen, zumindest um eine Spannung zwischen der alten festen und seiner neuen plastischen Identität aufzubauen. Diese Identität, wie wir gesehen haben, hat mit den aktuellen Herstellungsmethoden wenig zu tun. Sie ist geschichtlich entstanden, wird in den Medien reproduziert und von der Ziegelindustrie für Marketingzwecke gebraucht. Nachdem die negativen Konsequenzen der postmodernen Bilderbucharchitektur in unseren Städten uns deutlich vor Augen geführt wurden, schlägt heute das Pendel wieder in Richtung der Fetischisierung oder Spektakularisierung des Materials, wie sie sich zum Beispiel in einem Interesse an der mit ihm verbundenen Atmosphären äußert. Ganz gleich, ob das Material zu einem medialen Konstrukt oder auf den Produzenten reduziert wird: Beide Haltungen sind ähnlich fundamentalistisch. Sie ignorieren jenen Zwischenbereich, wo sich Konzepte und Stoffe in einem ständigen Transformationsprozess befinden, wo Material, Handwerker, Arbeiter, Techniker, Maschine, Bild und Begriff sich gegenseitig bedingen und beeinflussen. Allein die Bewegung des Maurers, der einen Ziegel nimmt, in Position dreht, Mörtel aufträgt und den Stein den Regeln eines Verbands folgend auf das entstehende Mauerwerk legt, ist keine bloß handwerkliche Geste, sondern eine auch mit Methoden der Mechanisierung und Industrialisierung normierte Bewegung. Sie war auf der »traditionellen« Baustelle nur im Zusammenhang mit den Rhythmen und zeitlichen Prozessen sinnvoll; die Arbeitsschritte des Maurers lenkten diesen Prozess und fügten sich in ihn ein. Für uns verkörpert der Ziegelstein noch immer diese Bewegungen und Gesten, selbst wenn diese »traditionelle« Baustelle weitgehend von Maschinen und Softwares übernommen wurde. Inzwischen sehen wir die Qualitäten des idealisierten Handwerkers, wie Richard Sennett sie beschreibt, eher romantisch-verklärt. Seine Klage, Computerisierung mache den Menschen zu einem passiven Zuschauer und Konsumenten, der durch die Trennung von Hand und Kopf das Handwerk zerstöre, ist allerdings unbegründet. Wie das Beispiel des Robotermaurers zeigt, erfordert die Entwicklung eines solchen Programms ebenfalls handwerkliches Können.7 Dass die Figur des »ehrlichen Ziegels« in Sennetts Buch immer noch herhalten muss, wenn es um die moralischen Grundlagen des Berufs geht, zeigt, wie kurz unser Wissen von den Zusammenhängen der heutigen Architekturproduktion greift. Ovids Metamorphosen waren der erste Versuch, die antiken Mythen der Verwandlung, die in der Kunst seit Jahrhunderten weiterwirken, in Verse zu fassen. Im Rom des 1. Jahrhunderts erlebte der Dichter eine Zeit politischer Umwälzungen, die ihm bestätigten: Obwohl alles fließt und alle Formen einem ständigen Wechsel unterliegen, sind diese Transformationen nicht zufäl-

Vorwort: Another Brick in the Wall

lig, denn sie folgen beständigen Gesetzen des Entstehens und Werdens. Für Ovid, der seine Gedichte zuerst der Liebe und der Liebeskunst widmete, waren Begehren und Leidenschaft die Auslöser für Verwandlungen, die dann vom Schicksal in glückliche oder unglückliche Bahnen gelenkt werden. Es geht in dem vorliegenden Buch um Metamorphosen, um die alche­ mistischen Transformationen von Stoffen in der Architektur. Das Panelsystem mit einer Backsteinoberfläche damals in Budapest und die digitale Materialität der Wandelemente von Gramazio und Kohler heute sind zwei Stationen in diesem Prozess, die aber keine lineare Trajektorie zeigt. Es geht vielmehr um ein Vibrieren des Stoffs zwischen Natur und Technik, Fetisch und Feind, Wissenschaft und Sinnlichkeit. Dieser Beitrag zur Architekturtheorie ist ­ ­another brick in the wall, allerdings soll er erklären, wie das Material Ziegel selbst »konstruiert« wird. »Konstruktion« meint hier nicht den technologischen Herstellungsprozess, sondern die Art und Weise, wie ein Werkstoff zum Objekt der Kultur wird, und den theoretischen Diskurs, welcher seine Verwendung rechtfertigt und reguliert. Kurzum, es geht um die Konstruktion der Bedeutung der Werkstoffe, also um einen historischen Prozess. Selbst dieser Diskurs ist ein Mikrokosmos, in dem alle wichtigen Themen der Architekturtheorie vertreten sind wie etwa die Frage der Tradition, der Zeitlichkeit oder der Ortsbindung. Die Arbeit an diesem Buch war ein langer, immer wieder unterbrochener Prozess. Mit der Sammlung des Materials habe ich bereits in den Jahren zwischen 1986 und 1988 während meines Aufenthalts am Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München begonnen und dann am Getty Center for the History of Art and the Humanities in Santa Monica, Kalifornien, fortgesetzt. In den mehr als 20 Jahren der Entstehung des Manuskripts wurde ich von vielen Kollegen an diesen Forschungsinstituten und dann an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich unterstützt. Sehr wertvoll waren für mich Gespräche mit Architekten und Ingenieuren. Ganz besonders möchte ich mich bedanken bei Marianne Burkhalter, Adam Caruso, Andrea Deplazes, Tom Emerson, Annette Gigon, Fabio Gramazio, Mike Guyer, Adolf Krischanitz, Harry Francis Mallgrave, Peter Märkli, Boris Podrecca, Joseph Schwartz, Jonathan Sergison, Christian Sumi und Jo Tailleu. Ich danke ferner allen Personen und Institutionen, die mir Dokumente und Bilder zu Verfügung gestellt haben. Hervorheben möchte ich neben den Archi­ tekturbüros, die im Bildnachweis stehen, auch Markus Joachim, Leiter der Baubibliothek der ETH, Daniel Weiss vom gta Archiv, Shigeru Ban, Leon Faust, Ricardo Joss, Karl R. Kegler, Bertalan Moravánszky, Katalin Moravánszky-­ Gyöngy, Damjan Prelovšek, Johannes Schmitthenner, Adam Shaw und Jonas Wirth. Für ihre kritischen Kommentare bin ich Judith Hopfengärtner, meiner Teamkollegin am Lehrstuhl für Architekturtheorie, dankbar. Ohne die Mithilfe des Departements Architektur und des Instituts für Geschichte und Theorie der Architektur (gta) der ETH Zürich wäre diese Publikation nicht möglich gewesen. Ebenso wichtig war die Unterstützung des Birkhäuser Verlags und seiner Mitarbeiter in Basel und Wien, insbesondere von Angelika Heller und David Marold. Das Buch ist dem Andenken von Elemér Nagy (1928−1985) gewidmet, dem Architekten, Kritiker, Zeitschriftredakteur, Buchdrucker, Drachen- und Musik­ instrumentenbauer, dem Erfinder und Leiter der Backsteinbrigade.

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Anmerkungen 1 2 3 4 5

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Publius Ovidius Naso, Metamorphosen, übers. von Reinhart Suchier. Wiesbaden: Drei ­Lilien Verlag, 1986, S. 7. Frank B. Gilbreth, Motion Study. A Method for Increasing the Efficiency of the Workman. New York: D. Van Nostrand Company, 1911. Alvar Aalto, »Zwischen Humanismus und Materialismus« (1955), in: ders., Synopsis. Malerei Architektur Skulptur. Basel, Boston, Stuttgart: Birkhäuser Verlag, 1980, S. 36−38, hier S. 38. Adolf Loos, »Die Baumaterialien« (1898), in: ders., Ins Leere gesprochen 1897−1900. Paris, Zürich: Éditions Georges Crès, 1921. Nachdruck Wien: Georg Prachner Verlag, 1981, S. 133−138, hier S. 133. Ludwig Mies van der Rohe, »Die neue Zeit«, Schlussworte der Rede, gehalten auf der Wiener Tagung des Deutschen Werkbundes vom 22. bis 26. Juni 1930, in: Fritz Neumeyer, Mies van der Rohe. Das kunstlose Wort. Gedanken zur Baukunst. Berlin: Siedler Verlag, 1986, S. 372−373, hier S. 372. Fabio Gramazio, Matthias Kohler, The Robotic Touch. How Robots Change Architecture. ­Zürich: Park Books, 2014. Richard Sennett, The Craftsman. New Haven: Yale University Press, 2008. Dt. Ausgabe Handwerk, übers. von Michael Bischoff. Berlin: Berlin Verlag, 2008.

1. EINFÜHRUNG: WEITERSTRICKEN Der Begriff »Stoffwechsel« löste im 19. Jahrhundert, ausgehend von seinem naturwissenschaftlichen Ursprung, zahlreiche Interferenzen mit den Systemen der Ökonomie, Technik, Kunst und Architektur aus. Diese Wellen sind noch immer (oder wieder?) in Bewegung. Der deutsche Architekt Gottfried Semper (1803–1879) erhob die Theorie des Stoffwechsels zum zentralen Element einer »praktischen Ästhetik«. Er bezeichnete damit ein in der Geschichte der Architektur und Objektgestaltung bekanntes Phänomen: Formen, die ursprünglich mit der Bearbeitungstechnik eines Materials verbunden waren, werden später auf andere Stoffe übertragen. Semper belegte seine Stoffwechseltheorie mit zahlreichen Beispielen. Sämtliche Formen und Motive, die ihrem Ursprung nach zwar auf einige primäre Techniken und Materialien zurückgehen, werden diesem Ursprung entfremdet, sobald sie in einer neuen Umgebung mit neuen Materialien und Techniken in Kontakt kommen. Als Beispiel erwähnt er den »Holzstil« als eine den Eigenschaften des Holzes entsprechende Formensprache, die sich aber nach mehrfachen Metamorphosen zum »Steinstil« ausbilden kann.1 Die aus textilen Fasern oder Ästen geflochtenen Wände eines Hauses klingen in Backsteinmustern oder in einer Gewebe imitierenden Bemalung nach. Die Formen eines hölzernen Dachstuhls können auf Eisen übertragen werden. Die Erinnerung an die ursprüngliche Beschaffenheit bleibt so der Form der Gegenstände oder ihrer Haut eingeschrieben, ein Symbol tritt an die Stelle der direkten Bedingtheit durch das Material und die Herstellungstechnik. Die mit der Stoffwechseltheorie verknüpften Thesen wie der textile Ursprung der Wand oder das Prinzip der Bekleidung begleiteten die Entwicklung der Architektur im Laufe des 20. Jahrhunderts. Sempers Schriften, vor allem sein Hauptwerk Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten2, sind keinesfalls nur historische Dokumente der Architekturgeschichte des 19. Jahrhunderts. Sie geben der Technikphilosophie, der Theorie der digitalen Fabrikation und vor allem der Konstruktionslehre neue Impulse. Semper bot eine anregende Alternative zu den technischen Abhandlungen über Fragen der Ästhetik und der Gestaltung. Er betrachtete Gegenstände aus verschiedenen Zeiten und Orten, beschrieb ihre Herstellungstechnik und ihren Gebrauch, stellte zwischen ihnen durch oft spielerische Assoziationen Verbindungen her, um daraus weitgehende Konsequenzen für die Entwurfspraxis zu ziehen. Kein Wunder also, dass die Fäden, die Semper in der Entwicklung der »technischen und tek-

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tonischen Künste« erkannte und mit der Theorie des Stoffwechsels beschrieb, von vielen Architekten aufgenommen und weitergestrickt wurden. Dass heute Neubauten mit ihren aus Kupferstreifen oder Holzlamellen geflochtenen Fassaden in Architekturzeitschriften als monumentale Flechtwerke beschrieben werden, zeigt die nachhaltige Wirkung von Sempers technischer Ästhetik. Das Verhältnis von Form und Materie, das von Semper mit seiner Stoffwechseltheorie als Ergebnis der Betrachtung von Bauten, konstruktiven Details und Gebrauchsgegenständen quer durch die Architekturgeschichte erörtert wird, war von Anfang an eine zentrale Frage der Architekturtheorie. In der Architektur der Moderne wurde dieses Thema, ausgehend von der These der Materialgerechtigkeit, in Konstruktionshandbüchern behandelt, die das Wissen von Stoff, Konstruktion und Form kodifizierten.3 Diese Handbücher waren in Schulen und in Architekturbüros als Grundlagenwissen weitverbreitet und ließen wenig Raum für Zweifel oder Interpretationen. Sie fokussieren sich meistens auf den Knoten als Schlüssel des Verständnisses, aus dem heraus das Ganze verstanden werden kann. Wir werden sehen, dass der Knoten für Semper (wie später für Konrad Wachsmann, s. S. 222 f.) eine primäre Rolle für das technische Denken spielt, doch diese Rolle sieht er weniger in der Enthüllung als in der Verhüllung. Die labyrinthische Form des Knotens, die Semper mit suggestiven Zeichnungen zeigt, lässt seine Symbolkraft erahnen. Aber die modernen Lehrbücher über Baukonstruktion wollen nur Sicherheit vermitteln. Erst in den letzten Jahren sind Konstruktionshandbücher erschienen, die sich vom Dogma der Materialgerechtigkeit gelöst haben und sich auf ein offenes, nicht ganz abgesichertes Terrain wagen – und sogar die Theorie des Stoffwechsels behandeln.4 »Der Architekt […] ist ein ›professioneller Dilettant‹, eine Art Alchimist, der aus unterschiedlichsten Voraussetzungen und Anforderungen ungleicher Dringlichkeiten […] eine Synthese, ein komplexes Ganzen herzustellen sich bemüht«, schreibt Andrea Deplazes in seinem Handbuch Architektur konstruieren − eine für frühere Konstruktionslehren unvorstellbare Aussage.5 Es ist heute unmöglich geworden, über Material in der Architektur nur im technischen oder ökonomischen Sinne zu sprechen, ohne die Frage der Bedeutung und der Sinnlichkeit von Stoffen zu berücksichtigen. Unser kollektives Gedächtnis ist von Erinnerungen an die sinnlichen Werte von Materialien bevölkert. Steinmauer, Tongefäße, Stahlklingen, Wolltücher und Goldjuwelen sind jedoch keine bloßen mentalen Bilder, sie strahlen Wärme und Kälte, Macht und Intimität aus – Bedeutungen, die nicht nur über die physikalischen Eigenschaften, sondern auch über die rein optische Erscheinung der Materialien weit hinausgehen. Der Philosoph Theodor W. Adorno schreibt, dass Materialien keineswegs die Naturgegebenheiten sind, als welche »der unreflektierte Künstler sie leicht betrachtet. In ihnen hat Geschichte und, durch sie hindurch, auch Geist sich aufgespeichert«.6 Es ist, als wäre es gerade der Widerstand des Stoffs, restlos in Bildströmen aufzugehen, aus dem sich diese Speicherkapazität nährt. Es geht hier wohlgemerkt nicht vorrangig um Rohstoffe wie Stein, Wolle oder Metall, sondern um Produkte, welche die sinnlichen Qualitäten der Stoffe durch menschliche Arbeit wie Flechten, Schichten oder Schmieden offen­legen. Dass dabei auch die Spuren dieser Arbeit bildhaft wie beim Mauerwerk oder bei einem Gewebe in Erscheinung treten, versteht sich von selbst. Heute werden zwar Rohstoffe weitgehend maschinell, nahtlos und spurlos bearbeitet,

1. Einführung: Weiterstricken

doch Nähte und Fugen simulieren oft Erinnerungsbilder an eine handwerkliche Produktionsweise, selbst wenn das Objekt in einem Stück gepresst wird. Der Schweizer Architekt Peter Zumthor bezeichnet Sorgfalt, Können, respektvolles Fügen der Konstruktionsteile als »die Arbeit in den Dingen«: »Im Akt des Konstruierens liegt für mich der eigentliche Kern jeder architektonischen Aufgabe. Hier, wo konkrete Materialien gefügt und aufgerichtet werden, wird die erdachte Architektur Teil der realen Welt.«7 Am anderen Ende der Umgangsformen mit dem Material steht jene Entsublimierung, welche zum Beispiel die spanische Künstlerin Lara Almarcegui anstrebt. Ihre Arbeiten sind geschüttet, nicht gefügt: Hunderte von Kubikmeter Aushubmaterial, Lehmschollen und Bauschutt, welche sie als den wahren Stoff der realen Welt, ohne jegliche Idealisierung zeigen (und nicht darstellen) möchte.8 Beiden Gesten ist das beinahe nostalgische Verlangen, gemeinsam, in einer homogenisierten Medienkultur eine Schneise zur individuellen Erfahrung zu schlagen; die rohe Materie als etwas in Kommunikationsnetzen Unauflösbares wird dabei zum Talisman des Widerstands. Diese Auflehnung hat tief greifende Konsequenzen für die Methoden, mit denen die Kunst- und Architekturtheorie ihren Gegenstand untersucht. Die Fachbereiche der Kunstwissenschaft, die sich mit dem Material als Bedeutungsträger in den bildenden Künsten und der Architektur beschäftigen, sind die Materialikonografie und die Materalikonologie. Sie untersuchen die verschiedenen Verwendungsarten von Stoffen im kulturgeschichtlichen Zusammenhang und gehören zu den übergeordneten kunstwissenschaftlichen Methoden der Ikonografie und Ikonologie, anhand derer die einstige Bedeutung eines Kunstwerks mithilfe bildlicher und schriftlicher Quellen rekonstruiert wird. Die Ikonografie (eikon = Bild, graphein = schreiben) ermittelt die konkreten Hinweise, entschlüsselt Symbole und Allegorien, und die Ikonologie (logos = Sinn) deutet die tieferen Zusammenhänge eines Werks vor dem Hintergrund der Kultur der Zeit, die möglicherweise nicht einmal dem Künstler selbst bewusst waren. Der deutsche Kunsthistoriker Günter Bandmann hat als Erster auch das Material, aus dem die Kunstwerke geschaffen sind, mithilfe der Methoden der Ikonografie und Ikonologie untersucht. Seine Studien zur Veränderung der Materialbewertung in der Kunst sind diesbezüglich wegweisend. In seinem Beitrag »Bemerkungen zu einer Ikonologie des Materials« kritisiert er die verbreitete Einstellung der Kunstbetrachtung, die »das Material als quantité négligeable behandelt«, weil sie in dem Stoff bloß das Medium sieht, dessen »die nach Anschaulichkeit drängende Idee bedurfte«.9 Mit der Wertschätzung »des reinen, unkaschierten Materials in seinem natürlichen Zustand als Ausdrucksträger, Berücksichtigung des Materials als stilbildender Faktor« werde laut Bandmann im 19. Jahrhundert die Wende vom Idealismus zum Materialismus vollzogen.10 Für die Kunst- und Architekturpraxis bedeute dies eine Wende von der »Sublimierung« des Materials zur Maxime einer materialgerechten Gestaltung. Für die Architektur sind Bandmanns Kategorien allerdings irreführend. Starke Materialwirkungen, wie sie etwa aufgrund der Verwendung von Bossenquadern in der Architektur von Henry Hobson Richardson ausgehen, haben nichts mit Materialismus, sondern vielmehr mit dem amerikanischen Transzendentalismus, einer Art romantischer Naturreligion von Ralph Waldo Emerson, zu tun (s. Kapitel 5). Es wäre irreführend, Richardsons Ames Gate Lodge in North Easton (1880/81) als Beispiel des Materialismus der

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als »Sainte-Chapelle des Stahlbetons« bezeichneten Kirche Notre-Dame du Raincy (1922/23) von Auguste und Gustave Perret als idealistischen Ansatz entgegensetzen zu wollen. Sowohl Richardson als auch die Brüder Perret setzten Mate­rial mit Präzision und hohem technischen Können ein, aber weder das eine oder das andere Beispiel kann mit einer materialistischen Weltanschauung asso­ziiert werden. (Abb. 1.1, 1.2, 1.3) Die Materialikonologie hat sich seit den 1960er-Jahren als ein Zweig der Kunstwissenschaft etabliert. Thomas Raff versucht, in seinem Buch Die Sprache der Materialien eine »Anleitung zu einer Ikonologie der Werkstoffe« zu geben.11 Der Hauptteil seines Werks beschäftigt sich mit den Ausdrucksmöglichkeiten von Materialien, verbunden mit ihren physikalischen, medizinisch-magischen und symbolischen Eigenschaften, die unter anderem ihre Wertschätzung und künstlerische Anwendung bestimmen. Solche Forschungen sind inzwischen auch auf dem Gebiet der Architekturgeschichte angekommen. Christian Fuhrmeister untersucht in seinem Buch Beton Klinker Granit – Material Macht Poli­tik: Eine Materialikonographie detailliert die politische Symbolik dieser Materialien in den Jahren zwischen 1918 und 1945 und weist auf die ideologische Belastung des Begriffs »Werkstoff« aufgrund seiner Verwendung im Nationalsozialismus hin.12 Die von Bandmann begonnenen Untersuchungen werden in neuen Publikationen fortgesetzt, die zur Betrachtung der Materialität in der Architektur wichtige Ansätze und Methoden liefern.13 Die ikonografisch-ikonologische Methode allein kann jedoch den stofflichen Prozessen der Architekturproduktion nicht gerecht werden. Der Begriff »Ikonologie« ist ein Indiz dafür, dass hier eine Analyse von Darstellungen – Repräsentationen – des Mate­rials erfolgt, obwohl die Präsenz des Stoffs nicht auf seine bildhafte Erscheinung reduziert werden kann. Zur Ikonologie gesellte sich in den 1960er-Jahren die Semiotik, eine in der Sprachwissenschaft entstandene Methode zur Analyse der Kulturphänomene als Zeichensysteme. Allein der Titel des bereits erwähnten Buchs von Raff über Materialikonologie Die Sprache der Materialien deutet darauf hin, dass man die Bedeutung der Materialien wie die Wörter und Sätze einer Sprache verstehen kann. Semiotik wurde von der Postmoderne zur Kritik der sprachlichen Defizite der Moderne verwendet: ihre Unfähigkeit, Bedeutungen zu kommunizieren, die man entschlüsseln und verstehen kann. Es geht darum, Zeichen zu lesen: literarische Texte, Werbung, Körpersprache, medizinische Symptome und nicht zuletzt Architektur. Diese Zeichen waren die Gebiete der Semiotik in den 1970er-Jahren. Innerhalb kurzer Zeit wurde sie eine Wissenschaft zur Deutung der verschiedensten Phänomene von der Alltagskultur bis zum Städtebau. Ganz gleich, ob es um eine Säule, ein Portal, ein Wohnhaus oder ein Stadtbezirk ging: Die Semiotik verwendete Methoden und Begriffe, deren Grundlagen in Ferdinand de Saussures Cours de linguistique général (1906–1911) zu finden sind und die später von Theoretikern wie Umberto Eco weiterentwickelt wurden.14 In den 1990er-Jahren funktionierte diese Lehre wie eine gut geölte ­Maschine, die jederzeit fähig war, Darstellungen interpretativ zu bearbeiten, doch der ­Impuls zur Rekonstruktion der »Bedeutung« hat das Sehen zunehmend verdrängt. Diese Interpretationsmethodik übte einen direkten Einfluss auf die Kunst- und Architekturpraxis aus. Insbesondere die historischen Versatz­stücke verwertende Postmoderne von Michael Graves oder Charles Moore hat klar gezeigt, welche Resultate die Übertragung der Methodologie der Kunstgeschichte

1. Einführung: Weiterstricken

1.1 Hauptschiff der als »Sainte-­Chapelle des Stahl­betons« bezeichneten

Pfarrkirche Notre-Dame du Raincy bei Paris. Auguste und Gustave Perret, 1922/23. 1.2 Ames Gate Lodge, das Eingangsgebäude des Landguts der Industriellen­familie Ames in North Easton, Massachusetts. Henry ­Hobson Richardson, 1880/81. 1.3 Torbogen des Ames Gate ­Lodge.

oder der Literaturtheorie auf die Architektur, wie es Charles Jencks in seinem Buch Die Sprache der postmodernen Architektur (The L ­ anguage of Post-Modern Architecture) zeigte, hervorbringt.15 Die Betrachtung der Architektur als Sprache reduziert ihre Wirkung auf den kommunikativen Akt. Die Defizite der angewandten Semiotik als Theorie der Kommunikation durch Zeichen wurden in den letzten Jahren des 20. Jahr-

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1. Einführung: Weiterstricken

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1. Einführung: Weiterstricken

hunderts zunehmend klar. Im Themenheft der Architekturzeitschrift Daidalos unter dem Titel »Magie der Werkstoffe« schreibt Caroline Bos: »Vielleicht ist unsere Generation die erste, für die Material und Bedeutung vollkommen und ohne Gewalt voneinander zu trennen sind.«16 Das niederländische Architekturbüro von Caroline Bos und Ben van Berkel, UNStudio, hat das Mercedes-­ Benz Museum in Stuttgart (2001−2006) entworfen, dessen Fassade aus den zur Herstellung von Autokarosserien verwendeten Materialien, vor allem Aluminium und Glas, montiert ist. Bedeutung und Material sind hier keinesfalls voneinander getrennt, weil sie gar nicht getrennt werden können. (Abb.  1.4) Statt der unlösbaren Aufgabe, die direkte, unvermittelte Anschaulichkeit des Mate­rials der Suche nach Bedeutung entgegenzustellen, sollte man Wege finden, diese Dichotomie zu überwinden. Die Frage der Trennbarkeit von Material und Bedeutung stellte sich auch in der Schweizer Architektur am Ende des Milleniums. »Jenseits der Zeichen« war der Titel eines Unterkapitels in der erstmalig 1998 publizierten Textsammlung Architektur Denken von Zumthor.17 Einen Aufsatz mit dem gleichen Titel veröffentlichte 2001 der Schweizer Architekt und Architekturhistoriker Bruno Reichlin.18 Er berichtet darin von dem »wachsenden Widerwillen« der jüngeren Architektengeneration »gegenüber jeglichem theoretischen Konstrukt, jeder Schlussfolgerung oder Erklärung, die sowohl die schöpferische Sinngebung in der Projektierungsphase als auch die kritische Rezeption des Werkes in einem rationalen Diskurs zu erfassen versucht …«.19 Reichlin möchte der mit der Semiotik als Erklärungsmuster unzufriedenen jüngeren Generation eine Stimme geben. Im zitierten Aufsatz kontrastiert er die Rationalität der Methode mit der von ihnen gesuchten Direktheit und Wärme. Er stellt die Gründe ihrer Unzufriedenheit mit viel Empathie dar, äußert aber auch Kritik. Er vermutet Antiintellektualismus hinter den markigen Worten über eine neue Ästhetik der Unmittelbarkeit und Präsenz. So bemerkt er, dass die »Spekulation« über Synästhesie, die in der Ästhetik subjektivistischen Ansätzen den Weg ebnen sollen, einen durchaus ideologischen Charakter haben: »[…] bestimmten Künstlern«, schreibt er, wird »eine fast schamanenhafte Rolle zuerkannt, solche Gegenstände eher intuitiv als mit der Kenntnis eines Technikers und Wissenschaftlers zu erstellen.«20 Reichlin bezieht sich in seinem Beitrag auf neue Entwicklungen in der Schweizer Architektur, so auf Bauten von Zumthor. Man sei versucht, schreibt er, den durch »physische/materielle Eigenschaften des Gegenstandes« hervorgerufenen Eindruck für einen »reinen Sinneseindruck« zu halten, »der jenseits und außerhalb jeglicher kultureller und kognitiver Beeinflussung erfahren wird«.21 Dass diese Trennung zwischen der Suche nach einer Architektur »jenseits der Zeichen« und ihrem Gegenteil, dem »Kaskadeneffekt von Verweisen«, kaum möglich ist, zeigt Zumthors Architektur. In Bezug auf den Umbau eines Bauernhauses in den Graubündner Bergen aus dem 17. Jahrhundert, bekannt als Haus Gugalun (1990–1994), nennt Zumthor den Begriff »Weiterstricken«. (Abb. 1.5, 1.6) Er ließ den Stubenteil des alten Hauses zum Tal stehen, entfernte

1.4 Die Karosserie-Fassade des Mercedes-Benz Museums in Stuttgart. UNStudio, 2001–2006.

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1. Einführung: Weiterstricken

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spätere Verschalungen und erweiterte es um einen neuen Küchentrakt und einen Quergang mit Treppe, der traditionellen Abfolge von drei Trakten bei Bauerhäusern in hiesigen Bergdörfern entsprechend. An der Fassade des neuen Bauteils wirken die horizontalen Bohlen wie die Tragfäden eines Gewebes. Anstatt einer klaren Trennung von Alt und Neu, dem damals herrschenden Paradigma der Denkmalpflege, erlaubt die textile Analogie des Weiterstrickens eine formale Verknüpfung. Der Begriff bezeichnet außerdem eine Bauweise, die in Graubünden beheimatet ist. Als »Strickbauten« werden die aus Rundhölzern gefügten Blockhäuser bezeichnet. Durch die Verkämmung der Hölzer entsteht eine massive einschichtige Konstruktion, die keine weitere Aussteifung oder Verkleidung erfordert. Die Schichten überschneiden sich abwechselnd und treten an den Ecken als Vorstöße hervor. Zumthors Essay »Der harte Kern der Schönheit« entstand während seiner Arbeit am Haus Gugalun.22 Die Metaphern, die er im Text verwendet, stammen aus der Welt der Alchemie und der Literatur. Es geht um das zugrunde liegende Substrat, die materia prima, die wie in dem schönen Text des mallorquinischen Mystikers Ramón Llull (oder Raimundus Lullus, 1232−1316) »De materia« zu sprechen beginnt und ihr Wesen selbst erklärt.23 »Der harte Kern der Schönheit: konzentrierte Substanz«, schreibt Zumthor, und der Besucher des Hauses glaubt zu verstehen, was er meint: die konsequente Eliminierung darstellender Details, eine radikale Reduktion.24 Als Ergebnis greifen die traditionellen, auf Bilder fixierten Interpretationsmechanismen des Kritikers nicht mehr. »Es ist die Wirklichkeit der Baumaterialien – Stein, Tuch, Stahl, Leder […] – und die Wirklichkeit der Konstruktionen, die ich verwende, um das Bauwerk aufzurichten, in deren Eigenschaften ich mit meiner Vorstellungskraft einzudringen versuche, um Sinn und Sinnlichkeit bemüht […].25 Befinden wir uns als Besucher in Gugalun tatsächlich »jenseits der Zeichen«? Ein kleiner Exkurs möchte diese Frage beantworten. Semper beschreibt den Blockbau als eine im Vergleich zum Riegelbau archaische Bautechnik, eine »Erfindung der Bewohner nadelholzreicher Gebirgsstriche, die sie machten, wie bereits gewisse Motive des Hausbaues als Reminiszenzen älterer Zustände der Gesellschaft vor ihrer Einwanderung bei ihnen festgestellt waren«.26 Semper entnahm viele den Blockbau bzw. die Strickbauweise betreffende Informationen den Forschungen seines Zürcher Kollegen Ernst Gladbach (1812–1896). Dieser war Professor für Baukonstruktion an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich und veröffentlichte seine ­akribisch gezeichneten Bauaufnahmen unter dem Titel Der Schweizer Holzstyl in zwei Bändern (1868 und 1883). Auch er stellt eine gewisse Ähnlichkeit mit der anonymen Architektur des mediterranen Raums fest: Die Dächer der ­Blockbauten hätten eine flache, »dem ferneren Süden entsprechende Neigung, um die Schindeleindeckung mit schweren Steinen belastet, tragen zu ­können«.27 (Abb. 1.7) Die zum Tal gerichtete Giebelfassade des alten Bauteils, vergraut und stellenweise geflickt, scheint trotz ihrer »armen« Materialität die Idee des »ferneren Südens« uns eine klassische Kultur zu evozieren. In Gugalun sind die Hinweise auf den mediterranen Steinbau beabsichtigt – beginnend mit der Inschrift »Et in Gugalun ego«, die eingemeißelt in ein flaches Stück Stein als Schwelle zum Grundstück die Erinnerung an das mythische Arkadien wachrufen möchte. Vor allem ist es aber das Spiel von Ähnlichkeit und Differenz, von Alt und Neu,

1. Einführung: Weiterstricken

1.5 Peter Zumthors Skizze zur Fassade des Hauses Gugalun bei Versam, Graubünden 1990–1994. 1.6 Ostfassade des Hauses Gugalun.

Stein und Holz, Norden und Süden, das hier das »Weiterstricken« thematisiert. Im Gegensatz zu den historischen »Zitaten« in der Architektur der Postmoderne wird bei Zumthor geschichtliche Kontinuität durch die technische Metapher des Weiterstrickens und durch eine dem alten und dem neuen Bauteil gemeinsame, aber sofort wahrnehmbare Unterschiede aufweisende Stofflichkeit der Fassaden und Innenräume hergestellt. Die Naht als Stelle der Verbindung, der Verknotung von Alt und Neu, ist deshalb eine Schlüsselstelle. Sie artikuliert sich auch bei Zumthors Diözesanmuseum Kolumba in Köln, das wie Gugalun

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1. Einführung: Weiterstricken

1.7 Darstellung der Strickbauweise. Heuschoppen und Stallung in Flüelen, aus Ernst Gladbach, Der Schweizer Holzstyl in seinen cantonalen und constructiven Verschiedenheiten vergleichend dargestellt mit Holzbauten Deutschlands, I. Serie, Zürich 1882.

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bestehende Gebäudeteile integriert, in bildhaften Formen des textilen Weiterstrickens. (Abb. 1.8, 1.9) Selbst wenn der Architekt versucht, sich von der »künstliche[n] Welt der Zeichen« fernzuhalten, verbindet der Betrachter die Form mit seinen eigenen sozialen und kulturellen Erfahrungen.28 Gerade diese Verankerung in der Bedeutungsfülle der Wirklichkeit gibt der Architektur ihre gesellschaftliche Relevanz – diesseits der Zeichen. Die sinnlich erfahrbare Welt ist begrifflich nicht restlos erschließbar, es gibt Wahrnehmungsinhalte, die für die Reflexion unverfügbar bleiben. Das ist es wohl, was Zumthor mit dem »harten Kern der Schönheit« meint. Weiterstricken als Programm meint nicht nur die Einheit von Alt und Neu, sondern überhaupt, die Frage von Herstellung und Wahrnehmung in den Vordergrund zu stellen. Wir können allerdings aufgrund dieser Beispiele behaupten, dass Bild und Bedeutung als Lieblingsthemen der Postmoderne

1. Einführung: Weiterstricken

1.8, 1.9 Die Naht zwischen Alt und

Neu. Haus Gugalun, 1990–1994 und Museum Kolumba in Köln, Peter Zumthor 1997–2007.

hier zwar eine untergeordnete Rolle spielen, aber die Technik des Weiterstrickens ist in der Form der Naht bildhaft präsent. Die in dieser Einführung skizzierte Entwicklung der Interpretation des Mate­rials zeigt eine Verschiebung von den konstruktiven Grundlagen über die kulturelle Bedeutung zur sinnlichen Erfahrung. Dementsprechend erscheinen neben der technischen Fachliteratur zunehmend auch Texte, welche die Wirkmacht des Stoffs als Argument für einen posthumanen Materialismus verwenden und in den Dienst der Ökologisierung der Kultur stellen. Das vorliegende Buch ist weder Konstruktionslehre noch Architekturgeschichte, weder Mate­ rial­iko­no­logie noch Plädoyer für den Neuen Materialismus. Es möchte die Aufmerksamkeit auf Ideen lenken, die in engem Zusammenhang mit der Praxis des Entwerfens entstanden sind, um dem Diskurs über das Material wichtige Impulse zu geben. Die Auseinandersetzung mit der Theorie Sempers und die Darstellung der theoretischen Diskussion über Stofflichkeit können von der Betrachtung der Architekturbeispiele nicht getrennt werden. Die Erkennung und Anerkennung der Stofflichkeit kann der Entmaterialisierung als Effekt der Globalisierung entgegenwirken. Aus dieser Aufgabenstellung ergibt sich der Aufbau dieses Buchs. Nach dem ersten Kapitel über Materialkonzepte in der Philosophie und ihren Einfluss auf die Architektur gilt der Blick zuerst dem großen Massstab der Erde. Der aus der Natur gewonnene Stoff wird zur gebauten Umwelt, zu Gärten, Städten, Bauten und Objekten transformiert. Die Betrachtung und die theoretische wie entwerferische Interpretation dieser Umwandlung, der »Bebauung der Erde« (Rudolf Schwarz), ist Thema des zweiten Kapitels. Die Ordnungssysteme der

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1. Einführung: Weiterstricken

Materie beruhten in den frühen Naturwissenschaften auf der Lehre von den vier Elementen, und diese bildeten auch die Grundlage für Sempers These von den vier Elementen der Baukunst. Die Suche nach einer dem Wesen der Werkstoffe entsprechenden Gestaltung hat das »Gesetz« der Materialgerechtigkeit bzw. Materialwahrheit begründet, das dem Folgenden zur Kontextualisierung der Theorie Sempers dient. Die Theorie des Stoffwechsels beruht allerdings auf einer Haltung, deren Ausgangspunkt die Fähigkeit der Form bildet, aus einem Material in ein anderes zu schlüpfen. Die in der Antike formulierte These der Nachahmung als grundsätzliche Geste aller Künste scheint dem Gesetz der Materialwahrheit zu widersprechen. Der Evolutionsgedanke, die Idee von Fortschritt und Entwicklung, schließt Nachahmung, Übernahme und Transformation ebenfalls mit ein. Die Besprechung dieser Themen bildet den Auftakt zur Darstellung der Theorie des Stoffwechsels und des Prinzips der Bekleidung, die zentrale Thesen der Theorie Sempers darstellen. Ein eigenes Kapitel ist den »Affen der Stoffe« gewidmet: beliebig formbaren plastischen Materialien wie Kautschuk oder Beton, die mangels einer klaren Identität mit keiner eigenen Formensprache verbunden werden konnten. Schließlich werden zwei eng miteinander verbundene Themen besprochen. Die Entmaterialisierung nahm mit der Verwendung des Eisens als Werkstoff seinen Anfang und wird heute dank neu entwickelten »Ultra-Materialien« weitergeführt. Ihr Doppelgänger, die Formlosigkeit, wurde als Programm zuerst in der Kunst des Surrealismus formuliert. Die Wahrnehmung des »Verschwindens« der Stoffe führt auch in der Architektur zu einer Gegenbewegung: der ästhetischen Aufwertung formloser Stoffmassen und der Postulierung von »Extasen« der Materie als Atmosphäre. Aus dieser thematischen Gliederung ergibt sich eine nicht chronologische Behandlung des Themas, welche die Einbeziehung von Beispielen aus dem 20. und dem 21. Jahrhundert nicht nur erlaubt, sondern sogar erfordert. Semper habe mit seiner Stoffwechseltheorie Schienen gelegt, auf denen immer noch Züge verkehren, schreibt der österreichische Architekturkritiker Friedrich Achleitner.29 Dabei soll nicht übersehen werden, dass wir heute, nach mehr als 150 Jahren seit dem Erscheinen von Der Stil von einem verzweigten und verschlungenen Schienennetz sprechen können. Diese zu kartografieren und Schneisen des Verständnisses freizulegen, hat sich dieses Buch zur Aufgabe gemacht.

Anmerkungen 1

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Gottfried Semper, Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik. Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde. Band 1: Textile Kunst. Frankfurt am Main: Verlag für Kunst und Wissenschaft, 1860. Nachdruck Mittenwald: Mäander Kunstverlag, 1977, S. 431–432. Gottfried Semper, Der Stil, op. cit., Band 2: Keramik, Tektonik, Stereotomie, Metallotechnik für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst. München: Friedrich Bruckmann’s Verlag, 1863. Nachdruck Mittenwald: Mäander Kunstverlag, 1977. Stellvertretend sollen hier nur eine historische und eine immer noch verwendete Konstruktionslehre genannt werden: G[ustav] A[dolf] Breymann, Allgemeine Baukonstruktionslehre mit besonderer Beziehung auf das Hochbauwesen. 3 Bände. Leipzig: J. M. Gebhardt’s Verlag, 1896–1902; Nabil Al Fouad (Hg.), Lehrbuch der Hochbaukonstruktionen. 4. Aufl. Wiesbaden: Springer Vieweg, 2013.

1. Einführung: Weiterstricken

Vgl. Andrea Deplazes (Hg.), Architektur konstruieren. Vom Rohmaterial zum Bauwerk. Ein Handbuch. 3. Aufl. Basel, Boston, Berlin: Birkhäuser, 2008. 5 Andrea Deplazes, „Zur Bedeutung des Stofflichen“, in Deplazes (Hg.), Architektur konstruieren (wie Anm. 4), S. 19. 6 Theodor W. Adorno, »Funktionalismus heute«, in: ders., Ohne Leitbild – Parva Aesthetica. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1967, S. 104–127, hier S. 118. 7 Peter Zumthor, »Eine Anschauung der Dinge« (1988), in: ders., Architektur denken. Baden: Lars Müller, 1998, S. 8–26, hier S. 10. 8 Ines Goldbach (Hg.), Lara Almarcegui. Ausst.-Kat. Kunsthaus Baselland. Basel: Christoph Merian Verlag, 2015. 9 Günter Bandmann, »Bemerkungen zu einer Ikonologie des Materials«, in: Städel-Jahrbuch, Neue Folge. Band 2. München: Prestel Verlag, 1969, S. 75–100, hier S. 75. 10 Ebd., S. 76. 11 Thomas Raff, Die Sprache der Materialien. Anleitung zu einer Ikonologie der Werkstoffe. München: Deutscher Kunstverlag, 1994. 12 Christian Fuhrmeister, Beton Klinker Granit – Material Macht Politik. Eine Materialikonographie. Berlin: Verlag Bauwesen, 2001, S. 12. 13 Monika Wagner, Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne. München: C. H. Beck, 2001; Dietmar Rübel, Plastizität. Eine Kunstgeschichte des Veränderlichen. München: Verlag Silke Schreiber, 2012; Dietmar Rübel, Monika Wagner, Vera Wolff (Hg.), Materialästhetik: Quellentexte zu Kunst, Design und Architektur. Berlin: Dietrich Reimer Verlag, 2005. 14 Umberto Eco, Einführung in die Semiotik, übers. von Jürgen Trabant. 8. Aufl. München: Wilhelm Fink, 1994. 15 Charles Jencks, The Language of Post-Modern Architecture. London: Academy Editions, 1977. 16 Caroline Bos, »Schmerzhafter Materialismus«, in: Daidalos, Themenheft »Magie der Werkstoffe II«, August 1995, S. 20–25, hier S. 22. 17 Peter Zumthor, »Eine Anschauung der Dinge« (wie Anm. 7), S. 8−26. 18 Bruno Reichlin, »Jenseits der Zeichen«, in: Der Architekt, März 2001, S. 61–69, hier S. 62. 19 Ebd. 20 Ebd., S. 63. 21 Ebd. 22 Peter Zumthor, »Der harte Kern der Schönheit« (1991), in: ders., Architektur denken (wie Anm. 7), S. 27−34. 23 Raimundus Lullus, »Über die Materie«, in: Sigrid G. Köhler, Hania Siebenpfeiffer, Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.), Materie. Grundlagentexte zur Theoriegeschichte. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2013, S. 25−28. 24 Zumthor, »Der harte Kern der Schönheit« (wie Anm. 22), S. 28. 25 Ebd., S. 34. 26 Semper, Der Stil. Band 2 (wie Anm. 2), S. 312. 27 Ernst Gladbach, Der Schweizer Holzstyl in seinen cantonalen und constructiven Verschiedenheiten vergleichend dargestellt mit Holzbauten Deutschlands. 2 Bände. Hannover: Curt R. Vincentz, 1868, 1883. Nachdruck Hannover: Verlag Th. Schäfer, 1984, Einleitung, o. S. 28 Zumthor, »Eine Anschauung der Dinge« (wie Anm. 7), S. 16f. Friedrich Achleitner, »Franks Weiterwirken in der neueren Wiener Achitektur«, in: UM 29 BAU 10, August 1986, S. 125. 4

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2. WEGE ZUR MATERIE Den Sieg der Geschwindigkeit über die alte Schwere und Trägheit hat die Moderne als Sieg über die Materie zelebriert. Die als überwunden geglaubte Materie kehrte aber nach den triumphalen Augenblicken der Beschleunigung beharrlich zurück, und gerade ihre Schwere schien ihre Authentizität und ­Integrität, ihre zeitlose Präsenz zu bestätigen. Louis I. Kahn konnte sein Interesse an der monolithischen und kompakten Formen der Antike mit seinem ­Programm für eine neue Monumentalität, das er 1944 veröffentlichte, gut vereinbaren.1 Manifestationen der Schwere haben die Begeisterung der Moderne für die Leichtigkeit wie ein Schatten begleitet. Jean-Luc Nancy sucht in einer Zeit der Globalisierung nach einer »transzendentalen Ästhetik der Schwere«, nach etwas, das sich nicht in Bild und Kommunikation auflöst: »Die Existenz des kleinsten Kieselsteins ist schon überbordend. So leicht er auch sein mag, er wiegt schon dies ganze Zuviel an Gewicht.«2 Die Megalithen von Stonehenge, die Menhire an der bretonischen Küste oder die Grabbauten von Mykene erschienen späteren Betrachtern als eine d ­ irekt aus dem Stoff geborene Architektur, als die primäre Art, aus und mit der Materie Raum zu schaffen. Einen riesigen Stein aufstellen ist nicht nur eine Geste, um im Raum ein Zentrum zu markieren, sondern knochenbrechende Arbeit bis an die Grenze der Transportierbarkeit des tonnenschweren Stoffs. So entstanden unzerstörbare Bauten, welche die menschliche Geschichte überdauert haben und wahrscheinlich überdauern werden. (Abb. 2.1) Gerade deshalb hören diese Bauten nie auf, Vorstellungen anzuregen. Der niederländische Benediktiner­ mönch und Architekt Dom Hans van der Laan thematisierte das Verhältnis von »voll und hohl« in seinem Buch über den gebauten Raum und in seiner Architektur; Stonehenge gehörte zu seinen Leitbildern.3 In der Benediktiner­abtei in Vaals (1956–1968) verband er das Formen eines Backsteins mit der Form des Baukörpers, indem er über die Dialektik von begrenzter ­Materie und unbe-

2.1 Die Megalithen von ­Stonehenge, um 2500–2000 v. Chr.

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2. Wege zur Materie

2.2 Kirchenraum der Abtei St. Benedictusberg bei Vaals. Dom Hans van der Laan, 1956–1968.

grenztem Massiv sprach.4 (Abb. 2.2) Der österreichische Bildhauer Fritz Wotruba baute mit dem Architekten Fritz Gerhard Mayr die Kirche zur Heiligsten Dreifaltigkeit in Wien (1965–1976) aus großen Betonblöcken auf dem Plateau eines Hügels. Der wuchtige Bau, der ebenfalls Stonehenge in Erinnerung ruft, ist eine bewusste Gegenthese zu der Bekleidungsästhetik und Opulenz der Wiener Architekturtradition. (Abb. 2.3)

Strömender Stoff

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Die Megalithen, Bauten aus einer Zeit ohne Geschichte, sind Ebenbilder eines harrenden Stoffs. Seit der Antike wird die Materie jedoch auch mit Dynamik und Bewegung assoziiert. Der römische Dichter-Philosoph Lukrez schuf mit seinem im 1. Jahrhundert v. Chr. entstandenen Lehrgedicht De rerum natura (Von der Natur der Dinge) eine Kosmologie, die neben einer Beschreibung des stofflichen Universums auch die Stellung des Menschen in der räumlichen Welt

2. Wege zur Materie

2.3 Kirche zur Heiligsten Dreifaltigkeit, Wien. Fritz Wotruba mit Fritz Gerhard Mayr, 1965–1976.

und die Entstehung seiner Kultur in daktylischen Hexametern schildert. Er geht davon aus, dass kein Teilchen des Urstoffs im Universum fest stehe: »ein Raum ohn’ alle Grenzen und Ende / Dehnt sich ins Unermessliche aus nach jeglicher Seite«, ein »beständiger Trieb« jage die Körper.5 Das Werk von Lukrez wurde in den späteren Jahrhunderten, vor allem im 17. Jahrhundert, häufig nachgedruckt und gelesen, obwohl die Atomlehre Epikurs, auf die sich Lukrez stützte, zu der Entstehungszeit seines Lehrgedichts längst überholt war. Seine Popularität war wohl in der bildhaften Sprache begründet, die im Vergleich zu der viel komplexeren und abstrakteren Argumentation von Aristoteles sehr suggestiv gewirkt haben musste. Die im Gedicht vermittelte Vision von der Welt, gefüllt mit Materie in ständiger Bewegung, beflügelte die Fantasie von Künstlern von Leonardo da Vinci bis Robert Smithson und ist heute zum Emblem einer ökologischen Weltanschauung geworden.6 Neue Bücher über Materialität wie Jane Bennetts Vibrant Matter stellen die Vitalität des Stoffs in das Zentrum der »politischen Ökologie« als einer posthumanistischen Weltanschauung.7 Eine Geschichte der Repräsentationen der trägen Materie als Abbilder des Realen, Schweren, Körperhaften, Schattenwerfenden steht hingegen noch aus.

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2. Wege zur Materie

Materia Das Wort »Materie«, materia, entstammt der Wurzel mater, was im Lateinischen »Mutter« bedeutet, aber auch das von Rinde und Ästen bereinigte Holz, das in Sägereien verwendet wird. Davon ausgehend bezeichnete der Begriff materia alles Stoffliche, das zur Herstellung von Gegenständen dient. Im vedischen Sanskrit stammt das Wort mātrā (Stoff, Material) aus der Wurzel mā-, was die Sprachforscher mit zwei Bedeutungen verbinden. Die erste Bedeutung hat mit »machen«, »herstellen« und »hervorbringen« zu tun wie etwa bei dem Wort māna (bauen, Altar). Das Wort mātr (Mutter) ist mit dieser Bedeutung verwandt. Im Namen der antiken Göttin Demeter, einer Schwester von Poseidon und Zeus, welche die Erde fruchtbar macht und sie mit der Schönheit der Natur überzieht, finden wir die gemeinsame Wurzel. Die andere Bedeutungssphäre hat mit Messen zu tun: mātrā bedeutet auch »Maß«, und der altgriechische Begriff metis – »Scharfsinn«, »praktisches Wissen«, »Kunstfertigkeit« – hat hier seinen Ursprung. Dieser Verweis auf die Messbarkeit, welche eine materielle Stabilität voraussetzt, ist nicht zufällig in der Nähe von »Herstellung« und »Stofflichkeit« angesiedelt. In einer seiner Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse deutet Sigmund Freud ausgehend von dieser Etymologie den Stoff allgemein als das generative Prinzip der tangiblen Realität, indem er über das Holz schreibt: »Der Stoff, aus dem etwas besteht, ist gleichsam sein mütterlicher Anteil. In dem symbolischen Gebrauch von Holz für Weib, Mutter, lebt also diese alte Auffassung fort.«8 Ein weiterer Zusammenhang besteht zwischen dem Mutterleib und dem Schiff (naval, nave, Nabel). Schiffe gelten aufgrund ihrer Formen der Schönheit als weiblich, und in der architectura ­navalis, der Baukunst der Schiffe, ist die Leiblichkeit der Holzkonstruktion offensichtlich. (Abb. 2.4) Die oft unscharfe begriffliche Unterscheidung zwischen »Materie« und »Mate­ rial« geschieht vor allem aufgrund des Verhältnisses zu ihrer weiteren Verarbeitung. Der Unterschied ist nicht primär auf der technischen ­Bearbeitung gegründet, sondern epistemologisch mit der Konzeptualisierung der Welt verbunden. »Material« ist immer das Material von etwas zur Verarbeitung Vorgesehenem, wobei »Verarbeitung« ein Prozess ist, der auch auf der diskursiven Ebene aufgrund von Benennung, Systematisierung und Wertung erfolgt. Mate­rial ist deshalb nicht nur ein Gegenstand der Technik, sondern auch einer der Kultur, weshalb man etwa auch von »thematischem« oder von »psychischem Material« spricht. »Materie« dagegen ist ein Korrespondenz­ begriff zur Form. Aus Materie wird Material. Der Transformationsprozess vollzieht sich nicht nur auf der physikalischen Ebene etwa durch das Aufsägen eines Baumstamms. Er beginnt bereits viel früher mit der Intention des Bauens und der Formierung des dazu notwendigen Wissens. Wie komplex, präzise und bis in den ­kleinsten ihrer Aspekte ritualisiert diese Kenntnisse sein können, beschreibt der ungarische Schriftsteller László Krasznahorkai in seinem literarischen Bericht über den periodischen Wiederaufbau des Ise-Schreins in Japan.9 Die Fein­ma­schigkeit der Struktur dieses Wissens spiegelt sich in den ausgeklügelten Holzverbindungen und den Hunderten von speziellen Schreinerwerkzeugen wider, den Sägen, Hobeln, Schnitz- und Stemmeisen, die in ihrer Herstellung zur Verwendung kommen. 32

2. Wege zur Materie

2.4 Querschnitt eines Schiffes aus der Encyclopédie: Recueil de planches, sur les sciences, les arts libéraux, et les arts méchaniques, avec leur explication. Marine. Paris 1769.

Form und Stoff Aristoteles, inspiriert von der von ihm ansonsten bekämpften Ideenlehre Platons, führt in seiner Philosophie die seitdem verbreitete Dualität von »Form« (eidos oder morphé) und »Stoff« oder »Materie« (hylé), ein von ihm selbst gemünzter Begriff, ein. »Stoff« ist der Gegenbegriff zu »Form« als die gestaltlose, ungeformte Substanz, das »Zugrundeliegende« (hypokeimenon) als Ursprung aller sichtbaren Dinge. »Materie« ist für Aristoteles Potenz, also die unbegrenzte Möglichkeit der Bewegung, des Entstehens und des Vergehens der Ausbildung und des Verfalls von strukturierten Zuständen. Struktur ist ohne das Kontinuum der unbestimmten Möglichkeit nicht denkbar, Physis als U ­ rsprung der Bewegung kann ohne Materie als Medium nicht existieren. Als Potenz ist Stoff zugleich Sinnbild der göttlichen Schöpfung und kann nicht vom Geist getrennt betrachtet werden. Im System der aristotelischen Metaphysik führt von der untersten Stufe der reinen, trägen Materie eine Kette über die anorganischen Dinge, Pflanzen, Tiere und Menschen zu Gott als dem Prinzip aller Bewegung.

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2. Wege zur Materie

Die Materie hat für Aristoteles niemals eine konkrete Gestalt wie Holz oder Stein, bei denen das Kontinuum des Stoffs bereits eine Struktur annimmt. Das ist ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Begriff »Materie« bei Aristoteles und dem des früheren Materialismus bei Demokrit und Epikur bzw. den späteren Materialisten, welche die Materie mit dem Wirklichen gleichsetzen. Die Gestalt ist für Aristoteles in der Materie als Grundstruktur ihrer Bewegungsmöglichkeiten enthalten und nicht als eine Form; selbst ein Material wie Eisen ändert seine Eigenschaften, Farbe und Konsistenz, sobald es erhitzt wird. Aristoteles gründet damit eine bis zur heutigen Medienkunst verfolgbare Denkschule der Materialbetrachtung, in deren Fokus das Ding als transformiertes Material und die den Transformationsprozess bestimmende Idee steht. Diesen Gedanken bringt Ovid in seinen Metamorphosen auf den Punkt, indem er die Darstellung einer Burg auf einem Relief aus Elfenbein, Gold und Silber beschreibt und sie mit den viel zitierten Worte preist: »Materiam superabat opus« (Über den Stoff noch siegte die Kunst)10 – laut Bandmann die Quintessenz der idealistischen Materialästhetik. Die Materie ist also als Zugrundeliegende eine Kategorie des Denkens. Sie ist aber zugleich ein Gegenstand der Wissenschaft der Technik, die mit Instrumenten erforscht und mit Geräten bearbeitet wird. Die Baustelle als Ort der Transformation ist zugleich ein Ort der Entstehung der Theorie, der theoria als kontemplative Betrachtung der Welt.11 Robert Hahn zeigt in seinem Buch Anaximander and the Architects überzeugend, dass die Verbindung zwischen philo­ sophischen Spekulationen und Baupraxis keine Einbahnstraße ist.12 Für die frühen Vorsokratiker war die Baustelle des Tempels ein Ort, der Denk­modelle und Begriffe für ihre Interpretationen des Kosmos lieferte. Anaximander von Milet betrachtete Material und seine Bearbeitung, Geometrie, Mathematik, Bautechnik und Ritual als Teile eines komplexen, aber rationalen Zusammenhangs. Die Erkenntnisse aus dem Bauprozess konnten auf die Erklärung der Welt übertragen werden. Hahn behauptet sogar, dass Rationalität, Organisation, Kooperation, die für den Tempelbau notwendig waren, letztlich die Machtinteressen jener aristokratischen Bauherren sprengten, denen die großen Tempelanlagen ursprünglich dienen sollten.13 Aus dieser Perspektive betrachtet gebe es kaum einen geeigneteren Ort, um die Zusammenhänge von Natur, Stoff und Gewicht einerseits und optischer Wahrnehmung, Eurythmie, Massen und Proportionen andererseits zu verstehen als die Baustelle, wo riesige Steinblöcke bewegt, geformt, und präzise zu dauerhaften und stabilen Konstruktionen zusammengefügt werden. Unsere philosophischen Begriffe »Welt«, »Raum« oder »Stoff« wurden auf den Baustellen der Antike gebildet, wo Theorie als kontemplative Betrachtung und Experiment untrennbar miteinander verbunden waren.

Fabrica und ratiocinatio

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In Rom wurde der Materiebegriff der Vorsokratiker wieder aufgegriffen. ­Vitruv betont in der Vorrede zum neunten Buch seiner Zehn Bücher über Architektur (De architectura) die Bedeutung von Lukrez; die Erzählung von den Ursprüngen der Architektur ist vom fünften Buch des De rerum natura inspiriert. Für die spätere Diskussion, vor allem in der Renaissance, sollte ­Vitruvs Unterschei-

2. Wege zur Materie

dung zwischen zwei Formen des architektonischen Wissens entscheidend sein, die er als fabrica und ratiocinatio bezeichnet. Ersteres hat wie die techné der Griechen mit den handwerklich-materiellen, Letzteres mit den sprachlich-­ immateriellen Aspekten des Entwerfens zu tun: fabrica nennt ­Vitruv »die fortgesetzte und immer wieder (berufsmäßig) überlegt geübte Ausübung einer praktischen Tätigkeit, die zum Ziel eine Formgebung hat, die mit den Händen aus Werkstoff, je nachdem aus welchem Stoff das Werk besteht, durchgeführt wird«.14 Ratiocinatio sei dagegen, »was bei handwerklich hergestellten Dingen aufzeigen und deutlich machen kann, in welchem Verhältnis ihnen handwerkliche Geschicklichkeit und planvolle Berechnung innewohnt«, also Konzeption und Überlegung.15 Deshalb sei es wichtig, dass der Architekt auch mit den Händen geübt ist. Jene, die sich nur »auf die Kenntnis der Berechnung symmetrischer Verhältnisse und wissenschaftliche Ausbildung verließen, scheinen lediglich einem Schatten, nicht der Sache nachgejagt zu sein«.16 Von dieser Feststellung ausgehend leitet Vitruv dann die Notwendigkeit umfassender disziplinärer Kenntnisse des Architekten ab. Die Unterscheidung zwischen fabrica und ratiocinatio entspricht der Aufteilung des Wissens auf technisch-kon­struktive und theoretische Disziplinen. Der Entwurf vermittelt zwischen diesen Bereichen und setzt Materie und Form in einen Zusammenhang, entwirft einen Gedanken aus dem Reich der Ideen in den Raum der stofflichen Wirklichkeit. Zwischen Materie und Form herrscht ein dialektisches Verhältnis, weder ist Materie ohne Form denkbar noch Form ohne Materie. Grund genug für Vitruv, in seinem De architectura eine detaillierte Baustoff kunde samt Grundlagen in den Naturwissenschaften zu präsentieren auf der Grundlage von Theorien der Vorsokratiker wie Thales von Milet, Heraklit, Epikur und Demokrit.

Neuplatonismus und Lichtkult Der Rationalismus der Antike wurde mit dem Aufstieg des christlichen Denkens zunehmend infrage gestellt und bekämpft. Im Neoplatonismus des Plotin lebt die Philosophie der Antike in einer Form weiter, welche das Bedürfnis der Zeit nach einer Reflexion der Transzendenz des Göttlichen erfüllt. Aristoteles folgend, geht Plotin von der Gestaltlosigkeit der Materie aus, als reine Potenz, über die man nur negative Aussagen formulieren kann, nämlich was sie eben nicht ist. Wohl unter dem Einfluss der christlichen Theologie interpretiert Plotin die Materie als das Böse und Hässliche, das erst von den in sie herabgestiegenen geistigen Kräften erlöst werde. Es sei die Aufgabe der Kunst, den Abglanz des Göttlichen in seiner stofflichen Verhüllung durchscheinen zu lassen.17 Dieses Schöne wird durch aisthesis in der Plötzlichkeit der sinnlichen Wahrnehmung erfahren. In seinen als Enneaden bekannten Schriften beschreibt Plotin seine Vision mit einer bildhaften Sprache: Er fragt, wie das Körperliche mit dem Unkörperlichen übereinstimme. Seine Antwort lautet: Abgesehen von den Steinen stimmt das Haus mit der Idee überein. Es ist zwar in seiner Materialität gegliedert, aber trotz dieser Vielheit kommt die ihm innewohnende ungeteilte Idee zur Erscheinung. Die Theorie von Plotin ist wichtig, um die byzantinische Ästhetik zu verstehen. Plotins Schüler haben das System weiter ausgebaut, und im 6. Jahr-

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2. Wege zur Materie

hundert entstand jene Textsammlung, die nach seinem Autor Dionysios Areopagita Corpus Areopagiticum bezeichnet wird. Die zentrale theologische Frage des Werks ist das Verhältnis von Licht (phos) und Materie (hylé). Der Corpus ist ein semantisch präzises System von Begriffen, welche die Vision einer von gött­lichem Licht durchströmten, sinnlich wahrnehmbaren, aber rational nicht ­begreif baren Welt vermittelt. In dieser Vision wird der Urlichtstrahl zunächst im feinsten Substrat der »ersten Materie« gespiegelt; in der schweren, dunklen Materie kann dieser Lichtstrahl nur schwach wahrgenommen werden. Marmarygé heißt in der areopagitischen Ästhetik das Schimmern des Marmors und zugleich der Glanz, den »durch alle Stufen des Seins das Urlicht auf der ›ersten Materie‹ zurücklässt«.18 Die Marmorverkleidungen im Raum der ­Basilika San Vitale in Ravenna (535–547) vermitteln die Lichtmetaphysik des Areopagiten suggestiv. (Abb. 2.5) Im Mittelalter entwickelte sich das Verhältnis zwischen Materie und Form zu einem Streitthema. Einige Philosophen nahmen eine Bestimmung der Materie durch die Form, andere eine Entwicklung der Form aus der Materie an. Der artifex, der Kunstschaffende, macht die von Gott gegebenen Eigenschaften des Materials für den Betrachter direkt wahrnehmbar. Die gemeinsame Grundlage ist die These von der Anschaubarkeit, die eine Eigenschaft des Materialobjekts ist. Thomas von Aquin ist der wichtigste Vertreter einer sich auf die Lehre von Aristoteles stützenden Scholastik, die perfectio (die Integrität der Form), proportio (oder consonantia) und claritas als die wichtigsten Aspekte der Schönheit betrachtet. Das höchste Prinzip der körperlich-materiellen Schönheit ist das Licht, claritas, im physischen Sinne, was uns an die neuplatonische Ästhetik erinnert. Dieser Lichtkult im Mittelalter erreicht in der Vergeistigung und Entstofflichung der Sainte-Chapelle in Paris seinen Höhepunkt, dem sich später Architekten der Moderne unter Verwendung neuer konstruktiver Möglichkeiten (Stahl, Stahlbeton) nähern sollten oder ihn erreichten (s. S. 18 f.). Der Bericht Abt Sugers über den Wiederaufbau der Kathedrale von Saint-­Denis betont die Schönheit des Bauwerks als Ergebnis der Anschaubarkeit der physis der Materie, die in der Vollkommenheit der göttlichen Schöpfung begründet ist: »Der schwache Geist erhebt sich zum Wahren durch das Materielle / Und sehnend erhebt er sich durch das Licht aus seiner Versunkenheit.«19 Die Schönheit des Materials besteht hier vor allem in Lichtfülle, Glanz und Farbe, also in seinen optisch wahrnehmbaren Qualitäten. Der katalanische Architekt Antoni Gaudí bezieht sich auf Thomas von Aquin, indem er schreibt: »Die Schönheit ist der Glanz der Wahrheit; der Glanz verführt jeden, darum ist die Kunst universell. Wissenschaft und Vernunft sind hingegen nur einer bestimmten Intelligenz zugänglich.«20 Als Ludwig Mies van der Rohe dieses Zitat wiederholt − pulchritudo est splendor veritatis (die Schönheit ist der Glanz des Wahren) −, schlägt er bewusst oder unbewusst einen Bogen von der scholastischen Ästhetik zu Plotin und den Neuplatonikern.21 Dementsprechend schimmern die edlen Marmorplatten in den Räumen der Villa Tugendhat oder des deutschen Pavillons auf der Weltausstellung in Barcelona mit der marmarygé byzantinischer Basiliken. Das Schöne wird hier nicht mit dem von Vitruv verwendeten,

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2.5 Marmarygé: die schimmernden Marmorwände in der Basilika San Vitale in Ravenna, 537–547.

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2.6 Alpiner grüner Marmor und Travertin im Barcelona Pavillon. Ludwig Mies van der Rohe, 1929, rekonstruiert 1983–1986. 2.7 Wandscheibe aus Onyx doré im Barcelona Pavillon.

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auf die Antike und die römische Göttin Venus zurückgehende Wort venustas, sondern mit dem scholastischen, dem Erkennen Gottes zusammenhängenden Begriff pulchritudo bezeichnet. (Abb.  2.6, 2.7) Auch die Forderung nach decorum (Angemessenheit) gehört seit Sebastiano Serlio zu den Kriterien der guten Architektur. Die Verwendung reduzierter Formen, aber edler Verkleidungsmaterialien bei der Errichtung neuer Rathäuser in Skandinavien wurde mit der Würde öffent­licher Verwaltungen begründet. So hat Arne ­Jacobsen die Fassade des Rathauses der Gemeinde Søllerød bei Kopenhagen mit rosafarbigen Porsgrunn-Marmorplatten aus Norwegen verkleidet. (Abb. 2.8)

Dunkle Materie Anders als die Scholastiker bekämpften kirchliche Rigoristen wie der heilige Donatus von Besançon den Lichtkult und forderten die Dominanz der schwarzen Farbe.22 Das ästhetische Ideal, die physis der Materie mit der ent-

2.8 Fassade des Sitzungssaales, Rathaus Søllerød (heute Rudersdal) bei Kopenhagen. Arne Jacobsen und Flemming Lassen, 1939–1942.

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2.9 Hauptschiff der Kirche des Zisterzienserklosters Alcobaça in Portugal, 1178–1252.

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sprechenden techné zum Ausdruck zu bringen – eine Verbindung, die in der helle­nistischen, neuplatonischen Ästhetik noch kaum existierte –, bestimmte die Kirchen­bauten der Zisterzienser. Licht und Stein gehen hier in eine vollkommen andere Verbindung ein als in den Innenräumen der Basiliken von ­Ravenna. Fontenay, Alcobaça und andere Klosteranlagen der Zisterzienser haben die Architekten der Moderne inspiriert. (Abb. 2.9) Der französische Architekt Fernand Pouillon verfasste im Gefängnis seinen Tagebuchroman Singende Steine über den Bau des Zisterzienserklosters Le Thoronet aus der Sicht von dessen Bau­meister.23 Im alten Hafen von Marseille baute Pouillon 1950 bis 1953 Wohnhäuser und Büros mit massiven Steinblöcken, diese präzise zusammengefügt, aber mit körniger Oberfläche, wie er sein Alter Ego, Wilhelm Balz, den Baumeister von Le Thoronet, sagen lässt. In der Résidence Victor Hugo, einer großen Wohnanlage in Pantin bei Paris (1955–1957) fügte Pouillon Platten aus rotem Marmor zwischen die Pilaster. (Abb.  2.10) Der Kontrast von großen, schweren Blöcken und fein abgestimmten Oberflächen und Farben unterscheidet sein Werk von jenem Le Corbusiers. Für diesen bestand die Lehre der Architektur der ­Zisterzienser neben dem kommunalen Leben vor allem im Rhythmus von Licht und Schatten, wirkungsvoll fotografiert von ­Lucien Hervé.24

2. Wege zur Materie

2.10 Marmor und Kalkstein im Innenhof in der Résidence Victor Hugo

in Pantin bei Paris. Fernand Pouillon, 1955–1957.

Eine noch kraftvollere Gegenthese zur Transzendenz von Mies van der Rohe ist die »As found«-Materialästhetik der Brutalisten. Für sie musste der Stoff muss als der realen Welt zugehörig gezeigt werden und nicht selbst opulent wirken oder raffiniertes handwerkliches Können der Bearbeitung zeigen. »Not in the craft sense but in intellectual appraisal«, so schätzen Alison und Peter Smithson die Materialität einfacher anonymer Bauten: »a poetry without rhetoric«.25 Die magische Strahlkraft des Ordinären ist das Ergebnis einer Wertschätzung der Stoffe der gebauten Welt.26

Die Renaissance der Antike Im 15. Jahrhundert bedeutet das Interesse am »Klassischen« vor allem die ­direkte Zuwendung zu den antiken Quellen, ohne die Vermittlung der Autoren des Neuplatonismus. Dementsprechend steht im Zentrum des Interesses der Humanisten nicht mehr der Gottesbegriff, sondern die Natur. In Leon Battista Albertis Traktat über die Architektur spielt Religion keine Rolle. Er betitelt sein Werk im Unterschied zu Vitruv nicht De architectura, sondern De re aedificatoria,27 weil er, wie Françoise Choay zeigt, mit der Figur des aedificators einen ­Begriff hat, mit dem er die Schöpfung und die menschliche Bautätigkeit als analog postulieren kann.28 In der Renaissance der Künste in Florenz, in genialen und kühnen Meisterwerken wie der Domkuppel von Filippo Brunelleschi, fand ­Alberti die Bestätigung, dass die Kunst der Antike nicht nur erreicht, son-

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2. Wege zur Materie

2.11 Fassade des Tempio

­ alatestiano in Rimini. Leon M ­Battista Alberti, 1453–1460.

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dern sogar übertroffen werden konnte. Sein eigenes gebautes Werk, vor allem der Tempio Malatestiano in Rimini, der Umbau einer gotischen Kirche zu einem Reliquiarium der Familie Malatesta, zeigt sein Bestreben, antik-heidnische und christliche Elemente miteinander zu verbinden (Fassade 1453–1460). (Abb. 2.11) Alberti unterscheidet in seinem Werk De re aedificatoria zwischen der Arbeit des Entwerfenden und des Handwerkers, zwischen Kopf und Hand: »Sache des Geistes wird die Auswahl, Verteilung, Anordnung und dergleichen sein, was dem Werke Würde verleiht. Sache der Menschenhand wird die Anhäufung, Anfügung, Wegnahme, die Umgrenzung, die sorgfältige Ausführung und dergleichen Sachen sein, was dem Werke Anmut verleihen.«29 Er selbst überantwortete die Ausführung seiner Bauten in Rimini oder Mantua lokalen Baumeistern, was seiner Vorstellung von der Aufgabenteilung zwischen Archi­tekt und Handwerker entsprach. Jede Art des Konstruierens bestehe darin, »dass mittels mehrerer in richtiger Reihenfolge angesammelter und kunstvoll zusammengefügter Materialien« wie Steine oder Hölzer eine feste Struktur und ein »ganzer, einheitlicher Bau« ausgeführt wird.30 Es sei der Architekt und nicht

2. Wege zur Materie

2.12 Marmorinkrustation an der

Fassade der Kirche Santa Maria Novella in Florenz. Leon Battista Alberti, 1456–1470. 2.13 Das Tempietto Santo Sepolchro der Familie Rucellai in der ehemaligen Kirche San Pancrazio in Florenz. Leon Battista Alberti, 1457–1467.

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2. Wege zur Materie

2.14 Wettbewerbsprojekt für die

Umgestaltung der Zedlitzhalle in Wien, Fassade. Josef Frank 1907.

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der Handwerker, der dem Stoff eine seinem Plan entsprechende Form gebe wie der Demiurg, der Schöpfergott in Platons Dialog Timaios. Diese ordnende, theoriebasierte Tätigkeit unterscheide den Architekten auch von den anderen Künstlern, von Malern und Bildhauern. Alberti betont, »dass ein Gebäude eine Art Körper sei, der wie andere Körper aus Linien und der Materie besteht. Die ersteren werden vom Geiste hervorgebracht, die letztere aber gewinnen wir aus der Natur«.31 Es genüge nicht, einen Stein auf den anderen zu setzen. Es erfordere die komponierende und ordnende Tätigkeit des Geists, damit coerenza und necessità, die Eigenschaften des richtigen Konstruierens, das Bauwerk bestimmten. Das Bauwerk müsse also wie ein Organismus durchgebildet werden und in einem Bezug zur Stadt stehen. Schönheit und concinnitas – das heißt regelrechte Gliederung, die bereits für Cicero als Naturgesetz galt – sind in Albertis Theorie Ergebnisse eines mentalen Prozesses. Angefangen auf der Ebene der Geometrie wird der so erreichte harmonische Zusammenklang aller Teile auf die materielle Ebene übertragen. Die strenge Trennung der lineamenti, der geometrische Organisation der L ­ inien im Denken des Architekten (Thema des ersten Buchs seines Architekturtraktats), von der Stofflichkeit der äußeren Wirklichkeit (Thema des zweiten Buchs) entspricht dem Modell der Perspektive, das ebenfalls mithilfe von Projektions­ linien die mentalen und materiellen Welten verbindet. »Man kann also die Formen ganz allein nach Belieben vorzeichnen ohne Rücksicht auf das Material«,

2.15 Detail aus dem Innenraum der Kirche Santa Maria dei Miracoli,

Venedig um 1481–1489.

schreibt Alberti im Kapitel über die lineamenti (»Risse« in der Überset­zung von Max Theuer).32 In diesem Sinne überzieht er die Oberfläche von Santa Maria Novella (1456–1470) und der Cappella del Santo Sepolcro (1457–1467) in Florenz mit einer »sprechenden« Ornamentik aus weißem Carrara-­Marmor und grünem Serpentin aus Prato, die seine Kenntnisse sowohl der antiken als auch der christlichen Symbolik unter Beweis stellt. (Abb. 2.12, 2.13)

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2. Wege zur Materie

2.16 Fassade der Villa Thiene bei Quinto Vicentino von Andrea ­Palladio, um 1545.

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Alberti unterscheidet zwischen dem nackten Bau des Handwerkers und der von dem Architekten nach strengen Regeln entworfenen Bekleidung und bereitet damit den Weg, der über die Körpermetaphorik des Klassizismus zu Gottfried Semper und weiter zu Otto Wagner, der Wagnerschule und Adolf Loos führen wird. Deshalb überrascht es nicht, dass der Wiener Architekt Josef Frank seine Dissertation über Alberti schrieb.33 Sowohl diese Entscheidung als auch die Arbeit selbst waren von seinem Professor an der Technischen Hochschule Carl König und dessen Assistenten Max Fabiani, einem Mitarbeiter Wagners, beeinflusst. Franks präzise kolorierte Tuschezeichnungen von den inkrustierten Fassaden bilden wohl den wertvollsten Teil der Dissertation. Sie zeigen, wie gewisse Grundzüge des architektonischen Raums – seine Typo­ logie, Geometrie, Rhythmus auch im Maßstab der ornamentalen Behandlung der Fassadenfläche erkenntlich sind. Das Thema des Bezugs von Raum zu Oberfläche, das Frank in seiner Dissertation eher mit zeichnerischen als mit sprachlichen Mitteln untersucht, wird er als Architekt, Möbel- und Textilgestalter weiter verfolgen. Sein früher Wettbewerbsentwurf für die Umgestaltung der Zedlitzhalle in Wien (1907) zeigt bereits sein Interesse an Komposition, hier noch mit Detailformen des Jugendstils. (Abb.  2.14) Der Innenraum von Haus Beer in Wien (1929/30) wirkt wie ein Querschnitt, ein technisches Gerüst, das erst durch Möbel und Textilstoffe zum Wohnraum wird.

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2.17 Axonometrische Darstellung

eines Gewölbes vom Palatin, Rom, aus Auguste Choisy, L’art de bâtir chez les ­Romains, Paris 1873.

Albertis Trennung der mentalen von den stofflichen Prozessen des ­Bauens führte Andrea Palladio weiter. Er bemerkt, dass Bauten eher wegen ihrer Form als wegen ihres Materials geschätzt werden (Le fabriche si stimano più per la forma che per la materia).34 Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass die handwerklichen Aspekte nicht mit Sorgfalt und Präzision gelöst werden müssen. Aber Albertis Interesse an opulenten, polychromen Bekleidungen teilte Palladio kaum. Seine Gebäude sind meistens aus Backstein erbaut; deren Fassaden und Säulenschäfte überzog er mit Marmorputz (marmorino), um die Wirkung einer Steinoberfläche zu erzielen. Auf die Wirkung der antiken Mauerreste ist wohl Palladios Wertschätzung der Non-finito-Wirkung der unverputzten, rohen Fassaden zurückzuführen, etwa bei der Villa Thiene bei Quinto Vicentino (1. Bauabschnitt um 1545). (Abb. 2.16) Oft sind die Kapitelle aus Terrakotta­elementen zusammengestellt und weiß geschlämmt wie etwa in der Kirche Il Redentore in Venedig (1577–1592).

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Kartesianische und barocke Perspektiven

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Die Materie als etwas vom Geist völlig Unabhängiges, sogar als sein Gegensatz, ist ein Leitgedanke des modernen Denkens und wurde zuerst von René Descartes (1596–1650) systematisch postuliert. Der französische Philosoph, der für die Auflösung des aristotelisch-scholastischen Weltbilds verantwortlich gemacht wird, betrachtete Geist und Materie, res cogitans und res extensa, als zwei voneinander getrennte Bereiche der Realität, die sich nur im menschlichem Bewusstsein treffen. Als res extensa wird die messbare stoffliche Welt bezeichnet, die sich wie ein geometrisches Feld endlos und homogen ausbreitet. Die res cogitans reflektiert als denkende Substanz diese Welt und wird damit zum Spiegel dieser stofflichen Wirklichkeit; unsere Sinne können über die res extensa, zu der auch unser Körper gehört, nicht aufklären, sie vermitteln nur Eindrücke. So wird Materie zum messbaren Ding verdichtet, welches für sich – anders als die res cogitans – räumliche Ausdehnung, aber keine Bewegung beanspruchen kann.35 Das moderne Denken hat die Geist-Materie-Dichotomie weiter ausgebaut. Es attestiert dem Pol des Geistes Leben, Beweglichkeit, Qualität und Subjektivität und schreibt dem Gegenpol des Stoffs Trägheit, Widerstandsfähig­ keit, Quantität und Objektivität zu. Die Erfindung der Zentralperspektive im 16. Jahrhundert war bereits vor Descartes Ergebnis der Rationalisierung des Sehens. Die Außenwelt als räumliche Ausdehnung wird dank der neuen Norm der costruzione legitima verfügbar gemacht und über das betrachtende Auge der denkenden Substanz vermittelt. Die Projektionsfläche, auf der die von der Außenwelt eintreffenden Lichtstrahlen ein Bild der Realität abbilden, trennt den Raum des Subjekts vom Raum des Objekts – damit war das kartesische Postulat vorbereitet. Es wird später noch weiter verfestigt von Gaspard Monges Lehre der darstellenden Geometrie als eine alternative, nicht an die räumliche Position des Betrachters gebundene »objektive« Projektionsmethode. Die Axonometrie zeigt die Zusammengefügtheit des technischen Objekts und nicht seine sinnliche Erscheinung. Die von Auguste Choisy angefertigten axonometrischen Darstellungen römischer und byzantinischer Baukonstruktionen schweben in dem geometrischen Raum wie anschauliche Modelle von perfekt gemauerten Gewölben, Visionen der tan­ giblen materiellen Welt der res extensa.36 (Abb. 2.17) Obwohl Descartes’ Postulat als Paradigma des modernen wissenschaft­ lichen Denkens gilt, war sein Materialkonzept keinesfalls unumstritten. Bereits Gottfried Wilhelm Leibniz verwarf Descartes’ Gleichsetzung von Materie und Ausdehnung und ersetzte die kartesische Ausdehnung mit Raumerfüllung, die nur durch die Wirkung einer Kraft denkbar ist; die menschliche Vorstellung bezeichnete er als eine solche Kraft. Damit löste er Descartes’ Verbindung zwischen Stoff und räumlich-mechanischer Realität wieder auf. Der Zusammenhang zwischen Geist und Materie ist für Leibniz zugleich eine Frage des Bewusstseins und der Erinnerung, also mit der Zeitdimension verbunden. Der französische Philosoph Gilles Deleuze entdeckt im Denken von Leibniz einen Rekonstruktionsversuch der klassischen, vorkartesischen Vernunft mit einer Fülle an Wendungen, Dissonanzen – eine barocke Draperie, die in den Falten der Materie die Vielfalt der Welt erscheinen lässt. Der Barock interpretiere, so Deleuze, den Begriff der »Falte« zweifach: »wie wenn das Unendliche zwei Etagen besäße«, die Faltungen der Materie und die Falten in der Seele.37 Ähnlich

2. Wege zur Materie

2.18 St.-Johann-Nepomuk-Kirche in München. Cosmas

Damian Asam und Egid Quirin Asam, 1733–1746.

wie im Höhlengleichnis von Platon geht es hier um zwei Ebenen der Realität. In der Architektur des Barock finden wir sowohl die Freude an der Zusammenfügung oder Kontrastierung von verschiedenen Materialien und Ober­ flächen – etwa im Werk von Gianlorenzo Bernini oder dem der Brüder Cosmas ­Damian und Egid Quirin Asam – sowie die Tendenz zur Homogeni­sierung, der Unterdrückung der Unterschiede auch zwischen »realer« und dargestellter Materialität. (Abb. 2.18) Nach Hans Sedlmayr ist »die Materie, in der die Gebilde Borrominis gedacht werden, […] kein bestimmter wirklicher Stoff«.38 Borromini berichtet in seinem Opus Architectonicum in der Tat darüber, dass er bei der Porta del P ­ opolo in Rom einen antiken Turm mit Wänden aus fein geschnittenen Flachziegeln sah. Darauf hin entschloss er sich, die Fassade des Oratorio di San F ­ ilippo Neri (1620−1637) so zu gestalten, dass der Betrachter zwischen Stein und Fuge kaum unterscheiden kann. Er schreibt, »dass es eine wunderbare Sache wäre, wenn man ein Gebäude aus gebrannten Material errichten könnte, das ganz aus einem Stück wäre ohne irgendwelche Fugen.«39 Weil dies aber nicht möglich

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sei, »kann man wenigstens durch die Verwendung von kleinen Backsteinen die Fugen viel weniger sichtbar machen; und so liess ich zunächst die Flachziegel […] rechteckig zuschneiden und dann die gesamte Fassade daraus errichten«.40 So wird der Backstein transzendiert, die Individualität des einzelnen Steins wird zugunsten von Falten und Rundungen der Fassade zurückgenommen. (Abb. 2.19) Der von Aristoteles postulierte Zusammenhang zwischen Materie und Form, Kontinuum und Struktur wurde in der Philosophie von Immanuel Kant erneut untersucht. Kant spricht in doppeltem Sinne von Materie: einerseits als Substanz, als das Beharrende, andererseits als Erscheinung, die im Gegensatz zur Substanz beweglich und wandelbar ist. Dass die Materie einen Raum erfüllt, hat nichts mit ihrer bloßen Existenz, sondern mit ihrer »expansiven Kraft« zu tun. Die Wirkung dieser auf Kraft und Bewegung basierenden Definition der Materie finden wir heute in Bruno Latours Ablehnung des kartesischen Materialkonzepts, um über Kraftlinien als Alternative zum Materialbegriff zu sprechen. Solche nicht kartesischen oder ausgesprochen antikartesischen Materialkonzepte haben eine nie unterbrochene Existenz seit Aristoteles.

Materialismus versus Idealismus Auf die »idealistische« erste Hälfte des 19. Jahrhunderts folge die »materialistische« zweite Hälfte, wird oft behauptet. Zumindest war die Zeit nach 1850 von einem Realismus geprägt, welcher die Überschwänglichkeit der Romantiker ablehnte. Im Namen der Wissenschaftlichkeit und des Tatsächlichen feierte eine zweite Aufklärung ihren Sieg, die jetzt in Form von populärwissenschaftlichen Büchern breite Schichten der Gesellschaft erreichte. Der Materialismus wurde von Zeitgenossen als Versuch verstanden, »die Welt einheitlich aufzufassen und sich über den gemeinen Sinnenschein zu erheben«.41 Um 1850 erschienen die Schlüsseldokumente des sogenannten Materialismusstreits wie Carl Vogts Physiologische Briefe (1845) und seine Streitschrift Köhlerglaube und Wissenschaft (1854), Jakob Moleschotts Der Kreislauf des Lebens (1852), Ludwig Büchners Kraft und Stoff (1855) und Heinrich Czolbes Neue Darstellung des Sensualismus (1855).42 Die meisten dieser Schriften traten als neue Heilslehren auf, verkündet mit dem selbstbewussten Ton des Aufklärers, der die alten Mythen durch das neue wissenschaftliche Weltbild ersetzte. Von einer allgemeinen Wende zum Materialismus kann man trotzdem nicht sprechen; auch Theorien, die man als »magischen Idealismus« bezeichnet, als Ausläufer der romantischen Identitätsphilosophie, treten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Erscheinung. Indem Semper den Begriff des »Stoffwechsels« zum wichtigsten Element seiner Stiltheorie wählte, setzte er sich damit sehr klar in ein Verhältnis zu den Idealisten und Materialisten, scheinbar auf der Seite der Letzteren – aber eben nur scheinbar. Sein Hauptwerk Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten entstand während des Materialismusstreits. Die einführenden Prolegomena des im Jahr 1860 veröffentlichten ersten Bandes zeigen zwar seinen Willen zur

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2.19 Fassadendetail des Oratorio S. Filippo Neri, Rom. Francesco Borromini, 1620–1637.

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Überwindung der romantischen spekulativen Ästhetik Schellings in Richtung einer empirischen Kunstlehre, aber genauso entschieden lehnte er die Lehre der radikalen Materialisten ab.

Gottfried Sempers Materialkonzept

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Für Semper ist der Stoff, ob »Vorwurf« (Thema, Sujet, Gegenstand) oder Mate­ rie, nur einer der Einflüsse, welche »von außen her auf die Entstehung eines Kunstwerkes wirken« und somit den Stil mitbestimmen.43 Damit grenzt er sich von einer damals verbreiteten Definition ab, die der deutsche Kunsthistoriker Carl Friedrich von Rumohr in seinem Buch Italienische Forschungen formuliert hatte. Rumohr beruft sich auf die Wurzel des Worts »Stil« im griechischen stylos, Griffel, also eines Werkzeugs, mit dem der Schreibende auch seine persönliche Schreibweise in die Wachstafel eingravierte, um Interpretatio­nen abzulehnen, die Stil als eine im Rückblick festgestellte formale Konsistenz im Werk eines Meisters oder einer Schule verstehen. Er erklärt Stil »als ein zur Gewohnheit gediehenes sich Fügen in die inneren Forderungen des Stoffes […] in welchem der Bildner seine Gestalten wirklich bildet, der Maler sie erscheinen macht. [Hervorhebung im Original, Á. M.]«.44 Der Stil entspringe »einzig aus einem richtigen, aber nothwendig bescheidenen und nüchternen Gefühle einer äußeren Beschränkung der Kunst durch den derben, in seinem Verhältnis zum Künstler gestalt-freyen Stoff«.45 Semper zitierte − wie auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seiner Ästhetik46 − die Definition Rumohrs, um sich sogleich von ihr zu distanzieren, obwohl er dem Historiker ansonsten in seinen Schriften große Anerkennung zollt.47 Bereits im 1851 erschienenen schmalen Band Die vier Elemente der Baukunst nimmt Semper sehr klar Stellung gegen eine Auffassung, welche die Formen der Architektur »als von dem Stoffe bedungen und aus ihm hervorgehend« darstellt, die Konstruktion zum Wesen der Architektur erklärt und sie damit »in eiserne Fesseln« schmiedet. »Soll aber nicht die Baukunst, gleich der Natur, ihrer großen Lehrerin, zuvor ihren Stoff nach den durch sie bedungenen Gesetzen wählen und verwenden, aber Form und Ausdruck ihrer Gebilde nicht von ihm, sondern von den Ideen abhängig machen, welche in ihnen wohnen?«, fragt er.48 Mit Hinweis auf die zahlreichen Autoren, die seit Vitruv die hölzernen Ursprünge des griechischen Tempelbaus darlegen wollen, kritisiert er die »­materielle Anschauungsweise«, die zu »sonderbaren und fruchtlosen Grübe­ leien« geführt habe.49 Besonders scharf wendet er sich dann in seinem Werk Der Stil gegen die »grob-materialistische« Anschauung, »wonach das eigene Wesen der Baukunst nichts sein soll als durchgebildete Construction, gleichsam illustrirte und illuminirte Statik und Mechanik, reine Stoff kundgebung«50, die er mit der Neogotik verbindet und klar von seiner eigenen »konstructiv-­ tech­ nischen« Auffassung vom Ursprung der Grundformen der Baukunst unter­scheiden will. In den Prolegomena zum Stil kritisiert Semper die schädlichen Konsequenzen der kapitalistischen Wirtschaft für die Kunst: Das »kaum Eingeführte« veralte schnell, bevor es technisch und künstlerisch verwertet werden könne, »indem immer Neues, nicht immer Besseres, dafür an die Stelle tritt«.51 Er

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wendet sich gegen drei Denkschulen in der Baukunst: die der »Materiellen«, der »Historiker« und der »Schematiker«. Den »Materiellen«, die unter dem Einfluss der Naturwissenschaften und der Mathematik stehen, wirft Semper vor, »die Idee zu sehr an den Stoff geschmiedet zu haben durch die Annahme des unrichtigen Grundsatzes, es sei die arch. Formenwelt ausschliesslich aus stofflichen konstruktiven Bedingungen hervorgegangen und liesse sich nur aus diesen weiter entwickeln; da doch vielmehr der Stoff der Idee dienstbar, keineswegs für das sinnliche Hervortreten der letztern in der Erscheinungswelt alleinig massgebend ist«.52 In die Schule der Materiellen ordnet Semper auch jene Architekten ein, die dem »sogen. natürlichen Stile des Ornamentirens huldigen«, anstatt die »stilistisch struktiven Grundsätze des Ausschmückens« zu beachten.53 Damit meint er wahrscheinlich Bauten, an denen das Ornament beliebig appliziert wird und die in keinem Zusammenhang zu den Einflüssen steht, die das Werk bestimmen sollten. Für Semper ist der Stoff nur einer der Faktoren, welche die Form bestimmen. »Jedes Kunstwerk ist ein Resultat, oder […] eine Funktion einer beliebigen Anzahl von Agentien oder Kräften, welche die variablen Koeffizienten ihrer Verkörperung sind«, schreibt er und fasst es mit einer Formel zusammen: Y = F (x, y, z etc.). Y steht hier für das Gesamt­ resultat, also für die Form oder den Stil, und »x, y, z etc. stellen ebensoviele verschiedene Agentien dar, welche in irgend welcher Richtung zusammen oder aufeinander wirken«.54 Semper unterscheidet zwischen zwei Klassen von Einflüssen: jenen, die »in dem Kunstwerke selbst begründet sind und auf gewissen Gesetzen der Natur und des Bedürfnisses beruhen, die zu allen Zeiten und unter allen Umständen sich gleich bleiben«55 und jenen, die das Kunstwerk von außen bedingen. ­Letztere gliedert Semper in drei Gruppen: erstens die »Materialien und Arten der Ausführung«, zweitens die lokalen und ethnologischen Einflüsse sowie »Einflüsse des Klimas, religiöser und politischer Einrichtungen und anderer nationaler Bedingungen« und drittens »alle persönlichen Einflüsse […] die einem Kunstwerke einen individuellen Charakter verleihen«.56 Sie gehen von den Auftraggebern, von den Künstlern oder praktischen Herstellern des Werks aus.

Material als Hemmungswiderstand Sempers Gedanken zur Rolle des Materials wurden von der nächsten Generation gründlich missverstanden und als Materialismus verworfen. Der Wiener Kunsthistoriker Alois Riegl war zwar vorsichtig genug, seine Kritik nicht direkt gegen Semper, sondern gegen die Semperianer (vor allem wahrscheinlich gegen Otto Wagner) zu richten: »Wenn Semper sagte: beim Werden einer Kunstform kämen auch Stoff und Technik in Betracht, so meinten die Sempe­rianer sofort schlechtweg: die Kunstform wäre eine Produkt aus Stoff und Technik.«57 Trotzdem machte er Semper und seine Anhänger für eine schädliche Tendenz in der Kultur verantwortlich, für eine Überbewertung der Technik: »Die ›Technik‹ wurde rasch zum beliebtesten Schlagwort: im Sprachgebrauch erschien es bald gleichwerthig mit ›Kunst‹ und schliesslich hörte man es sogar öfter als das Wort Kunst. Von ›Kunst‹ sprach der Naive, der Laie; fachmännischer klang es, von

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›Technik‹ zu sprechen.«58 Riegl warf den Semperianern vor, sie hätten einen »wesentlich mechanisch-materiellen Nachahmungstrieb« anstelle des »frei schöpferischen Kunstwollens« gesetzt.59 Noch in seinem für die Kunstgeschichtsschreibung sehr wichtigen Werk Spätrömische Kunstindustrie hielt es Riegl für notwendig, die »ältere Auffassung« zu attackieren: Es gehe um jene Theorie, die »mit dem Namen Gottfried Sempers in Verbindung gebracht wird und derzufolge das Kunstwerk nichts anderes sein soll als ein mechanisches Produkt aus Gebrauchszweck, Rohstoff und Technik«.60 Dieses »Dogma der materialistischen Metaphysik« verdiene es, »endgültig von der Geschichte einverleibt zu werden«.61 Riegl selbst sieht im Kunstwerk das »Resultat eines bestimmten und zweckbewussten Kunstwollens«, das sich »im Kampfe mit Gebrauchszweck, Rohstoff und Technik durchsetzt. Diesen drei letzteren Faktoren kommt somit nicht mehr jene positiv-schöpferische Rolle zu, die ihnen die sogenannte Sempersche Theorie zugedacht hatte, sondern vielmehr eine hemmende, negative: sie bilden gleichsam die Reibungskoeffizienten innerhalb des Gesamtprodukts«.62 Das Kunstwollen war allerdings für Riegl nicht weiter ableitbar. Darüber also, wie dieser ästhetische Drang entsteht, können lediglich metaphysische Vermutungen angestellt werden.63 Man kann über die Gründe der offensichtlich falschen Darstellung der Position Sempers nur rätseln. Wie wir gesehen haben, gehörten Stoff und Technik für Semper zu jenen äußeren Faktoren, die ein Künstler berücksichtigen muss, von einem »mechanischen Produkt« kann jedoch keine Rede sein. Vielleicht wollte Riegl die Originalität seiner eigenen These vom Kunstwollen als Trieb der Stilentwicklung hervorheben; vielleicht verstand er Otto Wagners von Semper übernommenen Wahlspruch Artis sola domina necessitas (Die einzige Herrin der Kunst ist die Notwendigkeit) als Bedrohung für die künstlerische Imagination. Jedenfalls verwirft er jegliche stofflich-technischen Erklärung für ornamentale Formen. In seinem Buch Stilfragen präsentiert er die »kunstvollen Spiralwindungen« der Gesichtstätowierungen der Maori als Beweis: »Gerade dieses Beispiel sagt uns […], dass es keineswegs technische Vorgänge gewesen sein müssen, die bei der Urzeugung der Motive die maassgebende Rolle gespielt haben.«64 Hier wird die eigene Position durch die karikaturhafte Simplifizierung der kritisierten Thesen erarbeitet. Die Kunstgeschichtsschreibung des Nationalsozialismus hat Sempers Theorie mit ähnlichen Argumenten wie Riegl, aber offensichtlich mit noch weniger Kenntnis über den Inhalt seiner Schriften abgelehnt. »Sempers Darlegungen waren in ihrer Denkrichtung so materialistisch, daß kein echter Historiker, der an den Menschen und die große Persönlichkeit als die einzigen wahren Triebkräfte alles geschichtlichen Lebens und Geschehens glaubt, mit ihnen zu arbeiten vermochte«, schreibt Albert Stange 1940 in seiner Studie Die Bedeutung des Werkstoffes in der deutschen Kunst.65 Er zitiert den Kunsthistoriker Wilhelm Waetzoldt: »Der künstlerische Gestaltungswille setzt sich auch gegen Material, Werkzeug und Zweck durch.«66 Materialismus war der Feind in den Augen dieser Ideologen: »Je mehr Materialismus um sich griff, um so mehr wuchs der kulturelle Verfall, hinter dem sich bald auch die nationale und völkische Auflösung zeigte«, heißt es in einem der einschlägigen Handbücher.67 Stanges Wahl des Begriffs »Werkstoff« war kein Zufall, das Wort »Material« musste wegen seiner Nähe zum »kommunistischen« Materialismus vermieden werden.68 54

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Geist und Materie Martin Heidegger lehnte in seiner Philosophie die dualistische Vorstellung von Geist und Materie ab. Er wollte die traditionelle Ästhetik überwinden, welche das Erlebnis des Betrachters in den Mittelpunkt der theoretischen Refle­ xion rückt. Er kritisierte die Form-Materie-Dichotomie als grobe Reduk­tion der Wirklichkeit: Indem diese die Form dem Rationalen und der Stoff dem »­Ir-rationalen« zuordnete und mit dem Begriffspaar Form–Stoff noch die Subjekt-­Objekt-Beziehung verband, haben wir einen universal anwendbaren Interpretationsmechanismus, eine sehr vereinfachte »Begriffsmechanik« erhalten.69 Es ist nicht die ästhetische Erfahrung des Betrachters, sondern der Herstellungsprozess des Werks, der die Wahrheit eines griechischen Tempels ausmacht. Im Laufe der Herstellung geht der Stoff nicht in reiner »Dienlichkeit« auf, wird nicht verbraucht, sondern entfaltet dann erst sein Wesen, bringt ihn zur Erscheinung: »[…] der Fels kommt zum Tragen und Ruhen und wird so erst Fels; die Metalle kommen zum Blitzen und Schimmern, die Farben zum Leuchten, der Ton zum Klingen, das Wort zum Sagen. All dies kommt hervor, indem das Werk sich zurückstellt in das Massige und Schwere des Steins, in das Feste und Biegsame des Holzes, in die Härte und den Glanz des Erzes, in das Leuchten und Dunkeln der Farbe, in den Klang des Tones und in die Nennkraft des ­Wortes.«70 Peter Zumthor bezieht sich auf Heidegger, indem er behauptet, dass gute Antworten auf die Frage, »was ein bestimmtes Material in einem bestimmten architektonischen Zusammenhang bedeuten kann«, die »ihm eigenen sinnlichen und sinnstiftenden Eigenschaften in einem neuen Lichte erscheinen lassen« können.71 »Gelingt uns dies, können Materialien in der Architektur zum Klingen und Strahlen gebracht werden«72, schreibt er. Er will mit seiner Vorstellungskraft in die Eigenschaften, in die »Wirklichkeit der Baumaterialien« und die »Wirklichkeit der Konstruktionen« eindringen, »um Sinn und Sinnlichkeit bemüht, damit vielleicht der Funke des geglückten Bauwerkes zündet«.73 Seine Schlussfolgerung, »Es gibt keine Idee, ausser in den Dingen«74 steht in Zusammenhang mit seiner Unterscheidung von Ding und Material: »Ich glaube, dass Materialien im Kontext eines architektonischen Objektes poe­tische Qualitäten annehmen können. Dazu ist es notwendig, im Objekt selbst einen entsprechenden Form- und Sinnzusammenhang zu generieren; denn Materialien an sich sind nicht poetisch.«75 Knapp 100 Jahre früher hatte Henry van de Velde eine vergleichbare Bemerkung formuliert, als er in den Spuren menschlichen Handwerks jene durchgeistigende Kraft fand, die den Stoff erst schön machte: »An sich ist kein Material schön […]. Holz, Metall, Steine und Edelsteine verdanken ihre eigenartige Schönheit dem Leben, das die Bearbeitung, die Werkzeugspuren, die verschiedenen Arten, in welchen sich die begeisterte Leidenschaft oder die Sensibilität desjenigen, der sie bearbeitet, äußert, ihnen aufprägt. Dieses Beleben des Stoffes läßt jede Steigerung zu, und die Fähigkeit der daraus folgenden Erregbarkeit kann Empfindungen hervorrufen, die sich vom leisesten Reiz bis zu völliger Trunkenheit steigern können.«76 Die »Belebung des Stoffes« bedeutet für Van de Velde die empfindsame Einfühlung in die Eigenschaften des Materials: »Du sollst die Formen und Konstruktionen dem wesentlichen Gebrauch des Materials, das Du anwendest, unterordnen«77, schreibt er in

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2. Wege zur Materie

s­ einem »Credo«. Er stellt fest: »Die wesentlichste, unentbehrlichste Bedingung für die Schönheit eines Kunstwerks besteht in dem Leben, welches der Stoff, aus dem es geschaffen ist, bekundet.«78 Der Prozess der Bearbeitung bedeutet die Einprägung der subjektiven Merkmale des Genius in den Stoff: »In den Händen eines Arbeiters oder eines Menschen ohne Genie gelten Holz, Stein, Ton, ­Metall, Glas und Rohr nicht mehr als ihr praktischer Wert […].«79 Ihm geht es um eine P ­ otenzierung, um eine Belebung des Stoffs, welche die Einfühlung in das Wesen des Materials erfordert. Zweifellos ist auch Zumthor von der transformierenden Kraft sorgfältiger Arbeit überzeugt, die dem Material »im Kontext eines architektonischen Objektes« eine poetische Ausdruckskraft verleiht.80 Bilder der strömenden Mate­rie waren allerdings für Van de Velde zugleich die schöpferischen Gesten des einfühlenden Künstlers, die bereits Loos als überflüssige Additionen des Dekorateurs kritisierte. Statt dekorativer Zugaben geht es Zumthor um eine Reduktion der formalen Mittel, um das Material in einem Schwebezustand zwischen geschichtslosem Rohstoff und kultu­ rellem Ding zu präsen­tieren. Schwere, Oberflächenbeschaffenheit, aber auch Assoziationen mit Wärme, Energie oder symbolischer Ökonomie verbinden das Faktische mit dem Mythischen wie die Verwendung von Filz oder Honig im Werk von Joseph Beuys. Die Künstler des Minimalismus wie Donald Judd oder Robert Morris versuchten in den 1960er-Jahren, jegliche hinter dem Material verborgene immaterielle Idee auszumerzen. »Als ich mit meiner Kreissäge in eine Sperrholzplatte stach, konnte ich – neben dem ohrenbetäubenden Geräusch – von den vier Wänden ein starkes und erfrischendes ›Nein‹ schallen hören: ein Nein zur Transzendenz und zu den spirituellen Werten, dem heroischen Maßstab, den gequälten Entscheidungen, dem historisierenden Narrativ, dem wertvollen Artefakt, der intelligenten Struktur, der interessanten visuellen Erfahrung«, schreibt Morris rückblickend.81 Das Werk soll den Minimalisten zufolge nicht mit Methoden der Erinnerung (Denkmalschutz, Museum) geschützt und kontrolliert werden, sondern anonym und der Umgebung ausgeliefert sein. Die ­Illusion des durch psychologische Theorien der Einfühlung unterstützten L ­ ebens sollte ebenfalls aufgegeben werden. Deshalb bevorzugten die Künstler industrielle Ober­ flächen wie Sperrholz oder Beton statt Materialien, die Wachstum, Ablagerung und organische Prozesse abbilden wie maserierte Hölzer oder von Steinadern durchzogene Steinflächen. Die vor diesem Hinter­grund entstandenen »spezifischen Objekte« (Judd) sollen eine vollkommen referenzlose, selbstbezügliche Präsenz zeigen. Misstrauen gegenüber künstle­rischer Sub­jektivität, Begeisterung für Phänomenologie – der Kontrast zur ­Inszenierungskunst könnte größer nicht sein, sollte man denken. Aber ohne Inszenierung kommt selbst der Minimalismus nicht aus, Anonymität und ­serielle Produktion müssen letzten Endes auch als Qualitäten dieser Kunst ­erkenntlich sein.

New Materialism

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Das vitalistische Materialkonzept wird heute in Zeiten schwindender Ressourcen mit neuer Bedeutung aufgeladen. Angesichts der befürchteten ökologischen Katastrophe, die Autoren wie Bruno Latour als die ultimative Kritik der

2. Wege zur Materie

Moderne beschreiben, werden Kategorien wie Materie oder Natur grundsätzlich neu konzipiert (obwohl die tatsächliche ›Neuheit‹ dieser Ideen im Zusammenhang mit Kants Materialbegriff bereits hinterfragt wurde). Die feminis­ tische Kunsttheorie (gender studies) interpretiert die von Platon und Aristoteles postulierte Form-Materie-Dualität geschlechtsspezifisch, was bereits in der antiken Theorie explizit angelegt ist. Aristoteles schreibt, dass das Material Form verlange, »so wie wenn Weibliches nach Männlichem und Häßliches nach Schönem«82 begehrt. Judith Butler schlägt vor, Gestaltung als Materialisierung und nicht als Konstruktion zu verstehen.83 Materialisierung ist aus ihrer Sicht ein diskursiver Prozess, der mit performativen Akten verbunden ist. Aus dieser Perspektive untersucht Donna Haraway die Welt der Materialobjekte, um eine Alternative zu vitalistischen und mechanistischen Erklärungen anzubieten, und räumt diesen Objekten Handlungsfähigkeit ein.84 Solche Studien lenken die Aufmerksamkeit auf die kulturelle Produktivität und Bedeutung von Mate­ rialgegenständen. Die sogenannte material imagination verstehen Autoren jüngerer Studien zur Materialität oft als Quelle der Form: »Certainly, already in the corbelling of Neolithic dolmens, one finds evidence for an imagination that permits architects to dream with matter, not as a surrogate to form but as the sine qua non for its being«, schreibt Matthew Mindrup.85 Durch ihren Umgang mit Materialien, behauptet er, verfügten Architekten über ein Wissen über die verborgenen produktiven Eigenschaften der Stoffe. Jane Bennett schlägt noch tiefer in dieselbe Kerbe, indem sie behauptet, dass »so-called inanimate things have a life, that deep within is an inexplicable vitality or energy«, und sieht in den Materialdingen eine »thing-power«.86 Der Kreis schließt sich. Bennett beruft sich auf Lukrez und sein Gedicht De rerum natura, mit dem wir dieses Kapitel eröffnet haben. Unter dem Einfluss von Latours Konzept zum Parlament der Dinge betont Bennett die Möglichkeiten, die Lukrez’ Realismus uns bietet: unseren Blick, der bisher von Konzepten der Subjektivität oder des Bildes verstellt war, jetzt auf die Vitalität des Stofflichen zu lenken.87 Sie bezeichnet Vitalität als die Fähigkeit der Dinge – Produkte, Stoffe, Nahrungsmittel usw. – als Agenten, die über eigene Tendenzen oder Kräfte verfügen. An dieser Stelle entstehen viele Fragen bezüglich dieser Vitalität: Ist sie eine Eigenschaft des Stoffs oder Ergebnis einer Anthropomorphisierung? Bennett verbindet die Vitalität der Materie mit den historischen Interpretationen von Natur wie etwa in Antonio Vivaldis Vier Jahreszeiten.88 Es ist schwierig, diese Spekulationen mit neuen Erkenntnissen der Wissenschaft oder der Systemtheorie zu verbinden. Kaum ein Vertreter des New Materialism scheint bereit zu sein, dies zu tun, um ein Abgleiten in die Esoterik zu vermeiden. Das neue Interesse für gnostische, animistische und vitalistische Theorien zeigt einerseits die wachsende Angst und Unruhe angesichts schwindender ökologischer Ressourcen, andererseits bietet die Mystifizierung des Materials jedoch keine Instrumente, um diesen Gefahren mit Lösungen entgegenzutreten. Wenn es stimmt, dass – wie Latour behauptet – wir nie modern gewesen sind89, wäre es höchste Zeit, endlich modern zu werden und die Kluft zwischen der theoretisch kaum reflektierten, aber neue technologische Ergebnisse produzierenden Materialforschung und dem diese Ergebnisse weitgehend ignorierenden theoretischen Diskurs zu überbrücken. 57

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Anmerkungen Louis I. Kahn, »Monumentalität«, in: ders., Die Architektur und die Stille. Gespräche und Feststellungen, hg. von Alessandra Latour, übers. von Kyra Stromberg, Lore Ditzen. Basel, Berlin, Boston: Birkhäuser, 1993, S. 44−56. 2 Jean-Luc Nancy, Das Gewicht eines Denkens, übers. von Cordula Unewisse. Düsseldorf, Bonn: Parerga, 1995, S. 23. 3 Hilde de Haan, Ids Haagsma, Gebouwen van het Plastische Getal. Een lexicon van de »­Bossche School«. Haarlem: Architext, 2010, S. 97−100. 4 Dom H[ans] van der Laan, Der architektonische Raum. Fünfzehn Lektionen über die Disposition der menschlichen Behausung. Leiden, New York, Köln: E. J. Brill, 1992, S. 39. 5 T. Lucretus Carus, Von der Natur der Dinge, übers. von Carl Ludwig von Knebel. Leipzig: Georg Joachim Göschen, 1821, S. 55. 6 Ruggero Pierantoni, Vortici, atomi e sirene. Immagini e forme del pensiero esatto. Mailand: Mondadori Electa, 2003. 7 Jane Bennett, Vibrant Matter. A Political Ecology of Things. Durham, London: Duke University Press, 2010. 8 Sigmund Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1917), Freud-Studienausgabe Band I. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, II. Teil, »Der Traum«, 10. »Die Symbolik im Traum«, S. 159f. 9 László Krasznahorkai, »Neubau des Ise-Schreins«, in: ders., Seiobo auf Erden. Erzählungen, übers. von Heike Flemming. Frankfurt am Main: S. Fischer, 2010, S. 385–434. 10 Publius Ovidius Naso, Metamorphosen, übers. von Reinhart Suchier. Wiesbaden: Drei ­Lilien Verlag, S. 33. 11 Vgl. Ákos Moravánszky, »Architectural Theory. A Construction Site«, in: ders., Lehrgerüste. Theorie und Stofflichkeit der Architektur. Zürich: gta Verlag, 2015, S. 14–27. 12 Robert Hahn, Anaximander and the Architects. The Contributions of Egyptian and Greek Archi­tectural Technologies to the Origins of Greek Philosophy. Albany: State University of New York Press, 2001. 13 Ebd. 14 Vitruv, Zehn Bücher über Architektur, übers. von Curt Fensterbusch. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1964, S. 23. 15 Ebd., zum Begriff ratiocinatio s. auch S. 533f. 16 Ebd. 17 Wolfgang Röd, Der Weg der Philosophie von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert. Band 1: Altertum, Mittelalter, Renaissance. München: C. H. Beck 1994, S. 248. 18 Konrad Onasch, Lichthöhle und Sternenhaus. Licht und Materie im spätantik-christlichen und frühbyzantinischen Sakralbau. Dresden, Basel: Verlag der Kunst, 1993, S. 87. 19 Abt Suger von Saint-Denis, »Verse für das Portal der Kathedrale von Saint-Denis«, in: ­Rosario Assunto, Die Theorie des Schönen im Mittelalter. Köln: Verlag M. DuMont Schauberg, 1963, S. 150. 20 Antoni Gaudí, »Auswahl aus den Handschriften«, in: Maria Antonietta Crippa (Hg.), Gaudí. Interieurs, Möbel, Gartenkunst. Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz Verlag, 2001, S. 101–107, hier S. 104. 21 Mies van der Rohe bezieht sich in seiner Antrittsrede als Direktor der Architekturabteilung am Armour Institute of Technology in Chicago am 20. November 1938 allerdings nicht auf Aquin, sondern auf den heiligen Augustinus, der Schönheit als »Glanz der Ordnung« bezeichnete (pulchritudo splendor ordinis). Vgl. Fritz Neumeyer, Mies van der Rohe. Das kunstlose Wort. Gedanken zur Baukunst. Berlin: Siedler Verlag, 1986, S. 380–381, hier S. 381. 22 Vgl. Rosario Assunto, Die Theorie des Schönen im Mittelalter. Köln: Verlag Du Mont Schauberg, 1963, S. 74. 23 Fernand Pouillon, Les pierres sauvages. Paris: Seuil, 1964. Dt. Ausgabe: ders., Singende Steine. Die Aufzeichnungen des Wilhelm Balz, übers. von Gudrun Trüb. Ostfildern: Edition Tertium, 1999. 24 Lucien Hervé, Architecture du vérité. London: Phaidon, 2001. 25 Alison und Peter Smithson, Without Rhetoric. An Architectural Aesthetic 1955–1972. Cambridge, Massachusetts: The MIT Press, 1973, S. 6. 26 Ebd. 1

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Leon Battista Alberti, De re aedificatoria (Florenz 1486). Nachdruck München: Prestel ­Verlag 1975; ders., Zehn Bücher über die Baukunst, übers. von Max Theuer. Wien, Leipzig: Hugo Heller & Co., 1912. Neu abgedruckt Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1975. 28 Françoise Choay, »De re aedificatoria als Metapher einer Disziplin«, in: Kurt W. Forster, Hubert Locher (Hg.), Theorie der Praxis. Leon Battista Alberti als Humanist und Theoretiker der bildenden Künste. Berlin: Akademie Verlag, 1999, S. 216–231. 29 Alberti, Zehn Bücher (wie Anm. 27). 30 Ebd. 31 Ebd., S. 14. 32 Ebd., S. 20. 33 Josef Frank, »Über die ursprüngliche Gestalt der kirchlichen Bauten des Leone Battista ­Alberti. Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der technischen Wissenschaften, vorgelegt bei Professor Carl König, Technische Hochschule Wien 1910«, in: ders., Schriften in zwei Bänden, hg. von Tano Bojankin, Christopher Long, Iris Meder. Band 1: Veröffentlichte Schriften 1910–1930. Wien: Metroverlag, 2012, S. 47−119. 34 Andrea Palladio, Scritti sull’ architettura (1554–1579), hg. von Lionello Puppi. Vicenza: N. Pozza, 1988, S. 124. 35 René Descartes, »2. Meditation«, in: ders., Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, hg. von Artur Buchenau. Hamburg: Felix Meiner, 1958, S. 22–24. 36 Auguste Choisy, L’art de bâtir chez les Romains. Paris: Ducher et Cie, 1873. 37 Gilles Deleuze, Die Falte. Leibniz und der Barock, übers. von Ulrich Johannes Schneider. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1995, S. 11. 38 Hans Sedlmayr, Francesco Borromini. 2. Aufl. München: Piper, 1939, S. 93f. 39 Francesco Borromini, Opus Architectonicum. Erzählte und dargestellte Architektur. Die Casa die Filippini in Rom im Stichwerk von Sebastiano Giannini (1725) mit dem Text von Virgilio Spada (1647), hg. von Monika Küble, Felix Thürlemann. Sulgen, Zürich: Niggli, 1999, S. 94f. 40 Ebd. 41 Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. 2. Aufl. Iserlohn: Verlag von J. Baedeker, 1873, S. 3. 42 Carl Vogt, Physiologische Briefe für Gebildete aller Stände. Gießen: J. Ricker’sche Buchhandlung, 1854. Ders., Köhlerglaube und Wissenschaft. Eine Streitschrift gegen Hofrath Rudolph Wagner in Göttingen. Gießen: J. Ricker’sche Buchandlung, 1954. Jac[ob] Moleschott, Der Kreislauf des Lebens. Physiologische Antworten auf Liebig’s Chemische Briefe. Mainz: Verlag von Victor v. Zabern, 1852. Louis [Ludwig] Büchner, Kraft und Stoff. Empirisch-naturphilosophische Studien. In allgemein-verständlicher Darstellung. Frankfurt a. M.: Meidinger Sohn, 1855. Heinrich Czolbe, Neue Darstellung des Sensualismus. Ein Entwurf. Leipzig: Hermann Costenoble, 1855. 43 Gottfried Semper, »Entwurf eines Systemes der vergleichenden Stillehre« (Vortrag, gehalten in London 1853), in: ders., Kleine Schriften, hg. von Hans und Manfred Semper (1884). Nachdruck Mittenwald: Mäander Kunstverlag, 1979, S. 259–291, hier S. 269. 44 C[arl] Fr[iedrich] von Rumohr, Italienische Forschungen, hg. von Julius Schlosser, Frankfurt am Main: Frankfurter Verlags-Anstalt A.–G., 1920, S. 59f. 45 Ebd. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über Ästhetik (auf der Grundlage der Werke 46 von 1832–1845 neu edierte Ausgabe), hg. von Eva Moldenhauer, Karl Markus Michel. 3 Bände. 1.–3. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1992. Gottfried Semper, »Entwurf eines Systemes der vergleichenden Stillehre« (wie Anm. 43), 47 S. 280. 48 Gottfried Semper, Die vier Elemente der Baukunst. Ein Beitrag zur vergleichenden Baukunde. Braunschweig: Friedrich Vieweg, 1851, S. 53f. 49 Ebd., S. 54. 50 Gottfried Semper, Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik. Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde. Band 1: Textile Kunst, Frankfurt am Main: Verlag für Kunst und Wissenschaft, 1860. Nachdruck Mittenwald: Mäander Kunstverlag, 1977, S. 6f. 51 Ebd., S. XI. 52 Ebd., S. XV. 53 Ebd. 54 Semper, »Entwurf eines Systemes der vergleichenden Stillehre« (wie Anm. 43), S. 267. 55 Ebd., S. 268f. 27

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Ebd., S. 271f. Alois Riegl, Stilfragen. Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik. Berlin: Verlag von Georg Siemens, 1893, S. VII. 58 Ebd. 59 Ebd. 60 Alois Riegl, Spätrömische Kunstindustrie. Wien: Druck und Verlag der österreichischen Staatsdruckerei, 1927, S. 8. 61 Ebd. 62 Ebd., S. 9. 63 Hans Sedlmayr, »Einleitung«, in: Alois Riegl, Gesammelte Aufsätze. Augsburg, Wien: Dr. Benno Filser Verlag, 1928, S. XI–XXXIV. 64 Riegl, Stilfragen (wie Anm. 57), S. 78. 65 Albert Stange, Die Bedeutung des Werkstoffes in der deutschen Kunst. Bielefeld, Leipzig: Velhagen und Klasing, 1940, S. 7. 66 Wilhelm Waetzoldt, Deutsche Kunsthistoriker. 2. Band, 1924, S. 132, zit. in: Stange (wie Anm. 65), S. 8. 67 Reichsjugendführung der NSDAP, Werkhefte für den Heimbau der Hitler-Jugend. 2. Band: Die Gestaltung des Innenraumes. Leipzig: Verlag von Erwin Skacel, 1938, S. 282. 68 Vgl. Christian Fuhrmeister, Beton Klinker Granit, Material Macht Politik. Eine Materialikonographie. Berlin: Verlag Bauwesen, 2001, S. 10−12. 69 Martin Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerkes«, in: ders., Holzwege. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1980, S. 12. 70 Ebd., S. 31. 71 Peter Zumthor, »Eine Anschauung der Dinge« (1988), in: ders., Architektur Denken. Baden: Verlag Lars Müller, 1998, S. 10. 72 Ebd. 73 Zumthor, »Der harte Kern der Schönheit«, in: ders., Architektur Denken (wie Anm. 71), S. 34. 74 Ebd. 75 Zumthor, »Eine Anschauung der Dinge« (wie Anm. 71), S. 10. 76 Henry van de Velde, »Die Belebung des Stoffes als Prinzip der Schönheit« (1910), in: ders., Essays. Leipzig: Insel-Verlag 1910, S. 5–38, hier S. 13. 77 Henry van de Velde, »Das Streben nach einem Stil, dessen Grundlagen auf vernünftiger, logischer Konzeption beruhen«, in: ders., Zum neuen Stil, München: Piper, 1955, S. 148–155, hier S. 150. 78 Van de Velde, »Die Belebung des Stoffes« (wie Anm. 76), S. 28. 79 Ebd., S. 12f. 80 Zumthor, »Eine Anschauung der Dinge« (wie Anm. 71), S. 10. 81 Robert Morris, »Three Folds in the Fabric and Four Autobiographical Asides as Allegories (or Interruptions)«, in: ders., Continuous Project Altered Daily. The Writings of Robert Morris. Cambridge, Massachusetts: The MIT Press, 1993, S. 259–285, hier S. 263–265. (Übers. Á. M.) 82 Aristoteles, Philosophische Schriften. Bd. 6: Physik. Vorlesung über die Natur. Übers. Hans Günter Zekl. Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1995, S. 23. Judith Butler, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Frankfurt am 83 Main: Suhrkamp Verlag, 1997. Donna Jeanne Haraway, Crystals, Fabrics, and Fields. Metaphors That Shape Embryos. Ber84 keley: North Atlantic Books, 1976. 85 Matthew Mindrup, »Editor’s Note. Interrogating the Gap Between the Material and Formal Imagination: An Introduction«, in: ders. (Hg.), The Material Imagination. Reveries on Architecture and Matter. Farnham: Ashgate, 2015, S. 1–9, hier S. 3. »Gewiß, bereits bei der Kragsteinen der neolithischen Dolmen findet man Beweise für eine Phantasie, die es den Architekten erlaubt, mit der Materie zu träumen, nicht als Ersatz für die Form, sondern als die unabdingbare Voraussetzung für ihre Existenz« (Übers. Á. M.). 86 Jane Bennett (wie Anm. 7), S. 18. »Sogenannte unbelebte Dinge haben ein Leben, tief im Inneren haben sie eine unerklärliche Vitalität oder Energie.« (Übers. Á. M.). 87 Ebd., S. 19. 88 Ebd., S. 117. 89 Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2008.

3. STOFFE DER NATUR Die Idee der Metamorphose in der Architektur, die auch Gottfried Sempers Theorie des Stoffwechsels zugrunde liegt, beruht auf der Betrachtung der Natur. Die berühmte Beschreibung Marc-Antoine Laugiers der sogenannten Urhütte, veröffentlicht im Jahre 1753, weist ausdrücklich auf die Einfachheit des Modells als ein Prinzip der Natur hin: »So geht die einfache Natur zu Werke und die Kunst verdankt ihre Entstehung der Nachahmung dieses Vorgehens.«1 (Abb.  3.1) Nachgeahmt werden solle nicht die äußere Erscheinung, sondern

3.1 Charles Eisen, Allegorie der Rückkehr der Architektur zu ihrem natürlichen Vorbild. ­Fronti­spiz in M.-A. Laugier, Essai sur l’architecture, 2. Aufl. 1755.

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3. Stoffe der Natur

3.2 Gewölbe der Nikolaikirche in Leipzig. Johann Carl Friedrich Dauthe 1784–1797.

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die Vorgehensweise der Natur. Es müssen mehr grundsätzliche Fragen gestellt werden, als jene nach den Säulenordnungen, die bisher das Hauptthema architektonischer Traktate waren, so Laugier. Seine Forderung hatte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine ungeheure Wirkung in ganz Europa, und selbst das als Frontispiz verwendete Bild von Charles Eisen beeinflusste die Archi-

3. Stoffe der Natur

3.3 William Chambers, Tafel aus A Treatise on the Decorative Part of Civil Architecture, London 1759. 3.4 Königliche Saline Chaux in Arc-et-Senans von Claude-Nicolas Ledoux, 1775–1778.

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3. Stoffe der Natur

tektur ihrer Zeit: Der Leipziger Stadtbaumeister Johann Carl Friedrich Dauthe baute den Innenraum der Nikolaikirche unter Verwendung von kannelierten Säulen mit Palmenkapitellen um (1784–1797). (Abb. 3.2) Allerdings lehnten der junge Johann Wolfgang von Goethe (in seinem Essay »Von Deutscher Baukunst«, 1773) und der englische Architekt William Chambers (in seinem Buch A Treatise on the Decorative Part of Civil Architecture, 1. Aufl. 1759) Laugiers »Manifest des Klassizismus« entschieden ab. Die Natur sei nicht perfekt, könne kein Vorbild für die Architektur sein, oder besser: Gerade in ihren Kaprizen und der Vielfalt ihrer Formen liege ihr Zauber, schreibt Chambers und zeigt in seinem Buch nicht eine Urhütte, sondern gleich drei.2 (Abb. 3.3) Wie Goethe bewundert er die Gotik, ihre Leichtigkeit und konstruktive Kühnheit, Eigenschaften, welche die antike Architektur nie hatte erreichen können.3 Auch Giovanni Battista Piranesi spottet in seinem Dialogessay »Parere sull’architettura« (1765) über die Suche nach dem einzigen wahren Prinzip angesichts des fantastischen Reichtums der Archi­tekturformen.4

Die schaffende und die geschaffene Natur

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Der Begriff »Natur« hat im westlichen Denken eine doppelte Bedeutung, was auf Aristoteles und seine mittelalterlichen Interpreten zurückgeht. Natura natu­ rans bedeutet: schaffende/geschaffene Natur, Natur als schöpferisches Prinzip und geht auf die lateinischen Wurzel des Worts nasci, »geboren werden«, zurück. Natura naturata ist das Ergebnis, die geborene, geschaffene Natur. Sie war schon in der Antike mit dem Bild der Grotte verbunden: der Uterus der Erde, Eingang in die Unterwelt, von den Griechen als Ort der Orakel verehrt. Es ist also kein Wunder, dass besonders Bauten für die Arbeit solche Formen imitieren. Die Salinenstadt Chaux in Arc-et-Senans ist eine von dem Architekten Claude-­Nicolas Ledoux entworfene, 1778 fertiggestellte Anlage, die sowohl die Salzmanufaktur als auch die Unterkünfte für die Arbeiter umfasst. (Abb. 3.4) Das Einkochen der Sole war ein gefährlicher Prozess, der viele Opfer forderte, denn die Arbeiter mussten sich auf Bohlen bewegen, die über die Siedebecken gelegt waren. Die − zumindest symbolische – visuelle Kontrolle der Aufseher über den Arbeitsprozess bestimmte die Disposition der Anlage. Ledoux präsentiert das Ergebnis als Architecture parlante: ein rigoroser Klassizismus, in dem tektonische Verfeinerung durch kristalline Schärfe ersetzt ist, kombiniert mit erzählenden Details, die den industriellen Vorgang der Kristallisierung naturalisieren. Die Verwendung von dorischen Säulen ohne Basis sollte in Chaux als eine Art industrielle Säulenordnung verstanden werden. In seiner Schrift »L’architecture considérée sous le rapport de l’art, des moeurs et de la légslation« (1804) beschreibt Ledoux die Natur als eine dem Menschen wohlgesinnte, ernährende, schöpferische Kraft, der ihre Wohltaten in harmonischer Zusammenarbeit mit der Industrie entfalten kann: »[…] auch die Erde befruchtet die Industrie.«5 An den Fassaden der Bauten in Chaux quillt aus kreisförmigen Fassadenöffnungen eine petrifizierte Salzlösung hervor, der Eingang in die Idealstadt erfolgt durch eine Grotte unter dem Propyläentorbau mit eng gestellten Säulen, der ebenfalls die unterirdische kristalline Welt der

3. Stoffe der Natur

3.5, 3.6 Königliche Saline Chaux.

Natur thematisiert. (Abb. 3.5) Die schwere Arbeit in den Dämpfen der Siederei wird so zum menschlichen Beitrag der Befruchtung der Erde verklärt, ähnlich der Bestäubung der Blumen durch die Bienen. Überwachung und Disziplin mussten in der Idealstadt von Ledoux genauso natürlich erscheinen wie die klassischen Säulenordnungen, die von ihren humanistischen Verfeinerungen bereinigt und anorganisch-­petrifiziert präsentiert wurden. (Abb. 3.6) Es ist der Portikus, der Ort des Eintritts in die Welt der Industrie, wo die Natura naturans als zerklüftete Felslandschaft inszeniert wird. Der amerikanische Architekt Henry Hobson Richardson hat diese malerische Eruption von rohen

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3. Stoffe der Natur

3.7, 3.8 Darstellung eines

Gusseisen­gelenks und Entwurf einer Halle. Abbildungen aus E. E. Viollet-le-Duc, Entretiens sur l’architecture, Paris 1863–1872.

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Steinblöcken als Thema für die Fassade der Ames Gate Lodge in der Industriestadt North Easton bei Boston (1880/81) gewählt. Das Gebäude bildet den Eingang zum Grundstück des Landhauses von Frederick Lothrop Ames, Sohn des »Eisenbahnbarons« Oliver Ames, und beinhaltet die Gärtnerwohnung und Gästeapartments (s. Abb. 1.2, 1.3). Der Torbau als geologische Architektur kann hier als eine Art symbolische Kompensation für die großmaßstäbliche Zerstörung der Natur, die mit dem Eisenbahnbau ihren Anfang nahm, verstanden werden. Der Bau wirkt wie eine gefundene Steinformation, eine natürliche Brücke, die mit wenigen einfachen Eingriffen zur Architektur gemacht wurde. So ist Richardsons pyramidenförmiges Denkmal für Oakes und Oliver Ames ebenfalls entstanden: Die natürliche Felsformation Reed’s Rock wurde aufgesägt und die mehrere Tonnen schweren, an ihrer Stirnseite roh belassenen Granitstücke in Ochsenkarren zum Ort des Denkmals in Sherman transportiert. Richardson freute sich, dass vorbeifahrende Zugreisende das Denkmal

3. Stoffe der Natur

3.9 Mauerwerk mit Stützen aus Gusseisen. Tafel aus dem Atlas zum ­Entretiens sur l’architecture von E. E. Viollet-le-Duc, Paris 1864. 3.10 Fassade der École Sacre Cœur, Paris. Hector Guimard, 1895.

für ein Objekt der Natur hielten, und meinte, die vielen heftigen Stürme im Bundesstaat Wyoming würden seinem Werk nur gut tun.6 Während Richardson die Formen der Natura naturata (s. S. 64) als Vorbild verwendete, arbeitete der französische Architekt und Restaurator Eugène-­ Emmanuel Viollet-le-Duc (1814–1879) an der Theorie einer Architektur, welche die Natur nicht imitiert, sondern sich die Formprinzipien der schaffenden Natur aneignet. Was bei Semper die Aufgabe einer in Materialkategorien organisierten praktischen Ästhetik war, suchte Viollet-le-Duc mit seinem zehnbändigen Dictionnaire raisonné de l’architecture française du XIe au XVIe siècle (1854–1868) zu erfüllen, einer Enzyklopädie der mittelalterlichen Architektur, welche die Rationalität der Gotik als analog zur höheren Vernunft der Naturgesetze betrachtet und sie deshalb als die richtige Grundlage für die Architektur der modernen Zeit vorschlägt.7 Trotz ihrer unterschiedlichen Stilideale waren beide, Viollet-le-Duc und Semper, von der vergleichenden Anatomie des französischen Naturforschers Georges Cuvier beeinflusst und bestrebt, in ihren Unter­suchungen der Architekturformen die komparative Methode des Zoologen zu verwenden (s. S. 164). Cuviers Ausgangspunkt war, in einem Organismus die Korrelation der Organe zu betrachten, also wie sie sich bezüglich Form und Funktion zu einem Ganzen zusammenfügen. (Abb. 3.7) Viollet-­leDuc stellte eine ähnliche Kette von Kausalitäten in der Struktur einer gotischen ­Kathedrale fest. Stil war für ihn die Einheit von Konstruktion und Form, sowohl in der Natur als auch in der Architektur. »Wenn die Konstruktion sich ändert, ändert sich notwendigerweise auch die Form; dennoch ist die Einheit weder eine griechische, noch eine römische, noch eine mittelalterliche. Eine Eiche hat keinerlei Ähnlichkeit mit einem Schaft des Farnes, so wenig, wie ein Pferd einem Hasen gleicht. Und dennoch gehorchen Flora und Fauna einer organischen Einheit, die alle Lebewesen beherrscht.«8 Diese Art der anatomischen Betrachtung bestimmte Viollet-le-Ducs Denken auch als Restaurator mittelalterlicher Bauten, für die er dieselbe deduktive Methode verwendete,

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3. Stoffe der Natur

3.11 Hängemodell für die Kirche

der Colònia Güell von Antoni Gaudí, Rekonstruktion 1982.

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mit der Cuvier den Kör­perbau ausgestorbener Tierarten aus ihren fossilen Überresten rekonstruierte. Er beschreibt die Kathedrale als Organismus auf einem bestimmten Punkt in der Geschichte − also keinem Endpunkt − der Evolution. Die meisten Kapitel des Dictionnaire befassen sich »mit dem logischen Gedankenbau und der Einheitlichkeit des Prinzips, wie es die Meister des Mittelalters angewendet haben«.9 Viollet-le-Duc war überzeugt davon, dass die von ihm bewunderte Gotik keine unerreichbare Höchstleistung der Architektur war. Im Gegenteil, dank neuer Erkenntnisse der Ingenieurwissenschaft und der Verwendung von Eisen konnte die gotische Rationalität weiterentwickelt werden. In seiner Essay­reihe Entretiens sur l’architecture, einer zwischen 1858 und 1870 veröffentlichten Zusammenfassung seiner Entwurfslehre, erläutert Viollet-le-Duc seine Vorstellung von einer modernen Eisenarchitektur, die sich für den Bau großer Hallen eigne.10 Die ornamentierten Gelenke des Eisengerüsts sind nach dem Vorbild der Knochengelenke gestaltet. Merkwürdigerweise scheint jedoch in Viollet-le-Ducs Konzept der Einheit jene Korrelation der Teile keine Rolle zu spielen, die bei Cuvier die Konsequenz der Lebensbedingungen eines Orga­

3. Stoffe der Natur

3.12 Ansicht des Gewölbes der

­ athedrale Sagrada Familia K von Antoni Gaudí in Barcelona während der Bauarbeiten. Die Ausführung hat 1882 begonnen. 3.13 Fassade der Krypta der unvoll­ endeten Kirche der Colónia Güell in Santa Coloma de Cervelló von Antoni Gaudí, 1908–1914.

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3. Stoffe der Natur

3.14 Die zwischen 1904 und 1906

umgestaltete Fassade der Casa Batlló, Barcelona. Antoni Gaudí.

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nismus ist. In den kühnen, oft bizarren Entwürfen Viollet-­le-Ducs für neue Konstruktionen fehlt gerade diese Einheit – eigentlich sein wichtigstes Ziel, denn Stil konnte er mit diesen Vorschlägen nicht erreichen.11 (Abb. 3.8) Eine seiner konstruktiven Ideen, die Verwendung schräger Eisenstützen, wurde von Hector Guimard an der Fassade seiner Schule Sacré-Cœur in Paris (1893–1895) benutzt, um eine größtmögliche Öffnung des Erdgeschosses zu ermöglichen. (Abb. 3.9, 3.10) Semper hat Viollet-le-Ducs Dictionnaire gelesen und das Werk kritisch kommentiert.12 Der Punkt, in dem sich die Positionen der beiden einflussreichsten Theoretiker des 19. Jahrhunderts stark voneinander unterscheiden, ist die Bewertung der gotischen Architektur. Für Viollet-le-Duc war die Gotik die Verkörperung des konstruktiven Rationalismus – und für Semper gerade deshalb ein tyrannisches Prinzip, das die Freiheit des »divinatorischen Künstlersinns« in Fesseln schlägt. Für Viollet-le-Duc war es der Kristall, der

3. Stoffe der Natur

3.15 Fallingwater (­Kaufmann

­ esidence), Bear Run, R ­Pennsylvania. Frank Lloyd Wright, 1935–1939. 3.16 Kamin im Haus Fallingwater.

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3. Stoffe der Natur

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das logische Prinzip der Natur und Architektur in einer primären Form darstellt. Semper sah hingegen im Knoten als Grundmotiv des Textilwebens »das älteste technische Symbol« (s. ­Kapitel 8).13 Der zwingenden, vom Naturgesetz bestimmten Form des Kristalls stehen die verschiedenen dekorativen Gewebemuster gegenüber, die aus den Regeln des Webens und aus der Fantasie des Künstlers resultieren. In der Gotik dominiert das Gerüst, die Wände – deren Gestaltung Semper als die wichtigste Aufgabe der Architektur betrachtete – lösen sich in farbige Glasfenster auf. Die rein dekorative Verwendung des Maßwerks in der Spätgotik wertet Semper deshalb als eine Art ironische Selbstkritik des Stils: »Das Gesetz selbst, in spitzfindigster Auslegung, leistet der wildesten Willkühr Vorschub, das System, in seinem Alter witzig geworden, treibt mit seinem eigenen Wesen Humor!«14 Ein Vorwurf, der angesichts der dank Computer möglich gewordenen Pirouetten der heutigen Ingenieurbaukunst eine gewisse Aktualität hat. Viollet-le-Ducs Werk überzeugte den katalanischen Architekten Antoni Gaudí davon, die Wurzeln einer nationalen Architektur in der heimischen Landschaft, in ihrer Flora und Fauna und in dem selbstverständlichen handwerklichen Können ihrer Bewohner zu suchen. Gaudí studierte die Wachstumsformen bei Pflanzen sowie die Felsformationen Kataloniens und verwendete die Ergebnisse für den Entwurf von Bauten wie die Kathedrale Sagrada Família in Barcelona (begonnen 1882). (Abb. 3.11) Gaudí hat in seinen Aufzeichnungen über die Natur sowohl als Natura naturans als auch Natura naturata, als Prinzip und als Vorbild geschrieben.15 Viollet-le-Ducs Entretiens sur l’architecture

3. Stoffe der Natur

3.17 a, b, c Struktur, Textur

und Faktur. Seiten aus László Moholy-Nagy, Von material zu architektur, München 1929.

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3. Stoffe der Natur

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beeinflussten den katalanischen Architekten stark, obwohl er zugleich bezweifelte, ob in der Architektur tatsächlich alles von rationalen Gesetzen, von der Notwendigkeit diktiert sei.16 Dementsprechend führt das Studium der Natur in seinem Werk zu formalen Ergebnissen, die organisch wirken, anders als die Entwürfe des französischen Architekten. Gaudís Experimente mit den von ihm als »stereostatisch« bezeichneten Hängemodellen werden oft als Beispiele der Eigenproduktion der Materie ­zitiert.17 Obwohl die Tragfähigkeit von Konstruktionen in der Baupraxis schon lange vor Gaudí untersucht wurde – auf die theoriebildende Relevanz der antiken Baustelle haben wir bereits hingewiesen –, wird hier das Experiment zum ersten Mal in der Baugeschichte zur formgenerierenden Instanz. Gaudí konstruierte Modelle, bei denen die tragenden Konstruktionsglieder einer geplanten Kirche, etwa die Stützen und Rippen, den Seilen entsprechen, die an der Decke seiner Werkstatt befestigt waren. Die Knotenpunkte des Seilpolygons beschwerte er mit Bleischrotsäckchen, die etwa den zu erwartenden Auflasten entsprachen. Die räumliche Form, die das Seilgebilde unter der Belastung der Säckchen annahm, betrachtete Gaudí als die von der Natur bestimmte Form der Tragkonstruktion, die dann mit einer Fassadenhaut überzogen werden muss. Er verglich diesen Prozess mit dem Schöpfungsakt, bei dem Fleisch und Haut auf das Knochenskelett aufgetragen werden.18 (Abb. 3.12) Die meisten seiner Bauten sind von organisch-hautartigen Oberflächen »bewachsen«, während Schlingpflanzen sein Werk beenden. (Abb.  3.13) Die Casa Batlló in Barcelona ist der Umbau eines bestehenden Wohnhauses (Fassade 1904–1906), für das Gaudí ein breites Spektrum geologisch-organischen Mischformen für die Oberflächen entwickelte. Die Fassade ist mit einer Putzhaut überzogen, in die glasierte Keramikscherben eingebettet sind. Aus dieser Fläche ragen kreisförmige, bemalte Keramikscheiben hervor. Vor diese pointilistische, farbig glänzende Fassade, die an die glänzende Wasseroberfläche eines mit Pflanzen bewachsenen Sees wie bei Claude Monets Bildern erinnert, ist die wie große Knochen wirkende Steinkonstruktion der Balkone der unteren Stockwerke gestellt. Diese bewegte Fassadenkomposition bekrönt das Dach mit glasierten Keramiken, die es wie Schuppen ein Reptil bedecken. (Abb. 3.14) Während Viollet-le-Duc von der Rationalität als gemeinsamem Prinzip der gotischen und der modernen, mit industriellen Materialien arbeitenden Archi­tektur überzeugt war, sollte die experimentelle Methode Gaudí erlauben, Naturgesetze unmittelbar, ohne den subjektiven Gestaltungswillen des Archi­ tekten, zur Bestimmung der Form zu verwenden. Er sprach von einer »inteŀligència angèlica«, von der Weisheit der Engel, und er meinte damit deren Fähigkeit, sich direkt der Frage des Raums zu widmen, also ohne die Vermittlung einer zweidimensionalen Planzeichnung.19 Es sei die unergründliche, nie ganz auf Formeln reduzierbare Natur selbst, die in Gaudís Vorstellung die optimale Form der Tragkonstruktion mit dem Modellexperiment bestimmt. In der Wirklichkeit lässt sowohl die Gestaltung der Experimentalanordnung (etwa die Bestimmung der Punkte für die Aufhängung der Seile) als auch die Nachbearbeitung der Resultate genügend Raum für die Subjektivität des Architekten. Kein Wunder also, dass diese Bauwerke eher als exzentrische Schöpfungen eines einsamen Genius denn als Resultate wissenschaftlicher Experimente wahrgenommen werden. »Das Gesetz selbst, in spitzfindigster Auslegung, leistet der wildesten Willkühr Vorschub, das System, in seinem Alter witzig gewor-

3. Stoffe der Natur

3.18 Detail aus dem Innenhof des

Sommerhauses von Alvar Aalto in Muuratsalo am Päijänne-­See, 1952/53.

den, treibt mit seinem eigenen Wesen Humor!«: Trifft Sempers ironische Kritik an Viollet-le-Duc auch in Bezug auf Gaudís Stereostatik zu?20 Gaudís Modellexperimente wurden von Konstrukteuren der Nachkriegszeit wie Frei Otto, Sergio Musmeci oder Heinz Isler übernommen. Otto war es aller­dings klar, dass ein Modellexperiment zwar in einer Form resultiert, aber von dieser Form zum architektonischen Projekt noch ein langer Weg führt. Das Experiment war für ihn also eher ein Auslöser für Gedanken als eine Lösung für das Entwurfsproblem.21

Stoff der Avantgarde Die Dynamik der Natur zeigt sich im modernen Kleid bei Frank Lloyd Wrights Fallingwater. Das Wochenendhaus in den Allegheny Mountains südlich von Pittsburgh wurde für den Warenhausmogul Edgar J. Kaufmann gebaut (1935– 1939). »Fallingwater« bedeutet nicht etwa Haus am Wasserfall, der Name leitet sich vom stürzenden, dynamischen Element des Wassers her. Bereits ­Ledoux entwarf ein Wasserfall-Haus für die Aufseher des Flusses Loue bei seiner Salinen­stadt, die betont technisch wie eine klassizistische Maschine erscheinen sollte. Fallingwater ist eine malerische Gegenthese zur Industriestadt Pittsburgh. Die Idee ist seit dem Barock wohlbekannt, aber Wright entfaltete die thematischen Möglichkeit mit einer grandiosen modernen Inszenierung, einer Art räumlichen Ornamentik, fraktalhaft bis ins kleinste Detail weitergeführt, in die natürliche Fundstücke eingewoben sind. Der Boden des Wohngeschosses ist belegt mit flachen flagstones (Flusssteinen), die mit Wachs poliert sind, damit sie glänzen, als wären sie mit einer Schicht Wasser benetzt. Beim Kamin ragen Felsstücke, auf denen die Familie vor dem Bau des Hauses beim Picknicken gesessen hatte, aus dem Fußboden heraus. Das dialektische Gegenstück zum Kamin ist eine Glasbox mit Tür und verschiebbarer Decke, von der aus eine Freitreppe zum Wildbach hinabführt. Wenn dieser hatch geöffnet ist, soll die »Musik des Wassers« den Wohnraum füllen. (Abb. 3.15, 3.16)

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3. Stoffe der Natur

Wrights Fallingwater als Dynamisierung eines Naturelements und die Erscheinung der fließenden Zeit im Bild des Bauwerks verbinden den Quellentempelkult des Jugendstils (die jetzt mit pfirsichfarbenem Zementputz über­zogenen Betonflächen der Terrassen hätten ursprünglich mit Goldfolie beklebt werden sollen!) mit der Aktivierung des Stoffs in der Avantgarde.22 Die intensive Beschäftigung mit dem Material »stärkt die sicherheit im gefühlsmässigen«, betont László Moholy-Nagy in seinem Bauhausbuch Von material zu architektur.23 Der Buchtitel ist wichtig: Nicht die Kenntnis der Geschichte, ihrer Stile und Detailformen, sondern das (keinesfalls nur wissenschaftlich-technische) Studium des Materials führt zur 3.19 Steinsalz aus Wieliczka, zeitgemäßen Architektur. Die optisch und haptisch wahr­Galizien. Aufnahme aus Alfred Ehrhardt, Kristalle, Hamburg 1939. nehmbaren Spuren der Bearbeitung, die sogenannte Faktur, in Überlappung mit der Textur, das heißt der die Konstruktion abschließenden Grenzfläche, bestimme unser Verhältnis zum Material, so Moholy-Nagy. Die interne Struktur des Holzes werde im Querschnitt sichtbar; ein Stück Holzrinde habe eine natürliche Textur, und wenn sie von Holzwürmern durchlöchert sei, könne man von Faktur sprechen. Moholy-­ Nagys Beispiele wie die Zellenstruktur der Papierwespen, das Fell einer Katze oder die Faktur eines gemähten Roggenfelds kombinierte er mit jenen Bildern der »technischen Welt«, in der Maschinen und Werkzeuge, Stahlgerüste und Betonkonstruktionen die Ästhetik der Moderne vermitteln sollten. (Abb. 3.17 a, b, c) Das Biologische war für Moholy-Nagy der »regulator schlechthin«: Die höchste Stufe der Raumgestaltung sei »ihre erfassung vom biologisch möglichen«.24 Moholy-Nagys und Alvar Aaltos Materialstudien (Letztere waren von Moholy-Nagys zitiertem Buch beeinflusst) sind mit den Experimenten in den Moskauer WChUTEMAS-Werkstätten vergleichbar, nicht zuletzt wegen des gemeinsamen Interesses für die psychologische Wirkung, die von bearbeiteten Werkstoffen ausgeht – etwa der von gebo­genen Schicht­holzelementen. Aalto war von der Prozesshaftigkeit der Formfindung überzeugt. Er versuchte, »die dem naturgemäßen organischen Leben ähnliche Variierung und das Wachstum als die tiefste Eigenschaft der Architektur zu unterstreichen«.25 Sein finnischer Pavillon auf der Weltausstellung in New York 1939 war eine reine Innenarchitektur in einem schachtelförmigen Raum – entstanden zur gleichen Zeit wie seine Villa Mairea in Noormarkku. Bei beiden Aufgaben war der erzählerische Aspekt wichtig. Die räumliche Grundidee bildete in New York eine Lichtung im finnischen Wald − als mythische Natur und zugleich Rohmaterial der Holz­ industrie − sowie die atmosphärische Inszenierung des Polarlichts. Die Versöhnung des endlosen Reichtums an Formvariationen eines Typus in der Natur mit der Starrheit des Prototyps in der Technik war eine der großen rhetorischen Leistungen Aaltos. Während er im Jahre 1932 noch die Standardisierung in der Architektur befürwortete, kritisierte er sechs Jahre später in seiner Rede auf den Nordischen Bautagen in Oslo bereits jene Form von Standardisierung, die nur »Gleichförmigkeit und Formalismus hervorbringt«.26 76 1941 hielt Aalto in verschiedenen Städten der Schweiz einen Vortrag über

3. Stoffe der Natur

3.20 Abbildung aus dem Buch Von

der Bebauung der Erde von Rudolf Schwarz, Heidelberg 1949. 3.21 Die Fassade der Kirche S. ­Giovanni Fuorcivitas in Pistoia, mit Streifen aus weissem Marmor und grünem Serpentin aus Prato. 1119, erweitert bis 1344.

den Wiederauf bau Europas nach dem Krieg. Er betonte, dass die Standardisierung in der Architektur biologischen Modellen anstatt den Prinzipien der Automobilindustrie folgen müsse: »Von allen Standardisierungskommissionen ist es die Natur, die am meisten Beachtung verdient. […] Jede Blume ist aus Millionen scheinbar völlig gleichartiger Urzellen aufgebaut; aber diese Zellen besitzen Eigenschaften, die ihnen die merkwürdigsten Variationen bei ihrer Zusammenstellung gestatten.«27 Die echte Standardisierung müsse derart konzipiert sein, dass die standardisierten Elemente möglichst viele Kombinationen erlaubten. Vorbild sei die Natur, wo »Standardisierung« nur bei den kleinsten Einheiten, den Zellen, auftrete. So entstehe »im fertigen Produkt ein unerhörter Formenreichtum, der zudem noch nach einem bestimmten System aufgebaut ist«.28 Dem Backstein kam die Aufgabe zu, die Rolle der Zelle zu spielen. Die geschwungene Form von Aaltos Baker House, des Studentenheims des Massachusetts Instititute of Technology in Cambridge (1946–1949), und die dort verwendeten, teilweise beim Brennen beschädigten, deformierten Ziegelsteine sollten diese Idee bildhaft vermitteln: Eine Metapher wurde materialisiert.29 Aaltos Sommerhaus in Muuratsalo am Päijänne-See (1952/53) war für ihn ein Laboratorium, um Experimente mit verschiedenen Baumaterialien durchzu-

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3. Stoffe der Natur

3.22 Fassade der Kirche St. Anna

in Düren, Rudolf Schwarz, 1951–1956. 3.23 Innenraum der Kirche St. Anna in Düren.

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führen, sie »in ästhetischer und praktischer Hinsicht zu prüfen«.30 Die Hoffassaden seines Hauses verkleidete er mit diversen Ziegelsorten und Keramikfliesen, um die Freude am Spiel mit den jeweiligen haptischen und optischen Qualitäten zu vermitteln. Hier ist das Experiment nicht im wissenschaftlichen Sinne zu verstehen: Es kann nicht scheitern, weil es nicht Erkenntnis, sondern

3. Stoffe der Natur

3.24 Pfarrkirche St. Florian in

Wien, Rudolf Schwarz, 1957–1963.

3.25 Innenraum der Kirche

St. ­Florian.

Erfahrung verspricht, und dieses Versprechen wird auf jeden Fall eingelöst.31 Andererseits: Das Beispiel zeigt, wie wir den Begriff des »modernen Experiments« erweitern können, um den Prozessen der Wirklichkeit zu erlauben, zu einem Teil der Experimentalanordnung zu werden, sie mit Erde und Moos zu »kontaminieren«. (Abb. 3.18)

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3. Stoffe der Natur

Visionen von der Erde

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Viollet-le-Duc widmete sich in seinen späten Jahren einem wahrlich gigan­ tischen Projekt: der gedanklichen und zeichnerischen Restaurierung der Alpen. Mehreren Bergwanderungen um den Mont Blanc – eine endete sogar mit seinem Sturz in eine Felsspalte – und sein an Cuvier geschulter anatomischer Blick befähigten ihn, hinter jedem Bruchstück das organische Ganze zu sehen. Im Jahre 1876 erschien Viollet-le-Ducs Le massif du Mont Blanc. Étude sur sa constitution géodésique et géologique sur les transformations et sur l’état ancien et moderne de ses glaciers.32 Bergsteiger und Geologen hatten schon früher auf die Erosion der Berge aufmerksam gemacht. Nun nahm der Architekt die Aufgabe der Restaurierung der Architektur der Gebirge ernst und fertigte eine Reihe von genauen Zeichnungen an, um die kristalline Logik der Morphologie zu bestimmen, welche als Grundlage der Rekonstruktion des Original­zustands dienen konnte. Nachdem der forschende Blick des Architekten die große geometrische Ordnung der Natur erkannt hat, kann er die Zerstörungen der Erosion rückgängig machen, um den Urzustand der Alpen wiederherzustellen – zumindest in Form von Zeichnungen und Aquarellen. Diese Gleichsetzung der Natur mit Rationalität, mit klaren, auf Entdeckung wartenden Regeln, war eine Idee der Aufklärung, die von Viollet-le-Duc konsequent eingesetzt wurde. Die Verbindung zwischen Erdgeschichte und Architektur­geschichte beginnt nicht mit Viollet-le-Ducs S­ tudie. Bereits die Faszination der Renaissance für Steinmaserungen, die Städte oder Landschaften zeigen und die wiederum in die Architekturen eingefügt werden, verweist auf mögliche Wechselwirkungen zwischen Geologie und Architektur. Die »sachliche« wissenschaftliche Fotografie, die scharfen Nahaufnahmen von Pflanzen und Kristallen, die Bilder von Mikro­organismen und Landschaften waren für die Archi­tekten in den 1920erund 1930er-Jahren wahre Zauberbilder, eine wichtige Inspirationsquelle. Diese mit der Neuen Sachlichkeit assoziierte Betrachtung von Naturformen begann mit der Tätigkeit Karl Blossfeldts, der mit seinen Foto­grafien von ornamental wirkenden pflanzlichen Formen weltweiten Erfolg erntete (Urformen der Kunst, 1928).33 Der ehemalige Bauhausstudent Alfred Ehrhardt war einer der wichtigsten Vertreter der neuen »sachlichen« Naturfotografie. (Abb.  3.19) ­Albert Renger-Patzsch erweiterte diese neue Bilderwelt wesentlich, indem er auch technische Gegenstände und Industriebauten aufnahm. Der Architekt Rudolf Schwarz (1897–1961) veröffentlichte 1928 ein Buch als ersten – und letzten – Band der Reihe Aachener Werkbücher unter dem vieldeutigen Titel Wegweisung der Technik, das er mit 74 ganzseitigen Aufnahmen von Renger-­ Patzsch illustrierte.34 Dass Technik und Natur darin nicht als unvereinbare Gegensätze erscheinen, hat nicht nur mit dem Text von Schwarz zu tun, der bereits in den ersten Sätzen die Gewalt und Größe der Kräfte beider Welten evoziert. Der Blick des Fotografen bestätigt dies: Die Krone eines brasilianischen Melonenbaums und der gotische Pfeiler der Marien­kirche in Zwickau zeigen eine ähnliche stählerne Monumentalität. Eine wahrlich globale Vision der stofflichen und formalen Kontinuität der Welten von Natur und Stadt präsentierte Schwarz dann mit seinem Buch Von der Bebauung der Erde (1949), das er in den Kriegsjahren geschrieben hatte. Der Mensch baue, behauptet der Architekt, »um im unwohnlichen Weltall eine Heimat zu finden«, durch »mauerndes Schichten« analog zur geologischen

3. Stoffe der Natur

3.26 Wallfahrtskirche Arantzazu

bei Oñati. Francisco Sáenz de Oiza mit Luis Laorga, 1950–1954. 3.27 Innenraum der Wallfahrtskirche Arantzazu, Altarwand von Lucio Muñoz, 1962.

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3. Stoffe der Natur

3.28 Erdman Hall des Bryn Mawr

College, Bryn Mawr, Pennsylvania. Louis I. Kahn, 1960–1965.

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Schichtung der Erde.35 Die Gestalt der geschichteten Erde erstrecke sich aufgrund von Bewegungen in zwei Richtungen: »[…] den senkrechten Stieg, in dem sich die Erde der Schwere entgegen erhebt, und die waagrechte Breitung«, was Schwarz auch als »Schieferung und Faserung« bezeichnet.36 Die geologische Tektonik des »Weltstoffs« ist mit der Architektonik verwandt: Je höher der Bau, desto dichter sind die unteren Schichten und desto feiner die oberen. »Von unten nach oben wird der Bau auch edler, die Schwerefäden und Säulen sind gleichsam nach oben verjüngt, sie haben eine heimliche Schwellung wie die dorische Säule.«37 Schwarz hat seinen Text mit einfachen Axonometrien oder Schnittzeichnungen illustriert. Einige, die den Prozess der Schichtung zeigen, wecken Assoziationen an die gestreiften Marmorfassaden italienischer Kirchen des Mittelalters, gefügt aus weißem Carrara-Marmor und grauem Pietra Serena, die den Rhythmus des geschichteten Mauerbaus suggestiv vor Augen führen. (Abb. 3.20, 3.21) Eine andere Zeichnung von Schwarz zeigt einen Schnitt durch ein Steinkonglomerat, das er im Text einerseits mit einem Gewebe, andererseits

3. Stoffe der Natur

3.29 Hellgraue Profile aus Wood-

bury-Granit rahmen die weißen, durchscheinenden Marmorplatten aus Vermont an der Fassade der Beinecke Rare Book Library, Yale Universität, New Haven. Gordon Bunshaft, Skidmore, Owings & Merrill, 1959–1963. 3.30 Innenraum der Beinecke Rare Book Library.

mit Beton (englisch concrete) assoziiert: »Die Tiefe der Erde ist aufgerissen und an den Rändern der Wunde quillt Wasser aus. Aus noch tieferem Riss steigt das glühende Gestein in die Höhe und durchschüttet die Landschaft. Wo […] aus Trümmern, aus Sanden und Kiesen eine Schüttung errichtet ist, da liegen in bunter Vermengung unvereinbare Reste nebeneinander als neues Konkret.

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3. Stoffe der Natur

3.31 Innenraum der Kirche St. Pius

in Meggen bei Luzern. Franz Füeg, 1960–1968.

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Aus Widersprechendem in diese Landschaft gewoben, ein bunter, verwirrender Teppich und hängt doch in sich zusammen.«38 Die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Kirchenbauten von Schwarz lassen erkennen, wie dieses Natur- und Materialverständnis auch seine Architektur beeinflusste. Die Kirche Sankt Anna in Düren wurde zwischen 1951 und 1956 an der Stelle einer im Krieg völlig zerstörten gotischen Kirche erbaut. Als Schwarz die Ruine besuchte, fand er die »Masse des alten Gesteins« und wollte sie »in den neuen Bau wieder vermauern, dass der geheiligte Stein Baustoff eines neuen Werks werden konnte und das Alte im Neuen wieder auferstand«.39 Das Bild, das den ganzen Bau erklärt, »ist durch die große Mantelmauer gegeben, die das Hochschiff auf vier Seiten umhüllt und dann noch zu der Glaswand hinüber als Saum eingeschlagen ist, und durch den Raum, um den sie herumliegt. Diese große, bergende Form ist wie ein offener Mantel […] – ein theologisches Bild«.40 Im Unterschied zu seinen vor dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Kirchenräumen, in denen sich die Wirkung aus dem Zusammenspiel von dynamischer Lichtdramaturgie und homogener, abstrakter, hell verputzter Oberflächen ergibt, bestimmt jetzt die Materialität der Wandflächen die Raumwirkung. Das Thema der Wandstruktur ist zugleich das der Verflechtung der anorganischen Schichtung und des organischen Wachstums. Hinter dem Altar, schreibt Schwarz, »ist aus dem Mauerverband ein Lebensbaum aufgewölbt, Zeichen des heiligen Lebens, das dort aufwächst und im Altar wurzelt, und die Gemeinde steht im Anblick dieses grossen Zeichens. Es ist gemauert, die lichten Früchte darin sind aus Alabaster, oder es könnte ebensogut gemalt sein […]«.41 Das Bild des Lebensbaums ist in das Bild der Sedimentierung als zwei Dimensionen des Zeitraums eingeflochten im Sinne seiner zitierten Inter­pretation der Bebauung der Erde. (Abb. 3.22, 3.23) Für die Pfarrkirche Sankt Florian in Wien (1957–1963) verwendete Schwarz Formen, die sowohl mit der pflanzlichen Natur als mit der Welt der Technik assoziiert werden können, und deren Verwandtschaft er bereits im Buch Wegweisung der Technik demonstrierte. (Abb. 3.24, 3.25)

3. Stoffe der Natur

3.32 Marmorsteinbrüche bei

­Carrara.

3.33 a Abbildung aus dem Buch

Von der Bebauung der Erde von Rudolf Schwarz, Heidelberg 1949. 3.33 b Unterbau des Altars der Kirche St. Andreas in Essen-­ Rüttenscheid, Rudolf Schwarz 1954–1957.

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3. Stoffe der Natur

3.34 Die 1968 von einem Erdbeben

zerstörte Stadt Gibellina in Sizilien wude nach dem Vorschlag des Künstlers Alberto Burri zwischen 1984 und 1989 mit einer dicken Betonmasse bedeckt. 3.35 Die Casa Malaparte in Capri, Curzio Malaparte mit Adalberto Libera, 1938–1942.

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Verwandt mit Schwarz’ Kirche Sankt Anna in Düren ist die große Wallfahrtskirche Aránzazu (spanisch; baskisch Arantzazu) bei Oñati, in einem Tal des Baskenlands, entworfen von Francisco Javier Sáenz de Oiza zusammen mit Luis Laorga Gutiérrez (1950–1954). Sáenz de Oiza war wie Schwarz von dem Kirchenbaumeister Dominikus Böhm (1880–1955) beeinflusst. Der Name der Kirche geht auf arantza (Dornen) zurück und die wunderbare Erscheinung der Jungfrau in einem Dornenbusch im 16. Jahrhundert – was die Form der Steinverkleidung der Türme aus Kalksteinquadern erklärt, die auf der Stirnseite pyramidenförmig sind. Den großen Kirchenraum dominiert die riesige Altarwand, in deren Zentrum die winzige gotische Figur der virgen de Aránzazu steht, gerahmt von der dramatischen Geologie der baskischen Gebirgslandschaft, einem Werk des Künstlers Lucio Muñoz (1962). (Abb. 3.26, 3.27) Das unter dem Druck der Erde entstandene Steingefüge des Schiefers und sein seidig-matter Glanz haben viele Künstler und Architekten inspiriert. Das  Studentinnenheim Erdman Hall des Bryn Mawr College in Pennsylvania (1960–1965) lässt  Louis I. Kahns Faszination erkennen, die die auf Fels gebauten schottischen Burgen auf ihn ausübten. Die clusterartige Verkettung von drei im Grundriss quadratischen Baukörpern erlaubt eine klare Akzentuierung der Tragstruktur: durch Stahlbetonpilaster, die dem Volumen einen kristallhaft-fazettierten Charakter verleihen. Die Fassade besteht aus dunklen ­Schieferplatten, die zwischen die hellen Streifen des Betons gelegt sind. In den Innenräumen sollten farbige Teppiche diese raue, von den Bewohnerinnen heute als abweisend und unfreundlich empfundene Materialität mildern. (Abb. 3.28) Eine nicht weniger poetische Interpretation der Geologie ist die Beinecke Rare Book Library der Yale Universität in New Haven von Gordon Bunshaft (Architekturbüro Skidmore, Owings & Merrill, 1959−1963). Die Vierendeel-­ Stahlkonstruktion der Bibliothek schwebt über dem von Isamu Noguchi gestalteten Innenhof, gestützt von pyramidenförmigen Blöcken an den vier Ecken. Das Raster der Fassade wurde mit hellem Woodbury-Granit verkleidet und mit 32 mm dicken, 2,44 × 2,44 m großen weißen Marmorscheiben aus Vermont ausgefacht. Durch den geaderten Stein kann goldenes Licht in den Innenraum fallen, in dessen Kern die Regale für die kostbaren Bücher stehen. (Abb. 3.29, 3.30) Licht transformiert auch das Interieur der Sankt Pius Kirche in Meggen von Franz Füeg (1960−1968), das durch die 28 mm dicken Scheiben aus pentelischem Marmor (aus dem auch der Parthenon erbaut wurde) in den Raum eindringt. (Abb. 3.31)

Landform building Auf den Bildern der österreichischen Fotografin Margherita Spiluttini erscheint die alpine Landschaft heute als technisches Produkt, für das Fels und Pflanzen eine dünne Schicht über einer Tunnelröhre und massive Betonkonstruktionen bilden. Aber die stoffliche Wechselbeziehung zwischen Landschaft und Stadt existiert seit den Anfängen der Architektur. Die Marmorlandschaft von Carrara wirkt wie eine invertierte Stadt, deren extrahierten Höhlen und Kluften als Baumassen in reale Städte eingebaut wurde. (Abb.  3.32) Als subtrahierte

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3. Stoffe der Natur

Stadt hingegen kann Matera in der süditalienischen Region von Basilikata gelten, ausgehöhlt aus den Felsen des Gravina-Tals. Die trichterförmig in die Tiefe steigenden Sassi (Höhlenwohnungen) verglich der Schriftsteller Carlo Levi mit Dante Alighieris Vision von der Hölle.42 Eine strenge Friedhofslandschaft hat der italienische Künstler Alberto Burri geschaffen, als er das 1968 von einem Erdbeben zerstörte Dorf Gibellina auf ­Sizi­lien zwischen 1984 und 1989 mit einer weißen Zementkruste überziehen ließ. Sie birgt die Ruinen der Häuser und ist durchzogen von engen Gassen, deren Monumentalität in der unbeweglichen Schwere und Stille besteht. (Abb. 3.34) Zum Thema der Wechselbeziehung zwischen Bauwerk und Landschaft hat der italienische Schriftsteller Curzio Malaparte eine Anekdote beigetragen. Er berichtet in seinem autobiografischen Roman Die Haut (1949) über den Besuch Erwin Rommels in seiner von ihm und Adalberto Libera 1938 entworfenen Villa auf Capri im Jahre 1942. Der Feldmarschall fragte ihn, ob er sein Haus gekauft oder selbst erbaut habe. »Ich erwiderte«, erzählt Malaparte, »dass ich es schon so, wie es sei, gekauft hätte. Und mit einer weiten Armbewegung zeigte ich auf die Steilwand der Matromania, auf die drei Riesenklippen der Fara­ glioni, auf die Sorrentiner Halbinsel, auf die Inseln der Sirenen, auf das verschwommene Blau der Küste von Amalfi, auf den fernen goldenen Schimmer des Gestades von Paestum, und sagte ihm: ›Ich habe die Landschaft entworfen.‹ ›Ach so!‹ sagte General Rommel, und nachdem er mir die Hand gereicht hatte, ging er.«43 (Abb. 3.35) Diese Geschichte wurde von dem amerikanischen Architekturtheoretiker Stan Allen als Einführung zum Programm für eine neue Betrachtung von Stadt, Landschaft und Ökologie verwendet, die er als landform building bezeichnet. Es geht darum, den Gegensatz von object buildings und landscape fields aufzulösen und beide als Teile eines dynamischen ökologischen Systems als Ganzes zu verstehen.44

Globalisierung und Ortsbindung

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Das Beispiel der Villa Malaparte führt uns zum Thema des ortsspezifischen Objekts, das jedoch ein abstraktes, kein mimetisches Verhältnis zu seiner Umgebung hat. Site-specificity als Programm attestiert den Orten ihre singuläre Identität, die dazu geeignet ist, der globalen Homogenisierung und Kommerzialisierung des Raums, der Reproduktion von sinnentleerten Nicht-Orten wie Einkaufszentren oder Hotelketten Widerstand zu leisten.45 In der Architekturtheorie wurde die Ortsbindung vor allem als Möglichkeit eines städtebaulichen und formalen Bezugs zur Topografie und zur natürlichen und gebauten Umgebung untersucht,46 in der bildenden Kunst spielte bei Land Art und Minimalismus dagegen die Stofflichkeit der Umwelt eine bestimmende Rolle. Künstler sichten und präsentieren diese Stoffe, aus dem der Ort konkret besteht – Erde, Abfall, Bauschutt –, ohne jede Idealisierung. Im Bereich der Architektur gehört das Basler Architekturbüro von Herzog & de Meuron zu den Ersten, die das Ortsspezifische in diesem Sinne verstanden haben. Ihr Steinhaus im Örtchen Tavole in Ligurien (1985–1988) liegt inmitten von aufgelassenen Olivenhainen und besteht aus einer dünnen Betonrah-

3. Stoffe der Natur

3.36 Schaulager der Laurenz

Stiftung in Basel. Herzog & de Meuron, 1998–2003. 3.37 Das Haus Il Girasole in Rom von Luigi Moretti, 1947–1950.

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menkonstruktion, die mit Trockenmauern ausgefacht ist. Das Kreuz des Betonrahmens entspricht dem Raster des Archäologen, der die Funde aus der Vergangenheit zuerst räumlich fixiert: Der Ort ist ein Agglomerat aus Stoffen, die geordnet werden müssen (ordo und ornare, »Ordnung« und »Ornament« sind verwandte Begriffe). Dieses Werk von Herzog & de Meuron wurde von Philip Ursprung in einer Ausstellung des Canadian Centre for Architecture in Montreal im Jahr 2004 unter dem Titel Archaeology of the Mind präsentiert, zu dem der Textband Naturgeschichte erschien.47 Diese Titelwahl war keine unerwartete Entscheidung, haben die Architekten doch seit den 1980er-­Jahren mit Texten wie »Die verborgene Geometrie der Natur« ihr Interesse für »die Komplexität eines Beziehungssystems« bestätigt, welches »in der Natur in letztlich unerforschbarer Vollkommenheit existiert und dessen Analogie uns im Bereich der Kunst und der Gesellschaft interessiert. Unser Interesse ist also die verborgene Geometrie der Natur, ein geistiges Prinzip und nicht primär eine äussere Erscheinungsform der Natur«.48 Ursprung vergleicht dieses Zusammentragen von geologischen Ablagerungen eines Standorts mit dem Verfahren des amerikanischen Künstlers R ­ obert Smithson, in dessen non-sites die Entfernung des Materials von seinem ursprünglichen Ort eine wesentliche Rolle spielt. Smithson und die Land Art der 1960er-Jahre haben sich früh mit ökologischen Fragen der Zerstörung und dem Verlust der Umwelt auseinandergesetzt.49 Freilich wollen auch Herzog & de Meuron die Brücken zu Heimatstilen und Regionalismen niederbrennen: »Der Baukörper soll die Natur nicht nachäffen, sondern soll als eine Art Instrument der Wahrnehmung des Ortes dienen, des naturgegebenen und des durch die bestehende Bebauung geprägten Ortes.«50 Das Schaulager der Laurenz-Stiftung in Basel (1998–2003) von Herzog & de Meuron ist ein Ort, wo Kunst vor allem Kapital ist, das auch ohne Publikum auskommt, selbst wenn im Gebäude Ausstellungen möglich sind. Die Kunstwerke müssen wie Goldbarren in einem Tresorraum unter optimalen Bedingungen lagern. Wie viele der auf ihre Wertvermehrung wartenden Kunstwerke assimiliert auch die Architektur Strategien der Fetischisierung des Faktischen, das hier zur Schau aufgeschichtet wird. Natur ist eben nicht das schöpferische Prinzip − das Erhabene ebenfalls nicht −, sondern einfach der Kies aus der Baugrube, der Grund, aber nicht jener Grund, in dem Martin Heideggers Meta­physik wurzelt. Die porös erscheinenden lehmfarbigen Fassaden mit Jurakalk aus einer Baugrube wirken mit den ausgefrästen Fensterstreifen wie eine geologische Landschaft. (Abb. 3.36) Die Stoffe der Natur als Elemente einer kunstvollen Assemblage haben ihre Vorbilder in der Architekturgeschichte. Luigi Morettis Haus Il Girasole in Rom (1947–1950) betont seine Ortsbindung an die alte Stadtmauer mit roh belassenen Kalksteinblöcken. Das Aufeinanderprallen von »naturbelassenen« Steinstücken und der fein detaillierten dünnen Fassadenschicht war ein barocker Kraftakt, der Stadt Borrominis und Berninis würdig. In seinem Essay »Trasfigurazioni di strutture murarie« (»Transfigurationen von Wandstrukturen«, 1951) geht Moretti auf die historische Entwicklung ein, die zur »Überwindung« der Wand und ihrer Umwandlung in eine stark bildhafte Präsenz geführt habe. Dieses Ergebnis sei durch die entsprechende Verwendung von Materialien erreichbar, die eine expressive Flächenwirkung ergeben und die Tektonik der Wand betonen, schreibt der Architekt.51 (Abb. 3.37)

3. Stoffe der Natur

Il Girasole – wie Fallingwater, Baker House oder die Kirche St. Anna in Düren – zeigen uns Bilder, welche sich die Architekten von der Natur machen. Es handelt sich nicht um reine Repräsentationen: Die Natur ist in diesen Bauwerken durch die Wahl der Stoffe real präsent. Anders als in Literatur oder Landschaftsmalerei soll die Verwendung von Stein, Backstein, Holz, Metall oder Keramik die architektonische Bildherstellung und Bildwahrnehmung mit der sinnlichen taktilen Präsenz des Stoffs kontaminieren. Ob die Stoffe der Natur zur Thematisierung des transfigurativen Potenzials der Architektur verwendet oder gerade als ­Kritik solcher Ambitionen verstanden werden, soll uns in den folgenden Kapiteln noch weiter beschäftigen.

Anmerkungen 1 2 3 4

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Marc-Antoine Laugier, Das Manifest des Klassizismus. Zürich und München: Verlag für Archi­tektur, 1989, S. 34. William Chambers, A Treatise on the Decorative Part of Civil Architecture. 2. Aufl. London: J. Smeeton, 1791, Nachdruck Mineola: Dover Publications Inc., 2003, S. 26f. Ebd. S. 24. Giovan Battista Piranesi, »Parere sull’architettura«, in: Osservazioni sopra la lettre de Monsieur Mariette aux auteurs de la Gazette Littéraire de l’Europe (1765). Neu abgedruckt Neapel: CLEAN, 1993; vgl. Giovan Battista Piranesi, Observations on the Letter of Monsieur Mariette with Opinions on Architecture, and a Preface to a New Treatise on the Introduction and Progress of the Fine Arts in Europe in Ancient Times. Los Angeles: Getty Research Institute, 2002. Claude Nicolas Ledoux, L’architecture considérée sous le rapport de l’art, des mœurs et de la légslation. Paris: Hermann, 1997, S. 48. Mariana Griswold Van Rennselaer, Henry Hobson Richardson and His Works. New York, Boston: Houghton, Mifflin & Co. Nachdruck New York: Dover Publications, 1969, S. 72. E[ugène Emmanuel] Viollet-le-Duc, Dictionnaire raisonné de l’architecture française du XIe au XVIe siècle. 10 Bände. Paris: B. Bance, 1854−1868. Eugène [Emmanuel] Viollet-le-Duc, »Einheit«, in: ders., Definitionen. Sieben Stichworte aus dem ›Dictionnaire raisonné de l’architecture française du XIe au XVIe siècle‹, übers. von ­Marianne Uhl. Basel, Berlin, Boston: Birkhäuser, 1993, S. 8–16, hier S. 10. Viollet-le-Duc, »Stil«, in: Definitionen (wie Anm. 8), S. 17–45, hier S. 42. [Eugéne Emmanuel] Viollet-le-Duc, Entretiens sur l’architecture. Paris: A. Morel et Cie, Band 1: 1863, Band 2: 1872. Diesen Vorwurf hat bereits John Summerson formuliert in seinem Essay »Viollet-le-Duc and the Rational Point of View«, in: ders., Heavenly Mansions and Other Essays on Architecture. New York, London: W. W: Norton, 1963, S. 135−158, hier S. 156. Michael Gnehm, Stumme Poesie. Architektur und Sprache bei Gottfried Semper. Zürich: gta, 2004. Gottfried Semper, Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhe­tik. Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde. Band 1: Textile Kunst. Frankfurt am Main: Verlag für Kunst und Wissenschaft, 1860. Nachdruck Mittenwald: Mäander Kunstverlag, 1977, S. 180. Gottfried Semper, Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik. Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde. Band 2: Keramik, Tektonik, Stereotomie, Metallotechnik für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst. München: Friedrich Bruckmann’s Verlag, 1863. Nachdruck Mittenwald: Mäander Kunstverlag, 1977, S. 327. Isidre Puig-Boada, El pensament de Gaudí. Compilació de textos i comentaris. Barcelona: Editorial La Gaya Ciència, 1981; Antoni Gaudí, Manuscritos, artículos, conversaciones y dibu­jos, hg. von Marcià Codinachs. Murcia: Colegio Oficial de Aparejadores y Arquitectos Técnicos de la Región de Murcia, 2002. Juan José Lahuerta (Hg.), GaudíUniverse. Barcelona: CCCB, 2002. Ebd., S. 125.

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18 Ebd., S. 126. 19 Puig-Boada, El pensament de Gaudí (wie Anm. 15), S. 226. 20 Semper, Der Stil, Band 2 (wie Anm. 14), S. 327. 21 Vgl. Toni Kotnik, »Das Experiment als Entwurfsmethode. Zur Möglichkeit der Integration naturwissenschaftlichen Arbeitens in die Architektur«, in: Ákos Moravánszky, Albert Kirchengast (Hg.), Experiments. Architektur zwischen Wissenschaft und Kunst/Architecture ­Between Sciences and the Arts. Berlin: Jovis Verlag, 2011, S. 24−53. 22 Donald Hoffmann, Frank Lloyd Wright’s Fallingwater. The House and Its History. New York: Dover Publications, 1978, S. 52f. 23 László Moholy-Nagy, Von material zu architektur. München: Albert Langen, 1929. Nachdruck Mainz, Berlin: Florian Kupferberg, 1968, S. 31. 24 Ebd., S. 222. 25 Alvar Aalto, »Die Einwirkung von Konstruktion und Material auf die moderne Architektur«, in: ders., Synopsis. Malerei Architektur Skulptur. 2. Aufl. Basel, Boston, Stuttgart: Birkhäuser Verlag, 1980, S. 29f. 26 Ebd., S. 29. 27 Alvar Aalto, »Der Wiederaufbau Europas stellt die zentralen Probleme der Baukunst unserer Zeit zur Diskussion« [Vortrag, gehalten an Schweizer Universitäten 1941, Erstabdruck in: Arkkitehti 5, 1941], in: Teppo Jokinen, Bruno Maurer, »Der Magus des Nordens«, Alvar Aalto und die Schweiz. Zürich: gta, 1998, S. 185. 28 Ebd. 29 Ákos Moravánszky, »Im Labor des Alchemisten. Aalto und die Werkstoffe der Architektur«, in: Mateo Kries, Jochen Eisenbrand (Hg.), Alvar Aalto. Second Nature. Ausst.-Kat. Vitra ­Design Museum. Weil am Rhein: Vitra Design Museum, 2014, S. 208–239. 30 Karl Fleig (Hg.), Alvar Aalto. Band 1: 1922−1962, Zürich: Girsberger, 1963, S. 200. 31 Moravánszky, »Im Labor des Alchemisten« (wie Anm. 29), S. 237f. 32 Eugéne Emmanuel Viollet-le-Duc, Le massif du Mont Blanc. Étude sur sa constitution géodésique et géologique sur les transformations et sur l’état ancien et moderne de ses glaciers. Paris: Librairie polytechnique J. Baudry, 1876. 33 Karl Blossfeldt, Urformen der Kunst. Berlin: Ernst Wasmuth Verlag, 1928. 34 Rudolf Schwarz, Wegweisung der Technik. Erster Teil (1928). Neuausgabe hg. von Maria Schwarz, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König, 2008. 35 Rudolf Schwarz, Von der Bebauung der Erde. Heidelberg: Lambert Schneider, 1949, S. 22f. 36 Ebd., S. 23f. 37 Ebd., S. 25. 38 Ebd., S. 38f. 39 Rudolf Schwarz, Kirchenbau. Welt vor der Schwelle. Heidelberg: Kerle, 1960, S. 223. 40 Ebd., S, 233. 41 Ebd., S. 232–233. 42 Carlo Levi, Christus kam nur bis Eboli, übers. von Helly Hohenemser-Steglich. Zürich: ­Europa Verlag, 1947. 43 Curzio Malaparte, Die Haut, übers. von Hellmut Ludwig. Frankfurt am Main: Fischer ­Taschenbuch Verlag, 1988, S. 213f. Stan Allen, Marc McQuade (Hg.), Landform Building: Architecture’s New Terrain. Baden: 44 Lars Müller Publishers, 2011, S. 33–37. Marc Augé, Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, 45 übers. von Michael Bischoff. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 1994. Tomáš Valena, Beziehungen. Über den Ortsbezug in der Architektur. Berlin: Ernst & Sohn 46 Verlag, 1994. 47 Philip Ursprung (Hg.), Herzog & de Meuron, Naturgeschichte. Ausst.-Kat. Montreal, Canadian Centre for Architecture, Baden: Lars Müller Publishers, 2002. 48 Jacques Herzog, »Die verborgene Geometrie der Natur« (Vortrag 1988), in: Gerhard Mack, Herzog & de Meuron 1978–1988. Das Gesamtwerk. Band 1. Basel, Boston, Berlin: Birkhäuser Verlag, 1997, S. 207–211, hier S. 210. 49 Ann Reynolds, Robert Smithson. Learning from New Jersey and Elsewhere. Cambridge, Mass.: The MIT Press, 2003. 50 Herzog, »Die verborgene Geometrie der Natur« (wie Anm. 48), S. 211. 51 Luigi Moretti, »Trasfigurazioni di strutture murarie«, in: Spazio 4 (Januar–Februar 1951), engl. »Transfiguration of Wall Structures«, in: Federico Bucci, Marco Mulazzani (Hg.), Luigi Moretti. Works and Writings, übers. von Marina de Conciliis. New York: Princeton Architectural Press, 2002, S. 167–172, hier S. 168.

4. DIE VIER ELEMENTE DER ARCHITEKTUR Semper im Kristallpalast Die Exhibition of the Works of Industry of All Nations – oder einfach die Great Exhibition – öffnete ihre Tore am 1. Mai 1851 im Hyde Park Londons. Die gigan­ tische Wunderkammer mit technischen Geräten, Naturgegenständen und Kunstwerken, untergebracht in den Hallen des von Joseph Paxton entworfenen Crystal Palace war in den Worten von Henry Cole, der unter der Schirmherrschaft von Prinz Albert die Ausstellung organisiert hatte, »ein riesiges, nie da gewesenes Warenhaus für die nützlichen Erzeugnisse jeglicher menschlicher Gewerbetätigkeit«.1 Im Innenraum des Kristallpalasts war die Welt in ihren systematisch geordneten Natur-, Industrie- und Handwerksprodukten aller Art präsent, als Objekte des Studiums und der Unterhaltung. Die Exponate waren in Höfen, courts, organisiert – die meisten nach Stilperioden (Romanik, Renaissance) oder Orten (Alhambra, Pompei, Ninive) benannt, ferner gab es Abteilungen wie Naturgeschichte, Ethnologie, Geologie oder Zoologie. Zu den insgesamt sechs Millionen Besuchern gehörte neben Charles Darwin, Lewis Carroll, Charlotte Brontë oder Charles Dickens auch Gottfried Semper, der die Ausstellung fast täglich besuchte.2 (Abb. 4.1) Zur Zeit der Eröffnung waren genau zwei Jahre seit dem Ausbruch des Maiaufstands in Dresden vergangen, wo Semper am Bau von Barrikaden beteiligt gewesen war und nach der Niederschlagung der Revolution des Hochverrats angeklagt und steckbrieflich gesucht wurde. Er flüchtete zuerst nach Paris und wollte über Großbritannien nach New York weiterreisen, blieb aber in der Hoffnung auf Aufträge in London, wo er von Cole in die Gestaltung und Koordinierung einiger Präsentationen der Great Exhibition einbezogen wurde. Semper arbeitete zu dieser Zeit an seinem Text über die vier Elemente der Architektur und traf Cole zuerst im Dezember 1850, um ihn um seine Unterstützung für die Veröffentlichung seiner Studie über Polychromie zu bitten.3 Die ethnografischen Exponate, vor allem Textilien und Gebrauchsgegenstände aus Afrika und Asien, aber auch die neuen Maschinen der Industrie, die Semper noch vor der Eröffnung der Ausstellung studieren konnte, gaben ihm entscheidende ­Impulse für seine theoretische Arbeit. Am wichtigsten war aber für ihn die »karai­bische Hütte«, die Rekonstruktion einer Fischerhütte von der Insel Trinidad. Die Betrachtung dieser Bambushütte muss für Semper eine Bestätigung für sein System der vier Elemente der Architektur gewesen sein, so als hätte Johann Wolfgang von Goethe seine theoretische Rekonstruktion der »Urpflanze«, die alle möglichen pflanzlichen Organe in embryonaler Form enthält, auf einem Waldspaziergang tatsächlich entdeckt. Wie die Urpflanze »den Typus einer Blütenpflanze schlechthin verkörpert, aus der man sich alle

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Pflanzengestalten hervorgegangen denken kann«,4 konnte Semper am Beispiel der karibischen Hütte sein System der vier Elemente der Baukunst mithilfe der entsprechenden Architechnologien und Stoffen beschreiben.5 Trinidad war zur Zeit der Ausstellung eine britische Kolonie. Die Sklaverei war dort erst 17 Jahre zuvor abgeschafft worden, aber die Lebensbedingungen der Plantagenarbeiter unterschieden sich kaum von jenen der früheren Sklaven. Die Gebrauchsgegenstände der »primitiven« Völker und die modernen Produkte der Kolonialmächte sollten den Besuchern die Überlegenheit der westlichen Kultur spektakulär vor Augen führen. Für Semper war jedoch gerade die ästhetische Überlegenheit der Objekte der »halbbarbarischen Völker« ein Beweis dafür, dass »wir mit unserer Wissenschaft […] noch nicht viel ausgerichtet haben«.6 »Wir sind des Stoffes noch nicht geistig Herr geworden und müssen uns in dieser Beziehung von Hindu und Irokesen beschämen lassen«, bemerkt er dazu später.7 Das Scheitern der Französischen Revolution von 1789 hatte für viele Denker die Ohnmacht der aufgeklärten Vernunft offenbart, die zwar technischen Fortschritt bringt, aber die Menschen für neue Ideen nicht vorbereiten kann. Deshalb forderte Friedrich von Schiller in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen gegenüber der »theoretischen Kultur« eine »praktische Kultur« als Ergebnis der ästhetischen Erziehung, der »Ausbildung des Empfindungsvermögens«.8 Das Werkzeug, das auch »unter den Einflüssen einer barbarischen Staatsverfassung« zur Freiheit erziehen könne, sei die »praktische Kultur«.9 Semper verweist bereits mit dem Titel seines Hauptwerks Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik auf dieses Programm. Sein Freund Richard Wagner, der wegen seiner Beteiligung am Dresdener Maiaufstand ebenfalls flüchten musste und der Semper dann 1854 zu einer Übersiedlung nach Zürich bewegte, entwickelte auf dieser Grundlage sein Konzept des Gesamtkunstwerks, das auch Semper beschäftigen sollte.10 Die Maschinen in den Hallen der Great Exhibition führten Semper einerseits den Erfolg des zur Globalisierung strebenden Kapitalismus und damit den Erfolg des Materialismus und der »theoretischen Kultur« vor Augen. Andererseits verstand er die Gerätschaften, Textilien und Handwerksprodukte ferner Völker als Beweise für die Kontinuität und grundsätzliche Ordnung hinter der »babylonischen Sprachverwirrung«, welche die Ausstellung vermittelte.11 In seinem Bericht zur Great Exhibition schlägt er vor, ein Lehrsystem zu entwickeln, wonach »die Künste in ihrer Anwendung auf das praktische Wissen gelehrt werden«.12 Die Grundlage dieses Unterrichtskonzepts ist Sempers System der vier Elemente der Baukunst.

Die Elementenlehre

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Es war der griechische Philosoph Empedokles (492–432), welcher die vier Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft zuerst in einer Tetrade ordnete. Damit wollte er den Widerspruch zwischen der dynamischen, den Fluss der Dinge postulierenden Lehre von Heraklit und der statischen, von der Festigkeit der Grundlagen der Wirklichkeit überzeugten eleatischen Schule überbrücken. Empedokles bezeichnete die vier Elemente nämlich als die Wurzel der Dinge,

4. Die vier Elemente der Architektur

4.1 Ansicht des Crystal Palace im Hyde Park, London 1851. Aquarell von Edmund Walker, Victoria & Albert Museum, London.

deren Eigenschaften von dem genauen Verhältnis der nach Gleichgewicht strebenden Elemente bestimmt sind. Ihm zufolge können wir die Außenwelt nur deshalb wahrnehmen, weil das menschliche Auge ein Analogon der Erde mit Feuer im Mittelpunkt ist, dessen Sehstrahlen die Außenwelt abtasten, umgeben von Erde, Luft und Wasser. Zwischen Wahrnehmenden und Wahrgenommenen enstehe so ein ständiger Austausch, eine stoffliche Verbindung – eine These, die in der Einfühlungstheorie des 19. Jahrhunderts in einem neuen wissenschaftlichen, psycho-physiologischen Gewand erscheinen sollte. Die Welt entäußert sich in Bildern, die durch die Räsonanz der Elemente in uns und in den Dingen erzeugt werden. Aristoteles erklärt die vier Elemente als eine Kombination der vier Grundeigenschaften warm, kalt, trocken und feucht: Das Wasser ist kalt und feucht, das Feuer ist trocken und warm, die Luft warm und feucht, die Erde kalt und trocken. Empedokles’ Tetrade und die Lehre von den vier Elementen ist nicht das einzige kosmologische Diagramm, das die Materialität der Welt ordnet. In der fernöstlichen Philosophie spricht man von fünf Elementen: Im Taoismus besteht die Natur aus der Kombination von Holz, Feuer, Metall, Wasser und Erde, im Buddhismus aus Erde, Wasser, Feuer, Luft und Leere. In der westlichen Philosophie dominiert aber die Lehre von den vier Elementen und beeinflusst das Denken auf vielen Gebieten des Wissens, so auch in der Anthropologie, Medizin, Kunst oder Architektur. Die Elementenlehre betrachtet den Menschen

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4. Die vier Elemente der Architektur

als im Kosmos eingebettet. Die Temperamentenlehre erklärt seinen sanguinischen, melancholischen, cholerischen oder phlegmatischen Charakter aus diesem Zusammenhang und verbindet diese vier Charaktere mit der Materialität der Körpersäfte als Ursache: dem Blut, der schwarzen Galle, der gelben Galle und dem Schleim. Die Jahreszeiten, die Himmelsrichtungen und die Winde ordnen sich in diese Matrix ein und bilden den größeren kosmischen Rahmen für das Haus. Die scholastische Naturwissenschaft des Mittelalters behielt die Lehre von den vier Elementen bei, obwohl die Metaphysik hinter dieser Ordnung der Stoffe eine noch tiefere Schicht der ungeformten materia prima vermutete. Dieses System lehnten Gelehrte wie der in Einsiedeln geborenen Arzt, Astrologe und Alchemist Theophrastus von Hohenheim, genannt Paracelsus, ab. Er schlug einen Anatomiebegriff vor, der nicht auf Isolierung und Zergliederung der Teile, sondern auf der inneren Einheit des Mikrokosmos des Menschen beruht.13 Er sprach von oberen – feineren – Elementen wie Luft und Feuer im Gegensatz zu den gröberen wie Erde und Wasser. Das Feuer trennte er von den stofflichen Elementen und setzte es mit dem Himmel oder dem Firmament gleich.14

Von der Fischerhütte lernen

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Die »Urhütten« der Architekturgeschichte sind Bildmanifeste ihrer Erfinder. Im Denken der Aufklärung spielte die Frage nach der ersten Erscheinung einer gesellschaftlichen Form – der Sprache, der Kleidung oder des Hauses – eine wichtige Rolle. Wenn man sich an die Anfänge erinnern könne, wenn man diese erste Erscheinung des Hauses vor Augen habe, so dachte man, könne das Wesen die Architektur begreifen – und zugleich die Irrwege erkennen, die späteren überflüssigen Veränderungen und Additionen, welche die ursprünglich klare Struktur verunstalten. Diese Suche richtete sich auch gegen die Überschwenglichkeiten des damals verbreiteten Rokoko, und sie erklärt die Anstrengungen Marc-Antoine Laugiers und anderen Denkern des 18. Jahrhunderts, sich an das erste Haus zu erinnern (s. S. 61). Es war weniger eine Herausforderung für das Gedächtnis als für die Fantasie. Joseph Rykwert erzählt in seinem Buch On Adam’s House in Paradise (1971) die lange Geschichte imaginärer Rekonstruktionen der primitiven Hütte.15 Semper betont in seiner Bemerkung zu seiner »Entdeckung« jedoch, dass für ihn die karibische Hütte eben »kein Phantasiebild« sei, sondern »ein höchst realistisches Exemplar einer Holzkonstruktion aus der Ethnologie entlehnt«, und dass er dieses Beispiel »dem Leser als der vitruvianischen Urhütte in allen ihren Elementen entsprechend« vorstellen werde.16 An der Fischerhütte treten nämlich »alle Elemente der antiken Baukunst in höchst ursprünglicher Weise und unvermischt hervor: der Heerd als Mittelpunkt, die durch Pfahlwerk umschränkte Erderhöhung als Terrasse, das säulengetragene Dach und die Mattenumhegung als Raumabschluss oder Wand«.17 (Abb. 4.2) Die von Semper genannten vier Elemente haben allerdings nicht denselben Status, ein »Mittelpunkt« etwa ist, anders als eine Wand oder ein Dach, nicht unbedingt mit Stofflichkeit verbunden. Als Semper von diesen Elementen ausgehend ein System der Herstellungstechniken und Stoffe ent-

4. Die vier Elemente der Architektur

4.2 Die karibische Hütte an der Weltausstellung 1851 in London, aus Gottfried Semper, Der Stil, Bd. 2.

wickelte und auf dieser Basis einen Lehrplan und das Konzept eines »idealen Museums« vorschlug, sollte er deren Reihenfolge und damit auch die Wertung der einzelnen Glieder ändern. Bereits seine Entdeckung, die Hütte, war durch ihre Entfernung aus dem sinngebenden Kontext eher Diagramm als Haus. Ob sie tatsächlich eine Fischerhütte war, spielte aus der Sicht der mit ihr verknüpften Betrachtungen keine Rolle.18

Sempers System Die umfassendste Erklärung seines Systems liefert Semper im zweiten »Hauptstück« seiner Einleitung zum Stil »Klassification der technischen Künste«. Zuerst beschreibt er die vier Hauptkategorien der Rohstoffe, nach welchen sie »in Bezug auf die Weise ihrer Benutzung für technische Zwecke zu klassificiren sind«.19 Diese werden zuerst durch ihre Eigenschaften definiert: 1) biegsam, zäh, dem Zerreissen in hohem Grade widerstehend, von grosser absoluter Festigkeit; 2) weich, bildsam (plastisch), erhärtungsfähig, mannichfaltiger Formirung und Gestaltung sich leicht fügend und die gegebene Form in erhärtetem Zustande unveränderlich behaltend; 3) stabförmig, elastisch, von vornehmlich relativer, d. h. der senkrecht auf die Länge wirkenden Kraft widerstehender Festigkeit; 4) fest, von dichtem Aggregatzustande, dem Zerdrücken und Zerknicken widerstehend, also von bedeutender rückwirkender Festigkeit, dabei geeignet, sich durch Abnehmen von Theilen der Masse zu beliebiger Form bearbeiten und in regelmässigen Stücken zu festen Systemen zusammenfügen zu lassen, bei welchen die rückwirkende Festigkeit das Princip der Konstruction ist.20

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4. Die vier Elemente der Architektur

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Nach der Beschreibung der Eigenschaften der vier Stoff kategorien, die noch nicht mit konkreten Materialien verbunden sind, ordnet Semper diesen Kategorien die vier Urtechniken als »Hauptbethätigungen des Kunstfleisses« zu.21 Diese sind: 1) textile Kunst, 2) keramische Kunst, 3) Tektonik (Zimmerei), 4) Stereotomie (Maurerei etc.).22 Jeder dieser Urtechnologien gehört laut Semper »ein gewisses Gebiet im Reiche der Formen an, deren Hervorbringung gleichsam die natürlichste und ursprünglichste Aufgabe dieser Technik ist«.23 Er verweist darauf, dass diese Technologien mit jeweils einem konkreten Material »gleichsam als Urstoff« verbunden sind, »der zu der Hervorbringung der zu seinem ursprünglichen Bereiche gehörigen Formen die bequemsten Mittel bietet«.24 Als Beispiel nennt er die Keramik, aus welcher nicht nur Tongefäße bestehen, sondern auch die formverwandten »Glas-, Stein- und Metallwaaren«. Selbst aus Holz hergestellte Tonnen und Holzeimer oder geflochtene Körbe »stehen in dieser Beziehung mit der Keramik in stilverwandtschaftlichem Rapporte«.25 Gegenstände wiederum, die zwar aus Ton hergestellt seien und deshalb rein stofflich den keramischen Künsten angehören, müssen »in formeller Beziehung einem anderen Gebiete« zugerechnet werden.26 Diese seien zum Beispiel »die Ziegelsteine, die Dachziegel, die Terrakotten und die glasirten Fliesen, die zu der Bekleidung der Wände und zu der Täfelung der Fussböden bestimmt sind«.27 Solche Keramikprodukte gehören stilistisch entweder zur Stereotomie (Backstein, Dachziegel) oder zur textilen Kunst (Wand- und Bodenfliesen). Diese flexible, nicht auf fixe Stoff kategorien basierende Ordnung hat Semper bereits in seinem in London abgeschlossenen und im Jahr der Great Exhibition veröffentlichten Werk Die vier Elemente der Baukunst vorgeschlagen.28 Sie stellt eine Weiterentwicklung seiner Thesen zur Polychromiediskussion und des Studiums der biologischen Typenlehre dar. Noch wichtiger ist allerdings sein politisch motiviertes Interesse an dem Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Entwicklung und Formtransformation. Semper geht in seinem Text wie Vitruv von der »Einrichtung der Feuerstätte und die Erweckung der belebenden und erwärmenden speisebereitenden Flamme« als den Ursprung der »menschlichen Niederlassung« aus.29 Um den Herd seien die anderen drei Elemente angeordnet, »gleichsam die schützenden Negationen, die Abwehrer der dem Feuer des Herdes feindlichen drei Naturelemente; nämlich das Dach, die Umfriedigung und der Erdaufwurf«.30 Die »technischen ­Geschicklichkeiten« ordnen sich nach diesen Elementen: »die keramischen und späteren metallurgischen Arbeiten und Künste um den Herd, die Wasserarbeiten und Maurer­ arbeiten um den Erdaufwurf, die Holzarbeiten um das Dach« und die Kunst der Mattenflechter und Teppichwirker um die »Umfriedigung«.31 Unter dem Eindruck der Weltausstellung spielen in seinen späteren Schriften, vor allem in Der Stil, die gesellschaftlichen Faktoren eine geringere Rolle, die Wichtigkeit der anderen technischen Künste neben der Architektur nimmt dagegen stark zu.32 Während seines Exils in London im Jahre 1852 arbeitete Semper eine kurze Studie aus, in der er seinen Vorschlag für ein ideales Museum vorstellt.33 Seine Planzeichnung, der Idealität des Museums entsprechend, ist eher ein Diagramm als ein Grundriss. Die vier »Urmotive aller menschen Werke« − zu-

4. Die vier Elemente der Architektur

gleich »die ersten Grundbegriffe menschlichen Kunstfleißes«: Textilkunst, Keramik, Tektonik und Stereotomie − sind auf der Mitte der Seiten des Quadrats angeordnet.34 Die Eckpunkte des Vierecks markieren die Stelle der Gegenstände, die sich »auf verschiedene Verfahren gründen«.35 Als Beispiel erwähnt Semper Bronzegusstüren, deren Form sowohl von der keramischen als auch von der stereometrischen Technik beeinflusst ist. (Abb. 4.3) Sempers Diagramm ist keine rigide Struktur, um die Objekte der Kunstgewerbe zu klassifizieren, sondern es konstruiert Zusammenhänge, verbindet Artefakte und Möglichkeiten 4.3 Entwurf eines idealen von Artefakten und schreibt ihnen Bedeutungen zu. Werk- ­Museums, Bleistiftzeichnung von Gottfried Semper, 1852. stoffe können in die Rolle eines anderen Werkstoffs schlüpfen. Sempers Auftrag war es, eine Studie über Objekte des Kunstgewerbes aus Metall zu schreiben. Doch ausgerechnet Metall gehörte für ihn nicht zu den Urstoffen, er charakterisiert es als das Material, »welches alle oben aufgezählten Eigenschaften der Rohstoffe in sich vereinigt«.36 War die karibische Fischerhütte für Semper eine Entdeckung, die ihm half, seine vier Elemente als Teile eines großen Ganzen zu verstehen, und ein willkommenes Beispiel für eine bereits entwickelte Theorie oder eine Projektionsfläche für metaphysische Spekulationen über das Wesen der Architetur? Empirische Forschung, metaphysisches Denken und fantasievolle Assoziationen bedingen einander wechselseitig. Für Semper war die Hütte ethnografisches Objekt und theoretisches Diagramm zugleich. Betrachtung, Analyse und Fantasie sollen sich gegenseitig korrigierend ergänzen – selbst der Archäologe, schreibt er, könne noch »so scharf sichten und scharfsinnig spüren«, die Rekonstruktion des Ganzen »bleibt immer doch zuletzt dem divinatorischen Künstlersinn alleinig vorbehalten«.37 Das Raum- und Dekorationsprogramm für das Ensemble der Hofmuseen in Wien (Gottfried Semper und Carl von Hasenauer, 1871–1891) wurde im Zu­ sam­men­hang mit Sempers Diagramm konzipiert. Die 5  m hohe Bronzefigur des Sonnengotts Helios auf der Laterne des Naturhistorischen Museums ist von allegorischen Figuren der vier Elemente − Urania (Luft), Poseidon (Wasser), Gaia (Erde) und Hephaistos (Feuer) − umgeben, während die vier Fassaden diese Allegorik weiterführen. Was Sempers Systematisierung der vier Elemente besonders interessant macht, ist die Umkehrung der Richtung der Kausalität, die auf seine Stoffwechseltheorie zurückgeht. Die Analyse der Wand und ihrer ursprünglich textilen Herstellungstechnik führt zur Bestimmung von einem der vier Elemente, dann wird aber die so etablierte Kategorie der Textilkunst zum Produzenten neuer Artefakte aus beliebigen Materialien. Im Raum des idealen Museums markiert der Punkt A zwar die Textilkunst, aber die Gruppe der hier versammelten Objekte wird zunehmend um andere ähnliche, auch nicht textile Gegenstände erweitert. Um die Funktionsweise des Systems zu verstehen, werden wir in den folgenden Unterkapiteln die vier Elemente einzeln betrachten.

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4. Die vier Elemente der Architektur

4.4 Beispiele textiler Kunst aus Gottfried Sempers Der Stil. a. Flaggenstöcke, Schmuck der ägyptischen Pylonen; von einem Wand­

gemälde am Tempel des Khons zu Theben. Der Stil Bd. I. b. Ägyptisches Kapitäl und Damen­haarputz. Der Stil Bd. I. c. Assyrische Wandmalerei. Der Stil Bd. I, Taf. XII. d. Durchschnitt, Untersicht und Details eines Joches der getäfelten Decke des Theseustempels zu Athen. Der Stil Bd. I, Taf. VI.

Die Wand: Textile Kunst

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Das erste der vier Elemente ist nach Semper die textile Kunst, das heißt die Arbeit mit Stoffen, die »biegsam, zäh, dem Zerreissen in hohem Grade widerstehend, von grosser absoluter Festigkeit« sind.38 Das Ergebnis ist das zwei­ dimensionale Gewebe, das Material der ersten Raumbegrenzungen, die Wände des Hauses. Später haben die Handwerker Gewebemuster auch aus anderen Stoffen gebildet bzw. abgebildet: »[…] so gehören […] der textilen Kunst nicht bloss die eigentlichen Gewebe an«.39 (Abb. 4.4 a–d) Semper kritisierte jene Architekturhistoriker, die in ihren Darstellungen der Zelte von Nomadenstämmen vor allem der Kettenlinie des Zeltdachs Aufmerksamkeit schenkten. Sie übersahen »den allgemeineren und weniger zweifelhaften Einfluss, den der Teppich in seiner Eigenschaft als Wand, als vertikales Schutzmittel auf die Entfaltung gewisser Bauformen übte, so dass ich mit der Behauptung ohne Stütze irgend einer Autorität dazustehen glaube, dass der Teppichwand eine höchst wichtige Bedeutung in der allgemeinen Kunstgeschichte zukommt«.40 Hier betont Semper die primär raumtrennende Funktion der Textilwand, die Tragkonstruktion des Zelts ist in seinen Augen sekundär. Das technische Grundmotiv des Textils, den Knoten, und das auf dieser Grundlage entwickelte Prinzip der Bekleidung werden wir in Kapitel 8 betrachten. Es ist erstaunlich, dass Semper das wichtigste Element der Architektur mit einem leichten, in sich instabilen, im Boden nicht fest verankertem Material verbindet. Nicht mit der Erde, sondern mit dem Element Luft assoziiert

4. Die vier Elemente der Architektur

4.5 Aus abgerollten Ölfässern hergestellte Blechzelte im Flüchtlingscamp bei Tindouf (Algerien) in der Westsahara, 2011. 4.6 Kupferzelt im Haga-Park, Stockholm. Entworfen vom Architekten Louis Jean Desprez für König Gustav III., 1787–1790.

er diese Architektur, die flattert wie die abgebildeten Kleider, Teppichwände und Fahnen. Die Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts sieht in solchen fliegenden Architekturen Manifestationen des revolutionären Geists, Utopien, Entwürfe für eine kommende Architektur, die auf der Erde noch keinen Boden gefunden hat. Diese Leichtigkeit hatte nach 1968 eine neue Aktualität und fand

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4. Die vier Elemente der Architektur

4.7 »Weiterstricken« mit Verwendung der Marmor eines antiken Tempels: Mauer der fränkischen Festung aus dem 13. Jahrhundert in Parikia, Insel Paros.

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in den pneumatischen, aufblasbaren Architekturen der französischen Group Utopie oder der österreichischen Gruppe Haus-Rucker-Co. Ausdruck.41 Die Verfestigung, Ver­steinerung des ursprünglich Labilen und Beweglichen im Sinne der Stoffwechseltheorie Sempers können wir als eine Geste der Verortung verstehen.

4. Die vier Elemente der Architektur

4.8 Gestaltung der Fußwege am Philopappos-Hügel in Athen. Dimitris ­Pikionis, 1951–1958. 4.9 Skizze eines Hauses von ­Dimitris Pikionis, aus: Dimitris Pikionis, Architectural Sketches 1940–1955. Agni Pikionis, Hg. Athen 1994.

Formen nomadischer Zelte und ihre Umwandlung oder Übertragung in feste Stoffe in der Architektur sesshaft gewordener Stämme war Thema einer Wahlfacharbeit an der ETH Zürich im Jahre 2013. Jonas Wirth hat die Archi­ tektur in den Flüchtlingslagern der Westsahara untersucht und kam dabei zum Ergebnis, dass die Zelte, deren Bewohner am Anfang noch auf eine schnelle Rückkehr in ihre Heimat gehofft hatten, mit der Zeit durch Bauten aus Lehm oder Zementsteinen ersetzt wurden. Diese behielten allerdings charakte­ ristische Detailformen der Zelte. Besonders interessant sind jene Hütten, die aus dem flach abgerollten Blech benutzter Metallfässer bestehen, die innen mit Baumwollstoffen bezogen sind, um die Hitzeabstrahlung zu reduzieren.42 (Abb. 4.5) Zelte aus dauerhaften Materialien wurden oft auch als Erinnerung an Feldzüge gebaut, so zum Beispiel die Koppartälten, die Kupferzelte, die der

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4. Die vier Elemente der Architektur

4.10 Wandtextur der Markuskirche

in Björkhagen bei Stockholm von Sigurd Lewerentz, 1958–1963. 4.11 Beispiele der Keramik aus Gottfried Sempers Der Stil. a. Grundformen der Töpferei nach Ziegler. Der Stil II. b. Kandelaberkapitäl (Pompeji). Der Stil II.

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Architekt Louis Jean Desprez für König Gustav III. im Park Haga in Stockholm errichtete (1787–1790), (Abb. 4.6) oder Karl Friedrich Schinkels Zeltzimmer im Schloss Charlottenhof in Potsdam (1826–1829), dem Sommersitz des Kronprinzen Friedrich Wilhelm. Die textile Analogie des Weiterstrickens wurde im einführenden Kapitel bereits erwähnt. Weitere Beispiele sind Wandkonstruktionen, die durch das Einweben von Fundstücken wie Steinfragmenten von einem Bauplatz einen

4. Die vier Elemente der Architektur

4.12 a, b, c Abbildungen aus der Vitruv-­ Ausgabe des Vitruvius teutsch von Walther Hermann Ryff, Nürnberg 1548. a. Erfindung des Feuers, Taf. LXI. b. Bau der ersten Hütten, Taf. LXII. c. Die ersten Holzhäuser, Taf. ­LXIII.

besonderen Ortsbezug haben wie die Verwendung von Marmor eines antiken Tempels für die Mauer einer fränkischen Festung aus dem 13. Jahrhundert in Parikia auf der griechischen Insel Paros. (Abb. 4.7) Der griechische Architekt Dimitris Pikionis gestaltete die Fußgängerwege auf dem Philopappos-Hügel in Athen ähnlich: Er verwob alte Steinfragmente aus dem Boden, gewachsenen Fels und von ihm entworfene Bauelemente mit größter Präzision im Detail. Auch seine Architekturskizzen für Wohnbauten zeigen einen spielerischen

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4. Die vier Elemente der Architektur

4.13 Kamin in der Villa Karma in

Clarens bei Montreux von Adolf Loos, 1903–1906 (fertiggestellt von Hugo Ehrlich).

Umgang mit reichen Wand­geweben und leichten Textilvorhängen. (Abb. 4.8, 4.9) Wir dürfen hier Sigurd Lewerentz’ Expe­rimente zur Erforschung der textilen Wirkung von Backsteinen und Fugen nicht vergessen. Dafür experimentierte er mit verschiedenen Sandsorten (z. B. aus gemahlenem Schiefer) für den Mörtel. (Abb. 4.10)

Das Feuer: Keramik

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Sempers zweite Kategorie, Keramik, ist Stoffen gewidmet, die »weich, bildsam (plastisch), erhärtungsfähig, mannichfaltiger Formirung und Gestaltung sich leicht fügend und die gegebene Form in erhärtetem Zustande unveränderlich behaltend« sind.43 Plastizität, Homogenität und Erhärtungsfähigkeit seien die drei Grundeigenschaften aller plastischen Massen. Das Wort »Töpferei« gebe die große kulturelle Bedeutung keramischer Kunst nicht wieder: Keramikgefäße seien »Symbole des Glaubens«, sie »erhielten sich wegen ihrer Bestimmung als Gegenstände des Todtenkults im schützenden Schosse der Erde«.44 Sie seien die »ältesten und beredtesten Dokumente der Geschichte. Man zeige die Töpfe die ein Volk hervorbrachte und es lässt sich im Allgemeinen sagen, welcher Art es war und auf welcher Stufe der Bildung es sich befand!«.45 Diese Tatsache hänge auch mit der Dauerhaftigkeit der Keramik zusammen, die Terrakotten und die fossilen Überreste von Tieren und Pflanzen seien die »beiden Zeugen der Vergangenheit«.46 Die Wechselbeziehung zwischen der Geschichte der Keramik und der Geologie belegt Semper im »technisch-historischen« Teil des Abschnitts über Keramik mit Beispielen.47 (Abb. 4.11 a, b) Das griechische Wort für »Plastik« bezeichnet bildliche Darstellungen, schließt jedoch die Töpferei nicht mit ein. Der Begriff »Töpferei« wiederum beschränkt sich auf die Herstellung von Gefäßen. Semper misst dem Töpferton als

4. Die vier Elemente der Architektur

4.14 Altar in der Kirche

St. ­Franziskus, Laibach. Jože Plečnik, 1925–1927, Ausstattung nach den Originalplänen bis in die 1970er-Jahren. 4.15 Heizhaus des Goetheanums in Dornach, Rudolf Steiner, 1914.

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4. Die vier Elemente der Architektur

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plastischem Stoff eine allgemeine Bedeutung zu: Er spricht vom »Urstoff«. Der »bildsam weichen Masse« werde eine Form gegeben, die dann durch Erhärtung eine feste Gestalt annehme.48 Allein dieser Beschreibung ist die Übertragbarkeit dieser Technik auf andere Stoffe wie Glas oder Eisen (oder Beton, noch kein Thema bei Semper) zu entnehmen. Die von Semper vorgestellten Beispiele der Keramik sind vor allem Tongefäße, beginnend mit dem dolium, dem tönernen Fass, in dem der kynische Philosoph Diogenes von Sinope hauste. Semper zeigt einerseits Keramikgefäße und Säulenkapitelle mit flechtwerkartiger Verzierung, andererseits Gefäße, Schalen und Kelche aus Glas und Metall, um zu belegen, dass sich technische Formen auf andere Stoffe übertragen lassen. Die »keramischen Arbeiten und späteren metallurgischen Arbeiten und Künste« ordnen sich um den Herd, schreibt Semper.49 Die Hitze des Feuers sei zur Erhärtung der Tonmasse – oder zur Schmelzung der Metalle – notwendig. Wichtiger als der technische Prozess sei jedoch der Mythos, der in der Feuer­ stelle den Gründungsort der menschlichen Gesellschaft sieht. Vitruv, Lukrez folgend, beschreibt den Ursprung der menschlichen Gesellschaft als die erste Versammlung der Menschen um das wärmende Feuer: In der Urzeit lebten die Menschen wie Tiere, allein in Wäldern, Höhlen und Hainen. Aber einmal, wie durch Zufall, entstand im Wald ein »Feuer, und durch dessen lodernde Flamme erschreckt liefen die, die sich in der Nähe dieses Ortes befanden, weg. Als sich später die Lage beruhigt hatte, gingen sie näher heran und, als sie ­bemerkt ­hatten, dass die Wärme des Feuers für ihre Körper sehr angenehm war, warfen sie Holzscheite hinzu und unterhielten es dadurch, holten andere Leute herbei und mit einer Gebärde wiesen sie darauf hin, welchen Nutzen sie davon hätten. Als bei diesem Zusammenlauf von Menschen bald so, bald so beim Atmen (unartikulierte) Laute hervorgestossen wurden, setzten sie durch tägliche Gewohn­heit Wörter zusammen, so wie sie sich gerade geboten hatten; dann begannen sie dadurch, dass sie öfter Dinge (mit diesen Worten) beim Gebrauch bezeichneten, schließlich durch Zufall zu sprechen. Und so brachten sie es zu Gesprächen untereinander«.50 Der Entstehung der Sprache folgte der aufrechte Gang, was wiederum den Blick auf die »Herrlichkeit des Weltalls und der ­Gestirne« eröffnete und die Errichtung der ersten Häuser ermöglichte – zuerst als Nachahmung der Vogelnester, dann als eigenständige Bauten, die so logisch wie das erste gesellschaftliche Artefakt − die Sprache selbst − sind. Laut dem Philosophen Peter Sloterdijk könnte man Vitruvs Gedanken zu einer ­Theorie des »thermischen Sozialismus« weiterbilden: »Demnach lägen die ersten Motive der Gruppenbildung in einer zweifach unwiderstehlichen Bequemlichkeit – in der wohl­tuenden Wärmestrahlung selbst und in den angenehmen Reden der Menschen über dieses Angenehme.«51 (Abb. 4.12 a–c) Semper beruft sich ähnlich wie Vitruv auf die antike Legende, indem er die gemeinschaftsstiftende Funktion des Feuers beschreibt: »Das erste Zeichen menschlicher Niederlassung und Ruhe nach Jagd, Kampf und Wanderung in der Wüste ist heute wie damals, als für die ersten Menschen das Paradies verloren ging, die Einrichtung der Feuerstätte und die Erweckung der belebenden und erwärmenden speisebereitenden Flamme. Um den Herd versammelten sich die ersten Gruppen, an ihm knüpften sich die ersten Bündnisse, an ihm wurden die ersten rohen Religionsbegriffe zu Culturgebräuchen formulirt. Durch alle Entwickelungsphasen der Gesellschaft bildet er den heiligen Brennpunkt, um den sich das Ganze ordnet und gestaltet. Er ist das erste und

4. Die vier Elemente der Architektur

wichtigste, das moralische Element der Baukunst.«52 Semper bezeichnet den Herd auch als »Embryo der gesellschaftlichen Form im allgemeinen und als Symbol der Niederlassung und Vereinigung«53, eine Formulierung, die er in seiner Schrift »Über architektonische Symbole« in ähnlichen Worten wiederholen wird.54 Das Feuer hat einen anderen Status als die drei übrigen Elemente. Bereits der flämische Naturforscher, Arzt und Alchemist Johan Baptista van Helmont behauptete, Feuer sei keine Substanz, sondern eine Kraft, eine Energie, die zusammenbringe, aber auch zerstöre. In der Erzählung Vitruvs kommt die waldzerstörende, zugleich den Blick auf das »Firmament« eröffende Kraft des ­Feuers ebenfalls zum Ausdruck. Leon Battista Alberti schildert die mit dem Feuer verbundenen Gefahren noch ausführlicher: die plötzlichen Feuersbrünste, Blitzeinschläge, Erdbeben und Überschwemmungen, »ferner all das Viele, Unerhörte, Unverhoffte, Unglaubliche, was die ungeheuerliche Kraft der Natur von Tag zu Tag mit sich bringen kann, wodurch der ganze wohldurchdachte Plan des Architekten gestört und über den Haufen geworfen werden kann«.55 Feuer stiftet und bedroht zugleich die menschliche Zivilisation, es trennt sie von der Natur und verbindet sie mit ihr. Es geht um die genaue Kalibrierung von thermischem Wohlbehagen und Verbrennungsgefahr, welche die Distanz bestimmt. Die Projektionen der »sphärenbildenden Potenz« des Feuers, notiert Sloterdijk, zeigen sich in architektonischen Formen.56 Die Raumkompositionen von Frank Lloyd Wrights Wohnhäusern entfalten sich vom Zentrum aus, in dem sich das Feuer befindet. »Good friend, around these hearth-stones speak no evil word of any creature« steht als Motto im Kaminzimmer seines eigenen Wohnhauses mit Studio in Oak Park, Chicago (1889). Das Feuer ist in Wrights Wohnräumen meistens von einem monumentalen Kamin aus Stein oder Backstein eingefasst, der oft eine symbolische Dekoration zeigt; die farbigen Verglasungen der Fenster lassen den Blick nicht nach außen zu. Viele Architekten erwähnen die Rolle des Feuers bei der Herstellung von Baustoffen, vor allem keramischer Materialien. Eduardo Torroja intepretiert in seinem Buch Logik der Form (deutsche Ausgabe 1961) den Backstein im Kontext der Elementenlehre und betrachtet ihn unter dem Aspekt des Feuers. Er sei der erste Baustoff, schreibt er, »welcher durch die Beherrschung der vier Elemente Erde, Luft, Wasser und Feuer vom menschlichen Intellekt geschaffen wurde«.57 Dieser »bildsame« und »menschliche« Stoff, »in welchem der Lehm nach fleißiger Knetung, geschickter Formung und geduldiger Trocknung sich durch die Wärme des mühsam entzündeten Feuers in Stein verwandelt hat, weist in den mit ihm erstellten Bauten Merkmale und Formen auf, die ganz

4.16 Beispiele der Tektonik aus

Gottfried Sempers Der Stil.

a. Stabkonstruktionen der ägypti-

schen Sitzmöbel, Der Stil, Bd. II. b. Etruskische Kandelaber. Der Stil, Bd. II. c. Inneres der Kirche zu Borgund nach Nikolaisen, Der Stil, Bd. II. d. Verzierungen des offenen Dachstuhls in der Kirche San Miniato al Monte bei Florenz, Der Stil, Bd. II. Taf. XVII, XVIII.

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4. Die vier Elemente der Architektur

4.17 Das Haus der Gebrüder Schmidt in Büelisacher, aus Ernst Gladbach,

Der Schweizer Holzstyl, Zürich 1882, Tafel 5.

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typisch sind und sich absolut von allen den Natursteinen eige­nen Merkmalen unterscheiden«.58 Aber Ziegel ist nicht das einzige Baumaterial, das mit dem Feuer in Verbindung gebracht werden kann. Otto Bartning bemerkt zu seiner Stahlkirche auf der Ausstellung PRESSA in Köln (1928), dass »Stahl, Kupfer, und Farbglas mit Blei sind Schmelzprodukte aus Erz und Quarz, sind also gemeinsam durch die Feuertaufe gegangen«.59 Adolf Loos hat in seinen Wohnungen Kamine nach englischen und amerikanischen Vorbildern eingebaut. (Abb.  4.13) Bei öffentlichen Bauten wie den Bibliotheken von Frank Furness, Henry Hobson Richardson oder Louis I. Kahn steht der monumentale Kamin für das gemeinschaftliche Zentrum der in Bücher vertieften Leser. Die Form des Kamins kann einen Kontrast zur architektonischen Formensprache des Hauses bilden. In den Bauernhäusern Mitteleuropas sind Kamine und Öfen mit Nischen und Bänken zum Sitzen und Liegen kleine thermische Architekturen. In Gunnar Asplunds Sommerhaus in Stennäs in Schweden zeigt der Kamin ebenfalls eine plastische, weiche, »keramische« Form. Semper kommt in einem Unterkapitel (§.160) seines Der Stil über stereotomische Steinkonstruktionen noch einmal auf das Thema Herd zurück. Er bezeichnet ihn als das älteste und vornehmste Symbol der Gesellschaft und der Gesittung, die dann auf den Altar als Ort des Brandopfers, den höchsten Ausdruck der gleichen Kulturidee, übertragen werde.60 Die barocken – oder modernen Altäre wie denjenigen in Le Corbusiers Kapellen – sind Beispiele für eine Lichtinszenierung als Transzendentierungen des Opferfeuers. Jože Plečnik

4. Die vier Elemente der Architektur

4.18 Das Bridge Building des Art

Center College of Design in Pasadena, Craig Ellwood, 1970–1975. 4.19 Pavillon of Reflections der Monumenta 2016 in Zürich, Studio Tom Emerson, ETH Zürich.

entwarf für seine Kirchenbauten in Prag und Slowenien nicht nur die Altäre, sondern auch liturgisches Gerät. Er war hierfür einmal mehr von Sempers Theorie beeinflusst. (Abb. 4.14) In seiner Erweiterung der Dorfkirche in Bogojina (1925–1954) nahm er die Verortung der Keramik in der Nähe eines Opferfeuers wörtlich und ordnete Keramikteller und Krüge beim Altar als Symbole des Glaubens an. Der Anthroposoph Rudolf Steiner bezog sich zwar auf die antike Elementenlehre, attestierte dem Feuer jedoch eine besondere Qualität, die sich von den

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4. Die vier Elemente der Architektur

4.20, 4.21 Haus in Bernheimbeuk. Architecten de vylder vinck taillieu, 2011.

anderen drei Elementen unterscheidet: Es habe eine sehr feine Substanzialität und könne deshalb Luft, Wasser und Erde durchdringen, erhitzen und verwandeln. Demnach thematisiert Steiners Heizhaus des Goetheanums in Dornach (1914) das Strömen der aufsteigenden Wärme eines Feuers. (Abb. 4.15) Eine besondere Rolle spielt das Feuer ferner für Sigfried Giedions Konzept einer neuen modernen Monumentalität. Um dieses in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs formulierte Programm von der »Pseudomonumentalität« speerscher Prägung abzugrenzen, bezeichnet Giedion das Feuerwerk als Paradigma des Kurzlebigen, aber dauerhaft in Erinnerung Bleibenden. Das Feuer Vitruvs bleibt gemeinschaftsbildene Kraft, aber nicht in seiner thermischen Ausstrahlung, sondern als Spektakel.61

Das Dach: Tektonik Die dritte Kategorie in Sempers System der technischen Künste ist die Tektonik. Mit diesem Begriff wird oft ein allgemeines Prinzip der Architektur bezeichnet, welches sie von den nicht konstruktiven Künsten wie der Malerei unterscheidet. Für den Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin war »tektonisch« in der Tat der Gegenbegriff des »Malerischen«: »Die Malerei kann, die Architektur muss tektonisch sein«, schreibt er in seinem Buch Kunstgeschichtliche Grundbegriffe (1915), »für die Architektur wäre ein Aufheben des tektonischen Gerüstes gleichbedeutend mit Selbstvernichtung«.62 Kenneth Frampton verwandelt diese Warnung in seinem Band Grundlagen der Architektur. Studien zur Kulter des Tektonischen (1993) in einen Ordnungsruf. Mit seinem Programm für eine tektonische Architektur will er der Bedrohung des Szenografischen Widerstand leisten.63

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4. Die vier Elemente der Architektur

4.22 Beispiele der Stereotomie aus

Gottfried Sempers Der Stil.

a. Quaderwerk am Palazzo Pitti zu

Florenz, Bd. II. b. Quaderwerk am Dresdener ­Museum, Bd. II. c. Wand aus der Casa di Salustio in Pompeji, Bd. II, Taf. XV. 4.23 Sockelmauer der Burg Kumamoto, Japan, 1601–1607.

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Semper hingegen verwendet den Begriff »Tektonik« in einem viel spezifischeren Sinne. Tektonik sei, schreibt er in Der Stil, die »Kunst des Zusammenfügens starrer, stabförmig gestalteter Theile zu einem in sich unverrückbaren Systeme«.64 Diese Teile seien »von vornehmlich relativer, d. h. der senkrecht auf die Länge wirkenden Kraft widerstehender Festigkeit«.65 Er beginnt mit der Darstellung der Tektonik in ihren Wurzelformen«, die »viel älter als die Baukunst« seien.66 Die Tektonik sei »bereits in vormonumentaler Zeit an dem beweglichen Hausrath zu vollster […] Ausbildung gelangt, ehe

4. Die vier Elemente der Architektur

4.24 Die Grundmauer des

Marcellus-­Theaters in Rom, in ­Giovanni Battista Piranesi, Le ­antichità romane, Bd. IV, Rom 1784.

die heilige Hütte, das Gottesgehäuse, das monumentale Gezimmer seine Kunstform erhielt«.67 Es geht um formsteife Rahmenkonstruktionen und Gestelle, Dreifüße aus Metall, die das Ideal eines stabilen und zugleich transportablen Systems erfüllen. Nur ein Viertel von 40 Abbildungen zu Sempers Kapitel über die Tektonik zeigen Bauten – vor allem Fachwerkhäuser –, alle anderen zeigen Möbel. Es scheint, als ob für Semper vor allem Holzkonstruktionen von Interesse war, anhand derer er die Übertragung charakteristischer Formen anderer Stoffe zeigen konnte, etwa die »Stilverwandtschaft« von alten skandinavischen Holzschnitzereien mit dem »Teppichluxus der Häuser und geweihten Orte«68 oder Holzverschalungen, die Tonnengewölben ähnlich sind. Es entspricht »dem Principe der Alten«, stellt er fest, dass im Monumentalbau »das künstliche Gefüge der Struktur« verhüllt werde, nur »im leichten beweg­lichen Gestell, im Möbelwesen« sei es dekorativ verwertet.69 (Abb. 4.16 a–d) Eine tektonische Konstruktion sei immer ein Pegma, also ein Rahmenwerk, das ein Füllwerk umfasse, schreibt Semper. Höhere Stufen der Tektonik seien das Geschränk (Gitterwerk), das Stützwerk (z. B. Dreifüße, Kandelaber) und

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4. Die vier Elemente der Architektur

4.25 Fassadendetail des Palazzo

dei Diamanti in Ferrara. Biagio Rossetti (?), 1492–1567.

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das Gestell (z. B. Dachstühle).70 (Abb. 4.17) Das Füllwerk sei textilen U ­ rsprungs: »Der in dem umrahmten Füllwerke enthaltene energische Gegensatz zwischen ­dessen beiden Bestandtheilen, dem Rahmen und der Füllung, führte sehr bald den künstlerischen Sinn zu seiner idealen Verwerthung und Verbildlichung, indem man ihn symbolisch ausdrückte.«71 Die Dialektik von aktiver Umrahmung und passiver Füllung deutet Semper symbolisch. Die Analogie zum Wachstum des Holzes sieht er in den Ornamenten, die sich strecken und die flache Füllung dazwischen zusammenzuziehen scheinen als Äußerung eines inneren Lebens. Das Rahmenwerk könne nicht nur als ein Bild der Bewegung, sondern auch als Grenze gelten. Vorwiegend im Widerspruch des Starren und des Beweg­ lichen entwickele sich der Reiz der lebendigen Gestaltung. So gesehen können Tektonik und Textilkunst als eine Bipolarität verstanden werden. Im Gegensatz zu Theorien jedoch, welche die Architektur einseitig nur mit der Tektonik identifizieren, gehören für Semper Textur (die textile Komponente) und Struktur (die tektonische Komponente) untrennbar zusammen. Im »technisch-historischen« Teil der Darlegung der Tektonik beschreibt Semper das »von Baumstämmen gestützte mit Schilf oder Rohr bedeckte und mit Mattengeflecht umhegte Schutzdach« als das »mystisch-poetische, zugleich künstlerische, Motiv«, aber »nicht das materielle Vorbild und Schema des Tem-

4. Die vier Elemente der Architektur

4.26 Terrasse des Eidgenössischen

Polytechnikums in Zürich, Gottfried Semper, 1858–1863.

pels«.72 Fett gesetzte Begriffe kommen ansonsten im Buch kaum vor, weswegen Sempers Absicht überdeutlich wird, sich von jenen Historikern zu distanzieren, für welche der Marmortempel »thatsächlich nichts weiter als eine versteinerte Urhütte wäre, dessen Ganzes und dessen Theile aus den einfachen Elementen einer Holzhütte materiell entstanden und aus ihnen unmittelbar abzuleiten sind«.73 Man kann sich wundern, dass Semper ausgerechnet den auf Holz beruhenden Ursprung des Tempelbaus als potenzielle Bestätigung für seine Stoffwechseltheorie ablehnt, aber die karibische Fischerhütte als die wahre vitruvianische Urhütte entsprach seiner Vorstellung von einem geflochtenen und nicht tektonisch gefügten Urhaus viel eher. Die symbolische Bedeutung des Dachs als mythisch-poetischem Motiv wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts oft evoziert, nicht nur von Vertretern der Heimatstile und des kritischen (oder nicht kritischen) Regionalismus. Für Otto Wagner brauchte die moderne Großstadt ebenfalls die sichtbare Präsenz des schützenden Dachs, sichtbar an den weit ausladenden Gesimsen der Hauszeilen, die sich vom florentinischen Sparrendach ableiten. Sie betonen nicht nur die Individualität der einzelnen Häuser, sondern auch den großen perspektivischen Schwung der Straße und grenzen zugleich die Baukörper nach oben ab (s. Abb. 7.10). Als vollends tektonische Gebilde diskutiert Semper vor allem Gerüstbauten: Fachwerkbauten, Dachstühle, norwegische Stabkirchen. Sie alle seien »monu-

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mentale Gezimmer«, gegliedert, gebunden, von Semper als Zeichen der Pluralität verstanden, im Gegensatz zu den abgeschlossenen, umhüllten, gedeckten Räumen, die sich einheitlich, »als Kollectivität« präsentieren. Auch mit dem Element Wasser verbindet Semper die Tektonik, die normannisch-englische bzw. altskandinavische Dachkonstruktion bezeichnet er als »eine Art Schiffskonstruktion in umgekehrter Anwendung auf das Dach«.74 (Abb. 4.16 c) Textur als Raumbegrenzung sei entscheidend, die tektonische Struktur sei das dienende Element. »Sowohl der fußteppich als auch der wandteppich erfordern ein konstruktives gerüst, das sie in der richtigen lage hält. Dieses gerüst zu erfinden, ist erst die zweite aufgabe des architekten. […] Im anfange war die bekleidung«, sollte später Loos bestätigen.75 Als Beispiele einer tektonischen Architektur nennt Semper vor allem mittel­ alter­liche Fachwerkbauten und widmet dem Schweizerhaus das ­Unterkapitel §153 im zweiten Band des Der Stil, für das er unter anderem noch nicht veröffentlichtes Material seines Züricher Professorkollegen Ernst Gladbach verwendet.76 Es ist aber unverkennbar, dass tektonische Gerüste für Semper im Gegensatz zu textilen Oberflächen mit Ordung und Unfreiheit konnotiert sind. Seine bereits zitierte Kritik an der Spätgotik belegt dies klar. Das »Erstar­ren in Schematismus und Langweiligkeit!« sei das wenig glorreiche Ende der Gotik als ein streng tektonisches System. »Requiescat in pace!«, schließt er seine Betrachtungen über die mittelalterliche Architektur.77 Und er kann sich einen kleinen Seitenhieb auf Viollet-le-Duc nicht verkneifen, als über den Dachstuhl der Westminsterhalle in London, ein eingehend präsentiertes Beispiel im Dictionnaire, sagt: Die übertriebenen, die Holzquerschnitte schwächenden Auskeh­ lungen und Wassernasen seien »nur äusserliche Symptome des Verfalls dieser prachtvoll dekorativen Tektonik, die sich auch ihrem eigenen Prinzipe immer mehr entfremdet und sogar damit endet dasselbe rein äusserlich ornamentalen Zwecken ganz aufzuopfern«.78 Sempers Kritik an einer überbordenden Tektonik, die von nur einem der vier Elemente der Architektur zur Demonstration einer scheinbaren, alles bestimmenden Logik und dabei zum monumentalen Ornament wird, erhält angesichts der Möglichkeiten digitaler Entwurfs- und Fabrikationstechnologien eine neue Aktualität. Aber auch ohne diese neuen Möglichkeiten erlaubt die Tektonik viele spielerische Umgangsformen mit ihren Konstruktionsprinzipien. Strenge tektonische Effekte entpuppten sich schon früher als reine Inszenierungen, die Fassade der Turbinenfabrik AEG von Peter Behrens in Berlin (1908/09) ist ein bekanntes Beispiel dafür. (s. Abb. 8.47) Ludwig Mies van der Rohe ließ Doppel-T-Walzprofile an die Stützen seiner Wohntürme 860–880 Lake Shore Drive in Chicago (1947−1951) befestigen, um die Schlankheit der Konstruktion zu betonen. Der amerikanische Architekt Craig Ellwood hat zur Zeit der Stahlgerüst-Euphorie im Kalifornien der Nachkriegszeit, die von den nun frei gewordenen Kapazitäten der Militärproduktion befeuert wurde, wie Brücken gelagerte und konstruierte Wohnhäuser errichtet. Ein spätes, eindrucksvolles Beispiel ist sein Art Center College of Design in Pasadena (1970−1975). (Abb.  4.18) Wenn Architekturschulen ihre Studenten in das Handwerk des Konstruierens im Maßstab 1:1 einführen wollen, ist die Tektonik meistens die »Urtechnik« der Wahl. Für die europäische Kunstbiennale Manifesta entwarf und baute Tom Emerson mit seinen Studenten an der ­ avillon of Reflections (2016). (Abb. 4.19) ETH Zürich einen schwimmenden P Auch das belgische Architekturbüro architecten de vylder vinck taillieu arbei-

4. Die vier Elemente der Architektur

4.27 Stützmauer im Waldfriedhof

in Stockholm. Sigurd Lewerentz, 1915–1961. 4.28 Die Fassade der Kirche Gesù Nuovo, Neapel von Giuseppe Valeriano und Pietro Provedi, fertiggestellt im Jahre 1601.

tet mit der Erscheinungsform der aus stabförmigen Elementen zusammengefügten tektonischen Systemen, stellen aber die klassischen Regeln der Tektonik infrage. Das Büro präsentiert mit seinem Haus in Bernheimbeuk (2011) eine Urhütte des wilden Denkens, dessen Dach ein Baum durchbricht. (Abb. 4.20, 4.21) 119

4. Die vier Elemente der Architektur

4.29 Südfassade der Schwedischen Reichsbank (Rijksbanken), ­Stockholm.

Peter Celsing, 1965–1976.

Die Terrasse: Stereotomie

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Die vierte und letzte Kategorie der Urtechniken in Sempers Der Stil ist die Stereotomie: die Arbeit mit »festen, dichten und homogenen« Stoffen, die dem Druck gut widerstehen.79 In seinem System der Urtechniken ist Stereotomie ein archaisches Element. Die wuchtigen Erdaufwürfe und Terrassen haben nicht die antropomorphen, organischen Züge der anderen Komponenten des Bauwerks, sondern eine unbelebte, mineralische Qualität, die höchstens

4. Die vier Elemente der Architektur

rhythmisch unterteilt ist. Die Stereotomie arbeitet mit Werkstoffen, »die wegen ihres festen, dichten und homogenen Agregatzustandes dem Zerdrücken und Zerknicken starken Widerstand leisten, also von bedeutender rückwirkender Festigkeit sind, die sich durch Abnehmen von Theilen der Masse zu beliebiger Form bearbeiten und in regelmässigen Stücken zu solchen festen Systemen zusammenfügen lassen, wobei die rückwirkende Festigkeit das wichtigste Prinzip der Konstruktion ist«.80 (Abb. 4.22 a–c) Semper sieht im »erhöhten Erdplateau des Heerdes« das Vorbild für jene Aufschüttung des Bodens, die der Mensch überall errichtet, um etwas »von der Erde und der Gesammtwelt gleichsam abzulösen, als Weiheplatz, um ein Geweihetes darauf zu stellen«.81 Diese Erhöhung für den Altar ist ein Abbild »des festen Quaderbaues der Erde«, sie symbolisiert »die Gesammtwelt«, indem sie einerseits das auf sie gestellte Weihegeschenk kontrastiert, andererseits aber mit ihm eine Einheit bildet.82 Im Gegensatz zum Organischen sei es das »Leblose, kristallinisch Mineralische«, das die wuchtige Steinmauer charakterisiert und auch ihrem Verhalten zu dem Daraufgestellten entspreche, »mit dem sie zu einem in sich abgeschlossenen Ganzen zusammentritt, als Repräsentantin des gleichfalls krystallinisch, d. h. eurhythmisch-allseitig in sich zurückkehrenden, jegliches Aussensein ausschliessenden Alls […].«83 Der Gegensatz von Schale und Ausfüllung zeigte sich bereits an dem »urthümlichsten und einfachsten Bau, dem Rasen-bekleideten und so in Etwas gefestigten Erdhügel«.84 Es geht also um Befestigungen von Erdaufschüttungen, um steinerne Schalen, um Zellenstrukturen. Semper betont, dass die Wurzel des Worts »Konstruieren«, struere, die Ausfüllung von hohlen Zwischenräumen bedeute.85 Stereotomie sei eigentlich eine monumentale Technik, weil ihre schweren, widerstandsfähigen Stoffe »die grösst-möglichste Gewähr der Dauer geben, weil sie auch für das Bilden im Grossen und namentlich für grossräumiges Bauen Mittel bieten, deren Bereich fast unbegrenzt ist, weil schliesslich diese Stoffe […] aus Gründen der Statik und des Massenwiderstands, ihrer Natur nach zum Innehalten solcher Dimensionen der Strukturtheile zwingen, die auch den Gesetzen der absoluten Stabilität entsprechen, wodurch […] die Monumentalität eines Werks hauptsächlich bedungen ist«.86 Semper unterscheidet die Unterteilung der Oberflächen stereotomischer Systeme von der konstruktiven Gliederung der Tektonik. Er erwähnt die »massiven Quaderberge« der Pyramiden, die »mit einer Kruste von polirten Steinplatten teppichartig überkleidet waren«.87 Sowohl Quaderwerke als auch Polygonwerke bestehen aus nach bestimmten Regeln zusammengefügten Stücken. Die statische Funktionsweise dieser Strukturen beruhe auf Druck und Gegendruck, worin sie sich von tektonischen Strukturen unterscheiden, »deren stützende Elemente sich durch die Kunst zu Organismen beleben konnten, deren Rahmenwerk und Dachgeschränk zwar kollektive, als für die Bethätigung des der Säule innewohnenden Lebens nothwendige Last, sich rein mechanisch äussert, aber zugleich in sich selbst vielgegliedert und in einzelnen Theilen als strebend und gleichsam lebendig erscheint«.88 Die stereometrische Oberfläche werde dagegen »vom eurhythmischen Gesetz« bestimmt.89 Das architektonische Element, das als Beispiel dient, ist die Rustika als grob »natürlich« erscheinendes Steinwerk mit grob behauenen Bossen- oder Buckelquadern. Diese dienen zur Verkleidung der Fassaden von Stadttoren, Festungsmauern und Palastbauten. Japanische Burgen der Edo-Zeit wie die Burg Kuma-

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4. Die vier Elemente der Architektur

4.30 Darstellung einer Treppenwange. Abbildung aus dem Traité de stéréo-

tomie von Charles-François-­Antoine Leroy, 1870.

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moto (1601–1607) stehen auf Unterbauten mit steilen Sockelmauern. Sie heißen auch »Rattenmauer«, weil die großen Steinblöcke so präzise gesetzt sind, dass nicht einmal eine Ratte die Mauer erklimmen kann. (Abb. 4.23) In der europäischen Architektur wird mit der Rustika »Ländlichkeit« oder »Natür­lichkeit«

4. Die vier Elemente der Architektur

4.31 Gewölbe der Vorhalle des

Rathauses von Arles. Jules ­Hardouin-Mansart, 1673–1676. 4.32 Vorhalle im Palais Rohan (ab 1835 Rathaus) in ­Bordeaux. Richard-François Bonfin, 1778–1784.

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4. Die vier Elemente der Architektur

4.33 Transluzente Glasscheiben

bilden die Fassade des Kunsthauses in Bregenz. Peter Zumthor, 1990–1997. 4.34 Museum der Obsessionen, Skizze von Harald Szeemann, aus Harald Szeemann, Individuelle Mythologien, Berlin 1985.

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assoziiert. Der Architekturtheoretiker Leonhard Christoph Sturm (1669–1719) schlug vor, für die Gestaltung der Außenfassade eines Stadttors »bäurisches Werk«, also Rustika, zu verwenden. Sebastiano Serlio (1475–1554), Verfasser eines der wichtigsten Architekturtraktate der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, schreibt: »Die Säulen mit groben steinen gemenget, auch der Architrab und das Frieß durch die Boßquader etwas corrumpert und gebrochen, bezeichnen das Werck der Natur, aber die Capitäl und ein theil der Säulen, das Karnieß und Gespreng bezeichnen das Werck der Kunst und hände.«90 Giovanni Battista

4. Die vier Elemente der Architektur

4.35 Detail der Fassade der Bruder-­

Klaus-Feldkapelle in Wachendorf. Peter Zumthor, 2005–2007.

Piranesis Radierungen römischer Steinmauern, welche die technische Leistung mit der erhabenen Wirkung riesiger Felsformationen verbindet, haben die lange auf Athen fixierte europäische Vorstellung von der Antike um neue dramatische Zügen ergänzt. (Abb. 4.24) Hauptbeispiele für expressive Rustikagestaltungen sind die florentischen Renaissancepaläste wie Albertis Palazzo Rucellai (1446–1451), Michelozzos Palazzo Medici Riccardi (1444–1460), beide in Florenz, Biagio Rossettis Palazzo dei Diamanti in Ferrara (1492–1567), Giuliano da Sangallos Palazzo Strozzi

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4. Die vier Elemente der Architektur

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in Florenz (1489–1539) und der von Filippo Brunelleschi begonnene und von Bartolomeo Ammanati vollendete Palazzo Pitti in Florenz (1458–1764), der mit seinem robusten Unterbau aus großen, grob behauenen und wie Felsstücke wirkenden Quadern Generationen von Architekten inspirierte – auch Semper selbst, etwa bei der Gestaltung der Terrasse des Polytechnikums (ETH) in Zürich. (Abb.  4.25, 4.26) Lewerentz verwendete ebenfalls solche Referenzen für den »festen Quaderbau der Erde« bei der Gestaltung der Stützmauer im Waldfriedhof in Stockholm (1915−1961). (Abb. 4.27) Die Backsteinskulpturen des dänischen Künstlers Per Kirkeby, der ein Geologiestudium abgeschlossen hat, sind stereometrische ­Konstruktionen im Geiste von Rudolf Schwarz’ »Bebauung der Erde« (s. S. 80–85). Ein hervorragendes Beispiel des Überzugs einer Fassade mit einer Rustikaverkleidung ist die als Gesù Nuovo bekannte Jesuitenkirche Trinità Maggiore in Neapel (Giuseppe Valeriano, Pietro Provedi, 1584). Die Fassadenstruktur des aus dem 15. Jahrhundert stammenden Palazzo Sanseverino (Architekt Novello da San Lucano) mit pyramidenförmigen Bossenquadern aus hartem vulkanischem Piperno-Stein wurde für die Fassade der Kirche beibehalten und weitergeführt. (Abb.  4.28) Als moderne Variante der nordischen Granitarchitektur der Nationalromantik gilt das Gebäude der Schwedischen Nationalbank in Stockholm von Peter Celsing (1965−1976), dessen Fassade zweischichtig konstruiert ist. Das äußere Raster ist mit gespalteten schwarzen Gylsboda-Granitplatten aus Südschweden verkleidet, für die tiefen Fensternischen wurde in den Rasterfeldern glatter Granit verwendet. (Abb. 4.29) Semper erwähnt Steingewölbe als wichtiges Gebiet der Stereotomie kaum. Im technisch-historischem Teil schreibt er, dass das »eigentliche Römerwerk«, das den Weltherrschaftsgedanken dieses Volks »in Stein ausdrückt«, das Gewölbe sei. Die Römer haben die »Concameratio, das seit ältester Zeit gekannte, aber nur für Substruktionswerke angewandte überwölbte Zellensystem« auf den Hochbau übertragen.91 Aber sein von der Textilmetapher bestimmtes System ließ eine ernsthafte, mit den anderen Herstellungstechniken vergleichbare Auseinandersetzung mit dem »Römerwerk« offenbar nicht zu. In der Architektur gilt vor allem der Steinschnitt, also die Bestimmung der Form der Bogensteine oder der Elemente eines Steingewölbes als Stereotomie, als ein Zweig der Stereometrie. Für die Erstellung von Werkzeichnungen einzelner Steine wurde mit den Mitteln der darstellenden Geometrie ein Projektionssystem entwickelt, das Handwerker nicht gerade einfach ausführen konnten. Ihre Grundsätze legte der französische Architekt Philibert de l’Orme in seinem Traité d’architecture (1576) nieder. Das weitverbreitete Handbuch der Stereotomie im 19. Jahrhundert ist der Traité de stéréotomie von CharlesFrançois-­Antoine Leroy (1870). (Abb. 4.30) Die Wissenschaft der Stereotomie wurde im 17. und 18. Jahrhundert weiterentwickelt und ermöglichte den Bau von außerordentlich virtuosen Gewölben mit komplexer räumlicher Form wie in der Vorhalle des Rathauses von Arles (Jules Hardouin-Mansart, 1673–1676) oder im ehemaligen Palais Rohan (ab 1835 Rathaus) in Bordeaux (RichardFrançois Bonfin, 1778–1784).92 (Abb. 4.31, 4.32) Die Stereotomie erlaube besonders viele Stoffwechselprozesse, stellt Semper fest. Sie umfasse »nicht bloss die Kunst des Maurers und Erdarbeiters, auch der Mosaikarbeiter, der Holz-, Elfenbein-, Metallschnitzer ist Stereotom. Sogar der Juwelier entnimmt einen Theil seiner Stilgesetze dieser Technik«.93 Die Stereo-

4. Die vier Elemente der Architektur

tomie als »sekundäre Technik« arbeite meistens nicht mehr mit jenen Stoffen, »durch welche zuerst und zunächst der reine, zwecklich-formale Vorwurf verkörpert wurde«.94 Dass sogar Glas »stereometrisch« verwendet werden kann, zeigt die Fassade von Peter Zumthors Kunsthaus in Bregenz (1990−1997). Meistens als gewichtloses, transparentes »Nichtmaterial« eingesetzt, lehnen sich hier die transluzenten, geätzten Glasscheiben an die Unterkonstruktion und werden von Stahlklammern in dieser Position gehalten, die das Gewicht des Materials zum Ausdruck bringen. (Abb. 4.33)

Postmoderne Elementenlehren Im Oktober 1976 wurde im Cooper-Hewitt Smithsonian Design Museum in New York die von Hans Hollein kuratierte Ausstellung MAN transFORMS eröffnet. Wie Sempers diachronische, durch verschiedene Zeiträume schlingernde Präsentation der Gegenstände in seinem Werk Der Stil wollten auch Hollein und die eingeladenen Architekten und Designer vor allem die for­ malen Verwandlungen von Alltagsobjekten zeigten. Es ging nicht um einen evolutionionären Auswahlprozess zu einem immer besseren Produkt wie bei der Suche nach der »guten Form«, sondern um Assoziationen und Stimmungen. Ein Teil der Ausstellung war den vier Elementen gewidmet. In 84 Eimern war die für den Bau eines Iglus notwendige Wassermenge ausgestellt, zusammengeschnittene Bildsequenzen auf einem Monitor zeigten die wohltuenden und die zerstörerischen Energien des Feuers.95 Auffallend ist die Ähnlichkeit zwischen Sempers Grundriss eines idealen Museums und dem Grundriss von Harald Szeemanns »Museums der Obsessionen«.96 Letzteres ist ein imaginärer Ort, eine Matrix der Elemente. »Obsession« war für den Ausstellungsmacher kein negativ konnotierter Begriff, sondern eine »freudig erkannte, wenn auch vorfreudsche Energiequelle, die sich einen Deut darum schert, ob sie sich gesellschaftlich gesehen […] schädlich oder nutzbringend äußert oder anwenden lässt«.97 Das Museum der Obsessionen ist zwar eine imaginäre, aber doch »begehbare« Welt, in der es um viel komplexere Bezüge geht als in den echten Museen. (Abb. 4.34) Nachdem die Lehre von den Elementen als Produkt des mythischen Bewusstseins galt, die mit der Alchemie assoziert und höchstens von Seelenforschern wie Carl Gustav Jung ernst genommen wurde, spricht Gernot Böhme heute von einer »Wiederkehr der Elemente« als Folge eines neuen Umweltbewusstseins.98 Die Lehre von den vier Elementen, die in ihrer geometrischen Strenge und mit ihren Tranformationsmöglichkeiten eine »kosmologische« Grundlage für die Interpretation der Stoffe, Herstellungstechniken und Konstruktionsformen bietet, wird allerdings von Architekten, die diese Grundlage ablehnen, dekonstruiert. So hat Rem Koolhaas als Thema für die 14. Architekturbiennale in Venedig Fundamentals gewählt, die Hauptausstellung hieß Elements. 15 Elemente der Architektur wurden dokumentiert und in einzelnen Katalogheften besprochen: Boden, Wand, Decke, Dach, Tür, Fenster, Fassade, Balkone, Flur, Kamin (Heizkörper), Toilette, Treppe, Aufzug, Rolltreppe und Rampe. Diese Elemente bilden kein System, sondern sind eher Stichworte einer Enzyklopädie. Im Gegensatz zu Sempers Elementen, die auf einer Archäologie

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des technischen Wissens beruhen und Werke des Handwerkers oder des Architekten sind, gehören die Elemente bei Koolhaas und seinen Mitarbeitern vor allem zu den Industrieprodukten, die nicht vom Architekten geschaffen, sondern von ihm ausgewählt und verwendet werden. Sempers Typologie der Urtechniken lieferte die Grundidee zur Ausstellung Sempering auf der Mailänder Triennale von 2016. Die Ausstellungsmacher nahmen Sempers System der vier Elemente zum Anlass, sein Der Stil, aufgeschlagen bei der Seite mit der Darstellung der karibischen Fischerhütte, neben dem Eingang auszustellen. Sie erweiterten jedoch sein System und stellten acht Herstellungstechniken statt vier vor: Stapeln, Weben, Falten, Fügen, Modellieren, Blasen, Gravieren und Kacheln.99 Flächengestaltungen, ganz gleich, ob Malen, Gravieren oder Fliesenlegen, können jedoch in Sempers System keine eigenen Kategorien darstellen. Aber anhand dieser Versuche wird die Intention der Kura­toren erkennbar, die Geschlossenheit eines umfassenden Systems, dem eine metaphysische Grundidee zugrunde liegt, aufzubrechen. Dadurch verliert sich jedoch – trotz des XXXL-Umfangs der Publikationen zu Elements und Fundamentals – die ambitionierte Unternehmung im Enzyklopädischen oder Anekdotischen, ohne wesentlich Neues zum Wissen über die Architektur und ihre Möglichkeiten in einer mit Sempers Der Stil vergleichbaren Art und Weise beizutragen. Wo die vier Elemente wieder zusammenfinden, liegt das Gebiet der Architektur. Zumthors Bruder-Klaus-Feldkapelle in Wachendorf (2005−2007) ist das Ergebis eines Prozesses der Materialverwandlung. Zuerst wurde eine zeltförmige »Urhütte« aus Fichtenstämmen errichtet, die dann mit einer turmartigen Hülle aus Stampfbeton ummantelt wurde, betoniert in Schichten von 50 cm Höhe. Im Inneren unterhielt man schließlich drei Wochen lang ein Feuer. Die Holzstämme verkohlten, und als sie ausgekratzt wurden, hinterließen sie eine schwarze gerillte Oberfläche. Die zur Befestigung der Schalung notwendigen Öffnungen wurden mit Glaspfropfen verschlossen, durch den Oculus tropft Regenwasser herein und sammelt sich auf dem Fußboden. Dessen Belag besteht aus Zinkblei, wofür alte Metalldosen eingeschmolzen und vergossen wurden. Das kleine Rad an der Innenwand steht für Bruder Klaus, den Schweizer Nationalheiligen, den Mystiker Niklaus von Flüe, dessen Visionen die Schweizer Schule der Psychoanalyse, die Lehre von Jung, als alchimistische Symbole deutet.100 (Abb. 4.35) Während Theoretiker, Historiker und Kuratoren sich bemühen, die Frage der Materialität im Grenzgebiet zwischen physischer/sinnlicher Präsenz und Bedeutung zu thematisieren, es ist wieder die Architektur, der es mit großer Präzision und Poetik gelingt, die Zusammenhänge von Arbeit und Stoff, Kultur und Religion offenzulegen.

Anmerkungen 1 2 3 128

Marie Louise von Plessen, Julius Bryant (Hg.), Art and Design for All. The Victoria and ­Albert Museum. Die Entstehungsgeschichte des weltweit führenden Museums für Kunst und Design. München, London, New York: Prestel, 2011, S. 115. Vgl. Harry Francis Mallgrave, Gottfried Semper. Ein Architekt des 19. Jahrhunderts, übers. von Joseph Imorde, Michael Gnehm. Zürich: gta Verlag, 2001, S. 213. Ebd., S. 212.

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Johann Wolfgang von Goethe, Aufsätze, Fragmente, Studien zur Morphologie, hg. von Doro­thea Kuhn, Wilhelm Troll, Karl Lothar Wolf. Weimar: Böhlau, 1964. 5 Gottfried Semper, Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhe­tik. Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde. Band 2: Keramik, Tektonik, Stereotomie, Metallotechnik für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst. München: Friedrich Bruckmann’s Verlag, 1863. Nachdruck Mittenwald: Mäander Kunstverlag, 1977, S. 276. 6 Gottfried Semper, »Wissenschaft, Industrie und Kunst. Vorschläge zur Anregung natio­ nalen Kunstgefühles« (1851), in: ders., Wissenschaft, Industrie und Kunst und andere Schriften über Architektur, Kunsthandwerk und Kunstunterricht, hg. von Hans M. Wingler. Mainz, Berlin: Florian Kupferberg, 1966, S. 27–71, hier S. 32. 7 Gottfried Semper, Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhe­tik. Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde. Band 1: Textile Kunst. Frankfurt am Main: Verlag für Kunst und Wissenschaft, 1860. Nachdruck Mittenwald: Mäander Kunstverlag, 1977, S. 23. 8 Friedrich Schiller, »Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen« (1793/94), in: Band 12: Schillers sämtliche Werke. Stuttgart, Berlin: J. G. Cotta’sche Buchhandlung, o. J. [um 1905], S. 3–120, hier S. 29. 9 Ebd. 10 Richard Wagner, Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig: Otto Wigand, 1850. 11 Gottfried Semper, »Wissenschaft, Industrie und Kunst« (wie Anm. 6), S. 28. 12 Ebd., 66. 13 Vgl. Walter Pagel, »Paracelsus als ›Naturmystiker‹«, in: Udo Benzenhöfer, Paracelsus. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1993, S. 24–97. 14 Ebd., S. 44. 15 Joseph Rykwert, On Adam’s House in Paradise. The Idea of the primitive Hut in Architectural History. New York: The Museum of Modern Art, 1971. 16 Semper, Der Stil, Band 2 (wie Anm. 5), S. 276. 17 Ebd. 18 Es ist erstaunlich, wie wenig wir von dieser Hütte als Exponat der Ausstellung wissen. Auf keinem der Hunderte von Bildern, die den Innenraum und Exponate der Ausstellung zeigen, ist die karibische Hütte zu sehen, das Katalogheft der Ethnografie-Abteilung erwähnt sie ebenfalls nicht. 19 Semper, Der Stil, Band 1 (wie Anm. 7), S. 9–11, hier S. 9. 20 Ebd. 21 Ebd., S. 10. 22 Ebd. 23 Ebd. 24 Ebd. 25 Ebd. 26 Ebd., S. 11. 27 Ebd. 28 Gottfried Semper, Die vier Elemente der Baukunst. Ein Beitrag zur vergleichenden Baukunde. Braunschweig: Friedrich Vieweg, 1851. Ebd., S. 54f. 29 Ebd., S. 55. 30 Ebd., S. 56. 31 Vgl. Heiz Quitsch, Gottfried Semper – Praktische Ästhetik und politischer Kampf. Braun32 schweig, Wiesbaden: Friedr. Vieweg & Sohn, 1962. 33 Gottfried Semper, The Ideal Museum. Practical Art in Metals and Hard Materials, hg. von Peter Noever, Wien: Schlebrügge Editor, 2007. 34 Gottfried Semper, »Plan eines idealen Museums (1852)«, in ders., Wissenschaft, Industrie und Kunst (wie Anm. 6), S. 72–79, hier S. 77. 35 Ebd., S. 78. 36 Semper, Der Stil, Band 1 (wie Anm. 7), S. 12. 37 Ebd., S. XVII. 38 Ebd., S. 9. 39 Ebd., S. 11. 40 Semper, Die vier Elemente (wie Anm. 28), S. 56. 41 Marc Dessauce (Hg.), The Inflatable Moment: Pneumatics and Protest in ’68. New York: Princeton Architectural Press, 1999.

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Jonas Wirth, Zwischen Stoffen. Eine theoretische Untersuchung der Bauformen in den Flüchtlingslagern der Westsahara unter den Aspekten des Stoffwechsels und dem Prinzip der Bekleidung, Wahlfacharbeit ETH Zürich, Institut gta, unveröffentlichtes Manuskript, 2013. 43 Semper, Der Stil, Band 1 (wie Anm. 7), S. 9. 44 Semper, Der Stil, Band 2 (wie Anm. 5), S. 3. 45 Ebd. 46 Ebd., Anm. 1. Semper zitiert hier den französichen Naturforscher Alexandre Brongniart. 47 Ebd., S. 127ff. 48 Ebd., S. 1. 49 Semper, Die vier Elemente (wie Anm. 28), S. 56. 50 Vitruv, Zehn Bücher über Architektur, übers. von Curt Fensterbusch. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1964, S. 79–81. 51 Peter Sloterdijk, Sphären. Mikrosphärologie. Band 2: Globen. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1999, S. 233. 52 Gottfried Semper, Die vier Elemente (wie Anm. 28), S. 54f. 53 Gottfried Semper, »Ueber den Zusammenhang der architektonischen Systeme mit allgemeinen Kulturzuständen« (1853), in: ders., Kleine Schriften, hg. von Hans und Manfred Semper. Berlin, Stuttgart, 1884. Nachdruck Mittenwald: Mäander Kunstverlag, 1979, S. 351−368, hier S. 352. 54 Gottfried Semper, »Ueber architektonische Symbole«, Vorlesung, gehalten in London, 1854, in: ders., Kleine Schriften (wie Anm. 53), S. 292–303, hier S. 297. 55 Leon Battista Alberti, Zehn Bücher über die Baukunst, übers. von Max Theuer. Wien und Leipzig: Hugo Heller & Co., 1912. Neu abgedruckt Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1975, S. 526. 56 Peter Sloterdijk, Globen (wie Anm. 51), S. 242. 57 E[duardo] Torroja, Logik der Form. München: Verlag Georg Callwey, 1961, S. 33. 58 Ebd. 59 Aus der Ansprache von Otto Bartning zur Einweihung der Stahlkirche in Köln am 31. März 1928, zit. in: Hans K. F. Mayer, Der Baumeister Otto Bartning und die Wiederentdeckung des Raumes. Heidelberg: Verlag Lambert Schneider, 1951, S. 48. 60 Semper, Der Stil, Band 2 (wie Anm. 5), S. 353. 61 Ákos Moravánszky, »Das Monumentale als symbolische Form. Zum öffentlichen Auftritt der Moderne in den Vereinigten Staaten«, in: Carsten Ruhl (Hg.), Mythos Monument. Urbane Strategien in Architektur und Kunst seit 1945. Bielefeld: transcript Verlag, 2011, S. 37–61. 62 Heinrich Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst. 10. Aufl. Basel: Benno Schwabe, 1948, S. 173. 63 Vgl. Kenneth Frampton, Studies in Tectonic Culture. The Poetics of Construction in Nineteenth and Twentieth Century Architecture, Cambridge, Massachusetts: The MIT Press, 1995. 64 Semper, Der Stil, Band 2 (wie Anm. 5), S. 209. 65 Semper, Der Stil, Band 1 (wie Anm. 7), S. 9. 66 Semper, Der Stil, Band 2 (wie Anm. 5), S. 210. 67 Ebd. 68 Ebd., S. 295. Ebd., S. 319. 69 Ebd., S. 211. 70 Ebd., S. 212. 71 Ebd., S. 275. 72 73 Ebd. 74 Ebd., S. 320. 75 Adolf Loos, »Das Prinzip der Bekleidung« (1898), in: ders., Ins Leere gesprochen 1897–1900. Paris, Zürich: Georges Crès et Cie, 1921. Nachdruck Wien: Prachner, 1981, S. 139. 76 Gottfried Semper, »Der Blockverband. Das Schweizerhaus«, in ders., Der Stil, Band 2 (wie Anm. 5), S. 312–316. 77 Ebd., S. 327. 78 Ebd., S. 323. 79 Ebd., S. 351. 80 Ebd. 81 Ebd., S. 353. 82 Ebd. 83 Ebd., 359. 84 Ebd., S. 378. 42

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4. Die vier Elemente der Architektur

85 Ebd., S. 381, Anm. 1. 86 Ebd., S. 352. 87 Ebd., S. 353f. 88 Ebd., S. 359. 89 Ebd. 90 Seb. Serlii von der Architectur Fünff Bücher: Darinnen die gantze lobliche und zierliche Bawkunst, sampt den Grundlegungen und Auffzügen manigerley Gebäuwen vollkomlich aus den Fundamenten gelehrt. Basel 1609, fol. LXI r. 91 Semper, Der Stil, Band 2 (wie Anm. 5), S. 394. 92 C[harles]-F[rançois]-A[ntoine] Leroy, Traité de stéréotomie comprenant les applications de la géométrie descriptive à la théorie des ombres, la perspective linéaire, la gnomonique, la coupe des pierres et la charpente. Paris: Gauthier-Villars, 1870. 93 Semper, Der Stil, Band 1 (wie Anm. 7), S. 11. 94 Semper, Der Stil, Band 2 (wie Anm. 5), S. 352. 95 Hans Hollein, Design, MAN transFORMS. Konzepte einer Ausstellung. Concepts of an Exhibition, hg. von der Hochschule für angewandte Kunst, Wien. Wien: Löcker Verlag, 1989, S. 96. 96 Harald Szeemann, Individuelle Mythologien. Berlin: Merve, 1985, S. U2. (Umschlag-Innenseite) 97 Harald Szeemann, Museum der Obsessionen. Berlin: Merve 1981, S. 125f. 98 Gernot Böhme, Hartmut Böhme, Feuer Wasser Erde Luft. Eine Kulturgeschichte der Elemente. München: Verlag C. H. Beck, 1996, S. 299f. 99 Luisa Collina, Cino Zucchi (Hg.), Sempering. Process and Pattern in Architecture and ­Design. Mailand: Silvana Editoriale, 2016. 100 Marie-Louise von Franz, Die Visionen des Niklaus von Flüe, Studien aus dem C. G. Jung-­ Institut Zürich. Band IX. Zürich: Rascher, 1959.

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5. DIE NATUR DER STOFFE Die Lehre von der Materialwahrheit Der Ursprung der Idee von der Materialwahrheit in der Architektur ist mit dem Namen des venezianischen Franziskanerpaters Carlo Lodoli (1690–1761) verbunden. Er hat seine Lehre selbst nicht veröffentlicht, stattdessen verbreiteten seine Schüler Francesco Algarotti und Andrea Memmo, die ihn als den Sokrates der Architektur, als kompromisslosen und radikalen Wahrheitssucher verehrten, seine Thesen. Wie der griechische Philosoph, der »die Philosophie vom Geschwätz und Irrthümern der Sophisten zu reinigen suchte«, wolle ­Lodoli die Architektur zu ihren richtigen Grundlagen zurückführen, heißt es bei Algarotti.1 Rappresentazione (Repräsentation, Darstellung) ist ein Schlüsselwort dieser Theorie: Nichts darf in der Architektur sichtbar erscheinen, was nicht der Wahrheit entspricht. Algarotti zitiert in seiner Schrift »Versuch über die Architectur« die Folgerung Lodolis: »[…] man müsse nicht nur einen oder den andern Theil, sondern alle sowohl alte als neue Gebäude ganz verwerfen, diejenigen vorzüglich, die man für die schönsten hält und als Muster der Kunst ansiehet«.2 Diese Bauten seien »von Steinen gebauet und scheinen von Holz zu sein«, was für Lodoli und Algarotti heißt: »Gebrauch« und »Vorstellung« sind in einen Widerspruch geraten. »Warum soll Stein nicht Stein sein? Holz nicht Holz? Jedes Ding nicht das was es ist, sondern etwas anders? Die Architectur müsste just das Gegentheil seyn von allen was man darinnen lehret und thut – so sie sich zu der characteristischen Beschaffenheit, Biegsamkeit oder Steifigkeit der Materie, zu der verschiednen widerstehenden Kraft, mit einem Worte, zum Wesen und der Natur derselben schicket. Da nun die Natur des Holzes von der Natur des Steines auf die förmlichste Art verschieden ist, so müssen auch natürlicherweise die Gestalten, die man im Bauen dem Holze giebt, von denen Gestalten, die den Steinen gegeben werden, verschieden seyn. Nichts ist abgeschmackter, fügt er [Lodoli, Á. M.] hinzu, als sich Mühe geben, dass eine Materie nicht selbst, sondern eine andre bedeuten solle. So aber ists eine stete Maskerade, ein beständiges Lügenwerk.«3 Nur wenn Form, Bau und Schmuck aus der »Natur und Wesen der Materie« abgeleitet seien, könne man »architectonisch-vernünftig« bauen.4 »Dies ist das Hauptargument und so zu sagen der Mauerbrecher unsers Philosophen, womit er gewaltig um sich stosst und gleichsam auf einmal die ganze alte und neue Architectur übern Haufen zu werfen gedenket, an deren statt er uns denn einstens seine eigne Baukunst schenken wird, mit der Materie übereinstimmend, eine Architectur ohne Falsch, aufs Wesen der Dinge gegründet […].«5 Algarotti bezeichnet die Forderungen Lodolis als »entsetzlich«, weil sein radikaler Rationalismus die Autorität der Lehre Vitruvs untergrabe, indem er zeige, dass der römische Autor mit der These vom hölzernen Ursprung griechischer Tempel die Forderung der Materialwahrheit verletze. Im Rückblick scheint uns die »Entsetzlichkeit« der Lehre des Franziskanerpaters eher darin zu bestehen, dass er als einer der Ersten bestimmen wollte, was auf einer Fassade sichtbar

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5. Die Natur der Stoffe

sein darf und was nicht. Durch Lodolis Verbindung der Wahrheit mit der Sichtbarkeit des Konstruktionsmaterials waren Vernunft und Sittlichkeit der Architektur endgültig mit der Frage des Verhältnisses von Konstruktion und Oberfläche verbunden.6

Christliche Kunst und Materialwahrheit

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Architekturhistoriker der Moderne verbinden den Rationalismus Lodolis und seiner Anhänger mit dem französischen Klassizismus Marc-Antoine Laugiers, mit der Materialethik John Ruskins und – wie Alberto Sartoris – sogar mit dem Funktionalismus des 20. Jahrhunderts.7 Nicht nur die These von der Materialwahrheit, auch die Verwendung von Konzepten und Begriffen wie »Funktion« oder »Organismus« sollte die These von den Rigoristen als »the first moderns« (Joseph Rykwert) begründen.8 Bei solchen konstruierten Genealogien wurde aus der Ideologie der Moderne vieles auf das historische Material zurückprojiziert: Bereits Memmo und Algarotti interpretierten ja die Gedanken ihres Meisters unter dem Einfluss von anderen rezipierten Ideen. Die verschiedenen Aussagen zur Materialwahrheit sprechen nie für sich, und die Aussage moderner Texte ist trotz der kürzeren historischen Entfernung diesbezüglich nicht leichter zu entziffern als die archaische Sprache Algarottis. Es war der angesehene Professor der École Polytechnique in Paris, Jean-­ Nicolas-­Louis Durand (1760–1834), der das richtig angewandte Material als Quelle der Schönheit in der Architektur hervorhob. Die ästhetischen Proportio­ nen und Formen seien »aus der Natur der Materialien« und der Erfüllung des Gebrauchszwecks geboren.9 Durand erwähnt in seinem Werk Précis des leçons d’architecture (1819) die Sichtziegelarchitektur als Beweis dafür, dass dieser Bau­ stoff bereits in der Antike unverhüllt verwendet wurde: »Um sich zu überzeugen, man braucht nur einen Blick auf die imposanten Überreste anti­ker Gebäude zu werfen, auf die schönen Bauten die über ganz Italien zerstreut sind, Werke wo Stein, Ziegel, Marmor sich zeigen als sie sind, und an der Stelle wo sie gehören.«10 Als Beispiel zeigt er dann vier Fassaden als Möglichkeiten, denselben einfachen Grundriss materialgerecht auszuführen: als Sichtziegelbau, Steinbau, Putzbau und Holzständerbau.11 (Abb. 5.1) Beispiele wie etwa aus Backstein gemauerte und mit Metalleinlagen verstärkte Unterzüge, die eine Stein­konstruk­ tion imitierende Verkleidung tragen, wiederlegen allerdings Durands Behauptung von der materialgerechten Architektur der Antike. (Abb. 5.2) Mehr als ein Jahrhundert später arbeitete der Architekt Paul Schmitthenner an seinem Lehrbuch Gebaute Form (1943–1949), in dem er, ähnlich wie Durand, den Urtypus des Wohnhauses (der kaum zufällig an das Gartenhaus Goethes erinnert) in seinen verschiedenen stofflichen Verkörperungen zeigt: in Fachwerk mit Bruchsteinausfachung, in Feldsteinmauerwerk, in Ziegelmauerwerk oder – physiognomisch charakterisiert – als »Haus mit der kühlen Noblesse«, »Haus mit dem ersten Gesicht« und so weiter. Schmitthenner bezeichnet den Urtypus als »Thema«, womit wir in die Nähe der semperschen Transformationslehre geraten sind. Seine Entscheidung, den Urtypus als »das Thema« zu zeichnen, war eine konsequente, aber »unmögliche« Entscheidung, denn es geht um die immaterielle Idee, die nur in ihren verschiedenen Materia-

5. Die Natur der Stoffe

5.1 Konstruktionen aus verschiedenen Materialien, Tafel aus Jean-Nicolas-Louis Durand, Précis des leçons d’architecture, Bd. 1., Paris 1819. 5.2 Architekturdetail aus dem Audienzraum von Hadrians Villa in Tivoli, um 118–130.

lisierungen erscheinen kann. Der Architekt schrak allerdings davon zurück, als Lehre aus seiner eigenen Bildsequenz das Prinzip der Bekleidung zu akzeptieren, in den 1940er-Jahren wäre dies noch ein Anathema gewesen. Schmitthenner postuliert also ein anderes Verhältnis zwischen Material und Form: »Die Gesetze vom Zusammenhang zwischen Stoff und Form sind Naturgesetze und unveränderlich. Stoff und Form sind wie Körper und Seele. Das Seelische, das Geistige wandelt sich, der Stoff bleibt. Die Vollkommenheit liegt im Zusammenhang. Vollendung, wenn Stoff und Form zu untrennbarer Einheit geworden sind. Das ist das Wesen der Synthese.«12 (Abb. 5.3 a–d)

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5. Die Natur der Stoffe

5.3 Abbildungen aus Paul Schmitthenners Gebaute Form (1943–1949, veröffentlicht 1984). a. Das Thema: Die Längsseite in unstofflicher Darstellung. b. Das Haus in Bruchstein und Fachwerk. c. Das Haus in Feldsteinmauerwerk. d. Das Ziegelhaus mit den Lisenen.

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Der englische Architekt Augustus Welby Pugin griff in seinem Buch True Principles (1841) die Lügenhaftigkeit der Architektur seiner Zeit scharf an.13 Die Verwendung und Behandlung von Konstruktionsteilen wie Balken in der klassizistischen Architektur zeige den Ursprung des Modells in der Holzarchitektur, was ein Verstoß gegen die wahren Prinzipien des Bauens sei, schreibt Pugin. Die Gotik hingegen verwende Stein seinen Eigenschaften entsprechend. Pugin kritisierte den Verputz als Ausdruck der Unwahrheit und des moralischen Verfalls seiner Zeit. Er dachte jedoch, dass die moralische Welt des Christentums, »the ancient feelings and sentiments« restaurierbar seien.14 In seinem früheren Buch Contrasts (1836) arbeitete Pugin als Erster mit vergleichenden Bildtafeln, um den moralischen Verfall der Architektur seiner Zeit zu zeigen.15 Architekturdetails, die früher mit handwerklicher Arbeit hergestellt wurden, waren zu billigen Surrogaten geworden, Dekorationen aus geschnitztem Holz oder Stein durch bemalte Tapeten ersetzt.16 (Abb. 5.4) Die Anhänger der liturgischen Reformbewegung der Cambridge Camden Society griffen mit ihrer 1841 gegründete Zeitschrift The Ecclesiologist Pugins Thesen auf und verbreiteten sie.17 Es ist diese Zeitschrift, welche die Wende von der anfänglichen Ablehnung der Sichtziegelarchitektur bis zu ihrer vollen Unterstützung am besten dokumentiert. Das Ideal, das den Ecclesiologisten zunächst vorschwebte, war die rohe Steinfassade, da sie mit ihrer Irregularität den Vorstellungen des picturesque, der Ästhetik des Malerischen, am besten entsprach. Was als Theorie von der Materialwahrheit bald die Umrisse eines festen Prinzips annehmen sollte, zeigt hier ihre enge Verflechtung mit dieser Ästhetik. Ziegel erfüllten die Forderungen dieses Konzepts anfänglich noch nicht, es sei denn, der Sichtziegelfassade wurde mit entsprechenden Kunstgriffen eine malerische Wirkung verliehen. Zu diesem Zweck eigneten sich farbige

5. Die Natur der Stoffe

5.4 Vergleich der alten und der neuen Eingangs­türen und Details der Kirche St Mary Overie, Southwark aus dem Buch ­Contrasts von Augustus Welby Pugin, London 1841.

Majolikaeinlagen oder die Verwendung von Ziegeln verschiedener Farbe und Schattierung. Die über den Ecclesiologist verbreiteteten Ideen fanden schnell auch auf dem Kontinent in Zeitschriften wie dem Kölner Domblatt oder den Annales archéologiques Gehör. Zwischen den Redakteuren dieser Bauzeitungen gab es einen regen Austausch von Ideen.18 August Reichensperger, von 1842 bis 1844 und ab 1849 Redakteur des Kölner Domblatts, übernahm Pugins Argumente fast wörtlich. In seinem Buch Die christlich-germanische Baukunst (1845) stellt er fest: »Heutzutage weiß man durch Mörtel und Tünche aus Allem Alles zu machen […] der Gyps zaubert jede Mauer und jeden Balken in eine strahlende Wand oder Säule von Marmorstein und Porphyr um […]. Solches Schauspielern, Koket­tiren und Schwindeln, solches Pappen, Flicken und Klatschen, solcher hohle Bettelstolz, wie er sich allerwärts, bis hinauf zu den Mörtelpalästen unserer Hauptstädte aufbläht, mit einem Worte, eine solche Lügenhantierung war tief unter der Würde jener großen Meister des Mittelalters, deren innerstes Wesen vor allem das Gepräge der Wahrhaftigkeit und der Gesetzmäßigkeit an sich trug und die […] dasselbe allen ihren Schöpfungen aufdrückten.«19 Vertreter der Neogotik wie Reichensperger, der Architekt Georg Gottlob Ungewitter oder Conrad Wilhelm Hase, der Begründer der hannoverschen

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5. Die Natur der Stoffe

5.5 Rundbogen im Dom von ­ urano. Abbildung in John M ­Ruskin, The Stones of Venice Bd. II, London 1907, Taf. V.

Architekturschule, verhalfen der Lehre von der Materialwahrheit in den letzten Jahren des 19. Jahrhundert zu allgemeiner Akzeptanz als Grundsatz der Architektur. »Zu einer Zeit, da die Baukunst in Deutschland überwiegend in dilettantischem Sinne, als ein tastendes Spiel mit willkürlich entlehnten, rein äusserlich angewendetem Formen betrieben wurde« habe Hase »muthig seine Fahne entfaltet und ist für den Grundsatz eingetreten, dass das oberste Erforderniss der Baukunst Wahrheit und Echtheit sei, dass die künstlerische Form mit der Konstruktion und dem Baustoffe im Zusammenhang stehen müsse«, heißt es 1898 in einer Würdigung der Deutschen Bauzeitung.20 Die Maxime der Materialwahrheit wurde schon früher zur theoretischen Grundlage des protestantischen Kirchenbaus erhoben. Die Thesen des 1860 in ­Barmen veranstalteten deutschen Evangelischen Kirchentags hatten festgehalten, dass die Würde des Kirchenbaus »den blossen Schein der Festigkeit und Dauer ver­bietet« und »massives Material« fordere.21 Im Eisenacher Regulativ von 1861 waren Regeln zum Bau und zur Ästhetik evangelischer Kirchenbauten for­mu­liert worden. Auch hier wurde betont, dass der Kirchenbau »­dauerhaftes Mate­rial und solide Herstellung ohne täuschenden Bewurf oder Anstrich« ­verlange.22

Der Leuchter der Wahrheit

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Der einflussreichste Vertreter der Lehre von der Materialwahrheit war John Ruskin (1819–1900), »der Luther der Künste«, wie ihn sein Freund, der Maler und Präraffaelit Edward Burne-Jones, bezeichnete.23 Ruskin leugnete Pugins Einfluss, Patrick Conner hat allerdings gezeigt, dass er die True Principles sorgfältig studiert hatte.24 In seinem The Seven Lamps of Architecture (Die sieben Leuchter der Architektur, 1849), insbesondere im Kapitel »Der Leuchter der Wahrheit« lehnt Ruskin jeden »baukünstlerischer Betrug« ab. Betrug entstehe durch die Vorspiegelung einer falschen Konstruktion, durch das »Bemalen von Oberflächen, um andere Materiale vorzustellen als das, woraus sie bestehen (wie im Marmorieren des Holzes)« oder durch die Verwendung von gegosse-

5. Die Natur der Stoffe

5.6 Garden Building des St Hilda’s College in Oxford. Alison und Peter Smithson, 1968–1970.

nen oder mit Maschinen erzeugten Ornamenten.25 Er billigte die Marmorverkleidung von Fassaden, solange sie nicht den Eindruck einer wertvolleren, da soliden Steinfassade vortäuschten. Sobald das Eisen »die Rolle des Steins einzunehmen beginnt« und steinerne Strebepfeiler ersetze, »die den Zweck ebenso gut erfüllt haben würden; so hört […] das Gebäude auf, Architektur zu sein«, behauptet Ruskin.26 Beabsichtigte Täuschung war für ihn das Kriterium der Unwahrheit in der Architektur; wenn es klar sei, dass Architekturglieder bloß gemalt seien, könne man nicht von Lüge sprechen. Scharf verurteilte Ruskin dagegen die Verwendung guss­ eiser­ner Ornamente, die er für die »Verkümmerung unseres Volks-­Empfindens« verantwortlich machte.27 Keine Ornamente seien »so kalt und plump, so roh und ungeeignet für feinere Linien und Schatten, wie die aus Gusseisen«.28 Putz ­akzeptierte er als Träger von Farbe: Putz liege an der Ziegelwand wie der ­Gessogrund auf der Leinwand. Verputz lehnte er dann ab, wenn er dazu diene, Stein zu imitieren. In Großbritannien wurde in der viktorianischen und edwardianischen Zeit (1837–1914) mehr Ziegel verbaut als jemals zuvor. Zu dieser Entwicklung trug nicht nur die Senkung der Ziegelsteuer im Jahre 1850 bei, sondern auch die Werke Ruskins, vor allem sein The Stones of Venice (Steine von Venedig, zuerst veröffentlicht 1851−1853) mit dem viel gepriesenen Kapitel »The Nature of Gothic«. Die polychrome, arbeitsintensive Ziegelarchitektur gefiel Ruskin, der

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5. Die Natur der Stoffe

5.7 Red house, das Wohnhaus von William Morris in Upton, ­Bexleyheath von Philip Webb, 1858/59. 5.8 All Saints’ Church in London, William Butterfield, 1850–1859.

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5. Die Natur der Stoffe

5.9, 5.10 Oxford University Museum of Physical Sciences von Thomas Deane und Benjamin Woodward, 1855–1861 (dekorative Details erst 1911 beendet).

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5. Die Natur der Stoffe

5.11 Trinity Church in Boston.

Henry H. Richardson 1872–1877.

5.12 Marshall Field Wholesale

S­ tore, Chicago. Henry H. Richardson, 1885–1887, abgerissen 1930.

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die Freude des Handwerkers an der Arbeit als ein Hauptkriterium guter Architektur betrachtete. Aus diesem Grund lehnte er jede akribische, mechanische Imitation der Gotik strikt ab. Jene Architektur, die er in seinen Büchern und Vorträgen propagierte, wirkte vor allem im Vergleich mit der klassischen Tradi­tion als naiv, roh und sogar hässlich. (Abb. 5.5)

5. Die Natur der Stoffe

5.13, 5.14 Gerichtshof und Gefäng­nis von Allegheny County, Pittsburgh. Henry H. Richardson, 1883–1888.

John Summerson eröffnet 1948 seinen Essay über William Butterfield, einem Wegbereiter der Ziegelarchitektur ruskinscher Inspiration, mit der Bemerkung, dass Leute mit Geschmack dessen Bauten heute hässlich fänden. Pfarrer der von Butterfield entworfenen Kirchen, so Summerson, würden deren Fassa­den am liebsten weiß schlämmen. Der Essay trägt den Titel »William

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5. Die Natur der Stoffe

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Butterfield; or, the Glory of Ugliness« (»William Butterfield oder die Pracht der ­Hässlichkeit«) – für den englischen Architekturhistoriker war ugliness nicht unbedingt nega­tiv besetzt.29 Bereits in den 1930er-Jahren initiierte die wichtige Architekturzeitschrift The Architectural Review eine Kampagne unter dem Einfluss des Surrealismus, um die »beauty, ugliness and the power to disquiet« (»Schönheit, Hässlichkeit und die Kraft zur Unruhe«) in alltäglichen R ­ äumen anzuerkennen.30 Zu der Zeit, als Summersons Aufsatz erschien, wurde Hässlichkeit in der britischen Architektur zu einem kritischen Konzept, das Architekten wie Alison und Peter Smithson bald die historische Legitimation zu ihrem Programm des »New Brutalism« gab. Ihr Garden Building für das Saint Hilda’s College in Oxford (1968) zeigt vorgefertigte Betonstützen und darauf gestütztes Eichen­fach­werk als Tragkonstruktion, doch eigentlich trägt die Backsteinmauer hinter dieser Fassadeninszenierung die Last. Die Architekten erklärten diese Lösung mit der Notwendigkeit, das Studenteninnenheim von der Außenwelt stärker abzuschirmen. Sie suchten eine expressive Material­ wirkung statt kultivierter Langeweile, die von Geoffrey Scott im Jahr 1914 als »Architektur des Humanismus« propagiert worden war.31 (Abb. 5.6) Obwohl es heute dem allgemeinen »Image« der englischen Architektur zu widersprechen scheint, wurden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Ziegel als Fassadenmaterial kaum verwendet. Der Sichtziegel stand im Gegensatz zum weißen, neoklassizistischen Ideal. Roter Ziegel allein war am Anfang wohl zu viel für den englischen Geschmack. Kein Wunder, dass William Morris das Haus, das Philip Webb für ihn in Upton, Bexleyheath, entwarf, Red House (1859/60) nannte – es war als Provokation gemeint. Morris wollte ein Haus »very mediaeval in spirit«, gebaut im Stil des 13. Jahrhunderts, weit von dem Geschmack der eigenen Zeit entfernt.32 (Abb. 5.7) Butterfield war überzeugt davon, dass es seine Berufung sei, »dem Ziegel Würde zu geben«33. Der Feuerwiderstand war ohne Zweifel ein schwerwie­gendes Argument in industriellen Städten wie London oder Manchester, aber seine ersten programmatischen Bauten wie die All Saints’ Church in London (1850–1859) wurden sogar von seinen Freunden scharf kritisiert. (Abb. 5.8) Die Fassade ist mit roten Ziegeln bekleidet und von horizontalen Streifen aus dunklen Teerziegeln ornamental gegliedert. Diese Fassadentextur war im v­ iktorianischen England als constructional colour bekannt, womit der Unterschied zu einer deckenden Farbbehandlung (etwa bemaltem Putz) betont werden sollte. Butterfield lehnte die billigeren, maschinell hergestellten und gefärbten Ziegel ab. Er verwendete dünne Ziegel mit feinen Fugen im Blockverband. Ruskin lobte Butterfields All Saints’ Church; George Hersey behauptete sogar, Ruskin habe seine Position bezüglich Polychromie unter dem Eindruck dieser Kirche entwickelt.34 Die als »Ruskinian Gothic« bezeichnete Stilrichtung folgte hinsichtlich Inkrustation und Farbkontrasten italienischen Vorbildern. Das Oxford University Museum of Physical Sciences (heute Oxford University Museum of Natural History) von Thomas Deane und Benjamin Woodward (1855–1861, dekorative ­ othic. Es folgt RusDetails erst 1911 beendet) ist ein Hauptwerk der Ruskinian G kins Diktum, die »reinen und perfekten Formen der nordischen Gotik zu adoptieren und sie mit italienischer Verfeinerung zu verwenden«.35 Eine ­gotisierende Eisenkonstruktion stützt das große Glasdach der ­Ausstellungshalle; die Säulenschäfte bestehen aus Gusseisen, die Bögen aus geschmiedetem Eisen. Die auf die Tragkonstruktion befestigte sekundäre Dekoration verwandelt die Eisen-

5. Die Natur der Stoffe

5.15 Crane Memorial Library in

Quincy, Massachusetts. Henry H. Richardson, 1880–1882. 5.16 Glessner House, Chicago. ­Henry H. Richardson, 1885–1887.

träger in Abbilder von Bäumen und Pflanzen. (Abb. 5.9, 5.10) Auf den ersten Blick scheint die Verwendung von Eisen Ruskins Prinzipien zu widersprechen; in seinem Buch Die sieben Leuchter der Baukunst hatte er jedoch schon bemerkt: »Theoretisch ist kein Grund vorhanden, weshalb Eisen nicht so gut wie Holz gebraucht werden sollte, und die Zeit ist vielleicht nicht mehr fern, wo ein neues System der Baugesetze entwickelt wird, das ganz der metal­lischen Konstruktion angepasst sein kann.«36 Aber in einer Fußnote fügt er noch hinzu: »Heute hat sich bereits der eiserne Sinn so entwickelt, dass er unser altes fröh­ liches England in den Mann mit der Eisernen Maske verwandelt hat.«37

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5. Die Natur der Stoffe

Materialwahrheit als Nationalstil in den Vereinigten Staaten

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Die nordamerikanische Faszination für Natur und die Verbindung der Natur mit der politischen und kulturellen Identität des jungen Staats fand im Transzendentalismus Ralph Waldo Emersons seine erste philosophische Formulierung. Die Ästhetik des Malerischen und des Erhabenen, die eng mit der Betrachtung des Naturschönen zusammenhing, beeinflusste die Kunst und die Architektur im 19. Jahrhundert stark. Sowohl Irregularität, Kontrast und Farbigkeit als Elemente des Malerischen als auch das Großartige, Überwältigende und Monumentale als Bestandteile des Erhabenen sind in der Architektur von Henry Hobson Richardson (1838–1886) präsent. Dieser ging 1857 von seiner Geburtsstadt nach Boston, um an der Harvard University zu studieren, etwa um dieselbe Zeit, als Andrew Jackson Downing und Alexander Jackson Davis die Ästhetik des Malerischen in ihren Schriften und Projekten verbreiteten. Diese wurden bald durch die Tätigkeit von Frederick Law Olmsted, dem späteren Freund von Richardson, zu einem bestimmenden Einfluss für das Gesicht vieler amerikanischer Städte. Anfang der 1860er-Jahre studierte Richardson Architektur an der École des Beaux-Arts in Paris, aber keine der einander bekämpfende Stilrichtungen der Romtreuen und der Gotiker interessierte ihn. Fasziniert war er dagegen von der Architektur der Romanik, wohl angeregt von der damals in Deutschland geführten Rundbogenstil-Diskussion, die von Heinrich Hübsch um 1828 initiiert worden war.38 Richardson besuchte die frühmittelalterlichen Kathedralen in Frankreich und in Spanien und legte als einer der ersten Architekten eine große Sammlung mit Fotografien an. 1865 kehrte er von Paris nach Nordamerika zurück. Bereits seine frühen Bauten zeigen den Einfluss der südfranzösisch-iberischen Romanik. Mit der Trinity Church in Boston (1872–1877) erntete er seinen ersten großen Erfolg. Der kompakte Bau mit dem wuchtigen Vierungsturm wirkt dank der warmen Farbigkeit der Fassade freundlich, die Wandtextur aus Granitquadern ist mit Einfassungen aus rötlichem Sandstein gegliedert. (Abb.  5.11) Die Bibliotheken, die Richardson in den kleinen Industriestädten um Boston wie North Easton baute, lässt sein Interesse an malerischen Wirkungen erkennen.39 Die späteren Bauten wie das nicht mehr existierende Marshall-Field-Warenhaus (Marshall Field Wholesale Store) in Chicago (1885–1887) (Abb. 5.12) oder sein wohl wichtigstes Werk, der Komplex des Gerichtshofs und Gefängnisses von Allegheny County in Pittsburgh (1883–1888) (Abb. 5.13, 5.14), vertreten die Ästhetik des Erhabenen, was bei letztgenanntem Beispiel – der Aufgabe entsprechend – durchaus ins Bedrohliche kippen kann. Die frühere Farbigkeit ist dem homogenen Silbergrau des monolithischen Baukörpers gewichen; die Schwere der Granitquader und der riesigen Keilsteine bestimmen die Gesamtwirkung. Die Crane Memorial Library in Quincy, Massachusetts (1880–1882), steht für eine Revision seines früheren pittoresken Stils in Richtung einer zunehmenden Strenge mit einer fein kalibrierten Asymmetrie. (Abb.  5.15) Das Glessner House in Chicago (1885–1887) zeigt wie Richardsons öffentliche Bauten nach 1880 eine mono­ lithische Wirkung, das Ergebnis ist ähnlich abweisend. (Abb. 5.16) Die Lehre aus der Architektur des Mittelalters ist nicht mehr auf konkrete Vorbilder zurückzuführen, wie es bei der Trinity Church der Fall gewesen war. Das Voka­ bular des »Richardsonian Romanesque« ist fertig, und sein Einfluss breitet sich

5. Die Natur der Stoffe

5.17 Auditorium Building, Chicago.

Louis H. Sullivan, 1886–1889.

5.18 Der nördliche Block des

Monadnock Building, Chicago. Burnham and Root, 1889–1892.

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5. Die Natur der Stoffe

5.19 Die Kirche der ersten

­Presbyterianer-Gemeinde, ­Detroit, Mason and Rice, 1890/91. Abbildung aus Paul Graef, Hg., Neubauten in Nordamerika, Berlin 1897, Taf. 88.

aus – nicht zuletzt aufgrund der hochwertigen Fotografien, die Richardson bewusst einsetzte, um neue Klienten zu gewinnen. Louis Henry Sullivan (1856–1924) führte den von Richardson eingeschlagenen Weg zunächst konsequent fort. Er entwarf unter dem Eindruck des Marshall-­Field-Warenhauses von Richardson das Auditorium Building in Chicago (1886–1889), einen massiven Block mit einer granitverkleideten unte­ren Fassadenzone. Auf Zeitgenossen wirkte das Gebäude laut Rudolph M. Schindler wie ein Meteor von einem anderen Planeten. (Abb. 5.17) Die Schwere des Richardsonian Romanesque (oder Modern Romanesque) wich im Werk Sullivans dann einer Gestaltung der Fassade, die zunehmend leichter wirkte, was unter anderem ihre Trennung von der tragenden Stahlskelett-Tragkonstruk­ tionen ermöglichte. Das letzte große Hochhaus in Chicago mit tragenden Fassadenmauern, ein Mammut der Backsteinarchitektur, war das Monadnock Building von Burnham & Root (1889–1892). (Abb.  5.18) Der massige »Material­stil« des Auditorium Building von Sullivan ging bald mühelos in eine Bekleidungs­ästhe­tik über (s. S. 248–251), was zumindest Zweifel an der Unvereinbarkeit beider Positionen wecken muss.

Richardsons Wirkung in Europa

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Die wachsende Unzufriedenheit mit dem »Maskenball« des Historismus und dessen Unfähigkeit zur Neuschöpfung regte in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die Suche nach Alternativen an. Die neuen Bilder aus den USA belebten die Architekturdiskussion, sogar in den als »Nationalstil« bezeichneten Bestrebungen vieler europäischer Länder von Finnland bis Ungarn oder zur Schweiz ist der amerikanische Einfluss klar erkenntlich. In dieser Zeit erschien das Prinzip der Materialgerechtigkeit als jenes Gesetz der Baukunst, das über den Streitigkeiten der Stilparteien des Historismus steht. »Ein Prinzip und keine Parteien!«, lautete dementsprechend der Titel des Vortrags von J­ohann Heinrich Wolff im Jahre 1846. Er forderte, dass »die Natur des Materiales, das uns zu

5. Die Natur der Stoffe

5.20 Völkerschlachtdenkmal in

Leipzig. Bruno Schmitz, 1897–1913. 5.21 Hauptbahnhof in Stuttgart. Paul Bonatz und F. E. Scholer, 1914–1928.

Gebote steht, und die durch sie bedingte Zusammensetzung oder Zusammenfügung desselben die erste Grundlage für die Formgebung« sein solle.40 Wolff würdigte in seinem Vortrag wie schon in früheren Schriften die Backsteinbauten Schinkels als vorbildhaft im Hinblick auf ihre Materialwahrheit.41 Einer der ersten Aufsätze, der in der deutschsprachigen Fachpresse über die Materialwahrheit in der nordamerikanischen Architektur erschien, war Ludwig Gruners Beitrag »Der Yankee-Styl«, veröffentlicht 1874 in Ludwig Försters Allgemeine Bauzeitung.42 Gruner hob als wichtigste Eigenschaft der New Yorker Architektur die Verwendung von haltbaren Fassadenmaterialien wie Granit, Backstein, Braunstein und Marmor hervor. »Gesegnet mit einem solchen Reichthum an Material« können die Amerikaner auf Surrogate verzichten: »[…]  das amerikanische Publikum müsste einen Gräuel am Betrug, wenigstens an schimmernden Verfälschungen haben. Und so ist es auch in Bezug auf den in Norddeutschland zu Fälschungen so beliebten Artikel: Cement, denn er scheint selten, wenn überhaupt, als äusserer Ueberzug oder Dekorationsmittel in Anwendung zu sein.«43 Der Einfluss des Richardsonian Romanesque auf Deutschland war nicht zuletzt der vermittelnden Tätigkeit von Karl Hinckeldeyn zu verdanken, der zwischen 1884 und 1887 technischer Attaché der deutschen Botschaft in

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5. Die Natur der Stoffe

5.22 Die Kirche St. Anton in Zürich-Hottingen. Karl Moser, 1906–1908. 5.23 Reformierte Kirche in der Városliget-Allee in Budapest. Aladár Árkay, 1911–1913.

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­ ashington war, um dann in Deutschland als Regierungs- und Baurat und W ab 1902 als Rektor der Berliner Bauakademie einflussreiche Positionen zu bekleiden. Gemeinsam mit Paul Graef veröffentlichte er im Jahre 1897 den mit 100  ausgezeichneten Lichtdrucktafeln illustrierten Band Neubauten in Nordamerika.44 (Abb.  5.19) Die gestochen scharfen Aufnahmen, die bereits ­Richardson geschätzt und eingesetzt hatte, blieben in Deutschland und Mitteleuropa nicht ohne Wirkung. Nicht weniger wichtig war die Rolle des Architekten ­Rudolf Vogel, der in Richardsons Büro arbeitete; sein Buch Das amerikanische Haus erschien 1910 im Berliner Wasmuth Verlag.45 »Zwei Dinge sind es […], welche dem europäischen, besonders dem deutschen Architekten beim erstmaligen Betreten amerikanischer Städte in die Augen springen: die gewaltige Höhe der Häuser und die unumschränkte Herrschaft ächten Baumaterials«, berichtet 1894 der Architekt Leopold Gmelin in der Deutschen Bauzeitung.46 Die materialgerechte Bauweise hatte ihn zunehmend beeindruckt, sodass er seine Vorurteile laufend revidieren musste. Mit dem Begriff »amerikanisch« sei »bisweilen eine Spur ›Humbug‹ und ›Schwindel‹« verbunden, notiert er, »in baulicher Hinsicht sehr mit Unrecht«.47 Natur­ stein und vor allem Ziegel seien die Baustoffe der großen amerikanischen Städte, schreibt Gmelin mit Blick auf die großen Lagerhallen am Ufer des ­Hudson River, auf dem Ziegel nach New York verschifft wurden. Ziegelfassaden würden nicht verputzt, sondern »zeigen […] stets Feinbau – und zwar in einer bewunderungswürdigen Ausführung. Die Sauberkeit, mit welcher die

5. Die Natur der Stoffe

5.24 Volksschule (heute Handels­

schule) Wendenstraße, Hamburg-­ Hammerbrook. Fritz Schumacher 1928/29. 5.25 Die blaue Halle des Stockholmer Rathauses. Ragnar Östberg, 1911–1923.

16–20stöckigen Fassaden Chicagos etwa mit Ausnahme der Fensterwände nur in Backstein ausgeführt sind, ruft immer wieder unsere Hochachtung vor dieser Technik wach«.48 Die Lehren der Richardsonian Romanesque lagen in Deutschland anfänglich vor allem der Planung von Nationaldenkmälern zugrunde. Amerika und Nationalismus, Stein und Identität bildeten Bestandteile eines oft schwer entwirrbaren Geflechts. Im Erscheinungsjahr 1890 erlebte das Buch des Nietzsche-­ Bewunderers Julius Langbehn Rembrandt als Erzieher innerhalb kurzer Zeit

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5. Die Natur der Stoffe

5.26 Gesims des Chilehauses in

Hamburg, Fritz Höger, 1921–1924.

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30 Auf lagen. Es traf genau den zivilisationskritischen Nerv der Krisenzeit. Mit rhetorischem Geschick verband »der Rembrandtdeutsche« seine kritische Dia­ gnose der Gegenwart mit einem Vorschlag: »Die Griechen hatten eine Kultur von Marmor, die Deutschen sollten eine solche von Granit haben. Der Granit ist ein nordischer und germanischer Stein; in dem ur- und reindeutschen Nordlande, Skandinavien, steht er in großen Felsmassen an; und über die ganze niederdeutsche Tiefebene ist er in erratischen Blöcken verbreitet.«49 Die Kaiser-Wilhelm-Denkmäler von Bruno Schmitz, vor allem sein Kyffhäuserdenkmal (1890–1896), gehören zu jenen Bauwerken, in denen die Verwandlung der mineralischen Natur in Architektur mit ähnlichen Mitteln wie bei den Projekten von Richardson und Olmsted inszeniert ist. Der steinerne Turmbau des Kyff häuserdenkmals mit vorgelagertem Barbarossa-Hof, Bogenhalle und Aussichtsterrasse in der Au, zwischen dem Harz und dem Thüringer Wald gelegen, wurde 1896 enthüllt. Der Rezensent (zugleich Redakteur und Herausgeber) der Deutschen Bauzeitung Albert Hofmann beschreibt die Bearbeitungsphasen des Denkmalentwurfs und feiert die »ursprüngliche Kraft und Wucht der Gestaltung« als eine neue Qualität in der deutschen Architektur.50 Er lobt das Monument als ein »aus dem natürlichen Boden hervorgegangenes

5. Die Natur der Stoffe

5.27 Fassadendetail der Grundtvigskirche. Peder ­Vilhelm Jensen-Klint,

1913, ausgeführt 1921–1940.

5.28 Innenraum der Grundtvigskirche.

Werk«.51 Die Inspiration für die Hinwendung zum kraftvollen Ausdruck stamme, behauptet Hofmann, aus Amerika, gehe auf das Werk Richardsons zurück. Schmitz hatte nämlich 1888 ein Kriegerdenkmal in Indianapolis erbaut und in Amerika die Bauten »des amerikanischen Michel-Angelo« kennengelernt.52 Schmitz’ Völkerschlachtdenkmal in Leipzig (1897–1913) entwickelte die Idee des Kyff häuserdenkmals im Geist der Jahrhundertwende weiter. (Abb. 5.20) Die noch eklektischen Elemente verschmelzen in Leipzig zu einem einheitlicheren monu­ mentalen Ausdruck, der in den 1930er-Jahren, etwa im Werk von Wilhelm Kreis, fortwirken sollte. Das Völkerschlachtdenkmal zeigt noch weitere, nicht in Richtung Neue Welt weisende Trajektorien. Das Mausoleum des ostgotischen Königs Theoderich in Ravenna aus dem 6. Jahrhundert, eine Inkunabel urgermanischer Architektur, aber auch Bauten im alten Orient wurden von den Vertretern des »heroischen Stils« studiert.53 Ein besonders wichtiges Beispiel ist diesbezüglich der zu seiner Entstehungszeit viel bewunderte Stuttgarter Hauptbahnhof

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5. Die Natur der Stoffe

von Paul Bonatz und Friedrich Eugen Scholer (1914–1928), der sowohl mit dem »Zyklopenstil« von Schmitz und Kreis als auch mit babylonischer und ägyptischer Monumentalarchitektur in Verbindung gebracht wurde.54 (Abb. 5.21) Ein wichtiger Vermittler der Ästhetik des Richardsonian Romanesque in Mitteleuropa war das Büro von Hans Curjel und Karl Moser, den Archi­tekten der evangelischen Lutherkirche in Karlsruhe (1901–1907). Mosers Kirche Sankt Anton in Zürich-Hottingen (1906–1908) zeigt Merkmale dieses Stils wie skulpturierte romanisierende Kapitelle, komprimierte, niedrige Säulen und mit Quaderwerk verkleidete Fassaden. (Abb. 5.22) Die wichtige neue Qualität dieser Architektur ist ihre organische Einbindung in die Architekturlandschaft der Stadt. Die Bauten von Richardson und Olmsted verbinden den granitverkleideten Baukörper mit dem felsigen Grund des Bauplatzes. In Karlsruhe oder in Zürich sind die Kirchen oft mit Pfarrhaus und Gemeinschaftsräumen verbunden, zwischen Bau­körper und Terrain entsteht eine reich gestaffelte Zwischenzone mit Terrassen, Treppen und Sockeln. Der ungarische Architekt Aladár Árkay verwendet diese Grunddisposition bei seiner reformierten Kirche mit Pfarrheim in der Budapester Stadtwäldchen-Allee (Városligeti fasor, 1911–1913), der große, blockhafte, mit gedrungenen Säulen unterstützte Triumphbogen des Portals ist statt mit Naturstein mit Pyrogranitelementen der Keramikmanufaktur ­Zsolnay in Pécs verkleidet, deren Gestaltung von ungarischen Stickereien inspiriert ist. (Abb. 5.23) Diese freie Interpretation der Prinzipien der Richardsonian ­Romanesque, also die Umwandlung von Materialgerechtigkeit in eine ­Bekleidungsästhetik, ist ein weiterer Beweis für die Elastizität des Wahrheitsbegriffs. Nicht nur dem Granit, auch dem Backstein wurden erzieherische Fähigkeiten attestiert. Für Fritz Schumacher war er ein Material von Charakter, ganz anders als der Putz. Letzterer erlaube, »leicht und mühelos […], jeder unreifen Laune Gestalt zu geben, ist auf diesem schiefen Wege ein geradezu verführerisches Material. Allen geilen Instinkten der Unfähigkeit und Anmaßung kommt er willig entgegen […]«.55 Anders der Backsteinbau: Er »lehnt sich durch die Herbheit seines Wesens ganz von selber gegen sie auf. Es ist nicht so leicht, ihn für irgendein willkürliches Lüstchen gefügig zu machen, sein ernstes Antlitz widerstrebt der Prostitution, und so liegt in ihm ein natürlicher Damm gegen das Ueberschäumen unverstandener oder abgestandener Unternehmerphantasie«.56 Die Bauten Schumachers werden heute vor allem vor dem Hintergrund der Reformbewegung der Jahrhundertwende untersucht, und deshalb liegt das Hauptaugenmerk auf den frühen, dekorativen Backsteinfassaden, obwohl seine um 1928–1930 entstandenen Schulen hervorragende Bespiele für modernes Mauerwerk sind. Stein- oder Backsteinmauern waren Stiefkinder der modernen Bewegung, zu viele Bedeutungsschichten kontaminierten die Reinheit des »internationalen Stils«, welche die Fassade mit Land, Region, Zeit oder Arbeit in Verbindung gebracht hätten. (Abb. 5.24)

Stoff und Region 154

In Skandinavien nährte sich die Ideologie der Materialwahrheit neben den amerikanischen auch aus britischen Quellen. Der Architekt des Stockholmer

5. Die Natur der Stoffe

5.29 Der Ausstellungspavillon Onoma des Expo 02, Arteplage Yverdon-

les-Bains. Burkhalter Sumi Architekten, 2002.

Rathauses (1911–1923), Ragnar Östberg, war von Ruskins Buch Die Steine von Venedig inspiriert, als er 1897/98 Italien bereiste. Wie sein Mentor und Freund Isak Gustaf Clason wetterte er um die Jahrhundertwende in seinen Aufsätzen gegen den »Teufel Putz« und den Historismus, für den nur die Form zählte, das Material hingegen nichts wert war.57 Die Abmessungen des Ziegels für das Rathaus wurden laut einer Legende aufgrund eines großen Backsteins bestimmt, den der Architekt bei Schloss Gripsholm gestohlen hatte, um ihn in sein Werk einzumauern.58 Die verwendeten Mauerverbände wurden nach dem Studium alter schwedischer Bauten und Hunderter von Skizzen ausgewählt. Das Ergebnis stieß auf Begeisterung und beeinflusste jahrzehntelang vor allem den Bau neuer Rathäuser in ganz Skandinavien, aber auch allgemein die moderne Backsteinarchitektur. Konrad Werner Schulze bezeichnet das Gebäude in seinem Buch über Ziegelbau als den »Gipfelpunkt nordischer Würde und Vornehmheit in der Baukunst«, dessen Erhabenheit »über dem Lärm aller ›Richtungen‹« stehe.59 Schulze, der die »systematische Entseelung der Baukunst durch die zunehmende Mechanisierung« befürchtete, erwartete wie Schumacher von dem »erzieherischen Faktor« des Backsteins einen wichtigen Impuls in der Bekämpfung der »Entseelung der Baukunst durch die zunehmende Mechanisierung«.60 »Der Baukünstler, der nicht einmal einen Backstein in der Hand gehalten und liebevoll befühlt hat, der sich nicht bemüht, in einer gewissen meditativen Weise dem in diesem Baustoff innewohnenden Wesenhaften näher zu kommen, dem wird sich das Geheimnis seiner Formensprache niemals offenbaren« – schrieb Schulze.61 (Abb. 5.25) Für den Hamburger Architekten Fritz Höger (1877–1949) war die von ihm oft wiederholte Analogie des Klinkers und des norddeutschen Menschen die Grundlage für die Verbindung von Stil und Material: »So gar viele Wesenheiten hat ja schon das Material mit uns, den norddeutschen Menschen, ge-

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5. Die Natur der Stoffe

mein, und darum schon können wir uns glücklich schätzen, nur dieses schöne Material an erster Stelle für unsere Bauwerke zur Verfügung zu haben.«62 Im Backsteinbau sei Monumentalität »von vornherein gegeben«: »Alles ist Struktur und nichts Textur, alles ist Konstruktion und Ornament zugleich, zugleich Zweckerfüllung und Schönheit. Die Schönheit liegt hier eben im Ding selbst; und dann – in der großen Solidität und Unvergänglichkeit und Festigkeit liegt ja ein so starker, ewigkeitsgemahnender Ausdruck!«63 Die Gotikbegeisterung des Expressionismus bestimmte die plastische Gestaltung der Baumasse des Chilehauses (1921–1924) von Höger in Hamburg. (Abb.  5.26) Die Rezeption des Gebäudes zeigt, dass Zeitgenossen die ästhetische Funktion des Backsteins im Sinne des zitierten Programms des Architekten verstanden. Der Backstein wurde als Instrument eines die Schwerkraft besiegenden, heroischen Gestaltungswillens gepriesen. Geistesverwandt mit Högers »alter Sachlichkeit« ist das Werk des dänischen Backsteinbaumeisters Peder Vilhelm Jensen-Klint (1853–1930). Seine Grundtvigskirche in Kopenhagen (1913, ausgeführt 1921–1940) ist, was die Dominanz des riesigen Baukristalls über der sie rahmenden kleinmaßstäblichen Wohnbebauung betrifft, sowohl von Bruno Tauts »Stadtkrone«-Idee als auch von Heinrich Tessenows Kleinstadtideal beeinflusst.64 Die Perfektion der Ausführung ist im Handwerkerethos der Arts-and-Crafts-Bewegung verwurzelt, aber die englischen Ideale sind hier bereits von der Lebensreformbewegung und dem Harmoniekult Helleraus modifiziert. Jensen-Klint verwendete keine Formsteine, derselbe gelbe Backstein erscheint als kleinste Maßeinheit im Inneren als Wand, Gewölbe und Boden oder als die besonders virtuos wie ein Schneckenhaus konstruierte Treppe im Turm. (Abb. 5.27, 5.28)

In der Natur der Materialien

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Die Architektur von Frank Lloyd Wright, dessen Karriere als Lehrling im Büro von Dankmar Adler und Louis Sullivan in Chicago begann, ist neben dem Werk des »lieben Meisters« (wie er Sullivan bezeichnete) von vielen weiteren Einflüssen geprägt. Die Bücher von Viollet-le-Duc, Ruskin und Semper waren ihm genauso bekannt wie die Wiener Bestrebungen um 1900 oder die japanische Kunst. In seiner Autobiografie erzählt er, dass die neuen Baustoffe wie Stahl, Glas und Stahlbeton ihm gezeigt hätten, dass eine neue Wissenschaft der Materialien notwendig sei, wenn es um die Körperhaftigkeit (plasticity) der Architektur gehe. Aber es habe damals kein Buch über die Natur der Stoffe gegeben. »Ich fing an, die Natur der Materialien zu studieren, zu lernen, sie zu sehen. Ich lernte es, Backstein als Backstein, Holz als Holz, zu sehen; Beton, Glas oder Metall zu sehen«, schreibt er in seinem Buch An Autobiography.65 Die »Natur der Materialien« wurde zu einem zentralen Thema in Wrights Denken: »Form und Funktion werden im Entwurf und in der Ausführung eins, wenn die Natur der Materialien, die Methode und der Zweck alle übereinstimmen«.66 In The Architectural Record veröffentlichte er von April bis Oktober 1928 eine Reihe von sechs Arti­keln unter dem Titel »The Meaning of Materials« (»Die Bedeutung der Materialien«). Sie behandeln die Materialien Stein, Holz, Backstein und Keramik (»The Kiln«), Glas, Beton und Metallblech.67 Grund genug für

5. Die Natur der Stoffe

5.30, 5.31 Städtische Galerie Marktoberdorf. Bearth & Deplazes, 2000.

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5. Die Natur der Stoffe

5.32 Fassadenmodell der Wohnanlage Finsbury Park in London. Sergison Bates architects, 2015.

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den wichtigen und einflussreichen Kritiker Henry-Russell Hitchcock, seiner Monografie über Wright den Titel In the Nature of Materials zu geben.68 Die moderne Architektur übernahm die Lehre der Materialwahrheit von der Architektur des 19. Jahrhunderts, wo sie mit den nationalen Stilbestrebungen eng verbunden war. Diese Entwicklung ist umso ironischer, als die Moderne sich als eine übernationale Architekturströmung verstand und – zumindest in ihrer heroischen Periode – expressive Materialität ablehnte. Mit der Bezeichnung »International Style« waren viele ihrer Vertreter nicht einverstanden, weil sie diese Formensprache nicht als einen (weiteren) Stil verstehen wollten, sondern als einen rationalen Weg des Bauens – deshalb war der Topos von der Materialwahrheit willkommen. Der Theoretiker und Organisator der inter­nationalen Moderne Sigfried Giedion verband in seinem wichtigen Buch Bauen in Frankreich, Bauen in Eisen, Bauen in Eisenbeton (1928) moderne Mate­rialgerechtigkeit mit der wissenschaftlich belegbaren »Wahrheit« von der Materialstruktur: »Wenn man der molekularen Substanz des Eisens gerecht werden sollte, so musste die Wissenschaft die spezifischen Gesetze des Materials erforschen und die Konstrukteure mussten eine, von der Holzbehandlung abweichende Gestaltung finden.«69 Die Rhetorik der Materialwahrheit wird heute von vielen Architekten als hohl erkannt. Der Schweizer Architekt Christian Sumi formulierte im Daidalos-­ Doppelheft zum Thema »Magie der Werkstoffe« leidenschaftlich: Lehrer an der ETH Zürich wie Bruno Reichlin, damals Assistent von Aldo Rossi, haben »die ganze prüde Legitimationsmaschinerie der Moderne aus dem moralistischen Sumpf der sogenannten Materialgerechtigkeit herausgezogen«.70 Deshalb konnte man »einen ganz anderen Umgang mit der Moderne und der konstruktiven Umsetzung haben. Bezogen auf die Frage der Materialien heißt das, dass wir zum Beispiel durch die auf dem Markt angebotenen Mischprodukte

5. Die Natur der Stoffe

wie Zementplatten mit Holzfasern oder Holzfaserplatten mit einem Zement­ anteil nicht verunsichert waren, sondern befreit von dem Reinheitsanspruch versuchten, sie zu nutzen. Der Umgang mit Halbfertigfabrikaten hat den Dis­ kurs erweitert, gelöst und hat uns dazu geführt, wieder über sensuelle Quali­ täten der Architektur nachzudenken.«71 Der Onoma-Ausstellungspavillon auf der EXPO 02 in Yverdon-les-Bains, entworfen von Burkhalter Sumi Architek­ ten, wendet sich nach außen mit einer »plissierten« (oder wie ein drehbares Karteikartensystem facettierten) Holzfassade. Der silberne Glanz der Weißalu­ miniumfarbe der mit Ortsnamen beschrifteten Oberfläche lässt den Rundbau metallisch erscheinen, in dessen Innenraum ist der zentrale Projektionsbereich durch einen Glasgewebevorhang separiert. (Abb. 5.29) Die Verbindung der Idee von der Materialwahrheit mit unbekleideten, mas­ siven Mauerwerken erlitt eine entscheidende Niederlage als Folge der ersten Ölkrise im Jahre 1973, als die neuen Wärmedämmvorschriften praktisch nur mehrschalige Wandkonstruktionen erlaubten. Heute kann die Verwendung von massiven Vollmauerwerken, kombiniert mit entsprechenden Heizsyste­ men, welche die hohe Wärmespeicherkapazität des Mauerkörpers benutzen, massive Mauerwerke wieder sinnvoll machen. Ein Beispiel dafür ist die Städ­ tische Galerie in Marktoberdorf, entworfen von Bearth & Deplazes (2000): ein unverputztes Mauerwerk aus Klinkern im »bayerischen Format«. Wie bei ­mittelalterlichen Donjons sind die großen Hallenräume an ihrer Peripherie von kleineren Mantelräumen zwischen den Wandscheiben umgeben. (­Abb.  5.30, 5.31) ­Obwohl den Architekten nichts ferner liegt, als mit erhobenem Zeigefin­ ger die Material­wahrheit zu verkünden, ist hier nichts verkleidet, die Idee und nicht die Ästhe­tik der Materialwahrheit, wird ernst genommen. Die homo­ gene Wirkung der Wandflächen entspricht nicht jenem ästhetischen Ideal, das die ­Vertreter der Ästhetik der Materialwahrheit suchen, um von moralischen Prinzipien einen bildhaften Ausdruck abzuleiten. Das Spiel mit der Ambiva­ lenz von Struktur und Textur steht im Vordergrund. Jonathan Sergison und Steven Bates sprechen ebenfalls nicht von Materialwahrheit, sondern weisen klar auf Sempers Bekleidungstheorie als Inspiration für das Werk ihres Büros hin. Sie schreiben dem Backstein jedoch eine spezifische Identität, »Authentizi­ tät und Singu­larität« zu, die sie als brickness bezeichnen.72 Diese Eigenschaften sind mit der leichten Herstellbarkeit und Verbreitung dieses zugleich hand­ werklichen und industriellen Materials, seiner Zeitlosigkeit – die mit seiner Einfachheit und Geometrie zu tun hat –, seiner Historizität und der Vielfalt an Interpre­tationsmöglichkeiten verbunden. Das Vibrieren zwischen Alltag und Kunstwerk für die Galerie, welche die Modelle für Backsteinfassaden von Ser­ gison Bates auszeichnet, ist eine weitere Konsequenz aus der Singularität des Materials. (Abb. 5.32) Die Suche nach dem »Wesen« der Stoffe kann man also nicht als eine re­ lativ kurzlebige Kuriosität der Architekturgeschichte bezeichnen. Sie ist auch Bestandteil regionaler Tendenzen, welche die Identität eines Landes oder einer Region vor »fremden« Einflüssen, vor Globalisierung oder Mediatisierung ver­ teidigen will. Der Stoff hat als der harte, materielle Grund des Widerstands, der nicht in Medienströme aufgelöst werden kann, eine strategische Funktion. Dabei haben wir gesehen, wie der Richardsonian Romanesque, die Stilrich­ tung eines amerikanischen Architekten im 19. Jahrhundert, in Schweden, Finn­ land, Ungarn oder in der Schweiz als materialgerechter Nationalstil begeistern

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5. Die Natur der Stoffe

konnte. Man berief sich dort freilich nicht auf die amerikanische Quelle des Stils, sondern auf die von fremden Einflüssen unbeeinflusste eigene Tradition, vor allem die dörfliche Baukultur, welche die Regeln der Materialwahrheit intuitiv anwendete. Architektur müsse wieder an diese ehrliche, zeitlose Tradition anknüpfen, hieß es bereits um 1910 in den Äußerungen vieler Architekten der Reformbewegung. Die Suche nach dem »timeless way of building« (»zeitlosen Weg des Bauens«), welche Christopher Alexander oder Bernard Rudofsky in den 1960er- und 70er-Jahren fortsetzten, führte jedoch meistens zur Aufstellung von Regeln, die keinesfalls zeitlos waren und Kreativität eher behinderten als unterstützten.73 Ähnlich führte die Rhetorik der Materialgerechtigkeit zur Kanonisierung gewisser Codes, die erlaubten, bestimmte Formen als »materialgerecht« zu erkennen. Mit der Entwicklung der Materialforschung und Technologie ist diese Lehre endgültig zum Gemeinplatz geworden, der nicht mehr fähig ist, die Illusion von einer organischen Einheit von Ort, Konstruktion und Form im Leben zu erhalten. Die erwähnten neuen Beispiele zeigen die Konsequenzen: Die Architekten, welche die kompensatorische Funktion der nostalgischen Suche nach dieser verlorenen Einheit erkannt haben, verwenden ihre formalen Ergebnisse für Inszenierungen, welche der simplen These der Materialwahrheit widersprechen. Die Wahrheit dieser performativen Hervorbringung der Materialität zu erklären, hatte sich Semper mit seiner Stoffwechseltheorie vorgenommen.

Anmerkungen Francesco Algarotti, »Versuch über die Architectur«, in: ders., Versuche über die Architectur, Mahlerey und musicalische Opera, übers. von R[udolf] E[rich] Raspe. Kassel: Johann Friedrich Hemmerde, 1769, S. 5. 2 Ebd., S. 10. 3 Ebd., S. 11. 4 Ebd., S. 12. 5 Ebd. 6 Vgl. Karsten Harries, The Ethical Function of Architecture. Cambridge, Massachusetts: The MIT Press, 1996. 7 Alberto Sartoris, Gli elementi dell’architettura funzionale. Sintesi panoramica dell’architettura moderna. Mailand: Hoepli, 1932. 8 Joseph Rykwert, The First Moderns. Architects of the Eighteenth Century. Cambridge, Massachusetts: The MIT Press, 1980. 9 Jean Nicolas Louis Durand, Précis des leçons d’architecture données a l‘École Royale Polytechnique. Brüssel, Liège, 1819. Nachdruck Nördlingen: Dr. Alfons Uhl, 1985, S. 53. 10 Ebd., S. 52. 11 Ebd., Taf. 3. 12 Paul Schmitthenner, »Gedanken zu einer Einführung (1949)«, in: ders., Gebaute Form. Variationen über ein Thema mit 60 Zeichnungen im Faksimile, hg. von Elisabeth Schmitthenner. Leinfelden-Echterdingen: Verlagsanstalt Alexander Koch, 1984, S. 8. 13 A[ugustus] Welby Pugin, The True Principles of Pointed or Christian Architecture: Set Forth in Two Lectures Delivered at St. Marie’s, Oscott. London: John Weale, 1841. 14 A[ugustus] Welby Pugin, Contrasts or, A Parallel between the Noble Edifices of the Middle Ages and the Corresponding Buildings of the Present Day Shewing the Present Decay of Taste. 2. Aufl. London: Charles Dolman, 1841, S. 22. 15 Ebd. 16 Ebd. 1

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5. Die Natur der Stoffe

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Im Jahre 1845 löste sich die Zeitschrift von der Universität von Cambridge; der Verein hieß von nun an Ecclesiological Society. 18 Georg Germann, Neugotik: Geschichte ihrer Architekturtheorie. Stuttgart: DVA, 1972, S. 93. 19 August Reichensperger, Die christlich-germanische Baukunst und ihr Verhältniß zur Gegenwart. 3. Aufl. Trier: Verlag der Fr. Lintz’schen Buchhandlung, 1860, S. 18. 20 F.[Karl Emil Otto Fritsch], »Zu C. W. Hase’s achtzigstem Geburtstage«, in: Deutsche Bauzeitung, Jh. XXXII No. 79 (1898), S. 510. 21 Thesen des deutschen evangelischen Kirchentages zu Barmen 1860, in: Gerhard Langmaack (Hg.), Evangelischer Kirchenbau im 19. und 20. Jahrhundert. Geschichte, Dokumentation, ­Synopse. Kassel: Johannes-Stauda-Verlag, 1971, S. 269–271. 22 »Regulativ für den evangelischen Kirchenbau, Eisenach 1861«, in: Langmaack, Evangelischer Kirchenbau (wie Anm. 21), S. 272–274. 23 Wolfgang Kemp, John Ruskin 1819−1900. Leben und Werk. München: Carl Hanser, 1983, S. 461. 24 Patrick Conner, »Pugin and Ruskin«, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, 41 (1978), S. 344−350. 25 John Ruskin, Die sieben Leuchter der Baukunst, übers. von Wilhelm Schölermann. Leipzig: Eugen Diederichs, 1900, S. 65. 26 Ebd., S. 76. 27 Ebd., S. 102. 28 Ebd. 29 John Summerson, »William Butterfield, or, the Glory of Ugliness«, in: ders.: Heavenly Mansions and Other Essays on Architecture (1948). New York, London: W. W. Norton, 1963, S. 159−176. 30 Paul Nash, »Swanage or Seaside Surrealism«, in: The Architectural Review, April 1936, S. 151–154. 31 Geoffrey Scott, The Architecture of Humanism. Study in the History of Taste. London: Constable, 1914. 32 Zit. Sheila Kirk, Philip Webb. Pioneer of Arts & Crafts Architecture. Chichester: Wiley-Academy, 2005, S. 20. 33 Paul Thompson, William Butterfield. London: Routledge & Kegan Paul, 1971, S. 147. 34 George L. Hersey, High Victorian Gothic − A Study in Associationism. Baltimore: Johns Hopkins University Press, 1972, S. 186−188. 35 Zit. nach Eve Blau, Ruskinian Gothic. The Architecture of Deane and Woodward 1845−1861. Princeton: Princeton University Press, 1862, S. 58. 36 John Ruskin, Die sieben Leuchter (wie Anm. 25), S. 72. 37 Ebd. 38 Heinrich Hübsch, In welchem Style sollen wir bauen?. Karlsruhe: Verlag der Chr. Fr. Müller’schen Hofbuchhandlung und Hofbuchdruckerey, 1982. 39 Kenneth A. Breisch, Henry Hobson Richardson and the Small Public Library in America. A Study in Typology. Cambridge, Massachusetts: The MIT Press, 1997. 40 J. H. Wolff, »Ein Prinzip und keine Parteien! Vortrag des Herrn Professor Wolff in der Architekten Versammlung zu Gotha«, in: Allgemeine Bauzeitung XI (1846), S. 358−367. 37 [Johann Heinrich] Wolff, Rezension »Sammlung architektonischer Entwürfe von Schin41 kel«, in: Literatur- und Anzeigeblatt für das Baufach. Beilage zur Allgemeinen Bauzeitung 2, 1843, S. 103−110. [Ludwig] Gruner, »Der Yankee-Styl«, in: Allgemeine Bauzeitung, Jg. 39 (1874), S. 59−62. 42 Ebd., S. 59. 43 44 Paul Graef (Hg.), Neubauten in Nordamerika. 100 Lichtdrucktafeln mit Grundrissen und erläuterndem Text. Vorwort von Karl Hinckeldeyn. Berlin: Julius Becker, 1897. 45 F. Rudolf Vogel, Das amerikanische Haus, Band 1: Entwicklung, Bedingungen, Anlage, Aufbau, Einrichtung, Innenraum und Umgebung. Berlin: Wasmuth Verlag, 1910. 46 Leopold Gmelin, »Architektonisches aus Nordamerika«, in: Deutsche Bauzeitung 28 (1894), H. 74, S. 453–456; H. 78, S. 481−483; H. 79, S. 485−487; H. 80, S. 495−498; H. 84, S. 520−522; H. 86, S. 532−534; H. 92, S. 566−570; H. 94, S. 582−583, hier S. 454. 47 Ebd., S. 455. 48 Ebd. 49 Julius Langbehn, Rembrandt als Erzieher. Leipzig: C. L. Hirschfeld, 1890. Nachdruck Hamburg: tredition, 2012, S. 264. 50 -H.- [Albert Hofmann], »Das Kaiser-Denkmal auf dem Kyffhäuser«, in: Deutsche Bauzeitung XXXI, 1897, S. 105f., S. 117f.

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Fritz Schumacher, Das Wesen des neuzeitlichen Backsteinbaues, München: Verlag Georg Callwey, o. J. [1920], S. 46. 52 Ebd. 53 Frank-Bertolt Raith, Der heroische Stil. Studien zur Architektur am Ende der Weimarer Republik. Berlin: Verlag für Bauwesen, 1997. 54 Marc Hirschfell, »Der Bahnhof von Bagdad. Orientalismen am Stuttgarter Hauptbahnhof«, in: Wolfgang Voigt, Roland May (Hgg.), Paul Bonatz 1877−1956. Tübingen, Berlin: Ernst Wasmuth Verlag, S. 62−67. 55 Schumacher, Das Wesen des neuzeitlichen Becksteinbaues (wie Anm. 51), S. 46. 56 Ebd. 57 Ann Katrin Pihl Atmer, Stockholm Town Hall and its Architect Ragnar Östberg. Dream and Reality. Stockholm: Natur & Kultur, 2011. 58 Ebd., S. 241. 59 Konrad Werner Schulze, Der Ziegelbau. Architektur der Gegenwart. Band 4. Stuttgart: Akademischer Verlag Dr. Fritz Wedekind & Co., 1927, S. 127. 60 Ebd., S. 18, S. 21. 61 Ebd., S. 19. 62 Fritz Höger, »Backsteinbaukunst«, in: Carl J. H. Westphal (Hg.), Fritz Höger. Der niederdeutsche Backstein-Baumeister. Wolfshagen-Scharbeutz: Franz Westphal Verlag, o. J. [1938], S. 16−19, hier S. 18. 63 Ebd. 64 Thomas Bo Jensen, P. V. Jensen-Klint. The Headstrong Master Builder. Kopenhagen: The Royal Danish Academy of Fine Arts, School of Architecture Publishers, 2009, S. 288−391. 65 Frank Lloyd Wright, An Autobiography. 2. überarbeitete Aufl. New York: Duell, Sloan and Pearce, 1943, S. 148., übers. von Á. M. 66 Ebd. 67 Frank Lloyd Wright, Collected Writings. Band 1: 1894−1930, hg. von Bruce Brooks Pfeiffer. New York: Rizzoli, 1992, S. 269−309. 68 Henry-Russell Hitchcock, In the Nature of Materials. The Buildings of Frank Lloyd Wright 1887−1941. New York: Hawthorn Books, 1942. 69 Sigfried Giedion, Bauen in Frankreich, Bauen in Eisen, Bauen in Eisenbeton. Leipzig, Berlin: Klinkhardt & Biermann, o. J. [1928], S. 26. 70 Burkhalter & Sumi, »Positive Indifferenz«, in: Daidalos, August 1995: Magie der Werkstoffe II, S. 26–34, hier S. 26. 71 Ebd., S. 26f. 72 Stephen Bates, »Wickerwork, weaving and the wall effect« und Jonathan Sergison, »Brickness«, beide in: Sergison Bates architects, Papers 2. Barcelona: Editorial Gustavo Gili, 2007, S. 30−35, S. 94−97. 73 Christopher Alexander, The Timeless Way of Building. New York: Oxford University Press, 1979. Bernard Rudofsky, Architecture Without Architects. A Short Introduction to Non-­ Pedigreed Architecture, New York: The Museum of Modern Art, 1964. 51

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6. DAS LEBEN DER MATERIE Entwicklung und Metamorphose Die Stabilität von Kategorien der Theorien der Biologie, der Ökonomie und der Architektur haben Mitte des 19. Jahrhunderts drei Denker radikal infrage gestellt: Charles Darwin, Karl Marx und Gottfried Semper. Darwins The Origin of Species wurde 1859, der erste Band von Sempers Der Stil 1860 und Marx’ Das Kapital 1867 veröffentlicht. Während Semper den von Natur­ wissenschaftlern eingeführten Begriff »Stoffwechsel« als gestalterisches Prinzip für »die ­technischen und tektonischen Künste« übernahm, bezeichnete Marx das Ergebnis der Arbeit als ständigen Kampf des Menschen mit der Natur als »Stoff­wechsel«: Die der Naturgeschichte entstammenden Gegenstände werden durch Stoffwechsel auf eine höhere Stufe der Kulturgeschichte gebracht.1 Wenn im Austauschprozess Waren von einer Hand, in der sie Nichtgebrauchswerte sind, in eine andere Hand wechseln, in der sie Gebrauchswerte sind, kann man von »­ gesellschaftlichem Stoffwechsel« sprechen: »Einmal angelangt zur Stelle, wo sie als Gebrauchswert dient, fällt die Ware in die Sphäre der Konsumtion aus der Sphäre des Warenaustauschs. […] Wir haben also den ganzen Prozess nach der Formseite zu betrachten, also nur den Formwechsel oder die ­Meta­morphose der Waren, welche den gesellschaftlichen Stoffwechsel ver­ mittelt.«2 Die Bewegungsphasen der Warenmetamorphose bilden laut Marx einen Kreislauf, bestehend aus »Warenform, Abstreifung der Warenform, Rückkehr zur Warenform«.3 So ist für Marx Geld »der feste Wertkristall, worin sich die Ware verwandelt, um hinterher als ihre bloße Äquivalentform zu zerrinnen«.4 Ähnlich heißt es bei Semper: Kulturelle Relevanz entstehe, wenn eine frühere Materialbindung durch Stoffwechsel »thematisiert« werde, aber faktisch nicht mehr besteht. Die Kategoriegrenzen zwischen den vier Elementen (Semper) oder zwischen Naturgegenstand und Kulturding (Marx) verflüssigen sich aus der historischen Perspektive, welche die Herkunft und Verwandlungen der Formen betrachtet. Darwins Buch The Origin of Species hatte weitreichende Folgen für das Natur­verständnis im 19. Jahrhundert.5 Semper erwähnt Darwin in seiner Zürcher Vorlesung Ueber Baustile (1869), aber seine eigenen Ideen über die Gesetze der Stilentwicklung entstanden lange vor dem Erscheinen von The Origin of Species. In einem Vortrag, den Semper am 11. November 1853 in London hielt, berichtete er über den großen Einfluss, den die Sammlung des Begründers der vergleichenden Anatomie, Georges Cuvier (1769–1832), auf ihn ausgeübt habe. In seiner Pariser Studienzeit sei er oft in den Jardin des plantes gegangen, wo er sich »wie durch magische Gewalt in jene Räume gezogen [fühlte], in denen die fossilen Ueberreste des Tierreiches der Vorwelt in langen Reihen zusammen mit den Skeletten und Schalen der jetzigen Schöpfung aufgestellt sind«.6 In der Sammlung Cuviers »findet man die Typen für alle noch so komplizierten Formen des Tierreiches, man sieht, wie die Natur in ihrem Fortschreiten trotz

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ihres unermesslichen Reichtums doch in ihren Fundamentalformen und Motiven äußerst sparsam und ökonomisch bleibt«.7 Das Wirken dieses Prinzips sah Semper auch in der Architektur. Entgegen der von anderen Naturforschern wie Carl von Linné vertretenen Ansicht, die Formen von Pflanzen und Tieren können rein taxonomisch erfasst werden, verband Cuvier seine Morphologie mit der Analyse von Funktio­ nen der Organe im Gesamtsystem des Körpers. Seine Grundlage dafür war die Philosophie von Aristoteles: Die einzelnen Organe des Körpers spielen eine unverzichtbare und sich gegenseitig unterstützende Rolle für die Erhaltung des Lebens. Es geht einerseits um das Funktionieren der Teile im Gesamtzusammenhang, aber auch darum, dass dieses Funktionieren einem höheren Zweck dient. Cuvier war überzeugt davon, dass die Organe eines Tiers ein einziges System bilden, dessen Teile zusammenwirken und aufeinander reagieren. Keinen Teil könne man ändern, ohne entsprechende Modifikationen aller anderen. Cuvier behauptete sogar, ein Wissenschaftler könne aus einem einzigen Knochen das ganze Tier rekonstruieren, sofern er sich mit den Formgesetzen der organischen Struktur auskenne. Cuviers organischer Funktionsbegriff hat die Architekturtheorie des 19. Jahrhunderts stark beeinflusst; Eugène E. Viollet-le-Duc wurde in diesem Zusammenhang bereits im Kapitel »Stoffe der Natur« erwähnt. Semper behauptete in seiner bereits zitierten Londoner Vorlesung, er verwende für seine Theorie des Stils Cuviers Methode, die »zur Erkenntnis des natürlichen Prozesses des Erfindens« führen kann.8 Er verband also die analytisch-historische Methode mit der Normativität einer praktischen Ästhetik. Semper bedauerte, dass es keine Bücher über Architektur gebe, die methodologisch ähnlich nützlich wie Cuviers Werke oder Alexander von Humboldts Der Kosmos seien – als Erster ein solches zu schreiben, sei die Aufgabe, die er sich stelle. Er war überzeugt, dass »jede wahre Kunstform der Ausdruck eines gewissen Gesetzes innerster Noth­wendigkeit sein müsse, gleich wie dieses bei den Naturformen sicher der Fall ist […]«.9 Der sogenannte Pariser Akademiestreit zwischen Cuvier und seinem Kollegen Étienne Geoffroy Saint-Hilaire in den Jahren 1830/31 war die heißeste wissenschaftliche Debatte ihrer Zeit und wurde sowohl von Johann Wolfgang von Goethe als auch von Alexander von Humboldt verfolgt und kommentiert. Im Gegensatz zur Position Cuviers, der ähnliche Formen in der Pflanzen- und Tierwelt von der Funktion ableitete und keine Entwicklung der Formen postulierte, erklärte Saint-Hilaire formale Übereinstimmungen mit Abstammung und Verwandtschaft – was auch der Meinung Goethes entsprach. Für die Architektur fand Saint-Hilaire ebenfalls Anhänger: Der Architekt und Theoretiker Léonce Reynaud (1803–1880) schreibt in seinem Beitrag zur Encyclopédie Nouvelle über Architektur: »Man kann, in einem tieferen Sinne, die Monumente des Menschen mit jenen Schalen vergleichen, welchen die Tiere die Form ihres Körpers geben […]«.10 und war von der Entwicklung architektonischer Organismen, die den geschichtlichen Stufen der Bildung des menschlichen Bewusstseins entsprechen, überzeugt.11 Semper nahm trotz seiner Anerkennung für die Lehre Cuviers mit seiner Theorie der Transformation der Grundformen gegen diese und für die Idee der Entwicklung Stellung. In seinem 1953 in London gehaltenen Vortrag erklärte er seine Vorstellung von der Entwicklung in der Architektur: »Sollten wir bei

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der Betrachtung des ungeheuren Reichtums der Natur und ihrer großen Mannigfaltigkeit bei aller ihrer Einfachheit nicht durch Analogie schließen dürfen, dass es sich mit den Schöpfungen unserer Hände, mit den Werken der Kunst ungefähr ebenso verhalten möge? Wie die Werke der Natur, sind sie durch einige wenige Grundgedanken miteinander verknüpft, die ihren einfachsten Ausdruck in gewissen ursprünglichen Formen oder Typen haben. Aus diesen wenigen Grundformen entsprangen und entspringen noch jetzt durch Entwickelung oder Verschmelzung eine unbegrenzte Menge von Varietäten, ja nach speciellen Erfordernissen ihrer Art, den allmählichen Fortschritten in der Erfindung, sowie den verschiedensten Einwirkungen und Umständen, welche bei ihrer Entstehung maßgebend waren.«12 Wie dieses Zitat zeigt, stand für Semper schon damals fest, dass er zwar aus der empirischen, vergleichenden Analyse Cuviers lernen könne, aber das starre System des französichen Gelehrten (»Revolutionär in der Phrase und reaktionär in der Sache«, hat Engels notiert) nicht übernehmen werde. Grundgedanken, Grundformen, Typen – selbst wenn solche Begriffe von Semper nie genau definiert wurden, geht es hier um die Frage, wie gewisse Organisationsmuster des Materials konkrete Gestalt annehmen. Semper will die Kunstwerke als Resultate eines Entwicklungsprozesses untersuchen, um »das innere Gesetz hervortreten zu lassen«, das sowohl in der Kunst als auch in der Natur waltet.13 So wie die Natur »bei ihrer unendlichen Fülle doch in ihren Motiven höchst sparsam ist, wie sich eine stetige Wiederholung in ihren Grundformen zeigt, wie aber dieser nach den Bildungsformen der Geschöpfe und nach ihren verschiedenen Daseinsbedingungen tausendfach modificirt […] erscheinen, wie die Natur ihre Entwicklungsgeschichte hat, innerhalb welcher die alten Motive bei jeder Neugestaltung wieder durchblicken, eben so liegen auch der Kunst nur wenige Normalformen und Typen unter […]«.14 In Der Stil erwähnt er zudem Beispiele für eine Kraft, die von den Naturkräften wie zum Beispiel der Massenanziehung und von der »Willenskraft der lebendigen Organismen« unabhängig, aber »mit beiden in Konflikt« wirkt – und wie die »glückliche Ausgleichung« dieses Konflikts in der organischen Gestalt sichtbar wird.15 So entfaltet die Natur ihre »herrlichsten Schöpfungen« wie die »elastischen Kurven der Palme, die ihre majestätische Blätterkrone kraftvoll emporrichtet«.16 Aus diesen Betrachtungen leitet Semper die Aufgabe der Architektur ab: »Die Grundidee in der Mannichfaltigkeit der Gebilde durchblicken zu lassen, ein individualisirtes aber zugleich ein in sich selbst mit der Aussenwelt in Einklang stehendes Ganzes darzustellen, darin besteht das grosse Geheimnis der Baukunst.«17 Den Ursprung dieser »Grundidee« erklärt Semper, wie seine Feststellungen zu der gesellschaftlichen Form der Sprache zeigen, nicht mit der Vollkommenheit der Schöpfung. Wie es Immanuel Kant postulierte, reicht die reine praktische Vernunft des Menschen aus, um die Gesetzmäßigkeiten von organischen Systemen der Natur, der Sprache oder der Architektur zu ­verstehen.18

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Mimesis und imitation

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In der Kunsttheorie der Antike wurde Nachahmung als Mimesis (der Begriff war mit dem Schauspiel der Mimen verbunden) und als Basis von Literatur, Theater und bildenden Künste im Gegensatz zum Handwerk verstanden. Sokrates, Platon und Aristoteles sprachen von den »nachahmenden Künsten« (mimetiké techne), um zu betonen, dass die von einem Künstler hergestellten Werke die Realität imitieren. Die Nachahmung ist allerdings kein mechanisches Kopieren, sondern die Schaffung einer anderen Wirklichkeit. Gerade durch diese Nachahmung kann jedoch der Künstler die höhere Schönheit hinter der Alltäglichkeit der Erscheinungen enthüllen. Theoretiker der entsprechenden Disziplinen verbinden Theatralität, Realismus, kulturelle Reproduktion, aber auch psychologische Identität mit der Idee der Mimesis.19 Die Idee der Nachahmung erscheint früh auch unabhängig von der Darstellungsabsicht, also vom Mimesisgedanken in Literatur und Kunst. Vitruv bringt den »Zusammenlauf von Menschen« um das wärmende Feuer (s. S. 108) als Auslöser der Entwicklung ins Spiel: Die Architektur beginnt mit der Nachahmung von Behausungen der Tiere. Eine in der Architekturtheorie zum Topos gewordene Stelle in Vitruvs Zehn Bücher über Architektur ist die Beschreibung der Entstehung des griechischen Tempels von der hölzernen Dachkonstruktion ausgehend. Die einzelnen dekorativen Details des Steinbaus sind mit der Konstruktionslogik des Holzbaus zu erklären. Die Triglyphen waren zum Beispiel ursprünglich Holzbrettchen, die die Schnittstellen der abgesägten Vorsprünge der Deckenbalken abdeckten.20 Diese Hypothese haben viele Architekturtheoretiker übernommen. In den von Charles Perrault verfassten Dialogen Parallèle des Anciens et des Modernes (1688) wurde der Lehrsatz von den hölzernen Ursprüngen des griechischen Tempels wiederholt, um die These der ständigen Entwicklung und Vervollkommnung der Architektur zu betonen.21 Vitruvs Traktat spielte auch im 19. Jahrhundert eine kritische Rolle – die verbreitete Lehre von den Charakterzügen der fünf Ordnungen und ihrer Proportionen (für Perrault noch eine zentrale Frage) als unerschütterliche Grundlage des Systems der Architektur erschien veraltet, indem die Aufmerksamkeit auf die stofflichen Faktoren gelenkt wurde. Obwohl der Unterschied zwischen dem Mimesisgedanken von Platon und Aristoteles und der Idee der Nachahmung zur Beschreibung der Entwicklung in Architektur und Handwerk evident ist, überschneiden sich die Bedeutungen der beiden Begriffe und werden oft sogar synonym verwendet. Johann Joa­chim Winckelmann (1717–1768) sprach Mitte des 18. Jahrhunderts statt von »Imi­ tation der Natur« von der »Nachahmung der antiken Kunstwerke«.22 Der als »französischer Winckelmann« bezeichnete Antoine Chrysostôme Quatre­mère de Quincy (1755–1849) schreibt 1823 in einem wichtigen Essay über imitation als eine nicht kopierende, sondern darstellende Tätigkeit.23 Als Platoniker war er bestrebt, hinter den Erscheinungen gewisse Urformen, Archetypen und »universale Modelle« wahrzunehmen. Die »individuelle und trockene Wirklichkeit« sei nicht das eigentliche Thema des Naturstudiums. Der Intellekt suche das Allgemeine und Generelle zu begreifen, was als Ergebnis des mimetischen Prozesses zum Ausdruck komme.24 Der Künstler erkenne die Zusammenhänge und Kausalitäten, und so könne er, indem er nachahmt, das Höhere,

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Ideale als Voraussetzung des Schönen herausfiltrieren. Nachahmung richtig verstanden, sei deshalb nur durch Aneignung des Prinzips der Gesetze möglich und habe nichts mit dem Kopieren partikulärer Naturgegenstände zu tun, da diese möglicherweise bereits Abweichungen vom großen Plan beinhalten. Wiederum könne man diese Gesetze nur erkennen, wenn man die Gesamtheit der natürlichen Ordnung betrachte. Quatremère behauptet, man könne in der Kunst von Nachahmung in zweierlei Sinne sprechen: Entweder ginge es um die Befolgung von allgemeinen Gesetzmäßigkeiten oder um die Beachtung von individuellen, spezifischen Merkmalen. Ein Baum im Garten könne etwa von einem Maler genau dargestellt werden, aber es sei auch möglich, dass er keinen konkreten Baum vor Auge haben müsse, da er die formalen Gesetzmäßigkeiten des Baums kennt. In diesem Fall sei sein Modell kein existierendes Exemplar, sondern ein generelles Bild, zum Beispiel das einer Eiche. Im Falle der Architektur sei dies maßgebend: Das Modell, das in der Architektur nachgeahmt wird, ist kein real existierendes, konkretes Bauwerk. Deshalb sei es richtig, nicht von Modell, sondern von Typus zu sprechen.25 Ein Modell könne mehr oder weniger genau kopiert werden, der Typus nicht. Der Typus sei deshalb ein höheres Gebilde, welches das Wesen eines Objekts veranschaulicht. Hier wird der platonische Ursprung des Typuskonzepts sichtbar als eine Form der Wahrheit in ihrer Immaterialität und Universalität. Deshalb konnte Quatremère de Quincy die viel diskutierte Urhütte niemals als realen Bau akzeptieren, den es zu imitieren gilt. Er verstand die Urhütte als Metapher, welche die wesentlichen Elemente des Anfangs veranschaulicht. Oder wir können aufgrund unserer Unterscheidung zwischen Typus und Modell die Urhütte – zum Beispiel die bekannte Dar­stellung Marc-Antoine Laugiers (s. S. 61) – als ­Modell betrachten, das geeignet ist, eine frühe, einfache und deshalb zum Studium geeignete Ausformung des Typus vor Augen zu führen. Spätestens hier wird der Unterschied zwischen Idee und Bild erkennbar. Die Idee gehört zur Sphäre des Geistes, der in seiner Suche nach Wahrheit in einer »idealen Nachahmung« seine höchste Erfüllung findet. Das Bild wiederum ist ein Produkt der Sinne, verankert in der Realität – deshalb ist hier die Nachahmung noch ganz der Materialität verhaftet. Diese Trennung der Sphären des Wahren und des Realen ermöglicht die Erarbeitung eines Systems der Künste, basierend auf der Entfernung von diesen beiden Polen. Architektur, die nichts Reales imitiert, nimmt auf dieser mimetischen Leiter einen besonderen Platz ein: Sie verwendet Materialien, Formen und Proportionen, um Emotionen und Eindrücke von Ordnung, Harmonie, Größe, Reichtum, Einheit, Dauer oder Ewigkeit zu erwecken.26 Für die Architektur ist der Typus nicht von vornherein gegeben, sondern leitet sich ab von der Definition der Bauaufgabe, die Semper als »Vorwurf« oder »Thema« bezeichnet. Das in Bezug auf Sempers Stoffwechseltheorie wichtigste Element in Quatre­mère de Quincys Theorie der Nachahmung ist sein Bestreben, Imitation nicht als Kopieren, sondern als eine frei assoziierende, spielerische Tätigkeit zu beschreiben. Das wesentliche Moment der Imitation sei die Transformation, wobei man bestehende Konventionen befolgen müsse. Diese Freiheit sei notwendig, da die Ausführenden die Vorbilder in verschiedenen Materialien umsetzen, die das Ergebnis beeinflussen. Quatremère de Quincy unterschied zwischen drei Baustoffen in der Natur: Erde, Stein und Holz. Wie die meisten Architekturtheoretiker vor ihm betrachtete er Holz als das Urmaterial. Die ur-

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sprünglichen Typen, welche die Natur liefert, und auch die hölzerne Urhütte werden im Prozess der transformierenden Nachahmung zu Artefakten der Kunst. Die Nachahmung der Holzhütte in Stein entnaturalisiere das Modell durch Verwendung des rationalen Systems der Säulenordnungen. Der Werkstoff Stein könne in sich der Architektur keine Regel geben – erst durch den Prozess der Nachahmung werde Architektur zu einer art raisonné. Imitierte ein Holzhaus immer ein anderes Holzhaus, wäre die klassische Säule nie entstanden. Die Tatsache, dass der Architekt die Holzarchitektur immer interpretieren musste, sobald er mit Stein baute, führte zu dem ganzen Reichtum der Formen in der Stein- oder Ziegelarchitektur. Die Nachahmung eines Holzbaus in Stein sei ein idealisierender, interpretierender Vorgang, der sowohl Identität als auch Differenz produziere − eine Distanz zwischen dem Original und dem Kunstwerk wie zwischen einer Person und ihrem Porträt. Die Freude an der Nachahmung gehe laut Quatremère de Quincy auf die Arbeit mit dem fremden Material zurück: Es sei die »prétention de voir une image produite par une matière étrangère à son modèle. Voilà le principe du jeu de l’illusion« (der Anspruch, ein Bild in einem von seinem Modell fremden Material zu betrachten. Darin besteht das Prinzip des Spiels der Illusion).27 Der Materialwechsel betone den Unterschied zwischen der Realität als faktischer Wahrheit und der Idealität als höherer, intellektueller Wahrheit. Dies erklärt auch Quatremères Opposition zum pittoresken englischen Garten, den er als eine geistlose Reproduktion der Natur verstand. Die wahre Imitation der Natur sei nicht in natürlich erscheinenden Arrangements zu finden, sondern im ­geometrischen Garten, der die Gesetzmäßigkeit der Natur und nicht ihre ­Zufälligkeiten nachahme. Nachahmung verbindet also in den Augen Quatremère de Quincys das Reale mit dem Idealen, überbrückt Distanz durch Ähnlichkeit. Die griechischen Tempelbauten sind für Quatremère de Quincy ehrliche Lügner, da sie ihren mimetischen Charakter, ihre Nichtidentität mit dem imitierten Vorbild offenlegen.28 Diese Gedanken haben Semper inspiriert, aber Quatremères »fruchtlose Grübeleien« über die Nachahmung von kon­ kreten Modellen wie die Holzhütte, die Höhle oder das Zelt lehnte er klar ab.29

Nachahmung und die Gesetze der Form

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Im 19. und 20. Jahrhundert wurde Nachahmung von vielen Philosophen als allgemeines Prinzip der Künste diskutiert. Goethe schrieb bereits in einem 1795 entstandenen Text, dass die Höchstleistungen der Baukunst eine reflektierte Betrachtung verlangen, welche Schein als solche erkennen und würdigen kann: »Die Baukunst ist keine nachahmende Kunst, sondern eine Kunst für sich, aber sie kann auf ihrer höchsten Stufe der Nachahmung nicht entbehren; sie überträgt die Eigenschaften eines Materials zum Schein auf das andere wie z. B. bei allen Säulenordnungen die Holzbaukunst nachgeahmt ist; sie überträgt die Eigenschaften eines Gebäudes aufs andere wie sie z. B. Säulen und Pilaster mit Mauern verbindet, sie tut es um mannigfaltig und reich zu werden und so schwer es hier vor den Künstler ist immer zu fühlen ob er das schickliche tue, so schwer ist es für den Kenner zu urteilen ob das schickliche getan sei.«30 Goethes Gedanken zur Nachahmung und zur Entfaltung der Form sind von

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seinen Naturbetrachtungen, vor allem von seiner Theorie zur Metamorphose der Pflanzen inspiriert. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling unterscheidet in seiner Philosophie der Kunst (1802/03) zwischen organischen und anorganischen Kunstformen, um dann für die Architektur als Kunst die Nachahmung ihrer eigenen Formen zu fordern: »Die Architektur, um schöne Kunst zu seyn, muß von sich selbst als Kunst des Bedürfnisses die Potenz oder Nachahmung seyn. Beweis. Denn ihrem letzten Grund nach bleibt sie der Beziehung auf Zweck untergeordnet, indem das Anorgische als solches zur Vernunft nur ein mittelbares Verhältniß, also nie symbolische Bedeutung haben kann. Um also einerseits der Nothwendigkeit zu gehorchen, andrerseits sich über sie zu erheben, und die subjektive Zweck­mäßigkeit zu einer objektiven zu machen, muss sie sich selbst Objekt werden, sich selbst nachahmen.«31 Als Anmerkung fügt Schelling noch hinzu: »Es versteht sich von selbst, dass diese Nachahmung nur so weit geht, als dadurch wirklich eine Zweckmäßigkeit im Objekte selbst gesetzt wird.«32 Schelling verweist auf die vitruvsche Genealogie des dorischen Tempels als Beweis dafür, dass sich die Architektur »ideal macht«; als sie sich über das bloße Bedürfnis erhebt, streift sie die ursprünglichen »rohen Formen« ab.33 So wird der »behauene Baumstamm« als Ursprung der dorischen Ordnung sein Vorbild in der Natur ablegen, um zur »Vorbedeutung von etwas Höherem« zu werden.34 Mit dem Gedanken, dass Architektur als Kunst das unmittelbare Bedürfnis »abstreifen« müsse, nahm Schelling eine zentrale These Sempers vorweg. Die Nachahmung eines Holzbaus mithilfe von Marmor sei ein Mittel, um Architektur aus den Klammern des im Bedürfnis und Material verankerten Bauens zu befreien, damit sie zur Baukunst, zur »erstarrten Musik«35, werden könne. Architektur ist sowohl für Schelling als auch für Semper eine konstruierende Tätigkeit, welche den Zweck des Ganzen und die Funktionen der Teile in dauerhaften Formen darstellt. Architekten und Theoretiker, die im 19. Jahrhundert den Vorbildcharakter der griechischen Antike begründen wollten, leisteten mit den von ihnen »rekonstruierten« Konstruktionsprinzipien des antiken Tempels und mit ihren Interpretationen von Details wie Kapitellen oder Triglyphen wichtige Vorarbeiten zu Sempers Stoffwechsel- und Bekleidungstheorie. Der Archäologe Aloys Hirt (1759–1837), Lehrer von Karl Friedrich Schinkel und Leo von Klenze an der Berliner Bauakademie, stellt in seinem großen Werk Die Baukunst nach den Grundsätzen der Alten (1809) fest, dass die Architektur keine die Natur nachahmende Kunst wie die Bildhauerei oder Malerei sei: »Ihr Wesen beruht auf den Gesetzen einer richtigen Mechanik, wovon die Natur kein Modell zur Nachahmung aufgestellt hat. Sie ist das Werk der Erfahrungen und Erfindungen von vielen Menschen, Zeitaltern und Völkern.«36 Durch die so gewonnenen Gesetze »erhielt die Construction allmählig jene Erweiterung, Dauerhaftigkeit und Vereinfachung, dass ein Bau sich gleichsam zur Vollkommenheit eines natur­organischen Körpers erhob. Erst dann, als die Kunst auf diesem Punkt angelangt war, entstand eine Art von allgemeinem Vorbilde, wozu hauptsächlich die Zimmerkunst die Grundlage gab«.37 Die Abbildungen in seinem Werk sollen die Entstehung der Holzarchitektur aus der »dachförmigen Hütte« zeigen. (Abb. 6.1) Bereits Goethe hatte Laugiers Modell der Urhütte sarkastisch abgelehnt: »Zwei an ihrem Gipfel sich kreuzende Stangen vornen, zwei hinten und eine Stange quer über zum First ist und bleibt, wie du alltäglich an Hütern

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6.1 Die dachformige Hütte (Fig. I), die Hütte in Form eines gebrochenen Daches (Fig. II), und das Holzhaus mit Schnitt und Grudriss (Fig. III–VI). Tafel in A[loys] Hirt, Die Baukunst nach den Grundsätzen der Alten, Berlin 1809. 6.2 Grundriss und Ansicht des toskanischen Tempels nach Vitruv (Fig. 1–2), Grundriss und Ansicht ­eines dorischen Tempelbaues (Fig. 3–4). Tafel in A[loys] Hirt, Die Baukunst nach den Grundsätzen der Alten.

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der Felder und Weinberge erkennen kannst, eine weit primävere Erfindung, von der du doch nicht einmal Prinzipium für deine Schweinställe abstrahieren konntest.«38 Hirts Zeichnung scheint dieser Beschreibung der einfachsten Hütte genau zu entsprechen. Der Steinbau richtete sich ihm zufolge nach dem Holzbau: »Der Steinmetz nahm hierin die Arbeit des Zimmermanns zum Vorbild. Dies ward für die gesammt alte Kunst ein Fundamentalgesetz.«39 Für Hirt liegt in diesem Prozess der »Verfeinerung und Vollendung« die Modellhaftig-

6. Das Leben der Materie

6.3 Vergleichende Darstellung von zentralen Gebäudetypen aus ­Aloys

Hirt, Die Geschichte der Baukunst bei den Alten, Berlin 1821.

keit, »die Wesenheit oder das Ideal« der griechischen Baukunst.40 Es ist der Charakter, der auch eine schmucklose Konstruktion zum Werk der Baukunst erheben kann. (Abb. 6.2) Hirt hat die typologische Entwicklung von Grundrissformen einfacher genetischer Konfigurationen, ausgehend von vergleichenden Tafeln, gesammelt. (Abb. 6.3) Die Nachahmung von Formen war ein Leitmotiv in den Publikationen des französischen Architekten und Archäologen Charles Chipiez über die Architektur der Antike. Chipiez war Professor der École spéciale d’Architecture, einer privaten Architekturschule in Paris. Seine gemeinsam mit Georges Perrot in acht Bänden veröffentlichte Histoire de l’art dans l’antiquité (1882−1889) präsentiert ein opulentes, sehr detailliert gezeichnetes Bildmaterial, das von den Architekten im 19. Jahrhundert jedoch kaum wahrgenommen wurde. 1876 ­erschien die Schrift »Kritische Geschichte der Ursprünge und Entwicklung der griechischen Ordnungen« (Histoire critique des origines et de formation des ­ordres grecs) von Chipiez, in der er seine Rekonstruktionszeichnungen der hölzernen Urformen präsentierte.41 (Abb. 6.4) Zeichnerische Argumente trugen in Frankreich zur Verbreitung der Lehre, dass die dorische Ordnung die Imitation des Systems der Holzarchitektur sei, wesentlich bei. Auch Le Corbusier zeichnet in seinem Buch Une maison – un palais (1928) die »ancestrales demeures des paysans de la Mésopotamie« (traditionelle Häuser der Bauern Mesopotamiens) aus dem Werk von Chipiez nach.42 (Abb. 6.5) Die viel bewunderten, prägnanten axonometrischen Zeichnungen des französischen Architekten und Architekturtheoretikers A ­ uguste Choisy in seinem Werk Histoire

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6.4 Holzhütte in Kleinasien als ­ odell für die dorische Ordnung, M in Charles Chipiez, Histoire critique des origines et de formation des ordres grecs, Paris 1876. 6.5 Le Corbusiers Darstellung des mesopotamischen Bauernhauses und seiner Entwicklung in seinem Buch Une maison – un palais, Paris 1928.

de l’architecture (1899) stellen die »Versteinerung« der Holzarchitektur in der antiken Baukunst anschaulich dar.43 (Abb.  6.6) Choisy berichtet hier auch über die Kritik von Heinrich Hübsch, der in seinem 1822 veröffentlichten Buch Über griechische Architektur vor allem Hirt kritisiert hatte und beweisen wollte, dass die Vollkommenheit des antiken Tempels das Ergebnis genauer Kenntnisse der Konstruktionsregeln des Steinbaus und der Materialeigenschaften sei, weswegen von der Nachahmung eines primi­tiven Holzbaus keine Rede sein könne.44 Choisy ließ die Einwände von Hübsch bezüglich der dem Steinbau entsprechenden Profilierung der Säulen gelten, meinte aber, dass die beiden Hypothesen miteinander versöhnbar seien – die griechischen Dachkonstruktionen waren eben maçonneries de bois, hölzerne Steinmetzarbeiten. Akzeptiert man die Theorie von Hübsch, sollten gerade die frühesten Anlagen die höchste Übereinstimmung zwischen Steinkonstruktion und Form zeigen. Choisy fand aber dort auch die meisten Unstimmigkeiten.45

Stoffwechsel und Evolution

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Es ist die Aufgabe der archäologischen Anthropologie, aus den Fragmenten der Vergangenheit Entwicklungsketten zu rekonstruieren – ein Verfahren, das »Seriation« heißt. Es wird dabei angenommen, dass die formalen Ähnlichkeiten auf typologische Zusammenhänge hinweisen. Modifikationen in der Form lassen auf Verbesserungen und Adaptationen eines Gebrauchsgegenstands schließen. Die Aufzeichnung dieser Prozesse führt zu Diagrammen, die auch Verästelungen zeigen, etwa den lokalen Anpassungen eines Typs entsprechend. Nachahmung, also imitation als ein reflexhaft wiederkehrendes Muster der Entwicklung der Formen, wird bereits in den Anfängen der Architektur­ theorie thematisiert. Die ethnografischen Exponate im Kristallpalast beförder-

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6.6 Die Materialtransformation des Holztempels in Auguste Choisy, ­Histoire de l’architecture, Bd. 1., Paris 1899. 6.7 Die Evolution von Waffen in A[ugustus] Lane-Fox Pitt Rivers, The ­Evolution of Culture and Other Essays, Hg. von J. L. Myres, Oxford 1906.

ten die Erstellung von Klassifikationssystemen. Der britische Generalleutnant ­Augustus Lane-Fox Pitt Rivers legte eigens eine große Sammlung an und erfasste die (hypothetischen) Evolutionsstufen einzelner Geräte, zum Beispiel Waffen der australischen Urbewohner, in Diagrammen. Um die Divergenz der Trajektorien der Evolution anhand von Zeit und geografischem Raum (in diesem Fall in verschiedenen Regionen von Australien) zu demonstrieren, sind Keulen, Bumerangs, Schilder und Lanzen sternförmig um einen Holzstab als Grundform angeordnet.46 Wie Philip Steadman argumentiert, ging es nicht darum, dass durch die Evolution eine Form einen bestimmten Zweck immer besser erfüllte – die Funktion selbst entwickelte sich mit der Form.47 (Abb. 6.7) Das System von Pitt Rivers wurde mit Sempers Vorschlag für ein ideales Museum etwa gleichzeitig in London ausgearbeitet, und viele der ethnografischen Objekte, die er untersuchte, waren genau dieselben, welche auch Owen Jones und Semper ­studierten.48 Der Kurator der ethnografischen Sammlung der Universität in Oxford, Henry Balfour – von dem die Einführung zu Pitt Rivers’ The Evolution of Culture stammt –, und der Anthropologe und Zoologe Alfred C. Haddon untersuchten jeweils eine große Anzahl von Objekten ihrer Sammlungen. Sie entdeckten, dass Handwerker in Stammesgesellschaften nicht bereit waren, für neue Werkstoffe und neue Verwendungen auch neue Formen zu finden: »To many minds new designs are unvalued; they awaken no sympathy, they are devoid of asso­ciations; like alien plants, they pine away and die« (Viele denken, dass neu erfundene Formen wertlos sind; sie erwecken keine Sympathie, keine Asso­ ziationen; sie verkümmern und sterben wie fremde Pflanzen), schreibt Haddon

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in seinem Buch Evolution in Art (1895).49 Statt etwas neu zu erfinden, übernahmen die Handwerker die alten Formen mit gewissen Änderungen. Der Motor des Evolutionsprozesses sei Nachahmung, bestätigt auch Balfour in E ­ volution of Decorative Art: »Nachahmung ist die Mutter der Kunst, sie ist das Ergebnis des Verlangens, ein Objekt zu besitzen oder eine Wirkung nachzu­empfinden, die bewundert wird; sie ist Teil unserer Natur, und ist wahrscheinlich der vornehmliche Anreiz in der frühen Entwicklung der ­bildenden Kunst«.50 Haddon nennt in Evolution in Art noch anschaulichere Beispiele für diesen Vorgang. Er zeigt, wie beispielsweise Steinklingen in Holzgriffe eingefügt und mit diagonal geführten Bindungen aus Fasern befestigt wurden. Später, als das Messer oder der Dolch in einem Stück gefertigt oder die Klinge mit Bolzen innerhalb des Griffs befestigt wurde, war diese Bindung überflüssig, ihre Form blieb jedoch als gemaltes oder geschnitztes Ornament erhalten. Haddon führt neue Begriffe für die verschiedenen Formen ein, um die Möglichkeiten zu bezeichnen, wie Ornamente natürliche oder konstruktive Vorbilder repräsentieren können. Diese Vorbilder können pflanzlicher (phyllomorphs) bzw. tierischer Art (zoomorphs) sein oder ein anderes Objekt oder eine Tätigkeit darstellen (physicomorphs). Besondere Aufmerksamkeit schenkt Haddon den Formen, die er »Skeuomorphe« (skeuomorphs) nennt. (Abb. 6.8 a, b) Skeuomorphe imitieren eine frühere konstruktive Form wie das bereits erwähnte Beispiel der Bin­dungen. Dieses Phänomen fand er öfter bei Tongefäßen, die vor dem Ausbrennen mit ­Faserbindungen stabilisiert worden waren, damit sie im Brennofen nicht auseinanderfallen. Später, als man mit festerem Ton arbeitete, waren diese ­Bindungen nicht mehr notwendig, doch deren Form überlebte als Ornament. Haddon präsentiert, sich auf die Beschreibung von H. Colley March stützend, die auch von Semper diskutierten lykischen Grabmonumente (ein Grabmal, der sogenannte »tomb of Payava« steht im British Museum) als schlagkräftigsten Beweis für das Phänomen der Skeuomorphie in der ­Architektur (s. S. 193).51 Haddons System wurde noch komplexer, als er Kreuzungen von Stoffwechseltypen – heteromorphs of skeuomorphs, heteromorphs of biomorphs, sogar heteromorphs of skeuo-biomorphs beschreibt.52 Inzwischen wurde der Begriff »Skeuomorph« zu neuem Leben erweckt: N. Katherine Hayles schlägt in ihrem Buch How We Became Posthuman (Wie wir posthuman wurden, 1999) vor, Formen der analogen Kultur, die in der digitalen weiterleben (z. B. ­Zeiger, Hebel oder Pedale als Symbole auf Bildschirmen), als Skeuomorphe zu bezeichnen.53 Dies würde das »Faulheitsprinzip« in der Entwicklungsgeschichte der Gebrauchsgegenstände bestätigen: Bis zeit- und technikadäquate Formen gefunden werden, könnten Skeuomorphe als Platzhalter dienen. Die britische vom Evolutionismus inspirierte Architekturtheorie, der amerikanische Transzendentalismus, aber auch der deutsche Idealismus und die seinerzeit neuen psycho-physiologischen Forschungen beeinflussten das Werk von Leopold Eidlitz (1823–1908) in den Vereinigten Staaten. Der in Prag geborene Eidlitz, der an der Technischen Hochschule in Wien studiert hatte und im Jahre 1843 in die USA übersiedelte, veröffentlichte 1881 sein Buch The Nature and Function of Art, More Especially of Architecture, in dem er eine komplexe These der Naturnahmung postulierte. Alle natürlichen Organismen, schreibt er, besitzen die mechanische Fähigkeit, gewisse Funktionen auszuüben. Sie bleiben nicht bei der Erfüllung dieser Funktionen, sie drücken diese auch aus,

6. Das Leben der Materie

6.8 a, b Illustrationen aus Alfred C. Haddon, Evolution in Art as Illustrated by the Life-Histories of Designs, London 1895. Skeuo­ morphismus von Korbflechten und von Holzkonstruktionen.

»they tell the story of their being«.54 Der Architekt, indem er diese natürliche Kondition des Stoffs imitiere, modelliere seine Formen so, dass diese auch über ihre Funktionen − die mechanischen Zustände von Kraft oder Ruhe − erzählen. Diese Erzählung sei möglich, wenn der Ausdruck einfacher konstruktiver Formen, die den Gesetzen der Natur folgen, durch Dekoration erhöht werde. Eidlitz warnt allerdings davor, dass die geschnitzte und polychrome Dekoration von den Regeln der Mechanik bestimmt sein müsse. Werde diese miss­ achtet, entstehe Disharmonie zwischen Baumasse und Dekoration.55 Obwohl ­Eidlitz selbst als Architekt tätig war, findet seine eklektische Ästhetik wohl ihren besten Ausdruck im Werk von Frank Furness (1839–1912). Furness war neben seinem Zeitgenossen Henry Hobson Richardson einer der originellsten nordamerikanischen Architekten des 19. Jahrhunderts, der neben Eidlitz auch von Eugène E. Viollet-le-Duc und John Ruskin beeinflusst war. Seine Pennsylvania Academy of the Fine Arts in Philadelphia (1871–1876) und die Bibliothek der University of Pennsylvania (1888–1891) sind Kreuzungen historischer Architekturformen mit biomorphen Details und exponierten Eisenkonstruk­ tionen. (Abb. 6.9, 6.10)

Semper, Darwin und das organische Kunstwerk Nach Darwin geht es nicht mehr um die Bewunderung der Schöpfung in den Werken der Natur, sondern um ein neues Naturverständnis, das ohne Tragik nicht auskommt. Wir müssen im Sinne behalten, schreibt der Naturforscher, »dass jedes zu irgend einer Zeit seines Lebens oder zu einer gewissen Jahreszeit, in jeder Generation […] um’s Dasein kämpfen muss und grosser Vernichtung ausgesetzt ist. Wenn wir über diesen Kampf um’s Dasein nachdenken, so mögen wir uns mit dem festen Glauben trösten, dass der Krieg der Natur nicht ununterbrochen ist, dass keine Furcht gefühlt wird, dass der Tod im Allgemeinen schnell ist, und dass der Kräftige, der Gesunde und Glückliche überlebt und sich vermehrt«.56

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Semper schlägt einen ähnlich tragischen Ton im Vorwort von Der Stil an: »Ein endloser Kampf, ein furchtbares Gesetz des Stärkeren, wonach einer den anderen frisst, um wieder gefressen zu werden, geht zwar durch die gesammte Natur hindurch, manifestirt sich aber in seiner ganzen Grausamkeit und Härte in der uns zunächst stehenden Thierwelt, bildet den Inhalt unserer eigenen irdischen Existenz und denjenigen der Geschichte.«57 In seiner Vorlesung »Ueber Baustile«, die er am 4. März 1869 im Rathaus von Zürich hielt, äußerte sich Semper kritisch über die Architekten, die in der Rückkehr zu gotischen Prinzipien die Möglichkeit einer nationalen Formensprache sahen. Neben diesen »praktischen Lösungen der Stilfrage gegenüber« existiere auch eine andere Auffassung, »wonach die Baustile gar nicht erfunden werden, sondern nach den Gesetzen der natürlichen Züchtung, der Vererbung und der Anpassung sich aus wenigen Urtypen nach verschiedenen Richtungen hin fortentwickeln, ungefähr ähnlich wie es bei der Entstehung der Arten in den Reichen der organischen Schöpfung vorausgesetzt wird«.58 Der Hinweis auf Darwin ist eindeutig. Semper macht allerdings gleich auch klar, dass er die aus der Naturbetrachtung gewonnenen Einsichten nicht ohne Weiteres für auf die Architektur übertragbar hält: »Uns will diese Anwendung des berühmten Axioms: die Natur macht keine Sprünge, und der Darwinschen Artenentstehungslehre auf die besondere Welt des kleinen Nachschöpfers, des Menschen, doch einigermassen bedenklich erscheinen, angesichts dessen, was die Monumentenkunde zeigt, die uns sehr oft die monumentalen Versinnli­ chun­gen bewußtvoll festgehaltener Gegensätze der nebeneinander fortgehenden oder hintereinander folgenden Kulturformen der Völker vorführt.«59 Für Semper gibt es einen klaren Unterschied zwischen den Formen der Natur und den Formen der menschlichen Technik. Seine Erklärung, worauf die Form zurückgehe, unterscheidet sich also radikal von den Theorien seiner Zeitgenossen wie Alois Riegl, die die Entstehung des Kunstwerks mit dem »Kunstwollen« der Epoche oder dem Subjekt des Künstlers erklären. In Sempers Theorie spielt der »divinatorische Künstlersinn« zwar eine bestimmende Rolle, aber in seiner Vorstellung hängt dieser mit der Fähigkeit des Künstlers zusammen, diejenigen Faktoren zu verinnerlichen, die das Kunstwerk von außen bestimmen. Der Einfluss des Materials auf die Form ist also kein direkter, mechanischer, sondern wird vom Subjekt des gestaltenden Künstlers vermittelt. Diese Überzeugung hat Semper in seiner Zürcher Vorlesung klar ausgesprochen (wir erinnern uns an die Bemerkung von Reynaud, s. S. 164): »Man bezeichnet sehr richtig die alten Monumente als die fossilen Gehäuse ausgestorbenen Gesellschaftsorganismen, aber diese sind letzteren, wie sie lebten, nicht wie Schneckenhäuser auf den Rücken gewachsen, noch sind sie nach einem blinden Naturprozesse wie Korallenriffe aufgeschossen, sondern freie Gebilde des Menschen, der dazu Verstand, Naturbeobachtung, Genie, Willen, Wissen und Macht in Bewegung setzte.«60 Der wichtigste Faktor ist »der freie Wille des schöpferischen Menschengeistes«, der aber sich innerhalb »höherer Gesetze des Ueberlieferten, des Erforderlichen und der Notwendigkeit bewegen muß, aber sich diese durch freie objektive Auffassung und Bewertung aneignet und gleichsam dienstbar macht«.61 Sempers Kategorie des organischen Kunstwerks hat mit Biomorphie, also mit der Nachahmung der Natur, nichts zu tun. Er verlangt eine Form, »wodurch das freie Menschenwerk als Naturnothwendigkeit erscheint, der allge-

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6.9, 6.10 Pennsylvania Academy of the Fine Arts, Philadelphia. Frank Furness, 1871–1876.

mein verstandene und empfundene formale Ausdruck einer Idee wird«.62 In diesem Sinne interpretiert er auch die bleiernen Schleudergeschosse der Griechen, deren optimale ballistische Form er mit eigenen Berechnungen bestätigt. Er geht davon aus, dass die alten Griechen die Naturgesetzte nicht nur beobachteten, sondern sie wirklich erforschten. Das heißt, sie bildeten die Natur­ formen nicht nach, sondern schufen »unabhängig von aller Nachahmung, ihre

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eigenen Gebilde […], die mit denen der Natur eben nur in der Gemeinschaftlichkeit des Gesetzes zusammentrafen«.63 (Abb.  6.11) Ähnlich verhält es sich mit der Aufgabe der Architektur von der Gestaltung einer gesetzmäßig organisierten organischen Gesamtheit, die nichts mit der direkten Nachahmung der Naturformen zu tun hat.

Darwinistisches über die Stilentwicklung

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Der Kölner Architekt Georg Heuser begann 1890 in Ludwig Försters Allgemeine Bauzeitung, eine Reihe von Aufsätzen unter dem Titel »Darwinistisches über Kunst und Technik« zu veröffentlichen – in den gleichen Heften, in denen auch über die neue Brücke Firth of Forth in Schottland berichtet wurde.64 Heuser zitiert Darwin im Hinblick auf die Zuchtwahl in Natur und Technik und weist auf die Forschung des Geografen, Philosophen und Pädagogen Ernst Kapp hin, der mit seinem Buch Grundlinien einer Philosophie der Technik (1877) eine Entwicklungslehre der Werkzeuge als »Organprojektionen« lieferte.65 Der Hammer gleiche dem Arm mit der Faust und die Säge dem Gebiss, fasst Heuser zusammen und verweist auf weitere Übereinstimmungen zwischen dem tierischen und menschlichen Organismus und den Werkzeugen und Maschinen. Sein Ideal, eine moderne und ausdrucksstarke Eisenarchitektur, sei das Ergebnis der Evolution der Bautechnik »in Darwin’schem Sinne«: Die Entwicklung der Querschittsformen der Stützen führe von den Vollprofilen aus Holz und Stein in Richtung von leichteren Konstruktionsgliedern, die etwa bei der Erscheinung des Gewölbebaus durch Wegnahme des Stoffs gestaltet werden.66 (Abb.  6.12) Diese Evolution der Stütze führe zur Entstehung des Gefachstils, einer Eisen- und Glasarchitektur mit geringem Materialverbrauch. »Es ist hier wie überall; die geeignetere Nahrung, der verbesserte Rohstoff hat eine Erweiterung der Organe und ihrer Projektionen zur Folge.«67 Eine Neubewertung des von Semper gesichteten und interpretierten Materials unter Berücksichtigung neuer Erkenntnisse der Wahrnehmungspsychologie unternahm 1888 Alfred Göller, Professor am Polytechnikum in Stuttgart, in seinem Buch Die Entstehung der architektonischen Stilformen. Eine Geschichte der Baukunst aus dem Werden und Wandern der Formgedanken.68 Göller unterscheidet die beiden Quellen der kunstgewerblichen und architektonischen Formentradition als einerseits »das Schaffen nach den geometrischen Formgesetzen, die aus der Natur und den Dingen des werkthätigen Lebens als eine Ursache des Wohlgefallens herausgefühlt worden waren«, und andererseits »die Nachbildung der Natur und anderer Gebilde der Aussenwelt, um jene gedächtnissbilderanregende, erfreuende Verwandtschaft mit früher gesehenen Formen und eigenen Werken niederzulegen«.69 Die Neugestaltung in der Architektur geschehe vor allem »durch Umbildung vorhandener Architektur«, stellt Göller fest und vergleicht wie Semper die Entwicklung der architektonischen Formensprachen mit den »Völkersprachen«.70 Sorgfältig unterscheidet er in der Form­ entwicklung zwischen drei grundsätzlichen Prinzipien: Übertragungen, Umbildungen und Verbindungen oder Kombinationen. Zu den Übertragungen gehört im Sinne der semperschen Stoffwechseltheorie bei ihm das »Uebertragen einer Architekturform auf ein anderes Material«, aber auch die »Darstellung

6. Das Leben der Materie

6.11 Form eines altgriechischen

Schleudergeschosses mit der Berechnung des geringsten Widerstandes. Gottfried Semper, Ueber die bleiernen Schleudergeschosse der Alten und über zweckmässige Gestaltung der Wurfkörper im Allgemeinen. Frankfurt am Main 1959.

einer nicht vorhandenen statischen Leistung« oder die »Uebertragung einer an einer bestimmten Werkform entwickelten Schmuckform auf eine andere Werkform« (z. B. eines gotischen Maßwerks auf Turmdächer).71 In die Kategorie der Umbildung gehören laut Göller das Ersetzen »einzelner Züge einer Form«, die »mäßige Veränderung der Massverhältnisse«, die Änderung der Formelemente »unter Beibehaltung ihrer Zusammensetzungsweise«, die Vereinfachung oder Weglassung bestimmter Teile und die »Steigerung eines formalen Reizes oder Umbildung mit Verstärkung bestimmter Züge«.72 Göller schließt sein Buch mit einem Entwicklungsmodell, das auf der psychologischen Sättigung, dem ästhetischen Stoffwechsel und Verschleiß der Formen in der gesellschaftlichen Rezeption beruht: »Wie die Flamme sich nur erhalten kann, indem sie sich verzehrt, wie das organische Leben sich nur erhalten kann im langsamen Verbrauch und Wechsel der Stoffe, die es gestaltet, so lebt auch das ästhetische Gefühl vom langsamen Verbrauch der Schönheit und Grösse der Dinge, auf die es gerichtet ist, so existirt auch die Schönheit der Architektur nur als ein fort und fort verändertes Gefühl, das sich fort und fort in neuen Formen neu erzeugen oder erlöschen muss, und ihre Werke sind ein immer werdender Widerschein des immer werdenden Menschengeistes,

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6. Das Leben der Materie

6.12 Entwickelung von Bauarten.

G[eorg] Heuser, »Darwinistisches über Kunst und Technik«, in Allgemeine Bauzeitung, 1890.

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womit sich dieser wie durch sein eigenes inneres Licht hinausprojizirt in den Raum.«73 Mit dieser Feststellung stellt Göller die Theorie der Formverwandlung auf eine neue psychologische Grundlage – ähnlich wie Riegl –, ohne ­jedoch der Theorie Sempers zu widersprechen. Sein Fazit ist pessimistisch, weil am organischen Modell von Blüte und Verfall modelliert: »Fertige Völker«, die sich nicht mehr in der Phase des Aufblühens befinden, schaffen »weder Baustil noch Sprache mehr; sie können nur noch in beiden zu höherer Vollkommenheit reifen, was sie heranwachsend erschaffen oder von anderen Völkern und Zeiten über­nommen haben, und es endlich in hundertfältiger Umbildung ­verbrauchen«.74 Evolutionistische Erklärungsmodelle der Stilentwicklung haben sich in den Theorien von Kunstgewerbe und Architektur lange Zeit gehalten, sie erreichten jedoch kaum die konzeptuelle Komplexität Göllers. Der ungarische Architektur Ödön Lechner (1845–1914) erklärte seine Verwendung der sowohl aus den historischen Stilen als auch aus den der Volkskunst entlehnten Formen als »Kreuzungsversuche«, um die Stilentwicklung in eine modern-großstädische und zugleich nationale Richtung zu lenken; er bezog sich dabei auf die Analogie von Sprache und Architektur.75 (s. Abb. 8.31) Hermann Muthesius wiederholte in seinem im Jahrbuch 1913 des Deutschen Werkbundes abgedruckten Vortrag »Das Formproblem im Ingenieurbau« Haddons Faulheitsprinzip in der Entwicklung adäquater technischer Formen: »Die Geschichte der menschlichen Technik zeigt auf Schritt und Tritt, daß zwar die Erfindung neuer Vorrichtungen verhältnismäßig rasch ist, und wie es scheint, ohne Mühe vor sich geht, daß es aber den Menschen stets sehr schwer gefallen ist, für die neuen Schöpfungen die endgültige Form zu finden. Regelmäßig entsteht hier Verlegenheit. Und regelmäßig greift man auf die geläufigen Formen ähnlicher früherer Dinge. Die ersten Eisenbahnwagen waren auf Schienen gestellte Postkutschen, die ersten Dampfer waren Segelschiffe mit einer eingebauten Dampfmaschine, die ersten Lichtauslässe der Gaskronen imitierten die Wachskerze.«76 Auch die Säulen des dorischen Tempels seien in einem nächsten Schritt dem Materialwechsel unterworfen, indem sie, aus Eisen gegossen, zu »stützenden Gliedern« in Maschinen werden. Die Idee der Evolution wurde der Werkbundbewegung in die Wiege gelegt, die Reformpädagogik und die Gründung von Werkstattschulen in Europa und in den Vereinigten Staaten wurden in enger Zusammenarbeit entwickelt. Alwin Pabst, Leiter der Kunstgewerbeschule in Leipzig, verglich nach seinem Besuch der Unterrichtsausstel-

6. Das Leben der Materie

6.13 Alwin Pabst, Abbildung zum

Artikel »Technische Arbeit als Erziehungsmittel«, in Kunstgewerbe­ blatt, N. F. 19 (1908).

lung in St. Louis im Jahre 1904 in einem Beitrag für das Kunstgewerbeblatt die deutsche und die amerikanische Axt und attestierte Letzterer eine vollkommene Zweckmäßigkeit und Schönheit, weil sie bei gleichem Kraftaufwand eine zwei- bis dreifach höhere Leistungsfähigkeit als die deutsche Axt erreiche. Die Evolution des Werkzeugs sei ein Prozess der Anthropomorphisierung, also der zunehmenden Anpassung an den menschlichen Körper im Sinne von Ernst Kapps Lehre von der Organprojektion, und sie zeige einen immer effizienteren Umgang mit Energie. Mit Hinweisen auf Goethe und Emerson betont Pabst die Notwendigkeit der handwerklichen praktischen Erfahrung, welche das rein theoretische Studium nie ersetzen könne.77 (Abb. 6.13) Ähnlich wie Muthesius sprechen auch Adolf Loos oder Le Corbusier über die Entwicklung der Gebrauchsgegenstände. Der Weg der Entwicklung gehe in Richtung der von historischen Reminiszenzen bereinigten Form: Die elektrischen Leuchten von Peter Behrens lösten die kerzenbestückten Kronleuchter, die neuesten Citroën-Modelle die Pferdekutschen ab. Eine material- und konstruktionsgerechte Gestaltung bedeutete zugleich eine wachsende Unabhängigkeit von der Vorgeschichte, die Entfernung der Ornamente als Überbleibsel sinnlos gewordener Konstruktionsformen.78 (Abb. 6.14)

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6. Das Leben der Materie

6.14 Auf der Suche nach einem

Typ. Die Evolution des Automobils. Le Corbusier, Vers une architecture, 2. Aufl. Paris 1929.

Die Mimesis in der Kunsttheorie des 20. Jahrhunderts

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Bei Georg Lukács’ Realismuskonzept und bei Theodor W. Adornos ästhetischer Theorie spielt die Mimesis eine zentrale Rolle. In seinem Buch Ästhetische ­Theorie beschreibt Adorno die Mimesis als den Schatten der Aufklärung im Sinne der modernen Verherrlichung der Vernunft und als einen anderen, älte­ ren Weg zur Erkenntnis: »Kunst ist Zuflucht des mimetischen Verhaltens.«79 Ein Kunstwerk entstehe aus einem mimetischen Impuls heraus, der jedoch von der Ratio­nalität reguliert werde: »Kunst ist Rationalität, welche diese kritisiert, ohne ihr sich zu entziehen […]«.80 Das mimetische Moment erkläre die kri­ tische ­Kapazität des Kunstwerks. Obwohl Nachahmung als nicht rationales Prinzip mit ihren Wurzeln in der Magie in der modernen Gesellschaft oft abgelehnt werde, gehöre die Kunst zu den wenigen Gebieten, wo man sie nicht nur toleriert, sondern erwartet. Besonders in einer Gesellschaft, in der alles aus einer rationalen Sicht beurteilt werde, hat Kunst als Gegengewicht mit ihrer mimetischen Qualität eine wichtige Aufgabe. Diese Aufgabe sei subversiv, denn die Kunst könne keine Gegenwelten schaffen, ohne gleichzeitig die Realität nachzuahmen, um der imitierten Realität einen Giftstoff beizumischen, um sie zu negieren und ihre Probleme aufzuzeigen: »Die Opposition der Kunstwerke

6. Das Leben der Materie

6.15 Fenster im Goldenen Turm

der Fondazione Prada, Umgestaltung eines Industriekomplexes in Mailand. OMA / Rem Koolhaas 2015.

gegen die Herrschaft ist Mimesis an diese. Sie müssen dem herrschaftlichen Verhalten sich angleichen, um etwas von der Welt der Herrschaft qualitativ Verschiedenes zu produzieren.«81 Sowohl Lukács als auch Adorno verbinden die Nachahmung mit dem Ursprung der Kunst, mit der alltäglichen Realität und ihrer Nachahmung in der Magie. Auch jüngere Autoren nehmen dieses Verhältnis unter die Lupe. Arthur C. Danto untersucht in seinem Buch The Transfiguration of the Commonplace (Titel der deutschen Ausgabe: Die Verklärung des Gewöhnlichen) die Frage, weshalb banale Gegenstände wie ein Urinal (im Werk von Marcel Duchamp), Suppendosen oder Waschpulververpackungen (bei Andy Warhol) als Kunstwerke gelten können.82 Seine Antwort entspricht der Sichtweise der Postmoderne: Es gehe immer um eine Umwandlung von etwas Banalem, welches von der Gesellschaft dann als Kunst anerkannt werde. Die Rätselhaftigkeit dieses Prozesses wird mit dem aus der Theologie stammenden Begriff »Transfiguration« hervorgehoben, den bereits Semper verwendet hatte. Alle diese Beispiele öffnen das Bedeutungsspektrum des Stoffwechsels weiter. Wir können den Stoffwechsel auf die Beschreibung des mimetischen Prozesses beziehen, der mit der Skizzierung erster Gedanken beginnt, jedoch nicht mit der Errichtung des Baus endet, sondern mit seinen Änderungen, Erweiterungen, Interpretationen einschließlich Restaurierungen und Rekonstruktio-

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6. Das Leben der Materie

nen fortgesetzt wird. Das Schicksal des Barcelona-Pavillons von Ludwig Mies van Rohe (1929) ist ein bekanntes Beispiel: Fritz Neumeyer vergleicht Mies’ Reduktion auf das Wesentliche mit Laugiers Darstellung der vitruvianischen Urhütte, Rem Koolhaas zeigt das Haus in seiner Ausstellung auf der 17. Triennale in Mailand (1986) als »Casa Palestra«. Es gab verschiedene Vorschläge, wie der nach Ende der Ausstellung demolierte Ausstellungspavillon rekonstruiert werden könnte (unter anderem eine Rekonstruktion in Schwarz-Weiß wie auf den Fotografien). Der wiederaufgebaute Pavillon wird heute von Künstlern, Fotografen und Architekturhistorikern interpretiert. Mimesis und Stoffwechsel sind am Werk, von der Konzeption über die Interpretation und Transformation bis zur Vernichtung und eventuell, wie im Fall des Barcelona-Pavillons, zur Errichtung einer Kopie. Koolhaas behauptet, er habe den Umgang mit der bestehenden Substanz schon immer als eine zentrale Aufgabe betrachtetet, und jetzt, in der Zeit der »Starchitecture« seien die Denkmalpflege, die Erhaltung und die Umgestaltung der Bausubstanz zum Fluchtort aus der ikonischen Architektur geworden.83 (Abb.  6.15) Wenn »Originalität« zunehmend zu der Kategorie einer immer enthemmteren Ökonomie des Spektakels wird und die Architektur­ikonen der Stararchitekten von den policy makers als Zeichen von politischem Konsens gebraucht und missbraucht werden, erhält die Metamorphose des Bestehenden eine immer größere Signifikanz und Dringlichkeit.

Anmerkungen

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1 Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Berlin: Dietz, 1974, S. 185. 2 Ebd., S. 119. 3 Ebd., S. 126. 4 Ebd. 5 Charles Darwin, Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigen Rassen im Kampfe um’s Dasein. Stuttgart: E. Schweizerbart’sche Verlagshandlung (E. Nägele), 1899. 6 Gottfried Semper, »Entwurf eines Systemes der vergleichenden Stillehre« (1853), in: ders., Kleine Schriften, hg. von Hans und Manfred Semper. Mittenwald: Mäander Kunstverlag, 1979, S. 259–291, hier S. 260. Nachdruck der Erstausgabe Berlin, Stuttgart: Verlag W. Spemann, 1884. 7 Ebd. 8 Ebd., S. 261. 9 Gottfried Semper, Ueber die bleiernen Schleudergeschosse der Alten und über zweckmässige Gestaltung der Wurfkörper im Allgemeinen. Ein Versuch die dynamische Entstehung gewisser Formen in der Natur und in der Kunst nachzuweisen. Frankfurt am Main: Verlag für Kunst und Wissenschaft, 1859, S. 1f. 10 Léonce Reynaud, »Architecture«, in: Encyclopédie nouvelle (1834–1841). Band 1, S. 773, zit. in: David Van Zanten, Designing Paris. The Architecture of Duban, Labrouste, Duc, and Vaudoyer. Cambridge, Massachusetts: The MIT Press, 1987, S. 57. Übers. Á. M. 11 Léonce Reynaud, Traité d’architecture. 2 Bände mit Atlas. Paris: Carlian-Goeury & Dalmont, Band 1: 1850, Band 2: 1858. 12 Gottfried Semper, »Entwurf eines Systemes der vergleichenden Stillehre« (wie Anm. 6), S. 260f. 13 Gottfried Semper, Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik. Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde. Band 1: Textile Kunst. Mittenwald: Mäander Kunstverlag, 1977. Nachdruck der Erstausgabe Frankfurt am Main: Verlag für Kunst und Wissenschaft, 1860, S. VI. 14 Ebd.

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15 Ebd., S. XXXII–XXXIII. 16 Ebd. 17 Gottfried Semper, »Vergleichende Baulehre. Vorwort«, in: Wolfgang Herrmann, Gottfried Semper, Theoretischer Nachlass an der ETH Zürich. Katalog und Kommentare. Basel, Boston, Stuttgart: Birkhäuser Verlag, 1981, S. 180–184, hier S. 184. 18 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft (1787). Hg. von Horst D. Brandt. Hamburg: Meiner, 2003. Vgl. Mari Hvattum, Gottfried Semper and the Problem of Historicism. Cambridge: Cambridge University Press, 2004. 19 Matthew Potolsky, Mimesis. New York, London: Routledge, 2006. 20 Vitruv, Zehn Bücher über Architektur, übers. von Curt Fensterbusch, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1964, S. 177. 21 Charles Perrault, Parallèle des Anciens et des Modernes, Band 1 (1688), abgedruckt in: Françoise Fichet, La théorie architecturale à l’âge classique. Essai d’anthologie critique. Brüssel: Pierre Mardaga, 1979, S. 186. 22 Johann Joachim Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. 2. Aufl. 1756. Stuttgart: Philipp Reclam jun., 1969. 23 Antoine Chrisostôme Quatremère de Quincy, Essai sur la nature, le but et les modes de l’imitation dans les Beaux Arts. Paris: Treuttel et Würtz, 1823. Nachdruck Brüssel: Archives ­d’Architecture Moderne, 1980, S. 3. 24 Ebd., S. 180. 25 [Antoine Chrisostôme] Quatremère de Quincy, »Type«, in ders., Dictionnaire historique d’architecture comprenant dans son plan les notions historiques, descriptives, archælogiques, biographiques, théoriques, didactiques et pratiques de cet art. Bd. II. Paris: Librairie d’Adrien le Clere et Cie, 1832, S. 629–630. 26 Quatremère de Quincy, Essay (wie Anm. 23), S. 147. 27 Ebd., S. 125. 28 Quatremère de Quincy, Dictionnaire d’architecture. Band 3, Teil von Charles-Joseph Panckoucke (Hg.), Encyclopédie méthodique par ordre des matières (Paris 1788–1825), Band 1, S. 115. Zit. nach Sylvia Lavin, Quatremère de Quincy and the Invention of a Modern Language of Architecture. Cambridge, Massachusetts: The MIT Press, 1992, S. 253. 29 Semper, Der Stil, Band 1 (wie Anm. 13), S. 2. 30 Johann Wolfgang von Goethe, »Baukunst (1795)« in: ders., Sämtliche Werke und Epochen seines Schaffens, Band 4.2, München/Wien: Carl Hanser Verlag, 1986, S. 54. 31 Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling, »Philosophie der Kunst«, abgedruckt in: ders., Schriften, Band 2, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1985, S. 409. 32 Ebd. 33 Ebd., S. 420. 34 Ebd. 35 Ebd., S. 421. 36 A[loys] Hirt, Die Baukunst nach den Grundsätzen der Alten. Berlin: Realschulbuchhandlung, 1809, S. 27. 37 Ebd. 38 Johann Wolfgang von Goethe, »Von deutscher Baukunst, D. M. Ervini a Steinbach, 1773«, in: Reinhard Liess, Goethe vor dem Strassburger Münster. Zum Wissenschaftsbild der Kunst. Leipzig: E. A. Seemann Verlag, 1985, S. 9–15, hier S. 11. 39 Hirt, Die Baukunst (wie Anm. 36), S. 38. 40 Ebd. Charles Chipiez, Histoire critique des origines et de formation des ordres grecs. Paris: A. 41 Morel, 1876. 42 Le Corbusier, Une maison – un palais. »A la recherche d’une unité architecturale«. Paris: Les editions G. Crès et Cie, 1928. 43 Auguste Choisy, Histoire de l’architecture. Band 1. Paris: Gauthier-Villars, 1899, S. 300. 44 Heinrich Hübsch, Über griechische Architektur. Heidelberg: J. C. B. Mohr, 1822. 45 Choisy, Histoire de l’architecture (wie Anm. 43), S. 302. 46 A[ugustus] Lane-Fox Pitt-Rivers, The Evolution of Culture and Other Essays, hg. von J. L. Myres. Oxford: Clarendon Press, 1906. 47 Philip Steadman, The Evolution of Designs. Biological Analogy in Architecture and the Applied Arts. Cambridge, London: Cambridge University Press, 1979, S. 90. 48 Ebd., S. 96. 49 Alfred C. Haddon, Evolution in Art as Illustrated by the Life-Histories of Designs. London: Walter Scott, 1895, S. 116. Übersetzung Á. M.

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6. Das Leben der Materie

Henry Balfour, The Evolution of Decorative Art. An Essay Upon its Origin and Development as Illustrated by the Art of Modern Races of Mankind. New York: Macmillan, 1893, S. 22. Übersetzung Á. M. 51 Ebd., S. 114f. 52 Ebd., S. 192f. 53 N. Katherine Hayles, How We Became Posthuman. Virtual Bodies in Cybernetics, Literature, and Informatics. Chicago, London: The University of Chicago Press, 1999. 54 Leopold Eidlitz, The Nature and Function of Art, More Especially of Architecture. New York: A. C. Armstrong & Son, 1881. Nachdruck New York: Da Capo Press, 1977, S. 223. 55 Ebd., S. 251. 56 Charles Darwin, Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigen Rassen im Kampfe um’s Dasein. Stuttgart: E. Schweizerbart’sche Verlagshandlung (E. Nägele), 1899, S. 97. 57 Semper, Der Stil, Band 1 (wie Anm. 13), XXII. 58 Gottfried Semper, »Ueber Baustile«, in: ders., Kleine Schriften (wie Anm. 6), S. 395–426, hier S. 400. 59 Ebd., S. 401. 60 Ebd. 61 Ebd. 62 Semper, Der Stil, Band 1 (wie Anm. 13), S. XII. 63 Semper, Ueber die bleiernen Schleudergeschosse (wie Anm. 9), S. 6. 64 G[eorg] Heuser, »Darwinistisches über Kunst und Technik«, in: Allgemeine Bauzeitung, Jg. 55 (1890), S. 17–19, S. 25–27. 65 Ernst Kapp, Grundlinien einer Philosophie der Technik. Zur Entstehungsgeschichte der Cultur aus neuen Gesichtspunkten. Braunschweig: George Westermann, 1877. 66 Heuser, »Darwinistisches über Kunst und Technik« (wie Anm. 64), S. 19. 67 Ebd., S. 26. 68 Alfred Göller, Die Entstehung der architektonischen Stilformen. Eine Geschichte der Baukunst aus dem Werden und Wandern der Formgedanken. Stuttgart: Verlag von Konrad Wittwer, 1888. 69 Ebd., S. 20. 70 Ebd., S. 27f. 71 Ebd., S. 29f. 72 Ebd., S. 31f. 73 Ebd., S. 453. 74 Ebd., S. 447. 75 Edmund [sic!] Lechner, »Mein Lebens- und Werdegang«, in: Bildende Künstler. Monatsschrift für Künstler und Kunstfreunde, Heft 11, 1911, S. 558–576. 76 Hermann Muthesius, »Das Formproblem im Ingenieurbau«, in: Die Kunst in Industrie und Handel. Jahrbuch des Deutschen Werkbundes 1913. Jena: Eugen Diederichs, 1913, S. 24. 77 [Alwin] Pabst, »Technische Arbeit als Erziehungsmittel«, in: Kunstgewerbeblatt, N. F. 19 (1908), S. 81−90. Vgl. Ákos Moravánszky, »Educated Evolution. Darwinism, Design Education and American Influence in Central Europe, 1898−1918«, in: Martha Pollak (Hg.), The Education of the Architect: Historiography, Urbanism, and the Growth of Architectural Knowledge. Cambridge, Massachusetts: The MIT Press, 1997, S. 113–117. Le Corbusier, Ausblick auf eine Architektur. Berlin, Frankfurt am Main, Wien: Ullstein, 1963, 78 S. 109. Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1970, S. 86. 79 80 Ebd., S. 87. 81 Ebd., S. 430. 82 Arthur C. Danto, The Transfiguration of the Commonplace. A Philosophy of Art. Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press, 1981. Dt. Ausgabe: Die Verklärung des Gewöhn­ lichen. Eine Philosophie der Kunst. Übers. von Max Looser. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1984. 83 Rem Koolhaas, Preservation is Overtaking Us. New York: GSAPP Books, 2014. 50

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7. DIE THEORIE UND PRAXIS DES STOFFWECHSELS Seiner Studie »Vorläufige Bemerkungen über bemalte Architektur und Plastik bei den Alten« (1834) stellt Gottfried Semper ein Zitat aus dem Faust voran: »Grau, teurer Freud, ist alle Theorie / Und grün des Lebens goldner Baum.«1 Seine eigene Stoffwechseltheorie, die neben anderen Einflüssen von Johann Wolfgang von Goethes Gedanken zur Metamorphose der Formen in der Natur inspiriert ist, hat ihre Faszination bis heute nicht verloren. Unterstützt von scharfsinnigen Betrachtungen oder geistreichen Einfällen, von den durchbohrten Unterlippen des Indianerstamms der Botokuden bis zur »hölzernen Plumpheit« amerikanischer Gummischuhe beweisen die Texte von Semper, dass Theorie recht farbig sein kann. Beim Prinzip des Stoffwechsels kommen die wichtigsten Elemente von Sempers Theorie zusammen, aber ebenfalls sowohl religiöse als auch materialistische Ideen: Konzepte, die auf den Gebieten der Alchemie, Biologie, Biochemie, Sprachwissenschaft, politischen Ökonomie, Ökologie, Kunst und Architektur entstanden sind. Vor allem ist es eine Theorie, die künstlerisches Schaffen nicht mit einer Ablehnung des Vorherigen, sondern mit einer reflektierten, schöpferischen Kontinuität verbindet. Der Stoffwechsel als Transsubstantiation – in der Liturgie zelebriert die Kirche mit der sinnbildlichen Wiederholung des Letzten Abendmahls die Wesens­ verwandlung von Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi. Unter »Substanz« verstehen wir die sinnlich nicht wahrnehmbare Essenz eines Gegenstands. Für Semper war die Lehre von der Eucharistie vermutlich keine direkte Inspiration. Die Idee der Metamorphose zwischen körperbezogener Tektonik und immateriellem Bedeutungsträger (z. B. Polychromie) ist ohne diesen dogmatischen Hintergrund jedoch kaum denkbar.2 Semper bezeichnet den Übergang von dem »an sich ganz materiellen struktiv technischen Vorwurf [Gegenstand, Á. M.]« der Behausung in die »monumentale Form« als die »eigentliche Baukunst«, als das »Mysterium der Transfiguration«.3 Die wissenschaftliche Vorgeschichte der Idee des Stoffwechsels war für Semper allerdings wichtiger als die theologische. In der Physiologie, der Biologie und der Biochemie wurden das Konzept und der Begriff zu Beginn des 19. Jahrhunderts eingeführt. Der Arzt und Naturphilosoph Johann Bernhard Wilbrand fasst in seiner 1815 erschienenen Physiologie des Menschen das Prinzip bereits klar zusammen: »Da die ganze Natur in allen ihren Erscheinungen, in einer lebendigen Einheit, und von einem und demselben unbegränzten Lebensstrom durchdrungen ist, so findet eine stäte Wechselwirkung zwischen den einzelnen Dingen statt. In dieser stäten Wechselwirkung wird das ausser dem organischen Individuum Befindliche ins Innere dieses Individuums aufgenommen, und umgekehrt vom Individuum aus fliesst gleichsam der Strom des Lebens in die umgebende Natur zurück.«4 1830 führt dann der Anatom und Physiologe ­ hysiologie des Friedrich Tiedemann den Begriff Stoffwechsel in seinem Buch P

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7. Die Theorie und Praxis des Stoffwechsels

Menschen ein: »Die Schnelligkeit des das Leben der Thiere begleitenden Stoffwechsels in den festen Theilen läuft parallel mit dem Grade der Combination ihres Baues und der damit faltigkeit ihrer Lebens-­ in Verbindung stehenden Mannig­ Aeusserungen.«5 Der deutsche Chemiker Justus von Liebig, der das Phänomen des Stoffwechsels bei Pflanzen und Tieren in den 1830er-Jahren anhand von Experimenten untersuchte, war 7.1 Situla und Hydria aus Semper, kein Materialist. Die Kenntnis der Natur betrachtete er als Der Stil, Bd. 2. einen Weg zur »geistigen Vervollkommnung«, welche die »Existenz eines […] unendlich höchsten Wesens« begründet, »für dessen Anschauung und Erkenntnis die Sinne nicht mehr zureichen«.6 Liebigs Naturbetrachtungen, die ab 1844 als Chemische Briefe ­veröffentlicht wurden, trugen zur Verbreitung der Idee des Stoff­wechsels wesentlich bei. Der Leser kann das Buch als eine Rehabilitierung der Alchemie als Wissenschaft des Wandelbaren und des Veränderlichen verstehen. ­Liebig verglich die Chemie mit dem Stein der Weisen, der die »Bestandteile des Erdkörpers in nützliche Produkte umformt, welche der Handel in Gold ver­wandelt«.7 Sempers Professorenkollege an der ETH Zürich, der in den Niederlanden geborene Arzt und Physiologe Jakob Moleschott war im Gegensatz zu Liebig ein Materialist, der Gott durch die »kreative Allmacht« des Stoffwechsels ersetzte. Sein bekanntestes Buch Der Kreislauf des Lebens veröffentlichte er im Jahre 1852 als Kritik, dementsprechend lautete der Untertitel Physiologische Antworten auf Liebig’s Chemische Briefe. Darin wollte er die Vorherrschaft der Materie über das Bewusstsein aufzeigen.8 »Der Ausdruck ›Schöpfungsgeschichte‹ wird aus der Naturwissenschaft verschwinden, denn er ist gegen die Natur«9, behauptet Moleschott, um dann den inkriminierten Satz zu wieder­holen: »Ohne Phosphor, ohne Fett, ohne Wasser kein Gedanke.«10 Kein Wunder, dass der protestantische Pfarrer beim Begräbnis Sempers 1879 in Rom von der Grabrede Moleschotts so empört war, dass der Sohn des Architekten eingreifen musste, um einen Skandal zu verhindern.11 Geschichte als eine Kette von Transformationen zu verstehen: Diese bereits in der Antike formulierte Idee wurde in der Epoche des Historismus mit einem positivistischen Hang zur Exaktheit untersucht und mit zahlreichen Beispielen belegt. Franz Bopps Vergleichende Grammatik (1833) und hat Sempers Denken stark beeinflusst. In der Sprachwissenschaft wurde die Klassifikation von Sprachen zunehmend in Richtung dynamischerer Modelle weiterentwickelt. Hermann Paul stellt in seinem Buch Prinzipien der Sprachgeschichte (1880) fest, dass der Zweck bei der Entwicklung des »Sprachmaterials« dieselbe Rolle spiele, als »welche ihm Darwin in der Entwicklung der organischen Natur angewiesen hat«.12 Er klassifiziert die Veränderungen des Sprachgebrauchs, indem er Lautwechsel und Bedeutungswandel untersucht. Obwohl es unklar ist, ob er Sempers Stiltheorie gelesen hatte, ist die methodologische Ähnlichkeit eindeutig. Auch für ihn sind »Analogien aus der Entwicklung der organischen Natur« wichtig.13

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7. Die Theorie und Praxis des Stoffwechsels

Sempers Stoffwechseltheorie Im Kapitel »Das Leben der Materie« haben wir bereits gesehen, dass das von verschiedenen Architekturkritikern und Theoretikern beschriebene Phänomen der Übertragung der Form auf ein anderes Material als Atavismus, als ein Zurückfallen auf frühere Stufen der Entwicklung bewertet wurde. Semper sah dagegen im Stoffwechsel ein Prinzip, das den Objekten Erinnerungsfähigkeit und kulturelle Signifikanz gab, die den Wert ihrer alltäglichen Brauchbarkeit bei Weitem übertraf. Das beste Beispiel für Sempers Konzept des Stoffwechsels, das die wesentlichen Züge seiner Theorie veranschaulicht, ist sein Vergleich zweier antiker Keramikgefäße: der Situla, als »heiliger Nileimer« der Ägypter bezeichnet, mit der Hydria, einem urnenförmigen Wasserkrug der Griechen. Für Semper waren solche Keramikgefäße Kultgegenstände und Symbole des Glaubens, der gebrannte Ton der »unvergänglichste Stoff«. Selbst die edlen Metalle stünden dem gebrannten Ton bezüglich Dauerhaftigkeit insofern nach, »als sie die Raubsucht und den damit verbundenen Zerstörungstrieb des Menschen ­reizen«.14 (Abb. 7.1) Semper unterscheidet klar zwischen Zweck und Funktion, indem er die beiden Gefäße zuerst im Hinblick auf ihren jeweiligen Zweck analysiert: »Beide [Gefäße] haben denselben zwecklichen Ursprung, sie sind beide bestimmt Wasser aufzufangen«, doch sie funktionierten jeweils anders, was auch die Funktionen ihrer Teile bestimme.15 Mit der Situla schöpften die Ägypter Wasser aus dem Nil, deshalb sei die Form »charakteristisch für Aegypten […] das keine dem Felsen entrieselnde Wasserquellen hat. Zwei solcher Eimer wurden von den ägyptischen Wasserträgern an einem Joche getragen, so dass einer vorn, der andere hinten hing; – der schwerste Theil ist zu unterst, oben verengt sich das Gefäss, um das Ausschütten zu verhüten. Es ist geformt wie ein Wassertropfen, auch erinnert es im Ganzen und in der Ornamentation an den ursprünglichen Lederschlauch, der in der ältesten Kulturperiode Aegyptens das übliche Schöpfgefäss war […].«16 Der Wechsel vom Lederschlauch zu einem Keramikgefäß habe den Gegenstand haltbarer gemacht, wobei die Form erhalten blieb, weil sie den hydraulischen Gesetzen der Natur, die den elastischen Lederschlauch geformt hatten, entspreche. Die griechische Hydria trage hingegen die Züge einer anderen Landschaft, einer humanistischen Kultur. Ihre Bestimmung bestehe darin, »das ­Wasser nicht zu schöpfen, sondern es, wie es vom Brunnen fliesst, aufzufangen. Daher die Trichterform des Halses und die Kesselform des Rumpfes, dessen Schwerkraftsmittelpunkt hier der Mündung möglichst nahe gelegt ist; denn die hetrus­ kischen und griechischen Frauen trugen ihre Hydrien auf ihren Häuptern, aufrecht wenn voll, horizontal wenn leer […]«.17 Es sei leichter, einen Stock auf der Fingerspitze zu balancieren, wenn das schwere Ende oben ist: Dies erklärt die Form der Hydria, »die ihre Vervollständigung erhält durch zwei horizontale Henkel, im Niveau des Schwerpunktes, zum Heben des vollen, und eines dritten vertikalen, zum Tragen und Aufhängen des leeren Gefässes, vielleicht auch als Handhabe für eine zweite Person, welche der Wasserträgerin beisteht das volle Gefäss auf den Kopf zu heben«.18 Eine applizierte figurale Szene auf dem Rumpf der Hydria, also auf einer konstruktiv neutralen Stelle (»Ruhepunkt der Konstruktion«) zeigt die Bestimmung, den Zweck des Objekts, d. h.

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7. Die Theorie und Praxis des Stoffwechsels

die ­rituelle Handlung. Als Funktion bezeichnet Semper dagegen die stützende oder tragende Aufgabe eines Elements innerhalb einer Gesamtstruktur, zum Beispiel des Henkels, des Halses oder des Fußes in seiner Wechselwirkung mit den anderen Elementen, im Zusammenhang des ganzen Gefäßes.19 Semper schildert die Umwandlung eines Alltagsobjekts in einen Gegenstand der Kultur, das so über Landschaft und Kultur des ihm Gestalt gebenden Volks erzählen kann: »Wie bedeutsam tritt das schwebende geistige und klare Wesen der quellverehrenden Hellenen schon aus dieser untergeordneten Kunstgestaltung symbolisch heraus, gegenüber der Situla, bei welcher das physische Gesetz der Schwere und des Gleich­gewichts einen ganz entgegengesetzten, aber dem Geiste des ägyptischen Volks nicht minder entsprechenden, Ausdruck fand!«20 Er erklärt mit diesem poetischen Beispiel die Entstehung der monumentalen Form klar und einprägsam. Die Nachahmung der Form eines Lederschlauchs in Keramik macht die Zeit sichtbar: Sie hinterlässt ihre Spuren auf der Oberfläche der Tonsitula. Landschaftliche Gegebenheiten, soziale Umgangsformen und kulturelle Gesten erhalten dadurch, so Semper, einen sinnlich wahrnehmbaren Ausdruck. Die formenden Faktoren in Sempers Formel Y = F (x, y, z etc.) ergeben hier ein anderes »Gesamtresultat«, einen anderen Stil, als jene, welche die Hydria gestalten (s. S. 53). »Noch mehr!«, ruft Semper schließlich begeistert aus, »die Grundzüge der gesammten ägyptischen Architektur scheinen in dem Nileimer gleich wie im Embryo enthalten zu sein, und nicht minder auffallend ist die Verwandtschaft der Form der Hydria mit gewissen Typen des dorischen Baustils! Beide Formen sind die Vorkünderinnen dessen was die Baukunst erfand, indem sie darnach rang das Wesen beider Völker monumental auszudrücken.«21 Er stellt fest, dass es zwischen einer Form und der Kultur als Kultivierung des Landes und des Wohnens eine Entsprechung gebe, diese Kultur werde in der Form des Gefäßes konkret und sichtbar. Es sei der Stoffwechsel, die Übertragung der ursprüng­ lichen Form in ein dauerhaftes Material und die damit verbundene Kontinuität, welcher das Gefäß monumental mache, weil Monumentalität mit Erinnerung zusammenhängt (monere = erinnern). Semper war überzeugt davon, dass die Prinzipien der Architektur und der bildenden Kunst zuerst in den technischen Künsten, im Handwerk, entwickelt wurden. Diese Position verhielt sich der herrschenden akademischen Auffassung diametral entgegengesetzt, die in den Produkten des »Hausfleißes« nur ein minderwertiges Derivat der Hochkultur sah.

Metamorphose und Monumentalität

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Der Ausgangspunkt des Stoffwechsels sei die materialgerechte Gestaltung, schreibt Semper. Jeder Stoff bestimme eine spezifische Art der Darstellung »durch die Eigenschaften die ihn von andern Stoffen unterscheiden und eine ihm angehörige Technik der Behandlung erheischen«.22 So entstehen primäre technische Formen, die jedoch in einen anderen Stoff übertragen zu Kunst­ motiven werden. »Ist nun ein Kunstmotiv durch irgend eine stoffliche Be­ handlung hindurchgeführt worden, so wird sein ursprünglicher Typus durch sie modificirt worden sein, gleichsam eine bestimmte Färbung erhalten haben;

7. Die Theorie und Praxis des Stoffwechsels

7.2 Detail der Trennwand als Metamorphose des den Altar absperrenden Bretterzauns in der Ara pacis, Rom 13.–9. Jh. v. Chr.

der Typus steht nicht mehr auf seiner primären Entwicklungsstufe, sondern eine mehr oder minder ausgesprochene Metamorphose ist mit ihm vorge­ gangen.«23 Semper spricht sogar von mehrfachen Transformationen, von einem Stufengang der stofflichen Entwicklung.24 Als Beispiel erwähnt er die statuarische Kunst, die plastischen Werke des Altertums, die sich von einem mit polychromer Kruste ummantelten Kern über mehrere Stufen zu Marmor­ skulpturen entwickelten. Die stofflichen Metamorphosen von Holz, Ton, Wachs, Metallblech und Marmor spielen in der Stilgeschichte eine aktive, produktive Rolle. Zu den von Semper diskutierten frühen Architekturbeispielen gehören vor allem solche Sieges- oder Grabdenk­mäler, bei denen die »kommemorative Verewigung« eines Ereignisses, seine Verankerung in der kollektiven Erinnerung der Gesellschaft, die Übertragung der Formen von einer provisorischen Struktur in dauerhafte Materialien bedeutete. Die Triumphbögen der Antike sind mithilfe der Stoffwechseltheorie interpretierbar: Diese Torbauten für den Einzug der siegreichen Armee in ihre Stadt waren zuerst improvisierte Holzgerüste, die mit erbeuteten Waffen, Trophäen, Opfergaben und Blumengirlan-

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7. Die Theorie und Praxis des Stoffwechsels

7.3 Detail des Eingangstors zur Allrussischen Landwirtschafts- und Gewerbeausstellung in Moskau im Jahre 1923, von Iwan ­Scholtowski. S[elim] O[mirovitsch] Chan-­ Magomedow, Ivan Scholtowski, Moskau 2010. 7.4 Entwurf für die Stirnseite der Aula im Eidgenössischen Polytechnikum in Zürich, Gottfried Semper 1865, gta Archiv Zürich.

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den dekoriert wurden. Auch Kaiser Augustus’ Friedensaltar Ara pacis in Rom (13.−9. Jahrhundert v. Chr.) war weit mehr als ein Ort für Opferrituale, denn er sollte das historische Ereignis, das der Anlass zur Errichtung war, in Erinne-

7. Die Theorie und Praxis des Stoffwechsels

7.5 Viollet-le-Ducs Darstellung eines lykischen Grabdenkmals in seinem Werk Entretiens sur l’architecture, Paris 1864. 7.6 Constantin Uhdes Rekonstruktion des hölzernen Ursprungs des lykischen Grabmals in Uhde, Der Holzbau, Berlin 1903.

rung halten. Deshalb imitiert die Dekoration der Marmorwand zwischen Altar und Templum die hölzernen, mit Blumengirlanden dekorierten Planken, die den heiligen Bereich abschirmten. (Abb. 7.2) Die provisorischen, »bretternen aber reich geschmückten und bekleideten« Schaugerüste baute man dann aus dauerhaftem Material nach, um die Erinnerung an den Sieg den kommenden Generationen weiterzugeben, schreibt Semper.25 Sein Monumentbegriff bleibt der ursprünglichen etymologischen Bedeutung des Worts »Monument« treu: Das monumentale Werk erinnert die Gesellschaft an ein Ereignis. Semper sieht in den für die Dramavorstellungen notwendigen »improvisirten Gerüsten« den Ausgangspunkt für »monumentale Unternehmungen«. Wenn der Wille bestehe, »irgend einen feierlichen Akt, eine Relligio, ein welthistorisches Ereigniss, eine Haupt- und Staatsaktion, kommemorativ zu verewigen«, dann werde ein »Festapparatus, das improvisierte Gerüst mit allem Gepränge und Beiwerke welches den Anlass der Feier näher bezeichnet und die Verherrlichung des Festes erhöht geschmückt und ausgestattet, mit Teppichen verhangen, mit Reisern und Blumen bekleidet, mit Festons und Kränzen, flatternden Bänden und Tropäen [erbeuteten Waffen, Á. M.] geziert, diess ist das Motiv des bleibenden Denkmals, das den feierlichen Akt und das Ereigniss das in ihm gefestet ward den kommenden Generationen fortverkünden soll. So ist der ägyptische

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7. Die Theorie und Praxis des Stoffwechsels

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Tempel aus dem Motive des improvisierten Wallfahrtsmarktes entstanden, der gewiss sehr häufig noch in später Zeit in ganz ähnlicher Weise aus Pfählen und Zeltdecken zusammengeschlagen wurde […]«.26 Dieses Bild von dem bekleideten, dekorierten »Festapparatus« sollte Otto Wagner und seine Schüler noch lange Zeit beschäftigen (s. S. 232). Der Nachbau aus Stein verewigt den historischen Augenblick. Die Aufgabe der Architektur als Baukunst ist diese Monumentalisierung: Die strömende Zeit wird in ihrem Verhältnis zum Ruhepol der Dauerhaftigkeit sichtbar. Der steinerne Triumphbogen funktioniert in der Stadt anders als ein Holzbau: Anstatt einen Triumphzug zu rahmen, nimmt er einen zentralen Platz ein. Die ­Triumphbögen des 19. Jahrhunderts wie der Arc de Triomphe de l’Étoile in Paris (1806–1836) sind keine Torbauten mehr. Sie rücken ins Zentrum der Stadt, sie strukturieren ihr soziales Leben. Der temporäre, aus Holzscheiten erbaute Triumphbogen erscheint als Motiv in der russischen Architektur nach 1917 etwa als Eingangstor zur Allrussischen Landwirtschafts- und Gewerbeausstellung in Moskau im Jahre 1923, entworfen von Iwan W. Scholtowski. (Abb. 7.3) Das letzte Glied in der Kette von Metamorphosen des Triumphbogens ist seine Entstofflichung, zum Beispiel das gemalte Siegestor in der Aula des Polytechnikums (heute ETH) von Semper in Zürich. (Abb. 7.4) Als »Scheiterhaufen in monumentaler Restitution« bezeichnet Semper jene lykischen Grabdenkmäler, die wie Holzgerüste aus Stein gehauen sind. Ein Exemplar dieser Bauten, die auch in andere Handbücher der Architektur­geschichte als Dokumente der Materialtransformation Eingang gefunden haben, konnte Semper im British Museum studieren. Eugène E. Viollet-le-Duc verwendet für den Abbildungsteil seines Werks Entretiens sur l’architecture ebenfalls eine Darstellung des »tombeau lycien«.27 (Abb. 7.5) Der Braunschweiger Architekt und Hochschullehrer Constantin Uhde, der in Paris die Vorlesungen von Viollet-­ le-Duc besuchte, sollte später in seinem Handbuch über Holzkonstruktionen (1903) diese Grabdenkmäler analysieren, um die unterschiedlichen Prinzipien von Holz- und Steinkonstruktionen darzustellen. (Abb. 7.6) Das Eigentüm­liche des Holzbaus sei es, dass die »rein konstruktive Gliederung« schon ausreiche, um ästhetisch zu wirken. Beim Steinbau gehen die Konstruktionsteile oft »ohne scharfe Grenzen« ineinander über, und es sei die Aufgabe der sekundären »Kunstform«, diese Teile zu betonen, die Konstruktion zu artikulieren.28 Aufgrund solcher Beobachtungen entwickelt Uhde seine These von der parallelen Entwicklung und wechselseitiger Beeinflussung der Stein- und Holzkonstruktionen: »Vom Zelt ist man zu dem mit Steinen ausgefüllten Ständerwerk und weiter zum ausschliesslichen Steinbau fortgeschritten, wodurch sich erklärt, dass der Steinbau zuerst seine Formen vom Holzbau übernahm. Später wurden die durch Jahrhunderte ausgebildeten Zierformen der Steinbauten auf den Schmuck der gleichzeitig errichteten Holzbauten von formbildendem Einfluss. Die Formen des Steinbaues wirkten sogar formverändernd zurück auf die Stoffe und deren konstruktiven Ausdruck, denen sie selbst vielfach erst ihren Ursprung verdankten.«29 Semper ist der große Abwesende in Uhdes Buch, das viele Beispiele für den Holz-Stein-Stoffwechsel zeigt. Sein Der Stil wird im Literarturverzeichnis nicht erwähnt, obwohl Uhde sogar zeichnerische Rekonstruktionen der textilen oder hölzernen Vorbilder von Steinkonstruktionen präsentiert. Für Semper wären solche hypothetischen Darstellungen allerdings viel zu konkret gewesen, er

7. Die Theorie und Praxis des Stoffwechsels

7.7 Die Darstellung des Grabes des Midas in Charles Texier, Descrip­tion de

l’Asie Mineure, Bd. 1, Paris 1839.

7.8 Constantin Uhdes Rekonstruktion des textilen Ursprungs des Grabs

des Midas, in Uhde, Der Holzbau, Berlin 1903.

setzte sich auch mit der vitruvschen These vom hölzernen Urtempel kritisch auseinander. Für ihn war die Laubhütte das »mythisch-poetische, zugleich künstlerische Motiv […]«, und kein konkretes Modell zur Nachahmung.30 Zahlreiche Beispiele für einen Stoffwechsel diskutiert Semper in seinem Der Stil in Verbindung mit den vier Urtechniken textile Kunst, Keramik, Tektonik und Stereotomie (s. Kap. 4). Perlenschnurartige Reihungen als Orna­ mentik auf Gefäßen und Architekturgliedern, teppichartige Mosaikböden oder flechtwerkartig gestaltete Holzgitter in China stellt er in dem Band über textile Kunst vor. Phrygische Grabdenkmäler wie das Grab des Midas, dessen Darstellung zuerst in Charles Texiers Description de l’Asie Mineure erschienen war, beschreibt Semper wie »kolossale in Fels gehauene Teppichwände«, die einst »stuckirt und reich mit Farben und Vergoldung ausgestattet« waren.31 (Abb. 7.7, 7.8) »Metamorphisierte« keramische Formen findet Semper vor allem in der Metallotechnik und in der Gestaltung von Säulenkapitellen. Die »Rahmenwerke« der Tektonik entdeckt er in den metallenen Stützkonstruktionen von Kandelabern. Er bemerkt zudem die »Allgefügigkeit« des Eisens, weshalb er diesen Stoff nicht einfach in sein System einfügen kann. »Denn auch das Metall, wie das Glas, kommt als Bildstoff in dreierlei Zuständen in Anwendung; nämlich erstens als harter, sehr fester, homogener und dichter Körper, dem durch Abnehmen von Theilen eine beliebige Form ertheilt werden kann; zweitens als geschmolzene Masse, die in Formen gegossen wird und diese beim Abkühlen festhält; drittens endlich als zähe, sehr dehnbare Substanz, die durch Hämmerung, Pressung und andere Proceduren die zu einem gewünschten Zwecke geeignete Form annimmt.«32

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7. Die Theorie und Praxis des Stoffwechsels

Die Vernichtung des Stofflichen

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Die Form eines Lederschlauchs wurde von den Naturgesetzen bestimmt, im Fall der Situla besteht diese zwingende Bedingtheit nicht mehr. Das führt uns zu der zentralen Feststellung Sempers, die er in einer langen Fußnote in Der Stil untergebracht hat. Der Eindruck eines zwingenden, unfreiwilligen Zusammenhangs zwischen Material und Form müsse »vernichtet« werden: »[…] das Bekleiden und Maskiren sei so alt wie die menschliche Civilisation und die Freude an beidem sei mit der Freude an demjenigen Thun, was die Menschen zu Bildnern, Malern, Architekten, Dichtern, Musikern, Dramatikern, kurz zu Künstlern machte, identisch. Jedes Kunstschaffen einerseits, jeder Kunstgenuss andrerseits, setzt eine gewisse Faschingslaune voraus, um mich modern auszudrücken, – der Karnevalskerzendunst ist die wahre Atmosphäre der Kunst. Vernichtung der Realität, des Stofflichen, ist nothwendig, wo die Form als bedeutungsvolles Symbol, als selbstständige Schöpfung des Menschen hervortreten soll. Vergessen machen sollen wir die Mittel, die zu dem erstrebten Kunsteindruck gebraucht werden müssen und nicht mit ihnen herausplatzen und elendiglich aus der Rolle fallen.«33 Vernichtung oder Maskierung der Realität bedeuten für Semper keine Flucht vor der Wirklichkeit, sondern deren Potenzierung: Das Allgemeingültige werde hervorgehoben und zeitlos gemacht. Die materielle, empirische Reali­tät des Stoffs werde vernichtet, wobei Stoff nicht nur ein Material, sondern auch ein Thema, zum Beispiel ein historisches Ereignis, sein könne. Potenzierung bedeutet für Semper, dass ein Theaterstück, ein Denkmal, ein Bauwerk die transitorische, zeitgebundene Realität symbolisch darstellt und so doch eine Verbindung zu dem partikulären Ereignis, das den Anlass zum Werk gab, besitzt. Um auf das Beispiel der Situla zurückzukommen: Der ursprüngliche Lederschlauch wird zwar »vernichtet«, doch seine Form lebt in dem Keramikgefäß »monumental« weiter. Die Monumentalität hat nicht nur mit der Dauerhaftigkeit des Gegenstands zu tun, sondern auch mit der Fähigkeit seiner Form, an die Ursprünge zu erinnern und eine historische Kontinuität herzustellen. Die Idee von der Vernichtung des Materials formuliert Friedrich Schiller in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen: »Der Inhalt, wie erhaben und weitumfassend er auch sei, wirkt also jederzeit einschränkend auf den Geist, und nur von der Form ist wahre ästhetische Freiheit zu erwarten. Darin also besteht das eigentliche Kunstgeheimnis des Meisters, dass er den Stoff durch die Form vertilgt«.34 Der »ästhetische Schein« müsse als etwas Selbstständiges behandelt werden, das von der Wirklichkeit scharf zu unterscheiden sei. Das dialektische Spiel von Wahrheit und Schein gehört für Schiller zu den Entfaltungsmöglichkeiten, die der »ästhetische Staat« der Zukunft seinen Bürgern bieten wird.35 Mit der These von der Maskierung als Vernichtung der Wirklichkeit brachte Semper Idealität und Realität, ästhetische Form und Konstruktion in der Kunst zur Synthese. Die Karnevalsstimmung hat mit dem Spiel von Bekanntem und Neuem, mit Ähnlichem und Fremdem zu tun. Die Bedeutung von »Stoff« als Sujet, als Rohmaterial für das Drama, war ihm wichtig, um die Notwendigkeit der künstlerischen Bearbeitung zu betonen. Er weist darauf hin, dass der Erzählstoff, »der zu behandelnde Stoff« selbst als Schicksal eines Individuums umgestaltet, erhöht, monumentalisiert werden solle, um uns als Ausdruck des

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allgemein-menschlichen Schönen und Großen zu berühren: »Maskenlaune athmet in Shakespears Dramen; Maskenlaune und Kerzenduft, Karnevalsstimmung, (die wahrlich nicht immer lustig ist,) tritt uns in Mozarts Don Juan entgegen; denn auch die Musik bedarf dieses Wirklichkeit vernichtenden Mittels, auch dem Musiker ist Hekuba nichts, – oder sollte sie es sein.«36 Das Interesse am Stoff, am Thema, ist ein unfreies, außerkünstlerisch bedingtes Interesse. Da wir für die trojanische Königin Hekuba, der wir nie begegneten, keine Gefühle haben, kann uns ihr tragisches Schicksal erst nach dem »Stoffwechsel« in eine dramatische Figur erschüttern.37 Das Wort »Person« hat seinen Ursprung im lateinischen Wort persona, mit dem die Maske des Schauspielers bezeichnet wurde. Es ist wohl die gravierendste aller Semper-Fehlinterpretationen, dass seine Begeisterung für Maskenlaune und Karnevalsstimmung, die nur zu gut ins Klischee­bild des Historismus als Maskenball der Stile passt, als Aufruf zur freien Verwendung der Versatzstücke aus dem historischen Kulissendepot missverstanden wurde. Während Alois Riegl oder Peter Behrens Semper als Materia­ listen kritisieren, machen die Architektur-Evolutionisten ihn als Träumer lächerlich. »Der von Semper so geschätzte Karneval-Kerzendienst [sic!], den zumal ein Kölner Architekt, der auch einen Winter in Rom gearbeitet, gerne würdigt, mag ebenso sehr auf die Entstehung von Phantasieformen einwirken, wie die Atmosphäre kirchlichen Weihrauchs oder des Parfumduftes eines Damen-­Boudoirs«38, schreibt Georg Heuser, der Verfasser ­darwinistischer Architekturstudien (s. S. 178) im Jahre 1884 nicht ohne Sarkasmus. Die Werke der Künstler »gehorchen einem allgemeinen Entwickelungsprozess, […] Es gelten für die Kunst ähnliche allgemeine Gesetze, wie sie Charles Darwin für die Natur aufgestellt.«39 Heuser war mit Sempers Beharren auf der Freiheit des Künstlers, welcher die Grenzen dieser Freiheit verinnerlicht hat, nicht einverstanden und wollte die Architektur von den Gesetzen der Evolution determiniert wissen: »Die natürliche Auswahl entscheidet über die Lebensfähigkeit gereifter Neubildungen.«40 Es ist nicht ganz ohne Ironie, Sempers – und Schillers – Argumente angesichts der frühen, noch neokantianischen Heidelberger Ästhetik (1916–1918) des späteren Marxisten und Theoretikers des Realismus Georg Lukács zu kennen: »[…] es ist gerade das Spezifische der ästhetischen Form, Form eines bestimmten Materials zu sein, ein Material so zu umfassen, daß dessen Materialität in ihr zur Form werde, daß er als Material ›vernichtet‹ werde.«41

Stoffwechsel in der Architektur des 20. Jahrhunderts Die Schienen, die Semper mit seiner Stoffwechseltheorie legte, mögen anders­wo eine Zeitlang lahmgelegt worden sein, aber Friedrich Achleitners Feststellung, dass der Zugverkehr auf ihnen rege sei (s. S. 26), trifft auf die Wiener Architektur des 20. Jahrhunderts bestimmt zu. Otto Wagners Werk ist in dieser Hinsicht besonders interessant, nicht zuletzt, weil er in seinem Die Baukunst unserer Zeit (1914) eine radikal darwinistische Haltung einzunehmen scheint. Er kritisiert Semper: »Wie Darwin […] hatte er nicht den Mut, seine Theorien nach oben und nach unten zu vollenden, und hat sich mit einer Symbolik der

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Konstruktion beholfen, statt die Konstruktion selbst als die Urzelle der Baukunst zu bezeichnen.«42 Ähnlich klang die Semper-Kritik in den Handbüchern von Rudolf Redtenbacher über Tektonik. Redtenbacher gab in der Einleitung zu seiner Architektonik der modernen Baukunst (1883) zwar zu, dass das Bekleidungsprinzip »bei den Anfängen der Architektur« vorherrschend war, was jedoch nicht heiße, dass es »ein unkünstlerischer Gedanke wäre, die Construction zum Ausgangspunkt der baulichen Gestaltung zu machen. Die Architektur beginnt mit der Construction und hört auf, wo es nichts zu construieren giebt. Wir schlagen daher den anderen Weg ein suchen aus der Construction die architektonischen Motive zu gewinnen«.43 Trotz ihrer ähnlich klingenden Äußerungen unterscheiden sich die Auffassungen von Redtenbacher und Wagner grundsätzlich voneinander. Während Redtenbachers Kritik einer Betrachtung den Boden bereitet, die von neuen psycho-physiologischen Forschungen unterstützt in den Konstruktionsformen einen Ausdruck von Schwere, Gleichgewicht oder dynamischen Kräften sah, vermeidet Wagner in seinem eigenen Werk diese simple Mechanik des Denkens. Der Münchner Architekturhistoriker Richard Streiter fragt in seiner Publikation Architektonische Zeitfragen (1898) zu Recht, wie Wagner Sempers »Festhalten an einer ›Symbolik der Konstruktion‹ beanstanden« könne, »da doch gerade diese Symbolik das ist, was aus dem Konstruktionsglied die Kunstform werden läßt […]. Man wird wohl nicht fehl gehen mit der Vermutung, dass Wagner nur infolge eines theoretischen Mißverständnisses jenen Einwand gegen Semper gemacht, daß er dagegen in praxi selbst sich der Symbolik der Konstruktion […] nicht entschlagen kann …«.44 Es sei eine falsche Annahme, schreibt Streiter, dass »Konstruktionen, Techniken […] an sich schon das Entscheidende für die Formgebung, den Stil« seien.45 Wagner kritisiert ja selbst das Denken der Ingenieure, die bei ihren Entwürfen die »Kunstform« nicht berücksichtigen – und zwar im selben Kapitel seines Buchs, in dem er Sempers Inkonsequenz tadelt: »Der nicht auf die werdende Kunstform, sondern nur auf die statische Berechnung und auf den Kostenpunkt Rücksicht nehmende Inge­ nieur spricht daher eine für die Menschheit unsympathische Sprache, während andererseits die Ausdrucksweise des Architekten, wenn er bei der Schaffung der Kunstform nicht von der Konstruktion ausgeht, unverständlich bleibt. Beides sind große Fehler.«46 Das heißt wiederum, dass die Umwandlung der Werkform des Ingenieurs in die Kunstform des Architekten sehr wohl die über die konstruktiven Zwecke hinausgehende Symbolik der Konstruktion brauche. Wagner hebt vor allem die künstlerischen Möglichkeiten jener Formen hervor, die aufgrund moderner Industriemethoden bei der Materialverarbeitung und Montage entstehen – zum Beispiel genietete oder geschraubte Verbindungen –, um sie als ästhetische Motive zu verstehen. Das Streben, den Zeit- und Materialaufwand zu reduzieren, ließe zusammen mit dem ökonomischen Gewinn eine neue Ästhetik entstehen. In seinem Die Baukunst unserer Zeit lehnt Wagner »Kunstformen, bei denen die Herstellungszeit nicht dem Effekte oder dem Herstellungsmaterial entspricht«, ab – diese hätten »immer etwas Lügenhaftes oder Gequältes«.47 Er verurteilt »Konsolen und Tragsteine, welche nicht tragen«, und »Putzbauten, welche völlige Steinstruktur aufweisen«, aber wenn es darum gehe, »bei gleicher oder größerer Solidität und künstlerisch gleichwertiger Form eine kürzere Herstellungszeit zu erzielen, so muß dies als richtig und als kunstfördernd bezeichnet werden«.48

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7.9, 7.10 Hauptfassade und Gesimsdetail des Postsparkassenamtes in Wien. Otto Wagner, 1903–1906.

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Das Gebäude des k. k. Postsparkassenamtes von Otto Wagner in Wien (1903–1906, erweitert 1910–1912) ist von der Idee des Sparens bestimmt. (Abb.  7.9) Die  Institution der Postsparkasse wurde in Österreich von Georg Coch als Bank der »kleinen Leute« eingeführt, unterstützt von der Christsozia­ len Partei. Der Wiener Hauptsitz sollte Verlässlichkeit und die Sicherheit des Geldes zum Ausdruck bringen. Der Aufbau der Fassade folgt dem Prinzip der vier Elemente: Die Sockel­zone als Bereich der Stereotomie ist mit 10 cm dicken Granitplatten verkleidet, als Verwandlung der Rustikageschosse der Renaissancepaläste (s. Abb. 8.20). Die Präsenz des Dachs (Tektonik) betont ein markantes Gesims, dessen Form als maschinenhaft-technische Metamorphose des antiken Tempelgebälks gelten kann. Die Fläche der oberen Geschosse ist mit 2 cm dünnen Sterzinger Marmorplatten bedeckt, die mittels Eisenbolzen auf das tragende Mauerwerk »genagelt« wurden und die Bolzenknöpfe mit Aluminiumkappen versehen. Die Marmorplatten sind allerdings in einem Mörtelbett verlegt. Laut Wagner sollten die Bolzen den Stein halten, bis der Mörtel bindet. Die Inszenierung dieser Lösung durch Materialverwandlung ist allerdings wesentlich wichtiger, als Wagner zugeben möchte. Die gesuchte Wirkung, die Rhythmisierung der Fassade, wird durch die technische Form der Bolzenverbindung, die sonst bei der Errichtung von Tragkonstruktionen aus Eisen verwendet wird, erreicht. Wagner beruft sich auf eine höhere »konstruktive Wahrheit«: Die moderne Errungenschaft der Material- und Zeitersparnis durch die Verwendung dünner Steinplatten statt schwerer Steinblöcke werde erst durch die Bolzenköpfe an der Fassade sichtbar gemacht. (Abb. 7.10) Als Beispiel für diese Haltung vergleicht Wagner Sempers Burgtheater in Wien als »missverstandene Bauweise« mit seiner eigenen Bekleidungsarchitektur, die er als »moderne Bauart« bezeichnet. Das Theater wurde »in Steinschichten durchgeführt und das Material mit grossem Aufwande an Zeit und Geld beschafft«.49 Zum Bau des Hauptgesimses wurden »ungeheuere, an die Bauweise der alten Römer erinnernde Steinblöcke […] verwendet. Die Bearbeitung und Beschaffung dieser Werkstücke erfordert große temporäre und pekuniäre Opfer«.50 Bei der modernen Bauweise wird die Fassade der Postsparkasse mit Platten verkleidet, die dünner sind als die Fassadenbekleidung des Burgtheaters, dafür aber aus edlerem Material bestehen. Als Resultat sinken die Dimensionen der Steinplatten auf 1/10 bis 1/50 der alten Bauweise, »die ­monumentale Wirkung wird durch das edlere Material erhöht, die aufgewandten pekuniären Mittel fallen um Ungeheueres und die Herstellungszeit wird auf ein geringes und erwünschtes Maß herabgedrückt«.51 Aus dieser Idee kann der Architekt eine neue Ästhetik entwickeln: So entsteht »eine Anzahl neuer künstlerischer Motive […] deren Durchbildung dem Künstler nicht nur sehr erwünscht sein wird, sondern nach welchen er mit Hast und Eifer greifen muß, um in der Kunst wahrhaft fortbildend zu wirken«.52 Wagners architektonisches Werk ist eine Enzyklopädie der Möglichkeiten des Stoffwechsels. Seine Bauten führen überzeugend vor Augen, dass die Stoffwechseltheorie mit dem Fall des Historismus keinesfalls obsolet geworden ist, im Gegenteil: Ihre ästhetischen Möglichkeiten konnten durch Einbeziehung moderner Werkstoffe wesentlich erweitert werden. Wagners Mitarbeiter und Schüler wie Max Fabiani, Jože Plečnik oder István Medgyaszay erzielten radi­ kale Neuerungen gerade durch die bewusste Anwendung der Stoffwechsel­ theorie.

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7.11 Krypta der Heilig-Geist Kirche

in Wien-Ottakring. Jože Plečnik, 1910–1913. 7.12 Herz-Jesu-Kirche, Prag. Jože Plečnik, 1928–1931. 7.13 Werkstattgebäude im Friedhof Žale in Laibach. Jože Plečnik, 1939/40.

Wagners slowenischer Schüler Plečnik interpretierte für seine Bauten in Wien, Prag und Laibach (Ljubljana) diese Themen neu und stellte die Idee des Stoffwechsels ins Zentrum seiner Architekturauffassung. »Neu« heißt hier aller­dings, dass er seine Kenntnis der archaischen Bauformen in Kombination mit virtuosem Können einsetzte – Verzerrungen, Verfremdungen, Vorgefundenes und frei Erfundenes halten einander die Waage. Schon für seine frühen Werke wie der Heilig-Geist-Kirche in Wien (1910–1913) experimentierte er mit der Übertragung tektonischer Formen in Stahlbeton. (Abb. 7.11) Die Fassade von ­Plečniks Herz-Jesu-Kirche in Prag (1928–1931) ist sehr klar in eine untere, klinkerverkleidete und eine obere, weiß verputzte Zone gegliedert. Aus der dunklen Klinkerverkleidung ragen Granitblöcke hervor; schwere, stereometrische und leichte, textile Formen treten in eine Wechselwirkung zueinander. (Abb. 7.12) Die Gestaltung des Friedhofs Žale in Laibach und die beiden Pavillons des Schlosses in Begunje (1939) waren für Plečnik willkommene Möglichkeiten, Urformen der Architektur wie Tumulus und Urhütte und ihre Metamorphosen in historische Stile und ihre hybriden Kreuzungen mit erzählerischer Laune

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7.14 Innenraum der Kirche St. Michael im Laibacher Moor (na Barje) mit

der Verwendung von bemalten Kanalisationsrohren aus Beton, Laibach. Jože Plečnik, 1937/38, Ausstattung 1940.

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und mit einem Gefühl zum Grotesken und sogar zum Humorvollen zu präsentieren. Die Fassade des Werkstattgebäudes auf dem Žale-Friedhof (1939/40) ist von einer kräftigen Sockelzone mit Natursteinverkleidung und einem weit ausladenden Dach gefasst. Auf dem Steinsockel stehen die Mauerpfeiler, die zwischen den Fenstern im Erdgeschoss mit Terrazzoteppichen bekleidet sind, und statt Kapitellen figurale Darstellungen von Heiligen tragen. (Abb. 7.13) Für die Kirche St. Michael im Laibacher Moor (1937/38, Ausstattung 1940) verwendete Plečnik geschliffene und mit Ornamenten bemalte Kanalisationsrohre aus Beton als Säulen, die einen direkt aufliegenden Holzbalkenkranz tragen. (Abb.  7.14) Dünne Holzpfosten unterstützen die Balken außerdem zwischen den Betonrohren. So entsteht eine von Plečnik oft verwendete Schachtelung: Feingliedrigere Konstruktionen sind von stärkeren oder dauerhafteren Strukturen schützend umstellt. Seine Entwürfe und die seiner Schüler zeigen die schier unendlichen Verwandlungsmöglichkeiten historischer Formen, ihre Kombinationen und Variationen bis zur äußersten Grenze ihrer Verzerrbarkeit.53 Trotz späterer Interpretationen im Sinne einer Postmoderne avant la lettre sind sie nie »Zitate«, also keine Versuche, auf konkrete Beispiele der Architekturgeschichte zurückzugreifen, sondern beruhen auf einer intimen Kenntnis des Umgangs mit dem »Stoff« als Material und Thema – und der Techniken seiner Herstellung.

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7.15 Fussboden in der Vor­halle des

Rathauses von Aarhus. Arne Jacobsen und Erik Møller, 1938–1941. 7.16 Fassade des Bürozentrums der Basler Versicherung, Wien. Boris Podrecca mit Suter + Suter, 1990–1993.

In der japanischen Architektur der 1960er-Jahre erhielt der Begriff Stoffwechsel unabhängig von Sempers Theorie eine andere Interpretation. Auf der World Design Conference 1960 in Tokio traten der damals 26-jährige Archi­ tekt Kisho Kurokawa mit seinen Kollegen Fumihiko Maki, Masato Otaka, Kiyonori Kikutake und dem Kritiker Noboru Kawazoe mit dem Programm des Metabolismus (englisches Wort für Stoffwechsel) vor die Öffentlichkeit. Ausgangspunkt war die Analogie zwischen Stadt, Bauwerk und Natur. Hochhäuser in Form von Zellenkonglomeraten und DNA-Spiralen, deren Module als austauschbare gedacht waren, standen als Zeichen für Vitalität in der Stadt. Kurokawa und die Metabolisten hatten damit mehr als nur eine konstruktive

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7.17 Institute du Monde Arabe, Paris. Jean Nouvel, 1981–1987.

Flexibilität im Sinn: Metabolismus verstanden sie als Metapher des Bauens für die Informationsgesellschaft, als einen Prozess der Metamorphose, der vom Chaos zur Ordnung führt. Wegen dieser »Besetzung« des Begriffs metabolism in der Architekturgeschichte wird Sempers Stoffwechseltheorie in der englischsprachigen Fachliteratur als »theory of material change« oder als »theory of material metamorphosis« übersetzt.

Postmoderne Transformationen

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Die ästhetische Affinität zwischen den Werken der ­Schüler von Wagner und denen des amerikanischen Büros von ­Robert Venturi und Denise Scott Brown ist offensichtlich, im Vergleich zu Plečnik oder Fabiani fällt jedoch die von den kommerziellen billboards inspirierte Zweidimensionalität der Venturi-Lösungen eher papieren aus. Im Sinne des Vorschlags von Venturi zur Renovation der Ponte dell’Accademia in Venedig (1985) sollte die bestehende provisorische Holz-­Eisen-Brücke mittels Fiberglasplatten mit stilisierter Renaissance-Ornamentik in eine zweidimensionale, collagenhaft wirkende Form über dem Canal Grande transformiert werden.54 Ermuntert von den Erfolgen der Postmoderne

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Venturis wandten sich in den 1970er-Jahren auch mitteleuropäische Architekten der jüngeren Generation mit neu entflammtem Interesse der Architektur von Wagner und seiner Schule zu. Neben Sempers Ästhetik, seiner Bekleidungs- und Stoffwechseltheorie spielte auch das im vorigen Kapital erwähnte Oszillieren zwischen Mythos und Rationalität in der Kultur und das in der Donau­monarchie omnipräsente Thema der Verwandlung eine Rolle. Hans Hollein verhüllte für die Ausstellung Die Türken vor Wien (1983) das Künstlerhaus am Wiener Karlsplatz mit einem riesigen Zelt, dessen ästhetische Verwandtschaft mit den nahen Stadtbahnstationen Wagners kein Zufall ist. Boris Podrecca gehört zu jenen Wiener Architekten, die sich bewusst auf Sempers Theorie und ihre früheren Interpretationen in der Architektur Wagners und seiner Schüler und Mitarbeiter beziehen. Bei seinem Bürozentrum der Basler Versicherung in Wien-Brigittenau (gemeinsam mit Suter + Suter, 1990–1993) reflektierte er die Lage am Donaukanal ähnlich wie Wagner bei seinem Schützenhaus (1904–1908). Die Schuppenverkleidung der Fassade zum Wasser hin schwebt 7.18 Fassadendetail des Barcelona über einer harten Sockelscheibe. Ein Steinquader mit vertief- Fórums. Herzog & de Meuron, tem Spiegel wäre ein »stilistisches Unding«, schreibt Semper, 2001–2004. da er »Resistenz« ausdrücken soll, und »dieser Ausdruck steigert sich […] mit dem Wachsthum des Vorsprungs«.55 Wenn man dagegen Quader aus Metall bildete, so »hätte für diese die vertiefte Füllung stilistischen Sinn«.56 Der blau lackierte Metallsockel mit ihren vertieften horizontalen Feldern folgt dieser Empfehlung. (Abb. 7.16) Die Suche der Postmoderne nach einem historisch reflektierten Umgang mit dem Ornament führt auch ohne direkte Verbindung zu Sempers Theorie zum Thema Metamorphosen. Jean Nouvels Institut du Monde Arabe in Paris (1981–1987) übersetzt die ornamentale Fülle der repetitiven islamischen Wandtextur in einen Hightech-Fassadenvorhang. Die Metallkonstruktion besteht aus Kassetten, deren kleinere und größere Öffnungen wie die Irisblenden von Kameras funktionieren sollten: Bei starkem Sonnenlicht verengen die Lamellen die Lichtöffnungen. (Abb. 7.17)

Monoblue: Transfiguration Kunst – Architektur Im Februar 1961 pilgerte der französische Künstler Yves Klein in die kleine ­umbrische Stadt Cascia bei Perugia, um der Schutzheiligen seiner Familie, Santa Rita di Cascia, eine Votivgabe in Form einer aufklappbaren, etwa 30 × 40 cm großen Schatulle aus klarem Kunststoff zu bringen, mit Einteilungen im oberen und unteren Teil. In den drei oberen Fächern befanden sich ultramarine und rosa Farbpigmente sowie Blattgold, im unteren Fach drei kleine Goldbarren auf einer Schicht von Ultramarinpigment. In einem Schlitz steckte ein gefaltetes Blatt Papier mit einem Text von Klein, in dem er um Erfolg, Schönheit

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7.19 Guss einer Reiterstatue mit

Wachsausschmelzverfahren, ­Radierung von Bernard Durand.

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und ewiges Leben für seine Kunst bat. Klein hatte früher an der Ausstellung Vision in Motion in Antwerpen teilgenommen und Feingold als Bezahlung für sein Werk »Zonen immaterieller malerischer Sensibilität« verlangt.57 Wenn ein Käufer den immateriellen Wert einer Zone erwerben wollte, musste er die Rechnung für die gekaufte immaterielle Zone, auf der das Gewicht des entsprechenden Goldes verzeichnet war, feierlich verbrennen. Daraufhin warf Klein in Anwesenheit von Kunstexperten als Zeugen die Hälfte des Goldes ins Meer oder in einen Fluss. Die andere Hälfte der Bezahlung legte er in den Votiv­ behälter. Viele Elemente des Mythos vom Künstler, von seinem Talent und seiner Opfer­bereitschaft finden in fast formelhafter Weise ihren Ausdruck in Kleins Votivgabe. Wichtig ist hier die Idee der Transsubstantiation, der Verwandelbarkeit von Immaterialität und Materialität. Jene Tiefe, die man auf keinen Fall mit Geld, sondern unbedingt mit Gold bezahlen muss, ist die blaue Tiefe des Meeres. Herzog und de Meuron wählten das Yves-Klein-Blau als Farbe für das riesige Dreieck des Barcelona Fórums (2001–2004), das an der Stelle steht, wo die das Quadratraster der Stadt durchschneidende Avenida Diagonal auf die Küste des Mittelmeers trifft. Es handelt sich um eine Oberfläche mit irdener Haptik und Schwere, sodass der blaue Spritzbetonkörper mit seinen verglasten

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7.20 Shoah-Mahnmal in Wien.

­Rachel Whiteread, 2000.

Spalten surreal über den goldenen und silbernen Reflexen und Glanzlichtern des ausgehöhlten Unterbaus schwebt. (Abb. 7.18) Im Inneren der Ausstellungshalle fühlt man sich wie in einem Tiefseeaquarium, einer Welt, die an Kapitän Nemos U-Boot Nautilus im Roman Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer von Jules Verne erinnert. So koloriert und kolonisiert Kleins »blaue Revolution« lange nach seinem Tod neue Ufer – selbst wenn inzwischen Geld als Entgelt für räumliche Sensibilität akzeptiert wird.58 Stoffwechsel bezieht sich in der Kunst auch auf technische Prozesse, etwa beim Gießen von Bronzestatuen. Zur Herstellung der Gussform wird zuerst ein Wachspositiv gefertigt und im Cire-perdue-Verfahren ausgeschmolzen, bevor die flüssige Legierung aus Kupfer und Zinn in die Form gegossen wird. Die Modellierung einer räumlichen Form in Wachs, also die additive Methode, führt zu anderen Ergebnissen als die umgekehrte, subtraktive Methode, also die bildhauerische Entnahme von Stoff, was auch die gestalterischen Unterschiede zwischen ursprünglich in Bronze konzipierten Statuen und Bronze­ kopien von Marmorstatuen erklärt. (Abb. 7.19) Die Präsentation des Alltags durch die Umkehrung des Privaten ins Öffent­ liche gehört zu den Themen von Künstlern wie Gordon Matta Clark, Dan Graham oder Rachel Whiteread. Stoffwechsel ist auch für Whiteread das Ergebnis des Ausgießens einer Form. Die Oberflächen des Artefakts zeigen die Spuren der Gussform als Beweis für die Berührung, die das Objekt mit Aura umhüllt. Ihr Shoah-Mahnmal in Wien (2000) ist ein Betonkubus, dessen Flächen wie Buchregale modelliert sind, gefüllt mit zahllosen Exemplaren ein und

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7.21 Umbau und Restaurierung des Museums für Naturkunde, Berlin.

Diener & Diener, 1995–2010.

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­ esselben Buchs. Sie stehen allerdings nicht mit ihrem Rücken, sondern mit d ihrem Schnitt zum Betrachter. (Abb.  7.20) Betonabgüsse finden zunehmend auch bei Archi­tekten Verwendung. Das Büro Diener & Diener beispielsweise

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setzte sie bei dem Umbau des im Zweiten Weltkrieg stark beschädigten Museums für Naturkunde in Berlin (1995−2010) ein. Von den bestehenden Teilen der Backsteinfassade wurden Polyurethangussformen hergestellt, die dann als Schablonen für die Betonelemente dienten. (Abb. 7.21) Joseph Beuys verband unter dem Einfluss von Rudolf Steiners Anthroposophie den biologischen Stoffwechsel mit Kreisläufen sozialer Energie. Die stofflichen Substanzen besitzen gewisse primäre Qualitäten, die auch nach dem Stoffwechsel weiter bestehen. Beuys’ Installation Honigpumpe funktioniert wie der menschliche und zugleich wie der soziale Organismus, der die verschiedenen funktionellen Bereiche des Körpers und des gesellschaftlichen Lebens miteinander verbindet und sie reguliert. In diesem Zusammenhang ist Beuys’ Werk 7000 Eichen – Stadtverwandlung statt Stadtverwaltung im Rahmen der documenta 7 (1982) besonders wichtig. Er ließ vor dem Schloss Fridericianum in Kassel ein Dreieck aus 7000 Basaltstelen aufbauen. Jeder, der 500 D-Mark spendete, erhielt einen Stein und durfte im gesamten Stadtgebiet ein Eichenbäumchen pflanzen, neben dem der Stein in die Erde eingelassen wurde. Beuys betrachtete das Werk als vollendet, sobald es sich in seiner Materialität verflüchtigt hatte, indem alle Steine weggetragen und sie in einen »natürlichen« Kreislauf übergegangen waren. Das sollte fünf Jahre dauern. Stoffwechsel als kritische Strategie verwendete der japanische Künstler Noriyuki Haraguchi, als er ein amerikanisches Skyhawk-Jagdflugzeug in Holz nachbaute. Eine Kriegsmaschine, die im Zweiten Weltkrieg gegen Japan eingesetzt wurde, verliert ihre bedrohliche Macht, wenn sie aus zerbrechlichem Holz besteht. Auch Haraguchis Nachbau eines japanischen Hauses – ein Idealbild für die europäische Moderne – wirkt schön aus der Ferne oder als Bild im Ausstellungskatalog. In Wirklichkeit bestand die Kopie aus bemaltem Schichtholz, das dunkel schimmernde Wasserbecken war mit schwarzem, übel riechendem Altöl gefüllt. Auch der deutsche Künstler Thomas Demand baut Orte der Erinnerung aus Papier nach – die Fotografien der Modelle 1 : 1 spiegeln das ambivalente Verhältnis von Fragilität und Monumentalität wieder. Haraguchi oder Demand verwenden Stoffwechsel im Gegensatz zu Semper als eine Strategie der Ephemerisierung.

Stoffwechsel und Ultramaterialien Die Fülle von neu entwickelten Materialien und die Suche nach Prinzipien, die ihre Verwendung erklären oder sogar begründen kann, lässt Sempers Theorie des Stoffwechsels wieder aktuell erscheinen. Andrea Deplazes fasst die Schlussfolgerungen aus der Entwicklung des Holzbaus zusammen, wenn er von dem zum Zellmaterial gemahlenen und dann mit synthetischen Zusatzmitteln neu zusammengesetzten Holz als Kunststoff spricht: »Das steigende Interesse an neuen Holzbautechnologien lässt die These zu, dass wohl zum ersten Mal in der Architekturgeschichte tendenziell eine Entwicklung vom Massivbau zum Holzbau, der zur Kategorie des Filigranbaus (Tektonik) gehört, stattfindet. Nehmen wir als Beispiel die so genannte ›Stoffwechseltheorie‹ von Gottfried Semper, die sich weniger mit Bautechnik selbst als mit ihren Konsequenzen auf den architektonischen Formenausdruck im Moment des Wechsels von der

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7.22 Haus Meuli in Fläsch. Bearth

& Deplazes, 1997–2001.

7.23 Haus Willimann-Lötscher

in Sevgein. Bearth & Deplazes, 1998/99.

Tektonik zur Stereotomie befasst, einer Art Übertragung des Holzbaus auf den Massivbau (ich bezeichne diesen Konflikt mit ›technologische Immanenz versus kulturelle Permanenz‹) oder die ersten Stahlbetonstrukturen von Hennebique, die noch ganz dem tektonischen Gefüge von Holzbauten verpflichtet sind, mit hierarchisch angeordneten Pfosten, primären Unterzügen und sekundären Balkenlagen.«59 Das Wohnhaus Meuli in Fläsch in Graubünden von Bearth & Deplazes (1997–2001) steht als im Grundriss fünfeckiger Baukörper am Rande des Dorfs. Die grauweiße Farbe seiner 50 cm dicken, aus Dämmbeton gegossenen ­Mauern lassen das Haus als eine stoffliche Transformation des mit Holz beplankten Hauses Willimann-Lötscher in Sevgein (1998/99) erscheinen, das ebenfalls von Bearth & Deplazes entworfen wurde. Bei der Herstellung des

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7.24 Umbau und Erweiterung des

Museum Rietberg, Zürich. Adolf Krischanitz mit Alfred Grazioli, 2002–2007.

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Dämm­betons wurde Blähton verwendet. So war eine weitere Dämmschicht nicht not­wendig, die ganze Mauermasse ist homogen, aus einem Guss. Der Abdruck der Holzschalung auf der Betonoberfläche – ein Streitthema in der von der Lehre der Materialwahrheit dominierten Ästhetik der Moderne – erklären die Archi­tekten mit der Stoffwechseltheorie: »Dass der Monolith die äusserlichen Spuren einer Holzschalung zeigt und damit in die Nähe vorhandener Ökono­miebauten rückt, mag einer Semperschen Metamorphose zuzuschreiben sein.«60 (Abb. 7.22, 7.23) Der Begriff »Stoffwechsel« macht in Kunst und Architektur etwas sichtbar, das sonst schwer zu erklären ist: die alchimistische Verwandlung zwischen Materialität und Immaterialität (»die technischen Verfahren sind die Grundlagen der Lyrik«, pflegte Le Corbusier zu sagen).61 Sempers auf Kontinuität in der Veränderung gerichtetes Denken erlaubt, sein Gewebe auch im Computerzeitalter weiterzustricken. Der österreichische Architekt Adolf Krischanitz sieht in der »Analog-Digital-Wandlung durch den Computer« eine Emanzipation der Form vom rein Stofflichen, also Stoffwechsel im Sinne Sempers. Krischanitz

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extrapoliert den semperschen Stoffwechselbegriff, um eine Durchlässigkeit zwischen den Kategorien Stadt, Typus, Struktur und Ornament oder Schrift festzustellen. Er spricht etwa über die Verwendung von Begriffen, die »dynamische ›Stoffwechselvorgänge‹« ermöglichen62 oder über »stadtstrukturelle Stoffwechselapparate«, die unterschiedliche Nutzungsszenarien unterstützen können.63 (Abb. 7.24) In der Tat beziehen sich heute Theoretiker des digitalen Entwerfens wie Bernard Cache auf Sempers Stoffwechseltheorie.64 Der französische Architekt weitete Sempers Matrix der vier Urtechniken auf die Informationstechnologie aus. Für seine Vorlesung »Digital Semper« auf der Anymore-Konferenz in Paris (1999) erarbeitete er mehrere Tabellen, um die Transformationsmöglichkeiten der »historischen und traditionellen Materialien« darzustellen. Im nächsten Schritt erweiterte er Sempers System der vier Elemente um eine fünfte Kategorie – den Metallen – und ging dann noch weiter mit Beton, Glas, Biologie und Information. Er behauptet, dass Sempers Kategorie des Textilwebens in der Informatik der Modulation entspreche, die Keramik der Arbeit mit Rotationen und radialen Koordinaten und die Tektonik dem kartesianischen Koordinatensystem. Stereotomie als Kunst des Fliesenlegens verbindet Cache in der Informatik mit der Arbeit mit Booleschen Algorithmen.65 Die Verwandlung von mineralischen Mauern der Stadt zu begrünten Fassaden oder von recycelten Abfällen und Nebenprodukten zu Baumaterial gilt als Zeichen für eine umweltbewusste Gestaltung, aber dies bedeutet an sich noch keinen ökologischen oder sozialen Wandel. Vielversprechender wäre es, darüber nachzudenken, was Karl Marx als »Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur« bezeichnet, und die Wechselwirkung zwischen Technik und Natur angesichts der gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen neu denken. Der Begriff »Stoffwechsel« ist also bis heute fähig, etwas in Wissenschaft, ­Kultur, Kunst und Architektur sichtbar zu machen, das ansonsten schwer fassbar ist. »Die Form bleibt bestehen und bestimmt den Bau, dessen Funktion sich stän­ aterial einer dig verändert; in der Form wird das Material etwas anderes. Das M Glocke wird zur Kanonenkugel, die Form eines Amphi­theaters wird zur Form der Stadt, die Form der Stadt wird zum Palast«, erklärt Aldo Rossi sein Konzept der Analogie in seiner Wissenschaftlichen Selbst­biographie.66 Es geht um die Idee der Verwandlung und Kontinuität, um ständige Erneuerung der Form, die ihre eigene Entstehungsgeschichte widerspiegelt. Diese Freiheit ist nicht unbegrenzt, die neuen Stoffe und Gegenstände sind in ein vorstrukturiertes System eingegliedert, das hinreichend elastisch ist: Es ­beschränkt die Neuerfindung nicht, sondern befördert sie. In diesem Sinne ist Stoffwechsel ein altes Denkmodell, das aber eine ständige Erneuerung meint.

Anmerkungen 1

2

Gottfried Semper, »Vorläufige Bemerkungen über bemalte Architektur und Plastik bei den Alten« (1834), in: ders., Kleine Schriften, hg. von Hans und Manfred Semper. Berlin, Stuttgart: W. Spemann, 1884. Nachdruck Mittenwald: Mäander Kunstverlag, 1979, S. 215–258, hier S. 215. Michael Gnehm schlägt diese Interpretation in seinem Aufsatz über Sempers Stoffwechseltheorie vor: »Wie bei Christus der materielle Körper nur Erscheinung einer höheren We-

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senheit ist, in die er sich verwandelt, so fasst Semper den architektonischen Stoffwechsel als Verwandlung des (toten) Materials in (lebendige) Spiritualität, in Geistigkeit auf.«, in: ders., »Stoffwechseltheorie«, in: ARCH+ 221, Winter 2015, S. 155. 3 Gottfried Semper, Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik. Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde. Band 1: Die textile Kunst für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst. Frankfurt am Main: Verlag für Kunst und Wissenschaft, 1860. Nachdruck Mittenwald: Mäander Kunstverlag, 1977, S. 229. 4 Johann Bernhard Wilbrand, Physiologie des Menschen. Gießen: Georg Friedrich Tasché, 1815, S. 322. 5 Friedrich Tiedemann, Physiologie des Menschen. Band 1: Allgemeine Betrachtungen der organischen Körper. Darmstadt: Carl Wilhelm Leske, 1830, S. 371. 6 Justus von Liebig, Chemische Briefe, ausgewählt von Adolf Gerlach. Hamburg, Berlin: Alfred Janssen, 1913, S. 22. 7 Ebd., S. 39. 8 Jac[ob] Moleschott, Der Kreislauf des Lebens. Physiologische Antworten auf Liebig’s Chemische Briefe. 4. Aufl. Mainz: Verlag von Victor von Zabern, 1863, S. 333f. 9 Jacob Moleschott, Der Kreislauf des Lebens. 5. Aufl. Gießen: Emil Roth, 1887, S. 593. 10 Ebd., S. 599. 11 Harry Francis Mallgrave, Gottfried Semper. Architect of the Nineteenth Century. New Haven, London: Yale University Press, 1996. 12 Hermann Paul, Prinzipien der Sprachgeschichte (1880), 5. Aufl. Halle an der Saale: Max Niemeyer, 1937, S. 32. 13 Ebd., S. 37. 14 Gottfried Semper, Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik. Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde. Band 2: Keramik, Tektonik, Stereotomie, Metallotechnik für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst. München: Friedrich Bruckmann’s Verlag, 1863. Nachdruck Mittenwald: Mäander Kunstverlag, 1977, S. 3. 15 Ebd. 16 Ebd., S. 4. 17 Ebd., S. 4f. 18 Ebd. 19 Vgl. Ute Poerschke, Funktionen und Formen. Architekturtheorie der Moderne. Bielefeld: transcript Verlag, 2014, S. 83. 20 Semper, Der Stil, Band 2 (wie Anm. 14), S. 5. 21 Ebd. S. 6. 22 Semper, Der Stil, Band 1 (wie Anm. 3), S. 233. 23 Ebd. 24 Ebd., 233f. 25 Ebd., S. 231. Diese Interpretation Sempers hat die Altertumskunde nicht bestätigt. Vgl. Heinz Kähler, »Triumphbogen (Ehrenbogen)«, in: Paulys Real-Enzyklopädie der classischen Altertumswissenschaft, Band 7, A1. Stuttgart: Metzler, 1939, S. 373–493. 26 Semper, Der Stil, Band 1 (wie Anm. 3), S. 229f. Ebd., S. 230. 27 Constantin Uhde, Die Konstruktionen und die Kunstformen der Architektur. Ihre Entstehung 28 und geschichtliche Entwickelung bei den verschiedenen Völkern. Band 2: Der Holzbau: Seine künstlerische und geschichtlich geographische Entwickelung, sowie sein Einfluss auf die Steinarchitektur. Berlin: Ernst Wasmuth, 1903, S. 20. 29 Ebd., S. 2. 30 Semper, Der Stil, Band 2 (wie Anm. 14), S. 275. 31 Semper, Der Stil, Band 1 (wie Anm. 3), S. 429f. Das Bild vom »Grab des Midas« erschien zuerst in: Charles Texier, Description de l’Asie Mineure. Band 1. Paris: Firmin Didot Frères, 1839. 32 Semper, Der Stil, Band 2 (wie Anm. 14), S. 479. 33 Semper, Der Stil, Band 1 (wie Anm. 3), S. 231. 34 Friedrich Schiller, »Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen« (1793/94), in: Schillers Sämtliche Werke. Säkular-Ausgabe. Stuttgart, Berlin: J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger, o. J. [1838], S. 3–120, hier S. 85. 35 Ebd., S. 107ff. 36 Semper, Der Stil, Band 1 (wie Anm. 3), S. 232.

7. Die Theorie und Praxis des Stoffwechsels

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Das Zitat »Was ist ihm Hekuba« (What’s Hecuba to him) stammt aus William Shakespeares Hamlet, und wurde als Ausdruck der Gleichgültigkeit dem Schicksal des Anderen zum geflügelten Wort. 38 G[eorg] Heuser, »Die Stabilrahmen, Strukturformen der Metall-Tektonik und ihre Nachbildung in anderem Rohstoffe«, in: Allgemeine Bauzeitung, Jg. 49 (1884), S. 97−103, hier S. 98. 39 Ebd., S. 102. 40 Ebd. 41 Georg Lukács, Heidelberger Ästhetik (1916–1918), hg. von György Márkus, Frank Benseler. Darmstadt, Neuwied: Hermann Luchterhand Verlag, 1974, S. 144f. 42 Otto Wagner, Die Baukunst unserer Zeit. Dem Baukunstjünger ein Führer auf diesem Kunstgebiete. 4. Aufl. Wien: Anton Schroll, 1914. Nachdruck Wien: Löcker Verlag, S. 61. 43 Rudolph Redtenbacher, Die Architektonik der modernen Baukunst. Ein Hülfsbuch bei der Bearbeitung architektonischer Aufgaben. Berlin: Verlag von Ernst & Korn, 1883, S. 1. 44 Richard Streiter, »Architektonische Zeitfragen«, in: ders., Ausgewählte Schriften zur Aesthe­ tik und Kunst-Geschichte, hg. von Franz von Reber, Emil Sulger-Gebing. München: Delphin-­ Verlag, 1913, S. 102f. 45 Ebd., S. 103. 46 Wagner, Die Baukunst (wie Anm. 42), S. 62f. 47 Wagner, Die Baukunst (wie Anm. 42), S. 65. 48 Ebd., S. 65. 49 Ebd., S. 65f. 50 Ebd., S. 66. 51 Ebd. 52 Ebd., S. 67. 53 France Stelè, Anton Trstenjak (Hg.), Jože Plečnik. Architectura Perennis. Laibach: Mestna Občina Ljubljanska, 1941. Nachdruck Laibach: DESSA, 1993. France Stelè, Esej o a­ rhitekturi. Napori. Josip Plečnik, Dela. Laibach: Slovenska Akademija Znanosti in Umetnosti, 1955. Nachdruck Laibach: DESSA, 1993. 54 Stanislaus von Moos, Venturi, Rauch & Scott Brown. München: Schirmer/Mosel, 1987, S. 141–143. 55 Semper, Der Stil, Band 2 (wie Anm. 14), S. 364. 56 Ebd. 57 Pierre Restany, Yves Klein e la mistica di Santa Rita da Cascia. Mailand: Domus, 1981. 58 Vgl. Sandra Stich, Yves Klein. Stuttgart: Cantz, 1994, S. 131–156. 59 Andrea Deplazes, »Indifferent, synthetisch, abstract – Kunststoff. Präfabrikationstechnologie im Holzbau: aktuelle Situation und Prognose«, in: Werk, Bauen+Wohnen 1–2/2001, S. 10–17. 60 Heinz Wirz (Hg.), Bearth & Deplazes. Konstrukte/Constructs. Luzern: Quart Verlag, 2005, S. 74. 61 »Les techniques sont l’assiette même du lyrisme«, in Le Corbusier, Précisions sur un état présent de l’architecture et de l’urbanisme, Paris: Éditions Vincent, Fréal & Cie, 1960, S. 37. 62 Adolf Krischanitz, Architektur ist der Unterschied zwischen Architektur. Ostfildern: Hatje Cantz, 2010, S. 116. Ebd., S. 70. 63 Bernard Cache, »Digital Semper«, in: Cynthia Davidson (Hg.), Anymore. Cambridge, Mas64 sachusetts: The MIT Press, 2000, S. 190–197. Ebd., S. 195. 65 Aldo Rossi, Wissenschaftliche Selbstbiographie, übers. von Heinrich Helfenstein. Bern, Ber66 lin: Verlag Gachnang & Springer. 2. Aufl. 1991, S. 10.

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8. DAS PRINZIP DER BEKLEIDUNG Semper und die Polychromie Die Vorstellung von einem farbigen Marmortempel in der griechischen Landschaft war im 19. Jahrhundert eine Herausforderung für die Fantasie – und sie ist es heute noch. Trotzdem gab es bereits damals Ästheten, die der Gedanke begeisterte, dass die »tote Antike« durch Farbe zum Leben erweckt werde. Der »dogmatische Begriff von ›Klassizität‹ und ›edler Einfachheit‹«, der für sie gleichbedeutend mit »edler Langeweile« war, sei endlich unhaltbar geworden, schrieb 1890 Josef Bayer, Professor der Ästhetik an der Technischen Hochschule in Wien.1 Gottfried Semper zollt in seinen Vorläufigen Bemerkungen über bemalte Archi­tectur und Plastik bei den Alten (1834) den britischen Architekten James Stuart und Nicholas Revett Anerkennung, die 1757 den zerstörten Parthenon in Athen vermessen hatten.2 Sie erwähnten in den drei Foliobänden ihrer viel gerühmten Publikation The Antiquities of Athens (1762–1794) erhaltene Spuren der Farbfassung der Architektur.3 Diese Entdeckung wurde von Stuarts und Revetts Zeitgenossen allerdings kaum bemerkt und war wohl auch für sie selbst mit ihrer eigenen Vorstellung von der Antike schwer vereinbar. Wie bei Georges Cuviers theoretischer Rekonstruktion des Federkleides von einem ausgestorbenen Urvogel mussten die farbige Oberfläche eines Marmortempels mons­trös und eine bunte Statue beinahe barbarisch erscheinen. Aber am Anfang des 19. Jahrhunderts, als Polychromie ins Zentrum der Aufmerksamkeit vieler deutschen und französischen Architekten rückte, begann man, das Werk von Stuart und Revett genau unter diesem Aspekt zu studieren. Im Zusammenhang mit der Theorie der Nachahmung leistete der bereits vorgestellte Antoine Chrisostôme Quatremère de Quincy, Professor und Secrétaire perpétuel (Sekretär auf Lebenszeit) an der Académie des Beaux-Arts, mit seinem monumentalen Band Le Jupiter Olympien (1814) den ersten wichtigen Beitrag zur Diskussion über Polychromie.4 In diesem Folioband veröffentlichte er seine farbige Rekonstruktion der riesigen Goldelfenbeinstatue des Zeus von Phidias, die in der Cella des Tempels in Olympia stand. Was jedoch die Architektur betrifft, fühlte sich Quatremère de Quincy dem klassischen Schönheits­ ideal von Johann Joachim Winckelmann verpflichtet, die Vorstellung von einer farbigen Tempelarchitektur musste ihm selbst erschreckend vorgekommen sein. Aber zwei Architekten deutscher Herkunft in Paris, Jakob Ignaz Hittorff (1792–1867) und Franz Christian Gau (1790–1854), die an der von Quatremère de Quincy geleiteten École des Beaux-Arts in Paris studiert hatten, trugen nicht nur mit eigenen Forschungen zur Polychromiediskussion bei, sondern lieferten auch mit ihren Bauten Beispiele für eine neue farbige Architektur. 1822 zeigte Gau im Pariser Salon seine Darstellungen von ägyptischen Fassaden und Grab­

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8. Das Prinzip der Bekleidung

interieure in lebhaften Farben, und Hittorff veröffentlichte 1827 gemeinsam mit Karl Ludwig Wilhelm Zanth, dem Architekten der mauresken Villa Wilhelma in Cannstatt bei Stuttgart (1837–1851), Chromolithografien unter dem Titel ­Architecture antique de la Sicile.5 Semper ging zwischen 1826 und 1830 zwei Mal für mehrere Monate nach Paris, um dort an der Architekturschule von Gau zu studieren. Im Jahre 1830 reiste er weiter mit seinem Freund Jules Goury über Italien nach Griechenland, um dort die Spuren einer farbigen Gestaltung antiker Bauten zu untersuchen. Dort trafen sie den jungen Owen Jones, den späteren Verfasser des einflussreichen Vorlagenwerks The Grammar of Ornament, der auch mit der farbigen Gestaltung des Kristallpalasts in London beauftragt wurde.6 Semper präsentierte 1833 seine kolorierten Rekonstruktionszeichnungen der Akropolis Karl Friedrich Schinkel persönlich in Berlin, der in den nächsten Jahren einen großartigen polychromen Entwurf für den Schloss Orianda auf der Krim erarbeiten wird (1838). (Abb. 8.1) In Sempers Beschreibung kommt den Textilwänden eine wichtige Rolle zu: Neben der Malerei, sagt er, dürfe »der metallene Zierat, die Vergoldung, die Draperie von Teppichen, Baldachinen und Vorhängen und das bewegliche Geräte nicht außer Augen gelassen werden. Auf alles dieses und mehr noch auf die mitwirkende Umgebung und Staffage von Volk, Priestern und Festzügen waren die Monumente beim Entstehen berechnet. Sie waren das Gerüste, bestimmt, allen diesen Kräften einen gemeinsamen Wirkungspunkt zu gewähren«.7 In diesem Text finden sich bereits Aussagen, die er später zu seiner Theorie der Bekleidung entwickeln sollte. Er verlangt, jedes Material solle für sich sprechen und unverhüllt erscheinen, Backstein als Backstein, Holz als Holz, »ein jedes nach den ihm eigenen Gesetzen der Statik«.8 Im nächsten Satz stellt er allerdings klar, dass er kein Wortsprecher der Lehre der Materialwahrheit sei: »die wahre Einfachheit« reiche allein nicht aus, man dürfe sich darauf noch »mit aller Liebe der unschuldigen Stickerei des Zierats hingeben […]. Das Holz, das Eisen und alles Metall bedarf der Ueberzüge, um es vor der verzehrenden Kraft der Luft zu schützen. Ganz natürlich, daß dies Bedürfnis auf eine Weise befriedigt wird, die zugleich zur Verschönerung beiträgt. Statt der eintönigen Tünche wählt man gefällig abwechselnde Farben. Die Polychromie wird natürlich, notwendig.«9 Die Bemalung der Tempel von Selinunt bezeichnet er bereits in diesem Text als »Farbenbekleidung«.10 Dabei ist er von der Vorstellung der farblichen Einheit von Bauwerk und natürlicher Umgebung geleitet, und nicht vom Bild des weißen, mit der Natur kontrastierenden Marmortempels: »In einem hellen, zehrenden Südlichte, in starkgefärbter Umgebung brechen sich gut geordnete, aber ganz nebeneinander gestellte Farbentöne schon so mildernd, daß sie das Auge nicht beleidigen, sondern besänftigen.«11 Archäologische Entdeckungen reichen offensichtlich nicht aus, um das neuentflammte Interesse an Polychromie zu erklären – die ästhetische Vision war zumindest genauso wichtig.

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8. Das Prinzip der Bekleidung

8.1 Kolorierte Ansicht des Gebälks am Parthenon, Athen. Gottfried Semper 1836, gta Archiv Zürich.

Böttichers Tektonik Der deutsche Architekt und Archäologe Karl Bötticher (1806–1889), ein Schüler Schinkels, betrachtete als seine Aufgabe, dem gebauten Werk seines Meisters sowie seiner fragmentarisch gebliebenen Architekturlehre mit einer konsistenten Theorie zu entsprechen. Böttichers wichtiges Werk Die Tektonik der Hellenen (1844–1852) brach mit dem Genre des traditionellen Traktats über die antike griechische Architektur, um aus der analytischen Betrachtung ihrer Formen das ihnen zugrunde liegende Regelwerk herauszudestillieren. Er beabsichtigte nicht allein die Interpretation des historischen Materials, sondern auch eine Entwurfslehre für seine Zeit. Bötticher war der Ansicht, dass das antike Formprinzip analog zur »schaffenden Natur« wirke. Daraus leitete er ein »Gesetz der Form« ab, das »hoch über der individuellen Willkühr« stehe. Tektonik bezeichnete er als »die bauliche und Geräthebildende Werkthätigkeit, sobald dieselbe ihre aus Bedürfnissen des geistigen oder physischen Lebens hervorgegangenen Aufgaben ethisch zu durchdringen vermag, und sonach nicht allein dem bloßen Bedürfnisse durch eine materiell nothwendige Körper­bildung zu

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8. Das Prinzip der Bekleidung

8.2, 8.3 Ornamentik der Säulen­

basis. Ornamentik der Geräte und Doldenpflanze. Karl Bötticher, Die Tektonik der Hellenen, 1844–1852.

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entsprechen, sondern die Letztere auch noch zur Kunstform zu erheben vermag«.12 (Abb. 8.2) Bötticher beschreibt den griechischen Tempel als einen idealen Organismus, »der zur Erzeugung eines Räumlichen auf eine kunstvolle Weise gegliedert ist. Dieser Raumbildende Organismus, vom Ganzen bis auf das kleinste seiner Glieder – membra – ist ein Gedachtes, gehört nur der Erfindungskraft der menschlichen Seele an, und hat kein Vorbild in der umgebenden Natur ­wonach es geschaffen werden könnte«.13 Dem Baumaterial werde die Form eines Bauglieds verliehen, und »indem man alle diese Glieder zu einem in sich vollendeten Mechanismus zusammenreiht, wird in dem Materiale das inliegende aber in formlosem Zustande ruhende und latente Leben zu einer dyna­ mischen Aeußerung gelöst, zu einer statischen Funktion genöthigt; es wird demselben damit eine höhere Existenz, ein ideales Sein verliehen, weil es jetzt als Glied eines idealen Organismus fungirt«.14 Bötticher betrachtet in seiner Analyse jedes Konstruktionsglied als aus zwei Elementen, »Kernform« (oder »Werkform«) und »Kunstform« bestehend. Er definiert diese Elemente wie folgt: »Die Kernform jedes Gliedes ist das mechanisch nothwendige, das s­ tatisch

8. Das Prinzip der Bekleidung

fungirende Schema; die Kunstform dagegen nur die Funktion-erklärende Charakteristik.«15 Die Kernform sei eine Abstraktion, die immaterielle, diagrammhafte Vorstellung des Konstruktionsteils. Die Kunstform hingegen sei keine reine Dekoration, sondern die optisch wahrnehmbare Erscheinung dieses Elements, welches die statische Funktion nicht nur erfüllen, sondern diese auch symbolisch darstellen müsse. Eine besondere Rolle spielt in Böttichers Theorie die »Junktur«, also die Stelle der Verbindung zwischen Bauteilen, die als Kapitell, Abakus, Kyma, Plynth usw. gestaltet ist. Diese seien nach Vorbildern in der Natur geformt, um ihre genaue Funktion im statischen System zum Ausdruck zu bringen. (Abb. 8.3) Die Idee der Kohärenz, des Zusammenhangs von Sichtbarem und Ver­ stecktem, geht vor allem auf Karl Otfried Müllers Handbuch der Archäologie der Kunst (1830) zurück, das sowohl Bötticher als auch Semper mit Gewinn gelesen hatten.16 Trotz Böttichers Charakterisierung der Kernform als »Schema« erlauben einige seiner Formulierungen und Begriffe eine andere Lesart, nämlich dass die Kernform als ein konkretes Konstruktionsglied ohne die sie bekleidende Hülle denkbar wäre, etwa als eine zylindrische Stütze ohne Basis und Kapitell – eine Deutung, welche die Moderne aufgreifen wird. Böttichers Theorie entfaltete nach ihrer Veröffentlichung eine große Wirkung. Semper las Die Tektonik der Hellenen erst während seines Aufenthalts in London, im Dezember 1852. Er erkannte die Relevanz des Buchs für seine eigenen Forschungen sofort – was ihn allerdings nicht daran hinderte, mit ­bissiger Kritik zu reagieren. Aber die Lektüre spornte ihn an, seine eigene, damals im Vergleich zu Böttichers Lehre noch weniger entwickelte Theorie von der Entstehung der Kunstformen zu präzisieren und die Unterschiede zum Die Tektonik der Hellenen schärfer hervorzuheben.

Sempers Prinzip der Bekleidung Semper verwendet den Begriff »Stoffwechsel« in seinem Werk Der Stil, um das Prinzip der Bekleidung zu begründen.17 Die Textilkunst war für Semper die Urkunst, da alle anderen technischen Künste »ihre Typen und Symbole aus der textilen Kunst entlehnten«.18 Es bestand für ihn kein Zweifel darüber, dass »die Anfänge des Bauens mit den Anfängen der Textrin zusammenfallen«.19 Das Grundmotiv der textilen Kunst sei die rhythmische Reihung von Knoten, der selbst »vielleicht das älteste technische Symbol und […] der Ausdruck für die frühesten kosmogonischen Ideen [ist], die bei den Völkern aufkeimten«.20 Der Knoten ist in erster Linie ein »Verknüpfungsmittel«, durch seine Reihung entstehe das Netzwerk als Knotengefüge, das Geflecht, der Filz und das Gewebe – Stoffe zur Bekleidung des menschlichen Körpers sowie des Baukörpers. (Abb. 8.4) Textilien sind streng nach handwerklichen Regeln strukturiert, aber die Begrenztheit der Technik erlaubt eine große Variationsmöglichkeit bei Mustern und Farben, was zu Sempers Begeisterung bestimmt beigetragen haben dürfte. Er vermutete sogar, die Wörter »Naht«, »Knoten« und »Not« seien etymologisch miteinander verwandt; und mit Anspielung auf den gordischen Knoten spekulierte er über die »Ideenverknüpfung […] zwischen Naht und Knoten […] zwischen den fesselnden Ἀνάγκη und der unentwirrbaren

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8. Das Prinzip der Bekleidung

Verschlingung, die wiederum nur die Noth zerhaut […]«.21 So deute das Sprichwort »aus der Noth eine Tugend zu machen« auf die Performanz des Knotens hin, aus einzelnen Stücken ein zusammenhängendes Gewebe herzustellen.22 Wir können also zusammenfassen: Die Notwendigkeit des Verbindens wird mit der technischen Geste des Knotens gelöst, deren labyrinthische räumliche Kalligrafie in das Bild des Knotens eingeschrieben ist. Das dekorativen Gewebe als Kleid und Raumabschluss entsteht durch die rhythmische Wiederholung der Knoten: Wo früher Leere war, schafft die 8.4 Darstellung eines Knotens in textile Substanz Raum. Ordnen und Ornamentieren (beide Gottfried Semper, Der Stil Bd. 1. Begriffe entstammen derselben sprachlichen Wurzel) fallen im Akt und Motiv des Knotens zusammen. Es ist die auf Mechanisierung und Standardisierung beruhende moderne Konstruktionslehre Konrad Wachsmanns, in welcher der als räumliche Figur dargestellte Knoten eine ähnlich universale Rolle spielen wird.23 (Abb. 8.5) »In allen germanischen Sprachen erinnert das Wort Wand, (mit Gewand von gleicher Wurzel und gleicher Grundbedeutung,) direkt an den alten Ursprung und den Typus des sichtbaren Raumesabschlusses«, setzt Semper seine Etymologie fort.24 Auch Begriffe wie »Decke«, »Bekleidung«, »Schranke« oder »Zaun« (letzterer sei gleichbedeutend mit »Saum«, so Semper) seien »­sichere Hindeutungen des textilen Ursprungs dieser Bautheile«.25 Nicht nur der Schutz vor dem Wetter, sondern die Freude am Ornamentieren erkläre das aus Flechtwerk bestehende erste Haus: »Die Bekleidung der Mauern war also das Ursprüngliche, seiner räumlichen, architectonischen Bedeutung nach das Wesent­liche; die Mauer selbst das Sekundäre.«26 Das sind die sprachlich begründeten Prämissen seiner Bekleidungstheorie, die das architektonische ­Objekt nicht wie Bötticher von der Konstruktion ausgehend betrachten, sondern vor allem dessen anthropologisch-historische Entstehung und die Performanz der Bekleidung betonen. In seinem Manuskript zur Vergleichenden Baulehre leitet Semper die Entstehung der Architektur von dem Textilweben und Textilfärben der Assyrer ab. Die Bekleidung der Mauern erhielt ihre Bedeutung selbst dann, schreibt er, »als man sich aus Rücksichten grösserer Dauer, der Ökonomie, der Reinlichkeit oder der Prunkliebe anderer Stoffe an die Stelle der Teppiche, z. B. der Stucküberzüge, der Holztäfelungen, der Alabasterplatten oder der Metallplatten zu ihrer Herstellung bediente«.27 Die neuen Bekleidungen − bemaltes Holz, Stuck, Stein, Keramik oder Metall − seien Nachahmungen der bunten Stickereien der Teppichwände gewesen. Die überwältigende Wichtigkeit der textilen Kunst für Semper zeigt die Tatsache, dass er den ganzen ersten Band von Der Stil dieser Technik widmet; die übrigen drei Urtechniken müssen sich zusammen mit der Metallotechnik mit dem Platz im zweiten Band begnügen. Im Zusammenhang mit der Textilkunst entwickelt Semper die wichtigsten Thesen über das »Prinzip der Bekleidung in der Baukunst« und über das »Maskiren der Realität in den Künsten«. Im zweiten Teil des ersten Bandes präsentiert er dann, dem Prinzip der Bekleidung untergeordnet, seine Darstellung der aus der Textilkunst stammenden Formen in verschiedenen europäischen wie 222 außer­europäischen Kulturen.

8. Das Prinzip der Bekleidung

8.5 Perspektive einer Struktur aus einem Standard-Konstruktionselement gebildet. Abbildung aus Konrad Wachsmann, Wendepunkt im Bauen, Wiesbaden 1959. Akademie der Künste, Berlin, Konrad-Wachsmann-Archiv.

Die Architektur beginnt mit der Bekleidung: Diese zentrale These Sempers war mit Böttichers Konzept der Tektonik unvereinbar. Doch als die vom ­Klassizismus inspirierten Theorien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren Zenit überschritten hatten, erschien die neue Ästhetik als reizvolle Alter­native. »Die ›hellenische Renaissance‹ ist vorüber«, spottet 1896 Richard Streiter: »Grollend sehen die letzten ›Tektoniker‹ der ›Willkür und Entartung‹ in der Baukunst unserer Tage zu.«28 Der Vorrang der Bekleidung über die ­Konstruktion bedeutete zugleich, dass die Frage des Raums, seiner Ab­schließung und Gliederung, mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte als in der Architekturtheorie des frühen 19. Jahrhunderts. »Das Bedürfniss des Schutzes, der Deckung und der Raumabschliessung« hebt Semper ­hervor, als mit seinen Betrachtungen über die Decke beginnt. »Die Bestimmung der Decke bildet einen Gegensatz zu dem, was das Gebinde bezweckt. Alles ­Abgeschlossene, Geschützte, Umfasste, Umhüllte, Gedeckte zeigt sich als einheitlich, als Collectivität, – wogegen alles Gebundene sich als Gegliedertes, als Pluralität kund gibt.«29 Deshalb zeigt er für die Decke als waagrechte Raumabschließung (Plafond) ein viel größeres Interesse als für die Decke als ­Konstruktion. Semper war Mitte des 19. Jahrhunderts allerdings nicht der Einzige, der Architektur als eine Art Raumkleid betrachtete: Hermann Weiß, Professor an der Akademie der Künste in Berlin, veröffentlichte 1860 seine Kostümkunde, deren erster Doppelband den Untertitel Handbuch der Geschichte der Tracht, des Baues und des Geräthes der Völker des Alterthums trägt. Semper verweist in Der Stil auf diese Publikation.30 Die in Architektenkreisen wenig bekannten französischen Architekten und Archäologen Georges Perrot und Charles Chipiez publizierten zwischen 1882 und 1903 eine Kunstgeschichte der Antike in acht Bänden. Sie enthalten ein opulentes Bildmaterial, das viele textile Motive von der ägyptischen, assyrischen und phönizischen bis zur römischen Kunst auf großformatigen Rekonstruktionszeichnungen zeigt.31 Perrot und Chipiez berufen sich auf Sempers Der Stil und finden auch in der ornamentalen Dekoration ägyptischer Grabdenkmäler die Bestätigung seiner Theorie.32 Die den textilen Charakter antiker Fassaden hervorhebenden Zeichnungen haben in der Folge ihren Weg in zahlreiche Handbücher zur Architekturgeschichte gefunden. (Abb. 8.6, 8.7)

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8. Das Prinzip der Bekleidung

8.6 Detail von der Decke des Hypostylsaals des Xerxes in Persepolis. Tafel VI aus dem Werk von Georges Perrot und Charles Chipiez, Histoire de l’art dans l’antiquité, Bd. V. Paris 1890.

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Es ist nicht leicht, die Übereinstimmungen und Unterschiede in Böttichers und Sempers Theorien der Bekleidung zu präzisieren, zumal die Aussagen der Autoren bereits von ihren Zeitgenossen unterschiedlich ausgelegt wurden. Meistens werden sie als Kontrahenten dargestellt: Bötticher als Protagonist eines dem klassizistischen Schönheitsideal folgenden, klaren, gerüstbestimmten Systems und Semper als Befürworter der dekorativen, raumbestimmenden Flächenwirkung des farbigen Fassadenkleides. Das sind unterschiedliche Leitbilder, aber diese Unterschiede sollten nicht überbetont werden. Bötticher und Semper scheinen vor allem ähnliche Positionen zu vertreten, sobald es darum geht, die Beziehung zwischen Hülle und Kern zu erklären. Bötticher geht von einer Wechselwirkung zwischen Werkform und Kunstform aus, welche die Kohärenz der »totalen Form« gewährleistet. Und Semper betont: »Das Maskiren aber hilft nichts, wo hinter der Maske die Sache unrichtig ist oder die Maske nichts taugt.«33 Damit ist natürlich nicht alles erklärt: Wann ist »die Sache unrichtig«, wann »taugt« die Maske nichts? Nichts ist leichter, als Sem-

8. Das Prinzip der Bekleidung

8.7 Kavalierperspektive der Decke und der oberen Wandfläche im Grab des Ptah-Hotep. Tafel XIII aus dem Werk von Georges Perrot und Charles Chipiez, Histoire de l’art dans l’antiquité, Bd. I. Paris 1882.

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pers Prinzip der Bekleidung im Sinne der dekadenten Prunksucht der Habsburger, der von Hans Makart, aber auch von Otto Wagner gestalteten Festzüge zu verstehen. Der Architekt Rudolf Redtenbacher, Sohn des Begründers der theoretischen Maschinenlehre, Ferdinand Redtenbacher, ging mit Sempers Bekleidungstheorie in seinem Buch Tektonik hart ins Gericht: »Die Construction, den Stoff und den Zweck nicht zum obersten Princip in der Tektonik zu erheben, sondern das Princip der Bekleidung, wie das Semper gethan hat, heisst den Naturproducten die Berechtigung absprechen, für schön gehalten zu werden, und eine Rose oder eine Melone würden erst dann schön werden, wenn wir sie mit Oelfarbe angestrichen hätten; es hiesse zugleich aber auch Rückschritte machen und in Barbarei verfallen […]. Was die Vergangenheit an allgemein Werthvollem geschaffen hat, behalten wir in der Tektonik bei, so lange wir es noch brauchen können, und das Uebrige werfen wir in die historische Plunderkammer.«34 Die Enthüllungsrhetorik der Moderne nimmt hier ihren Anfang.35 Es war der anfangs erwähnte Josef Bayer, der sich vornahm, Sempers Prinzip der Bekleidung als theoretische Vorarbeit zur Begründung eines neuen Stils zu interpretieren. 1879, im Todesjahr Sempers, veröffentlichte er in der Zeitschrift für bildende Kunst die erste vertiefte Analyse über die Theorie und das gebaute Werk des Architekten.36 Er hob Sempers Feststellung von dem Bedürfnis als den einen Herrn der Kunst37 hervor, um zu zeigen, dass dieses Programm vom »Freiheitsdrang der Tage« motiviert sei: Ein »bevormundetes Volk« kenne sein wahres Bedürfnis nicht. Der »Bau-Organismus« sei ein »symbolisches Abbild des Gesellschafts-Organismus«, stellt Bayer fest: Die Triebkräfte in der modernen Gesellschaft unterschieden sich wesentlich von jenen, welche die großen Bauten der Vergangenheit emporsteigen ließen.38 In seinem kurzen Beitrag »Stilkrisen der Zeit« (1886) ging er noch weiter, ganz im Sinne von Sempers B ­ ekleidungstheorie: »Unsere Vorratskammer von disponiblen Formen ist reicher, weil wir viel mehr Baugeschichte hinter uns haben; wir verfügen daher über eine weit größere Mannigfaltigkeit von Bekleidungsstücken für unsere Bauten. Aber der neue Bau-Organismus bedingt zugleich einen veränderten Zuschnitt des angepaßten Formengewandes; zuweilen platzen auch die Nähte der Stilkleidung, und man muß sich irgendwie zu helfen suchen.«39 Diese bildhafte Formulierung findet ein Jahrzehnt später ihre architektonische ­Entsprechung im Ausstellungsgebäude der Wiener Secession (1897/98) von Joseph Maria Olbrich: ein Kubus, dessen äußere Fassadenkrusten, die wie Fragmente eines »klassischen« Bauwerks profiliert sind, sich unter dem vegetabilen Druck einer mit Gold überzogenen Schicht floraler Ornamentik vom Kern ablösen. Was könnte die Unmöglichkeit der Darstellung der platzenden Stilkleidung anschaulicher vor Augen führen, als diese Lösung (die dann von Adolf Loos gleich in die Plunderkammer überflüssiger Ornamentkunst geworfen wurde)? (Abb. 8.8) Die Möglichkeit einer fast unbegrenzten metaphorischen Erweiterung der Begriffe »Gewebe« und »Textil« auf andere Kulturbereiche und des menschlichen Lebens ist bereits mythologisch angelegt, etwa in den Figuren der drei Schicksalsgöttinnen (Moiren oder Parzen), die den Faden des menschlichen Lebens spinnen und schneiden. Aber auch in der modernen Literatur­theorie und Philosophie lebt der Gedanke fort. »Der Text ist ein Gewebe von Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur«, schreibt Roland Barthes.40 Auch V ­ iktor

8. Das Prinzip der Bekleidung

8.8 Detail vom Portal des Ausstellungsgebäudes der Secession in Wien. Joseph Maria Olbrich, 1897/98.

Šklovskij, Literaturtheoretiker des russischen Formalismus, spricht von den »Webweisen« der Texte, von ihrem generativen Verhalten, kurz: von der Textur.41 Der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty beschreibt die phänomenologische Materialität der Welt als ein Geflecht des Sehenden und des Sichtbaren.42 Sempers Fischerhütte erscheint aus dieser Perspektive nicht nur als ein Haus aus Flechtwerkwänden, sondern als ein Element des Raumgeflechts der Welt.

Die Ästhetik der Bekleidung in Sempers Werk »In das nüchterne Zürich glänzt da ganz unerwartet das stolze Genua herein«, kommentiert Josef Bayer Sempers Gebäude des Zürcher Polytechnikums (mit Johann Caspar Wolff, 1859–1863, heute Hauptgebäude der ETH Zürich).43 Die Nordfassade zeigt, wie Semper die Bekleidungstheorie in seinem eigenen Werk umsetzte.44 Das Gebäude steht auf einer breiten Terrasse, von der aus sich der Blick auf die Stadt an der Limmat, den Zürichsee und die Berge öffnet. Durch

227

8. Das Prinzip der Bekleidung

8.9 Westfassade des Eidgenössischen Polytechnikums in Zürich. Gottfried Semper, um 1859. gta Archiv Zürich. 8.10 Nordfassade des Eid­genössischen Polytechnikums in Zürich. Gottfried Semper, 1859–1868.

228

die aus riesigen Steinblöcken geschichtete Terrasse setzt sich das Gebäude von seiner Umgebung zwar etwas ab, gewinnt jedoch so an Monumentalität im Stadtbild. Bayer spricht von einer »kühnen Derbheit der Bossierung«, die mit den Festungstoren des Michele Sanmicheli aus der Spätrenaissance vergleichbar sei.45 Die Fassade des Erdgeschosses erhielt wie die florentinischen Renaissancepaläste eine Rustikaverkleidung. Im Kontrast zur Westfassade, die von einem Risalit mit kräftigen Pilastern dominiert ist, sind die beiden oberen Geschosse der Nordfassade mit einer überaus reichen Sgraffitodekoration überzogen. (Abb. 8.9, 8.10) Zwischen 1864 und 1872 konnte derjenige Besucher, der vom Stadtzentrum kommend zum Polytechnikum emporstieg, auch das von Semper entworfene Waschschiff Treichler auf der Limmat vor Anker liegen sehen, bevor er die Nordfassade des Polytechnikums erblickte. Das Schiff diente Zürcher Hausfrauen als Waschküche, weil es in der Stadt bis 1869 kein fließendes Wasser gab.

8. Das Prinzip der Bekleidung

8.11 Farbige Gestaltung des

Waschschiffs Treichler in Zürich. Gottfried Semper, 1862. gta Archiv Zürich.

Semper gestaltete das Schiff mit einem leichten Überbau aus Eisenprofilen, mit einer inneren Holzausfachung und Blechpaneelen außen, die von pompejanischen Wandmalereien inspiriert waren. In Zürich konnte Semper zwar kein Kaiserforum wie in Wien bauen, aber es gelang ihm damals, einen Erzählfaden durch die Straßen der Limmatstadt bis zur oberhalb des Polytechnikums liegenden eidgenössischen Sternwarte (1860−1864) zu führen. (Abb. 8.11) 229

8. Das Prinzip der Bekleidung

8.12 Orthodoxe Synagoge in Buda­

pest. Otto Wagner, 1868–1873.

Otto Wagner und seine Schule

230

Sempers Theorie wurde in Wien von Otto Wagner sowie von Wagners Mitarbeitern und Schülern im Sinne einer modernen Bekleidungsästhetik interpretiert. In der Architektur Wagners ist die Wirkung der Bekleidungstheorie allgegenwärtig. Schon einige seiner frühen Bauten wie die orthodoxe Synagoge in Buda­ pest (1868–1873) zeigten eine reiche Oberflächentextur: in diesem Fall einen Fassadenteppich von blau glasierten Keramikfliesen und steinartig bearbeiteten Putzfeldern, der den Einfluss der ebenfalls orientalisierenden Dresdner Synagoge Sempers (1838) und das Studium (vor allem britischer) Vorlagenwerke über maurische Ornamentik nahelegt. (Abb. 8.12) In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erschienen wichtige Musterbücher für Ornamente wie Owen Jones’ Grammar of Ornament (1856) oder Edmund W. Smiths Portfolio of Indian Architectural Drawings (1897), die unter anderem orientalische Beispiele enthalten.46 (Abb. 8.13) Etwas vereinfachend können wir behaupten, dass die Wende von der Tektonik Böttichers zum Bekleidungsprinzip Sempers zugleich eine Wende von antiken und christlichen Vorbildern in Richtung eines Orientalismus bedeutete,

8. Das Prinzip der Bekleidung

8.13 Detail von Salim Chishtis

Grabmal, Fatehpur Sikri. Tafel aus Edmund W. Smith, Portfolio of Indian Architectural Drawings, London 1897, Taf. XXXIX. 8.14 Festdekorationen für den Einzug der belgischen Prinzessin Stephanie in Wien. Otto Wagner, 1881. Joseph August Lux, Otto Wagner. Eine Monographie. München 1914.

231

8. Das Prinzip der Bekleidung

8.15 Hofpavillon der Stadtbahn,

Wien. Otto Wagner, 1898/99.

8.16 Kuppelraum des Hofpavillons. 8.17 Mietshaus an der Linken

Wienzeile (Majolikahaus) in Wien, Otto Wagner 1898/99. 8.18 Detail der Fassade des Majolika­hauses in Wien. 8.19 Gesimsdetail des Majolika­ hauses.

232

was von der Philosophie bis zur Literatur in verschiedenen Bereichen der Kultur ihren Niederschlag fand. Zu den frühen Entwürfen Wagners gehören Festdekorationen wie das Festzelt für die Silberhochzeit von Kaiser Franz Joseph I. und Elisabeth (1879) oder den Baldachin für den Einzug der belgischen Prinzessin Stephanie in Wien (1881), wobei der Architekt sogar für »elektrische Flammen« und weiß gekleidete Mädchen unter der Laube der Elisabethbrücke Vorschläge machte.47 (Abb. 8.14) Bei seinen Stadtbahnbrücken, die er im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts entwarf, verwendete Wagner »ingenieurmäßig« genietete Eisenkonstruktionen, die er mit einer Schicht floraler Details und Siegeszeichen der kaiserlichen Hauptstadt umhüllte. Den Bekleidungscharakter dieser Elemente bringen die aus Metall gefertigten Befestigungen, die textile Formen wie Schleifen oder Schnüre nachahmen, zum Ausdruck. Die Stadtbahnstationen am Karlsplatz oder der Hofpavillon der Stadtbahn in Wien sind Metamorphosen provisorischer Zelte im Sinne der semperschen Stoffwechseltheorie und zeigen eine breite Palette von Formen textilen Ursprungs. Der Dualismus von Gerüst und ornamentaler Überzug ist bei allen Details der Stützen, Geländer oder Kandelaber sehr deutlich artikuliert. (Abb. 8.15, 8.16)

8. Das Prinzip der Bekleidung

Zu reichster Entfaltung kommt Wagners Bekleidungsästhe­tik an dem als Majolikahaus bekannten Mietshaus an der Linken Wienzeile (1898/99), an der Kirche zum heiligen Leopold (1904–1907), bekannt als Kirche am Steinhof, und am Postsparkassenamt (1904–1906), alle in Wien. Der Kunsthistoriker Josef Strzygowski bemerkt 1907 in seiner Beschreibung der Fassade des Majolikahauses, dass Wagner »den Eindruck zu erwecken sucht, als wenn daran ein bunt bemalter Vorhang befestigt wäre«, und vergleicht diese Lösung mit der Fassade einer Moschee in der türkischen Stadt Konya.48 Die mit einem weit ausladenden »florentinischen« Gesims bekrönte Fassade des Majolikahauses

233

8. Das Prinzip der Bekleidung

8.20 Granitverkleidung des Sockels

der Postsparkasse in Wien. Otto ­Wagner, 1903–1906. 8.21 Putzverkleidung des Sockels des Mietshauses Döblergasse 4, Wien. Otto Wagner, 1911/12.

234

ist von den Nachbarbauten durch tief eingezogene Achsen mit Balkonen abgesetzt, wodurch die Autonomie des Hauses und die Scheibenartigkeit der Fassade betont werden. Diese ist mit glänzenden Fliesen bekleidet, die so angeordnet sind, dass die florale Dekoration unter dem Gesims am dichtesten ist. Nach unten nimmt die Zahl der undekorierten Fliesen zu, die Ornamentik konzentriert sich auf die Mittelachse der Fassade. Die Fensteröffnungen, die ohne Rücksicht auf die Ornamente in die Fassade eingeschnitten sind, vermitteln den Eindruck eines hängenden Teppichs, den die Löwenköpfe unter dem Gesims noch verstärken, welche Strzygowski als Haken zur symbolischen Aufhängung der Bekleidung interpretiert. Wagner erwähnt, dass dank der »Anbringung von Personenaufzügen« der Mietwert der einzelnen Geschosse »ziemlich ausgeglichen wurde«, also die frühere Werthierarchie zwischen Nobeletage und Attikageschoss nicht mehr bestehe. Architekturformen, »welche ihre Motive in der Palastarchitektur suchen, sind daher an solchen Zellen-Konglomeraten als völlig verfehlt zu bezeichnen, weil sie eben der Innenstruktur des Baues widersprechen.«49 Die Wahl, Keramik als Verkleidung zu verwenden, begründet Wagner (wie auch sein Zeitgenosse Ödön Lechner in Budapest) mit dem Rauch und Ruß der Stadtluft: »Dagegen ist nur durch Verwendung möglichst einfacher Formen, glatter Flächen, Anwendung von Porzellan und Majolika, Steinzeug, Mosaikbildern, systematische Reinigung […] vorzubeugen« […].50 (Abb. 8.17–8.19) Die Entwicklung der Architektur Wagners von der orientalisierenden Synagoge in Budapest über die großen Wiener Palastbauten im Stil der »freien Renaissance« bis zu den ornamentlos-sachlichen Mietshäusern kann durchaus im Sinne einer Tabula rasa interpretiert werden. Trotzdem, selbst jene seiner Bauten, die er vom Ornament am radikalsten »bereinigte«, artikulierte er der semperschen Theorie folgend. Ihre Sockelzone als stereotomischer Teil des Baukörpers ist immer armiert, aber mit immer einfacheren Mitteln: bei den frühen Bauten noch als Putzquader oder Putzstreifen (Haus in der Universitätsstraße, 1888), bei den späteren als unregelmäßiges Mauerwerk aus Sandstein (Kirche am Steinhof, 1904–1907), als Granitpanzerung (Postsparkassenamt, 1904–1906) oder als horizontal gerillte Putzfläche wie bei dem Mietshaus in der Döblergasse (1911/12). (Abb. 8.20, 8.21) Die Fassade der Kirche St.  Leopold am Steinhof (1904– 1907) ist ebenfalls Sempers Lehre von den vier Elementen entsprechend entwickelt, die nach der Aufgabe des Tektonik-­ Konzeptes der Klassizisten jetzt als Grundlage für eine klare Gliederung dient. Das Opus incertum der Sockelzone betont den Ursprung dieses Bauteils im geologischen Stoff der Erde. Die Verkleidung der oberen Fassadenzone mit sich abwechselnden Schichten von 2 cm dünnen Marmorplatten und 4 cm

8. Das Prinzip der Bekleidung

8.22 Kirche St. Leopold am

Steinhof, Wien. Otto Wagner, 1904–1907. 8.23 Von der Kuppelkonstruk­tion abgehängte Rabitzdecke der Kirche St. Leopold am Steinhof. 8.24 Decke der Kassenhalle der Postsparkasse, Wien.

dünnen Marmorleisten, befestigt mit Fixierungsbolzen, deren Köpfe sichtbar sind, bildet einen starken Kontrast zur Schwere des Sockels. Der Portikus ist ein zwischen dünnen Eisenträgern aufgespannter Baldachin, durchbrochen

235

8. Das Prinzip der Bekleidung

236

von vier Säulen, welche die von Othmar Schimkowitz geschaffenen Engelsfiguren tragen. Die Idee des Zeltes bestimmt auch den Innenraum. Die Decke besteht aus einer leichten Gitterkonstruktion aus T-förmigen Eisenprofilen, die am tragenden Eisengerüst der hohen Kuppel aufgehängt ist. Die Eisenprofile sind auf der Unterseite vergoldet, ihre Ausfachung besteht aus ornamentierten Rabitzplatten. Die schwebende Wirkung dieser leichten Schale erzeugen vor allem die farbigen Glasfenster, die sie an jenen Stellen durchschneiden, die bei einer tragenden Kuppelkonstruktion nicht möglich wären. (Abb. 8.22, 8.23) Eine andere, nicht minder wirkungsvolle Lösung findet Wagner für den Kassensaal seiner Postsparkasse. Bei der ebenfalls von einer eiser­nen Dachkonstruktion abgehängten Decke durchschneiden die Stützen die Glashaut und sind noch durch die transluzenten Glasplatten hindurch erkennbar. (Abb. 8.24) Die Wandfläche behält auch in Wagners späteren Werken ihren textilen Charakter. Dass sie flächenhafte Textur und nicht aus tragenden Elementen und Ausfachung bestehende Struktur ist, zeigen etwa die sichtbaren Köpfe der Fixierungsbolzen an der Fassade der Postsparkasse oder das feine Linien­raster in der ansonsten ornamentlosen, nur mit einer Naht aus blau glasierten Fliesen gerahmten Fassadenfläche des Mietshauses in der Neustiftgasse (1910). Die Präsenz der Dächer betonen vor allem Gesimse, deren stützende Konsolen im Sinne der Maschinenästhetik gestaltet sind. Die Wucherung der erzählenden Dekoration, ja die Umwandlung ganzer Fassaden zu Bildtafeln bei Entwürfen der Wagner-Schüler um 1900 spricht sehr deutlich von der Krise des Ornaments im Zusammenhang mit dem Prinzip der Bekleidung. Die Scharen von Zugvögeln, die Birkenwälder und Blumenfelder wirken austauschbar, als könnten sie einfach weggewischt werden. (Abb. 8.25) Max Fabiani, der aus dem Karstgebiet stammende, in Wien und in Triest tätige Schüler Wagners, errichtete eines der radikalsten Beispiele mit seinem Wohn- und Geschäftshaus Portois & Fix in Wien (1899/1900). (Abb. 8.26, 8.28) Die mit grünen und braunen Zsolnay-Keramikfliesen verkleidete Fassade wirkt wie ein geometrisch-abstrahiertes Majolikahaus. Es führt die Textur auf das gemeinsame Vorbild, die Fassade des Dogenpalasts in Venedig zurück, deren über der Lagune schwebende Wirkung von vielen Architekten der Wagner-Schule bewundert wurde. Solche Fassaden bezeichnete John Ruskin in seinem Buch The Stones of Venice als Wandschleier, »wall veil« (s. S. 139).51 Fabiani setzte diese Fassadengestaltung in Triest bei der Gestaltung des Slowenischen Gemeinschaftszentrums (1904/05) ein. Und in Wien, wo Venedig und Byzanz immer in Sichtweite geblieben waren – Gustav Klimt ist der Hauptzeuge –, entstanden viele Variationen des Themas. Josef Hoffmann (1870–1956), Schüler von Wagner zwischen 1902 und 1905, bekleidete die Fassade des Palais Stoclet in Brüssel (1905–1911) mit weißen Marmorplatten aus Norwegen. Die Kanten der Fassadenflächen sind über einem Sockel mit getriebenen, ornamentierten und vergoldeten Metallprofilen eingefasst; sie wirken wie Wasserstrahlen, die vom turmartigen Aufbau kaskadenartig herabströmen. Durch diese Rahmung zerfällt die Fassade optisch wie ein Kartenhaus, die glatten Flächen sind von jeglicher tragenden Funktion entlastet. (Abb. 8.29, 8.30) Das Verhältnis der bekleideten Fassade zu anderen Bauteilen wie Dach und Vordach war für den Wagner-Kreis eine eigene gestalterische Aufgabe, die viel Einfühlung und Fantasie erforderte. Da das atektonische Fassadenkleid keine Last tragen kann, sind für die Vordächer eigene Tragkonstruktionen er-

8. Das Prinzip der Bekleidung

8.25 Fassadenentwurf eines Miets-

hauses. Hans Schlechta, 1900. Aus der ­Wagner-Schule, MCM, Wien 1901.

forderlich, meistens aus dünnen Metallstäben, welche die Glas- oder Kupferbaldachine stützen. Ein besonders interessantes Detail ist die Gestaltung der Nahtstelle zwischen keramikverkleideter Fassade und Dachgesims bei dem Wohn- und Geschäftshaus Portois & Fix, welche die Fassade optisch entlastet: Der Dachauf bau scheint wie eine Art Luftschiff auf dem Baukörper gelandet zu sein. Die dynamische Schlangenornamentik des Gesimses ist der Gestaltung der rahmenden Metallbordüren des Palais Stoclet von Hoffmann sehr ä­ hnlich. (Abb.  8.27) Für Wagner war der klare obere Abschluss der Fassade mit dem »florenti­nischen« Gesims wichtig, da dies »den großen Zug« der modernen Stadt, die perspektivische Wirkung der Straße zusätzlich verstärkt. Seine Schüler, etwa Hoffmann, der gerne mit atektonischen, dekorativen Effekten experimentierte, ließen das Gesims oft weg. Die oberen Fenster des Palais Stoclet sind aus dem marmorverkleidetem Fassadenfeld nach oben verschoben, die Bordüre rahmt die Fensterstürze in Mäanderlinie. Weitere Erfindungen die-

237

8. Das Prinzip der Bekleidung

8.26 Wohn- und Geschäftshaus Portois & Fix in Wien. Max ­Fabiani, 1899/1900.

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ser gestalterischen Freiheit Hoffmanns und der Aufhebung der konstruktiven Lesbarkeit des Volu­mens ist die Kannelierung ganzer Fassadenflächen oder die Gleichbehandlung tragender und ausfüllender Elemente. In der Wiener Architektur des späten 19. Jahrhunderts wurde die Frage der Materialität der Fassade heftig diskutiert. Die Bauten der Ringstraße führen die Möglichkeiten und die Skala der erzielbaren polychromen Effekte sehr überzeugend vor Augen. In anderen Städten, vor allem in der ungarischen Reichshälfte der Donaumonarchie, war die farbige Stadt zum Programm von Architekten wie Ödön Lechner (1845–1914) geworden52, um in den 1970er-Jahren von seinem in Frankreich lebenden Landsmann, dem Op-Art-Künstler Victor Vasarely erneut aufgegriffen zu werden.53 Lechner wollte, dass sich Budapest als nationale Hauptstadt durch seine bunten, glänzenden Keramikfassaden, die

8. Das Prinzip der Bekleidung

8.27 Gesimsdetail vom Wohn- und

Geschäftshaus Portois & Fix.

8.28 Palazzo Ducale, Venedig, aus

E. E. Viollet-le-Duc, Entretiens sur l’architecture. Atlas, Paris 1864.

der Luftverschmutzung widerstanden, von anderen grauen Großstädten der Zeit unterscheidet. Er arbeitete mit dem Eigentümer der Zsolnay-Keramikmanufaktur in Pécs, Vilmos Zsolnay zusammen. Zsolnay hatte den Pyrogranit erfunden, ein keramisches Material, der auf hoher Temperatur ausgebrannt hart und sogar frostbeständig war.54 (Abb.  8.31) Pyro­granit-Produkte wie Ziergegenstände, Öfen und Baukeramik wurden weltweit vermarktet und unter anderem von Wiener Architekten wie Wagner oder ­Fabiani zur Verkleidung der Fassaden ihrer Bauten verwendet. Jože Plečniks Zacherlhaus in Wien (1903–1905) führt die Bekleidungsästhetik von Wagner und Fabiani fort. (Abb. 8.32, 8.33) Eine Besonderheit bei der Verkleidung der Fassade ist die Art der Befestigung der polierten Granitplatten. Im Unterschied zu den von Wagner verwendeten Fixierungsbolzen, deren

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8. Das Prinzip der Bekleidung

8.29 Palais Stoclet in Brüssel. Josef

Hoffmann, 1905–1911. ­Moderne Bauformen Jg. XIII (1914). 8.30 Detail der rahmenden Metallprofile an der Fassade des Palais Stoclet.

Köpfe sichtbar blieben, verankerte Plečnik die Platten von außen unsichtbar mithilfe von Ankern aus vernickeltem Eisen, die mit keilförmigen Holzdübeln im Mauerwerk befestigt wurden. Die vertikalen Stöße sind von runden Granitstäben überdeckt, welche die Fassade rhythmisieren. Im Gegensatz zu den »nordischen«, im Kapitel »Die Natur der Stoffe« erwähnten Granitfassaden übernimmt Plečnik dafür Motive direkt aus der Textilkunst. Durch die Verwendung der Kupfertroddeln über den Mezzaninfenstern interpretiert er die granitverkleidete Fassadenfläche als Vorhang.55 Ornamente, die im Wettbewerbsentwurf noch eine wichtige Rolle spielten, wurden hier sehr sparsam verwendet. Das Prinzip der Bekleidung wirkt in der Tätigkeit der ehemaligen Wagner-Schüler in der Zwischenkriegszeit und auch danach weiter. Die Fassade von Plečniks Universitätsbibliothek in Laibach (1936–1941) scheint ein Gewebe aus Stein und Ziegel zu sein, das wohl die zweifache Bindung Sloweniens an die mitteleuropäische und an die mediterrane Baukultur versinnbildlichen soll. (Abb. 8.34) Plečniks Schüler in Laibach, vor allem der das Bild der Stadt mit seinen Bauten in den 1960er- und 1970er-Jahren prägende Edvard Ravnikar (1907–1993) führten die Bekleidungsästhetik ihres Lehrers in Richtung einer expressiven Beton- und Backsteinarchitektur weiter. 240

8. Das Prinzip der Bekleidung

8.31 Detail vom Mittelrisalit des

Kunstgewerbemuseums in Budapest. Ödön Lechner, 1893–1896. 8.32, 8.33. Zacherlhaus in Wien. Jože Plečnik, 1903–1905.

241

8. Das Prinzip der Bekleidung

8.34 Fassade der Slowenischen ­National- und Universitäts­bibliothek

Laibach. Jože Plečnik, 1936–1941.

Eisen und Fassadenhülle in Frankreich

242

Zwischen 1825 und 1830, als Semper in Paris studierte und dann nach Italien ging, formierte sich an der Französischen Akademie in Rom eine kleine Gruppe von Architekten, die anhand ihrer Studien antiker Denkmäler in Pompei und Paestum den strukturellen Rationalismus entwickelten. Die Trennung zwischen tragendem Gerüst und raumbildenden Flächen sollte deutlich erkennbar sein. Ein frühes Hauptwerk dieser Richtung ist Henri L ­ abroustes Bibliothèque Sainte-Geneviève in Paris (1843−1851). (Abb. 8.35, 8.36) Die D ­ ualität von vor­ fabriziertem Eisengerüst und äußerer Mauerschale moduliert hier eine breite Skala von Materialien wie Gusseisen, geschmiedeten Eisenprofilen, Eisenblech, Bronze, Keramik, Porzellan oder Putz, die im Inneren für fein abgestufte Lichtund Farbeffekte sorgen. Die Arkadenreihe der Fassade ist von Leon Battista Albertis Malatesta-Tempel in Rimini inspiriert (s. S. 42), die Brüstungen unter den Fensteröffnungen sind mit den Namen großer Autoren beschriftet. Zusammen mit dem Pantheon bildet die Bibliothek damit eine Art heiligen Bezirk, den hervorragenden Geistern der Welt und vor allem der Nation gewidmet. Labroustes Lesesaal der Bibliothèque Nationale in Paris (1854–1875) ist ein in 3 mal 3 Quadrate unterteilter Raum; die leichten, aus Terrakottaplatten gebildeten Kuppeln ruhen auf dünnen gusseisernen Säulen. Die glasierte Oberfläche der Kuppelschale sorgte für jene Glanzlichter und Farbeffekte, die der von Gau, Hittorff und Semper beschriebenen Vision von der Antike Intensität verlieh. (Abb. 8.37) Semper sah dünne Eisenkonstruktionen kritisch; die Bibliothèque Sainte-­ Geneviève fand er misslungen, weil dem Lesesaal die »für ernste Studien so nöthige gemüthliche Abgeschlossenheit fehlt«.56 »Von einem eigenen monu-

8. Das Prinzip der Bekleidung

8.35, 8.36 Bibliothèque Sainte-Geneviève, Paris. Henri Labrouste, 1843–1851. Fassade und Lesesaal.

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8. Das Prinzip der Bekleidung

8.37 Bibliothèque Nationale in Paris. Henri Labrouste, 1854–1875.

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mentalen Stab- und Gussmetallstil kann nicht die Rede sein; das Ideal desselben ist unsichtbare Architektur! Denn je dünner das Metallgespinst, desto vollkommener in seiner Art«, schreibt er spöttisch in Der Stil.57 Das erklärt, weshalb er in diesem Buch der Architektur des Kristallpalasts im Unterschied zur darin ausgestellten Fischerhütte keine Aufmerksamkeit schenkte, obwohl Paxtons Gebäude seiner eigenen Auffassung nicht fremd sein sollte. Laut Wolfgang Herrmann zollte er aber dem Kristallpalast in seinen unveröffentlichten Manu­ skripten durchaus Lob.58 Paxton beschrieb die Grundidee seines Bauwerks − das Verhältnis des tragenden Gerüsts zur Hülle aus Eisen und Glas  − mit dem Bild von Tisch und Tischtuch, was Adolf Max Vogt zur Bemerkung veranlasste, der Kristallpalast selbst sei eine vergrößerte karibische Fischerhütte, also »die Keimform oder Urform, kurz: das Ei zum Kristallpalast in diesem selbst ausgestellt war«.59 Nicht nur die Idee der Glasfassade als textiler Wand hätte Semper begeistern können. Auch Owen Jones’ farbliche Gestaltung der Konstruktionsteile der Halle in den Primärfarben Rot, Gelb und Blau, die zur Steigerung der Lichtfülle und Transparenz dienten, entsprach seiner eigenen Vorliebe für polychrome Architektur. Für das Kulissendepot des Opernhauses in Wien (1874–1877) – also in einem »Nutzbau« – verwendete er selber Säulen aus Gusseisen. Labrouste hat den Kristallpalast in London besucht und Owen Jones getroffen; seine Bibliotheken sind Zeugen dieser Einflüsse. Die klare Unterscheidung zwischen Tragkonstruktion und Bekleidung, die selbstverständlich auch der

8. Das Prinzip der Bekleidung

8.38 Wohn- und Atelierhaus der Agence Perret in der Rue Franklin, Paris. Auguste Perret, 1903/04.

von Viollet-le-Duc vertretenen Position entspricht, finden wir in der Architektur von Auguste Perret wieder, der sein Wohnhaus an der Rue Franklin in Paris (1903/04) als Stahlbetonrahmen mit Backsteinausfachung konstruierte. Er verkleidete sowohl das Traggerüst als auch das ausfachende Mauerwerk, Ersteres mit Fliesen, die eine Sonnenblumenornamentik zeigen, Letzteres mit einem plastischen Laubwerk aus Keramik und in Zementmörtel eingebetteten kleinen Scheiben. (Abb. 8.38) Die Backsteinmusterbücher des 19. Jahrhunderts wie Bernhard Liebolds Ziegelrohbau (1879), Pierre Chabats La brique et la terre cuite in zwei Bänden (1881, 1888) oder Jean Lacrouxs Constructions en briques (1878) zeigen die Vielfalt dekorativer Möglichkeiten, die durch die Verwendung von farbigen, oft auch glasierten Ziegeln besteht. (Abb. 8.39) Solche Fassaden und der Pointilismus in der französischen Malerei sind Ergebnisse der gleichen künstlerischen Periode:

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8. Das Prinzip der Bekleidung

8.39 Terrakottaverkleidung des

­ inisteriums für öffentliche M Arbeiten in Paris. Fernand de ­Dartein, 1878, aus Pierre Chabat, La brique et la terre cuite. Paris 1881.

Georges Seurat malte sein berühmtes Gemälde Ein Sonntagnachmittag auf der Insel La Grande Jatte zwischen 1884 und 1886. Um 1900 boten viele Firmen eine große Auswahl an keramischen Bekleidungselementen, Fliesen, Profilen und verschiedensten plastische Formen an bzw. fertigten solche nach dem Wunsch des Architekten. Besonders wichtig sind die Experimente des Architekten Henri Sauvage mit Fliesenverkleidungen an Fassaden von Wohnhäusern, deren Geschosse nach oben stufenförmig zurücktreten um mehr Licht und Luft in den Straßenraum zu lassen. Sauvage ließ im Januar 1912 sein Konstruktionssystem für terrassierte Wohnhausblöcke (système de construction en gradins) patentieren. Als Begründung für die Terrassierung führte er die hygienische Verbesserung der Wohnverhältnisse in der Großstadt an. Sein System wurde zum ersten Mal bei seinem Mietshaus an der Rue Vavin eingesetzt, einer terrassierten Hauszeile mit Mittelrisalit (1912/13). Dessen Konstruktion besteht aus

246

8.40 Mietshaus in der Rue Vavin, Paris. Henri Sauvage, 1912/13.

8. Das Prinzip der Bekleidung

247

8. Das Prinzip der Bekleidung

8.41 Wainwright Building in

St. Louis. Louis H. Sullivan, 1890/91. 8.42 Gesimsdetail des Wainwright Building.

einem Stahlbetongerüst mit Ziegelausfachungen; die Fassade wurde – ebenfalls im Zeichen der Hygiene – mit den aus den Pariser Metrostationen bekannten glasierten weißen und blauen Kacheln verkleidet. Dieses reflektierende Material war zuvor nur für Fassadenbekleidungen in Lichthöfen verwendet ­worden.60 (Abb. 8.40)

Amerikanische Fassadenteppiche

248

Sempers Theorie war in den großen Architekturbüros von Chicago bekannt, viele Architekten wie Louis Sullivans Büropartner Dankmar Adler waren Auswanderer aus Deutschland. John Wellborn Root übersetzte 1889 den Text des letzten Vortrags von Semper in Zürich, »Ueber Baustile« (1869) für die in Chicago herausgegebene Architekturzeitschrift The Inland Architect and News ­Record, und der vor allem in San Francisco tätige Bernard Maybeck begann im folgenden Jahr mit der Übersetzung von Der Stil – sie wurde nie fertiggestellt.61

8. Das Prinzip der Bekleidung

8.43 Guaranty Building, Buffalo.

Louis H. Sullivan, 1894–1896.

8.44 National Farmers’ Bank,

Owatonna, Minnesota. Louis H. Sullivan, 1906–1908.

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8. Das Prinzip der Bekleidung

8.45 Die »textile block« Fassade der Storer Residence in Hollywood Hills,

Los Angeles. Frank Lloyd Wright, 1923.

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Bei Sullivans Wainwright Building in St. Louis (1890/91) und seinem G ­ uaranty Building in Buffalo (1894–1896) handelt es sich um jene frühen Beispiele amerikanischer Hochhäuser, deren Entwurf mit der Entstehung des wichtigen Essays des Architekten, »The Tall Office Building Aesthetically Considered« (1896), eng zusammenhängt. Das Wainwright Building ist ein neun Stockwerke hoher Stahl­ skelettbau, dessen Sockel, bestehend aus Erdgeschoss und Mez­zanin, mit Granit und Sandstein verkleidet ist. Die Stahlpfosten der F ­ assade sind in jedem zweiten Pfeiler zwischen den Fenstern versteckt. Die Basen und Kapitelle der Pfeiler, die Fensterbrüstungen, der Attikastreifen der Fassade und das plattenartige Dachgesims sind mit einem reich ornamentierten T ­ erra­kottakleid überzogen. Die klare Gliederung des Baukörpers folgt dem Modell der Dreiteilung (klassischen Säule mit Erdgeschoss und Mezzanin als Basis, den Bürogeschossen als Schaft und der Attika bzw. dem Gesims als Kapitell). (Abb. 8.41, 8.42) Beim Guaranty Building wachsen Attika und Gesims organisch zusammen, seine Keramikhaut zeigt eine den ganzen Baukörper zusammenspannende ­Ornamentik, die ihren eigenen Regeln folgt und immer nur skin-deep bleibt. (Abb. 8.43) Die Backsteinfassaden der kleineren Bankgebäude Sullivans in den landwirtschaftlichen Zentren des amerikanischen Midwest, also in Minnesota, Iowa und Ohio, wurden als wertvolle »jewel boxes« gestaltet. Die kubischen Fassadenfelder der National Farmers Bank in Owatonna (1906−1908), Minnesota, aus rotem Backstein sind mit glänzenden Bändern aus grün glasierter Terrakotta umrahmt. Die dekorativen Details wurden von George Elmslie gestaltet, der (als Partner von William Gray Purcell) neben Frank Lloyd Wright später zum wichtigsten Architekten der Prairie School wurde. (Abb. 8.44) Sullivan suchte

8. Das Prinzip der Bekleidung

8.46 Entwurf zur Halle der ­Warenbörse in Amsterdam, Hendrik P. ­Berlage,

1897. Jan Gratama, Dr. H. P. Berlage Bouwmeester. ­Rotterdam 1925.

bewusst den Effekt von Textiloberflächen, »eine Wirkung wie Gewebe, wie ein Teppich von Anatolien; eine Textur mit unzähligen Akzenten und Schatten und mit einem moosartigen, weichen Effekt. Auf diese Weise wird der rohe Ziegel zum edlen Ziegel, bereichert mit neuen Bedeutungen von Nützlichkeit und Schönheit«.62 Claude Bragdon, Architekt, Zeichner, Verfasser architekturtheoretischer und esoterischer Schriften, erklärte die Rückkehr der Farbe in der Baukunst mit der Rückkehr der Freude am demokratischen Leben. Er schreibt in seinem von der Architektur Sullivans inspiriertem Buch Architecture and Democracy (1918), dass man nur die aschfarbenen, braunen oder grauen Wände von Großstädten wie Paris, London oder Chicago mit den Farben von Rom, Siena oder Venedig zu vergleichen brauche, um den Verlust zu erkennen, den die ­Eliminierung der Farbe mit sich gebracht habe.63 Bragdon unterscheidet in ­seinem Kapitel »Color and Ceramics« zwischen »inhärenter« und »­inkrustierter« Archi­tektur. Die erste betrachte Konstruktion und Architektur als identisch, die zweite als getrennt. Moderne Architektur als Konsequenz des Stahlgerüsts sei inkrustiert, fordere die Bekleidung des »bony framework of steel« (Knochengerüsts von Stahl) mit einem kostbaren Überzug, wofür sich die Keramik wegen ihrer Farbe, Textur, Härte und Widerstandsfähigkeit anbiete: »Unsere Zeit ist die Periode der Inkrustrierten Architektur – sie verlangt Bekleidung statt der Bloßlegung der Struktur, und deshalb erlaubt logischerweise die Bereicherung der Oberflächen durch Schichten aus Materialien, die wertvoller und schöner sind als jene, welche die Konstruktion bilden – die Leinwand des Bildes, sozusagen, und nicht das Bild selbst.«64

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8. Das Prinzip der Bekleidung

8.47 AEG Turbinenfabrik

Berlin-Moabit. Peter Behrens, 1908/09.

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Wright, der sich als Erbe Sullivans betrachtete, verwendete bei seinen kali­ fornischen Bauten die sogenannte Textile-block-Konstruktion. Dabei handelte es sich um Mauerwerke aus vorgefertigten Leichtbetonblöcken, mit in situ eingelegter Bewehrung. Aufgrund entsprechender Gussschablonen wurde eine ornamentale, gewebeartige Wirkung erreicht; das Material begann allerdings sogar im kalifornischen Klima schnell zu bröckeln. Wright bezeichnete sich selbst als »Weber« – im Gegensatz zu den Bildhauer-Architekten –, um die Fassaden seiner kalifornischen Bauten wie La Miniatura in Pasadena oder der

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S­ torer Residence in Hollywood Hills (1923) zu charakterisieren.65 (Abb. 8.45) Bereits Wrights Öffnung des geschlossenen Baukörpers, die er als »the destruc­ tion of the box« (die Zerstörung der Schachtel) bezeichnete, ging mit dem Zusammenweben der horizontalen und vertikalen Flächen der Innenräume durch ornamental wirkende Linien einher (Unity Temple, Oak Park bei Chicago, 1905–1908), die bei späteren Projekten vom Garten bis Beleuchtungskörper alles miteinander verweben werden.66

Berlage und die Architektur des Impressionismus Der niederländische Architekt Hendrik Petrus Berlage (1856–1934) studierte zwischen 1875 und 1878 am Polytechnikum in Zürich – zu einer Zeit, als Semper bereits ausgeschieden war (1871).67 In seinen Schriften, in denen er nach den ästhetischen Grundlagen eines modernen Stils in der Architektur suchte, bezog er sich sowohl auf Semper als auch auf Viollet-le-Duc als »die beiden grossen, praktischen Aesthetiker«.68 Er wollte die Kluft zwischen den beiden Positionen überbrücken. Von Viollet-le-Ducs Theorie übernahm er vor allem die Wertschätzung für die Architektur des Mittelalters (z. B. die asymmet­rische Gestaltung des Baukörpers) und das Interesse an Eisenkonstruktionen für große Spannweiten. Er kritisierte Semper, weil dieser eine »fatale Sympathie für das Italien der Hochrenaissance« und kein Verständnis für die Architektur der Gotik zeigte, die Berlage als die wahre konstruktive Baukunst verstand.69 Der Ausgangspunkt für sein Stilkonzept war Sempers Bekleidungstheorie, aber mit wesentlichen von Viollet-le-Duc inspirierten Revisionen. Der Architekt müsse zuerst das Skelett studieren, weil die Bekleidung wie »bei jedem Naturgebilde« das innere Gerippe widerspiegele. Die Bekleidung dürfe nie »wie eine lose, diese Konstruktion ganz verneinende Hülle« erscheinen, »sondern mit dem innern Bau völlig verwachsen«, als »gezierte Konstruktion«.70 Berlage betont die gesellschaftliche Relevanz dieser Idee. Es liege in der Verantwortung des Architekten, Räume für eine gerechte Gesellschaft zu schaffen, das heißt die materiellen Raumumschließungen für diese Räume als Kleider der Gesellschaft zu entwerfen. In seinen Vorträgen, die er im Kunstgewerbemuseum in Zürich hielt und unter dem Titel Grundlagen und Entwicklung der Architektur im Jahre 1908 veröffentlichte, verglich er den Kampf gegen die Stil­architektur mit der Arbeiterbewegung: Bei Letzterer gehe es um eine »materielle Evolution«, um das Streben nach Gleichheit aller Menschen, wobei sich in der Architektur eine »geistige Evolution« abspiele.71 Die Wahrheit der Archi­tektur bedeutete für Berlage, alle »Architekturteile parasitischer Natur« zu eliminieren, also alle dekorativen Zugaben, die nur dazu dienten, die gesellschaftliche Stellung, die sozialen Unterschiede zum Ausdruck zu bringen. Berlage lobt Semper in höchsten Tönen, seine Worte sollten »in jeder Künstlerwerkstatt als Spruch an die Wand gehängt werden«, macht aber dann den entscheidenden Schritt zur Simplifizierung seiner Bekleidungstheorie, als er »die nüchterne Konstruktion in aller Derbheit« studieren will, um dann wieder »zum vollen Körper zu kommen«, ohne »Konfusion mit Kleidern. Sogar die letzte Hülle, auch das Feigenblatt, soll weg, denn die Wahrheit, die wir wollen, ist ganz nackt«.72 Die Metapher der Bekleidung führt fatalerweise zur Gegen-

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metapher der Entkleidung: sowohl als Suche nach Wahrheit im Sinne von nuda veritas, aber auch getrieben von der Lust, das »Feigenblatt« der Hülle vom Körper »in aller Derbheit« wegzureißen. Aus diesen Überlegungen heraus sah Berlage die Rolle der Mauer aufgewer­ tet als »voller Körper«. In seinem Essay »Baukunst und Impressionismus« fordert er die Reduktion dekorativer Details bzw. ihre Absorption durch den Baukörper: »[…] weg! mit allen zeitraubenden Details, die doch nicht dem Wunsch entsprechend ausgeführt werden können, weg! mit all dem, was den großen Eindruck des Ganzen stört! Suche nur nach einigen charakteristischen großen Flächen und begrenzenden Linien! Der Architekt von heute wurde ein Impressionist!«73 Die Ziegelfassade seiner Amsterdamer Börse (1896–1903) zeigt die Anwendung dieser Prinzipien, die zur Verstärkung der Massen­ wirkung und zur Verwendung filigraner Eisenkonstruktionen zur Überdeckung großer Spannweiten führte. (Abb. 8.46) Was die Gestaltung der »nackten Wahrheit« betrifft: Berlage widmet die meisten Seiten seines Buchs Grundlagen & Entwick­lung der Architektur Spekulationen über Triangulatur und Quadratur, dem System ägyptischer Dreiecke und anderen »Geheimnissen« der alten ­Baumeister, mit deren Hilfe Grundriss und Fassade organisiert und koordiniert werden können. »Nichts ist dabei reine Willkür«, zitiert er Semper, während er dessen ­Theorie durch die Fusion mit ihrem Gegenmodell von Viollet-le-Duc entschärft.

Konstruktion und Fassadenhülle

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Die körperbezogene Rhetorik der Bekleidung bzw. Entkleidung wird um 1900 mithilfe der noch tiefer gehenden Metaphorik von Haut, Fleisch und Skelett erweitert. Die »fleischlose« Wirkung der geringen Querschnitte der Eisenkonstruktionen war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein viel diskutiertes Thema, etwa in Alfred Gotthold Meyers Werk Eisenbauten (1907)74 oder in der Ingenieur-Aesthetik des Kritikers, Redakteurs und Otto-Wagner-Biografen Joseph August Lux (1910)75. »Es ist einfach nicht wahr, daß der sachliche Inhalt, daß das bloße Skelett das letzte Wort der Schönheit sei«, schreibt Lux. »Eine Eisenbahnbrücke, ein Eiffelturm und ähnliche Ingenieurwerke sind bloßes Skelett. Es kann meinen Verstand befriedigen, es befriedigt aber niemals mein Herz. Und das künstlerische Auge sieht mit dem Herzen und nicht mit dem Verstand. Ich wähle ein Gleichnis: Das menschliche Skelett ist wohl das vollkommenste Ingenieurwerk. Aber für mein schönheitssuchendes Auge entscheidet das blühende Fleisch […].«76 Peter Behrens, der in seinen Schriften Alois Riegls Semper-Kritik in beinahe identischen Worten wiederholt, vertrat eine Position, die mit Sempers Bekleidungsprinzip durchaus vereinbar erscheint: Monumentale Massenwirkungen können in der Zeit dünner Eisenkonstruktionen durch entsprechend gestaltete Verkleidungen erreicht werden, welche die von ihm gehasste »Drahtmäßigkeit« verdecken. In seinem Vortrag »Kunst und Technik« (1909) zitierte er den Ingenieur Alois Riedler: »Wo einfaches, ruhiges Aussehen durch die Konstruktion selbst nicht genügend erreichbar ist, sind absichtlich Verkleidungen anzuwenden, um die einfachsten Formwirkungen zu erhalten.«77 Lösun-

8. Das Prinzip der Bekleidung

8.48 Wandverkleidungen in der Villa Karma in Clarens bei Montreux.

Adolf Loos, 1903–1906.

gen wie die als massive Pilaster erscheinenden Hohlkörper zur Unterstützung der Giebelfassade der AEG-Turbinenfabrik in Berlin-Moabit (1908/09) zeigen seine Interpretation der von ihm gesuchten »Formberuhigung der Maschine durch Verkleidung«.78 (Abb. 8.47)

Adolf Loos und das Prinzip der Bekleidung Auf den ersten Blick mag es überraschend erscheinen, dass Adolf Loos, der scharfzüngige Kritiker des Überflüssigen in der Architektur, sich Sempers Bekleidungstheorie angeeignete. Für seinen Essay »Das Prinzip der Bekleidung« übernahm er dessen Thesen fast wortwörtlich.79 Der Mensch suche Schutz vor

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8.49 Zentralstellwerk, Basel. Herzog & de Meuron, 1994–1999.

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dem Wetter, deshalb sei die Decke »das älteste architekturdetail«, ­ursprünglich habe sie aus Fellen oder aus »erzeugnissen der textilkunst« bestanden. Die Textilwände erforderten ein »konstruktives gerüst, das sie in der richtigen lage erhält. Dieses gerüst zu entwerfen, ist erst die zweite aufgabe des architekten«.80 Er sieht die Bestätigung für die Richtigkeit des Prinzips in der Natur: »Das prinzip der bekleidung, das zuerst von Semper ausgesprochen wurde, erstreckt sich auf die natur. Der mensch ist mit einer haut, der baum mit einer rinde bekleidet.«81 Loos behauptet, jedes Material entwickele seine eigene Formensprache und kein Stoff dürfe die Formen eines anderen für sich in Anspruch nehmen: »Denn die formen haben sich aus der verwendbarkeit und herstellungsweise eines jeden materials gebildet, sie sind mit dem material und durch das ­material geworden. Kein material gestattet einen eingriff in seinen formenkreis. Wer es dennoch wagt, den brandmarkt die welt als fälscher«.82 Wie wir aber gesehen haben, hat Semper seine Argumentation ähnlich eingeführt, um dann aus Gründen des Schutzes und der Dauerhaftigkeit doch Bekleidungen zu ver­langen. Loos begründet den Vorrang der Bekleidung jedoch anders: Die ­Architektur erwecke Stimmungen im Menschen, und die Aufgabe des Architekten sei es, »diese stimmung zu präzisieren«: Das Zimmer müsse gemütlich, das Justizgebäude bedrohlich, das Bankhaus solide erscheinen.83 Die Stimmung sei vor allem eine Frage der Bekleidungen. Bei Loos’ Wohnhäusern ist die Konstruk­tion meistens recht pragmatisch gelöst: Tragende und a­ usfachende Beton- und Backsteinmauern und Stützen wachsen zusammen und bilden die hybride Unter­lage; eine Differenzierung geschieht auf der Ebene der Bekleidungen. (Abb. 8.48)

8. Das Prinzip der Bekleidung

8.50 Curtain Wall House, Tokio.

Shigeru Ban, 1995.

Nach der Bestätigung des Vorrangs der Bekleidung über die Konstruktion erhebt Loos die moralische Maxime, dass die Möglichkeit, »das bekleidete ­material mit der bekleidung verwechseln zu können«, alle Fälle ausgeschlossen sein sollte. »Auf einzelne fälle angewendet, würde dieser satz lauten: Holz darf mit jeder farbe angestrichen werden, nur mit einer nicht – der holzfarbe.«84 Ein bekleidendes Material, schreibt Loos, könne seine Farbe behalten, wenn der zu bekleidende Stoff auch dieselbe Farbe habe. »So kann ich das schwarze eisen mit teer bestreichen, ich kann holz mit einem anderen holz bedecken (fournieren, marquetieren usw.), ohne das bedeckende holz färben zu müssen; ich kann ein metall mit einem anderen metall durch feuer oder galvanisch überziehen. Doch verbietet es das prinzip der bekleidung, durch einen farbstoff das darunter befindliche material nachzuahmen. Daher kann eisen wohl geteert, mit ölfarbe gestrichen oder galvanisch überzogen, nie aber mit bronzefarbe, also einer metallfarbe, verdeckt werden.«85 Loos hat kein Interesse wie Bötticher an dem dialektischen Verhältnis von Bekleidung und Gerüst. Was für ihn zählt, ist die Angemessenheit des Verhält-

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nisses der Bekleidung zum Raum. Raum bedeuten für ihn einerseits die Straßen und Plätze der modernen Stadt; schon die Häuser Wagners wenden sich mit harten Krusten und »aufgenieteten« Panzerungen zu diesem Forum des modernen »Nervenlebens« (ein Begriff des Philosophen Georg Simmel). Loos verwendete Formen, die durch Reduktion entstanden sind und ostentativ nicht auffallen wollen. Raum ist für ihn andererseits vor allem das Interieur, wo der »Kulturmensch« in Samt und Seide schwelgt und wo die Bekleidung den von dem Architekten als angemessen gefundenen Stimmungen genau entsprechen müsse. Die Kohärenz des Werks besteht also für Loos, trotz seiner Sympathie für die Klassik, nicht in der »Wahrheit« des Zusammenhangs von Kernform und Kunstform, sondern im sittlichen Verhältnis von innen und außen, was die Frage der inneren und äußeren Bekleidungen mit einschließt. Es ist ein Programm für eine moderne Architektur, die jedoch vom Mainstream der ­Moderne abgelehnt wurde.

Tiefe Oberflächen

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»Da Architektur das kunstvolle, korrekte und großartige Spiel der unter dem Licht versammelten Baukörper ist, hat der Architekt die Aufgabe, die Außenhaut, welche jene Baukörper umhüllt, mit Leben zu erfüllen […]«, schreibt Le Corbusier in seinem Buch Ausblick auf eine Architektur (1922).86 Mit den Bildern seiner frühen Villen im Kopf liest man diese Aussage als Anregung, Architektur als klare volumetrische Komposition zu verstehen, und übersieht dabei, dass der Architekt im gleichen Satz die Gestaltung der Außenhaut als primäre Aufgabe bezeichnet. Da heißt es wie bei Berlage und Behrens zuvor: Im Namen der nuda veritas wird Sempers Bekleidungstheorie zwar verworfen, eine Alternative, welche die nun entkleidete Form theoretisch erklären würde, sei jedoch nicht entstanden. Behelfsmäßig sollten meistens ­Proportions­lehren herhalten wie Berlages System der ägyptischen Dreiecke oder eben Le ­Corbusiers ­Modulor. Der amerikanische Architekturtheoretiker Mark Wigley behauptet in seinem Buch White Walls, Designer Dresses (1995), Architekten und Kritiker verwendeten die weiße Farbe und Mode als zentrale Konzepte, um der ­mo­dernen Architektur zum Sieg zu verhelfen.87 Damit verweist er auf die erwähnte Diskussion über nuda veritas und tabula rasa: Im Gegensatz zum D ­ emaskierungs- und Entkleidungsdiskurs der frühen Moderne sei die neue Architektur eine neue weiße Bekleidung für den athletischen Köper, die in einem ambi­valenten Verhältnis zur Institution Mode stehe. Damit scheint er der oft geäußerten These zu widersprechen, dass der Körper der modernen Architektur unbekleidet sei. Der Architekturkritiker Jeffrey Kipnis greift die Metapher der Mode auf, wenn er Bauten des Büros Herzog & de Meuron, die in den frühen 1990er-Jahren entstanden sind, als Kosmetik interpretiert: »Kosmetik ist erotische Tarnung; sie bezieht sich immer und nur auf die Haut, auf gewisse Bereiche der Haut. Auf eine tiefe und komplexe Weise gehen Kosmetika über die Materialität hinaus, um zu modernen alchemischen Substanzen zu werden, welche die Haut zum begehrenswerten oder abstoßenden Bild verwandeln.«88 Nach einem Besuch der Alhambra in Granada notiert Jacques Herzog in sein Skizzenbuch: »Raum Illusion von Fläche statt Raum oder von Gitterwerk

8. Das Prinzip der Bekleidung

vor dem unendlichen Raum. Oberfläche Stein (irdisches, schwer) wird zu Stoff (textil, immateriell). Die Türen, Fenster wirken wie durchlässige Stellen in einem textilen Gewebe; steinerne, keramische Oberfläche – textile Wirkung.«89 Die Keramikverkleidungen der Alhambra »zeichnen nicht konstruktive Teile nach, […] sie überdecken die Struktur […]«.90 Die Arbeiten des Büros zeigen, wie dieses Interesse in einer Architektur resultieren kann, welche die Fassade als tätowierbare und zu tätowierende Bilderhaut versteht. In einem Interview bezeichnen die beiden Architekten das, was Loos über die Tätowierung schreibt, als »ziemlich reaktionär und schwer nachvollziehbar«; sie finden das Ornament »interessant«, »wenn es eine geistige Dimension hat, also einen Sinn ergibt […]«.91 Man kann zwar nicht behaupten, dass Loos das Ornament nicht interessant fand – er hat es sogar verwendet, wenn er dachte, dass es einen Sinn ergab –, aber bestimmt war dies bei ihm seltener der Fall als bei den Basler Architekten. (Abb. 8.49) Diese und ähnliche Äußerungen von Architekten zur Oberfläche werden heute als Aufruf verstanden, Materialität als eine surface condition zu verstehen: als Interface, als eine vermittelnde, bedeutungstragende, mediale Schicht zwischen Subjekt und Objekt.92 »Ce qu’il y a de plus profond en l’homme, c’est la peau« (Das Tiefste im Menschen überhaupt ist die Haut), so formuliert es Paul Valéry 1960.93 Die »Haut der Dinge«, die »Tiefe der Oberfläche«, Textur und Faktur, fold und fabric gehören zu den viel diskutieren Stichwörtern der Architekturtheorie um die Jahrtausendwende.94 Nach der Komplexität des Tektonikund Bekleidungsdiskurses im 19. Jahrhundert mögen die Argumentationen der postmodernen Ästhetik, Venturis decorated shed oder das Interesse für Mode, Kleid, Maske oder Kosmetik enttäuschend simpel wirken. Das Ornament zu rehabilitieren, erschien in der Zeit nach 1968 als rebellische Auflehnung gegen die vorherrschende funktionalistische Doktrin, und viel mehr war auch nicht notwendig, um Aufmerksamkeit zu erregen.95 Mit Gilles Deleuze und Félix Guattaris Neuentdeckung der Philosophie von Gottfried Wilhelm Leibniz und damit der Falten des Barock erhält die Oberflächentextur eine Tiefe, deren Dimensionen von Issey Miyakes »Pleats please«-Modelinie bis zu Shigeru Bans Curtain House (1995) und den architektonischen Faltenwürfen der Gegenwart reichen. (Abb. 8.50) »Im anfange war die bekleidung.«96 Dieser knappe Satz von Loos, veröffentlicht am 4. September 1898 in der Tageszeitung Neue Freie Presse, musste seinen Lesern wie der Anfang einer neuen Schöpfungsgeschichte der Archi­ tektur erscheinen. Ähnlich wie im Johannes-Evangelium, wo »das Wort« die Übersetzung des griechischen lógos ist, was nicht die Form, sondern den Sinn des Worts bezeichnet, ist auch die Bekleidung keine Oberfläche, keine ä­ ußere Schicht, wo das Bauwerk endet, sondern der Sinn der Architektur: »in dieser reihenfolge«, also mit der schützenden Bekleidung beginnend, »entwickelte sich der bauliche gedanke sowohl in der menschheit als auch im individuum«.97 Das sei Architektur als Raumkunst, ansonsten beginne man mit den Mauerkörpern, und was diese »übrig lassen, sind dann die räume«.98 Das Prinzip der Bekleidung bedeutet also: mit dem Raum als Inhalt der Architektur beginnen. Nicht mit dem abstrakten, geometrischen Raum, nicht mit Pfeiler­rastern und Wandscheiben, sondern mit dem gelebten Raum, dessen ­Qualität von der ­Materialität der Bekleidung untrennbar ist. In den 1990er-Jahren entfaltete sich eine Gegenbewegung: Der Ordnungsruf der Tektonik richtete sich gegen die

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szenografische »Inszenierung der Oberfläche«, die im Dienste der »schiere[n] Raffgier« des globalen Kapitalismus »die Bauten selbst zu Verbrauchswaren« reduziere.99 Viele »Tektoniker« verkannten allerdings das Poten­zial des Vorschlags von Semper. Das Prinzip der Bekleidung wollte nicht das Ornament ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellen, sondern jene Schicht in der Ordnung der Dinge, welche die Architektur zwischen der Außenwelt und der Haut aufspannt: eine durch menschliche Intelligenz und Arbeit hergestellte Textur, die den Augen und der Hand Freude bereitet.

Anmerkungen So Josef Bayer in seinem Aufsatz »Von der Farbe in der Baukunst«, in: ders., Baustudien und Baubilder. Schriften zur Kunst, hg. von Robert Stiassny. Jena: Eugen Diederichs, 1919, S. 245–254, hier S. 245. 2 Gottfried Semper, »Vorläufige Bemerkungen über bemalte Architektur und Plastik bei den Alten« (1834), in: ders., Kleine Schriften, hg. von Hans und Manfred Semper. Berlin, Stuttgart: W. Spemann, 1884. Nachdruck Mittenwald: Mäander Kunstverlag, 1979, S. 215–258. Über das »bewunderungswürdige Stuartsche Werk«: Ebd., S. 234. 3 James Stuart, Nicholas Revett, The Antiquities of Athens. Bd. 1 London: John Haberkorn, 1762, Bd. 2 London: John Nichols, 1787, Bd. 3 London: John Nichols, 1794. Nachdruck New York: Princeton Architectural Press, 2008. 4 [Antoine-Chrisostôme] Quatremère de Quincy, Le Jupiter Olympien, ou l’art de la sculpture antique considérée sous un nouveau point de vue. Paris: De Bure frères, 1815. 5 J[acques Ignace] Hittorff, L[udwig] Zanth, Architecture antique de la Sicile, ou, Recueil des plus intéressans monumens d’architecture des villes et des lieux les plus remarquables de la Sicile ancienne. Paris: P. Renouard, o.J. [1827?]. 6 Owen Jones, Grammar of Ornament. Illustrated by Examples from Various Styles of Ornament. One Hundred Folio Plates. London: Day & Son, 1856. 7 Semper, »Vorläufige Bemerkungen« (wie Anm. 2), S. 246. 8 Ebd., S. 219. 9 Ebd. 10 Ebd., S. 234. 11 Ebd., S. 236. 12 Karl Bötticher, Die Tektonik der Hellenen, Band 1. Potsdam: Ferdinand Riegel, 1852, S. 3. 13 Ebd., S. XIV. 14 Ebd., XV. 15 Ebd. 16 Karl Otfried Müller, Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau: Josef Max und Komp., 1830. 17 Gottfried Semper, Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhe­tik. Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde. Band 1: Textile Kunst. Frankfurt am Main: Verlag für Kunst und Wissenschaft, 1860. Nachdruck Mittenwald: Mäander Kunstverlag, 1977, S. 233. 18 Ebd., S. 13. 19 Ebd., S. 227. 20 Ebd., S. 180. 21 Ebd., S. 79. 22 Ebd. 23 Konrad Wachsmann, Wendepunkt im Bauen. Wiesbaden: Krausskopf-Verlag, 1959. Der Verfasser dankt Christian Sumi, der ihn auf die Analogie zwischen dem Semper- und dem Wachsmann-Knoten aufmerksam gemacht hat. 24 Semper, Der Stil, Band 1 (wie Anm. 17), S. 229. 25 Ebd. 1

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Gottfried Semper, »Vergleichende Baulehre. 10. Kapitel« (Manuskript), in: Wolfgang Herrmann, Gottfried Semper, Theoretischer Nachlass an der ETH Zürich. Katalog und Kommentare. Basel, Boston, Stuttgart: Birkhäuser, 1981, S. 191–204, hier S. 197. 27 Ebd. 28 Richard Streiter, Karl Böttichers Tektonik der Hellenen als ästhetische und kunstgeschichtliche Theorie. Hamburg und Leipzig: Leopold Voss, 1896, S. 2. 29 Semper, Der Stil, Band 1 (wie Anm. 17), S. 28. 30 Hermann Weiss, Kostümkunde. Handbuch der Geschichte der Tracht, des Baues und des Geräthes der Völker des Alterthums. Stuttgart: Ebner & Seubert, 1860. Semper, Der Stil, Band 1 (wie Anm. 17), S. 93. 31 Georges Perrot, Charles Chipiez, Histoire de l’art dans l’antiquité. Égypte, Assyrie, Phénicie, Judée, Asie mineure, Perse, Grèce, Étrurie, Rom. 8 Bände. Paris: Librairie Hachette et Cie, 1882−1903. Nach dem Tod von Perrot veröffentlichte Chipiez noch zwei weitere Bände. 32 »On y trouve la confirmation des vues de Semper sur l’origine du décor. Cet écrivain a ­montré le premier que le vannier, le tisserand et le potier, en travaillant les matières premières sur lesquelles s’exercait leur industrie, ont produit, par le seul jeu des procédés techniques, des combinaisons de lignes et de couleurs, des dessins dont l’ornemaniste s’est emparé dès qu’il a eu à décorer les murs, les corniches et les plafonds des édifices. Comme ces arts élémentaires sont certainement plus anciens que l’architecture, ces ornements n’ont certainement point passé des murailles sur les nattes, les étoffes et les pots; s’est contraire qui est arrivé! Dans la régularité avec laquelle se répètent les lignes et les couleurs de ces ornements primitifs, on reconnaît aisément la disposition des brins de jonc ou des fils de lin, comme ailleurs on retrouve ces chevrons ou ces cercles concentriques que le doigt du potier ou le tour tracent rapidement sur l’argile humide.« Zit. in: Georges Perrot, Charles Chipiez, Histoire de l’art dans l’antiquité. Tome premier: L’Égypte. Paris: Librairie Hachette et Cie, 1882, S. 807. 33 Semper, Der Stil, Band 1 (wie Anm. 17), S. 232. 34 Rudolf Redtenbacher, Tektonik. Principien der künstlerischen Gestaltung der Gebilde und Gefüge von Menschenhand welche den Gebieten der Architektur, der Ingenieurfächer und der Kunst-Industrie angehören. Wien: Verlag von R. v. Waldheim, 1881, S. 233f. 35 Vgl. Werner Oechslin, Stilhülse und Kern. Otto Wagner, Adolf Loos und der evolutionäre Weg zur modernen Architektur. Zürich: gta Verlag, Berlin: Ernst & Sohn, 1994, S. 70–87. 36 Josef Bayer, »Gottfried Semper geb. 29. November 1803, gest. 15. Mai 1878« (1879), in: ders., Baustudien und Baubilder (wie Anm. 1), S. 86–128. 37 Semper, »Vorläufige Bemerkungen« (wie Anm. 2), S. 217. 38 Josef Bayer, »Moderne Bautypen« (1886), in: ders., Baustudien und Baubilder (wie Anm. 1), S. 280–288. 39 Josef Bayer, »Stilkrisen unserer Zeit« (1886), in: ders., Baustudien und Baubilder (wie Anm. 1), S. 289–295, S. 293. 40 Roland Barthes, »Der Tod des Autors«, übers. von M. Martinez, in: Roland Barthes: Das Rauschen der Sprache. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2005, S. 57–63. 41 Viktor Šklovskij, Theorie der Prosa, übers. von Gisela Drohla. Frankfurt am Main: Fischer, 1984. Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, gefolgt von Arbeitsnotizen, hg. 42 von Claude Lefort, übers. von Regula Giuliani, Bernhard Waldenfels. München: Wilhelm Fink Verlag, 1986, S. 182. Bayer, »Gottfried Semper« (wie Anm. 36), S. 118. 43 Zum ikonografischen Programm der Fassaden s. Martin Tschanz, Die Bauschule am Eid44 genössischen Polytechnikum in Zürich. Architekturlehre zur Zeit von Gottfried Semper (1855– 1871), Zürich: gta Verlag, 2015. 45 Ebd. 46 Edmund W. Smith, Portfolio of Indian Architectural Drawings. Teil 1. London: W. H. Allen & Co., Kegan Paul, Trench, Trubner & Co., 1897. 47 Otto Antonia Graf, Otto Wagner. Band 1: Das Werk des Architekten 1860–1902. Wien, Köln, Graz: Hermann Böhlaus Nachf., 1985, S. 41. 48 Josef Strzygowski, Die Bildende Kunst der Gegenwart. Ein Buch für jedermann. Leipzig: Quelle & Meyer, 1907, S. 89f. 49 Otto Wagner, Die Baukunst unserer Zeit. Dem Baukunstjünger ein Führer auf diesem Kunstgebiete. 4. Aufl. Wien: Anton Schroll, 1914. Nachdruck Wien: Löcker, S. 87. 50 Ebd., S. 95.

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John Ruskin, The Stones of Venice. Band 1. London: J. M. Dent, 1907, S. 52; Dt. Ausgabe: Steine von Venedig, übers. von Hedwig Jahn. Leipzig: Eugen Diederichs, 1903, S. 73. 52 Vgl. Ákos Moravánszky, Competing Visions. Aesthetic Invention and Social Imagination in Central European Architecture, 1867–1918. Cambridge, Massachusetts: The MIT Press, 1998. 53 Victor Vasarely, Vasarely IV. Neuchâtel: Éditions du Griffon, 1979. 54 Ákos Moravánszky, »Keramik in der ungarischen Architektur der Jahrhundertwende«, in: Éva Csenkey (Hg.), Zsolnay. Ungarische Jugendstilkeramik. Ausst.-Kat. Wien: Österreichisches Museum für angewandte Kunst, 1986, S. 27–36. 55 Ákos Moravánszky, »Granitgewebe. Die Fassade des Zacherlhauses von Jože Plečnik in Wien«, in: Nikolaus Zacherl, Peter Zacherl, Ulrich Zacherl (Hg.), Jože Plečnik – Zacherlhaus/The Zacherl House by Jože Plečnik. Basel: Birkhäuser, 2015, S. 54−85. 56 Gottfried Semper, »Der Wintergarten zu Paris« (1849), neu abgedruckt in ders., Gesammelte Schriften, hg. von Henrik Karge, Bd. 1.1, Hildesheim, Zürich, New York: Olms-Weidmann, 2014, S. 243–248, hier S. 246. 57 Gottfried Semper, Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik. Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde. Band 2: Keramik, Tektonik, Stereotomie, Metallotechnik für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst. München: Friedrich Bruckmann’s Verlag, 1863. Nachdruck Mittenwald: Mäander Kunstverlag, 1977, S. 263f. 58 Wolfgang Herrmann, »Stellung Sempers zum Baustoff Eisen«, in ders., Gottfried Semper (wie Anm. 26), S. 61–68, hier S. 65f. 59 Adolf Max Vogt, »Gottfried Semper und Joseph Paxton«, in: Eva Börsch-Supan u. A., Gottfried Semper und die Mitte des 19. Jahrhunderts. Symposion vom 2. bis 6. Dezember 1974, veranstaltet durch das Institut für Geschichte und Theorie der Architektur an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich. Basel, Stuttgart: Birkhäuser, 1976, S. 175–197, hier S. 181. 60 Jean-Baptiste Minnaert, Henri Sauvage ou l’exercice du renouvellement. Paris: Éditions Norma, 2002, S. 166–173. 61 John W. Root, »Development of Architectural Style«, veröffentlicht von Vol. XIV, Nr. 7 (Dezember 1889) bis Vol. XV, Nr. 2 (März 1890) in: The Inland Architect and News Record. Vgl. Giovanni Fanelli, Roberto Gargiani, Il principio del rivestimento. Prolegomena a una storia dell’architettura contemporanea. Roma, Bari: Laterza, 1994, S. 9–12. 62 Louis Sullivan, »Artistic Brick« (um 1910), in: ders., The Public Papers, hg. von Robert Twombly. Chicago, London: The University of Chicago Press, 1988, S. 200–205, hier S. 202. Übers. von Á. M. 63 Claude Bragdon, »Color and Ceramics«, in: ders., Architecture and Democracy. New York: Alfred A. Knopf, 1918, S. 132–147. 64 Ebd., S. 135. 65 Frank Lloyd Wright, »La Miniatura«, in: ders., Schriften und Bauten. München, Wien: ­Albert Langen, Georg Müller, 1963, S. 164. Vgl. Ákos Moravánszky, »Das Pathos des Mauerwerks«, in: Andrea Deplazes (Hg.), Architektur konstruieren. Vom Rohmaterial zum Bauwerk. Ein Handbuch. Basel, Boston, Berlin: Birkhäuser, 2005, S. 23–31. 66 Ákos Moravánszky, Hg., Architekturtheorie im 20. Jahrhundert. Eine kritische Anthologie. Wien, New York: Springer, 2003, S. 132f. Peter Singelenberg, H. P. Berlage. Idea and Style. The Quest for Modern Architecture. Utrecht: 67 Haentjens Dekker & Gumbert, 1972, S. 5ff. H[endrik] P[etrus] Berlage, Grundlagen & Entwicklung der Architektur. Vier Vorträge gehal68 ten im Kunstgewerbemuseum zu Zürich. Berlin: Julius Bard, 1908, S. 84f. Ebd., S. 88. 69 70 H[endrik] P[etrus] Berlage, Gedanken über Stil in der Baukunst. Leipzig: Julius Zeitler, 1905, S. 23f. 71 Berlage, Grundlagen (wie Anm. 68), S. 115. 72 Berlage, Gedanken (wie Anm. 70), S. 27, S. 24. 73 Hendrik Petrus Berlage, »Bouwkunst en Impressionisme«, abgedruckt in: Manfred Bock, Anfänge einer neuen Architektur. Berlages Beitrag zur architektonischen Kultur der Niederlande im ausgehenden 19. Jahrhundert. ’s-Gravenhage: Staatsuitgeverij, Wiesbaden: Franz Steiner Verlag, 1983, S. 383–390, hier S. 388. Übers. von Á. M. 74 Alfred Gotthold Meyer, Eisenbauten. Ihre Geschichte und Aesthetik. Nach des Verfassers Tode zu Ende geführt von Wilhelm Freiherr von Tettau. Esslingen am Neckar: Paul Neff, 1907. 75 Joseph August Lux, Ingenieur-Aesthetik. München: Verlag von Gustav Lammers, 1910. 76 Ebd., S. 3f. 51

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8. Das Prinzip der Bekleidung

Peter Behrens, »Kunst und Technik« (1909), in: ders., Zeitloses und Zeitbewegtes. Aufsätze, Vorträge, Gespräche 1900–1938, hg. von Hartmut Frank, Karin Lelonek. Hamburg: Dölling und Galitz, 2015, S. 300–305, hier S. 301. 78 Ebd., S. 302. 79 Adolf Loos, »Das Prinzip der Bekleidung« (1898), in: ders., Ins Leere gesprochen (1921). Neu abgedruckt hg. von Adolf Opel, Wien: Georg Prachner, 1981, S. 139–145, hier S. 139. 80 Ebd. 81 Ebd., S. 142. 82 Ebd., S. 140. 83 Adolf Loos, »Architektur«, in: ders., Trotzdem 1900–1930 (1931). Neu abgedruckt hg. von Adolf Opel. Wien: Georg Prachner, S. 90–104, hier S. 102f. 84 Loos, »Das Prinzip der Bekleidung« (wie Anm. 79), S. 142. 85 Ebd., S. 144. 86 Le Corbusier, Ausblick auf eine Architektur, übers. von Hans Hildebrandt, Eva Gärtner. Berlin, Frankfurt am Main, Wien: Ullstein, 1963, S. 43. 87 Mark Wigley, White Walls, Designer Dresses. The Fashioning of Modern Architecture. Cambridge, Massachusetts: The MIT Press, 1995. 88 Jeffrey Kipnis, »The Cunning of Cosmetics (A Personal Reflection on the Architecture of Herzog & de Meuron)« (1997), in: ders., A Question of Qualities. Essays in Architecture, hg. von Alexander Maymind. Cambridge, Massachusetts: The MIT Press, 2013, S. 99–113, hier S. 104–106. Übers. von Á. M. 89 Zit. in Gerhard Mack, »Das Gebäude als Vielfalt des Geschauten. Die Entwürfe von Herzog & de Meuron 1989–1991«, in: ders., Herzog & de Meuron 1989–1991. Das Gesamtwerk. Band 2. Basel: Birkhäuser, 1996, S. 7–13, hier S. 7. 90 Ebd. 91 »Minimalismus und Ornament. Herzog & de Meuron im Gespräch mit Nikolaus Kuhnert und Angelika Schnell«, in: ARCH+ 129–130, Dezember 1995, S. 18–24, hier S. 22. 92 So z. B. Hans-Georg von Arburg, Philipp Brunner, Christa M. Haeseli et al., Mehr als Schein. Ästhetik der Oberfläche in Film, Kunst, Literatur und Theater. Zürich, Berlin: diaphanes, 2008; Hans-Georg von Arburg, Alles Fassade. »Oberfläche« in der deutschsprachigen Archi­ tektur- und Literaturästhetik 1770–1870. München: Wilhelm Fink Verlag, 2008; Giuliana Bruno, Surface, Matters of Aesthetics, Materiality, and Media. Chicago, London: University of Chicago Press, 2014. 93 Paul Valéry, »L’Idée fixe ou Deux hommes à la mer«, in: ders., Œuvres II, hg. von Jean ­Hytier. Paris: Bibliothèque de la Pléiade, 1960, S. 195–275, hier S. 215. 94 Arburg u. A., Mehr als Schein (wie Anm. 92). 95 Stellvertretend sei hier Michael Müllers Studie genannt: Die Verdrängung des Ornaments. Zum Verhältnis von Architektur und Lebenspraxis. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977. 96 Loos, »Das Prinzip der Bekleidung« (wie Anm. 79), S. 139. 97 Ebd. 98 Ebd., S. 140. 99 Kenneth Frampton, Grundlagen der Architektur. Studien zur Kultur des Tektonischen. München, Stuttgart: Oktagon-Verlag, 1993, S. 424. 77

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9. AFFEN DER STOFFE Materialien ohne Eigenschaften? Gottfried Semper berichtet im ersten Band von Der Stil mit großer Faszination »über ein neues Material der Industrie«: »Ein wichtiger Naturstoff hat erst in neuester Zeit auf dem ganzen weiten Gebiete der Industrie eine Art von Umwälzung hervorgebracht, und zwar vermöge seiner merkwürdigen Gefügigkeit, mit welcher er sich zu allen Zwecken hergibt und leiht. Ich meine das Gummi elasticum oder den Kautschuk, wie er auf Indisch benannt wird, dessen stilistisches Gebiet das weiteste ist, was gedacht werden kann, da seine fast unbegrenzte Wirkungssphäre die Imitation ist. Dieser Stoff ist gleichsam der Affe unter den Nutzmaterien.«1 Es ist überraschend, dass der Kautschuk im Band über die textile Kunst an erster Stelle besprochen wird, nämlich als »einfaches Naturerzeugnis« zusammen mit Tierfellen, Baumrinde, Pelz und Leder, noch vor Flachs, Wolle und Seide. Trotzdem ist dieses Kapitel »Der Kautschuk das Factotum der Industrie« betitelt und sitzt so etwas unbequem neben den »natur­wüchsigen« Rohstoffen, die durch die technischen Bearbeitung keine »wesentliche Aenderungen […] erleiden«.2 Semper schildert die Eigenschaften des neuen Materials, als wolle er der unfassbaren Wandelbarkeit »dieses merkwürdigen Stoffs« mit den Mitteln der Sprache entsprechen. Mit der Erfindung des Industriekautschuks entsteht eine neue Industrie, welche die Erfüllung der Wünsche nach allen erdenklichen neuen Luxusgegenständen verspricht. Sempers Aufzählung von Gegenständen aus Kautschuk, die auf der Pariser Weltausstellung von 1855 ausgestellt waren, füllt eine ganze Seite: von Sonnenschirmen und Säbelscheiden bis zu »Schuhen mit feinen Ventilen die das Wasser nicht ein, wohl aber die Evaporation des Fusses von Jnnen auslassen«3, um dann mit dem Kapitel und dem gleichermaßen verzweifelten wie begeisterten Ausruf zu schließen: »Bei einer solchen Materie steht einem Stilisten der Verstand still!«4 Dies ist ein bemerkenswerter Satz in einer »praktischen Ästhetik«, in der die Besprechung der einzelnen Rohstoffe und der Geschichte ihrer Verarbeitung die Grundlagen ihrer Ge­staltung offenlegen müsste. Die großen Weltausstellungen – London 1851, dann Paris 1855 – verankerten die neuen Bilder der Industrie und Industrialisierung im öffentlichen Bewusstsein und lieferten Ordnungssysteme. Zur Ausarbeitung solcher Systeme hat Semper selbst beigetragen. Mit seiner Aufzählung von Kautschukwaren, die Komfort vor allem aufgrund ihrer Elastizität versprechen, betont Semper die paradiesische Seite der Industrialisierung, welche die damalige Werbung gerne mit dem tropischen Ursprung des Rohstoffs assoziierte. Als Semper über den Kautschuk schrieb, war dieses Material noch jung: »Erst seit etwa 15 Jahren fing dieser Stoff an, die Aufmerksamkeit der Industriellen auf sich zu ziehen, nachdem er vorher nur mehr zu Spielereien und als Reinigungsmittel des Papiers benutzt worden war.«5 Es war ein Nebenprodukt

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9. Affen der Stoffe

9.1 Reiseartikel aus Kautschuk. Abbildung aus Thomas Hancock, Personal Narrative of the Origin and Progress of the Caoutchouc or India-Rubber Manufacture, London, 1857.

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der Gasproduktion für die Straßenbeleuchtung: Teer und ammoniakhaltige Flüssigkeiten, die erstmals der schottische Chemiker Charles Macintosh mit Erfolg als Lösungsmittel für Naturkautschuk eingesetzt hatte. Sein Partner war Thomas Hancock, »der Vater der Kautschukindustrie«, der ab 1820 zahlreiche Patente für die Herstellung von Kautschukprodukten erwarb. Hancocks Buch Personal Narrative of the Origin and Progress of the Caoutchouc or India Rubber Manufacture in England erschien 1857 in London und enthält zahlreiche Anwendungsbeispiele, so Knieschutzkappen für Pferde oder Gummisocken für Windhunde und Schafe.6 (Abb. 9.1) Hancock habe die Technik der Vulkanisierung von Kautschuk dem Ameri­ kaner Charles Goodyear »weggeschnappt«, schreibt Semper. Diese Erfindung im Jahre 1838 war eine wichtige Voraussetzung für die industrielle Herstellung, die es ermöglichte, negative Eigenschaften der Kautschukprodukte wie Klebrig­ keit oder Brüchigkeit bei niedrigen Temperaturen zu eliminieren.

9. Affen der Stoffe

9.2 Baldachin vor der Treppe im dritten Hof der Prager Burg. Jože Plečnik, 1929/30.

Damit war plötzlich eine Fülle von Kautschukprodukten auf dem Markt, die bereits existierende Waren nachahmten, aber aufgrund ihrer leichten Formbarkeit für Reproduktionen viel besser geeignet waren als etwa Metallgüsse oder Galvanoplastiken. Es zeugt von der Aufgeschlossenheit Sempers gegenüber neuen Entdeckungen, dass er einen Stoff, gegenüber dem Gestalter noch rund 100 Jahre später Berührungsängste haben sollten, in seinem Der Stil berücksichtigt – sogar an erster Stelle. Denn Kautschuk ist ein subversiver Akteur, der sich in einer strengen Typologie der Stoffe schwierig unterbringen lässt. Der Affe Kautschuk wirbelt die schöne Systematik der vier Elemente durcheinander: Er lässt sich wie Keramik oder Metall kneten oder gießen, wie Textilien weben oder wie ein Firnis flüssig auftragen. Seine Eigenschaften können »bis ins Unbestimmbare variirt werden«.7 Daher passt er in keine Kategorie richtig. Semper plädiert im zitierten Teil seines Der Stil für die Verwendung von Kautschuk als künstliche Haut »zu der Deckung der Häuser« und verweist dabei auf natürliche Vorbilder: Der natürliche Schutz der Organismen bestünde nämlich »in einem kontinuirlichen dem Wasser undurchdringlichen […] Hautsysteme, wie bei den Pflanzen, bei vielen Bewohnern der Gewässer, z. B. den Delphinen, Wallfischen, Aalen u. dgl., auch bei manchen Landthieren und dem Menschen oder er besteht in einem Schuppensysteme […]«.8 Kautschuk, das »Faktotum der Industrie«, sollte also in der Architektur vor allem organische oder organhafte Gebilde inspirieren. Die Faszination für das elas­ tische Material, die aus Sempers Beschreibung spricht, blieb für die Architektur um 1900 nicht ohne Folgen. Formen der Spannung sieht man im Werk von Otto Wagner und seinen Mitarbeitern Joseph Maria Olbrich, Max Fabiani und vor allem Jože Plečnik. Das Thema der tierischen »Hautsysteme« be­schäftigte Plečnik bereits bei seinen frühen Werken wie dem Zacherlhaus oder dem Karl-Borromäus-Brunnen in Wien. Ernst Haeckels 1899 veröffentlichtes Werk Kunstformen der Natur war für ihn Inspiration oder sogar eine direkte Quelle.9 Elastizität im Werk von Plečnik hat nichts mit der Verwendung von Kautschuk zu tun, sondern mit der Art und Weise, wie er Naturformen und histo­ risches Architekturvokabular behandelte, so, als wollte er ihre Dehnbarkeit, die Grenzen ihrer Deformierbarkeit testen. Seine Bauten und Entwürfe sind Versuche, durch die Verschmelzung von anthropomorphen, skulpturalen und

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9. Affen der Stoffe

architektonischen Formen Ideen des Lastens, des Tragens und der Bewegung zu vermitteln. Seine Treppe im Prager Burghof zeigt, wie »Hautsysteme« als Dachbedeckung dienen können. (Abb. 9.2) »Bei einer solchen Materie steht einem Stilisten der Verstand still!«, schreibt Semper und meint damit weniger die Formlosigkeit des Kautschuks als seine Fähigkeit, selbst eine Form anzunehmen oder sie zu ändern. Es geht hier nicht um eine Projektion, um eine fiktive Animation, als ob der Kautschuk einen »Formwillen« besäße. Ganz im Gegenteil: Er kann beliebige Stoffe imitieren. Aber die Materie bewegt sich von selbst: »[…] obschon er dem starken Drucke nachgibt, springt er immer wieder in seine normale Dichtigkeit zurück, wogegen er sich mit mehr Leichtigkeit ausdehnen lässt und in diesem Zustande geneigter ist zu verharren.«10

Die Angst vor dem Plastischen

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Kautschuk und Kunststoffe − die Welt der »identitätslosen« Materialien löste nicht nur Interesse und Begeisterung, sondern auch Angst und Ekel aus. Allein das Wort »Kautschuk« selbst (das in der Sprache der Urbewohner Amazoniens »weinendes Holz« bedeutet) klang in den Ohren vieler Denker des 20. Jahrhunderts abstoßend, kaugummihaft-klebrig. Diese Klebrigkeit ist zur Metapher für eine allgemeine Auflösung fester Werte, einer zunehmenden Plastifizierung der Welt geworden. Der Psychoanalytiker und Philosoph Aurel Kolnai unterscheidet in seinem Essay »Der Ekel« (1929) zwischen Tastekel, Sehekel und Riechekel. Er stellt fest, daß »im allgemeinen die Tasteindrücke des Schwabbligen, Schleimigen, Breiigen, im gewissen Sinn schon überhaupt des Weichen, für ekelhaft gelten«.11 Französische Denker wie Georges Bataille und Jean-Paul Sartre lasen den Text von Kolnai – wahrscheinlich auf Empfehlung von Salva­ dor Dalí. Sartre knüpfte daraufhin in seinem Band Das Sein und das Nichts ein breites Netz von phänomenologischen Zusammenhängen. Man muss an Sempers Schilderung von der Sprunghaftigkeit des Kautschuks denken, wenn man Sartres Kommentar liest: »Schon im Wahrnehmen des Klebrigen, einer klebenden, kompromittierenden Substanz ohne Gleichgewicht, ist so etwas wie die Angst vor einer Metamorphose. Das Klebrige berühren heißt Gefahr laufen, sich in Klebrigkeit aufzulösen. […] Das Grauen vor dem Klebrigen ist das Grauen davor, daß die Zeit klebrig wird, dass die Faktizität kontinuierlich und unmerklich fortschreitet […].«12 Weniger Berührungsängste als Sartre hatte sein Landsmann Roland Barthes. Der französische Philosoph widmete dem Plastik einen Essay in seinem 1957 erschienenen Band Mythen des Alltags. Darin spricht er von der elastischen Umwandlung der traditionellen ästhetischen Hierarchien: »Die Plastikmode unterstreicht eine Entwicklung im Mythos der Imitation. […] Doch bislang hatten Imitationen etwas Großspuriges, gehörten zur Welt des Scheins, nicht des Gebrauchs; sie waren bestrebt, zu geringeren Kosten die erlesensten Substanzen zu reproduzieren […]. Es ist die erste magische Materie, die sich damit begnügt, prosaisch zu sein; doch sie tut es gerade deshalb, weil diese Prosaik die triumphale Rechtfertigung ihrer Existenz ist: Zum ersten Mal zielt das Künstliche aufs Gewöhnliche, nicht auf das Seltene. […] Plastik geht ganz in seinem

9. Affen der Stoffe

Gebrauch auf: Im Grenzfall wird man Gegenstände erfinden allein aus dem Vergnügen, sie zu verwenden. Die Hierarchie der Substanzen ist abgeschafft, eine einzige ersetzt sie alle: Die ganze Welt kann plastifiziert werden, auch das Leben selbst […].13 Die Elastizität und leichte Formbarkeit, die Semper Mitte des 19. Jahrhunderts noch als ein Versprechen erschien, deuten viele Autoren nicht als Vorteil, sondern als Charakterschwäche. Fast ein Jahrhundert später, zur Zeit des deutschen Wiederauf baus, äußert Hans Schwippert in seiner Wortmeldung 1952 beim Darmstädter Gespräch »Mensch und Technik« seine Zweifel an leicht formbaren Stoffen: »Die Welt der Stoffe ist unendlich erweitert. Hatten wir unsere Werksicherung der Materialgerechtigkeit erarbeitet aus den Charakteren des Eisens, den Charakteren des Holzes, so brachten uns diese Stoffe sehr bestimmte Eigenschaften zu, mit denen wir uns auseinandersetzen hatten. […] Jetzt aber kommen auf uns Stoffe zu, die diese Form von Charaktere [sic!] nicht mehr haben. Was da an neuen Stoffen vor uns steht, ist in einem Maße will-fährig uns gegenüber, wie wir das bisher nicht gekannt haben. Da gibt es plastische Stoffe, die sagen gar nicht mehr: Ich bin so, und du, Gestalter, du Hersteller musst sehen, wie du mit mir fertig wirst […]. Aber diese neuen Stoffe sagen: Bitte schön, gib mir eine Prise davon oder eine Messerspitze hiervon, und ich tue, was du willst. Wir stehen vor einer Aufgabe der souveränen Beherrschung der Stoffe, die wir bisher nicht hatten, und sind damit vor einer Weite, für die wir uns nicht ganz gerüstet fühlen.«14 Das sprechende Baumaterial ist eine beliebte Fiktion in der Lehre der Mate­ rialwahrheit. Nirgendwo enthüllt sich die Sprache des Baumaterials klarer als Bauchrednerei als in einem Text von Louis I. Kahn, wo dieser über die dem Wesen des Backsteins entsprechende Form spricht, oder besser gesagt: den Backstein sprechen lässt, der sehr genau weiß, wie er eingesetzt werden will: »Wenn man mit einem Ziegelstein spricht und ihn fragt, was er sich wünscht, wird er sagen: einen Bogen. Und wenn man dann erwidert: Schau mal, Bögen sind teuer, und einfacher ist ein Fenstersturz aus Beton, sagt der Ziegelstein: ich weiß, dass es teuer ist, und ich fürchte, es lässt sich zur Zeit wahrscheinlich nicht bauen, aber wenn du mich fragst, was ich mir wirklich wünsche, so bleibt es beim Bogen«.15 Der sprechende Kunststoff in Schwipperts Beitrag und dessen Folgerung, dass angesichts »will-fähriger« Kunststoffe der Begriff der Werkstoffgerechtigkeit zweifelhaft geworden sei, wirkten auf manchen Zuhörer wie ein »Schlag auf den Solarplexus«, schreibt Alfons Leitl als Herausgeber der Zeitschrift Baukunst und Werkform.16 »Längst wissen wir, daß Werkstoffgerechtigkeit recht wenig bedeutet, wenn zu ihr nicht eine Vorstellung sozusagen menschlich richtiger Form kommt. Man kann bekanntermaßen die scheußlichsten Sachen herstellen, ohne auch nur im geringsten gegen die Gesetze der Werkstoffe zu verstoßen.«17 Die Angst des Gestalters, volle Verantwortung für die Form übernehmen zu müssen, weil der Stoff seine Wünsche nicht mehr äußert, könnte man nicht besser in Worte fassen. Der Sozialphilosoph Theodor W. Adorno spart noch in seinem 1965 gehaltenen Vortrag »Funktionalismus heute« im Namen der Materialgerechtigkeit nicht mit Kritik an den Kunststoffen: Diese Materialien industriellen ­Ursprungs »lassen das archaistische Vertrauen auf ihre eingeborene Schönheit, Rudiment der Magie edler Steine, nicht mehr zu. Nicht zuletzt zeigt die Krisis

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9. Affen der Stoffe

der jüngsten Entwicklungen der autonomen Kunst, wie wenig aus dem Mate­ rial an sich sinnvolle Organisation sich herausholen läßt; wie leicht diese der leeren Bastelei sich annähert; die Vorstellungen vom Materialgerechten in der Zweckkunst bleiben gegen solche kritischen Erfahrungen nicht gleichgültig«.18 Im Gegensatz zum »Schlag auf den Solarplexus« in Darmstadt haben Kunststoffe die italienischen Architekten schon früh begeistert. Gio Ponti war überzeugt davon, dass die Entwicklung der Architektur von der Verwendung schwerer Steinblöcke zu transparenten Kunststoffen führen würde. »Früher sagten wir: ›Wir wollen das natürliche, nicht das künstliche Produkt.‹ Heute sagen wir: ›Wir wollen das künstliche‹, da es alle notwendigen Eigenschaften hat. Es ist der Sieg des Geistes, dass wir ein künstliches Material haben.«19 Heute sind Kunststoffe wie Laminat, Gipskarton oder Silikon die »wahren« Materialien der globalisierten Stadt, beispielsweise der »generic city« von Rem Koolhaas. Selbst wenn es scheinbar um Holz geht, ist dieses zermahlen, ge­ kocht, mit Kunstharz versetzt und in Form gepresst. Andrea Deplazes spricht in seinem Aufsatz zu Recht über Holz als »Indifferent, synthetisch, abstrakt – Kunststoff«, als wäre die organische Faserstruktur des Holzes zuvor Träger seiner früheren Identität gewesen.20

Beton als Gestalter

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Semper attestiert dem Kautschuk zwar Intelligenz, aber eine niedere, be­ schränkte – jedenfalls im Vergleich zu den Personifizierungen anderer Mate­ rialien. Obwohl Julius Vischer und Ludwig Hilberseimer im Titel ihres Buchs »Beton als Gestalter« (1928) bezeichnen, bestand lange keine Einigkeit darüber, was dieser Gestalter im Schilde führe, worin die wahre Identität dieses Mate­rials bestehe.21 (Abb. 9.3) Joseph August Lux kritisiert in seiner 1910 veröffentlich­ ten Ingenieur-Ästhetik die amerikanischen Wolkenkratzer, die nur scheinbar Steinarchitekturen wären, »kautschukartig in die Höhe gezogen«. Die Beton­ architektur scheine dagegen »eine neue Ära des Steinbaues herbeizuführen«, weil sie an Gesetze gebunden sei, »die in ihrer Natur liegen und nicht durch einfache Übertragung historischer Überlieferungen entstehen. Sogar auch im Betoneisenbau, der nicht nur den Nutzbau beherrscht, ist die ästhetische Vollendung nur möglich, wenn der Kompromiß mit den Überlieferungen der älteren Steinbaukunst unterbleibt, was noch zu beweisen sein wird«.22 Lux be­ hauptet in seinen Überlegungen über die »Natur des neuen Stoffes«, dass eine »neue künstliche Steinmasse, die flüssig in jede Form gebracht werden kann«, an keine bestimmte Form gebunden sei, sondern »vielmehr mit einer unbe­ grenzten Formfähigkeit begabt, so ist die Natur des neuen Stoffes, die zwar im Aussehen dem Stein, im Wesen aber dem Gußmetall gleicht«.23 Die »künst­ lerischen Möglichkeiten« der Steinarchitektur seien dem Beton verschlossen, weil man ihn nicht behauen könne. »Dagegen ist es gießbar. Insofern wirkt er wieder als Erzieher zur moder­nen Sachlichkeit, die in der Anerkennung der nackten Schönheit, der in sich vollendeten reinen und absoluten Zweckform schwelgt. Jene fatale Scheu, die diese herbe Schönheit der nackten Zweckform mit billigem gegossenen Fassadenzierat zu umkleiden sucht, wie es bei der Mehrzahl der heutigen Beton­eisenbauten noch geschieht, wird denn auch als

9. Affen der Stoffe

9.3 Umschlag des Buchs von Julius Vischer und Ludwig Hilberseimer, Beton als Gestalter, Stuttgart 1928.

eine vollkommen ästhetische Verfehlung empfunden und von dem edlen Sachlichkeitssinn als eine Schmach bezeichnet.«24 Die künstlerischen Möglichkeiten für den Betonbau zeigten sich vor allem in der materialgerechten Flächendekorationen, die sich »durch die hölzernen Leerformen ergeben, in die die Stampfmasse eingefüllt« ist.25 Durch in die Schalung eingelegte Formen »kann eine rhythmisch geordnete Folge von reliefartigen Eindrücken entstehen, wie etwa kassettenartige Vertiefungen, die eine technisch berechtige künstlerische Wirkung ergeben«.26 Die Argumentation von Lux ist nur eins von verschiedenen Denkmodellen, die Beton als keramisches, tektonisches, stereotomisches oder sogar textiles Material betrachten und erklären. Für Semper wäre der Beton ein Kronzeuge der Stoffwechseltheorie gewesen, ein »Faktotum der Industrie« wie der Kautschuk. Die Geschichte der frühen Eisenbetonarchitektur zeigt die kaleidoskopische Vielfalt der Ansätze, sowohl von unternehmerischen Interessen der Ingenieure geleitet, die ihre Patente weltweit vermarkteten, als auch von dem Experimentierlust der Architekten oder faszinierten Amateuren. Die frühen amerikanischen Betonhochhäuser waren im Wesentlichen mit Beton ummantelte Stahlskelette, um die Konstruktion feuerfester und stabiler zu machen. Das europäische System, das vor allem von dem Ingenieur und Unternehmer François Hennebique entwickelt und popularisiert wurde – er

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hat sogar die Zeitung Le béton armé herausgegeben –, verwendete parallel wie Muskelstränge geführte runde Bewehrungsstäbe und Bügel für die Armierung. Hennebique führte 1880 die erste Eisenbetonplatte mit runden Bewehrungsstäben aus und ließ sein System 1892 patentieren. Die Möglichkeit, die Beton­ mischung vor Ort in Holzschalungen zu gießen, oder – wie von Edmond Coignet bereits 1891 praktiziert – Betonteile in einer Werkstatt vorzufertigen, führte zum Aufschwung neuer Methoden, mit denen man Betonkonstruktionen in den verschiedensten Stilen und auch mit orientalisch-exotisch anmutenden Formen realisierte. Die Kirche Saint-Jean de Montmartre in Paris (1894–1904) von Anatole de Baudot ist eine der ersten Stahlbetonbauten, die nach einer eigenen Formensprache suchten. Der Ausgangspunkt war die Gotik, aber de Baudot versuchte schon bald, sich von dem Einfluss seines Lehrers und Unterstützers Eugène Viollet-­le-Duc zu befreien und mithilfe des neuen Materials dort anzusetzen, wo sein Mentor mit den Entwürfen von Eisenkonstruktionen für große Hallen gescheitert war. De Baudot verwendete dafür ein neues Betonbauprinzip, das von dem Ingenieur Paul Cottancin entwickelt worden war: ein System aus Backsteinhohlkörpern als Rippen und filigraner Bewehrung (ein Eisengeflecht aus Stäben von etwa 4 mm Durchmesser), die mit einem flüssigen Betongemisch mit hohem Zementgehalt und Sand ausgefüllt wurden. De Baudot war überzeugt davon, dass moderne Betonarchitektur nicht dem Ingenieur überlassen werden dürfe, weil ohne die kreative Zusammenarbeit mit dem Architekten das Material die ihm angemessene Form nicht erhalten könne. (Abb. 9.4, 9.5) Die Brüder Auguste und Gustave Perret entwickelten die Idee des gräko-­ gotischen Gerüstsystems so weiter, dass die Ursprünge in Viollet-le-Ducs ­moderner Gotik (s. S. 67) kaum mehr zu erkennen waren. Mit ihrem Miets­haus in der Rue Franklin in Paris (1902–1904) führten sie das Potenzial des bekleideten Eisenbetongerüsts beeindruckend vor Augen. Der Weg zu ihrer Kirche Notre Dame du Raincy (1922/23, s. S. 19) war bereits vorgezeichnet. Diese Entwicklung des modernen Gerüstsystems aus Eisen und Stahlbeton war Grund genug für Sigfried Giedion, um über Fäden zu sprechen, die zurück zur Gotik führen, indem er in seinem Buch Bauen in Frankreich, Bauen in Eisen, Bauen in Eisenbeton über »das konstruktive Temperament Frankreichs« schreibt. Diese »Nationalitätskonstante« hing nach seiner Ansicht mit der soziologischen Struktur, mit dem Klima, den Materialien und den Lebensgewohnheiten der Menschen eines Landes zusammen.27 Die Gotik war nicht das einzige Vorbild, um die Betonarchitektur auf neue Wege zu leiten. Giedion verweist auf die nationalen Unterschiede: »Jedes Land hat auf seine Weise zum gemeinsamen Vorwärtskommen beizutragen.«28 Frank Lloyd Wright errichtete seinen Unity Temple in Oak Park (1905–1908), Illinois, mit einer am Ort gegossenen bewehrten Betonkonstruktion, die ornamentalen Elemente zwischen den Fenstern wurden vorgefertigt. Das Ergebnis, nur wenige Jahre später als de Baudots Kirche entstanden, stellt eine andere Interpretation des Materials dar als die Kirche Saint-Jean de Montmartre. (Abb. 9.6) Der Architekt Francis S. Onderdonk, Professor an der University of Michi­gan in Ann Arbor, veröffentlichte 1928 sein Buch The Ferro-Concrete Style, in dem er neben amerikanischen Beispielen die Ergebnisse seines 20-jährigen euro­ päischen Studien- und Forschungsaufenthalts präsentierte.29 Das Buch zeigt eine interessante Sammlung schier unerschöpflicher formaler Möglichkeiten

9. Affen der Stoffe

9.4 Fassade der Kirche Sain-Jean de Montmartre, Paris. Anatole de Baudot, 1894–1904. 9.5 Gewölbe der Kirche Saint-Jean de Montmartre.

der damaligen Eisenbetonarchitektur. Die Beispiele von romantischen Villen in Hollywood, einem Hotel in aztekischem Stil in Kalifornien bis zum Einsteinturm in Potsdam von Erich Mendelsohn (1919–1922)30 und zur Jahrhundert-

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9.6 Unity Temple in Oak Park, Chicago. Frank Lloyd Wright, 1905–1908.

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halle von Max Berg in Breslau (1911–1913) belegen die Suche nach einem Stil für den Eisenbeton. Der Verfasser meint, aufgrund des Materials solle eine neue Gotik entstehen; doch nicht die Formen, sondern der Geist des Stils solle zu neuem Leben erweckt werden. Der Spitzbogen werde durch den parabolischen Bogen ersetzt, das Maßwerk in Wände aus Betongitter umgewandelt. Onderdonk zitiert die Feststellungen des ungarischen Architekten ­István ­Medgyaszay (1877–1959), der eine neue »künstlerische Formensprache des Eisenbetons« als Ergebnis seiner Analyse anonymer Holzbauten in ungarischen Dörfern vorschlug. Medgyaszay hatte nach seinem Studium in der Schule Otto Wagners 1907 auch in Hennebiques Büro in Paris gearbeitet.31 Medgyaszays Theater in Veszprém (1908) ist ein wichtiges Werk der Stahlbeton­architektur vor dem Ersten Weltkrieg. Die im Foyer fast brutal erscheinende Stahlbetondecke, die für die Überdeckung des Theatersaals verwendeten dünnen, tonnenförmigen Betonschalen, die durchbrochenen Betongitter sowie die dekorativen Betonfensterkonstruktionen mit geklebter Verglasung waren radikal neue und zudem überaus ökonomische Lösungen. Medgyaszays verwendete für seine Kirche der hl. Anna in Rárósmulyad (heute Muľa, Slowakei, 1909/10) die Formen dörflicher Holzarchitektur. Ihre Kuppel über dem zentralen Kirchenraum besteht aus dünnen, vorgefertigten Stahlbetonsegmenten, die mit einem von außen sichtbaren Gurt, dieser beschwert mit Engelsfiguren, zusammengespannt sind. (Abb.  9.7) Medgyaszay wies in seiner Wiener Vorlesung auf seine Reisen in Siebenbürgen hin, wo er 1904 Zeichnungen für einen Band über die Volkskunst der Region Kalotaszeg fertigte. 32 Die Zierformen der Volkskunst, erklärte er, seien keine rein dekorativen Additionen, sondern Ergebnisse einer instinktiven handwerklichen Kenntnis der Eigenschaften der Werkstoffe. Sie sollen gewisse Eigenschaften des Materials für das Auge erlebbar machen. Beispielsweise stellten die dekorativen Motive der Holztore in den Dörfern die Abspaltung von

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9.7 Stahlbetonkirche in Rárósmulyad (heute Muľa, Slowakei). István Medgyaszay, 1909/10.

Holzschichten eines gebogenen Stücks Holz dar, bevor es bricht. Medgyaszay entwickelte anhand dieser Beobachtungen seine Theorie der Einfühlung zur Erklärung der Logik der vernakulären sowie der seinerzeit modernsten konstruktiven Lösungen.33 Den Stoffwechsel, also die Übertragung der Formen von dörflichen Holz­ toren und Pergolen auf die Gestaltung des Eisenbetons, begründete Medgya­ szay mit der Verwandtschaft der Materialeigenschaften von Holz und Eisenbeton, mit der Fähigkeit beider, sowohl Zug- als auch Druckkräfte aufzunehmen. Die Bauwerke Asiens und die ebenfalls asiatische Züge aufweisenden Bauern­ häuser und Dorf kirchen in Siebenbürgen können da als Inspiration und Vorbild dienen: »Der eigentümliche orientalische Charakter, der außerordentlich logische und aufrichtige Aufbau, die künstlerische Verwandtschaft der Holzkonstruktion mit jener des Eisenbetons machen diese Werke für unsere modernen Bestrebungen sehr wertvoll.«34 Betonkonstruktionen seien Meta­ morphosen von tektonischen Holzgerüsten: Bereits in frühen Publikationen über das neue Material wurde Stahlbeton als »Eisengerippe mit Cementumhüllung« propagiert.35 Spektakuläres Beispiel dieser Betontektonik ist das FIATFabrik­gebäude in Turin-Lingotto (1915–1926) von Giacomo Mattè-Trucco mit einer Test­strecke auf dem Dach. Hier gelang es, die starre Gerüsthaftigkeit der

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9.8 Rampe in der Autofabrik FIAT Lingotto in Turin. Giacomo Mattè-Trucco, 1915–1926.

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Pfeiler und Zwischendecken durch die schwungvolle Dynamik der sich nach oben schraubenden Rampe in ein Kontinuum der Bewegung zu verwandeln. (Abb. 9.8) Onderdonk lässt in seinem Buch die Bauten des in Südkalifornien tätigen ­Irving Gill (1870–1936) unerwähnt, obwohl dessen Bauten auffallend ähnlich zu jenen Medgyaszays sind. Gill arbeitete 1891 in Louis Sullivans Büro in Chicago, als der junge Frank Lloyd Wright dort Büroleiter war. Zwei Jahre später ließ Gill sich in San Diego nieder, wo er bald begann, Bauten mit klaren, einfachen Massen und ornamentlosen Sichtbetonfassaden als Architektur für eine gesunde, hygienische Lebensweise zu errichten. Ein von ihm verwendetes Verfahren war die sogenannte Tilt-slab-Methode: Die Fassadenwand wurde in situ in eine horizontale Schalung gegossen und dann in eine vertikale Posi­tion gekippt. Entgegen der späteren Stahlbetonrezeption wurde hier Beton als natürliches Material verstanden, dessen gegossener Charakter Verwandtschaft mit Lehm und Adobe aufweist. Bei einigen seiner Wohnbauten legte Gill Pflanzenblätter in die Schalung, um ihren Abdruck auf der Betonhaut als natürliches Ornament erscheinen zu lassen. Seine Lewis Courts in Sierra Madre (1910), die Horatio

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9.9 Wohnhaus, Horatio West Court, Santa Monica, Kalifornien. Irving Gill, 1919. 9.10 Die mit gespritztem Beton errichtete Fassade des Lovell House in Los Angeles. Richard Neutra, 1927–1929.

West Court in Santa Monica (1919) oder sein Walter L. Dodge House in Holly­ wood (1914–1916, zerstört 1970) zeigen eine formale Ähnlichkeit zu Entwürfen von Tony Garnier, der in seiner Vision für eine Cité industrielle (1901–1904, zuerst veröffentlicht 1917) mithilfe der Hennebique-Methode errichtete Betonhäuser vorschlug, oder zu Wohnhäusern von Adolf Loos.36 ­(Abb. 9.9) ­Rudolph Schindler und Richard Neutra, beide Schüler von Loos in Wien (Schindler war auch Wagner-Schüler), gingen auf Empfehlung von Loos in die USA, um dort bei Wright zu arbeiten. In Kalifornien entdeckten sie die Verwandtschaft ihrer eigenen Vorstellungen mit Gills Bestrebungen. (Abb. 9.10) Gill und Schindler bewunderten die Bauten der amerikanischen Ureinwohner und die der spanischen Missionen als Vorbilder für eine moderne Architektur, wie früher Josef

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Hoffmann oder Loos die anonymen Bauten an der Mittelmeerküste. Auch Neutra schreibt von »indianischen Wohnzellenbauwerken« als Ausdruck eines »ursprünglichen ›Kubismus‹« in Nordamerika.37 Beton galt in den USA zudem als frei formbarer Stoff für ein »naives«, spielerisches Experimentieren. Henry Chapman Mercer, Fliesenhersteller und Kunstsammler, begann 1907 mit der Planung eines großen Museums für seine Sammlung von alten Geräten und Werkzeugen in Doylestown, Pennsylvania. Fasziniert von dem neuen Baumaterial schrieb er Beiträge in der Zeitschrift ­Cement Age (Betonzeit). Auf seinem weitläufigen Grundstück standen ein Farmhaus aus dem 18. Jahrhundert, das er ganz mit Beton überzog und an das große zentrale Gebäude anschloss. Für die Schalungen verwendete er Holz von abgerissenen Altbauten und einer alten Brücke, als Armierung dienten Eisen­ röhren vom Schrottplatz.38 (Abb. 9.11, 9.12) Beton war dank der rudimentären Technik des Gießens in eine Matrize ein geradezu magisches Material, bereits für Gaudí hatte die direkte Übertragung von Naturformen auf seine Bauten eine religiöse Signifikanz. Als das erste, aus Holz konstruierte Goetheanum-Gebäude in Dornach (1913–1922), entworfen von Rudolf Steiner als Zentrum seiner Anthroposophischen Gesellschaft, in der Nacht auf den 1. Januar 1923 in Flammen aufging, kündigte Steiner sofort an, das Haus aus festem Material wiederaufbauen zu wollen. Doch Beton als Material für den zweiten Bau wollten viele Mitglieder der Gesellschaft nicht akzeptieren. Anders als der organische Stoff Holz erschien ihnen Beton mit dem Geist der Anthroposophie nicht vereinbar. Schließlich überzeugte sie das Argument, dass das Material ein Produkt der vier Elemente Wasser, Erde, Luft und Feuer sei. Die Form des neuen Betonbaus zeigt ihren Ursprung in der plastischen Modelliermasse. Für die Ausführung dieses homogenen Baukörpers »aus einem Guss« musste allerdings eine außerordentlich komplizierte und materialaufwendige Holzschalung angefertigt werden. (Abb. 9.13) Aus diesem Grund wurde der Einsteinturm von Erich Mendelsohn (1919–1922) nicht wie geplant aus Beton, sondern als Backsteinmauerwerk errichtet – hochqualifizierte Maurer waren eben einfacher zu finden als Bootsbauer für die e­ xtrem umständliche Schalung, erinnert sich Mendelsohns ehemaliger Mit­arbeiter Julius Posener.39 Fotoaufnahmen von aufwendigen, virtuos gebauten Lehrgerüsten für Beton­brücken, die nach dem Erreichen der Tragfähigkeit der Konstruktion verschwinden, lassen uns über das Verhältnis von Schalung und Betonkörper nachdenken. Negative und positive Form zeigen keinerlei Ähnlichkeit. Die Schalung wäre nach Sempers System der vier Elemente eine tektonische, der Betonkörper eine keramische Konstruktion, die, wie Rudolf Schwarz gezeigt hat (s. S. 80), eine Ähnlichkeit mit der Sedimentierung der Erde aufweisen kann. Aber im Inneren der meisten Betonkörper, im Konglomerat von erhärtetem Zementbrei, Sand und Kies, ist ein Gewebe der Bewehrungseisen verborgen. Die Kirche von de Baudot ist eines der seltenen Beispiele, wie die dünnen Eisen­drähte die filigrane Form des Bauwerks in Erscheinung treten lassen und die Konstruktion bestimmen können. In den Stahlbetonträgern nimmt die Bewehrung der im Bauteil wirkenden Zugkräfte auf, das »Betonkleid« hingegen den Druck. Die Risse eines Betonträgers sind Ausdruck der unterschiedlichen »Verhaltensweisen« der beiden Materialien. Álvaro Siza und der Ingenieur Cecil Balmond haben mit dem portugiesischen Pavillon für die Expo ’98 in

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9.11, 9.12 Das Mercer Museum in Doylestown, Pennsylvania. Henry Chapman Mercer, 1907–1916.

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9.13 Fassade des zweiten Goethea-

num-Gebäudes, Dornach. Rudolf Steiner, 1913–1922. 9.14 Der portugiesische Pavillon der Expo ’98 in Lissabon, Álvaro Siza, 1995–1998.

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Lissabon (1995−1998) ein riesiges hängendes Baldachindach realisiert, das an den festlichen Eingang zur Ausstellung Ein Dokument Deutscher Kunst (1901) der Künstlerkolonie in Darmstadt von Joseph Maria Olbrich erinnert. Zwischen den beiden frei stehenden Pylonbauten wurden Stahlseile mit einer Spannweite von 70 m eingehängt, stabilisiert von

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9.15 Grabmal Brion in San Vito di Altivole. Carlo Scarpa, 1968–1978.

den vorgespannten 20  cm dünnen Betonelementen, die das Dach bilden. Noch bevor der Betonbaldachin die Pylonen trifft, werden die Kabel freigelegt. Das einfallende Licht zwischen Dach und Unterbau erhöht den Kontrast von Schwere und Entmaterialisierung dramatisch. (Abb. 9.14) Ohne das Licht Portugals wäre der Torbau Sizas unvorstellbar: Der Kontrast zwischen den wuchtigen Pylonen und dem leichten Betontuch wird erst durch die strahlend weiße homogene Oberfläche des Betons, dem schwarzen Schatten und dem Blau des Himmels und des Atlantiks erlebbar. Carlo Scarpa ging mit dem Material anders um, obwohl auch er mit den formativen Möglichkein der Wechselwirkung von Licht und Beton arbeitete. Auf dem von ihm entworfenen Friedhof Brion in San Vito di Altivole (1968–1978) bei Treviso ist das Licht keine ständige intensive Strahlung der Sonne. Es ändert sich ständig, den Bewegungen der Besucher und dem Wechsel der Oberflächen folgend. Die Zeit hinterlässt ihre Ablagerungen auf dem rauen Beton; glänzende farbige Mosaiken unterbrechen die verschiedenen Grautöne. (Abb. 9.15) Der ungarische Architekt Béla Sámsondi Kiss (1899–1972) suchte nach neuen Schalungsmethoden, die im Gegensatz zum hohen Materialverbrauch und Gewicht der Betonbauten eine ähnlich präzise Bauweise wie im Stahlbau erlaubten, dies allerdings bei einer drastischen Reduzierung des Baugewichts. Er erreichte sein Ziel mit einer Schalung, die auf einer Seite mit porösen Gipsplatten, auf der anderen mit Glasplatten beschichtet ist. Der Gips entzieht der extrem dünnen Betonschicht innerhalb kurzer Zeit das Wasser, sodass sie keinen seitlichen Druck auf die Glasplatten ausübt und die Oberflächen der ausgeschalten Wandmembranen (die Gipsplatte verbleibt an einer Seite als ver-

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9.16 a Studienzeichnung zur

Gewebebeton-Konstruktion, Béla Sámsondi Kiss. 9.16 b Wohnraum im eigenen Haus von Béla Sámsondi Kiss, Budapest 1942.

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lorene Schalung) spiegelglatt ist. Sámsondi Kiss wählte eine textile ­Analogie und nannte die durch die Gipsschicht stabilisierten Betonmembranen »Gewebe­beton« (­szövetbeton). Er entwarf nach dieser Methode im Kriegsjahr 1942 Wohnhäuser in Buda­pest. Bei seinem eigenen Haus in der Dayka-­GáborStraße wurden die dünnen Betonmembranen mit vertikal und horizontal befestigten dünnen Stahlsaiten armiert, die mithilfe eines Holzgestells vorgespannt wurden. Die Wohnung war für Sámsondi Kiss Teil eines integrierten urbanen Systems, einer Zellenstruktur, die eine Maßkoordination aller Elemente (einschließlich Möbel und Transportfahrzeuge) erforderte. Das vertikale Stützensystem besteht aus »Schrankpfeilern« aus Gewebebeton (die als Regale im Innenraum brauchbar sind), und die Decken sind dünnwandige Zellensysteme, in welche die Beleuchtung und die Haustechnik integriert ist.40 (Abb. 9.16 a, b) Die elastische Schalung als zwar stummer und zum Verschwinden bestimmter, aber umso wichtigeres Pendant zur Masse spielt im Werk des spanischen Architekten Miguel Fisac eine bestimmende Rolle. Fisac bezeichnet die Architektur als »ein Stück humanisierte Luft« (»un trozo de aire humanizado«).41 Die expressive Plastizität seiner Fassaden zeigt, wie Behälter für diese »huma­nisierte Luft« gestaltet werden können. Unzufrieden mit dem obligaten Abdruck der Holzschalung, wollte er dem Beton einen plastischen Ausdruck verleihen, der seinem flüssigen Ursprung gerecht wird. Daher ließ Fisac die Betonmischung in eine weiche Schalung gießen. Meistens diente dafür ein Holzgerüst, das mit Plastikfolien bespannt wurde. Als Ergebnis wirkt der Beton wie eine geronnene, schwere Flüssigkeit, die ihren Behälter dehnt. Wie bei A ­ ntoni Gaudí geht es auch hier um ein Verfahren, das auf der Idee des Abgusses beruht und fähig ist, einem Stoff den Anschein einer völlig anderen Identität zu geben. Von der irdenen Schwere der gegossenen Zement-Sand-Mischung befreit, stapeln sich die elastischen, scheinbar von einem inneren Druck ausgespannten Beton­ kissen zu Fassaden. (Abb. 9.17, 9.18) Die heute existierenden Identitätsbilder des Betons lassen sich zwischen den extremen Polen Primitivität und Perfektion einordnen, der eine näher dem

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9.17, 9.18 Fassadendetails des Rehabilitationszentrums Mupag in Madrid. Miguel Fisac, 1969–1973.

Natur­erhabenen, der andere dem technischen Erhabenen. Selbst in der Schweizer Architektur, wo die Perfektion der marmorhaft-glatten Betonoberflächen zum Markenzeichen geworden ist, spielt das Rudimentäre und Unvollkommene eine wichtige Rolle. Peter Märklis zwei Einfamilienhäuser in Trübbach/Azmoos (1982) zeigen das expressive Potenzial dieses Materials, seine archaische Kraft, die geschwächt wird, sobald Beton zum polierten Kunststein mit messerscharfen Kanten wird. Die Hauptfassade des Hauses Kühnis zum Garten hat

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9.19, 9.20 Einfamilienhaus in Trübbach / Azmoos. Peter Märkli, 1982.

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im Unterschied zu den Seitenfassaden eine einprägsame palladianische Physiognomie. Die fünf Betonsäulen in der Mittelachse des ersten Obergeschosses sind mit Plynth und Abakus zwischen Gurtgesims und Terrasse gestellt. Die minoisch-­ mykenische Säule, die einen nach unten verjüngen­den Schaft, eine Basis aus Stein und einen hölzernen Kern besaß, wurde in Knossos mit Lehm oder Stuck überzogen und bemalt. Diese anthropomorphe Form wurde von Interpreten der minoischen Kultur als Darstellung der Göttin interpretiert, die auch als Baum, Säule oder Amphora ­erscheinen kann.42 Auch Jože Plečnik verwendete in seiner Architektur minoische Säulen und keramische Formen (Amphoren, Vasen) als Architekturelemente. (s. Abb. 9.21) Märkli hat auf das Hauptgesims des Hauses Kühnis ein Relief von Hans ­Josephsohn wie ein Akroterion befestigt, und beim kleineren Nachbarhaus eine Büste des Künstlers zwischen den ­minoischen Säulen gestellt. Dadurch wird die vermittelnde Rolle der Säulen zwischen menschliche Figur und Bauglied verstärkt, und selbst der Beton zeigt seinen Ursprung. (Abb. 9.19, 9.20) Das englische Wort für Beton, concrete, betont den spezifischen, greifbaren, direkt erfahrbaren Charakter dieses Mate­ rials. Seit dem 17. Jahrhundert, als dieser Begriff zuerst auf den

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9.21 »Keramische« Balustraden im

Basteigarten der Prager Burg. Jože Plečnik, 1932/33.

künstlichen Stein angewendet wurde, hat der Beton zunehmend an Konkretheit eingebüßt, ja ist sogar zum Gegenteil von concrete geworden – imaginär, flüssig und beinahe unbegreifbar. Anders das französische Wort béton, das – wie Bitumen – aus dem altfranzösischen betum kommt, was wiederum auf das lateinische pix tumens, »ausschwitzendes Pech«, »Erdpech«, zurückgeht – formlos, schwarz und klebrig, wie das Ekelhafte bei Kolnai und Sartre. Der englische Architekturkritiker Adrian Stokes verwendete in seinem Buch Stones of Rimini (1934) Adolf von Hilde­brands Psychologie der Raumwahrnehmung als Grundlage einer Ästhetik, in der die subtraktive Steinmetzarbeit zum Paradigma der künstlerischen Gestaltung überhaupt wird. Aber Stein, beklagt Stokes, sei nicht mehr das Baumaterial von heute, »modern building materials are essentially plastic. […] With an armature of steel, Le Corbusier can make you a room of any shape you like« (moderne Baumaterialien sind im Wesentlichen plastisch. […] Mit einer Bewehrung aus Stahl kann Le ­Corbusier einen

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Raum von beliebiger Form machen).43 Die Gusstechnologie des Betons zerstöre jedoch den Zusammenhang zwischen räumlicher Imagination und Handwerk und werde als Ergebnis die Architektur töten: »Die Schöpfungen von Le Corbusier und anderen zeigen, dass Bauen nicht mehr als die Mutter der Kunst des Steins dienen wird, nicht mehr als jene Quelle, die der Schnitzarbeit oder der Raumvorstellung Kraft verlieh. Architektur in diesem Sinne, in dem grundsätzlichsten Sinne des Wortes, wird nicht mehr existieren«.44 Sollte die wachsende Plastizität in Industrie und Kunst überhandnehmen, dann werde es für die bildende Kunst, wie wir sie kennen, keine Zukunft mehr geben.45 In der Tat hätte die Technik des Betongießens, die in Sempers Der Stil noch nicht vorkommt, der Systematik der vier Elemente eine große Herausforderung bedeutet, zugleich aber auch eine Möglichkeit, die Spielarten des Stoffwechsels mit neuen Beispielen zu belegen. Heute ist Beton zu einem hybriden Material geworden, die in den Kapillarien der technischen Infrastruktur unserer Umwelt zirkuliert, sich zu Konstruktionen erhärtet, aber nur zu einem Bruchteil von Architekten gestaltet wird.

Anmerkungen Gottfried Semper, Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhe­tik. Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde. Band 1: Textile Kunst. Frankfurt am Main: Verlag für Kunst und Wissenschaft, 1860. Nachdruck Mittenwald: Mäander Kunstverlag, 1977, S. 112. 2 Ebd., S. 94. 3 Ebd., S. 115. 4 Ebd., S. 116. 5 Ebd., S. 112. 6 Thomas Hancock, Personal Narrative of the Origin and Progress of the Caoutchouc or India-­ Rubber Manufacture in England, London: Longman, Brown, Green, Longmans, & Roberts, 1857, neu abgedruckt in: A Centennial Volume of the Writings of Charles Goodyear and Thomas Hancock, Boston: The American Chemical Society, 1939. 7 Semper, Der Stil, Band 1 (wie Anm. 1), S. 113. 8 Ebd., S. 118f. 9 Ernst Haeckel, Kunstformen der Natur. Leipzig, Wien: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1898–1904. Vgl. Olaf Breidbach, Ernst Haeckel. Bildwelten der Natur. München, Berlin, London: Prestel, 2006. 10 Semper, Der Stil, Band 1 (wie Anm. 1), S. 112. 11 Aurel Kolnai, »Der Ekel«, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Band 10 (1929), S. 515–569. Nachgedruckt in: ders., Ekel, Hochmut, Haß. Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2007, S. 7–65, hier S. 27. 12 Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, 1991, zit. in Georges Didi-Huberman, »Die Ordnung des Materials«, in: Vorträge aus dem Warburg-Haus 3, hg. von Wolfgang Kemp, Gert Mattenklott, Monika Wagner, Martin Warnke. Berlin: Akademie Verlag, 1999, S. 1–29, hier S. 15. 13 Roland Barthes, »Plastik«, in: ders., Mythen des Alltags. Berlin: Suhrkamp, 2012, S. 223–225, hier S. 224f. 14 Hans Schwippert (Hg.), Darmstädter Gespräch. Mensch und Technik. Erzeugnis – Form – Gebrauch. Darmstadt: Neue Darmstädter Verlags-Anstalt, 1952, S. 83–86, S. 84f. 15 Louis I. Kahn, »Dies und Das. Ein Architekt äußert seine Gedanken«, in ders., Die Architektur und die Stille, übers. von Lore Ditzen und Kyra Stromberg, Basel, Berlin, Boston: Birkhäuser, 1993, S. 122–126. 16 Ll. [Alfons Leitl], »Anmerkungen zur Zeit: Ende der Werkgerechtigkeit?«, in: Baukunst und Werkform, 10/1952, S. 6. 1

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17 Ebd. 18 Theodor W. Adorno, »Funktionalismus heute«, in: ders., Ohne Leitbild. Parva aesthetica. 7. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1981, S. 104–127, S. 109. 19 Gio Ponti, Amate l’architettura. L’architettura è un cristallo. Genova: Società editrice Vitali e Ghianda, 1957. Neu abgedruckt Mailand: Rizzoli, 2008, S. 149. Übersetzt von Á. M. 20 Andrea Deplazes, »Indifferent, synthetisch, abstract – Kunststoff. Präfabrikationstechnologie im Holzbau: aktuelle Situation und Prognose«, in: Werk, Bauen+Wohnen 1–2/2001, S. 10–17. 21 Julius Vischer, Ludwig Hilberseimer, Beton als Gestalter. Bauten in Eisenbeton und ihre archi­tektonische Gestaltung. Ausgeführte Eisenbetonbauten. Stuttgart: Julius Hoffmann, 1928. 22 Jos[eph] Aug[ust] Lux, Ingenieur-Ästhetik. München: Gustav Lammers, 1910, S. 31. 23 Ebd., S. 46. 24 Ebd., S. 48. 25 Ebd., S. 49. 26 Ebd. 27 Sigfried Giedion, Bauen in Frankreich, [Bauen] in Eisen, [Bauen] in Eisenbeton. Leipzig, Berlin: Klinkhardt & Biermann, o. J. [1928], S. 68f. 28 Ebd., S. 69. 29 Francis S. Onderdonk, The Ferro-Concrete Style. Reinforced Concrete in Modern Architecture. New York: Architectural Publishing Company, 1928. Nachdruck Santa Monica: Hennessey + Ingalls, 1998. 30 Der Einsteinturm wurde zwar als Stahlbetonkonstruktion geplant, aber wegen der schwierigen Schalung als mit Spritzputz überzogener Ziegelbau ausgeführt. 31 István Medgyaszay, »Über die künstlerische Lösung des Eisenbetonbaues«, in: Bericht über den VIII. Internationalen Architekten-Kongress Wien 1908. Wien: Verlag von Anton Schroll & Co., S. 538–554. 32 Dezső Malonyay, Hg., A magyar nép művészete. Band I: A kalotaszegi magyar nép művészete, Budapest: Franklin-Társulat, 1907, Nachdruck Budapest: Helikon Kiadó, 1984. 33 Medgyaszay, »Über die künstlerische Lösung« (wie Anm. 31), S. 548. 34 Ebd. zu Medgyaszays Architekturverständnis s. Ákos Moravánszky, »›Die künstlerische ­Lösung des Eisenbetonbaues‹. István Medgyaszays Architektur zwischen Wagnerschule und Nationalromantik«, in: Antje Senarclens de Grancy, Heidemarie Uhl (Hg.), Moderne als Konstruktion. Debatten, Diskurse, Positionen um 1900. Studien zur Moderne 14. Wien: Passagen Verlag, 2001, S. 135–152. 35 So im Titel des Buchs des wichtigen deutschen Ingenieurunternehmers Gustav Adolf Wayss, Das System Monier. Eisengerippe mit Cementumhüllung. Wien: Eigenverlag, 1887. 36 Ob Loos die Bauten von Gill und umgekehrt Gill die Häuser von Loos gekannt hat, konnte bisher nicht beantwortet werden. Vgl. Thomas S. Hines, Irving Gill and the Architecture of Reform. A Study in Modernist Architectural Culture. New York: The Monacelli Press, 2000, S. 132. 37 Richard Neutra, Amerika. Die Stilbildung des Neuen Bauens in den Vereinigten Staaten. Wien: Anton Schroll, 1930, S. 8. 38 Thomas G. Poos, Fonthill. The Home of Henry Chapman Mercer, An American Architectural Treasure. 2. Aufl. Warminster, Pennsylvania: Manor House, 2008. Julius Posener, Vorlesungen zur Geschichte der Architektur, Bd. 2: III, IV, V. Aachen: ARCH+ 39 Verlag, 2013, S. 246. Béla Sámsondi Kiss, Szövetszerkezetes épületek. Budapest: Műszaki Könyvkiadó, 1965. 40 Francisco Arques Soler, Miguel Fisac. Madrid: Ediciones Pronaos, 1996, S. 248. 41 42 Walter Pötscher, Aspekte und Probleme der minoischen Religion. Ein Versuch. Hildesheim, Zürich, New York: Georg Olms, 1990. 43 Adrian Stokes, Stones of Rimini, London: Faber & Faber, 1934, Nachdruck New York: Schocken, 1969, S. 164. 44 Ebd., S. 165. 45 Ebd., S. 166.

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10. IMMATERIALITÄT UND FORMLOSIGKEIT Endet der lange Prozess der Metamorphosen der Form in der wortwörtlichen »Vernichtung der Realität, des Stofflichen« (s. S. 196), in ihrer Verwandlung in Information? Lange vor der Wandlung von analog zu digital begann die ­moderne Wissenschaft, statt nach elementaren Materialteilchen andere, immaterielle fundamentale Entitäten wie Symmetrien, Kraftfelder oder Energieströme zu suchen. Es ging um primäre Ordnungsprinzipien, die in der Natur existieren wie Symmetrie oder Proportion, welche auch ästhetisch konnotiert sind. Werke wie Symmetrie von dem Mathematiker, Physiker und Philo­sophen Hermann Weyl (1952) gaben auch für die moderne Kunst und Architektur wichtige Impulse.1 Wir haben bereits Gottfried Sempers karibische Hütte als konkretes Beispiel für eine frühe Materialisierung der dynamischen Transfor­ mationsprinzipien in der menschlichen Produktion betrachtet: als Diagramm, nicht bloß als ein Objekt der sinnlichen Wahrnehmung. Unverkennbar ist hier das Weiterleben der griechischen, vor allem platonischen Suche nach Ordnungsmustern, die eine vereinheitlichende Betrachtung der Phänomene ­verlangt. Der semiotische Ansatz der Postmoderne, also ihr Verständnis von Architektur als Bedeutungsträger, hat die spezifische Materialität der Objekte ignoriert. Aber auch Zeichen haben ihre Materialität. Die Fassade der Halle für Straßenverkehr des Verkehrshauses der Schweiz in Luzern von Annette Gigon und Mike Guyer (2005–2009) besteht aus lauter Zeichen: Auf ein Traggerüst sind Hunderte von reflektierenden Verkehrsschildern montiert, welche die Fassadenhaut bilden – ein »dekorierter Schuppen« nach der Definition von Robert Venturi; Architektur als Bedeutungsträger im engsten Sinne des Wortes.2 Die formale Homogenität der Oberfläche steht in krassem Widerspruch zur Kakophonie der Bedeutungen der weiß-blau folienbeschichteten Aluminiumschilder. Deren Stofflichkeit wirkt aber umso stärker; die grafischen Zeichen und Symbole sind zu Ornamenten geworden. Sind sie also sinnentleert? Das können wir nicht behaupten. Die Tatsache, dass einige Schilder den betrachtenden Kindern zuliebe bewusst »falsch« sind (wie jenes für die Route 66), zeigt, dass die primäre semantische Bedeutung der Schilder für den Betrachter doch erhalten bleibt. (Abb. 10.1) In Sempers Erzählung über die stofflichen Metamorphosen verwandeln sich Lederschläuche in Tongefäße, Teppiche in Backsteinwände, hölzerne Triumphbogen in Marmorbauten oder Fresken. Er beschreibt in seinen Studien über Polychromie diese zuletzt genannte Metamorphose als Vernichtung des Stofflichen: die Umwandlung von realer, technikbedingter Stofflichkeit in dargestellte Materialität. Die Farbschicht betrachtet er als die subtilste, körperloseste Art von Bekleidung, die in der Antike sogar auf Oberflächen aufgetragen wurde, die wir als blank wahrnehmen. »Die Farbenkruste auf Marmortempeln hat ganz den Anschein einer festen glasartigen Emaille und ist einen halben

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10. Immaterialität und Formlosigkeit

10.1 Verkehrshaus Luzern. Gigon & Guyer, 2005–2009.

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Millimeter dick. […] Die Stellen, welche am Monument etwa weiß erscheinen ­sollten, wurden keineswegs bloß gelassen, sondern mit weißer Farbe überdeckt.«3 Mit Sempers Stoffwechsel- und Bekleidungstheorie wurde die Tür für eine weitgehende Reduktion der körperhaften Materialität der Fassade, für ihre Interpretation als Bildträger und später als mediales Interface geöffnet. Der Gedanke, dass die Polychromie als Bedeutungsträger zugleich die ephemerste, von den griechischen Marmorfassaden längst verschwundene Schicht sei, stimmte bereits einige Zeitgenossen nachdenklich. Semper behauptete jedoch niemals, was ihm Leo von Klenze, Hofarchitekt von König Ludwig I. von Bayern, vorwarf: Im Sinne der Theorie des Stoffwechsels »von Holz auf Metall, von Metall auf Stein, von Stein auf die Beize und endlich auf die unstoffliche Farbe« müsste am Ende »die griechische Architektur der Farbenstil genannt werden. Es wäre damit dann die Versöhnung von Struktur und Bekleidung in vergeistigendster Art erreicht, denn die unstoffliche Farbenkruste wäre das einzig Feste am Hause.«4 Sempers Theorie sollte das Verhältnis zwischen Bildhaftigkeit und

10. Immaterialität und Formlosigkeit

10.2 Leuchtturm von Walde.

­Léonce Reynaud, 1859, in ­Reynaud, Traité d’architecture, Atlas, Paris 1875.

Körperlichkeit erklären und nicht der völligen Auflösung des Stofflichen das Wort sprechen. Die Entstofflichung der Architektur durch die Verwendung dünner Eisenkonstruktionen, was Semper noch als Bedrohung für die Architektur wertete (s. S. 242–244), war zu Beginn des 20. Jahrhunderts für viele Architekten bereits ein Versprechen. Hermann Muthesius gehörte zu jenen, die der Kritik an die Immaterialität der Eisenarchitektur energisch widersprachen: Sempers »Gewohnheitsideal ist dadurch entstanden, dass die bisherigen Generationen in Materialien bauten, die massiv wirkten, nämlich in Stein und Holz; hätten ihnen dünngliedrige Metallstäbe zur Verfügung gestanden, so würde heute wahrscheinlich die Dünngliedrigkeit als das Normale und Ideale angesehen, die Massigkeit aber als unästhetisch verurteilt werden«.5 Muthesius verweist auf die Schönheit des Fahrrads: »[…] gerade die Dünngliedrigkeit der Drahtspeichen macht uns den Eindruck des Feinen und Eleganten.«6 Der französische Architekt Léonce Reynaud hat in seinem Werk Traité d’architecture bereits Mitte des 19. Jahrhunderts seine außerordentlich filigrane, mit Spann-

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10. Immaterialität und Formlosigkeit

10.3 Hauptschiff der Kirche

Notre-­Dame du Travail, Paris-­ Montparnasse. Jules Astruc 1899–1902.

seilen kombinierte Eisengerüste als Konstruktionen für Leuchttürme gezeigt.7 (Abb. 10.2) Auch die anfänglichen Proteste der französischen Künstler gegen die Errichtung des Eiffelturms in Paris und die spätere Verwandlung des »hässlichen« Eisengerüsts zum geliebten Wahrzeichen der Stadt illustriert die von Muthesius diag­nostizierte Wende in der Wahrnehmung zugunsten der »Dünngliedrigkeit«. Die im Kapitel über die Bekleidungstheorie zitierten Positionen von Hendrik Petrus Berlage, Peter Behrens oder Joseph August Lux, welche die monu­mentale Verhüllung der Eisenkonstruktionen befürworteten (s. S. 254), ­wichen zunehmend der Anerkennung der ästhetischen Wirkung von Leichtigkeit und Filigranität. Die Kirche Notre-Dame du Travail in Paris von Jules Astruc (1899−1902) zeigt, wie Berlages Börse, den gesuchten Kontrast zwischen Wucht und Entmaterialisierung: Die neuromanische, aus Bruchstein und Backstein erbaute Fassade lässt nichts von den filigranen Rundbogenarkaden aus Eisen erahnen, die im Innenraum wie die Strichzeichnung eines Gewölbes erscheint. (Abb. 10.3)

Ephemeralisierung

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Während für Muthesius die filigrane Konstruktion des Fahrrads als Ausdruck einer neuen Möglichkeiten der modernen Industrie galt, wurde für andere bald das Flugzeug nicht nur zur Erfüllung jahrhundertealter Träume vom Fliegen, sondern auch zum »Symbol der Neuen Zeit« (Le Corbusier).8 Dem Fliegen

10. Immaterialität und Formlosigkeit

10.4 Portal des Depeschenbüros

Die Zeit in Wien, 1902. In Der Architekt, 1902. 10.5 Glaswand zum Treppenhaus im Rathaus von Aarhus. Arne Jacobsen und Erik Møller, 1938–1941.

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10. Immaterialität und Formlosigkeit

10.6 Treppe mit Aluminiumgeländer im Vestibül der Postsparkasse

in Wien. Otto Wagner, 1903–1906.

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gab ein neues Material Auftrieb: Aluminium. Dieses Metall ist ein wichtiger Bestandteil von Tonerde, aber erst Mitte des 19. Jahrhunderts konnte es in reiner Form hergestellt werden.9 Auf der Weltausstellung in Paris 1878 wurden zwar schon Ziergegenstände aus Aluminiumlegierungen gezeigt, aber erst die Entdeckung der Elektrolyse in den 1880er-Jahren ermöglichte die Produktion in industriellem Maßstab. In den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts erschien Aluminium in Innenräumen vor allem als Gitter von Aufzügen und Treppen (z. B. im Monadnock-Building von Burnham und Root, 1889–1892). Otto Wagner verwendete Aluminium als Erster für die Gestaltung von Konstruktionselementen wie Stützen und Konsolen, nicht nur wegen seiner Leichtigkeit, sondern vor allem wegen seiner seidenmatt glänzenden, metallischen Oberfläche, die anders als Eisen keinen Korrosionsschutz benötigt. Das Portal für das Depeschenbüro der Nachrichtenagentur Die Zeit in Wien (1902) konstruierte Wagner vollständig aus Aluminium. (Abb. 10.4) Die Kappen der Fixierungsbolzen der Fassadenverkleidung der Postsparkasse, die dünnen Stützen des Vordachs und die Ummantelungen der Pfeiler im Kassensaal und nicht zuletzt die frei stehenden Säulen mit den Öffnungen der Luftheizung waren allesamt

10. Immaterialität und Formlosigkeit

10.7 Aluminiumportal des Kerzen­

geschäfts Retti in Wien. Hans Hollein, 1964/65.

aus Aluminium gefertigt. In der Vorhalle der Postsparkasse kontrastiert die feine, filigrane Stabstruktur der Aluminiumgeländer zu der schweren, stereotomischen Steinkonstruktion der Treppenwände. (Abb. 10.6) Für Wagner war der matte Silberglanz dieses Metalls, der fähig ist, durch Licht räumliche Effekte hervorzurufen, noch wichtiger als seine Leichtigkeit. Bei seinen Möbeln, wie bei den Armstühlen für das Direk­tionszimmer der Postsparkasse (entworfen 1902, ausgeführt 1904) verwendete er Aluminiumbeschläge kombiniert mit dunkel gebeiztem Buchenholz, Samt und Seide. Der Chronist der Secession, Ludwig Hevesi, schrieb über das Aluminium, das »herrschende sichtbare Metall« in diesem Gebäude, dass seine Verwendung »nachgerade zur Wohltat« wird, weil es »nicht oxydiert, also nicht geputzt zu werden braucht«.10 Hevesi hob die atmosphärische Gesamtwirkung hervor: »In diesem metallischen Silbergrau schimmern auch die hallentragenden Pfeiler und die Reihen runder Heizkörper des glasgedeckten Kassensaales, die Heizungsgitter der Säle und die Beleuchtungskörper. Das stimmt zu dem tonigen Weiß des ganzen Baues, zu einer weißlichen Harmonie der Säle […].«11 Atmosphärische Effekte suchte auch Hans Hollein, als er anodisiertes Aluminium für das Kerzengeschäft Retti

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10. Immaterialität und Formlosigkeit

10.8 Montage des Zeppelins

LZ 129, aus Fritz August Breuhaus de Groot, Bauten und Räume, Berlin-Charlottenburg 1935. 10.9 B-Deck des Zeppelins LZ 129 mit Möbeln aus Aluminium­ legierungen und schräggestellten Cellonfenstern, aus Fritz August Breuhaus de Groot, Bauten und Räume.

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in Wien (1964/65) verwendete, allerdings als flächiges Material, das nur von kleinen Öffnungen durchbrochen war und so die Beleuchtung im Inneren umso wirkungsvoller erscheinen ließ. (Abb. 10.7) Die praktischen Vorteile des Aluminiums, seine Leichtigkeit, Härte und Korrosionsbeständigkeit waren schon in Wagners Architektur untrennbar von seiner ästhetischen Anziehungskraft. Die glatte, schimmernde Oberfläche des Metalls wird zunehmend mit Technik und Geschwindigkeit assoziiert. Vom Flugzeug über Wohnanhänger in Stromlinien-Design bis zum Reisegepäck verbinden sich Reiseträume mit dem Aluminium. Die Gestaltung der Räume des Zeppelins LZ 129 Hindenburg (1933–1936), eines Luftschiffs mit einem fili­

10. Immaterialität und Formlosigkeit

10.10 Glaszylinder in der Abteilung »Lichte Erde – Gebrannte Erde« der Ausstellung Deutsches Volk – Deutsche Arbeit in Berlin, gestaltet von Lilly Reich, 1934. 10.11 Tensegrity-Konstruktion von Richard Buckminster Fuller an der Ausstellung Your Private Sky in Zürich, 2001.

granen Duraluminiumgerippe in einer Länge von 245  m, war Aufgabe des Archi­tekten Fritz August Breuhaus de Groot. Nach jahrelangen Versuchen ließ er Möbel aus verschiedenen Aluminiumlegierungen herstellen, »um das Optimum an Leichtgewicht, Stabilität und Bequemlichkeit zu erreichen«.12 (Abb. 10.8, 10.9) Parallel zu der von den Interessen der Industrie, des Militärs und des Verkehrs gesteuerten Entwicklung der Aluminiumkonstruktionen entwickelte sich in der Architektur ein Diskurs über Leichtigkeit, der stark von dem utopischen Gedankengut der Kristallanbeter des Expressionismus, dem Wunsch nach Befreiung von der Schwerkraft oder von biologischen Metaphern der

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10. Immaterialität und Formlosigkeit

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Zellmembranen als dem Stoffwechsel dienenden Hüllen beeinflusst war. Der ehemalige Bauhaus-Student Siegfried Ebeling publizierte 1926 ein schmales Buch unter dem Titel Der Raum als Membran, in dem er seine Erfahrungen in der Forschungsgruppe des Flugzeugfabrikanten Hugo Junkers schildert, die auch Leichtbaumethoden für die Errichtung von Wohnhäusern entwickelte. Er beschreibt die Wand als ein Mittel zur »klimatologischen Differenzierung« zwischen innen und außen.13 Die Zeit ist reif, behauptet Ebeling, »zu dem methodischen Versuch, den dreidimensional grobphysikalisch bestimmten Raum einer dreidimensional-biologisch bestimmten Membran zwischen unserem Körper als plasmatisch labiler Substanz und den latent gegebenen, aber noch nicht biostrukturell erfaßten Feinkräften der Sphären anzugleichen«.14 Ludwig Mies van der Rohe gehörte zu den Lesern Ebelings, dessen Bemerkungen über Bauten als atmende Organismen bestätigten, was er bei anderen Denkern des Vitalismus, vor allem in den Büchern des Biologen, Natur- und Kulturphilosophen Raoul Francé las.15 Unter dem Eindruck dieser Theorien und nicht zuletzt unter dem Eindruck der neuen optischen Darstellungsweisen des Raums, die László Moholy-Nagy in seinem Buch Von material zu architektur beschreibt, verließ Mies van der Rohe die klassische Tektonik für eine neue Vision. Bereits 1924 hatte er die »mammuthafte Schwere römischer Aquädukte« mit den »spinnedünnen Kraftsystemen neuzeitlicher Eisenkrane« und der »schnittigen Leichtigkeit neuer Eisenbetonbauten« verglichen.16 Diese Entwicklung erlaubte die zunehmende Auflösung der Wand in transparente Glasscheiben – bis hin zu ihrem Verschwinden. Sein Entwurf für ein Landhaus in Eisenbeton (1923) war eine Übung, wie sich eine traditionelle Struktur des Hauses in eine lose Anordnung von vertikalen und horizontalen Scheiben verwandeln ließ. Lilly Reich, die Mitarbeiterin Mies van der Rohes, hatte großes Interesse an leichten, transparenten Materialien, und sie entwarf gemeinsam mit ihm 1927 eine Ausstellungsinstallation für die Glas- und Seidenindustrie. Diese kann als Vorstudie zum deutschen Pavillon in Barcelona (1929) gelten, da bereits hier verschiedene Grade an Transparenz, Transluzenz, Chromglanz und Spiegelung virtuos miteinander kombiniert wurden. Für die Glas-, Keramik- und Porzellanabteilung der Ausstellung Deutsches Volk – Deutsche Arbeit in Berlin (1934) stellte Reich große spiegelnde Glaszylinder in die Mitte des Raums. (Abb. 10.10) Ab 1927 arbeitete der amerikanische Erfinder, Unternehmer und Visionär Richard Buckminster Fuller an seinem Dymaxion House. Wie Le Corbusier war er von Entwicklungen im Flugzeugbau inspiriert. Er verwendete den Begriff »ephemeralization«, um die Tendenz zu immer schlankeren Konstruktionsgliedern und einer immer besseren »slenderness ratio« zu beschreiben (ephemeros bedeutet ein Tag lang).17 Einen Höhepunkt in der Reduktion und Schwerelosigkeit stellen Fullers Tensegrity-Konstruktionen dar, deren scheinbar schwebende Druckstäbe einander nicht berühren, weil sie von feinen Zugseilen zusammengespannt sind. (Abb.  10.11) Diese Konstruktionen wirken trotz ihrer Logik zauberhaft, fast unbegreiflich, die Stäbe scheinen gewichtslos im Raum schweben. In seinem poetischen Text »Intuition« (was zugleich der Name seines Segelboots war) schrieb Fuller über die metaphysischen Gründe seiner Suche nach dem Ephemeren: »the more-with-lessing / Constitutes ever-increasing mastery / Of the physical behaviors of Universe / By the meta­ physically operative verb / Mind […]« (In dem Mehr-mit-weniger besteht die

10. Immaterialität und Formlosigkeit

10.12 Die aus 0,4 mm starkem Titanblech gefertigte Fassade des Guggenheim Museums in Bilbao. Frank Gehry, 1993–1997.

zunehmende Beherrschung des physikalischen Verhaltens des Universums durch das metaphysisch operative Verb Geist).«18 Für den konservativen Kunsthistoriker Hans Sedlmayr kam die Leichtigkeit der Moderne, seine »Leugnung der Erdbasis«, einem »Angriff auf die Architektur« gleich.19 Nach der ersten, noch unbewussten »Revolution gegen die Architektur«, die er in den »antiarchitektonischen« Entwürfen von Ledoux und Boullée für kugelförmige Bauten sah, kam die zweite: die schwebenden Kugelbauten in den Utopien der russischen Architekten der Revolutionszeit, schreibt

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10. Immaterialität und Formlosigkeit

er 1948 in seinem Buch Verlust der Mitte. Er sieht diese Tendenz überall in der modernen Architektur. Le Corbusiers Villa Savoy »liegt auf der Parkwiese wie ein gelandetes Raumschiff auf Stützen. Seine schwebenden Häuser scheinen nach unten zu immer leichter zu werden«, wofür dann nur »fadenscheinige rationale Gründe angegeben werden«.20 Was Sedlmayr als eine Folge von Revolutionen gegen die Architektur kritisierte, wurde 2004 von dem Kunsthistoriker Kurt W. Forster als »die unaufhörliche Erosion der idealisierten Festigkeit der Architektur« bezeichnet. Als Kurator der 9. Architekturbiennale in Venedig mit dem Titel Metamorph wies er auf die Vermehrung computergenerierter Formen am Ende des Millenniums hin, als Dokumente einer leichten und wandelbaren Architektur. Frank O. Gehrys Guggenheim-Museum in Bilbao (1993–1997), was ihm als Kronzeuge für diese Entwicklung dient, wird meistens als Beispiel für die Verwendung der CATIA-Software eines Flugzeugherstellers erwähnt, obwohl die Form des Gebäudes vom Architekten ganz traditionell, mittels Handskizzen gefunden wurde.21 Der Baukörper des Museums wurde mit einer hauchdünnen Titanhaut bespannt – eine bewegte, animierte Form, wie die Draperien der Frauen auf Botticellis Primavera. (Abb. 10.12)

Immaterialität

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Das Thema Immaterialität, viel diskutiert in Kunst und Architektur der letzten Jahrzehnte, verbindet verschiedene Tendenzen miteinander. Es bezieht sich sowohl auf die »Papierarchitektur« als auch auf die nicht zur Realisierung bestimmten Entwürfe der 1970er-Jahre, auf die kommunikative und m ­ ediale Dimension der Architektur oder auf immersive, atmosphärische Inszenierungen. In einem erweiterten Sinne werden auch die bereits diskutierten Themen Leichtigkeit und Transparenz − etwa die Hightecharchitektur, das Guggenheim-Museum in Bilbao oder die Konstruktionen von Ingenieuren, die Materialquerschnitte minimieren wollen, − als Tendenz zur Immaterialität wahrgenommen. Der argentinische Designer, Maler und Theoretiker Tomás Maldonado spricht von einer »Virtualisierung der Stoffe« und meint damit vor allem die zunehmende Trennung zwischen Oberflächenerscheinung und Tiefenstruktur.22 Der Begriff »Immaterialität« ist also irreführend, weil – wie die erwähnten Beispiele zeigen – die Menge des verwendeten Materials zwar reduziert wird, der Stoff jedoch keinesfalls verschwindet, sondern potenziert, seine konstruktive Performanz sogar wichtiger wird. Im Jahre 1985 war im Centre Georges Pompidou in Paris die von dem französischen Philosophen und Theoretiker Jean-François Lyotard kuratierte Ausstellung Les Immatériaux zu sehen. In der Beschreibung des Ausstellungskonzepts bezog sich Lyotard darauf, wie stark sich die Beziehung des Menschen zu der Materie durch die neuen Materialien verändert habe: »In einem erweiterten Sinne sind die neuen Materialien nicht allein das, sie werfen Fragen auf, zwingen zum Überdenken einer Vorstellung vom Menschen als Arbeitenden, Planenden, sich Erinnernden: als Autor.«23 Die Materie ist kein Naturstoff mehr, den der Mensch für spezifische Zwecke einsetzt und bearbeitet. Elektronische Währungen, seriale Musik, Minimalismus in der Kunst bestätigen laut

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10.13 Häufung. Seite aus dem Buch von László Moholy-Nagy, Von material zu architektur, München 1929.

Lyotard, dass das »Modell der Materie« zunehmend vom »Modell der Sprache« ersetzt wird: »Das Prinzip, auf dem die Operationsstruktur aufgebaut ist, ist nicht das einer stabilen ›Substanz‹, sondern einer unstabilen Menge von Interaktionen.«24 Immaterialität wird heute aus zwei Perspektiven untersucht: Einerseits geht es um die alte Frage des geschützten Raums, dessen Errichtung lange als die wichtigste Aufgabe der Architektur galt. Geborgenheit ist allerdings heute mit Mauern, Decken und Türschlössern allein nicht mehr erreichbar. Com­puter­ viren oder elektromagnetische Wellen brauchen Schutzmechanismen immaterieller Art – müssen wir deshalb auch das Konzept des »bergenden Raums« neu denken? Andererseits geht es um die historische Entwicklung des Archi­ tektenberufs, der von der Materialität der Baustelle isoliert, zunehmend mit der Gestaltung von Atmosphären und Oberflächen beschäftigt ist. Doch wenn der britische Architekt und Architekturhistoriker Jonathan Hill von diesen ­Prämissen ausgehend sein »Index der immateriellen Architekturen« zusammenstellt, listet er Stichworte wie Acrylfaden und Aluminium, Feuerwerk, Gewebe und Nordlicht bis Wetter und Wolke auf, die ohne einen Stoff undenkbar sind.25 301

10. Immaterialität und Formlosigkeit

10.14 Remote Material Deposition. Installation, Sitterwerk, St. Gallen. Gramazio & Kohler, 2014.

Informe: Stoff ohne Form

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Moholy-Nagy zeigt in Von material zu architektur alte Autoreifen als Beispiel für die »Häufung«, ein »oft schwer bestimmbar[er] Materialzustand«, vergleichbar dem brodelnden Schlamm eines Vulkans auf Neuseeland oder aufgespannten Regenschirmen.26 (Abb. 10.13) Formlosigkeit, an der bei Kolnai oder Sartre der Vorwurf des Klebrig-Ekelhaften haftete, wurde gleichzeitig zum Programm – zuerst von dem französischen Philosophen Georges Bataille 1929 als »informe« bezeichnet, um in den 1990er-Jahren zu einer zentralen Kategorie der postmodernen Kunsttheorie zu werden.27 Als Waffe gegen den Idealismus geschmiedet, aber ebenso gegen die Idealisierung des Materials verwendbar, sah Bataille im formlosen Stoff eine Art Abfall, der als amorpher, schlammartiger Stoff haufen nicht zum Bild gemacht werden könne. Natürlich wurde wie bei allen kunstkritischen Konzepten auch die Formlosigkeit sofort von der Kunst absorbiert. Die operative, performative Kraft des Formlosen sei notwendig, um die künstlerische Praxis von Lucio Fontana oder Robert Morris zu verstehen, schreiben Yve-Alain Bois und Rosalind E. Krauss als Herausgeber des 1997 erschienenen Bands Formless.28 Mit dem Begriff »formlos«, der dem Material jegliche konstruktive Rolle abspricht, können Design und Architektur kaum etwas anfangen. Die Aus-

10. Immaterialität und Formlosigkeit

10.15 Aufbau der Betonelemente von Incidental Space im Schweizer Pavillon der Architektur­biennale Venedig im Mai 2016. ­Architekt Christian Kerez, Inge­nieur Joseph Schwartz.

stellung Formless Furniture im Wiener Museum für angewandte Kunst (2008) zeigte unmissverständlich, wie wenig Designerfauteuils von Gehry, Karim Rashid oder Gaetano Pesce, produziert von exklusiven Möbelfirmen, mit dem künstlerischen Konzept der Formlosigkeit zu tun haben.29 In der Architektur können gerade die jüngsten maschinellen Fabrikationsverfahren archaisch anmutende, amorphe Stoffanhäufungen produzieren, wie das von Gramazio Kohler Architects entwickelte Verfahren Remote Material Deposition zeigt: Ein computergesteuertes Wurfgerät schleudert Lehmprojektile auf bestimmte Punkte im Raum, aus deren Summe eine Mauer erwachsen soll. Die entstehende Struktur wird laufend vermessen, damit die Steuerung entsprechende Anpassungen vornehmen kann. (Abb. 10.14) Digitale Technologien erfül­len somit paradoxerweise Batailles Begehren nach einer primären ikonoklasti­ schen, »ontologischen« Stofflichkeit. Wurfmaschinen befördert Material auf einen Haufen, der »verworfen«, exzessiv wirkt trotz der Präzision der produ­zierenden Technologie. Der Schweizer Beitrag zur Architekturbiennale in Vene­dig im Jahre 2016 Incidental Space von Christian Kerez ist ein weiterer radikaler Versuch, diesen Widerspruch zu thematisieren. Im Atelier, das »eher einer Küche oder einem Chemielabor als einer Architekturwerkstatt«

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10. Immaterialität und Formlosigkeit

glich, suchte der Architekt mit seinen Studenten raumhaltige Formen – gefundene Objekte, Abfälle –, die dann in Gips gegossen wurden. Die schließlich ausgewählte Raumfigur wurde gescannt, und nach der Skalierung wurden die Elemente der Schalung gedruckt und gefräst.30 Das Ergebnis war ein hohles, amorphes Betonobjekt, das Assoziationen vor allem mit natürlichen Formen (Kokon, Höhle) – und eben mit den Werken von Künstlern wie Lucio Fontana oder Architekten wie Friedrich Kiesler hervorruft. (Abb. 10.15) Im Kontext der Biennale, die unter der Leitung von Alejandro Aravena dem Thema Reporting from the Front gewidmet war, um mit Ökologie, Migration oder Wohnungsnot verbundene Fragen zu untersuchen, hat dieser Beitrag viel Unverständnis geerntet. Kerez ist es aber gelungen, die Aufmerksamkeit auf die eigentliche Kompetenz des Architekten zu lenken: auf das Wissen um die technische Herstellung von Dingen, auf die Beherrschung der praktischen Ästhetik im Sinne Sempers. Das heißt nicht, politische Fragen der Zeit zu negieren, sie formen die Haltung des Künstlers und gehören damit, so Semper, zusammen mit Impulsen aus der bildenden Kunst oder Ingenieurwissenschaft zu den »äußeren Einflüssen«. Aber schon die zur Realisierung des Incidental Space eingesetzten beträchtlichen intellektuellen und materiellen Ressourcen sprechen dagegen, das Ergebnis als »formless« verstehen zu wollen.

Extasen des Materials: Atmosphären

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Der Publikumserfolg von immersiven künstlichen Umwelten, die mit allen Sinnen wahrgenommen werden wie Peter Zumthors Thermenbad in Vals, Diller + Scofidios Blur Building (bekannt als »die Wolke«) auf der Expo 02 in Yverdon-les-Bains, Ólafur Eliassons Weather Project in der Londoner Tate Modern (2003) oder Philippe Rahms Beitrag Digestible Gulf Stream für die Architekturbiennale in Venedig (2008) zeigt das wachsende Interesse an künstlichen Naturinszenierungen, an Atmosphären als Ergebnis von diffusen, den Körper umgebenden Arrangements. In der psychologischen Ästhetik des 19. Jahrhunderts bezeichnete der Begriff »Einfühlung« die Projektion der Gefühle des betrachtenden Subjekts ins Kunstwerk. Es galt als eine Art Beseelung der Objekte der Wirklichkeit, als Sympathie zwischen Betrachter und Kunstobjekt. (Abb. 10.16) Atmosphären sind keine subjektiven Stimmungen: Als Substanzen, die uns umgeben und berühren oder die wir sogar einatmen, sind sie Teil der Wirklichkeit.31 Gernot Böhme, der dem Phänomen der Atmosphären mehrere Essays gewidmet hat, spricht deshalb auch von »quasi-objektiven Gefühlen«. In seinem Text »Synästhesien« definiert er die Atmosphäre als den »primären und in gewisser Weise grundlegenden Gegenstand der Wahrnehmung«, als das Ganze, »in das alles Einzelne, das man dann je nach Aufmerksamkeit und Analyse daraus hervorheben kann, eingebettet ist«.32 Wir können jenen kollektiven Projektionsakt, mit welchem die Gesellschaft auf Artefakte wie atmosphärische Räume reagiert, als »soziale Einfühlung« bezeichnen. Diese hat ihre Wurzel in der politischen und kulturellen Sphäre der jeweiligen Zeit. Ein Grund für die Popularität der Atmosphären liegt bestimmt in dem Suchtpotenzial, das die immer perfekteren virtuellen Räume, 3-D-Projektionen und Datenbrillen

10. Immaterialität und Formlosigkeit

10.16 Der Medienpavillon Blur Building des Expo 02 in Yverdon-lesBains. Diller Scofidio + Renfro, 2002.

freisetzen. Der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk vermutet einen noch tieferen Zusammenhang zwischen dem neuen Bewusstsein für die Atmosphäre und der Kondition des »In-der-Welt-Seins« im technischen Zeitalter.33 Die Philosophen, behauptet Sloterdijk, seien bisher mit Objekten und Subjekten beschäftigt gewesen und bemerkten kaum, dass wir uns im Inneren von atmosphärischen Blasen, Globen und Schäumen befinden. Erst seit der Umweltund der Bankenkrisen sei uns diese Kondition bewusst geworden: Wir seien Teilnehmer in einem kollektiven Experiment von globalen Dimensionen, des-

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sen Ausgangshypothesen, Anordnungen und Zusammenhänge uns nicht klar seien.34 Unterirdische Räume sind für atmosphärische Installationen besonders gut geeignet, weil das Eintauchen in die Unterwelt bereits als Abschied vom Alltag verstanden wird. Deshalb erleben immersive Inszenierungen mit dynamischen Lichteffekten, generiert von computergesteuerten LED-Leuchten, in neuen Metrostationen einen großen Erfolg. (Abb. 10.17) Atmosphäre und Klima sind naturbezogene Kategorien, besitzen jedoch auch andere Bedeutungen, nämlich soziale und kulturelle. Deshalb erscheint die Ästhetik der Atmosphären vielen dafür geeignet zu sein, um den Boden für einen verantwortungsvolleren Einsatz von Ressourcen vorzubereiten. Böhme schreibt von einer »ökologischen Naturästhetik«, und Rahm will die Architektur als »neue Atmosphäre und zweite Meteorologie«, als Hersteller von objektiven, offenen Orten sehen, »an dem neue soziale und politische Beziehungen entstehen können«.35 Ob das diffuse »blur«, eine Fusion der esoterischen Kategorien des Immateriellen mit dem Atmosphärischen, tatsächlich das Medium ist, welches die Begegnung des Subjekts mit der Welt ermöglicht? Eine immersive Materialität als gestalterische Aufgabe muss immer mit der Frage konfrontiert werden, ob diese inhalierbaren Architekturen dem wahrnehmenden Subjekt eine kritische Distanzierung erlauben. Sempers Karnevalskerzendunst als die »wahre Atmosphäre der Kunst« und das damit verbundene Konzept des Gesamtkunstwerks meint ein Wechselspiel von Wirklichkeit und Illusion, Leben und Kunst, jedoch keine völlige Virtualisierung der Realität.

Technikgeschichte als Kulturgeschichte

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Im Kristallpalast war Semper, der Architekt, Barrikadenbauer und politische Flüchtling aus Deutschland, im Urtypus aller zukünftigen Shoppingmalls angekommen. Für die meisten Besucher war der Raum in der gläsernen Arche die Erfüllung ihrer exotischen Fantasien, kolonisatorischen Machtträume und Technoutopien, kurz: Es war das Bild einer globalisierten Welt. Kaum eine andere Heterotopie der Zeit hätte Semper überzeugender vor Augen führen können, wie der Kristallpalast die industriell hergestellte Ware mit einer anthropologisch erarbeiteten Ahnentafel nobilitiert. 150 Jahre nach der Eröffnung der »Great Exhibition« in London bedeutete für Jeffrey Kipnis, Kurator der im Jahre 2002 in Columbus, Ohio, ver­anstalteten Ausstellung Mood River, der Warenfluss vor allem Überfluss. Stimmen der italienischen Architektur und Objektgestaltung verkündeten bereits in den 1970er-Jahren das Ende jener Ästhetik, die in der »guten Form« die Erfüllung jener Erwartungen sah, welche die Vertreter des Werkbunds und des Funktionalismus formulierten. Emilio Ambasz, Kurator der Ausstellung Italy: The New Domestic Revolution (1972) im Museum of Modern Art in New York, ging davon aus, dass jenen Besuchern, die an die klare, fixe Form des Objekts gewöhnt seien, die neuen »environmental ensembles« offensiv erscheinen mögen: Deren neue Materialität erlaube ständige Metamorphosen und auch Offenheit gegenüber verschiedenen Nutzungen.36 Die Veranstalter von Mood River gingen von einem »vibratory mesh«, einem oszillierenden Gewebe aus, das alles verbindet. »Das Kontinuum der Resonanz« schaffe trotz Unterbrechungen eine

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10.17 Robert Wilson, By the Sea … You and me. Digitaler Druck auf L­ insenraster-Panel mit LED-Beleuchtung, 2012. Station Toledo des Metro in Neapel, Architekt Oscar Tusquets Blanca.

»living order larger than meets the eye«, eine lebendige Ordnung, die größer sei, als sie erscheine.37 Die Verwandlung der Gegenstände wie ­Zahnbürsten, Rasierer, Turnschuhe, Leuchtkörper, Surfboards, Flugzeuge oder eben Architekturen haben keinen Bezug zu den Umständen ihrer Herstellung. Ihre Formen seien von Gefühlen gesteuert und sollen Gefühle erwecken. Insofern korrespondiert die Idee mit den psychologischen Konzepten wie Formtrieb oder Einfühlung, die sich bis zu Alois Riegl zurückverfolgen lassen.38 »Omnia mutantur, nihil interit«, alles wandelt sich, nichts geht unter. Für nichts ist dieser Satz, den Ovid dem Pythagoras im letzten Buch der Meta­ morphosen in den Mund legt, mehr gültig als für die Architektur. Von den

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Pyramiden bis zu den Türklinken nehmen wir die Werke der Architekten als immobil und statisch wahr, aber sie sind Produkte eines ständigen Transformationsprozesses, getrieben von Netzwerken von organischer und anorganischer Materie, Energie oder Kultur, welche die Städte durchqueren und sie ­gestalten. Ob Systeme von Müllentsorgung oder Elektroautos, Migrationsströme oder politische Demonstrationen, globale Erwärmung oder Werbekampagnen – sie sind alle Faktoren in dem großmaßstäblichen Stoffwechselprozess der Städte und Regionen. Dieser Prozess schließt auch Zerstörung mit ein, aber es geht um eine schöpferische Zerstörung, wie Justus von Liebig den natür­ lichen ­Stoffwechsel charakterisierte. Der Unterschied zur Natur besteht in der bewuss­ten, aktiven Steuerung der Transformationen. Sempers Betonung dieses Unterschieds ist der Beweis seiner Modernität. Seine Theorie soll die Grundlage bilden, »freie Gebilde des Menschen« zu gestalten, »der dazu Verstand, Naturbeobachtung, Genie, Willen, Wissen und Macht« in Bewegung setzt (s. S. 176).39 Für Semper war die Geschichte nicht allein Vergangenheit, sondern jenes Material, das der Gestalter von Gebrauchsgegenständen, ganz gleich, ob Stühle oder Häuser, verstehen musste, da er ansonsten nur belanglose Dinge produzieren konnte. Verstehen bedeutet nicht die chronologische Einordnung in die Evolutionsgeschichte, sondern das Wissen über die konkreten Prozesse der Herstellung. Die bereits erwähnten Missverständnisse bezüglich Sempers »Materialismus« hängen mit diesem Erkennen und Anerkennen der Materialität der Gegenstände zusammen, sie zeigen jedoch zugleich die fast reflexhafte Unterdrückung dieses Interesses seitens der Vertreter einer modernen Wissen­ schaftlichkeit. Diese Wissenschaftlichkeit hat Angst von der Materie, weil ihr die Begriffe und Konzepte fehlen, um sie zu diskutieren. Sempers Kultur­ begriff, seine »praktische Ästhetik«, ignoriert wiederum die sonst immer als die Höchstleistung der Kultur geltende bildende Kunst, um von der Ästhetik der technisch hergestellten Gegenstände zu sprechen. Von Semper lernen bedeutet nicht, seine Stoffwechseltheorie als Grundlage für neue analoge oder digitale Entwurfsstrategien vorzuschlagen. Wichtiger ist die Aufgabe, die er sich ­gestellt hat: eine Betrachtung des Kontinuums der Geschichte, welche die Technik nicht ausklammert, sondern sie in Synthese mit der Kultur be­trachtet. Entgegen der Behauptung von Charles Percy Snow, bei den »zwei Kulturen« der Geistes- und Naturwissenschaften handele es sich um eine diametrale ­Opposition, sind es gerade die Schnittstellen, wo neue, die Kulturen befruchtende Ideen zu ­erwarten sind.40

Anmerkungen 1 2 3 308

Hermann Weyl, Symmetry. Princeton, New Jersey: Princeton University Press, 1952; deutsche Ausgabe: Symmetrie, übers. von Lulu Bechtolsheim, Basel, Stuttgart: Birkhäuser, 1955. Robert Venturi, Denise Scott Brown, Steven Izenour, Lernen von Las Vegas. Zur Ikonographie und Architektursymbolik der Geschäftsstadt. Braunschweig/Wiesbaden: Friedr. Vieweg & Sohn, 1979, S. 105–110. Gottfried Semper, »Vorläufige Bemerkungen über bemalte Architektur und Plastik bei den Alten« (1834), in: ders., Kleine Schriften, hg. von Hans und Manfred Semper. Berlin, Stuttgart: W. Spemann, 1884. Nachdruck Mittenwald: Mäander Kunstverlag, 1979, S. 235f.

10. Immaterialität und Formlosigkeit

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10. Immaterialität und Formlosigkeit

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PERSONENREGISTER Aalto, Alvar  9, 11, 75 f. Achleitner, Friedrich  26, 197 Adler, Dankmar  156, 248 Adorno, Theodor Wiesengrund  16, 182 f., 269 Alberti, Leon Battista  41–46, 109 Albert von Sachsen-Coburg und Gotha, Prinz  93 Alexander, Christopher  160 Algarotti, Francesco  133 f. Allen, Stan  88 Almarcegui, Lara  17 Ambasz, Emilio  306 Ames, Frederick Lothrop  66 Ames, Oliver  66 Ammanati, Bartolomeo  126 Anaximander von Milet  34 Aravena, Alejandro  304 Aristoteles  31, 33–36, 50, 57, 64, 95, 164, 166 Árkay, Aladár  150, 154 Asam, Cosmas Damian  49 Asam, Egid Quirin  49 Astruc, Jules  292 Augustus (römischer Kaiser)  192 Balfour, Henry  173 f. Balmond, Cecil  278 Balz, Wilhelm  40 Bandmann, Günter  17 f., 34 Barthes, Roland  226, 268 Bartning, Otto  110 Bataille, Georges  268, 302 Bates, Steven  158 f. Baudot, Anatole de  272 f., 278 Bayer, Josef  217, 226 ff. Bearth, Valentin  10 f., 157, 159, 211 Behrens, Peter  118, 181, 197, 252, 254, 258, 292 Bennett, Jane  57 Berg, Max  274 Berkel, Ben van  21 Berlage, Hendrik Petrus  251, 253 f., 258, 292 Bernini, Gian Lorenzo  49 Beuys, Joseph  56, 209 Böhm, Dominikus  87 Böhme, Gernot  127, 304, 306 Bois, Yve-Alain  302 Bonatz, Paul  149, 154 Bonfin, Richard-François  123, 126 Bopp, Franz  188 Borromini, Francesco  49, 50 Bos, Caroline  21 Botticelli, Sandro  300 Bötticher, Karl  219–222, 224, 257 Boullée, Étienne-Louis  299 Bragdon, Claude  251 Breuhaus de Groot, Fritz August  296 f. Brontë, Emily  93 Brunelleschi, Filippo  41, 126 Büchner, Ludwig  50 Buckminster Fuller, Richard  297 f.

Bunshaft, Gordon  83, 87 Burkhalter, Marianne  13, 155, 159 Burne-Jones, Edward  138 Burnham, Daniel Hudson  147 f., 294 Burri, Alberto  86, 88 Butler, Judith  57 Butterfield, William  140, 143 f. Cache, Bernard  213 Carroll, Lewis  93 Caruso, Adam  13 Celsing, Peter  120, 126 Chabat, Pierre  246 Chambers, William  63 f. Chipiez, Charles  171 f., 223 ff. Choay, Françoise  41 Choisy, Auguste  47 f., 171 ff. Cicero, Marcus Tullius  44 Clason, Isak Gustaf  155 Coch, Georg  200 Coignet, Edmond  272 Cole, Henry  93 Colley March, Henry  174 Conner, Patrick  138 Cottancin, Paul  272 Curjel, Hans  154 Cuvier, Georges  67 f., 80, 163 f. Dalí, Salvador  268 Dante Alighieri  88 Danto, Arthur C.  183 Dartein, Fernand de  246 Darwin, Charles  93, 163, 175 f., 178, 188, 197 Dauthe, Carl Friedrich  62, 64 Davis, Alexander Jackson  146 Deane, Thomas  141, 144 Deleuze, Gilles  48, 259 De l’Orme (Delorme), Philibert  126 Demand, Thomas  209 Demeter 32 de Meuron, Pierre  88 ff., 205 f., 256, 258 Demokrit von Abdera  34 f. Deplazes, Andrea  10 f., 13, 16, 157, 159, 209, 211, 270 Descartes, René  48 Desprez, Louis Jean  101, 104 De Vylder, Jan  113, 118 Dickens, Charles  93 Diener & Diener  208 Diller, Elizabeth  304 f. Diogenes von Sinope  108 Dionysios Areopagita  36 Donatus von Besançon  39 Downing, Andrew Jackson  146 Duchamp, Marcel  183 Durand, Bernard  206 Durand, Jean-Nicolas-Louis  134 f. Ebeling, Siegfried  298 Eco, Umberto  18 Ehrhardt, Alfred  76, 80

Ehrlich, Hugo  106 Eidlitz, Leopold  174 f. Eisen, Charles  61 f. Eliasson, Ólafur  304 Elisabeth, Kaiserin von Österreich  232 Ellwood, Craig  111, 118 Elmslie, George  250 Emerson, Ralph Waldo  17, 146, 181 Emerson, Tom  13, 111, 118 Empedokles von Akragas  94 f. Engels, Friedrich  165 Epikur von Samos  34 f. Fabiani, Max  46, 200, 204, 236, 238 f., 267 Faust, Leon  13 Fisac, Miguel  282 f. Fontana, Lucio  302, 304 Forster, Kurt W.  300 Förster, Ludwig  149, 178 Frampton, Kenneth  113 Francé, Raoul Heinrich (Franzé, Rudolf Heinrich)  298 Frank, Josef  44, 46 Franz Joseph I., Kaiser von Österreich 232 Freud, Sigmund  32 Friedrich Wilhelm  104, 169 Füeg, Franz  84, 87 Fuhrmeister, Christian  18 Furness, Frank  110, 175, 177 Gaia 99 Gantenbein, Christoph  10 f. Garnier, Tony  277 Gaudí, Antoni  36, 68 ff., 72, 74, 278, 282 Gau, Franz Christian  217 f., 242 Gehry, Frank O.  299 f., 303 Getty, Eliza  13 Giedion, Sigfried  113, 158, 272 Gigon, Annette  13, 289 f. Gilbreth, Frank Bunker  7 Gill, Irving  276 f. Gladbach, Ernst  22, 24, 110, 118 Gmelin, Leopold  150 Goethe, Johann Wolfgang von  64, 93, 164, 168 f., 181 Göller, Adolf  178 ff. Goodyear, Charles  266 Goury, Jules  218 Graef, Paul  148, 150 Graham, Dan  207 Gramazio, Fabio  10–13, 302 f. Graves, Michael  18 Grazioli, Alfred  212 Group Utopie  102 Gruner, Ludwig  149 Guattari, Félix  259

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Personenregister

Guimard, Hector  67, 70 Gustav III. König von Schweden  101, 104 Guyer, Mike  13, 289 f. Hahn, Robert  34 Hancock, Thomas  266 Haraguchi, Noriyuki  209 Haraway, Donna Jeanne  57 Hardouin-Mansart, Jules  123, 126 Hase, Conrad Wilhelm  137 f. Hasenauer, Carl von  99 Haus-Rucker-Co. 102 Hayles, N. Katherine  174 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  52 Heidegger, Martin  55 Hekuba 197 Helios 99 Heller, Angelika  13 Helmont, Johan Baptista van  109 Hennebique, François  211, 271 f., 277 Hephaistos 99 Heraklit von Ephesos  35, 94 Herrmann, Wolfgang  244 Hersey, George  144 Hervé, Lucien (László Elkán)  40 Herzog, Jacques  88 ff., 205, 256, 258 Heuser, Georg  178, 180, 197 Hevesi, Ludwig  295 Hilberseimer, Ludwig  270 f. Hildebrand, Adolf von  285 Hill, Jonathan  301 Hinckeldeyn, Karl  149 Hirt, Aloys  169–172 Hitchcock, Henry-Russell  158 Hittorff, Jakob Ignaz  217 f., 242 Hoffmann, Josef  236 f., 240, 278 Hofmann, Albert  152 f. Höger, Fritz  152, 155 f. Hollein, Hans  127, 205, 295 Hopfengärtner, Judith  13 Hübsch, Heinrich  146, 172 Humboldt, Alexander von  164 Isler, Heinz  75 Jacobsen, Arne  39 Jencks, Charles  19 Jensen-Klint, Peder Vilhem  153, 156 Joachim, Markus  13 Jones, Owen  173, 218, 230, 244 Josephsohn, Hans  284 Joss, Ricardo  13 Judd, Donald  56 Jung, Carl Gustav  127 f. Junkers, Hugo  298 Kahn, Louis I.  29, 82, 87, 110, 269 Kant, Immanuel  50, 165 Kapp, Ernst  178 Kaufmann, Edgar J.  75 Kawazoe, Noboru  203 Kegler, Karl R.  13 Kerez, Christian  303 f.

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Kiesler, Friedrich  304 Kikutake, Kiyonori  203 Kipnis, Jeffrey  258 Kirkeby, Per  126 Klein, Yves  205 ff. Klenze, Leo von  169, 290 Klimt, Gustav  236 Kohler, Matthias  10–13, 302 f. Kolnai, Aurel  268, 285, 302 König, Carl  46 Koolhaas, Rem  127 f., 183 f., 270 Krasznahorkai, László  32 Krauss, Rosalind  302 Kreis, Wilhelm  153 Krischanitz, Adolf  13, 212 Kurokawa, Kisho  203 Laan, dom Hans von der  29 f. Labrouste, Henri  243 f. Lacroux, Jean  245 Langbehn, Julius  151 Laorgas, Luis  81 Lassen, Flemming  39 Latour, Bruno  56 f. Laugier, Marc-Antoine  61 f. Lechner, Ödön (Edmund)  180, 234, 238, 241 Le Corbusier (Charles-Édouard Jeanneret)  171, 181, 212, 258, 285 f., 292, 298 Ledoux, Claude-Nicolas  63 ff., 75, 299 Leibniz, Gottfried Wilhelm  48, 259 Leitl, Alfons  269 Lenin (Wladimir Iljitsch Uljanov)  7 Leroy, Charles-François-Antoine  122, 126 Levi, Carlo  88 Lewerentz, Sigurd  104, 106, 119, 126 Libera, Adalberto  86, 88 Liebig, Justus von  188, 308 Liebold, Bernhard  245 Linné, Carl von  164 Lodoli, Carlo  133 Loos, Adolf  10, 46, 56, 106, 110, 118, 181, 226, 255–259, 277, 278 Lukács, Georg (György)  182 f., 197 Lukrez (Titus Lucretius Carus)  30 f., 34, 57, 108 Lullus, Raimundus (Ramón Llull)  22 Lux, Joseph August  231, 254, 270 f., 292 Lyotard, Jean-François  300 f. Macintosh, Charles  266 Makart, Hans  226 Maki, Fumihiko  203 Malaparte, Curzio  86, 88 Malatesta Familie  42, 242 Maldonado, Tomás  300 Mallgrave, Harry Francis  13 Märkli, Peter  13, 284 Marold, David  13 Marx, Karl  163, 213 Matta Clark, Gordon  207 Mattè-Trucco, Giacomo  275 f. Maybeck, Bernard  248 Mayr, Fritz Gerhard  30

Medgyaszay (Benkó), István  200, 274 f. Memmo, Andrea  133 f. Mendelsohn, Erich  273, 278 Mercer, Henry Chapman  278 f. Merleau-Ponty, Maurice  227 Meyer, Alfred Gotthold  254 Michelozzo, di Bartolomeo Michelozzi 125 Mies van der Rohe, Ludwig  10 f., 36, 38, 41, 118, 184, 298 Mindrup, Matthew  57 Miyake, Issey  259 Moholy-Nagy, László  73, 76, 298, 301 f. Moleschott, Jakob  188 Møller, Erik  203, 293 Monet, Claude  74 Monge, Gaspard  48 Moore, Charles  18 Moravánszky, Bertalan  13 Moravánszky-Gyöngy, Katalin  13 Moretti, Luigi  89 f. Morris, Robert  56, 302 Morris, William  140, 144 Moser, Karl  150, 154 Muñoz, Lucio  81, 87 Musmeci, Sergio  75 Muthesius, Hermann  180 f., 291 f. Nagy, Elemér  13 Nancy, Jean-Luc  29 Neumeyer, Fritz  184 Neutra, Richard  277 f. Nietzsche, Friedrich Wilhelm  151 Niklaus von Flüe (Bruder Klaus)  128 Noguchi, Isamu  87 Nouvel, Jean  204 Olbrich, Joseph Maria  226 f., 267, 280 Olmsted, Frederick Law  146, 152, 154 Onderdonk, Francis S.  272, 274, 276 Östberg, Ragnar  151, 155 Otaka, Masato  203 Otto, Frei Paul  75 Ovid (Publius Ovidius Naso)  7, 13, 34, 307 Pabst, Alwin  180 f. Palladio, Andrea  46 f. Paracelsus (Theophrastus von Hohenheim) 96 Paul, Hermann  188 Paxton, Joseph  93, 244 Perrault, Charles  166 Perret, Auguste  245 Perret, Gustave  18 f., 272 Perrot, Georges  171, 223 ff. Pesce, Gaetano  303 Phidias 217 Pikionis, Dimitris  103, 105 Pink Floyd (Popgruppe)  8 Piranesi, Giovanni Battista  64, 115 Pitt-Rivers, Augustus Lane-Fox  173 Platon  49, 57, 166 Plečnik, Jože (Josef)  107, 110, 200 ff., 204, 240 ff., 267, 284 f.

Personenregister

Plotin  35 f. Podrecca, Boris  13, 203, 205 Ponti, Gio  270 Poseidon  32, 99 Posener, Julius  278 Pouillon, Fernand  40 f. Prelovšek, Damjan  13 Provedi, Pietro  119, 126 Ptah-Hotep 225 Pugin, Augustus Welby  136 f. Purcell, William Gray  250 Pythagoras von Samos  307 Quatremère de Quincy, Antoine Chrysostôme  166 ff., 217 Raff, Thomas  18 Rahm, Philippe  306 Rashid, Karim  303 Ravnikar, Edvard  240 Redtenbacher, Ferdinand  226 Redtenbacher, Rudolf  198, 226 Reichensperger, August  137 Reich, Lilly  297 f. Reichlin, Bruno  21, 158 Rembrandt Harmenszoon van Rijn 151 Renger-Patzsch, Albert  80 Revett, Nicholas  217 Reynaud, Léonce  164, 176, 291 Richardson, Henry Hobson  17 ff., 65 ff., 110, 142 f., 145 f., 148, 150, 152, 154, 175 Riedler, Alois  254 Riegl, Alois  53 f., 176, 180, 197, 307 Rommel, Erwin  88 Root, John Wellborn  147 f., 248, 294 Rossetti, Biagio  116 Rossi, Aldo  158, 213 Rudofsky, Bernard  160 Rumohr, Carl Friedrich von  52 Ruskin, John  138 f., 144, 156, 175, 236 Ryff, Walther Hermann  105 Rykwert, Joseph  96, 134 Sáenz de Oiza, Francisco  81, 87 Saint-Hilaire, Étiienne Geoffroy  164 Sámsondi Kiss, Béla  281 f. Sangallo, Giuliano da  125 San Lucano, Novello da (San Severino Lucano) 126 Sanmicheli, Michele  228 Sartoris, Alberto  134 Sartre, Jean-Paul  268, 285, 302 Saussure, Ferdinand de  18 Sauvage, Henri  246 Scarpa, Carlo  281 Schelling, Friedrich Wilhelm ­Joseph  169 Schiller, Friedrich  196 Schiller, Friedrich von  94 Schiller, Johann Christoph Friedrich von  94, 196

Schimkowitz, Othmar  236 Schindler, Rudolph M.  148, 277 Schinkel, Karl Friedrich  104, 169, 218 Schlechta, Hans  237 Schmitthenner, Johannes  13 Schmitthenner, Paul  134 ff. Schmitz, Bruno  149, 152 ff. Scholer, Friedrich Eugen  149, 154 Scholtowski, Iwan W.  192, 194 Schulze, Konrad Werner  155 Schumacher, Fritz  154 f. Schwartz, Joseph  13, 303 Schwarz, Rudolf  25, 77–80, 82, 84 f., 87, 126, 278 Schwippert, Hans  269 Scofidio, Ricardo  305 Scott Brown, Denise  204 Scott, Geoffrey  144 Sedlmayr, Hans  49, 299 f. Semper, Gottfried  15 f., 22, 26, 46, 50, 52 ff., 67, 70, 72, 93–111, 113–129, 156, 160, 163 ff., 167 ff., 173–176, 178 f., 183, 187–198, 205, 209, 213, 217–262, 265–269, 271, 290 f., 304, 306, 308 Sennett, Richard  12 Sergison, Jonathan  13, 158 f. Serlio, Sebastiano  39, 124 Seurat, Georges  246 Shaw, Adam  13 Simmel, Georg  257 Siza, Álvaro  278 Šklovskij, Viktor  227 Sloterdijk, Peter  108 f., 305 Smith, Edmund W.  230 f. Smithson, Alison  41, 139 Smithson, Peter  41, 139 Smithson, Robert  31, 90 Snow, Charles Percy  308 Spiluttini, Margherita  87 Stachanow, Alexej G.  7 f. Stange, Albert  54 Steadman, Philip  173 Steiner, Rudolf  107, 111, 278, 280 Stephanie von Belgien  231 f. Stokes, Adrian  285 Streiter, Richard  198, 223 Strzygowski, Josef  233 f. Stuart, James  217 Sturm, Leonhard Christoph  124 Sullivan, Louis Henry  147 f., 156, 248 ff. Sumi, Christian  13, 155, 158 f. Summerson, John  143 Suter + Suter  203, 205 Szeemann, Harald  124 Tailleu, Jo  13 Taut, Bruno  156 Tessenow, Heinrich  156 Texier, Charles  195 Thales von Milet  35

Theuer, Max  45 Thomas von Aquin  36 Tiedemann, Friedrich  187 Torroja, Eduardo  109 Tusquets Blanca, Oscar  307 Uhde, Constantin  193 ff. Ungewitter, Georg Gottlob  137 UNStudio 21 Urania 99 Ursprung, Philip  90 Valeriano, Giuseppe  119, 126 Valéry, Paul  259 Vasarely, Victor  238 Velde, Henry van de  55 f. Venturi, Robert  204, 289 Verne, Jules  207 Vinci, Leonardo da  31 Viollet-le-Duc, Eugène-Emmanuel 66 ff., 70, 74 f., 80, 118, 156, 164, 175, 194, 245, 253 f., 272 Vischer, Julius  270 f. Vitruv (Marcus Vitruvius Pollio)  7, 34 ff., 41, 52, 98, 105, 108, 166, 170 Vivaldi, Antonio  57 Vogel, Rudolf  150 Vogt, Adolf Max  244 Vogt, Carl  50 Wachsmann, Konrad  16, 223 Wagner, Otto  46, 53 f., 117, 194, 199 f., 226, 230 ff., 234 f., 267, 274, 294 Wagner, Richard  94 Walker, Edmund  95 Warhol, Andy  183 WChUTEMAS 76 Webb, Philip  140, 144 Weiss, Daniel  13 Weyl, Hermann  289 Whiteread, Rachel  207 Wigley, Mark  258 Wilbrand, Johann Bernhard  187 Wilson, Robeert  307 Winckelmann, Johann Joachim  166, 217 Wirth, Jonas  13, 103 Wolff, Johann Caspar  227 Wolff, Johann Heinrich  148 Wölfflin, Heinrich  113 Woodward, Benjamin  141, 144 Wotruba, Fritz  30 f. Wright, Frank Lloyd  9, 71, 75, 109, 156, 250, 274, 276 Xerxes 224 Zanth, Karl Ludwig Wilhelm  218 Zeus  32, 217 Zsolnay, Vilmos  154, 236, 239 Zumthor, Peter  17, 21–25, 55 f., 124 f.

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ABBILDUNGSNACHWEIS Vorwort: Another Brick in the Wall 0.1 Foto: Ákos Moravánszky 0.2 Encyclopédie. Recueil de planches, sur les sciences, les arts libéraux, et les arts méchaniques, avec leur explication. Architecture, Maçonnerie. Paris: Briasson, 1769. Pl. I. Archiv Á. M. 0.3 Foto: Ralph Feiner, mit freund­ licher Genehmigung von Gramazio & Kohler Architects 0.4 Foto mit freundlicher Genehmigung von Gramazio & Kohler Architects 1. Einführung 1.1–1.4, 1.6, 1.8, 1.9 Fotos: Ákos ­Moravánszky 1.5 Mit freundlicher Genehmigung des Ateliers Peter Zumthor und Partner 1.7 Ernst Gladbach, Der Schweizer Holzstyl, I. Serie, Zürich: Caesar Schmidt, 1882, Taf. 18. Archiv Á. M. 2. Wege zur Materie 2.1, 2.3, 2.5–2.13, 2.15, 2.16, 2.18, 2.19 Fotos: Ákos Moravánszky 2.2 Foto: Ricardo Joss 2.4 Encyclopédie: Recueil de planches, sur les sciences, les arts libéraux, et les arts méchaniques, avec leur explication. Marine. Paris: Briasson, 1769. Pl. V. Archiv Á. M. 2.14 Der Architekt Jg. XIII, 1907, S. 52. Archiv Á. M. 2.17 Auguste Choisy, L’art de bâtir chez les Romains, Paris: Ducher et Cie 1873, Taf. VIII. Archiv Á. M. 3. Stoffe der Natur 3.1 M.-A. Laugier, Essai sur l’architecture, 2. Aufl. 1755. Mit freundlicher Genehmigung der ETH-Baubibliothek Zürich 3.2, 3.4–3.6, 3.10–3.16, 3.18, 3.21–3.32, 3.33b, 3.34–3.37 Fotos: Ákos Moravánszky 3.3 William Chambers, A Treatise on the Decorative Part of Civil Architecture, London: Joseph Smeeton, 3. Aufl. 1791. Archiv Á. M. 3.7 [Eugène E.] Viollet-le-Duc, Entretiens sur l’architecture, Bd. II, Paris: Vve A. Morel, 1872, S. 84. Archiv Á. M. 3.8, 3.9 [Eugène E.] Viollet-le-Duc, Entretiens sur l’architecture, Atlas, Paris: A. Morel, 1864, Pl. XXI, XXII. Archiv Á. M.

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3.17 László Moholy-Nagy, Von material zu architektur, München: Albert Langen, 1929, S. 36, 41, 43. Archiv Á. M. 3.19 Alfred Ehrhardt, Kristalle. Hamburg: Heinrich Ellermann, 1939, S. 68. Archiv Á. M. 3.20, 3.33a Rudolf Schwarz, Von der Bebauung der Erde von, Heidelberg: Lambert Schneider, 1949, S. 23, 29. Archiv Á. M. 4. Die vier Elemente der Architektur 4.1 Victoria & Albert Museum, London E. 339–2007. 4.2, 4.4, 4.11, 4.16, 4.22, Gottfried Semper, Der Stil, Bd. 1: Frankfurt a.M.: Verlag für Kunst und Wissenschaft, 1860, Bd. 2: München: Friedrich Bruckmann’s Verlag, 1863. Archiv Á. M. 4.3 Mit freundlicher Genehmigung von MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst Wien, Bd. 1. 1909, 13 4.5 Foto: Jonas Wirth 4.6–4.8, 4.13–4.15, 4.18, 4.19, 4.25, 4.26, 4.28, 4.29, 4.31–4.33, 4.35 Fotos: Ákos Moravánszky 4.9 Dimitris Pikionis, Architectural Sketches 1940–1955. Hg. Agni Pikionis, Athen: Bastas-Plessas Publications, 1994, S. 82 4.12 Vitruvius Teutsch, übers. von Walther Hermann Ryff, Nürnberg 1548, S. 61, 62, 63. Archiv Á. M. 4.17 Ernst Gladbach, Der Schweizer Holzstyl, Zürich: Caesar Schmidt, 1882, Taf. 5. Archiv Á. M. 4.20, 4.21 Foto: Filip Dujardin, mit freundlicher Genehmigung von architecten de vylder vinck taillieu 4.23 Foto: Leon Faust 4.24 Giovanni Battista Piranesi, Le antichità romane, Bd. IV, Rom 1784. Archiv Á. M. 4.27 Foto: Karl R. Kegler. 4.30 Charles-François-Antoine Leroy, Traité de stéréotomie, Bd. II: Atlas, 5. Aufl. Paris: Gauthier-Villars, 1870, Pl. 62. Archiv Á. M. 4.34 Harald Szeemann, Individuelle Mythologien, Berlin: Merve, 1985, U2 5. Die Natur der Stoffe 5.1 Jean-Nicolas-Louis Durand, Précis des leçons d’architecture, Bd. I., Paris: Goeury, 1819. Archiv Á. M. 5.2, 5.6–5.11, 5.13–5.18, 5.20, 5.22–5.28 Fotos: Ákos Moravánszky 5.3a–d Paul Schmitthenner Gebaute Form, hg. Elisabeth Schmitthenner, Leinfelden-Echterdingen: Alexander

Koch, 1984, Abb. 14, 23, 27, 35. Mit freundlicher Genehmigung von Johannes Schmitthenner 5.4 Augustus Welby Pugin, Contrasts, London: Charles Dolman, 1841. Archiv Á. M. 5.5 John Ruskin, The Stones of Venice Bd. II, London: J.M. Dent [1907], Taf. V. Archiv Á. M. 5.12 Foto: Chicago Historical Society 5.19 Paul Graef, Hg., Neubauten in Nordamerika, Berlin: Julius Becker, 1897, Taf. 88. Archiv Á. M. 5.21 Wasmuths Monatshefte für Baukunst, Jg. XII (1928), S. 147 5.29 Mit freundlicher Genehmigung von Burkhalter Sumi Architekten 5.30, 5.31 Foto: Ralph Feiner, mit freundlicher Genehmigung von Bearth + Deplazes Architekten 5.32 Foto: David Grandorge, mit freundlicher Genehmigung von ­Sergison Bates architects 6. Das Leben der Materie 6.1, 6.2 A[loys] Hirt, Die Baukunst nach den Grundsätzen der Alten, Berlin: Realschulbuchhandlung, 1809, Pl. I, II, XXX. Archiv Á. M. 6.3 A[loys] Hirt, Die Geschichte der Baukunst bei den Alten, Berlin: G. Reimer, 1821–1827, Atlas, Taf. XXX. Archiv Á. M. 6.4 Charles Chipiez, Histoire critique des origines et de formation des ordres grecs, Paris: A. Morel, 1876, S. 208. Archiv Á. M. 6.5 Le Corbusier, Une maison – un palais, Paris: G. Crès, 1928, S. 43. Archiv Á. M. 6.6 Auguste Choisy, Histoire de l’architecture, Bd. I., Paris: Gauthier-Villars, 1899, S. 288. Archiv Á. M. 6.7 A[ugustus] Lane-Fox Pitt-Rivers, The Evolution of Culture and Other Essays, Hg. von J. L. Myres, Oxford: Clarendon Press, 1906. Archiv Á. M. 6.8a, b Alfred C. Haddon, Evolution in Art as Illustrated by the Life-Histories of Designs. London: Walter Scott, 1895, S. 344, 348 6.9, 6.10, 6.15 Fotos: Ákos ­Moravánszky 6.11 Gottfried Semper, Ueber die bleiernen Schleudergeschosse der Alten und über zweckmässige Gestaltung der Wurfkörper im Allgemeinen. Frankfurt am Main: Verlag für Kunst und Wissenschaft, 1859, Taf. 2–3

6.12 Allgemeine Bauzeitung, Jg. 55 (1890), S. 18. Archiv Á. M. 6.13 Kunstgewerbeblatt, N.F. 19 (1908), S. 82. Archiv Á. M. 6.14 Le Corbusier, Vers une ­architecture, 2. Aufl. Paris: G. Crès, 1929, S. 116. Archiv Á. M. 7. Die Theorie und Praxis des Stoffwechsels 7.1 Gottfried Semper, Der Stil, Bd. 2, München: Friedrich Bruckmann’s Verlag, 1863, S. 4. Archiv Á. M. 7.2, 7.9–7.13, 7.15, 7.17, 7.18, 7.20, 7.21, 7.24 Fotos: Ákos Moravánszky 7.3 S[elim] O[mirovitsch] Chan-­ Magomedow, Ivan Scholtowski, ­Moskau: S.E. Gordeew, 2010, S. 89 7.4 gta Archiv, Zürich 7.5 [Eugène E.] Viollet-le-Duc, Entretiens sur l’architecture, Atlas, Paris: A. Morel, 1864, Pl. 1. Archiv Á. M. 7.6, 7.8 Constantin Uhde, Der Holzbau, Berlin 1903, Abb. 9, 33. Archiv Á. M. 7.7 Charles Texier, Description de l’Asie Mineure, Bd. 1, Paris 1839, Archiv Á. M. 7.14 Foto: Damjan Prelovšek 7.16 Mit freundlicher Genehmigung von Boris Podrecca 7.19 Archiv Á. M. 7.22, 7.23 Foto: Ralph Feiner, mit freundlicher Genehmigung von Bearth + Deplazes Architekten 8. Das Prinzip der Bekleidung 8.1, 8.9, 8.11 gta Archiv, ETH Zürich 8.2, 8.3 Karl Bötticher, Die Tektonik der Hellenen, Fünfundvierzig Kupfertafeln. Berlin: Ernst & Korn, 1862, Taf. 7, 14. Archiv Á. M. 8.4 Gottfried Semper, Der Stil Bd. 1,

Frankfurt a. M.: Verlag für Kunst und Wissenschaft, 1860, S. 180. Archiv Á. M. 8.5 Akademie der Künste, ­Berlin, Konrad-Wachsmann-­Archiv, Nr. 164 F.1 8.6, 8.7 Georges Perrot und Charles Chipiez, Historie de l’art dans l’antiquité, Bd. I, Bd. V. Paris 1882, 1890. Archiv Á. M. 8.8, 8.10, 8.12, 8.15, 8.16, 8.18–8.24, 8.26, 8.27, 8.30–8.33, 8.35–8.38, 8.40, 8.45, 8.47, 8.48 Fotos: Ákos Moravánszky 8.13 Edmund W. Smith, Portfolio of Indian Architectural Drawings, London 1897, Taf. XXXIX. Archiv Á. M. 8.14 Joseph August Lux, Otto Wagner. Eine Monographie. München 1914. Archiv Á. M. 8.17 Allgemeine Bauzeitung Jg. 65 (1900), Taf. 10. 8.25 Aus der Wagner-Schule MCM, Wien: Anton Schroll, 1901, o. S. Archiv Á. M. 8.28 [Eugène E.] Viollet-le-Duc, Entretiens sur l’architecture, Atlas, Paris: A. Morel, 1864, Pl. XXIX. Archiv Á. M. 8.29 Moderne Bauformen Jg. XIII (1914) Taf. 2 8.34 Foto: Damjan Prelovšek 8.39 Pierre Chabat, La brique et la terre cuite, Paris: 1881. Archiv Á. M. 8.41, 8.42 Aufnahmen Adam Shaw 8.43, 8.44 Archiv Á. M. 8.46 Jan Gratama, Dr. H. P. Berlage Bouwmeester. Rotterdam: L & J. Brusse’s uitgevers-maatschappij, 1925, S. 32 8.49 Foto: Bertalan Mora­vánszky 8.50 Mit freundlicher Genehmigung von Shigeru Ban

9. Affen der Stoffe 9.1 Thomas Hancock, Personal Narrative of the Origin and Progress of the Caoutchouc or India-Rubber Manu­ facture, London, 1857. Archiv Á. M. 9.2, 9.4–9.6, 9.8–9.15, 9.17, 9.18, 9.21 Fotos: Ákos Moravánszky 9.3 Ludwig Hilberseimer, Beton als Gestalter, Stuttgart: Julius Hoffmann, 1928, cover. Archiv Á. M. 9.7 Foto: Katalin Moravánszky-­ Gyöngy 9.16a, b Mit freundlicher Genehmigung von György Sámsondi Kiss, Budapest 9.19, 9.20 Mit freundlicher ­Genehmigung von Studio Märkli 10. Immaterialität und Form­losig­keit 10.1 Aufnahme Heinrich Helfenstein, mit freundlicher Genehmigung des Ateliers für Architekturfotografie Heinrich Helfenstein 10.2 Léonce Reynaud, Traité d’architecture, Atlas, Paris: Dunod, 1875, Taf. 79. Archiv Á. M. 10.3, 10.5, 10.6, 10.7, 10.11, 10.12, 10.16, 10.17 Fotos: Ákos Moravánszky 10.4 Der Architekt 1902, S. 47. Archiv Á. M. 10.8, 10.9 Fritz August Breuhaus de Groot, Bauten und Räume. Berlin-Charlottenburg: Ernst Wasmuth, 1935, S. 144*, 145. Archiv Á. M. 10.10 Foto: Paul Schulz 10.13 László Moholy-Nagy, Von material zu architektur, München: Albert Langen, 1929, S. 48. Archiv Á. M. 10.14 Mit freundlicher Genehmigung von Gramazio & Kohler Architects 10.15 Aufnahme mit freundlicher Genehmigung von Joseph Schwartz

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Prof. em. Dr. Ákos Moravánszky ETH Zürich, Institut gta

Acquisitions Editor: David Marold, Birkhäuser Verlag, A-Wien Projekt- und Produktionsmanagement: Angelika Heller, Birkhäuser Verlag, A-Wien Lektorat: Kirsten Rachowiak, D-München Layout und Covergestaltung: Ekke Wolf, typic.at, A-Wien Druck: Holzhausen Druck GmbH, A-Wolkersdorf

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