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German Pages 400 Year 2014
Vito Pinto Stimmen auf der Spur
Vito Pinto (Dr. phil.) ist Lektor, Dramaturg und Dozent der Theaterwissenschaft. Seine Forschungsschwerpunkte sind Theorie und Ästhetik der Stimme, Hörspieltheorie sowie Geschichte und Ästhetik des Musikvideos.
Vito Pinto
Stimmen auf der Spur Zur technischen Realisierung der Stimme in Theater, Hörspiel und Film
Die vorliegende Arbeit wurde als Dissertation an der Freien Universität Berlin angefertigt und eingereicht.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt Stimmen auf der Spur | 9
Nur eine technisch realisierte Stimme… | 9 Gegenstand/Ausgangspunkt | 11 Vorgehensweisen – Materialien – Fragestellungen | 13
TEIL I: THEATER Technische Realisierung der Stimme im Theater | 19
1 Verhältnis Stimme – Medientechnik: Grundlegende Bemerkungen zur Mikrophonstimme im Theater | 27 2 Trennung der Stimme vom Körper | 44 3 Akustische Großaufnahme | 46 4 Monströse Körper – Monströse Stimmen | 52 5 (Cross-Gender-)Synchronisation | 61 Luk Perceval: MOLIÈRE – E INE PASSION | 67
1 Die Ausgangssituation | 67 Thomas Thiemes Arbeit am und mit dem Mikrophon | 73 3 Audiovisualität im Theater | 105 Thomas Ostermeier/Constanza Macras: EIN SOMMERNACHTSTRAUM | 121
1 Sonderfall I: (Cross-Gender-)Synchronisation | 121 Paul Plamper: A RTAUD ERINNERT
SICH AN
HITLER
UND AN DAS
ROMANISCHE C AFÉ | 133
1 Sonderfall II: Wenn Theater zum ›Live-Hörspiel‹ wird | 133
TEIL II: HÖRSPIEL Technische Realisierung der Stimme im Hörspiel | 145
1 Mediale Grundbedingung der Radiophonie: einige medientheoretische und hörspielästhetische Prämissen | 151 2 »Lob der Blindheit«: Rudolf Arnheim revisited | 156 3 Hörspielstimmen als ›körperlose Wesenheiten‹? | 159 4 ›Totales Schallspiel‹ und ›Innerlichkeitshörspiel‹ – eine Gegenüberstellung | 164 5 Hörspiele als akusmatische Ereignisse | 177 6 Es gibt keine ›körperlosen Stimmen‹ | 182 Stimmlichkeit und Räumlichkeit im Hörspiel | 187
1 Sonosphäre im Hörspiel | 189 2 Welche Räume werden im Hörspiel inszeniert? | 191 Paul Plamper: RUHE 1 | 199
1 Eine radiophone Ausgangssituation – | 199 2 Zwei Sequenzanalysen | 213 3 Stimme, Improvisation und szenisches Spiel im Hörspiel | 224 Andreas Ammer/F.M. Einheit: C RASHING AEROPLANES (FASTEN Y OUR S EAT BELTS ) | 253
1 Originaltonstimmen im Hörspiel | 253
TEIL III: FILM Technische Realisierung der Stimme im Film | 267
1 Historische Positionen zur Stimme im Film | 267 2 Die Stimme in der frankophonen Filmtheorie | 276 Stimme im Film: Räumlichkeit, Körperlichkeit und Visualisierung | 283
1 Synchrese und Sonosphäre im Film | 283 2 On, Off oder Over? Zum Verhältnis von Stimme, Bildfeld und Rezipient | 296
3 Acousmêtre und Deakusmatisierung: Zur Visualisierung der Off-Stimme | 303 Stimmen im Film. Kurzanalysen | 309
1 Erzählerstimmen im Film | 310 2 Trennung von Stimme und Körper: Mediatisierte Stimmen im Film | 328 3 ›Ortlose‹ Stimmen: Radikale Ausprägungen der Synchrese | 343 Schluss | 367
Rückkopplungen: Wirkungsweisen technisch realisierter Stimmen | 367 Ausklang | 371 Danksagung | 375 Literatur- und Materialverzeichnis | 377
Literatur | 377 Materialien | 394 Abbildungsnachweis | 396
Stimmen auf der Spur
NUR EINE TECHNISCH REALISIERTE STIMME… Helge Schneider spricht eine Überleitung zwischen zwei Liedern in ein Mikrophon. Das ist nur wenig überraschend, da Schneider als Sänger und Musiker mit seiner Band Hardcore im BKA-Luftschloss in Berlin ein Konzert gibt. Und doch irritiert mich etwas an Schneiders Sprechen sehr, denn das Mikrophon scheint einen Wackelkontakt zu haben. Ich verstehe die Ansage kaum und nehme nur Satzfragmente und Wortfetzen wahr wie bspw. »bsschen duld muss an hab … scheinlich chnischer ler« oder »Mozart mer Pobleme geben« oder »Damals n Stromausf … vers hl … st do noch … Holger lacht … Katast … Katas … tophe«. Ich bin offenbar Zeuge einer Mikrophonstörung, wodurch sich das technische Moment einer mikrophonierten Stimme ungewollt in den Vordergrund zu drängen scheint und der Performer in seiner Performance scheitert. Und doch realisiert sich in diesem vermeintlichen Scheitern wiederum das eigentliche Ziel des Komikers: Denn meine Reaktion wie die des ganzen Publikums ist die des Lachens, auch wenn es – zunächst jedenfalls – ein ambivalentes Lachen ist: schwankend, ob wir nun eine tatsächliche und damit peinliche oder aber einer souveräne, weil inszenierte bzw. virtuos improvisierte Mikrophonstörung erleben. Erst nach über einer Minute ›wendet‹ sich die vermeintlich prekäre Situation, Schneider fuchtelt am Stecker des Mikrophonkabels herum und sagt schließlich: »Ach, das Kabel hat wohl einen Wackelkontakt« und macht unter dem aufbrausenden Lachen und Applaus des Publikums einfach weiter, als sei nichts Besonderes vorgefallen. In seiner Überleitungs-Nummer D EFEKTES MIKRO 1 führt der Entertainer vor, was geschieht, wenn die technische Apparatur mutmaßlich versagt und die sprach-
1
Gesehen und gehört im Dezember 1999 im BKA-Luftschloss, Berlin, veröffentlicht auf der CD Helge Schneider und seine kleine Band Hardcore: HEFTE BEIT !
Universal Music, 2000.
RAUS
– KLASSENAR -
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lichen, semantischen ›Inhalte‹ nur fragmentiert und unzureichend über die Lautsprecher wahrzunehmen sind. Dass sich die vermeintliche Fehlleistung letztlich als souveräner Akt und nicht als unangenehmer Störfall erweist, zeigt sich darin, dass selbst für die Rezipienten in den ersten Reihen, für die aufgrund ihrer Nähe ! " #$ stückhaft bleibt. Schneider bedient sich also des subversiven Stilmittels der inszenierten und somit simulierten Störung, um das Publikum im Saal – zumindest für einige Momente – an der Nase herum zu führen, zu täuschen, einer ambivalenten Situation auszusetzen. Die potenzielle Fehleranfälligkeit der Technik macht er sich für einen Gag zunutze, in dem er den Ausfall des Mikrophons simuliert %" & on hinterfragt. Zudem lenkt er die Aufmerksamkeit auf den Ausfall einer in ihrem Sinn gesicherten Sprache und zugleich auf den sinnlichen Überschuss einer sprechenden Stimme. Bereits in diesen Ausführungen klingt an, dass Stimme, Sprache, deren techni ' *
' # "% "nis miteinander eingehen. Dieses Verhältnis steht im Mittelpunkt der vorliegenden Studie, in der ich die unterschiedlichen Dimensionen und Funktionsweisen mikrophonierter Stimmen beleuchten werde. Dabei wird immer wieder mit Rückgriff auf eine Auswahl prägnanter Inszenierungen und Aufführungen aus den Bereichen Theater, Hörspiel und Film der Frage nachgegangen werden, wie elektro +* * ; Gemäß den differenten, sich aber auch überschneidenden medialen Bedingungen der drei zu untersuchenden ästhetischen Dispositive liegt dem Forschungsvorhaben ein interdisziplinärer Ansatz zugrunde. Untersuchungsleitende Fokusse hinsichtlich des breiten Feldes technisch realisierter Stimmphänomene sind die ihnen eignenden Dimensionen der Körperlichkeit, Zeitlichkeit und Räumlichkeit. Dabei wird mit medienästhetischen, phänomenologischen bzw. theater- und kulturwissenschaftlichen Konzepten gearbeitet und ein adäquates Vokabular zur Ana!< * # => den jeweiligen Bereich im Besonderen erarbeitet werden. Die folgenden theoretischen wie empirischen Erörterungen sollen einen fundierten Beitrag zu einer ästhetischen Theorie der mediatisierten Stimme leisten, die in dieser hier vorgeschlagenen – medienübergreifenden – Perspektivierung noch nicht oder nur in Ansätzen vorliegt.2
2
Siehe zum Forschungsstand bzgl. der technischen Realisierung der Stimme in den einzelnen Medien das jeweilige Kapitel.
GEGENSTAND/AUSGANGSPUNKT | 11
GEGENSTAND/AUSGANGSPUNKT Das für die Untersuchung grundlegende Phänomen der technisch realisierten Stimme umfasst jegliche Erscheinungsweisen der Stimme, bzgl. derer folgende elementare Konstellation vorausgesetzt wird: Es handelt sich um Stimmen, die in Kombination mit einem wie immer gearteten technischen Instrumentarium in Erscheinung gebracht werden. Zu diesem (basalen) technischen Apparat zähle ich Stimme, Mikrofon, Verstärker und Lautsprecher. Hinzu können selbstverständlich jedwede Formen elektroakustischer Effekte stoßen. Stimmen lassen sich mittels # reproduzieren. Technisch realisierte Stimmen sollen im Folgenden als körperliche Spuren verstanden werden. Diese sind Hinterlassenschaften, die zugleich auf eine Präsenz und eine Absenz des performativen Prozesses der stimmlichen Artikulation verweisen.3 Der erklingenden Stimme eignet eine sinnliche und materielle Erfahrbarkeit, die trotz ihrer »Fluidität«4 leiblich spürbar ist: einerseits weist sie asymbolische Dimensionen auf, andererseits birgt sie – als per se performatives Phänomen – einen Überschuss, der über das Semiotische hinausgeht, indem Letzteres »nicht nur konstituiert und befördert, sondern zugleich auch überschritten und unterminiert«5 wird. Der Begriff der Spur lässt sich daher »gegen repräsentationa-
3
Stimm-körperliche Artikulationen als performative Prozesse und Handlungen sind im Sinne Erika Fischer-Lichtes zunächst als nicht-referentielle Akte zu begreifen, da »sie sich nicht auf etwas Vorgegebenes, Inneres, eine Substanz oder gar ein Wesen beziehen, das sie ausdrücken sollen. Jene feste, stabile Identität, die sie ausdrücken könnten, gibt ;& " @ Q=tivität dar. Die körperlichen Handlungen, die als performativ bezeichnet werden, bringen keine vorgängig gegebene Identität zum Ausdruck, vielmehr bringen sie Identität als ihre Bedeutung allererst hervor« (Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2004a, S. 37, vgl. außerdem Dies.: Lemma »Performativität/performativ«, in: Dies./Doris Kolesch/Matthias Warstat (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie. Stuttgart/Weimar: Metzler, 2005, S. 234-242).
4
Doris Kolesch: »Ästhetik der Präsenz: Theater-Stimmen«, in: Josef Früchtl/Jörg Zimmermann (Hg.): Ästhetik der Inszenierung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2001, S. 260275, hier: 261.
5
Sybille Krämer: »Das Medium zwischen Zeichen und Spur«, in: Gisela Fehrmann/Erika Linz/Cornelia Epping-Jäger (Hg.): Spuren Lektüren: Praktiken des Symbolischen. München: Fink, 2005a, S. 153-166, hier: 157.
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le Bedeutungs- und Wahrnehmungsmodelle«6 einsetzen. Stimmen werden dementsprechend verstanden als stimm-körperliche Spuren und zeigen sich somit im Spannungsfeld zwischen Körperlichem und Zeichenhaftem, zwischen Materialität, Präsenz und Flüchtigkeit im Ort bzw. Nicht-Ort der Verlautbarung. Sie schweben + = baren Raum; sie generieren neue, eigene Bedeutungen und weisen infolgedessen > Y = $ [deutung hinaus. Ausgehend von dieser Basis lassen sich nun Formen der Kommunikation skizzieren, die mithilfe des Einsatzes elektroakustischer Geräte ganz unterschiedliche Arten der Produktion und Rezeption ermöglichen. Dadurch, dass die Stimme vom * " # entstehen in jeweils unterschiedlichen Situationen äußerst differente Modi der Wahrnehmung solcher Stimmen. Werden bspw. diese elektroakustisch verstärkten Stimmen im Theater in der Regel im Verbund mit dem sichtbaren Körper des Sprechenden als deren eigentliche Quelle wahrgenommen, so ist die Rezeption einer Hörspielinszenierung dadurch geprägt, dass die visuelle Ebene per se fehlt, ohne dass man jedoch einen ›Mangel‹ in der Rezeption erfährt. In dieser ›radiophonen‹ Situation eignet der Stimme eine andere Art von Körperlichkeit, die rein auditiv wahrgenommen wird und damit ganz andere Dimensionen der Stimmlichkeit aufzeigen kann als etwa diejenige in der visuell erfahrbaren Anwesenheit eines Sprecher-Körpers auf einer Bühne. Der Film kann in dieser Hinsicht gewissermaßen als Mittelweg zwischen Theater und Hörspiel gesehen werden, da vor allem über Montageverfahren das Zusammenspiel von auditiver Ebene der Stimme und visueller Entsprechung des Schauspieler-Körpers bestimmt werden kann. Eine der Grundannahmen der vorliegenden Untersuchung ist es, dass es sich sowohl bei der auditiven als auch bei der visuellen Darstellung des SprecherKörpers grundsätzlich um einen medial repräsentierten handelt. Bezogen auf die Stimme und ihr Verhältnis zum visuell leiblich-anwesenden Körper (Theater), zum medial-repräsentierten Körper (Film) bzw. zum imaginierten Körper (Hörspiel) ist den drei zu untersuchenden Kunstformen gemeinsam, dass es um ein Spiel von An- und Abwesenheit, von Ver- und Entbergen, von Ver- und Entdecken geht. Dies zeigt sich bspw. in der Inszenierung von Off-Stimmen im Film oder von eingespielten Originalton-Stimmen im Hörspiel. Somit werden prägnante Spielwei " ] jeweils unterschiedlichen Modi der Wahrnehmung in eine Relation gesetzt. Es gilt
^# @ ] _ 6
Erika Linz/Gisela Fehrmann: »Die Spur der Spur. Zur Transkriptivität von Wahrnehmung und Gedächtnis«, in: Epping-Jäger/Fehrmann/Linz (Hg.): 2005, S. 89-103, hier: 89.
VORGEHENSWEISEN – MATERIALIEN – FRAGESTELLUNGEN | 13
rungs- und Rezeptionsweisen des jeweils anders erfahrbaren Stimm-Phänomens in Theater, Hörspiel und Film beschreibend und analysierend herauszuarbeiten, um letztendlich näher erläutern zu können, mit welchen Mitteln welche bestimmten Effekte erzeugt werden und welche ästhetischen Strategien sich dahinter verbergen.
VORGEHENSWEISEN – MATERIALIEN – FRAGESTELLUNGEN Die Untersuchung gliedert sich in drei große Teile, in denen ich mit Fokus auf die erklingenden technisch realisierten Stimmen in Theateraufführungen, Hörspielen und Filmen einen Beitrag zu einer medienübergreifenden Theorie des Audiovisuellen herausarbeiten werde. (1) Der erste Teil – »Theater« – beleuchtet zunächst das grundsätzliche Verhältnis von Stimme und dem Einsatz von Medientechnik in einer theoretischen Perspekti; *"` * # audiovisuellen Eigenschaften und Wirkweisen der Mikrophonstimme im Theater erläutern, andererseits wird mit dem Begriff der Sonosphäre herausgearbeitet werden, welche besondere räumliche Konstellation die technisch realisierte Stimme im Theater aufmacht. Ich werde zudem die genuine Trennung von Stimme und * [ = " $ [ == @`= ;_ & Monstrosität und zur monströsen Stimme werde ich auf die technisch realisierte Stimme als stimm-körperliches Grenzphänomen eingehen. Mithilfe des herauszuarbeitenden Begriffs der (Cross-Gender-)Synchronisation soll das ambivalente Verhältnis von Stimme und Geschlecht sowie von fremder Stimme und fremdem Körper als weitere Erscheinungsweisen technisch realisierter Stimmen dargelegt werden. Nach der theoretischen Formulierung und Ausarbeitung des Begriffsapparates = _ " larisch mithilfe von Aufführungsanalysen untersucht werden. Bei der Inszenierung M OLIÈRE – EINE PASSION (Schaubühne Berlin 2007, R: Luk Perceval) werde ich auf Thomas Thiemes Arbeit am und mit dem Mikrophon ausführlich einge x & $ * sche Verhältnis von Auditivität und Visualität in der Perceval’schen Inszenierung betrachten. Die darauf folgende kurze Aufführungsanalyse der Inszenierung EIN SOMMERNACHTSTRAUM (Schaubühne Berlin 2006, R: Thomas Ostermeier/ Constanza Macras) fokussiert die unterschiedlichen Ausprägungen des Verfahrens der (Cross-Gender-)Synchronisation. Der analytische Abschnitt des ersten Teils
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schließt mit einer Kurzanalyse der Inszenierung A RTAUD ERINNERT SICH AN H ITLER UND AN DAS R OMANISCHE C AFÉ (Berliner Ensemble 2000, R: Paul Plamper), welche die darin inszenierten Übergänge zwischen Theater und Hörspiel fokussiert und diskutiert. Folgenden Fragen werde ich dabei im Verlauf des ersten Teils nachgehen: Welches sind die Unterschiede zwischen der Wahrnehmung unvermittelt hervorgebrachter Stimmen im Rahmen einer Face-to-Face-Kommunikation und der Wahrnehmung technisch realisierter Stimmen in der Theater-Situation? Welche Folgen für den Rezipienten hat die Trennung von visuell erfahrbarem Körper und auditiv wahrgenommener Stimme? Welche Dimensionen von Körperlichkeit implizieren technisch realisierte Stimmen? Wie wird mit der besonderen Körperlichkeit von Stimmen gespielt, wenn bspw. im Theater sogenannte Akustische Großaufnahmen eingesetzt werden, um die Stimme nicht mehr als Spur des Körpers, sondern im Gegenteil den Körper als Spur der Stimme in Szene zu setzen? _* = Y *; statt? Welche Konsequenzen hat dies für die intermodale Wahrnehmung zwischen auditivem und visuellem Rezeptionsmodus? (2) Im zweiten Teil – »Hörspiel« – werde ich, nach der Bestimmung des Status’ der Stimme in der Radio- und Hörspielforschung, die mediale Grundbedingung der Radiophonie anhand mehrerer konträrer medien- und theoriehistorischer Positionen diskutieren, um daran anschließend eine vermittelnde eigene Position vorzuschlagen. Ich werde dabei auf die medienästhetischen Konsequenzen der Ein-Sinnigkeit der Radiophonie eingehen und eine Kritik des Begriffs der ›körperlosen Stimme‹ formulieren. Zudem werde ich in einem gesonderten Kapitel die Generierung von Räumen und Räumlichkeit im Hörspiel und der darin inhärenten Funktionsweisen der Stimme erörtern. Daran anknüpfend werde ich drei Hörspiele analysieren, in denen in je eigener und besonderer Weise Stimmlichkeit, Körperlichkeit und Räumlichkeit in Szene gesetzt wird. Ich werde in einer ausführlichen Analyse des Hörspiels RUHE 1 (WDR/Museum Ludwig 2008, R: Paul Plamper) das besondere Verhältnis von '{ = ^ | }_ ' ;~ & _ * < * Handelns der Akteure im Hörspiel R UHE 1 betrachten. Da das szenische und impro QQ #* ses im Anschluss anhand einer Sequenzanalyse des Hörspiels H OCHHAUS (WDR 2006, R: Paul Plamper) weiter vertieft werden. Den empirischen Abschnitt werde ich mit der Erörterung des Begriffs des Originaltons sowie einer Sequenzanalyse des Originaltonhörspiels C RASHING A EROPLANES (FASTEN YOUR S EAT B ELTS )
VORGEHENSWEISEN – MATERIALIEN – FRAGESTELLUNGEN | 15
(WDR/DLR 2001, R: Andreas Ammer/F.M. Einheit) abschließen, in der u.a. dokumentarisches Stimm-Material mit nachgesprochenen Dialogen konfrontiert wird. Folgende Fragen werden dabei für diesen zweiten Teil maßgeblich sein: Welche Dimensionen von Körperlichkeit eröffnet der Einsatz unterschiedlicher Stimmen auf der akustischen Szene des Hörspiels? Wie äußert sich das Verhältnis von An- und Abwesenheit von Stimm-Körpern, welche Konsequenzen hat dies für die Rezeption? Wie verhält sich der Wahrnehmungsmodus der Innerlichkeit zur Äußerlichkeit von Stimmen, also zu ihrer sinnlichen Erfahrung jenseits = * $ visuelle Erscheinung per se körperlos? Ist es für die Rezeption der radiophonen Situation zwingend erforderlich, eine visuelle Ebene zur akustischen zu imaginieren, um ein ganzheitliches Bild eines Stimm-Körpers zu generieren? Wie ist die Wirkweise von spontanen, improvisatorischen oder szenisch ausagierten Dialogen im narrativen Hörspiel zu beurteilen? Wie ist der besondere Status von Originaltonstimmen im Hörspiel einzuordnen? (3) Im dritten Teil – »Film« – werde ich wie auch im vorangegangen einen medien- wie theoriehistorischen Zugang wählen. Den Status der Stimme in der * = " > @> Q Y $ sowie im Anschluss daran über verschiedene Ansätze insbesondere der franko ^ ;* "=> !* [ = `# v.a. auf die räumliche Verortung der differenten Ausprägungen der Stimme bezie ; * ' [ ==! se (Synthese plus Synchronisation) sowie Sonosphäre in den Blick nehmen. In der Folge soll das Verhältnis der im Film erklingenden Stimmen zum Bildfeld sowie zum Rezipienten anhand der räumlichen Zuordnungsmöglichkeiten On, Off und Over dargelegt werden bevor ich, den theoretischen Abschnitt abschließend, gesondert auf das Begriffsfeld des Acousmêtre eingehe. Im empirischen Abschnitt werde ich die Stimme im Film anhand von zehn Einzelfallstudien respektive Sequenzanalysen hinsichtlich drei unterschiedlicher Momente fokussieren: der besondere Gebrauch der (extradiegetischen) Erzählerstimme wird bei D OGVILLE (DK/SWE/UK u.a. 2003, R: Lars von Trier), S EUL CONTRE TOUS (F 1998, R: Gaspar Noé) und D AS WEISSE B AND – E INE DEUT SCHE KINDERGESCHICHTE (D/A/F/I 2009, R: Michael Haneke) herausgearbeitet werden; drei unterschiedliche werden bei IL P OSTINO (I/F/BEL 1994, R: Michael Radford), LOST HIGHWAY (F/USA 1997 R: David Lynch) und MULHOLLAND D RIVE (F/USA 2001, R: David Lynch) unter-
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sucht werden; ›ortlose‹ Stimmen, die sich einer visuellen Zuordnung nahezu bzw. in Gänze verweigern, werden mit Blick auf HIROSHIMA MON AMOUR (F/JPN 1959, R: Alain Resnais), L’ANNÉE DERNIÈRE À M ARIENBAD (F/I 1960, R: Alain Resnais), INDIA SONG (F 1975, R: Marguerite Duras) sowie »M EXICO« (UK/F/EGY u.a. 2002, R: Alejandro G. Iñáritu, Segment der Kompilation 11’09’01 – SEPTEMBER 11) erörtert werden. Folgende Fragen liegen dabei dem dritten Teil zugrunde: Welche unterschiedlichen Möglichkeiten des Stimmeinsatzes gibt es im Film? Wie wird im Falle von Off-Stimmen mit der (zunächst) nicht vorhandenen visuellen Entsprechung eines Sprechers gespielt? Welches Spiel mit der An- und Abwesenheit ergibt sich hieraus? Welche Funktion hat die Off-Stimme, etwa diejenige eines auktorialen Erzählers, jenseits der semantischen Dimension ihrer Verlautbarungen? Zielt die ' ^ =# # men ohne visuelle Entsprechung im Film, mal früher, mal später eine körperliche Quelle zuzuordnen, sogar zuordnen zu müssen? Welche Dimensionen der Körperlichkeit verbergen sich in vermeintlich ›körperlosen‹ Stimmen, die nach Michel Chion immer schon »einen Fuß im Bild« haben? Wann erhält die Stimme einen Körper? Inwieweit zeigen sich im Film Grenzbereiche zum Theater bzw. zum Hörspiel? Den Stimmen auf der Spur zu sein, wird den Prozess meiner folgenden Ausführungen bestimmen. Denn nicht nur die unwiederholbaren Stimmen einer Theateraufführung, sondern auch die reproduzierbaren Stimmen auf der Tonspur des { ^
' > # #'"lichkeit und Zeitlichkeit generierende Klangphänomene spürbar.
Teil I: Theater
Technische Realisierung der Stimme im Theater
& * " $ duktionen eingesetzt. Audio- und Videotechniken, zum Beispiel die Zuspielung von Filmbildern oder die Einspielung von Musik, nehmen einen großen Raum in Theaterinszenierungen ein und man kann sagen, dass in weiten Teilen der Theaterlandschaften der Gebrauch technischer Medien selbstverständlich geworden ist.1 [[ " %Y Theater« u.a. unmissverständlich für den Einsatz der damals neuen und spektakulären Medientechniken und bemängelt die geringe Nutzung der diversen Technologien im Theater: _ ># 'te anderer Künstler unbefangen zu übernehmen und auszubauen. Nachahmung gilt in der 1
Es ist nur kaum feststellbar, wer letztendlich inszenierungsbedingt und aus ästhetischen Gründen zuerst mit verstärkten Stimmen im Theater operiert hat. Über die generelle Verwendung der technischen Verstärkung lassen sich jedoch einige Zeitmarken bestimmen. Der seit den 1950er Jahren aktive britische Theater-Sounddesigner David Collison verortet in seiner Anthologie The Sound of Theatre – A History. Eastbourne: Plasa, 2008, die ersten Versuche der elektroakustischen Verstärkung im Theater & ; = technischen Instrumente noch mehrere Jahrzehnte, in dieser Hinsicht ist die Etablie$ & *" #* * *# [*! *%*_ ! sound reinforcement was successfully employed in stage musicals before the 1940s when more suitable microphones were being developed. T HE EARL CARROLL V ANITIES |} [*! * # but reinforcement did not become common in New York and London until the 1960s« (S. 108).
20 | STIMMEN AUF DER SPUR => ; @>#* ^ nicht so groß sind, als sie sein könnten. Das Theater im allgemeinen ist noch lange nicht auf den Standard der modernen Technik gebracht. Es begnügt sich noch mit der meist unbeholfenen Verwertung einer primitiven Drehvorrichtung für die Bühne, mit einem Mikrophon und mit dem Einbau von ein paar Autoscheinwerfern«.2
Brecht selbst fällt jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg in der Arbeit mit dem Berliner Ensemble weit hinter seine Forderungen zurück. Markus Weßendorf erklärt sich dies dadurch, dass »[n]ach 1945 kein Grund für Technikgläubigkeit [bestand]. Zu ungeheuerlich waren das Ausmaß und die Auswirkungen der im 2. Weltkrieg zur Massenvernichtung eingesetzten Technik, als daß man sie der Dramaturgie eines neuen Theaters noch als Paradigma hätte zugrundelegen können«.3 Dennoch gibt es im Nachkriegstheater auch bald durchaus Tendenzen, in denen Medientechniken eine große Rolle spielen. Als moderner Klassiker des The * {"=; #;; ' > technisch realisierte bzw. aufgezeichnete Stimmen, gilt sicherlich Becketts eigene Inszenierung von DAS LETZTE BAND (KRAPP ’ S L AST T APE) mit Martin Held in der Rolle des Krapp.4 Darin wird das Abhören der Aufzeichnungen der eigenen und jüngeren Stimme auf alten Tonbändern geradezu zelebriert, das Tonbandgerät mit seinen Stimmen zum gleichwertigen Hauptakteur erhoben. Eine konsequente und weiterführende Nutzung audiovisueller Mittel zeigt sich jedoch erst seit den 1970er Jahren, und hier v.a. im nordamerikanischen und $ #* * '< 5, Richard Fo-
[[ Y $ # ;Werke. Schriften 2.1. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 22, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1993b, S. 540-561, hier: 542. { $ ;_ die Performanz der Stimme Margit Bendokats, die – selbst unverstärkt – als ein besonderes Klangereignis zu erfassen ist, welches die Aufmerksamkeit des Hörers unverzüglich einfordert und diese uneingeschränkt an sich reißt. In mehreren Sequenzen vollzieht die einem Reibeisen gleichende Stimme einen markant-enervierenden Singsang. Sie wird zudem mithilfe eines Verzerrers in Szene gesetzt, der > `"# > der Akteurin legt und so grotesk überlagert: Margit Bendokat gibt die diabolische Baronin, die Vorsteherin eines Nachtclubs ist und die kindlich-naive Marianne
14 Lehmann: 1999, S. 274f. (Herv. i.O.). 15 Ich möchte an dieser Stelle hinweisen, dass im Verlauf der Arbeit das Theaterpublikum v.a. als zugleich sehendes und hörendes fokussiert werden soll. Daher wird in der Folge die Bezeichnung des Rezipienten als Zuschauer/-hörer bzw. Zuschauhörer (vgl. hierzu: Vito Pinto/Jenny Schrödl: »Körperstimme – Körperlose Stimme«, in: Annette Stahmer (Hg.): The Body of the Voice/Stimmkörper. Köln: Salon Verlag, 2009, S. 89-91) Anwen;
TECHNISCHE REALISIERUNG DER STIMME IM THEATER | 25
(Fritzi Haberlandt) gefügig machen und zum Animiermädchen (um)erziehen will. Die verstärkte Stimme Bendokats artikuliert sich hier als mehrfacher Gewaltakt: @*# ^ =[> ' weitesten Sinne angeht, die sich den aufgezwungenen Freudendiensten durch die Nachtclubbesitzerin fügen muss. Andererseits – und dies wird aufgrund der KoPräsenz von Schauspielern und Publikum als konkreter und sinnlich-erfahrbarer (akustischer) Gewaltakt empfunden – verspürt der Zuschauer/-hörer eine überdeutliche und eindringliche Nähe, die eine nach und nach ansteigende Abneigung > ; = nen Seite zurückzuführen auf die (in diesem Fall viel zu) große Intimität, die über die Akustische Großaufnahme hergestellt wird. Die technisch verstärkte Stimme lässt die Grenze und die räumliche Distanz zwischen Bühne und Publikum in der Tat verschwinden und zeigt sich in der Bedrohung, die von ihr ausgeht, indem sie ihrem Hörer in ihrer akustischen Fülle auf und vor allem in den Leib rückt. Auf der anderen Seite ist dieser Widerwillen geradezu offenhörbar der übertriebenen # > Verzerrereffekt jegliche Form der sprachlichen Äußerung ins Unkenntliche und Monströse transformiert. Die dargebotene Szenerie wird also sowohl für die Figur ' @ => zuhörende Publikum von Augenblick zu Augenblick unheimlicher, wenn nicht gar abstoßender und repulsiver. Die Atmosphäre wird mittels der Gewalttätigkeit der ins Groteske gekehrten Stimme, die ihre besondere Qualität über die technisch realisierte »Dominanz des Sinnlichen im Sinn« (Lehmann) hervorbringt, letztendlich weniger greifbar, aber dafür umso intensiver sinnlich erfahrbar und körperlich spürbar. Es zeichnen sich an diesem Beispiel bereits zentrale Fragen ab, wie sie auch für die ausführlichen Darlegungen weiterer paradigmatischer Theater-Inszenierungen der technisch realisierten Stimme virulent sein werden: Welche körperlichen Dimensionen der Stimme werden hier im Speziellen mittels der elektroakustischen Effekte erzeugt und erfahrbar gemacht? In welchem Verhältnis stehen Körper und Bühnenraum bzw. Körper und Zuschauerraum? Welche Effekte erzielt die durch die Mikrophonierung praktizierte Trennung von Körper und Stimme? In welchem Verhältnis stehen Stimme und Körper, Stimme und Bühne bzw. Stimme und Zuschauerraum? Wie ist der daraus resultierende akustische Raum, der sich einerseits einer akustischen Hülle oder »Blase«16 gleich über Akteure wie Zuschauer stülpt bzw. andererseits sich wie ein Eindringling im Körper der Rezipienten (sowohl Akteure als auch Zuschauer/-hörer) ausbreitet und festsetzt, näher zu be16 Vgl. Peter Sloterdijk: Sphären. Bd. 1, »Blasen«. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1998.
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schreiben? Welche besonderen Wirkungen entstehen in dieser Sonosphäre? Wie ist v.a. das Verhältnis von akustisch erfahrbarer sowie visuell wahrnehmbarer Körperlichkeit zu beschreiben? Wie ist das Phänomen der Akustischen Großaufnahme näher zu beleuchten? Wie sind des Weiteren die Begriffe des Monströsen Körpers bzw. der Monströsen Stimme einzuordnen? Und – dies spielte in Gotscheffs Inszenierung jedoch keine Rolle – nicht zuletzt wird auch das Verfahren der (CrossGender-)Synchronisation im Folgenden von Bedeutung sein. ^[ = * * %= *" _ " ; !sen können zwar selbstverständlich nicht alle Möglichkeiten technisch realisierter Theaterstimmen aufzeigen, doch decken sie ein sehr breites Spektrum des Umgangs mit der mediatisierten Stimme im Theater ab. Die ersten drei o.g. Begriffe (Trennung, Großaufnahme, Monstrosität) stehen im Fokus einer ausführlichen Analyse der MOLIÈRE-Inszenierung von Luk Perceval. Anhand Thomas Ostermeiers und Constanza Macras’ Inszenierung E IN S OMMERNACHTSTRAUM werde ich auf den vierten Aspekt (Synchronisation) zu sprechen kommen. Der abschließende Abschnitt zu Paul Plampers Theaterinszenierung des Hörspiels ARTAUD ERINNERT SICH AN H ITLER UND AN DAS R OMANISCHE C AFÉ soll als Überleitung zum { $ ] = { * rakteristika der Stimmproduktion und ihrer Wahrnehmung nachgegangen, die sich zeigen, wenn Theaterinszenierungen aufgrund der besonderen technischen Realisierung von Stimmen funktional wie ästhetisch in die Nähe zum Hörspiel als eigentlich einkanaliger, radiophoner Kunstgattung rücken. Wie verhält sich der Körper der Stimme bzw. der Stimm-Körper in einer als Live-Hörspiel in Szene gesetzten Theateraufführung?17 Wie ist darin das Verhältnis des visuell erfahrbaren Körpers zur akustisch erfahrbaren Stimme zu beschreiben und zu beurteilen? Einige zentrale Bemerkungen zur Stimme und ihrem Verhältnis zu ihrer technischen Realisierung seien jedoch zunächst ausführlicher dargelegt, um das Phänomen der Mikrophonstimme als akustisch produzier- und reproduzierbares sowie sinnlich erfahrbares Element zeitgenössischer Theaterinszenierungen näher zu bestimmen.
17 Der Gattungs-Begriff des ›Live-Hörspiels‹ wird zunächst nur aus heuristischen Grün # { ;&; #diophones Ereignis, welches prinzipiell nur den Gehörsinn anspricht. Ein Live-Hörspiel entspräche daher eher einer theatral angelegten Performance und hätte so zumindest installativen Charakter.
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VERHÄLTNIS STIMME – MEDIENTECHNIK: GRUNDLEGENDE BEMERKUNGEN ZUR MIKROPHONSTIMME IM THEATER
Eine Stimme, die in Verbindung mit einem Mikrophon und dem dazugehörigen Verstärker- und Lautsprechersystem in Erscheinung tritt, ist nicht gleichzusetzen mit der authentischen Sprecherstimme. Diese Diskrepanz ist kategorisch: Beide Stimmen sind grundsätzlich wesensverschieden, handelt es sich doch bei der Mi | * ==" } ;18 Die ›natürliche‹ Stimme wird daher zum Element einer gänzlich ›anderen‹ Realität, als sie uns beim ersten Hinhören noch vorkommen mag: Sie ist Teil des technischen Apparats.19 Die Stimme desselben Schauspielers klingt dann je nach Einsatz immer wieder anders, immer wieder neu. Die jeweilige Klangqualität bestimmt sich nun nicht mehr bloß bspw. über das Volumen und das Timbre des Sprechers * > ' +* den bzw. Schall absorbierenden Qualitäten. Letztendlich spricht man ganz anders
^ ^ ; den Körper im Film gesprochen wird. Was für ein Körper zeigt sich denn tatsächlich im Film? Es handelt sich doch schon immer um das zweidimensionale Abbild eines (realen) Körpers. Man sollte sich diese mediale Grundbedingung immer wieder bewusst machen: Es gibt in der Regel in der medialen Repräsentation keinen ›echten‹ Körper # ; 19 Umso erstaunlicher und unangenehmer ist die persönliche Erfahrung, sich selbst das erste Mal auf einem Tonband sprechen oder singen zu hören. Es kommt zu einer chiastischen und durchaus schmerzhaften Erfahrung: Das körperlich eigentlich Ureigene – die Stimme – wird in einem distanzierten Gefühl der absoluten Fremdheit zu sich selbst wahrgenommen. Hört man sich in der Regel durch seinen eigenen Resonanzraum Körper immer schon anders als Andere einen wahrnehmen, so wird einem beim Hören einer Aufnahme bewusst wie in etwa die eigene – ›natürliche‹ bzw. scheinbar ›authentische‹ – Stimme tatsächlich ›nach außen‹ klingt (vgl. hierzu auch Kolesch: 2004a). 20 Ich gehe hier nicht in die Tiefe der technischen Details der einzelnen Mikrophone ein – das kann und will ich in dieser Arbeit nicht leisten –, sondern beziehe die jeweiligen Mikrophontypen auf ihre v.a. funktionalen Aspekte.
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und Geräusche der Bewegung etc. gleichermaßen wahrnehmbar. Handelt es sich um einen Mikroport, so klingt die Stimme recht klar und nah und hat immer den gleichen Abstand zum Mund. Wird jedoch ein Hand- oder auch ein Standmikrophon benutzt, so sind die Lautstärke und der Klang nicht nur von der materialen [ == # hängig, sondern auch von der Entfernung des Mikrophons zum Mund. Der Klang * # Abstand zum Mikrophon und grundsätzlich durch den Stimmgestus des Sprechers selbst. Die Art und die Anordnung der Lautsprecher spielt für die Wahrnehmung der Stimmen ebenso eine große Rolle, denn man nimmt durch ringsum im Saal angeordnete Lautsprecher mikrophonierte Stimmen anders wahr, als wenn sie bloß zweikanalig und frontal zum Publikum ausgestrahlt werden. Über die Positionierung der Lautsprecher wird also die Gerichtetheit der Stimmen gesteuert: Sieht man den Körper des Sprechers vorn zentral auf der Bühne stehen und kommt seine Stimme bspw. zentral von hinten, evoziert dies zumindest einen irritierenden oder gar verstörenden Effekt, da anscheinend Körper und Stimme nicht zusammen gehören und keine Einheit (mehr) bilden.21 Mit Kristin Westphal lassen sich diese möglichen Irritationen bzgl. des Phänomens Stimme allgemein formulieren: »Stimmen und Körper vermögen den Raum zu strukturieren, ihn mit Klang, Bewegung und Stimmung zu füllen. Irritation entsteht, wenn wir beides nicht mehr unmittelbar aufeinander beziehen können, wie wir es bislang aus unserer alltäglichen Welt gewohnt sind. Unser Gehör ist als solches phänomenal gesehen allen Zusammenhängen entrückt, auf eine Weise, * [ ;& [ => [ > ; Die Stimme als solche zeigt mir nicht, woher sie kommt und wohin sie geht«.22
Diese Irritationen hinsichtlich der unterschiedlichen Auffassungen von visuellen bzw. akustischen Phänomenen werden durch die Position der Lautsprecher und dem Einsatz einer Surround-Lautsprecher-Anordnung geradezu unterstützt bzw. um beliebig viele Kombinationsmöglichkeiten erweitert. Der Zuschauer/-hörer wird in ein, wie Westphal es nennt, »multiperspektivisches Geschehen« hineingerissen: Es entsteht eine ungeheure Spannung zwischen Bühne und Publikum, die 21 Es sei darauf verwiesen, dass man – je nachdem, auf welchem Platz man im Zuschauerraum sitzt – selbstverständlich auch die natürlich-unvermittelte Stimme des Akteurs wahrnimmt. Es kommt so zu einer außergewöhnlich erscheinenden Doppelung der Stimme, die ihrerseits Irritationsmomente in der Rezeption provozieren kann. 22 Kristin Westphal: Wirklichkeiten von Stimmen: Grundlegung einer Theorie der medialen Erfahrung. Frankfurt a.M. u.a.: Lang, 2002, S. 137.
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eine andere Qualität aufweist als etwa die dementsprechend eindimensional wirkende Inszenierung ohne technische Realisierung. Westphal beschreibt die sogenannte ›Entwendung‹ der Stimme von ihrem Träger wie folgt: »Die ›Entwendung‹ der Stimme vom Träger läßt die über Stimmen – Hören – Sehen neu geschaffenen ›Räume‹ als zerrissene Klangräume, die nicht mehr richtungsuniform sind, erscheinen. Deutlich werden aber auch die gleichsam ›konservativen‹ Elemente von Stimme als Stimme. Der Zuhörer und -schauer wird mit vielen Möglichkeiten, Zuordnungen von Reizen, Bildern, Tönen, die im gleichen Moment erfolgen, konfrontiert. Die Inszenierung reißt ihn mit in ein multiperspektivisches Geschehen hinein. Die Augen der Zuschauer, die # [** #=> # #= ne Verankerung mehr, irren herum. Sie sind dem Subjekt ›fern‹«.23
Der große Bereich der elektroakustischen Klangeffekte schließlich lässt unendlich an der Stimme zu: Nimmt man etwa eine Stimme mit einem leichten Hall noch als relativ ›natürlich‹ und unbearbeitet wahr, so fällt einem ungeschulten Hörer meist nicht auf, dass die erklingende Stimme längst >" &==" # Grund auf dichter und voluminöser klingt als ohne technischen Effekt verstärkt. Wird die Stimme jedoch mit Verzerrer- oder Vocoder-Modulationen bearbeitet, sind diese Transformationen sogleich als deutliche Veränderung (an) der Stimme erfahrbar und können so unendlich viele Irritationsmomente und Verstörungseffekte erzielen. Diese kurzen Ausführungen sollen genügen, um festzustellen, dass die Verbindung von Stimme, Mikrophon, Verstärker und Lautsprechern (welche ich in der Folge der Einfachheit halber den ›technischen Apparat‹ nennen möchte) komple # " ; `%" Stimme zu Gunsten einer einfacheren akustisch-physikalischen Wahrnehmbarkeit führt der ›technische Apparat‹ zu ganz verschiedenen Ergebnissen auf der Produktionsebene und evoziert auf Rezipientenseite unendlich viele Assoziationen, < #&; = ^ = Gleichung auf, dass die Stimme in Verbindung mit einem Mikrophon, einem Verstärker und Lautsprechern bloß einer besseren Verständlichkeit dient. Dies wäre in der Tat viel zu simpel gedacht, denn längst werden Medien-Techniken, zu denen die technische Realisierung der Stimme ja zweifelsfrei gehört, dazu genutzt, bestimmte Stimmungen oder Atmosphären zu erzeugen, bestimmte technische > # * se Klangqualitäten zu generieren, die mit der unverstärkten Stimme allein nicht 23 Ebd., S. 136f.
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;& & und kompliziertes Gefüge aus der ›natürlich künstlichen‹ Stimme und ihrer ganz unterschiedlich ausgeprägten technischen Realisierung. Der Einsatz der Technik kann zudem noch in ganz anderer Weise wahrgenommen werden, und zwar sozusagen als die eigentliche Realität der Stimme. Die unverstärkt erklingende Stimme wird dann, wie Kristin Westphal an anderer Stelle formuliert, als mangelhaft gegenüber der ›satt und voluminöser‹ klingenden, mediatisierten Stimme empfunden: »Wie auch immer eine Stimme ›hergestellt‹ wird – sie muß, um als solche zu erscheinen * # ;~> Qrameter müssen sich demzufolge überschneiden. Auch der, der am Mischpult sitzt, muß Stimmen, die er mischt oder neu zusammensetzt, ›hören‹, nicht nur sehen, auch wenn durch dieses neue technische Medium das Hören sich gleichfalls verändert und im Sinne der In $ #` lity-Stimme als Maßstab der nicht technischen Stimme (dem Klang) überschiebt. Wir hören dann die ›natürliche‹ Stimme als ›mangelhaft‹. Das heißt, im differenten Erfahrungsfeld ver-rücken die Phänomene insgesamt: das Hören und die Stimme, der Klang selbst. Eine neue technische Norm, nämlich die neue »Natürlichkeit« eines Phänomens wird zum Maß ~ { { ; te Stimme ist verschieden von der ›natürlichen‹«.24
& # >" = $ # Überlappung von natürlich erklingender und eindeutig einer Person zuzuordnen * ' # Y# statt. Außerdem ist es unerheblich, ob die Stimmkunst des Schauspielers X ohne Mikrophon variabler ist, ›natürlicher‹ klingt oder ein größeres Volumen vorweist als die Stimme, welche Schauspielerin Y als Element des technischen Apparats dem Hörer präsentiert (bzw. präsentieren kann). Ist die Entscheidung im Erarbeitungsprozess einer Inszenierung erst einmal für den Einsatz von Mikrophonen gefallen, so ist auch die theatrale Grundsituation eine völlig andere als in einer Inszenierung, in der auf elektroakustische Mittel verzichtet wird. Reinhart Meyer-Kalkus fasst diese derart neu entstandene Realität, die ich als ›mediale Grundsituation des technischen Apparats‹ bezeichnen würde, wie folgt prägnant zusammen: »Was uns die elektroakustischen Techniken vergegenwärtigen, ist allerdings nie die Realität oder das ›Reale‹ der Stimme als solcher, wie man vielfach in der neueren Medientheorie unterstellt, sondern immer das Produkt einer bestimmten Vortragstechnik und deren tech-
24 Ebd., S. 122 (Herv. i.O.).
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nischer Bearbeitung. Aufgenommen mit einer Technologie und Apparaturen, die einen bestimmten historischen Stand repräsentieren, wird die stimmliche Darbietung in besonderer Weise eingerahmt, durch ihre Lokalisierung im Raum und gegenüber dem Mikrophon, durch die Kontrolle von Lautstärke, Volumen und Klanggestalt, durch die Bearbeitung der Aufnahme mit Hilfe von Schnitt-Techniken (mit dem Zusammenschnitt verschiedener Stimm{ => * *;* #* um uns herum sowie in uns und durch uns ereignet. Akustische Ereignisse wirken omnidirektional auf uns ein, dringen in unseren Körper, transzendieren ihn und verändern schließlich als Resonanzphänomene, die in unserem Körper widerhallen, unsere (nähere) Umgebung. Die technische Realisierung akustischer Ereignisse verstärkt in jeglicher Hinsicht diese Charakteristika, auf der einen Seite aufgrund der physikalisch besseren Wahrnehmbarkeit, auf der anderen Seite auf51 Gernot Böhme: Architektur und Atmosphäre. München: Fink, 2006, S. 76. 52 Ebd., S. 120.
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grund der höheren Intensität und Wirksamkeit des jeweiligen elektroakustischen Effekts. Somit wird der Raum als in besonderer Weise »gestimmter« Raum und somit als »Raum meiner leiblichen Anwesenheit« wahrgenommen. Dieser »leibliche Raum ist weder der Ort, den ein Mensch durch seinen Körper einnimmt, noch das Volumen, das diesen Körper ausmacht. Der leibliche Raum ist für den Menschen die Sphäre seiner sinnlichen Präsenz. Und diese transzendiert beständig die Grenzen seines Körpers«.53
_ " Q" # als wahrnehmender und als atmosphärisch spürender Mensch«54, und so lässt sich zusammenfassend mit Böhme konstatieren: »Zwar ist der leibliche Raum jeweils der Raum, in dem ich leiblich anwesend bin, er ist aber zugleich die Ausdehnung oder besser die Weite meiner Anwesenheit selbst. Der Stimmungsraum ist der Raum, der mich in gewisser Weise stimmt, aber zugleich die Ausgedehntheit meiner Stimmung selbst. Der Handlungsraum ist der Raum, indem ich handeln kann, aber zugleich der Spielraum meiner Möglichkeiten. Der Wahrnehmungsraum ist der Raum, in dem ich etwas wahrnehme, aber zugleich die Ausbreitung meiner Teilnahme an den Dingen«.55
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TRENNUNG DER STIMME VOM KÖRPER
Unter der Trennung der Stimme vom Körper verstehe ich im Rahmen der vorliegenden Untersuchungen die durch den Einsatz des technischen Apparats vorhandene Möglichkeit, die Stimme vom Sprecher lösen und in je besonderer Weise durch den Raum (des Theatersaals) ›auf die Reise schicken‹ zu können. Diese relativ schlichte Weise der technischen Realisierung der Stimme, die vermittels Sprecher, Mikrophon, Verstärker und Lautsprecher im Raum erklingt, erzeugt eine bei WeiQ & @ elektroakustischer Effekte. Es muss daher nicht immer die spektakuläre und offenhörbare Manipulation der Stimme sein, die diese Verfremdungs-Effekte erzielen kann, es handelt sich um ein viel grundlegenderes Phänomen, welches ich vor allem anhand einer Aufführungsanalyse der Inszenierung von MOLIÈRE – E INE PASSION in der Regie von Luk Perceval näher erörtern werde.
56 Vgl. Lehmann: 1999, S. 279 sowie Jenny Schrödl: »Akustische Großaufnahme«, in: Dies.: Vokale Intensitäten. Materialität und ästhetische Erfahrung im postdramatischen Theater. Berlin: Unveröffentlichte Dissertation, Januar 2010, S. 80-84.
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AKUSTISCHE GROSSAUFNAHME
Der Begriff der Großaufnahme geht auf Theorien der Photographie und des Films zurück und meint die Abbildung eines räumlich isolierten Objekts oder eines Körperteils einer Person, etwa diejenige eines Gesichts, eines Mundes oder auch eines Gegenstands, z.B. eine Pistole im Holster etc., einem Phänomen also, welches sich quasi über die Ausmaße des gesamten Bildfeldes streckt.57 Béla Balázs *"` => |} $ Mensch« zum Phänomen des Close-ups wie folgt: »Die Großaufnahme ist die technische Bedingung der Kunst des Mienenspiels und mithin der höheren Filmkunst überhaupt. So nahe muß uns ein Gesicht gerückt sein, so isoliert von aller Umgebung, welche uns ablenken könnte (auch eine technische Unmöglichkeit auf der Bühne), so lange müssen wir bei seinem Anblick verweilen dürfen, um darin wirklich lesen zu können. Der Film fordert eine Feinheit und Sicherheit des Mienenspiels, wie es sich der Nur-Bühnenschauspieler nicht träumen läßt. Denn in der Großaufnahme wird jedes Fält @ # + > Muskels hat ein frappantes Pathos, das große innere Ereignisse anzeigt. Die Großaufnahme @ # " `== ` #` ! & ;58
Balázs stellt somit den medialen Vergleich zwischen Film und Theater her, und folgert, dass die – visuelle – Großaufnahme ein ureigener Effekt des Films ist – im Gegensatz zum Theater, welches dem Zuschauer das Bühnengeschehen immer in einer Totalen präsentiert: »Auf den Bühnen sehen wir immer das totale Bild, in dem diese kleinen Momente verschwinden. Werden sie aber besonders betont, dann verlieren sie gerade die Stimmung ihrer Verborgenheit. Auf dem Film lenkt aber der Regisseur unsere Aufmerksamkeit mit den Großaufnahmen und zeigt uns nach der Totalaufnahme die verborgenen Eckchen, in denen das stumme Leben der Dinge die Stimmung ihrer Heimlichkeit nicht verliert«.59
@ # # tegorientafeln und das Gesetz als Tafel: Genau darum geht es in der Monstrosität«.71
Sowohl in Foucaults als auch in Contreras Kategorisierung monströser Phänomene handelt es sich um Mischwesen, Hybride, welche jenseits einer wie auch immer ~ ;[ " ihren Beschreibungen einen Normbegriff des Körpers. Dabei geht es im Mittelalter, in der Frühen Neuzeit sowie in der Aufklärung eher noch um eine konkrete 70 Zitiert nach: Norval Baitello Junior: »Blut und Destruktion«, in: Christina von Braun/ Christoph Wulf (Hg.): Mythen des Blutes. Frankfurt a.M./New York: Campus, 2007, S. 333-343, hier: 334; Originalreferenz: Malena Segura Contrera: »Los monstruos en/de los mass media«, in: Mercedes Arriaga Florez et al. (Hg.): # y simulacros del cuerpo femenino. Tecnologia, Communicación y Poder. Sevilla: Arcibel, 2004, S. 161-173. 71 Foucault: 2003, S. 87f., im Rahmen der Vorlesung vom 22. Januar 1975 (meine Herv., V.P.).
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und anschauliche Monstrosität, die sich meist in körperlichen Abnormitäten zeigt. Contrera entwickelt einen Begriff der Monstrosität, der über die Bestimmung des Hybrids Mensch-Tier und Mensch-Maschine hinausgeht. Sie schlägt daher die Mischwesen Mensch-Dämon sowie Mensch-Bild, die bei ihr gleichbedeutend mit Mensch-Medien bzw. Mensch und medialer Repräsentation sind, als weitere mög ;{! " ^ in der Figur des Kriminellen wieder, in dem Missetäter, der sich über das GesetzesRecht und nicht mehr über das natürlich-biologische Recht (im abnormen Körper) hinwegsetzt. Die Figur des derart Kriminellen zeigt sich im Besonderen seit der Mitte des 18. Jahrhunderts (s.u.). _
! Unheimliche Inskriptionen beschreibt Catherine Shelton hingegen die kulturell bedingte sowie jeweilig unterschiedliche Rezeptionshaltung gegenüber Monstern bzw. des Monströsen. Shelton zufolge »rücken zwei kulturelle Differenzsetzungen ins Blickfeld, die die Konzeption und Wahrnehmung des monströsen Körpers bedingen. Zum einen entfaltet sich die Auffassung des monströsen Körpers innerhalb des Spannungsverhältnisses von Norm und Abweichung. Die Differenz vom Üblichen oder vom Ideal […] ist das konstituierende Merkmal monströser Körperlichkeit. Gleichzeitig wird sie gerade durch die Deviation zur Ausnahmeerscheinung innerhalb des in Gattungen und Arten gegliederten Naturreichs. Monströse Körper zeichnen sich durch Irregularitäten aus, aufgrund derer sie in ein regelhaftes Natursystem scheinbar nicht mehr zu integrieren sind. Die monströse Gestalt negiert also gleichzeitig die jeweils gegebene physische Norm wie auch die Vorstellung eines in Klassen geordneten Reiches aller Lebewesen. Zu einer beunruhigenden oder beängstigenden Erscheinung wird sie mithin, weil sie kulturell etablierte Kategorien negiert und zu destabilisieren droht«.72
Das Monströse zeigt sich also auch hier im Schwellenbereich zwischen Norm und Abweichung, der aus heutiger Sicht kulturell – und nicht mehr natur-gesetzlich, wie etwa im Mittelalter und der frühen Neuzeit – geprägt ist. Wodurch zeichnen sich jedoch die Irregularitäten der monströsen Körper aus? Worin zeigt sich die Abnormität des Körpers?73 Zeigt sie sich in der offensichtlichen, körperlichen De72 Shelton: 2008, S. 175f. (Herv. i.O.). 73 Es ist ein wiederkehrendes Manko der zu Rate gezogenen Untersuchungen zum Monströsen, dass sie den Begriff des Monströsen zwar entwickeln und auch monströse Phänomene beschreiben, dennoch bleibt dabei meist im Unklaren, was überhaupt die Norm sein soll. Ich möchte daraus schließen, dass wir kulturell bedingt eine Ahnung davon haben, was Monstrosität bedeuten oder sein kann, sind jedoch nicht imstande konkret festzustellen, worin sich diese (körperliche) Norm zeigt. In der Regel bestimmen Gesetze die Normgrenzen, doch ist dies im Falle körperlicher Abnormitäten und Verhaltens-
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= #* *; = & "# { Zwergenwuchs? Ist demzufolge ein viel zu dicker oder zu dünner Mensch schon monströs?74 Ist eine lange bzw. eine breite Nase schon abnorm? Sind große Ohren etwa monströs?75 Worin zeigt sich die Schwelle vom ›Normalen‹ zum ›Mons *"*~ #[ gar Unheimliches implizieren? Oder kann das Monströse zunächst bloß Verwundern, Erstaunen oder Faszination erzeugen? Resultiert somit die Zuweisung des Prädikats ›monströs‹ aus einer rein subjektiven Haltung, da es kein tatsächliches Richtmaß für dessen Bestimmung gibt? Resultiert dies nicht wiederum aus der Unsicherheit im Umgang mit in welcher Weise auch immer Fremdartigem, Anderem? Wäre das Monströse letztendlich zu beschreiben als das radikale Andere, welches in der Konfrontation mit ihm zugleich abstoßend wie anziehend wirkt? Der Philosoph Pierre Ancet formuliert Grundsätzliches hinsichtlich der sub+ = der Künste. Freiburg: Rombach, 2008, darin im Besonderen G. Brandstetter: »Lever de Rideau – die Szene des Vorhangs«, S. 19-41.
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schnee, der sich über ein schon mit ebensolchem Schnee bedecktes Bühnenquad #=^" #* * fast über die gesamte Dauer der folgenden knapp dreieinhalb Stunden begleiten. Im zentralen Vordergrund ist ein korpulenter Mann (Thomas Thieme/ER2) an einem Mikrophonständer zu sehen, ganz in der Manier eines Rocksängers, der darauf wartet, dass die Show – wie sich im weiteren Verlauf des Abends zeigen wird, seine ganz persönliche Show – beginnen kann. Die übrigen neun Darsteller räkeln sich, sitzen oder liegen nahezu unbeweglich in starren und von der fast spürbaren Kälte des dauerhaften Schneefalls eingefrorenen Posen auf verschieden großen &@ &[; [ sind seitlich und schräg versetzt angeordnet. Einige Augenblicke verstreichen. Immer noch ist es still. Sowohl die akustische Stille als auch das visuelle Stillleben, oder besser: das Tableau vivant laden zur (gespannten) Kontemplation und Konzentration ein. Der Zuschauer kann sich so einen Überblick über die karge und unterkühlt wirkende Szenerie verschaffen. Langsam und bedächtig wird das Scheinwerferlicht gelöscht, welches auf das Publikum gerichtet ist, der lichterne Schleier bzw. Vorhang verschwindet dadurch letztendlich unter der Saaldecke. Zugleich wird die Szene hell ausgeleuchtet, und die zuvor nur schemenhaft wahrzunehmenden Akteure sind nun mehr oder weniger klar und deutlich zu erkennen, selbst wenn der dauerhafte Schneefall die visuelle Wahrnehmung verzerrt: & # [> * #* # als rolle vom Halbrund des Amphitheaters des Saals C der Schaubühne die Szene unablässig und schubweise auf das Publikum zu. Dieser visuelle Effekt wird wäh-
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Thomas Thieme verkörpert in der Inszenierung vier unterschiedliche Figuren aus den vier Molière-Stoff-Adaptionen: Alceste, Don Juan, Tartuffe sowie Harpagon. Es han $= = +* =fes der Dramen LE M ISANTHROPE (D ER M ENSCHENFEIND), DOM JUAN OU
LE
FESTIN DE
PIERRE (D ON JUAN ), T ARTUFFE OÙ L ’ IMPOSTEUR (T ARTUFFE) sowie L’AVARE (DER GEIZIGE )
von Feridun Zaimoglu, Günter Senkel und Luk Perceval unter Mitarbeit Thomas
Thiemes. In der Figur ER
% $ `
" | } schen Charakter der entwickelten Figur, die den roten Faden des Abends darstellt. Die Inszenierung beansprucht jedoch keineswegs – wie der Titel MOLIÈRE – EINE P ASSION evozieren könnte – eine Biographie des realen Leidenswegs Jean-Baptiste Poquelins genannt Molière nachzuzeichnen. Gegen eine ›biographische Lesart‹ der Inszenierung spricht u.a., dass Molière bspw. im T ARTUFFE den Orgon, und nicht den Tartuffe sowie im D ON JUAN nicht den Don Juan, sondern seinen Diener Sganarelle, eine dem Arlecchino verwandte Figur, spielte.
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rend der gesamten Spieldauer anhalten und zudem meine Aufmerksamkeit wiederholt auf meine eigene Wahrnehmung lenken. Wiederum vergeht ein längerer Zeitraum, in dem uns dieses Stillleben dargeboten wird, das ja genau genommen alles andere als still ist, da zumindest der Schnee unablässig von der Decke fällt. Man wartet als Zuschauer darauf, dass darüber hinaus etwas geschieht und die Akteure zu sprechen beginnen oder sich bewegen, sodass sich eine ›tatsächliche‹ Handlung in Gang setzen kann: Gemäß der traditionellen Bühnenkonvention hat sich – hier materiell anders als für gewöhnlich realisiert – der Vorhang geöffnet und einen blickdurchlässigen Schleier aus Schnee hervorgebracht, das Publikum erwartet nun Aktion. Doch zunächst lädt lediglich ein karges Tableau aus zehn Personen, zehn Lautsprechern und einem Mi "| *"} ; * = überdimensionale Schneekugel, die darauf wartet, kräftig durchgerüttelt zu werden, damit – in diesem Falle – auch etwas anderes als der fallende Schnee in Bewegung geraten kann. Es dauert letztlich objektiv gesehen nur eine knappe Minute, bis Thomas Thieme seine Stirn zum Mikrophon führt, sie dort für einige Sekunden belässt und schließlich mit einer kleinen Bewegung seinen Kopf gegen das Mikrophon stößt und einen Knall hervorbringt, der nicht der visuell wahrnehmbaren und kurzen Bewegung entspricht. Obwohl zu erwarten ist, dass irgendetwas geschieht, schreckt man als Rezipient durch dieses akustisch überdimensionierte und nicht im Verhältnis zur eigentlichen körperlichen Bewegung stehende Geräusch auf: Die visuell unscheinbare Bewegung Thiemes erzeugt einen akustischen Knalleffekt mittels der immensen Lautstärke und der großen Halligkeit des hohlen, dumpfen Klangs, der sich ganz eindringlich im Gehör des Zuschauers/-hörers festsetzt und durch die dumpfe Vibration in den Körpern aller Anwesenden resoniert. Es bleibt jedoch nicht bei diesem einmaligen akustischen Effekt, denn das Knall-Geräusch wird in der Folge noch für ungefähr zwei Minuten rhythmisch wiederholt. Bald wird dieses Geräusch nach Thiemes fünftem Kopfstoß an das Mikrophon von einem ebenso rhythmischen Doppelschlag mit den Händen auf das Mikrophon von Kay Bartholomäus Schulze begleitet und unterstützt: Dieser Doppelschlag klingt – für alle Beteiligten eindringlich hörbar – wie ein pulsierendes und achtzig Mal pro Minute schlagendes Herz. Dieser simulierte Herzschlag bestimmt den Takt der folgenden Sequenz, die wie ein siebenminütiger ›Rocksong‹ aufgebaut ist: Denn sowohl der Bühnenaufbau und der Einsatz des Shure SM 58-(Gesangs-)Mikrophons3 der Akteure als auch die Steigerung, die in der Fol3
Das Shure SM 58 ist ein dynamisches Bühnen-Gesangsmikrophon, welches seit 1966 (!) unverändert hergestellt wird. Es gilt als das weltweit meistverkaufte professionel # * ;; ' Q %* | -
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ge durch die musikalischen Elemente erfahren wird (über Mikrophone verstärk' ! x$ $'= x # Thomas Thiemes als Reminiszenz an Rockmusik) und somit einem klaren Höhepunkt entgegensteuert, deuten auf eine Situation wie in einem Rockkonzert hin. Die sich nach und nach steigernde Performance mündet schließlich und abrupt in der absoluten und verhallenden Stille, des Verklingens, in einem langen Moment des Innehaltens, des Zu-sich-Findens, des Zu-sich-Kommens, des Atemholens. $ >=" * # das Mikrophon gestoßen ist, das Wort »Liebe« mehrfach ins Mikrophon, bis er es schließlich laut und deutlich ausspricht. Parallel dazu erwachen die anderen posierenden Akteure aus ihrem statuarischen Schlaf und beginnen, an der Szene aktiv teilzuhaben und sich dabei an dem von Schulze erzeugten pulsierenden Herzschlag rhythmisch zu orientieren. Es entsteht ein Klangteppich aus Sprechstimmen, der die anderen Akteure mittels des Stimmenwirrwarrs nun auch akustisch etabliert: ein Gemisch aus Geräuschen, kleinen Gesangsübungen und kurzen Wort- oder Satzfragmenten, die den musikalischen Hintergrund der stimmlichen Verlautbarung Thiemes ausgestalten. Die Spieler erhalten so die Funktion des Background-Chors sowie der Rhythmusmaschine. Der Fokus bleibt in dieser Sequenz =$ #=$#
= | } #sen Spektrum sich – allein in dieser Szene – vom leisen Hauch bis zum kurzen, spitzen Schrei erstreckt (Abb. 1). Hinzu kommen Thiemes Bewegungen und Aktionen mit dem Mikroständer, die den gängigen Rockklischees entsprechen: Mit melancholisch gesenktem Blick hält er etwa das Mikrophon mit einigem körperlichen Abstand zum Ständer, den er außerdem immer wieder lässig hin und her schwingen lässt, Thieme presst die Stirn wie in Gedanken versunken an das Mikrophon usw. Das Mikrophon wird neben Thomas Thieme zum gleichwertigen Hauptakteur der Inszenierung und so als ein medienästhetischer Effekt – im Sinne Hans-Thies Lehmanns – etabliert:
he hierzu Thomas Görne: Mikrofone in Theorie und Praxis. Aachen: Elektor-Verlag, 8
#;=;};& #
Besprechung (Lippenkontakt) der Klang noch sauber bleibt und im Bassbereich nicht überzeichnet wird« (S. 63). Wichtig wäre noch zu erwähnen, dass es sich nicht um ein Funkmikrophon handelt, so dass der Bewegungsspielraum des jeweiligen Akteurs von der Kabellänge abhängig ist. Ginge es also rein um eine prothetische Verwendung des Mikrophons, wäre der Gebrauch eines kabellosen Funkmikrophons sicher angemessener und funktionaler.
DIE AUSGANGSSITUATION | 71
»[…] der betonte und bewußte Wechsel der natürlichen und der verstärkten Stimme, die Position des Spielers als Entertainer, der sich direkt ans Publikum wendet wie in den @ = ' # == $ überdeutlich, daß hier ein bewußtes Spiel mit der ›Anwesenheit‹: ihrer künstlichen Auswei# %" ; == Show: als bewußtes und bewußt gemachtes Verfahren bleibt das Mediale nicht einfache Effekt- und Affektproduktion, sondern verweist auf eine organisierende Instanz, nämlich die Theatergruppe, die mit dem Bewußtsein des Zuschauers in einen virtuellen Dialog tritt, der trotz aller Zeitschichtungen der An- und Abwesenheit in der Gegenwart des Theater-Zeit;4
Abb. 1: Thomas Thieme während der Anfangssequenz des MOLIÈRE Die Anfangssequenz des MOLIÈRE öffnet die Wahrnehmungskanäle der Zuschauer für das Auditive, das Stimmliche und deren technische Realisierung: Der immateriell in Szene gesetzte Vorhang aus Licht, der nicht starr – wie sonst üblich – den Raum des Geschehens, also den Bühnen- vom Zuschauerraum trennt, sondern gerade den Zuschauerraum ausfüllt, gezielt ausleuchtet sowie die Rampe überschreitet, funktioniert im Modus der gerichteten Bewegung auditiver Phänomene. Die Lichtwellen dringen zwar nicht – wie Schallwellen – in den Körper des Rezipienten ein, jedoch kommt ihm dieser Vorhang aus Licht genauso entgegen wie Klang. Im Bühnenraum wird zudem durch das Spiel von Licht und dem ste-
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Lehmann: 1999, S. 425.
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tig fallenden Kunstschnee eine Fluidität in Szene gesetzt, wie sie sonst eher in der stimmlichen Artikulation erfahrbar ist. und das ist auf den ersten Blick ein wenig verwunderlich –, den Pegel der Stimme auf einem gleichen und hohen Niveau zu halten, sie nicht übersteuern und somit die Grenze zur akustischen Verzerrung überschreiten zu lassen; schließlich schreit Thieme nicht, er brüllt vielmehr.11 Durch die nahezu unveränderliche Intensität12 dieser Stimmgeste gerät man als Zuhörender fast schon selbst in eine Art Trancezustand, der die Sinnhaftigkeit des Gesagten und die Sinnlichkeit der Verlautbarung sich miteinander vermischen und als kaum voneinander trennbar erscheinen lässt. Der Zuschauer/-hörer wird somit von dieser permanenten und in gewisser Hinsicht monotonen und auf einem hohen Pegel artikulierten Anrede eingelullt und gerät – wenn man sich nicht körperlich abwendet und den Saal verlässt – in die Fänge der Stimme Thomas Thiemes und ihrer bemerkenswerten akustischen Prä ;' $ # |* *"} involviert, fühlt sich schließlich als eigentlicher Adressat der laut hervorgebrachten Anklage und folglich dieser in gewisser Hinsicht mitverantwortlich. Doch wie kann man als Theaterzuschauer/-hörer adäquat auf diese (ungewollte) Zudring dem Schluss der Beleidigungs-Entäußerung entgegen. Man lässt sich also in den Sog dieser rauschhaft vorgetragenen Stimmgeste hineinziehen, ohne den tatsächlichen (Zeit-)Punkt der abschließenden Replik kennen oder erahnen zu können. Schließlich beendet Thieme/ER mit den folgenden Sätzen seine erste große Schimpftirade und hinterlässt beim Zuschauer/-hörer einen intensiv gespürten Nachhall, der im eigenen Körper resoniert: ER: Will mir also dieses Pack den Humanismus lehren? Ich will den ganzen Menschenmüll zum großen Haufen kehren!
11 _ ] * [> +* Artikuliertheit: Während Brüllen v.a. ein lautes und mächtiges, aber immer noch kontrolliertes Rufen bedeutet, wirkt das Schreien unkontrollierter. Sicher sind die Gren * [> ` * + & ' # ;&; * ten und dadurch semantisch weniger verstehbar als ein Brüllen. 12
Vgl. speziell zu »Situationen vokaler Intensität« Schrödl: 2010, insbesondere S. 6ff.
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Stimme und Stille I Eine plötzliche und erwartet-unerwartete Stille setzt ein und überzieht den großen, noch wenige Augenblicke zuvor mit einer großen Lautstärke ausgefüllten Theaterraum mit einer Glocke bzw. Hülle aus Schweigen. Der Lärm löst sich auf und `> * ;& [ ~ => "; klanglichen Konstanten sind das nur kaum wahrnehmbare Geräusch des rieselnden Schnees und das Knacken, welches hin und wieder von den Bühnenscheinwerfern erzeugt wird. Es geschieht nun etwas, das gerade nicht in das vielfach wiederholte und ritualisierte Schema eines Rockkonzerts passt, welches von der Inszenierung bisher in zentralen Aspekten aufgerufen wurde: Es brandet kein (Zwischen-)Applaus auf. ~$ # @`= ![ " * ` >gang markiert. Die Stimme Thomas Thiemes erfüllt in dieser Sequenz letztendlich vielerlei (musikalische) Funktionen: als Rhythmusgeberin, als Medium für einen rhythmisch
$# = Y # * zugleich in einer Sequenz vom klar artikulierten Wort in Form der Rede zum desartikulierten Körper-Geräusch eines monströsen Grunzen changiert. Somit entsteht aus dem stimmlichen Vortrag Thiemes und dem Klappern der Stöckelschuhe
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Ziolkowskas ein obszön vorgetragener Soundtrack aus stumm gestellter Pornosequenz und geiferndem Voyeur. Y * @" # # Rhythmusinstrument aufgefächert, und diese drei Elemente werden nebeneinander gleichermaßen wahrnehmbar und auffällig, d.h. es wird keine dieser unterschiedlichen Funktionen in den Vordergrund gerückt. Konzentriert man sich etwa auf den $ $# @"
= Körper-Stimme ein und lenkt die Aufmerksamkeit auf die Leiblichkeit der Stimme, fort von ihrer medialen Funktion als Trägerin sprachlicher Aussagen. Lässt man sich als Zuhörender von der tranceartigen Wirksamkeit des Thieme’schen Sprachgestus anstecken, so wird einem bald deutlich, dass diese Effekte nur mittels der Verstärkung der Stimme und des technischen Apparats möglich sind und auf diese Weise die Aufmerksamkeit vom Wirkpotenzial der Stimme vielmehr auf ihre technische Realisierung gelenkt wird. Dadurch wird dem Zuschauer/-hörer bewusst gemacht, dass das Potenzial der nah und intim erfahrenen Stimme in dieser Inszenierung nur mittels der elektroakustisch genuinen Trennung von Stimme und Körper möglich ist. Die visuell erfahrbare Erscheinung bzgl. ihrer akustischen Entsprechung wird so als verzerrt wahrgenommen. Grenzen visuell wahrgenommener Distanz und akustisch erfahrbarer Nähe werden aufgebrochen zugunsten einer gleichzeitigen ›nahen-fernen‹ bzw. ›auditiven-visuellen‹ Wahrnehmung. Derart stellt sich die grundlegende Eigenschaft der Akustischen Großaufnahme im Theater bzw. in einer theatralen Situation mit technisch realisierter Stimme dar (und aus). Dies mündet in einer Wahrnehmung des ›gemeinsamen Nebeneinanders‹ der unterschiedlichen Wahrnehmungsmodi, oder besser: in einer Art intermodaler oder cross-modaler Wahrnehmung, im Gegensatz zu einer oftmals metaphorisch als ›synästhetisch‹ bezeichneten Wahrnehmung im Theater.20 Visuelle Erscheinungen interagieren sicherlich mit akustischen Ereignissen und bilden ein gemeinsames Drittes, welches mal den einen, mal den anderen Wahrnehmungsmodus stärker evoziert. Farben werden jedoch dadurch nicht hörbar, ebenso wenig werden Töne sichtbar, selbst wenn der Wortschatz hierzu ein beträchtliches Reservoir an Formulierungen anbietet. Man darf so – dies sei hier jedoch nur am Rande 20 ] % * #*] = weiteren Sinne, also den Sinn des Olfaktorischen, des Taktilen sowie des Gustatorischen ausweiten würde. Dies macht die schiere Unmöglichkeit deutlich, ein adäquates Vokabular zur Beschreibung intermodaler Wahrnehmung – will man alle Sinne zu ; ] Q " * visueller Art kann also nur als der Beginn einer Auseinandersetzung mit den intermodalen Wahrnehmungspotenzialen angesehen werden.
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erwähnt – einerseits nicht in einer bloß metaphorischen Sprache verharren und andererseits den pathologischen Ausnahmefall der ›echten‹ bzw. ›genuinen‹ Synästhesie zum Regelfall erklären wollen.21 Klar dürfte auch sein, dass dies, bezogen auf die unterschiedlichen Gegenstände meiner Ausarbeitungen, zunächst nur für akustische Erscheinungen des Theaters bzw. theatraler Situationen gelten kann. Für das Radio bzw. das Hörspiel gelten diesbezüglich sicher ganz andere Kategorien, da zweifelsohne die visuelle 21
Die heutige Synästhesieforschung, die v.a. an die beiden ausführlichen neurowissenschaftlichen Studien von Richard Cytowic (1989, 1993) anknüpft, ist sich uneins darüber, welche Rolle dieses Phänomen für die Wahrnehmung tatsächlich spielt. Es sind zwei Lager voneinander zu unterscheiden: Das eine gebraucht den Begriff der Synästhesie im metaphorischen Sinn, um Erscheinungen erklärbar zu machen, wann immer unterschiedliche Medien, Wahrnehmungsmodi in Bezug zueinander gesetzt werden, miteinander konkurrieren, sich gegenseitig befruchten etc. (Böhme, Waldenfels, Emrich). Das andere Lager differenziert m.E. stärker und nutzt stattdessen die Begriffe intermodale bzw. cross-modale Wahrnehmung (Behne, Rösing). Ergänzt man außerdem im Rahmen dieser Diskussion jene Relativierung des Konzepts, die Cytowic selbst für die metaphorische Verwendung des Begriffs der Synästhesie anführt, so =># [ = `; !* ziert im 2002 erschienen Beitrag »Wahrnehmungs-Synästhesie« den Rahmen, in dem [ == %* [ " im vorliegenden Band befassen sich mit historischer Synästhesie bzw. mit metaphorischer Synästhesie, was ich für die angemessenere Bezeichnung halte. Gemeint ist damit die Substitution eines Sinnes durch einen anderen oder die Vereinigung mehrerer Sinne als literarische Figur. Ich habe mich dagegen immer auf Synästhesie als ein unwillkürliches Wahrnehmungsphänomen konzentriert – etwas, das jemandem unbeabsichtigterweise passiert – und nicht als etwas abstrakt Literarisches« (in: Hans Adler/ Ulrike Zeuch (Hg.): Synästhesie. Interferenz – Transfer – Synthese der Sinne. Würzburg: Königshausen und Neumann, 2002, S. 7-24, hier: 7 [meine Herv., V.P]). Damit sei nochmals herausgestellt, dass die ›genuine‹ bzw. ›echte‹ von der ›metaphorischen‹, ›historischen‹ oder ›literarischen‹ Form der Synästhesie unterschieden werden sollte. Unbestritten sind Verknüpfungen, Transgressionen etc. zwischen den einzelnen Wahrnehmungsmodi, doch bleibt die ›genuine Synästhesie‹ die (pathologische) Ausnahme. Als Begriffsfeld zur Umschreibung – im vorliegenden Falle – audiovisueller Phänomene präferiere ich daher, weil dies letztendlich auf der Produktionsebene empirisch eindeutiger feststellbar ist, für die intermodale bzw. cross-modale Wahrnehmung. Diese Begriffe haben den Vorteil, Wahrnehmungsphänomene einerseits dem jeweiligen (Ursprungs-)Modus zuzuordnen, und andererseits Überschreitungen, entstehende Chi# * ;; = ;
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Komponente in diesem Bereich der Darstellung fehlt. Ähnliches gilt für den Film als grundsätzlich audiovisuelles Medium, welches die beiden Wahrnehmungsmodi Sehen und Hören bedient. Die besonderen Wirkungen werden hier – so meine Hypothese, die es in den jeweiligen Kapiteln zu hinterfragen gilt – v.a. über die Komposition und somit über die jeweiligen Montageverfahren erzielt, ein Effekt, der im Theater nur behelfsmäßig konstruiert bzw. nur angedeutet werden kann. 2.2 Stimmlichkeit – Körperlichkeit & @`= M OLIÈRE zeigt in besonderem Maße die Relation der Stimme zum Körper des Sprechers bzw. ihrer akustischen Erscheinung im Verhältnis zum visuell wahrnehmbaren Körper. Lässt sich die Stimme einerseits als »Spur des Körpers im Sprechen«22 oder auch als »leibliche Spur«23 bezeichnen, so verkehrt sich das Verhältnis von Stimme und Körper bzw. von visueller und akustischer Wahrnehmung in manchen Szenen der Inszenierung Luk Percevals. Meine These diesbezüglich lautet, dass in diesem Fall – und das werden die nun folgenden Analysen zu zeigen versuchen – der visuell wahrnehmbare Körper im Verhältnis zur akustischen Präsenz der Stimme weniger unsere Wahrnehmung steuert, als es in der Regel für üblich erachtet wird. Ich möchte sogar soweit gehen zu behaupten, dass gerade im vorliegenden Beispiel der Körper als visuelle Spur der Stimme inszeniert wird. Dies hätte eine grundlegend diskrepante Körper-Wahrnehmung zur Folge. Der vor unseren Augen auf der Bühne leibhaftig anwesende Körper erschiene somit ›kleiner‹ und dementsprechend weniger wirkmächtig als sein akustisches Pendant, welches sich über Stimme, Mikrophon und Lautsprecher vermittelt. " => _ lichkeit. Denn der körperliche Einsatz ist im Vergleich zu vielen anderen Inszenierungen (auch denjenigen von Luk Perceval) auf den ersten Blick verschwindend gering, da die ganze Szene und somit auch das Körperspiel statisch und tableauhaft wirken. So resultiert die körperliche Erschöpfung, die Thomas Thieme eindeutig anzuhören und anzusehen ist, und die nur bis zu einem gewissen Maß inszeniert
# @` @ tikulation. Wollte man den Kritikern des Gebrauchs von Mikrophonen im Theater folgen, sollte diese Erschöpfung ja eigentlich geringer sein, da ihnen zufolge das Mikrophon als reine Prothese, als Mittel der Unterstützung und nicht der zu22
Krämer: 2005a, S. 157.
23
Dieter Mersch: »Präsenz und Ethizität der Stimme«, in: Kolesch/Krämer (Hg.): 2006, S. 211-236, hier: 212.
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sätzlichen Verausgabung gebraucht wird. Doch das ist in dieser wie auch in vielen anderen Inszenierungen gerade nicht der Fall, vielmehr ist der Gebrauch des Mikrophons und der akustischen Verstärkung Teil der ästhetischen Strategie. Das { ¡ MOLIÈRE nach dem Vorbild eines Rockkonzerts statt – und dennoch bleibt man Theaterzuschauer/-hörer, transformiert sich die Theatersituation letztlich nicht in die eines Rockkonzerts.24 Besonders prägnant zeigt sich der Einsatz des Mikrophons in Szenen, in de>* ~" *# nen also, die unverstärkt nur kaum bzw. gar nicht wahrnehmbar wären. Es lässt sich eine stimmlich vermittelte Intimität zwischen den Figuren auf der Bühne zeigen, ebenso lässt sich eine größere Involviertheit zwischen Szene und Publi ; *" @" Qsonen, und so wird aus dem Zuschauer/-hörer eine Art Belauscher und akustischer Spitzel der Szene. Man ist als Zuschauer/-hörer nicht mehr bloß Voyeur, sondern, wenn man so will, vor allem ›Entendeur‹. Durch die oben beschriebene auditivvisuell verzerrte Wahrnehmung rückt somit die Ohrenzeugenschaft des Publikums in den Fokus des Interesses. Die kleine Geste des Flüsterns bspw., die prinzipiell ein hohes Maß an (zwischenmenschlicher) Nähe impliziert, wird hier mit dem Publikum geteilt. Dieser Effekt kann nur mittels der Überwindung der Distanz erzielt werden und funktioniert letztendlich nur mithilfe des technischen Apparats. Man wird so über den Weg des Akustischen sozusagen auf die Szene gezogen und als Teil der Bühne ins Geschehen in besonderer Weise miteinbezogen. Die akustische Zeugenschaft wird hier durch den technischen Apparat überhaupt erst hergestellt * * ¡ *"$ "# die durch diese Form der Inszenierung des akustischen Phänomens Stimme mittels Akustischer Großaufnahme erzeugt wird. Wir lauschen dem Geschehen, wir belauschen die Figuren, wir horchen hin, vernehmen das Gesagte und ge-horchen so dem Appell der Stimme, hier in der besonderen Verlautbarung des akustisch > ^>;25 Die daraus resultierende Möglichkeit, alltäglich kaum Spürbares bzw. Vernehmbares in aller Deut24
Die Assoziation ›Rockkonzert‹ ist aufgrund bestimmter Strukturelemente, auf die ich zu Beginn meiner Analyse eingegangen bin, hinreichend belegt worden. Doch gerade Q ~ nicht eintretendem Zwischenapplaus andererseits sowie das fast durchgängig statische Arrangement lassen eher den Schluss zu, man verfolge eine theatrale Performance respektive eine theatrale Installation, die Elemente eines Rockkonzerts zitiert.
25
Ähnliches gilt für die zuvor beschriebene rhythmische Stimulierung der simulierten Kopulation durch Thiemes Tippen auf den Kopf des Mikrophons: Man schwingt sich als Zuschauer/-hörer in den ›Groove‹ Thomas Thiemes ein, selbst wenn man sich per-
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lichkeit wahrnehmen zu können, ist eine in diesem Fall nur der Inszenierung der Mikrophonstimme ermöglichte Wirkmacht. Der Zuhörer wird somit nicht bloß zum Zeugen des Geschehens auf der Bühne, sondern er wird zugleich zum ›ohnmächtigen‹ Komplizen der Inszenierung (gemacht), ob er will oder nicht, denn die Ohren lassen sich grundsätzlich nicht gegenüber dem Akustischen verschließen @ *" ;26 Daher eignet der Akustischen Großaufnahme im Baudrillardschen Sinne etwas Obszönes oder Pornogra ;27 Doch löst sich die Wahrnehmung der Akustischen Großaufnahme eines intimen Flüsterns nicht etwa auf, wie dies bei Großaufnahmen im visuellen Medium der Fall ist: wo der Blick im ›Nichts‹ eines Bildpunkts oder im ›blinden Fleck‹ eines Pinselstrichs verloren geht und der Betrachter eine Separierung und Zurückweisung vom visuellen Gegenüber erfährt. Überwindet man die räumliche Distanz zu einem Bild über die gerichtete körperliche Bewegung dorthin bzw. mittels einer Makroaufnahme, so verschwindet irgendwann das dargestellte Phänomen und löst sich im Dunkel des nicht mehr Wahrnehmbaren auf. Die akustische, intime Nähe hingegen wird zeitbasiert generiert. Mit dem Eintritt der Schallwellen ins Gehör ist die räumliche Distanz längst überwunden und erzeugt so den gemeinsamen Raum der Sonosphäre. So verschwindend ›klein‹ etwa das kaum sönlich von dem, was gesagt bzw. auch was beobachtet wird eher abgestoßen als ange => ; = ; 26
Ich möchte betonen, dass man selbstverständlich gewisse Klänge, Töne, Worte, Stimmen überhört bzw. auch bewusst > ; == ;&; = in habitualisierten, immer wiederkehrenden und v.a. alltäglichen Situationen zu. So " *;" & ~" des Wohnhauses mehr oder weniger bewusst ausblenden. Im Falle einer Theateraufführung jedoch, an der man (selbst) mehrfach als Zuschauer/-hörer partizipiert, stellt sich meiner Meinung nach dieser Habitualisierungseffekt des absichtlichen Weg- und Überhörens nicht ein. Dies liegt an der konkreten Erwartungshaltung, mit der man eine Theateraufführung besucht, denn dort will man wahrnehmen, die Aufmerksamkeit fokussiert das Geschehen auf der Bühne sowie um einen selbst herum. Vgl. zur sogenannten »Habituation« im Film auch Flückiger: 2007, S. 252: »Bei wiederholter ' ^ ' @* statt, die man Habituation nennt. Deshalb vergessen wir Störgeräusche wie technische Deformationen, wenn sie kontinuierlich vorhanden und relativ konstant sind. […] Bei sehr hohen Lautstärken bleibt die Habituation aus. Es kommt stattdessen zu einer Daueraktivierung, die eine Verteidigungsreaktion auslöst«.
27
Vgl. Jean Baudrillard: »Videowelt und fraktales Subjekt« (1988), in: Karlheinz Barck et al. (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig: Reclam, 1990, S. 252-264, hier: 254.
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wahrnehmbare Wimmern einer Stimme als Spur des Körpers auch sein mag: als Akustische Großaufnahme wird diese immer als eine mikrophonisch verstärkte Stimme erkannt und wahrgenommen. Dies ist bei der unendlich vergrößerten visuellen Aufnahme nicht möglich.28 Die Akustische Großaufnahme geht zwar in den meisten Fällen mit angehobener Lautstärke einher, äußert sich aber nicht ausschließlich darüber, sondern kann ebenso mittels Mischung und Frequenz-Einstellungen erzeugt und wahrgenommen werden.29 @`= *" die offenhörbare Inszenierung eines Schreis oder eines lauten Gesprächs, sondern meint eher die akustische Vergrößerung oder Kadrierung eines (sonst) kaum wahrnehmbaren Geräuschs bzw. eines kaum wahrnehmbaren Flüsterns, welches mittels des technischen Apparats nicht nur als ein Flüstern als Handlungsvollzug erkannt werden kann, sondern auch als Flüstern mit einem bestimmten semantischen Gehalt. Die Akustische Großaufnahme kann mittels der Verstärkung und Übertragung via Lautsprecher die gesamte Szene und den Zuschauerraum einnehmen und somit die akustische Atmosphäre bestimmen und Spieler wie Zuschauer mit ihrer tönenden Glocke umhüllen bzw. in ihre Sphäre eintauchen lassen. Die Akustische Großaufnahme überwindet die Distanz zwischen Sprechendem und Rezipienten, sie überwindet zugleich aber auch diesen Zwischenraum, indem letztendlich ein gemeinsamer akustischer Raum: die Sonosphäre entsteht, die alle Beteiligten in ihre Membran einschließt und in der Körper als visuelle Spuren der Stimmen ihren besonderen Auftritt haben. 2.3 Monströse Stimmgesten Kontrollierte Nebenhörplätze: simulierte Körpergeräusche Zu Thomas Thiemes Repertoire an Stimmgesten gehört in dieser Inszenierung auch die Herstellung von Geräuschen jenseits der Artikulation von Wort und Sprache. Ahmt er noch in der Eingangsszene im zuvor beschriebenen ersten Teil des MISANTHROPEN das Geräusch einer E-Gitarre nach und evoziert somit eine 28
Dies wird sehr eindrucksvoll in Michelangelo Antonionis Film B LOW
UP
(UK/I/USA
1966) gezeigt, in der ein immer weiter vergrößerter Ausschnitt einer Photographie sich fataler Weise für den Photographen Wilco zum Hirngespinst entwickelt. Es scheint als könne er in einer außerordentlichen Vergrößerung eines kurz zuvor gemachten Schnappschusses eine Leiche sehen, die sich jedoch später realiter als ein unregelmäßiger ›Haufen‹ abstrakter Bildpunkte erweist. 29
Vgl. auch meine Ausführungen im Kapitel »Akustische Großaufnahme und Cocktailparty-Effekt«.
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Parallele zu einem Rockkonzert, so simuliert er zu Beginn des dritten Teils (DER GEIZIGE) überdeutlich Darmblähungsgeräusche. Gekleidet in eine helle Schlafanzughose und einen dunklen Bademantel, sitzt Thieme/ER auf einem Lautsprecher (Abb. 4). Besonders auffällig ist, dass das Mikrophon mithilfe einer Schlaufe um Nacken und Ohren direkt am Mund befestigt ist. Thiemes Mund bildet nun nicht nur technisch, sondern tatsächlich auch über die ständige Berührung, über den dauerhaft physischen Kontakt, eine Einheit mit dem Mikro – eine keineswegs bloß funktionale Einheit aus Stimme, Mund und technischem Gerät. Minutenlang presst er Flatulenzgeräusche mit Zunge und Lippen in das Mikrophon.
Abb. 4: Thieme auf dem Lautsprecher mit umgebundenem Mikrophon = '
' *; | =^ '# { " = } die anderen Akteure. Sie sind allesamt als Prostituierte auf einem Straßenstrich erkennbar gekleidet. Zu den laut und überdeutlich erklingenden (mündlich hervorgebrachten) Darmgeräuschen Thiemes/Harpagons stimmen sie im Chor zunächst das Lied D IE AFFEN RASEN DURCH DEN W ALD an, Thieme hebt währenddessen sogar im Rhythmus der Geräusche mehrere Male sein linkes Bein an und unterstützt damit visuell die zunehmend grotesk anmutende Geräusch- und Chorkulisse. Der Chor singt daraufhin G UTEN A BEND, GUT’ NACHT . Thieme stoppt zwischenzeitlich seine repulsive Klangkulisse und singt die zweite Strophe langsam und gehaucht mit. Schließlich stimmt der Chor der Huren F ROH ZU SEIN BEDARF ES WENIG an: $ ¡&' * = ' ! # % $# Körpergeräusche tragen ihr Übriges zu dieser verstörenden Atmosphäre bei. An dieser Sequenz lässt sich zeigen, wie die zuvor beschriebenen Kategorien der »somatischen« bzw. »moralischen« Monstrosität (Foucault) v.a. über das Akustische in Szene gesetzt werden. Darmblähungsgeräusche in der Öffentlichkeit provozieren eine prompte Auseinandersetzung mit der Überschreitung sittlichmoralischer Vorstellungen. Lassen sich diese minutenlangen Flatulenzgeräusche ^ "= & gewisser Hinsicht tolerieren – dies könnte ja dramaturgisch als Teil der Figureninszenierung bedingt erforderlich sein –, so wird man von deren konkretem Klang, von deren akustischer Vergrößerung sowie deren Dauer so sehr eingenommen, *" @=> ' = wird. Das Innere wird hier in derber Weise in seiner akustischen Ausprägung nach außen gekehrt. Es lässt sich feststellen, dass, obwohl allen im Saal Anwesenden klar ist, dass es sich um nachgeahmte Blähungen handelt, die von Thieme produzierten Geräusche ein erweitertes, abjektes Provokationspotenzial besitzen. Zudem wird aufgrund der übertriebenen und übertrieben langen Darstellung eines durchaus natürlichen Vorgangs diesem der Status des radikal Anderen, des Menschlich-Unmenschlichen, des Tierisch-Unzivilisierten zugewiesen, sodass @" = bezeichnet werden kann. Hinzu kommt die »moralische« Monstrosität, die sich
@ ^ {>#* " terium für das Monströse darstellt. Doch überschreitet der als Zuhälter bzw. als sich in pädophiler Manier präsentierende Freier wiederum Grenzen zumindest * ;30 Die moralische Monstrosität des perversen Lüstlings zeigt sich letztendlich weniger allein über die Stimme als über die Gesamtdarstellung der Szene.
30
Es handelt sich bei dem folgenden Akt der Pädophilie nicht um einen in der Fiktion verankerten Strang, sondern um eine Spiel-im-Spiel-Sequenz, die den handelnden Figuren als solche bewusst ist.
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Im weiteren Verlauf der Szene wird zudem die Assoziation ›Bordell‹ evoziert, in der der korpulente, alte und immerfort blähende Mann den Zuhälter oder auch den ›Mann mit dem großen Geld‹ gibt, an dem sich alle anderen (Huren-)Figuren in ihrer Gier bereichern wollen. Ziolkowska/Célimène soll in einem letzten Akt der ›Gnade‹, der ›Aufopferung‹, des ›Mitleids‹ gar, der (erzwungenen) Unterwer=# & '== Q ne gesetzten Zuhälter-Geizigen Thieme/Harpagon befriedigen und sich dabei als Schulmädchen verkleiden. Neben der monetären Besessenheit scheint (inszenierte) Pädophilie dem alten Geizkragen die einzig verbliebene Befriedigung zu sein. Für das Bordell-Personal scheint es in jedem Fall eine Gelegenheit zu sein, um an die vermeintlich vorhandenen Schätze des Zuhälters heranzukommen. Der massige Körper Thomas Thiemes gerät durch die Großaufnahme der Flatulationsgeräusche in der Wahrnehmung ins Hintertreffen. Sicher: Man sieht, wie Thieme auf dem Lautsprecher sitzt und während der imitierten Blähungen gleichzeitig sein Bein hebt. Doch ist es eher das Geräusch und der alles andere verdrängende Klang, dem man sich als Zuschauer/-hörer nicht entziehen kann und von dem man vor allem anderen eingenommen wird. Es ist nicht das intensive körperliche Spiel einer Bewegung, welches die Wahrnehmung leitet, es ist das Spiel der Stimme als Spur des Körpers. Als Spur, die grotesk und hypertroph mittels der Akustischen Großaufnahme den performativen Raum der Sonosphäre ausmacht und gleichsam ein- bzw. umhüllt. Es wird hier nochmals deutlich, wie nahe ein Akteur jedem einzelnen Zuschauer/-hörer in einer theatralen Situation mittels des technisch-akustischen Apparats kommen kann. Es handelt sich dabei nicht um den spektakulären Einsatz des gesamten Körpers, der die Inszenierung vordergründig ausmacht. Es sind die Sprache und das der Figur des ER zugeord# * $ %31, die erst in der Verlautbarung der (monströs in Szene gesetzten) Stimmen und zudem unter Zuhilfenahme der elektroakustischen Verstärkung ihre volle Wirkung entfalten können. Das fast statuarisch anmutende und an ein Tableau vivant32 erinnernde Bühnenbild und Bühnenspiel erhält allem voran über das Akustische seinen hochemotionalen Charakter und schafft eine große Bindung zum Publikum – sei es nun
31
Eine weitere Besonderheit der Sprache, auf die ich jedoch nur hinweisen und nicht weiter eingehen möchte, ist die Verquickung von einerseits naivem und einfach strukturiertem Sprechrhythmus im Knittelvers und brachialem bzw. wortgewaltigem/-gewalttätigem Vokabular.
32
Siehe zur näheren Erläuterung des Begriffs des Tableau vivant den Abschnitt »Das ›eingefrorene‹ Bild«.
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in Form von Abneigung (Abjektion) oder Hinwendung (Faszination).33 So sehr, wie Thieme sich im Laufe der dreieinhalbstündigen Performance verausgabt, so sehr verausgabt sich auch mit ihm der Zuschauer/-hörer. Und es handelt sich da " `@# wahrnehmbar – ausagiert wird: Die besondere Körperlichkeit bzw. der intensive körperliche Einsatz entsteht v.a. durch die Stimmlichkeit des Hauptakteurs, die besondere stimmliche Präsenz, die mittels der technischen Apparatur immens gesteigert wird. % " $ = $ %#=+ $ $ stimmkörperlicher Einsatz, der in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt. Es zeigt sich diesbezüglich wiederum eine Parallele zum schon angerissenen Strukturprinzip der Nummernrevue eines Rockkonzerts, das die Dramaturgie der Inszenierung # { Gesten des Interpreten, des eigentlichen Zentrums, des Rhythmusgebers, des pulsierenden Herzens der Show, die vom Publikum vorrangig wahrgenommen und (zumeist mit Zwischenapplaus) goutiert werden. #Q genständige und literaturwissenschaftliche Analyse, die hier nicht konkret geleistet werden kann, liegt doch der Fokus der Arbeit auf der Performativität des ebenso eigenständigen stimmlichen Klangereignisses der Stimme Thiemes und ihrer technischen Realisierung mittels des Gesangsmikrophons des Typs Shure SM 58, * _ in weiten Teilen prägt.34 Zum einen funktioniert es als Strukturmerkmal dieser rockkonzertartigen Inszenierung. Mittels der Akustischen Großaufnahme wird zum anderen der doppelte Appellcharakter der Stimme deutlich: Nicht nur die an[> $ #> % durch den technischen Apparat wird auch der Theaterzuschauer in sehr direkter Weise adressiert. Somit ist eine diegetische ebenso wie eine über die Rampe hinausgehende Kommunikationsstruktur gegeben, welche eine Antwort auf den Appell der Stimme einfordert. Das »sonore Um-Feld« (Lehmann), das die Stimme herstellt, öffnet auf diese Weise einen »Schwellenbereich«, wird zu einem Zwischenraum, oder besser: zu einer akustischen Glocke, die im performativen Raum des Theatersaals – damit ist klar der Bühnen- und der Zuschauerraum der Sono33
Beides – sowohl die Bewegung der Abjektion als auch diejenige der Faszination – folgt in jedem Falle einer Ästhetik der Überwältigung.
34
Zudem wird das Mikrophon – wie oben schon angedeutet – auch visuell in Szene gesetzt, da es sich ja um ein verkabeltes Mikrophon handelt, welches neben seiner spezi $ " " [ ;
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sphäre gemeint – sich ausbreitet und sowohl Akteure als auch das Publikum einhüllt und vereint: ;% des atmenden Körpers weitet sich, löst die Grenze auf zu seinem sonoren Um-Raum. Was mit Atem, Anschwellen und Einziehen, beginnt – daß der Körper Vibration und Klanginstrument wird –, setzt die Stimme fort. Der Ton schafft um den Körper einen Schwellenbereich, eine lautliche Uferlandschaft: noch Körper, schon Raum des Bühnenfeldes, rhythmisch von den Ton- und Energiewellen überspült und wieder verlassen. Theater lebt von diesem Zwischen, dem Um-Feld des Körpers aus Atem, Geräusch und Stimme«.35
Und ich möchte nochmals darauf insistieren, dass die Metapher des Zwischenraums zwar treffend, aber dennoch besser durch den Begriff der Akustischen Glocke, Hülle oder Sonosphäre ersetzt bzw. besetzt werden sollte, da letztgenannte Begriffe konkreter das Flüchtige und Fluide des Phänomens Stimme – und erst =& * ziert m.E. grundsätzlich eine vorgegebene Bi-Direktionalität, die Begriffe ›Hülle‹, ›Glocke‹ oder ›Sphäre‹ greifen deutlicher die Omnidirektionalität akustischer Q "=* "% Q "mens des sich ausbreitenden Klanges im Theater-Raum gerechter. Minutenlange Beleidigungskaskaden Eine besondere Qualität der Inszenierung zeigt sich in der abschließenden Sequenz, = GEIZIGEN zuzuordnen ist. Die Intensität der Artikulation – insbesondere von Thomas Thieme – ist es, die das Verhältnis von stimmlicher Verlautbarung und semantischer Hervorbringung von Beleidigungen und zotigen Bemerkungen generiert und die Sonosphäre bestimmt. In der mit ca. 15 Minuten außergewöhnlich lang andauernden Schlusssequenz der Inszenierung kommt es zum Niedergang der Figur des GEIZIGEN Harpagon bzw. des von Thie&'; =^ '# ==" im Hintergrund aufhält, vorn in einer Reihe auf den jeweiligen Lautsprechern sitzend postiert (Abb. 5).
35
Lehmann: 1999, S. 279.
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Abb. 5 Abschluss-Tableau in MOLIÈRE – E INE PASSION Thieme/Harpagon soll, nun in der Rolle des altersschwachen (aber in keinem Falle altersschwachsinnig} " |^} Dienst erwiesen werden, um letztendlich an sein Geld heranzukommen (symbolisiert durch einen »schönen Ring«, den er an einer Hand trägt). Mithilfe einer von Ziolkowska/Célimène einstudierten ›Pädophilen-Nummer‹ soll Harpagon kurz vor seinem Ableben noch ein letztes Mal bedient werden. Dazu ›verwandelt‹ sich Ziolkowska zum klischeehaft überzeichneten Schulmädchen mit weißer Bluse, dunkelblauem, kurzem Faltenrock und knielangen Strümpfen mit dunklem Karomuster. Thieme/Harpagon wiederum wird von vier Akteuren von der Laut [ # * * = ; Der Bademantel wird durch ein weißes Dinner-Jackett ersetzt, zudem setzt Thieme eine verspiegelte Piloten-Sonnenbrille auf. Man erkennt, da Thieme nun steht, dass er eine hellblaue Inkontinenz-Windel trägt. Eine weitere Besonderheit ist – darauf bin ich schon zuvor eingegangen – [= ;+Q ! liegt nun wie der Teil einer Schlinge um den Hals (Abb. 3 und 4) und ist ein Zeichen für den bevorstehenden Tod des alten Lüstlings. Das Mikro bezeugt dies, in physikalisch-sinnlicher wie auch in sinnhafter Art und Weise. Die Mitspieler wie auch die Zuschauer/-hörer sollen am Niedergang der von Thieme/ER verkörperten Figur/en teilhaben, niemandem soll es entgehen. Der Zuhälter-Harpagon versucht der ›kleinen Célimène‹36 zum letzten Mal den Hof zu machen:
36 ~^ + $ > ;
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E R: Dein herrlich Fleisch macht mir großen Appetit Möchtest du vielleicht ein Stück Biskuit? DIE KLEINE CÉLIMÈNE: Ich muss auf meine Figur achten. E R: Ich will dich doch nicht schlachten. Ich höre dein leises niedliches Magenknurren. Es hört sich an, als würde ein Kätzchen schnurren. Das erste Mal, als ich dich sah, saßt du auf einer Parkbank. Dein Haar umspielte in wilden Strähnen dein Gesicht wie Efeugerank.
Thomas Thiemes Stimmeinsatz ist hier wieder sehr leise, gehaucht und wirkt in Anbetracht des Rahmens der hier dargestellten Spiel-im-Spiel-Situation nicht intim oder anregend, sondern vielmehr unangenehm und abstoßend: Er erfüllt in dieser Sequenz das Klischee des lüsternen alten und korpulenten Mannes, der schutzlosen Mädchen nachstellt – ein Klischee, welches sich spätestens seit Gert Fröbes Auftritt als Handpuppen spielender ›Schokoladenonkel‹37 Schrott in ES GESCHAH AM HELLICHTEN T AG (BRD/CH/SPA 1958, R: Ladislao Vajda) ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben hat. Diese Assoziation ist durchaus zulässig, vergleicht man Thiemes massige Statur und den säuselnd sich einschmeicheln wollenden Ton seiner Stimme mit den analogen körperlichen Charakteristika Gert Fröbes. Und der Stimmeinsatz zeigt auch beim Publikum – dies gilt sowohl für die anderen Akteure auf der Bühne (diegetisch) als auch für die Zuschauer/-hörer
| } < & < gegen die allzu lieblich sich artikulierende Figur (da jeder ahnt, was nun kommen muss), die Bezug nimmt auf den vergangenen (in der Fiktion tatsächlich stattgefundenen) bzw. den nun wiederkehrenden (und von der gefügig gemachten Hure durchagierten) simulierten Akt der Pädophilie. Sowohl bei den anwesenden Prostituierten auf der Bühne regt sich der Unmut – »So eine Scheiße« oder »Was für eine verdammte Scheiße, die wir uns da anhören müssen« (Thomas Bading) – als auch im Publikum; letzteres zeigt sein Unbehagen im Wesentlichen in deutlich spürbarer und allgemein entstehender Unruhe.
37
Vgl. hierzu Wiglaf Drostes Kurzgeschichte »Der Schokoladenonkel bei der Arbeit – Eine Opferrolle vorwärts«, in: Ders.: Sieger sehen anders aus. Hamburg: Edition Nautilus, 1994, S. 32-35.
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* ` | }{ kommen. Denn als Ziolkowska/Célimène auf den »schönen Ring« Thiemes/Harpagons zu sprechen kommt, fällt dieser in minutenlanges Brüllen und in eine gegen alle und Alles gerichtete Schimpftirade. Es stellt sich im Verlauf dieser langen Sequenz quasi der Verlust jeglicher Sinnhaftigkeit des Gesagten und im Gegenzug hierzu der Vortrieb der Stimme als rein sinnliches Ereignis ein – man hört eigentlich gar nicht mehr dem zu, was Thieme in seiner Anklage ›ausspeit‹, sondern lässt sich als Zuschauer/-hörer von der Art und Weise des Ausdrucks der gewaltsamen stimmlichen Verlautbarung forttreiben. Thieme/Harpagon steigert sich von Augenblick zu Augenblick, von Phrase zu Phrase und fällt immer tiefer in eine anscheinend nicht enden wollende Orgie aus Beleidigungen, Anschuldigungen und Verdächtigungen: ER: Ihr seid alle Scheiße! Eure Liebe ist Scheiße. Ich scheiße auf eure Liebe. Liebe ist Scheiße! Liebe ist die Reue nach der Geilheit. Liebe ist Frostschutz. Liebe ist Egoistenkrieg. Hoch lebe der Eigennutz. Liebe ist Palaver. Liebe ist Papperlapapp. Liebe ist, wenn ich die Liebe verfehle ganz knapp. […] Liebe ist der erste Fick nach dem großen Sündenfall. Liebe ist ein Frauenarsch, die Backen fest und prall. Liebe ist das Leben, Liebe ist der Tod in Raten. Liebe ist ein scharf gewürzter Storchbraten. Liebe ist die Nutte, die glaubt, dass sie errettet ist. Wenn sie’s schafft, dass ihr der Freier aus der Hand frisst. Liebe ist der Freier, der sie zum Traualtar zerrt. Liebe ist das Kind, das in der Wiege plärrt. Liebe ist der Nutte schöner Liebestraum. Eine Hure ist eine kaputte Fotze ohne Raum. […]
Diese Sequenz dauert ungefähr fünf Minuten an, in denen Thomas Thieme im immer gleichen, monotonen Rhythmus, in der äußerst hohen Intensität und Lautstär$ = * ;
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Schreien und Brüllen als Spuren monströser Körper-Stimmen Von einem gewissen und nicht genauer benennbaren Zeitpunkt an, ist beim Zuhörer ein Zustand erreicht, in dem er dem Gesagten nicht mehr detailgenau zuhören kann (und will): Bevor man die v.a. misogynen Phrasen verarbeitet hat, folgt schon der nächste Schwall an Beleidigungen, Hasstiraden und Anschuldigungen. Es er= *" * '|&'}Q" ' & +$ = nach vorn und wankt schließlich wieder zurück, indem er – von Ziolkowska von
> Q schiedenen Längen das »Liebe ist…!« aus seinem Mund geschossen kommt (Abb. 3). Der Zuschauer/-hörer erträgt es, oder er erträgt es nicht.39 Es rückt so die Verausgabung in den Vordergrund, die in diesem Fall von Thomas Thiemes verstärkter Stimme ausgeht und das Publikum zu einer wie auch immer gearteten Reaktion 38 => !$* ^ $ Videoaufzeichnung möglich wäre – ist in der Wahrnehmung der Aufführung nicht in der Fülle zu gewährleisten. 39
Viele verließen während dieser Sequenz – dies konnte ich in allen fünf Aufführungen, an denen ich teilgenommen habe, derart beobachten – den Saal.
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und Antwort nötigt: Auf der einen Seite zieht Thieme das Publikum in seinen Sog, in seinen Bann, die Zuschauer/-hörer sind auf diese Weise sehr stark in die Szene involviert, da – wie oben mit dem Begriff der Sonosphäre, der akustischen Hülle umschrieben – überdeutlich jegliche körperliche wie räumliche Distanz aufgehoben wird. Auf der anderen Seite sind Teile des Publikums von Sprache, Sprechgestus, Lautstärke – also von der gesamten (akustischen) Situation – dermaßen ` ¡ >=# $ sen (müssen).40 ›Herzschlag ist der Takt‹ – Der Resonanz-Körper des Zuschauers/-hörers: Stimme und Stille II Als Zuschauer/-hörer hat man Anteil an den Qualen der Figur ER (Harpagon), an der zunehmenden Erschöpfung des Schauspielers Thomas Thieme ebenso wie am Leid der anderen Zuschauer und gerät so in eine von der Inszenierung vorgegebene Leidensgemeinschaft. Ganz zu schweigen vom eigenen Er-leiden dieser Verausgabungsszene, ist es schier unmöglich, wegzuhören. Man kann sich der Stimme in diesem Fall in der Tat nur dann entziehen, wenn man von seinem Platz aufsteht und aus dem Saal geht. Denn hält man sich die Ohren zu, um die Geräuschkulisse besser ertragen zu können, spürt man immer noch die Vibration der ' Geschehen auf der Bühne (den Sturm sowie Thiemes Wanken). Die technisch realisierte Stimme wird somit nicht nur zum akustischen, sondern mittels der Vergrößerung ebenso zum haptischen, zum eindeutig spürbaren Ereignis. Man hofft als Zuschauer/-hörer nur allzu sehr, dass dieses akustisch-aggressive, monotone und scheinbar unendlich oft wiederholte »Liebe ist…!« und damit auch die Aufführung zu einem (absehbaren) Ende kommen.41 Dies impliziert auf keinen Fall = "`" und darstellende Kunst, es handelt sich um ein Phänomen, welches zugleich stillgestellt und ephemer einem Publikum dargeboten wird:
Basis amodaler Qualitäten wie Dauer (lange – kurz), Intensität (stark – schwach), Lage (oben – unten, mittig – peripher, nah – fern) usw. dafür verantwortlich, dass die mit dem Ohr und den Augen aufgenommenen Reize miteinander vernetzt werden können. Beispiele für das gleichzeitige Auftauchen amodaler Qualitäten in Bild und Ton sind: Dauer: Bewegungsrhythmus im Bild und in Kamerabewegungen – akustische Zeitmuster/Rhythmus; Intensität: Farbintensität, Kontraste von Farben und Formen im Bild – Lautstärke, Klangfarbe, Tonhöhe; Lage: visuelle Nähe/Ferne in der Perspektive, Vordergrund/Hintergrund – akustische Nähe/Ferne, Vordergrund/Hintergrund«. 50
Birgit Jooss: Lebende Bilder: körperliche Nachahmung von Kunstwerken in der Goethezeit. Berlin: Reimer, 1999, S. 19.
108 | STIMMEN AUF DER SPUR »Das lebende Bild ist damit eine Form der Übersetzung von Kunst in ein anderes Medium, die sich von anderen manueller und technischer Art grundlegend unterscheidet. Zum einen > # > == + < durch ihre Lebensnähe«.51
Markiert das Tableau vivant zwar klar eine Zwischenposition zwischen Bewegung und Bewegungslosigkeit, so ist jedoch immer das Moment des »Stillstellens«52 zentral. Der Ausgangspunkt für dieses Innehalten kann dabei unterschiedlich verortet werden: Zum einen wurde das dreidimensionale Nachstellen eines Gemäldes ª; = Q ` Theaterlaien als ein gesellschaftliches Event etabliert, Goethes Roman WAHLVER WANDTSCHAFTEN übte hierfür eine gewisse Vorbildfunktion aus. Zum anderen – und v.a. dieses Moment ist für das Folgende relevant – zeigte sich das Tableau = ^ *" Theateraufführung, um die Besonderheit der eingefrorenen Szene festzuhalten " SOMMERNACHTSTRAUM-Inszenierung eingespielt, zum anderen wird eine unten näher erläuterte Szene des ›sonic crossdressing‹ über einen stimmlich stark verfremdeten ›Einspieler‹ aus dem Off (»Nobody likes me…Everybody hates me…I am so sad…«) eingeleitet. _ => _ %fahren der Synchronisation beispielhaft und formal gesehen transparent vor: mal werden tänzerische sowie pantomimische Szenen durch Gesang, Wort und auch @" > |;; ~* *;& dinger), mal spricht ein anderer Akteur als derjenige, der die Lippen – mehr oder ! * | { = & }; Q Synchronisation von Stimme, Wort, Geräusch und Lippen- bzw. Körperbewegung wird dabei jeweils augenscheinlich sowie offenhörbar ;3 Die Mikrophonierung funktioniert in völlig anderer Weise als dies zuvor für den MOLIÈRE dargelegt werden konnte. Im SOMMERNACHTSTRAUM wird viel mehr mit phantastischen Momenten der Verfremdung gearbeitet als beim MOLIÈRE, bei dem eher intensitätssteigernde Momente stimmlicher Verlautbarung generiert wurden. Hinzu kommt, dass die Ostermeier-Macras-Inszenierung hinsichtlich des bewegungs-körperlichen Einsatzes viel dynamischer und mehr auf das Ensemblespiel ausgerichtet ist als diejenige von Luk Perceval, in der Thomas Thieme als ^= $ ist. Dies impliziert folglich einen völlig anderen Umgang mit dem technischen Apparat. Stand die Inszenierung des MOLIÈRE grundsätzlich unter dem Zeichen des basalen Spiels mit der Mikrophonierung und der artikulatorischen sowie stimm-körperlichen Verausgabung Thiemes, so präsentiert der S OMMERNACHTSTRAUM ganz transparent unterschiedliche Weisen der Synchronisation, die unter den folgenden 3
Es kommt zudem in der Inszenierung zu einer Art ›cross speaking‹, da allein in sieben Sprachen, Deutsch – dabei handelt es sich um die zumeist verwendete Sprache –, Englisch (mit britischem bzw. nordamerikanischem Akzent), Französisch, Spanisch, Ko # * {" # * ;~* ^ Erzählers – spricht hingegen durchweg traditionelles, britisches Bühnenenglisch. Au` !#=$ > * #seits ›verselbständigt‹ sich das Laufband im Laufe der Inszenierung. Dies äußert sich #* $*=> korrekt übersetzt werden.
SONDERFALL I: (CROSS-GENDER-)SYNCHRONISATION | 123
*einfache‹ Doublage, Synchronisation im Modus der Off-Stimme, Synchronisation von Handpuppen: ›Penis-Monologe‹ sowie Cross-Gender-Synchronisation (›sonic cross-dressing‹). 1.1 ›Einfache‹ Doublage als Mittel klassischer Synchronisation Im Spiel um Verzauberung, Verwünschung, Verblendung und Identitätswechsel kommt es in einer späten Sequenz der Aufführung des SOMMERNACHTSTRAUMS auf der Balustrade der doppelstöckigen Bühne zum entscheidenden Aufeinandertreffen zwischen Lars Eidinger/Demetrius sowie Bettina Hoppe/Helena.4 Der zuvor von Robert Beyer/Spuck verzauberte Eidinger/Demetrius gesteht Hoppe/ Helena seine Liebe, brüsk lehnt er daraufhin seine bisherige und eigentliche Geliebte Eva Meckbach/Hermia ab. Die Repliken Eidingers/Demetrius’ auf Hoppe/ Helena werden aber nicht in konventioneller Weise artikuliert, wie wir es als $ ¡ *;& $ ' & ¡ = andertreffen mit Helena von Beyer/Spuck mit Konfetti ›verzaubert‹ worden. Jörg Hartmann (als Troll oder Ober-Oberon oder ›einfach nur‹ als Hartmann?) über ¤ ';& [> nenrampe und mit dem Rücken zum Publikum stehend ins Mikrophon, sodass für den Großteil der Zuschauer seine Lippenbewegungen nicht einsehbar sind. Schein & # > Q! @ *" {
$ ' ; In mehrfacher Hinsicht werden hier Stimme/n und Körper voneinander getrennt: Eidinger/Demetrius spricht nicht selbst, er lässt Jörg Hartmann für sich/ ihn sprechen. Dessen Stimme wiederum ist mittels des technischen Apparats von seinem Körper abgelöst und erklingt in der akustischen Glocke, der Sonosphäre des Theatersaals. Dieser Moment der Doublage führt zu einer übersteigerten, grotesken Situation. Das klamaukartige Minenspiel Lars Eidingers unterstreicht dies zunehmend. Es handelt sich jedoch nicht bloß um einen scheinbar zusammenhangslos etablierten Witz, der eine Facette des im Rahmen der Handlung ›zauberhaften‹ bzw. ›verzauberten‹ Spiels der Figuren darstellt. Die Tatsache, dass *#= # bedingte und semantische Funktion des Sprechens mit der fremden Stimme. Die beiden Elfen Beyer/Spuck und Hartmann/Ober-Oberon legen dem durch die Verzauberung stimmlich sowie sprachlich entmachteten Demetrius die Worte in den 4
Da es sich in diesem Abschnitt um jeweils kurze Sequenzanalysen handelt, verzichte ich auf allgemeine Beschreibungen und Erläuterungen zur besonderen Atmosphäre der Aufführung, die ich besucht habe und gehe sogleich medias in res.
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Mund, die bekunden, dass er in Helena verliebt sei, was das Beziehungsgefüge des Plots mit den dramaturgischen und darstellerischen Mitteln der märchenhaften Verwechslungskomödie verkompliziert. Das formal-ästhetische Verfahren der Synchronisation stellt sich hier als ein Verfahren aus, welches prinzipiell die Grenzen von Identität infragestellt. Dies * als eine Art Stimme aus dem Off – das Off ist demgemäß über das Sprechen mit dem Rücken zum Publikum sowie über die Nicht-Sichtbarkeit des Mundes des sprechenden Akteurs markiert. Das akustisch inszenierte Off erhält somit in dieser Szene eine gewisse Transparenz, quasi in Analogie zur Vierten Wand der klassischen Theatersituation.5& Q auf der Bühne, den Sprecher auf der Bühne teilweise sehen zu können, ihn aber als einen solchen wahrzunehmen, der nicht auf der eigentlichen Bühne agiert, sondern wie jemand, der aus den Kulissen heraus spricht. Das Off ist somit in diesem Fall eine beliebig verschiebbare auditiv-visuelle Markierung, die nicht nur durch * * ; Es lässt sich letzten Endes keine ›ganzheitliche‹ Wahrnehmung einer von einem Schauspieler verkörperten Figur generieren. Sie unterliegt im vorliegenden Beispiel einer nahezu unbestimmbaren Fragmentierung und Differenzierung von Figurenrolle und Rollenverkörperung und darin wird vonseiten der Inszenierung & " dem Rücken zum Publikum markiert sein kann und nicht – wie in der Regel angenommen – als vermeintlich ›körperlose Stimme‹ aus den Kulissen, der Hinterbühne oder vom Band zu vernehmen ist (siehe hierzu auch das Kapitel »On, Off und Over im Film« der vorliegenden Studie).
SONDERFALL I: (CROSS-GENDER-)SYNCHRONISATION | 125
mit unterschiedlichen und ambivalenten Identitätskonzepten gespielt. Lars Eidinger ist selbstverständlich nicht Jörg Hartmann. Hartmanns Stimme ist nicht diejenige Eidingers, gehört trotz allem zum Figurenkonzept der Rolle des Demetrius, die Eidinger bislang – in recht traditioneller Weise sogar – verkörpert hat. Diese kurze Szenenbeschreibung macht die Verwobenheit von formaler (Syn > }* @|$ '} # _ "_ # * schen Zuordnungen im S OMMERNACHTSTRAUM implodieren. 1.2 Synchronisation im Modus der Off-Stimme In einer anderen Sequenz wird ebenso ein eher traditionelles Muster der Synchronisation bzw. in diesem Falle besser der Stimme aus dem Off inszeniert, ohne dass diese tatsächlich im Off wäre. Lars Eidinger sitzt an der Bühnenrampe und spricht, in der Art eines mehr lustlos agierenden Erzählers, alle Dialogstimmen *;^ ;& '> Q kum und mit dem Gesicht zu den Akteuren gerichtet, sodass man im weitesten Sinne aus der Rezeptionsperspektive von einer Off-Stimme sprechen kann, da Eidingers Mund, also die Quelle des Gesprochenen, nicht gesehen werden kann und seine Stimme als technisch verstärkte und somit als von seinem Körper getrennte Stimme aus den Lautsprechern zu hören ist.6 Eidinger übernimmt in dieser Szene die Funktion des Märchenerzählers im Sprechmodus des Off, der jedoch nicht nur die narrativen Strukturen in Gang hält, sondern v.a. die dialogischen Passagen der Handlung artikuliert. Die synchronisierten Akteure, Stachowiak/Lysander, Meckbach/Hermia, Hoppe/Helena sowie Hartmann/Demetrius (!), schneiden dazu übertriebene und grimassenhafte Fratzen und versuchen – so gut es geht –, ihre Lippenbewegungen an Eidingers Sprechrhythmus anzupassen. Zudem imitieren die Darsteller Bewegungen von Marionetten, etwa aus der ›Augsburger Puppenkiste‹ oder von fast lebensgroßen Handpuppen aus dem Bunraku. Das Besondere jedoch an Eidingers aktueller Funktion ist, dass er nicht bloß Stachowiak, Hoppe, Meckbach sowie Hartmann und die dazugehörige Figur synchronisiert, sondern gewissermaßen seine eigene, da zuvor von ihm verkörperte Rolle des Demetrius verbalisiert, die in dieser 6
Dass dies trotz allem nicht ganz so einfach zu beschreiben ist, möchte ich im Abschnitt Chion konkreter und näher bestimmen. Zu diesem Zeitpunkt möchte ich es dabei belassen, die Off-Stimme so zu charakterisieren, dass man die dazugehörige Lippenbewegung des Mundes nicht sehen kann.
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Sequenz nun von Jörg Hartmann marionettenhaft verkörpert wird. Hier zeigt sich somit nicht nur eine Umkehrung von pantomimisch agierendem Sprecher und $# '| } Schauspieler werden getauscht. Das hat zur Folge, dass Eidinger und Hartmann
> # ">gehen: Im Verlauf dieser Szene werden Funktion und Rollenidentität des jeweils anderen in Gänze umgekehrt, wobei in der zuvor analysierten Szene nur die Stim${ =& @ ==*# + '; Auditives und Visuelles treten somit ein weiteres Mal in ein Konkurrenzverhältnis, welches die groteske Situation des Rollentauschs und Identitätswechsels formal wie inhaltlich unterstreicht und verstärkt. Die fremde Stimme Eidingers wird auf die fremden Körper der anderen Darsteller ›gepfropft‹ (s.u.). Mittels des technischen Apparats, Eidingers Stimme, die an der Rampe, aber mit dem Rücken zum Publikum erzeugt wird und über die Lautsprecher zu hören ist, sowie mittels der Aktionen der Darsteller auf der Bühne wird eine ineinander verwobene und opake Situation geschaffen. Durch die Mikrophonierung von Eidingers Stimme wird in dieser Sequenz eine größere Distanz zwischen ihm und den Figuren sowie zwischen ihm und den Zuschauern/-hörern aufgebaut. Man nimmt zwar seine Stimme als eine auf der Bühne präsente wahr, jedoch als eine ›quasi-körperlose‹ und akusmatische Erzählerstimme. Zudem zeigt sich die Stimme als polyvalent wirkend, da sie sowohl den marionettenhaft agierenden Schauspielern aufgepfropft wird und so den Lebensatem ›einhaucht‹ als auch darin unterschiedliche Geschlechterkonstellationen bedient. Eidinger verstellt seine Stimme, je nachdem wessen Replik er gerade ; Q Q # %= " ! # * *; { {> $% ;; 1970er Jahren praktizierte.7 In der soeben beleuchteten Szene aus dem S OMMERNACHTSTRAUM entsteht daher eine formale sowie strukturelle Art der Amalgamie|} ! ; Tendenziell wird in dieser Sequenz – wie in mehreren anderen im Laufe dieser Inszenierung – das klassische ›Spiel im Spiel‹ in Szene gesetzt, in dem v.a. zwei Darsteller/Figuren fast untrennbar zusammengehören: Lars Eidinger und Jörg {> > ^ DIE K LEINEN STROLCHE (OUR GANG bzw. T HE L ITTE RASCALS ) (USA 1922-1944/D ab 1967); DICK & DOOF (D ab 1970) oder VÄTER
DER
KLAMOTTE (USA ab 1934/D ab 1973) sämtliche
zuvor medial bedingt nicht vorhandenen Sprechrollen sowie die Rolle des Erzählers. Dabei sprach er die diversen Charaktere mit verstellter Stimme.
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Hartmann. Eidinger/Demetrius mit dem alter ego *;Q{¡ Ober-Oberon. Es verschmelzen somit traditionelles Theaterspiel und Tanz mit Spielformen des ›Postdramatischen Theaters‹. Ganzheitliche Figurenkonzepte = * +* Q $ # ' = näher betrachteten Sequenzen – konstant. Das Identitätskonzept wird sozusagen # '#$te und Stimmen.8 1.3 Synchronisation von Handpuppen: ›Penis-Monologe‹ Unter den ›Penis-Monologen‹ verbirgt sich eine Spielart der Synchronisation von Puppen, die im S OMMERNACHTSTRAUM auf die Bühne gebracht wird: in diesen beiden Monologen – der eine von Lars Eidinger, der andere von Robert Beyer – wird zu ruckartigen Bewegungen des jeweiligen Gliedes, etwa wie zu Bewegungen von Handpuppen, gesprochen. Im ersten Fall, ganz zu Beginn der Aufführung, legt Lars Eidinger/Demetrius nach einer Stripnummer seinem Glied eine Maske an: Er steckt es von hinten in die Mundöffnung der Maske, es sieht nun aus wie eine #& ';_Q legt Eidinger die Maske an Beyers/Spucks Penis an, der wiederum dazu ins Mikrophon spricht, während Eidinger am Glied rüttelt. Auch in diesen beiden Sequenzen werden an sich schon groteske Elemente wie der als Zunge ›getarnte‹ Penis noch grotesker gestaltet, indem sie mittels der > ; => Sequenzen in den phantastischen Reigen, der in der Inszenierung des SOMMERNACHTSTRAUMS im Vordergrund steht. Zugleich besitzen sie lediglich episodenhaften und klamaukartigen Charakter. 1.4 ›Sonic cross-dressing‹ Das ›sonic cross-dressing‹ wird in einer weiteren kurzen, aber dafür umso prägnanteren Sequenz, in der Markus Gertken die Rolle bzw. das alter ego von Bettina Hoppe/Helena übernimmt, in Szene gesetzt. Dabei kommt es nicht nur zur Überschreitung von Rollenzuweisungen und Geschlechtergrenzen, sondern ebenso zur Überschreitung bestimmter Klangvorstellungen. Es kann hier im eigentlichen Sinne nicht mehr von einer Synchro8
Es handelt sich um eine über die in einer Verwechslungskomödie hinausgehende Pra # #=>+== etwa für jemand anderes ausgeben, um ein strategisches Ziel o.Ä. zu erreichen.
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nisation eines Akteurs durch einen anderen gesprochen werden, da letztendlich @ | Q } ;& ! ' {=[ {;@! "[ ' bislang von Hoppe verkörperten Helena, welches wir noch als Zuschauer/-hörer im Kopf haben. Gertkens sowie Hoppes Physiognomie lassen sich dabei eindeutigen Geschlechterklischees zuordnen: Hoppe wirkt feminin, ihr Körper ist klein und zierlich. Gertken hingegen ist groß gewachsen, vollbärtig und trägt dazu Cow! =; $ '@" % und seinen Cowboystiefeln ein rotes Kleid (›cross dressing‹). Seine Figurenrede
# '@ > #$ Helena spricht: MARKUS (HELENA): Hast du mir nicht Lysander nachgeschickt, Damit sein Lästermaul mein Aussehn lobt? Läßt du nicht deinen andern Schatz, Demetrius, Der mich noch eben jetzt mit Füßen trat, Mich Göttin, Nymphe nennen, wunderschön, Kostbar und himmlisch? Warum sagt er das Der, die er haßt? Und warum schwört Lysander Der Liebe ab, die seine Seele weitet, Und legt mir obendrein sein Herz zu Füßen, Wenn nicht, weil du ihn aufhetzt und berätst? Bin ich schon nicht wie du des Himmels Schoßkind, Von Liebe so umschwärmt, so glücksbegabt – Elend vielmehr, so ungeliebt zu lieben: Bedauern solltest du mich, nicht verachten. Auch gut! Bleibt nur, bewahrt die Unschuldsmiene.9
Gertken verkörpert dementsprechend in dieser kurzen Sequenz, wenn man so will, eine ›Rock-Rolle‹, in Analogie zur von Tiina Rosenberg10 untersuchten Hosenrol# "& %* Identitätskonzeptionen zum Einsatz gebracht wird. Doch im SOMMERNACHTSTRAUM gibt es einen weiteren klaren Unterschied im Vergleich zur Inszenierung einer Frau als Mann oder Jüngling, etwa bei Za $ = > ; 10 Siehe hierzu den Abschnitt »sonic cross-dressing« der vorliegenden Studie.
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rah Leander oder Liselotte Pulver11: Es wird hier gar nicht der Anschein erweckt, eine bestimmte Illusionswirkung zu generieren: Gertken soll für das Publikum auf jeden Fall und unverwechselbar als verkleideter Mann und nicht als androgynes
# feucht-warmen Gewächshaus. 1.2 Die mediale Situation Formal gesehen geht es in dieser Inszenierung darum, dass die Stimme Wuttkes eine in jeglicher Hinsicht medial repräsentierte ist. Grundsätzlich ist sie nur als eine mikrophonierte und via Lautsprecher verstärkte bzw. mediatisierte zu vernehmen. Folgende Elemente sprechen dafür, dass es auch hörspielähnliche Anteile in der Inszenierung gibt: Zunächst deutet das Mikrophon, welches benutzt wird, auf eine Studiosituation hin, da es sich nicht um ein gängiges Theater- und Bühnenmikrophon handelt. Ginge es um eine bloße prothetische Verstärkung der Stimme wären die Raummikrophone, über welche die besondere akustische Atmosphäre in der Pförtnerloge an die ›Außenwelt‹, also in den Zuschauerraum abgesondert wird, vollends ausreichend.10 Das große und für alle Anwesenden gut sichtbare sowie ganz und gar unhandliche Stereo-Kondensatormikrophon lässt einen bewussten, medienästhetischen Einsatz des Geräts vermuten. Es werden hier, ganz im Gegensatz zu den bisher besprochenen Inszenierungen, also weder typische Gesangsmikrophone mit oder ohne Kabel benutzt (MOLIÈRE , EIN SOMMERNACHTS TRAUM ) noch Bügelmikrophone/Headsets (G ESCHICHTEN AUS DEM W IENERWALD ). Der in sich von der Außenwelt abgetrennte und abgeschlossene Raum deutet auf eine radiophone bzw. in Grenzen auch televisuelle Produktion hin. Der Theatersituation ist so die radiophone bzw. televisuelle Situation quasi ›aufgepfropft‹ (s.o.) und die klassische immaterielle Vierte Wand ist in diesem Fall eine ›reale‹, aber
{ # Besonderen die klanglichen Aspekte des Gesprochenen fokussiert, v.a. Wiederholungen von immer wiederkehrenden Worten, Phrasen und Sätzen.11 Hinzu kommt, dass Wuttkes stimmlicher wie körperlicher Gestus zwar einerseits auf seine frühere Theaterarbeit in DER AUFHALTSAME AUFSTIEG DES ARTURO UI 12 in der Regie Heiner Müllers verweist, andererseits rekurriert die vorliegende Inszenierung ein-
10
Gemäß dem von mir erörterten Konzept der Sonosphäre im Theater könnte man auch sagen, dass es sich beim vorliegenden akustischen Raum um eine Blase in der Blase handelt.
11
Auch an dieser Stelle sei angemerkt, dass die vorliegende Studie keine literaturwissen = !+* * ;
12
Premiere am Berliner Ensemble am 3. Juni 1995.
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deutig auch auf das Hörstück von Antonin Artaud POUR EN FINIR AVEC LE JUGE MENT DE D IEU 13, in dem haltlos gesprochen, geschrien, gewürgt und agiert wird.14 Man bekommt als Zuschauer/-hörer in dieser Inszenierung zwar Einiges zu se #;;% ] # { $Qckerts, des Hörstücks Artauds sowie des daraus nachgeahmten Stimmgestus, welcher in jeglicher Hinsicht Grenzen überschreitet.15 Zu sehen ist der von Wuttke
13
France Culture, 1947, Zensur der Ursendung vom 1. Februar 1948, somit fand die Erstsendung erst 1973 statt.
14
Wuttkes Stimmgesten entsprechen im Großen und Ganzen den Schreien und anderen hypertrophen Artikulationen Artauds in jenem Hörstück. Zudem imitieren sie auch so! "# * le Tics‹, die u.a. den Symptomen des Tourette-Syndroms (nach Gilles de la Tourette, 1885) entsprechen. Tom Peuckert wiederum bedient sich in A RTAUD
ERINNERT SICH …
zwar nicht unbedingt der Fäkalsprache (Koprolalie), was Artaud selbst hingegen in POUR
EN FINIR … # + @ -
$ * $ #* * Q |< von eigenen Worten oder Satzenden in Form eines Nicht-aufhören-Könnens«, vgl. Uwe Henrik Peters: Lexikon Psychiatrie, Psychotherapie, Medizinische Psychologie. München/Jena: Urban & Fischer, 62007, S. 383) zum stimmlich-gestischen Repertoire Martin Wuttkes. Weitere pathologische Symptome, die vom Akteur fast ausnahmslos während der Aufführung imitiert werden, sind in einem Standardwerk zur Psychopa [ == # =# # # * # hing, throat cleaning, and humming« zusammengefasst (s. hierzu Henry E. Adams/ Patricia B. Sutker (Hg.): Comprehensive handbook of psychopathology. New York u.a.: Kluwer Academics/Plenum Publishers, 32001, S. 907). 15
Vgl. zur Artikulation Artauds in dessen Hörstück u.a. Kolesch: 2004c, S. 188: »Artauds Schreie wirken nicht-menschlich, skandalös und obszön. Sie erkunden, durchqueren und mobilisieren eben jene Grenzbereiche des Körpers und des Körpereinsatzes, die zum Sprechen domestiziert und zivilisiert wurden. Hier wird nicht gegen gesellschaftliche Regeln und Normen argumentiert, hier wird ein anderes, verbotenes, ver-rücktes Verhalten vorgeführt und ein – innerhalb unserer gesellschaftlichen Ordnung im Wortsinne – un-möglicher Körper in Szene gesetzt: Mensch und Tier, Erwachsener und Kind, Mann und Frau, Vernunft und Unvernunft scheinen in einer Stimme vereint, die
SONDERFALL II: WENN THEATER ZUM ›LIVE-HÖRSPIEL‹ WIRD | 139
selbst verkörperte ›Zwillings-Bruder‹ des Arturo Ui16, zu hören hingegen eine Reminiszenz an Antonin Artauds Hörstück aus dem Jahre 1947. { NDR, Heinz Schwitzke, nach der allein die Arbeit des Hörspiel-›Dichters‹ als die einzig künstlerische anzusehen ist und die Rolle des Regisseurs eher derjenigen eines Technikers, eines im eigentlichen Sinne unkreativen Einrichters entspricht.6 Dem konkreten Klangereignis Stimme im Hörspiel widerfährt in der Regel ein " * { + " &=> { *liche ›Eich-Maß‹ setzten. Auf diesen Missstand, der Stimme in den bis dato publizierten hörspieltheoretischen Arbeiten zu wenig Beachtung geschenkt zu haben, weist Werner Klippert (a.a.O., S. 11) in seiner kurzen, aber präzisen und umsichtigen Untersuchung Elemente des Hörspiels: »Man kann sich fragen, was kann man alles weglassen, ohne daß das Hörspiel aufhört, eines zu sein, und man kommt zu dem Ergebnis, daß dann außer dem technischen Medium nur die Stimme übrigbleibt«. Klippert differenziert seine Kritik an der Stimmenvergessenheit an anderer Stelle aus: »Will man den Schritt vom Darbietungsspiel zum Darstellungsspiel tun, darf man die Stimme nicht einfach als Mittel zum Zwecke der Wortproduktion auffassen. […] Erst wenn eine Stimme Selbstwert erlangt, d.h. bei einer Erzählung, wenn sie monologisch akut ›spielt‹, entsteht Hörspiel als Spiel für Stimmen. Was ist geschehen? Die Stimme ist ins Spiel getreten, hat Rollencharakter angenommen, ist zur darstellenden Sprecherstimme geworden. Das Spiel
TECHNISCHE REALISIERUNG DER STIMME IM HÖRSPIEL | 149
Sie wurde von den frühen Theoretikern wie Richard Kolb8 oder Heinz Schwitzke ` # nen Innerlichkeitshörspiel gedacht. So nahmen die theoretischen Vorstellungen der beiden letztgenannten Autoren und in der Folge das Gros der deutschen Hörspielproduktionen der Stimme ihre ureigene Faszination, die sich gerade jenseits des dichterischen Wortes zeigt und die die Stimme kraft ihrer performativen Eigenschaften entfaltet. 9
dreht sich jetzt um sie, die Aufmerksamkeit wendet sich dem zu, was sie verkörpert, sie hat einen qualitativen Sprung vom Mittel zum Zweck getan und kann nunmehr als Stimmperson selbst thematisch werden. […] Stimmen erwecken das Hörspiel zum Leben, verleihen dem Wort Spontaneität und dem Geschehen Aktualität. Berücksichtigt man das, so leuchtet die Bedeutung der Sprecherpersönlichkeit in der Produktion eines Hörspiels ein. Die Wahl der Schauspieler, die bei der Besetzungsbesprechung genannt werden, bedeutet eine Vorentscheidung, die unter Umständen eine Produktion und ein Stück völlig verändern kann. Der kreative Anteil der Sprecher bei einer Inszenierung kann kaum überschätzt werden« (ebd, S. 96f.). Mit dieser Position stand (und steht heute noch) Klippert in der Hörspielforschung lange Zeit allein da. Untersuchungen jüngeren Datums, etwa diejenige von Götz Schmedes: Medientext Hörspiel: Ansätze einer *'# ! Y # + Y; > +form«, in: Ders.: Sprich, damit ich dich sehe. München: Paul List Verlag, 1960, S. 9-29 sowie seine Einleitung in: Ders. (Hg.): *'# . Stuttgart: Reclam, 1969, S. 5-20.
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Einen anderen Ansatz wagten seit den 1960er Jahren die Verfechter des sogenannten Neuen Hörspiels. Die Neuen Hörspieler versuchten, sich von Schwitzkes Theoriekonvolut und Regelpoetik zu emanzipieren, indem sie – in der Folge u.a. von Friedrich Knillis programmatischer Schrift über »Mittel und Möglichkeiten eines totalen Schallspiels«10 – mit aufgenommenen bzw. vorgefundenen #@" # & " fahrbar zu machen.11 In der Forschungsliteratur hält die Stimmen- und Klangvergessenheit jedoch @* Q ;12 Ich möchte im Folgenden diese medienhistorische oder medientheoriehistorische sowie medienästhetische
10 Friedrich Knilli: Das Hörspiel. Mittel und Möglichkeiten eines totalen Schallspiels. Stuttgart: Kohlhammer, 1961. 11 Vgl. zum Neuen Hörspiel grundlegend – neben den genannten Arbeiten von Petra Maria Meyer – v.a. Reinhard Döhl: Das Neue Hörspiel: Geschichte und Typologie des Hörspiels (1988). Darmstadt: Wiss. Buchges., 1992 sowie Klaus Schöning (Hg.): Neues Hörspiel: Essays, Analysen, Gespräche. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1970, Ders. (Hg.): Neues Hörspiel O-Ton: der Konsument als Produzent: Versuche, Arbeitsberichte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1974, Ders. (Hg.): Spuren des Neuen Hörspiels. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1982. 12 * = [ #&= sich nicht zuletzt aus seinen »starken Stimmen« speist, scheint dies schlaglichtartig auf. So werden im umsatzstarken Hörbuch-Sektor literarische Werke meist von national be"$ ^ larisch nur einige besondere und oft eingesetzte Stimmen zu erwähnen: Sophie Rois, Katharina Thalbach, Otto Sander, Ben Becker, Rufus Beck, Ernst Jacobi, Iris Berben, Ulrich Matthes. Dass dies sehr bewusst ausgewählte Besetzungen sind, legt beispielsweise ein Blick auf die Hörbuchreihe »Starke Stimmen« der Frauenzeitschrift Brigitte nahe: Auf den CD-Covers ist die jeweilige Schauspielerin zu sehen, wobei man den $ [ = * [ ; Q" #
=> %; $# & " # @ #> * in den Hintergrund, fällt hinter das akustische Versprechen der jeweilig beworbenen Sprecherin zurück. Doch liegen bisher noch keine ernsthaften Untersuchungen vor, die sich solchen stimmlich-akustischen Phänomenen widmen würden. Die Stimmen werden lediglich als ›irgendwie interessant‹, ›einzigartig‹ oder ›besonders‹, ›einprägsam‹ ;
MEDIALE GRUNDBEDINGUNG DER RADIOPHONIE | 151
Lücke zum einen genauer ausmessen und zum anderen zu schließen versuchen.13 Vorgestellt und miteinander ins Gespräch gebracht seien hierfür die Konzepte von Rudolf Arnheim (1936) und Friedrich Knilli (1961) mit denen ihrer Antipoden Ri |}{ * |};< plizit – zur Frage nach der Körperlichkeit im Hörspiel verhalten, ist dabei von besonderem Interesse. Dies ist nur vermeintlich ein medientheoriehistorischer Umweg, um im Anschluss daran in der zweiten Hälfte dieses Kapitels zu medienästhetischen Analysen zeitgenössischer Hörspielarbeiten zu kommen. Denn die heutigen Praktiken des Hörspiels und insbesondere ihr Umgang mit der Stimme, die ich dort entfalten werde, lassen sich erst vor einem solchen Horizont adäquat erfassen.
1
MEDIALE GRUNDBEDINGUNG DER RADIOPHONIE: EINIGE MEDIENTHEORETISCHE UND HÖRSPIELÄSTHETISCHE
PRÄMISSEN
Zur medialen Grundbedingung radiophon hervorgebrachter Stimmen gehört ihre grundlegend technische und elektroakustische Vermittlung. Der technische Apparat, der noch bei der mikrophonierten Theater-Stimme aus Stimme, Mikrophon, Verstärker (inkl. Effekte und Mischpulte), Lautsprechern und den Rezipienten bestand, ist für das Hörspiel nun um die jeweilige Form der Distribution zu ergänzen: Hörspiele können im Fluss des Radioprogramms gehört werden, als Aufzeichnung stehen sie jedoch auch später zur Verfügung. Es gibt somit die Möglich ' == * die Distributionsmöglichkeit als gespeichertes ›Artefakt‹, welches gestoppt, vor > *; ' ' ten Raum statt14, Hörspiele können jedoch auch gemeinschaftlich – ähnlich einem Kinobesuch – rezipiert werden. Sie sind, wie Götz Schmedes schreibt, »[i]m Un13 Neben den medienästhetischen Arbeiten Petra Maria Meyers sei diesbezüglich auch auf die medienhistorische Untersuchung von Daniel Gethmann: Die Übertragung der StimR_3 # . Zürich/Berlin: Diaphanes, 2006
* # ;; &&* ' * Geschichte der Radiostimme bis 1945 beschäftigt. 14 Und handelt es sich dabei auch nur um den privaten Raum, den man sich mittels eines Walkman oder mp3-Players mit Hilfe eines Kopfhörers im öffentlichen Raum – etwa dem Zug – nimmt. Vgl. hierzu u.a. Shuhei Hosokawa: Der Walkman-Effekt. Berlin: Merve 1987 sowie Frank Schätzlein: »Mobile Klangkunst. Über den Walkman als Wahrnehmungsmaschine«, in: Andreas Stuhlmann (Hg.): _& *'_
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terschied zur Bühnenaufführung eines Theaterstücks […] nicht von der Gegenwärtigkeit der Aufführung abhängig«. Hörspiele, so Schmedes weiter, »werden auf Tonträgern festgehalten und sind nach ihrer Ausstrahlung weiterhin zugänglich. Livehörspiele liegen als Aufführungsmitschnitte vor und gehören anschließend ebenfalls zum wiederholbaren Repertoire des Hörspielprogramms. Zwischen Rezeption und Produktion kann also eine zeitliche Diskrepanz liegen, so dass die Kenntnisse des Rezipienten über die in einem Hörspiel thematisierten Sachverhalte von denen des Produzenten al =" * ;15
Wir haben es darüber hinaus bei der radiophonen Kunst und insbesondere beim Hörspiel mit einem akustischen Geschehen zu tun, welches prinzipiell nur einen Wahrnehmungskanal bedient. Die radiophone Kunst (er)schafft ihre Mehrdimensionalität mit ganz eigenen Mitteln und Strategien. So formuliert etwa Götz Schmedes für die mediale Grundbedingung des Hörspiels, dass es in dem einen »gemeinsamen Vermittlungskanal keine Korrelation mehrerer sich gegenseitig ergänzender, stützender oder kontrastierender Vermittlungskanäle, also etwa keine $[ ;% @* _=mationsebenen, z.B. von Vorder- und Hintergrund oder einzelne[r] Details, […] als Zeichenüberlagerung auf diesem einen Kanal, indem die einzelnen, zeitlich simultan verlaufenden Zeichenschichten durch Lautstärkerelationen oder durch die Anordnung im stereophonen Raum voneinander abgesetzt werden«. Zugleich, so
Kunst. Zwischen Avantgarde und Popularkultur 1923 - 2001. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2001, S. 176-195. 15 Schmedes: 2001, S. 115f. Ist Schmedes hinsichtlich der (medialen) Unterscheidung zwischen Hörspiel und Theater grundsätzlich zuzustimmen, so ist jedoch seine Aussage zum sogenannten ›Livehörspiel‹ in Zweifel zu ziehen und zurückzuweisen: Ein Livehörspiel ist und bleibt für den anwesenden Zuschauer eine theatrale, für den abwesenden Zuhörer am Radioapparat eine radiophone Veranstaltung (vgl. hierzu auch die Analyse von A RTAUD
ERINNERT SICH ...).
Das Abspielen der Aufzeichnung eines Live-
hörspiels kann nur die radiophone Situation wieder möglich machen, niemals jedoch die Aufführungssituation. Es spielt dabei die grundsätzliche Medialität eines theatralen Ereignisses eine große Rolle – bei der theatralen Situation kommt es auch und v.a. auf die Ko-Präsenz von Akteur und Zuschauer an, die in der radiophonen Situation in der Weise nicht herstellbar ist. Hierin zeigt sich folglich das Differenzkriterium zwischen der Produktion auf einer Bühne und ihrer Rezeption in einem Theater-Raum sowie der Produktion auf einer Bühne und ihrer Rezeption im Privat-Raum.
MEDIALE GRUNDBEDINGUNG DER RADIOPHONIE | 153
Schmedes in seiner Hörspielsemiotik weiter, stehen diese Zeichenschichten »immer auch in gegenseitiger Relation zueinander«.16 Die Aufmerksamkeit wird somit zunächst nur auf den Hörsinn gelenkt, was bestimmte Folgen v.a. für die Wahrnehmung und Imagination der körperlichen Dimensionen der Stimme hat: Wir können uns niemals ein (wirklichkeitsgetreues) Ab-Bild des (visuellen) Körpers des Sprechenden machen, wir konzentrieren uns auf das klangliche Geschehen und werden uns dabei der Eindringlichkeit von Stimmen bewusst, die durch das rein auditive Medium Radio spezielle Wirkungen beim Rezipienten erzeugen können. Aufgrund dieser ›bildlosen‹ Eindimensionalität des Wahrnehmungsvorgangs des Hörens ist daher oft von der sogenannten ›Körperlosigkeit‹ von Radio- und Hörspiel-Stimmen die Rede.17 Doch handelt es sich dabei nicht um eine allzu missverständlich, weil undifferenziert gebrauchte Formulierung? Ist eine Ra16 #;=; '* einem gesonderten Kapitel widmen (siehe das Kapitel: »Stimmlichkeit und Räumlichkeit im Hörspiel« der vorliegenden Studie). Ich möchte dennoch an diesem Punkt klarstellen, dass sich Klangereignisse nicht rein als Zeichensysteme beschreiben bzw. sich auf ihre durchaus vorhandene Zeichenhaftigkeit reduzieren lassen. Stattdessen sollten vielmehr Begriffe wie ›Element‹, ›Komponente‹ oder ›Klang-Phänomen‹ Verwendung ;~ " * @ ¤ & @ { ; 17 Vgl. hierzu u.a. Thomas Macho: »Stimmen ohne Körper. Anmerkungen zur Technikgeschichte der Stimme«, in: Kolesch/Krämer (Hg.): 2006, S. 130-146; Gaby Hartel/Frank Kaspar: »Die Welt und das geschlossene Kästchen: Stimmen aus dem Radio – und über das Radio«, in: Brigitte Felderer (Hg.): Phonorama: Eine Kulturgeschichte der Stimme als Medium. Berlin: Matthes & Seitz, 2004, S. 133-144; Hans-Ulrich Wagner: »Sounds like the Fifties. Eine Stimmencharakteristik des westdeutschen Rundfunks in der Nachkriegszeit«, in: Jochen Meißner/Uwe Krzewina (Hg.): Hörspiel ist schön! Bei } *'# 6# [! . Norderstedt: Books on Demand, 2009, S. 95-123; Frank Schätzlein: »Zwischen ›körperloser Wesenheit‹ und ›Lautaggregat‹. Anmerkungen zur Stimme im Hörspiel«, in: Kolesch/Pinto/ Schrödl (Hg.): 2008, S. 115-125; Wolfgang Hagen: »Die Stimme als körperlose Wesenheit. Medienepistemologische Skizzen zur europäischen Radioentwicklung«, in: Irmela Schneider (Hg.): Medienkultur der 50er Jahre: Diskursgeschichte der Medien nach 1945. Wiesbaden: Westdt. Verl., 2002, 271-286; Ders.: »›Körperlose Wesenheiten‹. Über die Resonanz der Radio-Stimme«, in: Karsten Lichau/Viktoria Tkaczyk/Rebecca Wolf (Hg.): % ! 3 München: Fink, 2009, S. 193-203; Ders.: 2005a. Es ist v.a. Wolfgang Hagens Verdienst, in seinen genannten Analysen das Konzept der ›körperlosen Wesenheiten‹ der frühen theoretischen Ansätze
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dio- und Hörspiel-Stimme nicht bloß visuell körperlos, aber dennoch zugleich *; * *# @ ;&#* bewegen und sprechen hören, sondern dass wir die Bewegung dieser Menschen unmittelbar in uns spüren. ›Das Mikrophon wird zum Ohr des Hörers‹ und ›Hörspieler und Hörer treffen sich gleichsam im gemeinsamen Brennpunkt seelischer Akustik‹«.36
Es sei an dieser Stelle, neben der Frage nach den politischen und gesellschaftlichen Implikationen dieses Radiokonzepts im Rahmen des nationalsozialistischen Rundfunks, auch die Frage gestattet, wie man überhaupt aus medienästhetischer Perspektive ein Rezeptionserleben konzipieren kann, das ein Hören sogenannter ›innerer‹ Stimmen aus einem eindeutig erklingenden und nicht akustisch-imaginierten Geschehen impliziert? Hinsichtlich der Perzeption von Klängen bleibt es zunächst bei der Tatsache, dass die Stimme aus dem Radio über die Ohren in den Körper des Hörers dringt. Sie erscheint dem Rezipienten jedoch nicht als dessen eigene, innere Stimme, sondern eindeutig als eine von einem anderen kommende, gegebene und somit empfangene Stimme. Die Radiostimme kann ihren Klang und demgemäß ihren sinnlichen Charakter niemals verleugnen – dies gilt selbst für eine solche Stimme wie die eines Nachrichtensprechers, die im sogenannten »Sicherheitston«37 erklingt und bei der die Informationsvermittlung und damit das Bedeutete in der Tat im Vordergrund steht. Kolb und Schwitzke sowie all dieje #
= # | } Illusion der Auslöschung des Körperlichen und Sinnlichen im Wort des Dichters, welches aufgrund eines esoterischen Ätherglaubens in der inneren Stimme des Hörers aufgehe und beide somit eins werden können.38 Zur neu geschaffenen und erfahrenen inneren Stimme nach Kolb noch einmal Wolfgang Hagen: »Stimmen, die im Radio sprechen, bewirken, dass wir Stimmen in uns sprechen hören, sagt Kolb. Kolb will uns beweisen, dass wir Stimmen, die wir im Radio hören, in uns noch einmal aufbauen und reproduzieren. Kolbs Theorie betrifft also nicht allein die Radiostimme,
36 Hagen: 2005a, S. 118f. 37 Vgl. Gethmann: 2006, S. 115. 38 Aus diesem Geiste entspringt auch die Funktion des nationalsozialistischen Rundfunks, wie Hagen dies detailliert in seinen Studien belegen kann – auch mit Verweis auf zwei weitere Schriften Kolbs aus, auf die ich im Rahmen dieser Studie nicht weiter eingehen werde (vgl. Richard Kolb: ! !. Berlin: Brunnen Verlag, 1932b sowie Ders./Heinrich Siekmeier (Hg.): !3 ler Kultur. Düsseldorf: Floeder, 1933).
HÖRSPIELSTIMMEN ALS ›KÖRPERLOSE WESENHEITEN‹? | 163
sondern auch das Radiohören. Das Radiohören ist ihm zufolge eine besondere, vielleicht sogar eine neue Art des Hörens. Es ist eine Repräsentation der Stimme im Inneren«.39
Und diese »Repräsentation der Stimme im Inneren« entspringe dem Begehren nach der inneren Stimme, welches sich nach Hagen in einen »Unterwerfungsakt des Gehorchens« transformiere und somit schließe sich auch – und dies sei in dem Essayband Richard Kolbs programmatisch angelegt – der ›Gleichschaltungskreis‹ des nationalsozialistischen Rundfunks: »Bei Kolb […] ist das Begehren nach der Stimme vollständig sublimiert, Stimmenhören aus dem Radio soll in purer Innerlichkeit geschehen, ja diese überhaupt erst herstellen können. Das Stimmenhören aus dem Radio geschieht nach Kolb im Modus einer ontologisierten und idealisierten Repräsentanz. Die äußeren Stimmen werden im Inneren des Hörers noch einmal aufgebaut – denn sie ›sind‹ innere Stimmen. In dieser ontologisierten Innerlichkeit liegen Faszination und Unterwerfung nahe beieinander. Die Faszination des Hörens gibt sich der Stimme hin, die eine innere Stimme des Gehorchens und des Gehorsams ist. […] [Es, V.P.] wird bei Richard Kolb das Begehren nach Stimme in einen absolut idealisierten Unterwerfungsakt des Gehorchens überführt«.40
Die sogenannten ›körperlosen Wesenheiten‹ der Radiophonie, und damit möchte ich von den gesellschaftspolitischen Implikationen wieder zur medienästhetischen Argumentation zurückkehren, entspringen somit einem literarischen Ideal, welches realiter nicht nur ohne Körper, sondern v.a. ohne Stimm-Klang funktioniert. Das Verständnis einer gehörten Stimme als einer entmaterialisierten Stimme ist jedoch immer nur als Illusion zu fassen: Es ist schlichtweg nicht möglich, eine Stimme als entmaterialisierte zu erfahren, da ein Sprecher mit und in seiner Stimme eine konkrete körperliche und ›gelebte‹ Präsenz erzeugt, die ihrerseits schon immer individuelle Imaginationen und Assoziationen beim Hörer evoziert. Es zeigt sich in einer solchen ›immateriellen‹ Vorstellung der Versuch, das Gesagte, also $# [ = *"; 43 = = ~ Hörspielgeschichte wie zur -dramaturgie Erwähnung, weder bei Schwitzke: 1963, noch bei Eugen Kurt Fischer: Das Hörspiel. Form und Funktion. Stuttgart: Kröner, 1964, noch bei Stefan Bodo Würffel: Das deutsche Hörspiel. Stuttgart: Metzler, 1978, um nur einige Beispiele zu nennen. 44 Knilli: 1961. 45 Schwitzke: 1963.
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sowie das Hörspiel als ›totales Schallspiel‹ auf der anderen Seite des Spektrums besetzt. Götz Schmedes unterscheidet die beiden ästhetischen radiopraktischen Konzepte hinsichtlich der Binnenhierarchie der verschiedenen Elemente des Hörspiels: »Während in Schwitzkes hierarchischem Sprachkonzept die Aufmerksamkeit primär der Schöpfungskraft der Worte gilt, liegt für das Neue Hörspiel jenseits der Bezeichnungsfunktion nicht mehr die Magie imaginär entfalteter Weltentwürfe, sondern der Klang, der mittels Stimmen hervorgebrachten Silben, Worte, Sätze und paralinguistischen Artikulationen sowie die Strukturen des Sprachsystems«.46
Die Enthierarchisierung – und diese ähnelt in weiten Teilen strukturell den späte#=&&* Q $ &# ~{ *# hat laut Schmedes zur Folge, »dass klanglichen und strukturellen Merkmalen der Sprache die gleiche Relevanz zugesprochen wird wie der sprachlichen Semantik. Der potentielle Informationsgehalt gesprochener Sprache nimmt zu, da nicht mehr nur ihre semantische Verweisfunktion, sondern auch die Merkmale ihrer Struktur als Ausdrucksmittel nutzbar gemacht werden«.47 Dem entgegengesetzt hielt das traditionelle Hörspiel (in der Regelpoetik Schwitzkes) trotz der unaufhaltsamen Entwicklung der stereophonen Studiotechnik am monophonen Hörspiel fest. Jenes zeichnete sich ja v.a. durch monologisierende Darstellung und größtmögliche ›Entsinnlichung der Stimme‹ zugunsten des $ ;" * = für eine gleichwertige Behandlung des in einer radiophonen Produktion zusammenkommenden und in dieser Hinsicht mehrdimensionalen Klangmaterials. Friedrich Knilli postuliert ein Gegenprogramm zum »Illusionismus des herkömmlichen Hörspiels« und versucht daher »eine Synthese aller Schallkünste und damit eine totale Bespielung der Schallwelt zu begründen, ein Totalhörspiel, das sich der Mittel und Möglichkeiten der ›Musique concrète‹ genauso bedient wie der Mittel und Möglichkeiten der elektronischen Musik, ein Totalhör-
46 Schmedes: 2001, S. 52. Vgl. hierzu ebenso u.a. Johann M. Kamps: »Aspekte des Hörspiels«, in: Thomas Koebner (Hg.): Tendenzen der Deutschen Gegenwartsliteratur. Stuttgart: Kröner, 1984. S. 350-380. 47 Schmedes: 2001, S. 52. Erstaunlich ist jedoch immer wieder, dass bei solchen grundlegenden Formulierungen zu einer allgemeinen Hörspielästhetik nicht im Speziellen auf _ # = Ebene vordergründig abgehoben wird.
166 | STIMMEN AUF DER SPUR spiel, das den Illusionismus des herkömmlichen Hörspiels überwindet und die Bühne aus der Phantasie des Hörers in das Zimmer des Zuhörers verlegt, ein Totalhörspiel, das von der Vorstellung, Schallvorgänge hätten Schauplätze und Personen abzubilden, befreit ist, ein Hörspiel, das ganz in der Eigenwelt konkreter Schallvorgänge spielt als ein diesseitiges und totales Schall-Spiel, das der Hörer, der zur Außenwelt dieser Schallvorgänge gehört, in ein diesseitiges und totales Hör-Spiel verwandelt«.48
Dies lässt sich als laute und effektvolle, aber durchaus berechtigte Provokation, die gegen den allgemeinen Radiobetrieb gerichtet war, deuten. Der öffentlichrechtliche Nachkriegsrundfunk – und dieser Impetus ist aufgrund der Rolle des Rundfunks während der Nazizeit nachvollziehbar – präsentiert sich im Klang betont nüchtern und sachlich, setzt damit aber zugleich auch wenig auf avantgardis & = #* = = Uneindeutigkeiten. Knillis Konzept bringt nun die entscheidenden Möglichkeiten mit sich, dem imaginativen Wortkunstwerk des Innerlichkeitshörspiels die Dimension einer auf die ›äußere‹ Sinnlichkeit abzielende radiophone Klangkunst gegenüberzustellen, es um diese Dimension zu erweitern. Letztlich geht es darum, sich vom magisch-mystischen Wortkunstwerk nach den ästhetischen und dramaturgischen Prinzipien Richard Kolbs sowie Heinz Schwitzkes zu emanzipieren. Knillis Entwurf macht auch deutlich, dass die Entwicklung der radiophonen Kunst längst schon weiter war als manche Radiomacher in den Rundfunkanstalten es vielleicht wahrhaben wollen.49 Das Hörspiel braucht Knilli zufolge »nicht im Finstern und Unsichtbaren zu handeln, weil es nicht vom Sichtbaren umgrenzt wird. Seine Grenze heißt Stille, sein Spiel sind konkrete Schallvorgänge. Nur zwischen Stimmen und Stille kann sich Schall-Spiel entladen – im Hör-Spiel von heute, einst und auch in frühen vorgeschichtlichen Vorspielen«.50 So wendet er sich entschieden von einer – und wie er es nennt – »Verwortung« des Hörspiels ab, die die »funktechnische Restauration des romantischen Lesedramas, die Wegwendung von der Konkretheit der Schallvorgänge und die Hinwendung zu Phantasievorgängen« bedeute.51 Das Hörspiel soll vielmehr – und damit positioniert sich Knilli hinsichtlich der medialen Grundbedingung der Radiophonie in ähnli-
48 Knilli: 1961, S. 8 (Herv. i.O.). 49 §* ;; =^[wegung, insbesondere in den Arbeiten von John Cage oder Nam June Paiks zu hören und zu sehen, die unlängst mit elektronischer und elektroakustisch erzeugter (Ge" } # = &* ³==lichkeiten der akustischen Kunst. 50 Knilli: 1961, S. 10. 51 Ebd., S. 14.
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cher Weise als es Arnheim tat – nicht in der Phantasie geschehen, sondern im sogenannten »›Hörfeld‹ spielen, denn alle Vorgänge, die unter die ›Hörschwelle‹ sinken, bleiben stumm, aller Schall, der über die ›Fühlschwelle‹ steigt, bereitet physischen Schmerz: ist barbarisch. Deshalb braucht das Hörspiel keine ›materialbedingte Emanzipation von der Sichtbarkeit‹, keine ›Ausschließung des Sichtbaren‹, weil es vom Sichtbaren nicht umgrenzt wird. Aber "*" ~ $ Hörspiel keinesfalls, denn der Hörspielleib spannt sich hörbar zwischen Stummem und schmerzbereitendem Lautem. Innerhalb dieser Spannung und dieser ›natürlichen‹ Dynamik verlaufen in einem konkreten Spiel und Gegenspiel Schallvorgänge. Nur diese konkreten Schallvorgänge berechtigen, von Spiel zu sprechen, keinesfalls der Dialog und jene erzählten Handlungen, die auf vorzustellenden Schauplätzen ablaufen. Konkrete Vorgänge kennzeichnen ursprüngliches Spiel. Das Schau-Spiel konkrete Bewegungsvorgänge, konkrete Schallvorgänge das Hör-Spiel: deshalb sind Hörspiel und Schauspiel konkrete Künste«.52
Knilli unterscheidet also zunächst zwischen Schall und Nicht-Schall (Stille) als gültige Rahmensetzung des Hörspiels, was auch allgemein für das radiophone Medium gilt. Das Radio verfügt qua Medientechnik nicht über eine visuelle Ebene und muss so nach ganz eigenen Maßstäben bewertet werden, die jenseits eines vergeistigten bzw. ›verworteten‹ Spiels einerseits sowie andererseits auch jenseits $ ; Hinsichtlich des konkreten Gebrauchs und der Funktion der Stimme äußert sich Knilli deutlich kritisch gegenüber dem als bloß sekundäres Medium, als { = => $ an, dass es »[d]em herkömmlichen Hörspiel […] um die Außenwelt der Schallvorgänge [geht], um die Herkunft der Stimmen, […], um Menschen, die diese oder jene Worte, Sätze, Perioden hervorbringen, also nicht um Schallvorgänge, sondern um Seelenvorgänge, nicht um Schallanalyse, sondern um Seelenanalyse. Das innere und äußere Bild einer bestimmten Person soll durch Stimme und Sprache beim Hörer erweckt werden […]. Der unsichtbare Mensch des Hörspiels soll in der Vorstellung des Hörers sichtbar wie auf einer Bühne in Erscheinung treten«.53
Es geht also beim Hören des traditionellen Hörspiels bloß und v.a. um das Imaginieren und Psychologisieren dichterisch ausdeutbarer Figuren, die sich dem vo52 Ebd., S. 24. 53 Ebd., S. 36.
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$ *= # { die Klangfarbe einer Stimme, Tonumfang, Tempo und Dynamik, Sprechmelodie und Rhythmus eine Rolle«. Es kommt somit im traditionellen Innerlichkeitshörspiel nicht auf eine ebenso mögliche und denkbare, aisthetische Rezeption der Stimmen als eigenständige Klangereignisse an, ganz im Gegenteil. Denn, so Knilli weiter, der sogenannte »›Sprech-Mimus‹, die ›Lautgebärde‹, die ›akustische Gebärde‹, die rhythmische Geste des ›hörbaren Leibs, des Wortleibs‹: alle lautlichen Merkmale ›tönender Sprache‹ dienen dem herkömmlichen Hörspiel, das Vorstellungsbild bestimmter Menschen und ihrer Umwelt beim Hörer zu wecken. Dieser Sichtbarmachung, Verbildlichung wird alles unterstellt«.54
Es handelt sich demnach aus der Sicht Friedrich Knillis um eine Entscheidung * #= = { einer rein klanglichen, v.a. auf das Sinnliche, aber auch auf das physikalisch-empirische Wahrnehmen abzielende Kultur. Die Festlegung auf eines der beiden Modelle birgt aber medienästhetische Risiken, die in ihrem jeweiligen regelpoetischen Verständnis unnötigerweise zu starre Gattungsgrenzen konstruieren. Die Stimme im Hörspiel ist auf der einen Seite weder nur Trägerin der Information 54 Ebd., S. 36. In der Perspektive des traditionellen Hörspiels formuliert, geschieht somit #* * = $ > " $ des Hörspiels einverleibt (und gehören nicht, andersherum, zum sinnlich erfahrbaren Stimm-Körper des Sprechers). Knilli hierzu: »Heiserkeit und Rauheit einer Stimme, Seufzer und Schreie werden aber nicht wegen ihrer eigenweltlichen Qualität verwendet, sondern sollen wie Worte illustrieren, das innere oder äußere Bild eines Menschen und seiner Welt und deren Zusammenhänge sichtbar zu machen« (Ebd., S. 37). Das { $= + % eine bestimmte und entsprechend charakteristische Stimme, so wie auf dem Theater eine Figur nur qua Verkörperung durch einen leiblich anwesenden und somit ›realen‹ ;_ " " => >$# * " $ & " verhältnisses beider Phänomene voneinander. Auf die knappe Formel gebracht: Ohne Stimme kein Hörspiel, ohne Text kein im weitesten Sinne gedachtes narratives Hörspiel. Beides ist somit immer gemeinsam und zugleich zu denken. Dem jeweiligen Forschungsinteresse gemäß kann natürlich das eine oder das Phänomen im Vordergrund stehen, ohne dass eine solche Fokussierung jedoch dazu führen sollte, das jeweils andere zu unterschlagen.
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noch auf der anderen Seite bloß Schall. Die Performanz der Stimme und ihre besonderen Charakteristika entfalten sich doch erst, wenn Schall, Wort, individueller Klang und Einsatz der Stimme in der Verlautbarung in eins fallen und somit % " +* & ; & ;; darum, auf ein Miteinander der einzelnen Dimensionen abzuheben und nicht auf eine zuvor zu treffende Entscheidung für oder gegen ein bestimmtes Element. Die Stimme im Hörspiel bewirkt so, dass es sich in ihrem Erklingen weder um eine %" $ ! lisch messbares Ereignis handelt, sondern dass es gerade auf die vielfach möglichen Abstufungen zwischen$ #= ; Die Stimme ist daher immer schon auch aus phänomenologischer Perspektive zu gewahren. Daher mag die Dichotomie, die Knilli am Schluss seiner Betrachtungen propagiert, indem er sein Hauptargument gegen das traditionelle Wort-Hörspiel und die Argumente für das totale Schallspiel resümierend gegenüberstellt, aus heutiger Perspektive nur allzu schematisch und genauso starr erscheinen wie jenes Modell, welches Schwitzke präferiert (s.u.): »Das Hörspiel als bloßes Sprachkunstwerk aber, als Wortkunstwerk oder als Literaturwerk, wie Schwitzke #% " ; Einen anderen Schallvorgang entwickelt die Geräuschmusik oder die konkrete Musik, die elektronische Musik isoliert sich ebenfalls und bearbeitet einen eigenen Schallbereich. Diese Aneignungen und Abgrenzungen sind historisch oder zufällig bestimmt, jedenfalls lassen sich aus den augenblicklichen Kenntnissen der Schallwelt keine solchen Einteilungen ableiten, viel eher drängt die Masse möglicher Schallvorgänge hin zu einem Totalhörspiel, das den Schall total in ein Spiel und Gegenspiel bringt«.55
Er differenziert in der Folge zwar die Argumente für das Schallspiel gegen das Worthörspiel weiter aus, bleibt aber bei seiner dichotomischen Sichtweise und somit bei der klaren Trennung von »Spiel und Gegenspiel«: »Sprachliche Situations- und Personendarstellung, Mitteilung kennzeichnen das herkömmliche Hörspielschema. Die Hauptmerkmale des Totalhörspiels sind: totale Bespielung der ; * ;64
62 Ebd., S. 79. 63 Bspw.: T RÄUME (NWDR [1951], R: Fritz Schröder-Jahn), in: Günter Eich: T RÄUME. (NDR/Der Hörverlag 2007) oder D ER TIGER JUSSUF (HR [1953], R: Irmfried Wilimzig) in: Gedenk-Trilogie Günter Eich: Der Tiger Jussuf (Noanoa Verlag 2002). 64 Schwitzke: 1963, S. 84.
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Es wird der Versuch betrieben, so legt es das Ende dieser Passage nahe, jegliche Wirksamkeit der stimmlichen Performanz zu negieren und aus der Wahrnehmung zu löschen. Eine solche Negation der Stimme muss als Voraussetzung haben, das Hören als einen passiven Vorgang zu denken. Ein solches Konzept der Passivität des Hörens führt dann letztlich im Sinne Schwitzkes zu einer Verschmelzung von #$ ; % »im Bereich der inneren, der lyrischen Person – einerseits der Person des Autors, von dem die Personen und Stimmen, die im Hörspiel sprechen, nur Teile sind, und andererseits der einzelnen lauschenden, aufnehmenden Person zu Hause an ihrem Lautsprecher, die aus der Fülle der hörbaren Daten eine zusammenhängende Welt produziert«.65
Gerade das Konzept und Prinzip der Gleichschaltung, die in der Zeit des Nationalsozialismus66 so folgenreich betrieben wurde, lässt ein solches Verschmelzungsideal nicht nur ästhetisch höchst fragwürdig, sondern auch in einem politischen Sinne so doppelbödig, so frei von Verantwortung erscheinen. Neigte Friedrich Knilli dazu, dem abstrakt erklingenden Schallereignis den Vorzug zu geben, und erschien dieser Ansatz somit als äußerst radikal gedacht, so versucht Schwitzke, diese Radikalität auf der anderen Seite des Hörspiel-Spekt >==; * | } * & elektronischen Musik, der Musique concrète, der Stereophonie kommen bzw. schon längst realisiert, fühlt sich aber als ›Gralshüter‹ der Monophonie und des
#+ ³== Kunst als »unkünstlerisch« bzw. – wie eine Äußerung aus dem Jahr 1969 ausstellt – gar als »denaturiert« abzuwerten:
65 Ebd., S. 85. Vgl. auch an anderer Stelle: »Innere Handlung, innerer Monolog, imaginärer Dialog, Dialog mit sich selber: das sind die Begriffe, von denen her man auch die Form des Hörspiels verstehen muß« (Ebd., S. 110). 66 Vgl. zur ›Gleichschaltung‹ des Rundfunks die schon zitierten Arbeiten von Wolfgang Hagen sowie diejenigen von Cornelia Epping-Jäger: »›Eine einzige jubelnde Stimme‹. Zur Etablierung des Dispositivs Laut/Sprecher in der politischen Kommunikation des Nationalsozialismus«, in: Dies./Erika Linz (Hg.): 2003, S. 100-123; »Stimmgewalt. Die NSDAP als Rednerpartei«, in: Kolesch/Krämer (Hg.): 2006, S. 147-171; »Stimme. Die Spur der Bewegung«, in: Fehrmann/Linz/Epping-Jäger (Hg.): 2005, S. 133-151 sowie: »Embedded Voices. Stimmpolitiken des NS«, in: Felderer (Hg.): 2004, S. 145-157.
174 | STIMMEN AUF DER SPUR »Von einigen [Kritikern, V.P.] werden nur noch technisch denaturierte Sprache und denaturierte Geräusche zugelassen, ›totale Schallspiele‹, deren akustische Sensationen die imaginierende Fantasie des Zuhörers in keiner Weise mehr inkommodieren«.67
Als diese Bemerkung publiziert wurde, ist längst klar, dass die (öffentlich-rechtliche) Radioproduktion den Weg hin zur Öffnung der Radiophonie als einer durch =| { } ; So konnten sich die betont offenen und avantgardistischen Gattungen wie das Neue Hörspiel, die Klangcollage, das Feature, das Originalton-Hörspiel ihren Platz neben dem traditionellen Hörspiel erarbeiten und deren Protagonisten sich an ihren ausgemachten Antipoden – Heinz Schwitzke auf medien- und produktionsästhetischer sowie allen voran an Günter Eich auf dichterischer Seite – reiben und abarbeiten.68 Auch wenn Schwitzke nun alles Gewicht auf die Innerlichkeit legt, so kommt er trotzdem auf die phänomenal erklingende Stimme zu sprechen – selbst für ihn sind die Sprecher des Hörspiels unverzichtbarer Bestandteil einer Hörspielproduktion. Doch welche Rolle weist er der Stimme zu, welche Rolle kann die Stimme in einem ästhetischen Konzept spielen, das die ›äußere‹ Sinnlichkeit verneint? »Zu der imaginären Wirklichkeit des Hörspiels, die nur im Wort und durch das Wort besteht, gehören dann seltsamerweise auch und sogar diejenigen, aus deren Mund das Wort kam, die Personen, durch die das Wort hindurchtönt und die man eigentlich gar nicht mehr mit dem Begriff ›Darsteller‹ bezeichnen kann. Sie stehen nicht da und sie stellen nicht dar, sie sind weder ›Träger‹ von Ideen noch überhaupt ›Träger‹ von irgend etwas, sondern werden getragen und dargestellt: durch ihr eigenes Wort. Sie müssen sich in den Hörern sprechend selbst schaffen«.69
Die Stimmen der Sprecher – und dies erscheint gewissermaßen nur außerhalb { "` * Fremdkörper sein, bewegt sich doch die Volte am Schluss des soeben zitierten Abschnitts jenseits jeglichen Bewusstseins für die (Stimm-)Arbeit des Sprechers am $;& *# * ^per eindringt, wenn Schwitzke an späterer Stelle seines Hörspielbuchs bemerkt, dass Stimmen auch über eine gewisse Wirksamkeit verfügen: »Wohl aber […]
67 Schwitzke: 1969, S. 15. 68 Vgl. hierzu v.a. die Sammelbände zum Neuen Hörspiel (s.o.) sowie im Besonderen Döhl: 1988 und Hans-Jürgen Krug: Kleine Geschichte des Hörspiels. Konstanz: UVK, 2003. 69 Schwitzke: 1963, S. 102f. (Herv. i.O.).
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spielt Emotion, die von den Darstellern den Worten aufgeprägt wird, oft entscheidend mit«.70 Er belässt es bei dieser knappen und einmalig bleibenden Bemerkung zur pathischen Funktion der Stimme.71 Und es scheint letztendlich auf der Hand zu liegen, warum er an dieser Stelle so wortkarg bleibt und ohne Emphase argumentiert: Eine tiefergehende Einlassung hierauf hätte nicht nur die ›innere‹ Logik seiner Hörspielästhetik ins Wanken gebracht, sondern die Eindimensionalität sei ==; Stattdessen verweist Schwitzke unablässig auf die Verschmelzung zwischen {# # * innerhalb des Stücks und zwischen seinen Figuren statt, sondern zwischen dem Dichter und dem einzelnen Hörer«. Er spricht sogar davon – und dies ist bezeichnend vor dem Hintergrund, dass Schwitzke langjähriger Leiter der Hörspielabteilung des NWDR/NDR war –, dass es sich beim Hörspiel »um den Anruf eines unsichtbaren Dichters an einen unsichtbaren, unbekannten Einzelnen [handelt, V.P.]. Darsteller und Techniker vermitteln dabei nur, halten sich selbst hinter dem Wort zurück«.72 Somit spricht er den Technikern, Regisseuren, Redakteuren prinzipiell jede eigenständige und kreative Leistung ab, degradiert sie zu Erfül =;& # $ produzierte Hörspiel voneinander zu unterscheidende Phänomene sind und dass, darüber hinaus, die (technische wie künstlerische) Ausgestaltung eines Hörspiels " ;73 Die Regelpoetik Schwitzkes ist durchzogen von einer technik- und körperfeindlichen Haltung. Im Rückblick wird deutlich, dass er nur mit einer sehr streng 70 Ebd., S. 191. 71 Vgl. zur pathischen Funktion der Stimme einführend u.a. Jenny Schrödl: »Erfahrungsräume. Zur Einführung in das Kapitel«, in: Kolesch/Pinto/Dies. (Hg.): 2008, S. 145156. 72 Schwitzke: 1963, S. 205. 73 Schwitzkes Postulat einer weitestgehenden Auslöschung alles Sinnlichen zeigt sich auch darin, dass er an die Sprecher die Lern-Anforderung richtet, zu ›unterspielen‹: »Es gibt im Hörspiel kein Überzeugen durch rhetorische Technik und darstellerische Virtuosität. Und wenn von der Intensität der Darstellung die Rede war, die den Hörern & * `# * _ " # &pressivität. Unsere heutigen Schauspieler haben meist erst im Hörspiel wirklich ›unter |&;#;};]* ># Entsinnlichung des Stimmlichen und somit einer Entsinnlichung der schauspielerischen Stimme zu wiederholen: »Vermutlich darum gibt es sehr viele Schauspieler, die die Kunst des Hörspiels lieben, gerade weil sie zu so viel Zurückhaltung und Selbstverleugnung zwingt« (Ebd., S. 207, meine Herv., V.P.).
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%fügung stehenden (rundfunkpolitischen) Macht versuchte, dieses zu bewahren. Es drängt sich daher nicht zuletzt auch die forschungskritische Frage auf, warum Schwitzkes Buch über das deutsche Hörspiel zum Standard- und Referenzwerk werden konnte, wenn es doch zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung längst schon hinter dem zurückgeblieben war, was 1963 technisch möglich war und auch künstlerisch schon praktiziert wurde. Erst Klipperts Elemente des Hörspiels aus den späten 1970er Jahren, die radiohistorischen Arbeiten Reinhard Döhls aus den 1980/90er Jahren sowie die Untersuchungen von Götz Schmedes zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben dazu geführt, das Hörspiel von medienästhetischer Seite aus als ganzheitliches Klangphänomen zu betrachten, welches sich aus den unterschiedlichsten Inhalten, technischen sowie klanglichen Phänomenen speist und dabei im narrativen Hörspiel auch etwa auf die Psychologisierung von Figuren nicht verzichtet. Die klanglichen und künstlerischen Tabus der radiophonen Kunst werden letztlich in den ausgehenden 1960er Jahren mit dem aufkommenden Neuen Hörspiel gebrochen. Spätestens seit Mitte der 1990er Jahre74 werden durch Regisseure wie Andreas Ammer oder Paul Plamper Mittel und Wege gesucht, sich der unterschiedlichen Grenzziehungen (Hörbuch, Hörspiel, Originalton-Hörspiel, Hörstück, Neue Musik, Neues Hörspiel, Innerlichkeitshörspiel, Sound-Collage, Ars Acustica etc.) zu entledigen und eigene, innovative sowie unkonventionelle Wege zu gehen, die sich + # ' ; { $#@" Musik sowie der jeweiligen Produktionsform eine sehr große Rolle. OriginaltonStimmen kommen genauso zu Wort wie nachgestellter Originalton, improvisierte Stimmen von Schauspielern treten im Wechsel mit Laienstimmen auf. Stimmen * ; & ] @
74 Die Arbeiten von Heiner Goebbels seit Mitte der 1980er Jahre dürfen hierbei selbstverständlich nicht unerwähnt bleiben, da sie v.a. für Ammers Arbeiten eine Art Vorbildcharakter besitzen dürften. Doch geht es mir in der Tat nicht um eine historische Aufzählung der jeweiligen eigenständig operierenden Hörspielmacher, sondern um die Hinführung zu den Arbeiten derjenigen Hörspielmacher, die im Rahmen der vorlie] _ ; = * {> @¤ * |$ +* { >} VERKOMMENES UFER [1984], DIE B EFREIUNG KER
DES
PROMETHEUS [1985], W OLOKOLAMS-
C HAUSSEE I-V [1989], kompiliert auf Hörstücke I-III (Universal 1994). Vgl. auch
zu den Hörstücken die Studie von Barbara Kordes: Musikalische Lesarten – Heiner Goebbels und Heiner Müller. Göttingen: V&R Unipress, 2009.
HÖRSPIELE ALS AKUSMATISCHE EREIGNISSE | 177
scheint oft obsolet geworden zu sein, auch wenn selbstverständlich jeweils Tendenzen und unterschiedliche Gewichtungen erkannt und benannt werden können. Umso aktueller denn je erscheint deshalb heute das Plädoyer für das Hörspiel als eine grundsätzlich »offene Form«75 aus dem Jahr 1968: »Alles ist möglich, alles ist erlaubt. Das gilt auch für das Hörspiel«76, postuliert Helmut Heißenbüttel anlässlich der Internationalen Hörspieltagung in Frankfurt, wobei sein Beitrag in bewusster Absetzung zu Richard Kolbs Essayband provokant dessen Titel trägt – »Horoskop des Hörspiels«. Heißenbüttels plakatives Diktum der ausgehenden 1960er Jahre markiert den bereits damals längst überfälligen Wandel der Radio;@ * " `rimentell gedachter Umgang mit technisch hervorgebrachten Klangphänomenen: Der Neue Hörspieler sollte sich von dem traditionellen Worthörspiel abgrenzen können, in welchem Sprecher und Zuhörer eine quasi magisch-mystische Verbindung eingehen sollten.
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HÖRSPIELE ALS AKUSMATISCHE EREIGNISSE
Ich möchte nach diesen schwerpunktmäßig historischen hörspieltheoretischen Ausführungen nun noch einmal auf die mediale Ebene des einsinnigen Radiohörens zurückkommen, im Speziellen aus der Perspektive des Begriffsfelds der Akusmatik.77 Bei akusmatischen Phänomenen handelt es sich um akustische Ereignisse – also um Stimmen, Geräusche, Musik usw. –, deren Quelle bzw. Ursprung nicht sichtbar ist. Zurückzuführen ist dieses Konzept auf Pythagoras, der seine Vorträge und Vorlesungen einem Teil seiner Schüler gegenüber immer hinter einem Vorhang gehalten haben soll, damit diese nicht von seinem Aussehen bzw. von seiner Mimik und Gestik abgelenkt werden sollten. Die ›Neulinge‹ sollten sich ausschließlich auf die durch seine bloße Stimme vermittelten Inhalte konzentrieren. Pythagoras versprach sich durch die rein auditiv vermittelten Inhalte eine Konzentration aufs Wesentliche, wie François Bayle dies im Anschluss an Pierre Schaeffers (s.u.) Wiederentdeckung des Begriffs des Akusmatischen formuliert: 75 Helmut Heißenbüttel: »Horoskop des Hörspiels« [1968], in: Schöning (Hg.): 1970, S. 18-36, hier: 35 (Herv. i.O.). 76 Ebd., S. 36. 77 _ *= `$ # ^ # = ; Stelle möchte ich meine Ausführungen zur medialen Grundbedingung der Stimmen in der radiophonen Kunst auf das Begriffsfeld der Akusmatik als medialer Grundbedingung der Radiophonie zuspitzen.
178 | STIMMEN AUF DER SPUR »L’enseignement de Pythagore, on le sait maintenant, était un enseignement oral. Ce qui devait impliquer une parfaite attention des disciples, qui ne disposaient d’aucun écrit pour retenir la pensée. Un des auditeurs (qui n’était autre que Platon) nous l’a heureusement rap¦;&Q Q! = ¨ différentiés d’élèves. Les ›anciens‹ qui connaissaient bien sa pensée étaient assis à côté de ; ¦## Q! ¦ rière un rideau. Les ›auditeurs‹ devaient comprendre ce qui était dit à travers le rideau sans =# ! §´; =tion visuelle. Et donc tirer de la seule concentration d’écoute une compréhension solide«.78
Der Körper des Acousmêtre Pythagoras soll von den Schülern nicht imaginiert werden, diese folgen dem Gesagten im Medium der stimmlichen Verlautbarun < ; * der Position, die ich zuvor mit Rudolf Arnheims Ausführungen zum ! Hörkunst, im Speziellen in seinem Essay »Lob der Blindheit« referiert habe: auch dort wird jegliches Imaginieren quasi untersagt, allein das konkret Gehörte soll vom Rezipienten fokussiert werden. Denn: Dem radiophonen Ereignis fehle Arnheim zufolge bekanntermaßen nichts. _ ' Q!thagoreer nicht um ein Spiel von Verbergen und Aufdecken, es geht somit nicht darum, die Stimme und das Gesagte einem bestimmten Körper als Quelle zuzuordnen. Vielmehr ist das Gesagte im Medium der Stimme in seinem Erklingen und in seinem unvermittelten Erzeugen von Wirkung wahrzunehmen: als Verlautbarung durch einen Stimm-Körper, die kein visuelles Pendant sucht bzw. zu einer * =#
< erst und nur kraft des Auditiven erhält.79 Ohne jegliche visuelle Entsprechung vermag es die Stimme grundsätzlich, eine besondere Wirksamkeit zu erzeugen, ganz gleich und in welcher Weise der konkrete Klang der Stimme individuell wahrgenommen wird. Der visuellen Erscheinung wird in dieser Perspektive zuvörderst das Moment der Störung, der Ablenkung attestiert, die die Bedeutungen und die &==@ ; <
78 François Bayle: »Principes d’acousmatique/Prinzipien der Akusmatik«, in: Ders.: L’image de son/Klangbilder. Technique de mon écoute/Technik meines Hörens. Zweisprachige Edition Französisch und Deutsch, hrsg. v. Imke Misch/Christoph von Blumröder, Münster: LIT-Verlag, 2003, S. 2-31, hier: 14. 79 & Q! " 'zeption der bzw. seiner Stimme, die Stimme fungiert hier klassisch als Medium, als Mittel zur Übertragung bestimmter, vom Rezipienten zu fokussierender Inhalte.
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Lehrers (Pythagoras) bzw. diejenige des Rhapsoden bei Goethe und Schiller80 sowie deren Inhalte sollen idealiter qua Stimmlichkeit und nicht qua Visualität, die jeweils hinter dem Vorhang verborgen ist, erzeugt werden.81 In der Negierung der visuellen Wahrnehmung wird so dem rein Akustischen ein besonderer Status zugewiesen. Pierre Schaeffer ist es schließlich, der Mitte des 20. Jahrhunderts den Begriff des Akusmatischen wiederentdeckt und in die Debatten um die Musique concrète einführt.82 Er vergleicht die Rezeption von Tonträgern und Radio mit jener natürlichen, akustischen Rezeption der unsichtbaren Stimme (hinter dem Vorhang), die der Mensch seit jeher beherrscht. Der Begriff des Acousmêtre markiere Schaeffer zufolge »la réalité perceptive du son en tant que tel, en distinguant celui-ci des modes de sa production et de sa transmission: le phénomène nouveau des télécommunications et de la diffu ¤ ¤à propos et en fonction d’une donnée enracinée ¤¦ + ;¤quoi nous pouvons, sans anachronisme, faire retour à une ancienne tradition qui, pas moins =+¤ ¤ # ¨¤¥le l’entière responsabilité d’une perception d’ordinaire appuyée sur d’autres témoignages sensibles. Autrefois, c’est une tenture qui constituait le dispositif; aujourd’hui, la radio et ´ #!¤= ¦ #
80 Vgl. hierzu Goethe und Schiller: »Der Rhapsode sollte als ein höheres Wesen in seinem Gedicht nicht selbst erscheinen, er läse hinter einem Vorhange am allerbesten, so daß man von aller Persönlichkeit abstrahierte und nur die Stimme der Musen im Allgemeinen zu hören glaubte«, in: »Über epische und dramatische Dichtung von Goethe und Schiller« (1797), in: Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Münchner Ausgabe, hg. v. Karl Richter, Bd. 4.2. Wirkungen der Französischen Revolution 1791-1797, hg. v. Klaus H. Kiefer, Hans J. Becker et al., S. 128. 81 Der Vorhang bewirkt zudem, dass die Stimme sich anders, genauer, präziser artikulieren muss, damit das Auditorium dem Redner folgen kann, das Dispositiv ›Vor *#* [!= l’information visuelle et laisse passer l’information auditive. Pythagore le sait bien et se comporte d’une façon adaptée au dispositif. […] Il surmonte dans son discours toute connivence visuelle avec le groupe qui le voit. […] Le dispositif n’est pas neutre« (Bayle: 2003, S. 14). 82 Zum Konzept der Musique concrète bei Pierre Schaeffer siehe: À la recherche d’une musique concrète. Paris: Seuil, 1952; Ders.: La musique concrète. Paris: P.U.F., 1967 sowie Ders.: Traité des objets musicaux. Paris: Seuil, 1966.
180 | STIMMEN AUF DER SPUR # ¤ # ¤¦ ence semblable«.83
Mit der Re-Aktivierung dieses Begriffsfeldes erwirkt Pierre Schaeffer ein Bewusstsein für das rein Akustische des ›musikalischen Objekts‹ sowie für das Akusmatische, welches das Wahrnehmen akustischer Phänomene ohne sichtbare Quelle ermöglichen sollte. Schaeffer – und dies ist ein entscheidendes Moment auch für meine Argumentation – hält die mediale Differenz zwischen quasi-unvermittelter Rezeption hinter einem Vorhang und elektroakustisch vermittelter Rezeption von Klangereignissen aus dem Radio für vernachlässigbar, wenn er behauptet, dass »la situation acousmatique, d’une façon générale, nous interdit symboliquement tout rap # #;Q #¤¦ Q! gore et celle que nous font faire la radio et l’enregistrement, les différences séparant l’écoute directe (à travers une tenture) et l’écoute indirecte (par haut-parleur) deviennent, à la limite, négligeables«.84
Es ist somit zu vernachlässigen, wie die mediale Voraussetzung dieser »akusmatischen Situation« beschaffen ist. Die Wahrnehmung akusmatischer Klangereignisse bei gleichzeitig räumlicher Anwesenheit des Rezipienten (dies entspräche einer im weitesten Sinne theatralen Situation85) funktioniert strukturell in zumindest ähnlicher Weise wie die Rezeption bei räumlicher Abwesenheit bzw. Trennung (dies entspräche im weitesten Sinne der radiophonen Rezeptionssituation zu Hause, aber auch der gemeinschaftlichen Rezeption etwa in einer Kinosituation). Dem Beispiel Pierre Schaeffers folgend, hat Michel Chion zu Beginn der ª [ == ©;; ^ ;& Q * # $spur im Film fokussiert, welche bis dato zugunsten der Untersuchung der Bildebene nur marginal behandelt wurde. Nicht nur ist es Chions Anliegen, das Akustische des audiovisuellen Bildes zur Sprache zu bringen. Vielmehr interessiert er sich im Speziellen für die akusmatische Stimme, die Stimme desjenigen Akteurs also, der wiederum nicht respektive nur z.T. im Bildfeld als visuelle Erscheinung wahrnehmbar wird. Chion gebraucht den Begriff des Akusmatischen, um die spezi < "# *; ` erahnende visuelle Entsprechung im Bildfeld besitzen, im Verhältnis zur visuellen
83 Schaeffer: 1966, S. 91 (Herv. i.O.). 84 Ebd., S. 93. 85 Vgl. hierzu meine Ausführungen im Kapitel »Synchronisation im Modus der Off-Stimme« im Abschnitt zur Stimme im Theater.
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Ebene des Films näher zu bestimmen. Konsequenterweise weist Chion aufgrund * = Q # die aus dem Radio erklingen, keine besondere Funktion zu, da dieses Medium per se akusmatisch ist – diese Feststellung erscheint ihm als eine »Binsenweisheit« (»truisme«): »Qu’on nous pardonne ce truisme: la radio est acousmatique par essence. Les acousmêtres qui parlent à la radio le sont par le principe même du médium: on ne risque donc pas de les voir, et c’est leur différence essentielle avec l’acousmêtre cinématographique. Il n’y a pas d’effet qu’on puisse tirer du jeu entre ›montrer‹, ›montrer partiellement‹, ou ›ne pas montrer‹«.86
So sehr Chion grundsätzlich in seiner Bestimmung der medialen Grundbedingung der Radiophonie zuzustimmen ist87, dass es dem Rezipienten nicht »droht« (»on ne risque donc pas«), Stimmen aus dem Radio visualisieren oder sehen zu müssen, so sehr möchte ich ihm dahingehend widersprechen, dass es darin keine unterschiedlichen Abstufungen im Verbergen und Entbergen von Stimmen geben soll. Denn genau das Gegenteil ist sehr wohl möglich: Stimmen in der Radiophonie zu zeigen (»montrer«), partiell bzw. in Abstufungen zu zeigen (»montrer partiellement«) sowie nicht zu zeigen (»ne pas montrer«). Chions Interesse hebt zwar eindeutig auf das audiovisuelle Medium Film ab, doch sind – analog zum Film – auch innerhalb des einsinnigen Mediums Radio oder Hörspiel diese drei Variationen des Zeigens anwendbar. Das »montrer« entspräche demzufolge der Zeigefunktion der Stimme in ihrer vollen Ausprägung, etwa in der Inszenierung bestimmter Figuren bzw. – und dies scheint erst einmal erstaunlich – in der Hervorhebung von Originaltönen. Es werden auf diese Weise die Stimmen der Figuren oder des Originaltonmaterials aus akustischer Perspektive so ›offen‹ bzw. so ›transparent‹ wie möglich rezipierbar. Das »montrer partiellement« könnte bspw. die Funktion eines Erzählers im Hörspiel markieren, da diese Stimmen zumeist in zurückgenommenem (jedoch nicht ›körperlosem‹) Ton sprechen. Das »ne pas montrer« würde dementsprechend das Schweigen bzw. das funktionale oder auch ästhetische Pausieren von Stimmen markieren, obwohl hierbei – und dies sei vorab kritisch angemerkt – betont werden soll, dass es selbstverständlich auch ein »beredtes Schweigen« gibt, welches wiederum sich zeigt. Aber das »ne pas montrer« zeigt etwas in der Abwesenheit der Stimme, es besetzt eine Leerstelle. Ich möchte also Chion dahingehend widersprechen, als dass das Begriffsfeld der Akusmatik keine bloße banale Funktionsbestimmung für das Medium Radio 86 Michel Chion: La voix au cinéma. Paris: Éd. de l’Étoile, 1982, S. 27 (meine Herv., V.P.). 87 Dies entspricht ja ebenso Rudolf Arnheims Position.
182 | STIMMEN AUF DER SPUR
darstellt, sondern auch den v.a. visuell strukturierten Bereich der Imagination im Wortsinne anspricht. Selbst wenn es unbestreitbar ist, dass auf der phänomenalen Ebene des Hörspiels keine reale Bildspur vorhanden ist, so funktionieren bestimmte Analogieprinzipien strukturell auch für das einsinnige Radio. Ansonsten könnten vielschichtig eingerichtete und mehrdimensional in Szene gesetzte Hörspiele jenseits des inneren Monologs bzw. jenseits des Hörbuchs schlichtweg nicht funktionieren. Es ist also durchaus möglich, und dies möchte ich im Analyseteil in ^ # = #% und Entbergens auch und gerade während des einsinnigen Wahrnehmens in der radiophonen Situation herzustellen und als solche kenntlich zu machen.
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ES GIBT KEINE ›KÖRPERLOSEN STIMMEN‹
Ein grundlegendes Ergebnis, das aus den bisherigen Ausführungen folgt, ist, dass es in der Radiophonie keine ›körperlosen Stimmen‹ geben kann. Stimmen treten im Hörspiel immer schon als klangliche und leibliche Phänomene auf, sie erscheinen als »Spur des Körpers im Sprechen« (Krämer). Das akustische Phänomen der Stimme besitzt somit immer schon eine körperliche Dimension, sie ist ein StimmKörper und sie hat einen Stimm-Körper. Sie ist zugleich Zeichen und Spur des Körpers, der in den jeweiligen Charakteristika der Stimme in Erscheinung tritt, *; $# ' # $ #%men, seiner besonderen Präsenz. Die Stimme als akustische Spur des Körpers zu denken bedeutet, ihr einen gleichwertigen Status gegenüber ihrer visuellen Entsprechung bzw. visuellen Repräsentation in einem Bildmedium zuzusprechen. Der Stimme eignet so gesehen eine eigenständige Körperlichkeit, die sich mittels
" "` [ == Stimmlichkeit subsumiert werden kann. Und diese allgemein für die Stimme gültigen Aussagen gelten daher auch und v.a. für radiophon in Erscheinung tretende Stimmen, wie ich in den vorherigen Abschnitten aus radio- und medientheoriehistorischer Perspektive zeigen konnte. & + " * => ' te von Karl Bühler zu Beginn der 1930er Jahre in Wien dies überprüfen und belegen wollten – keine empirischen Rückschlüsse auf die Haar- oder Augenfarbe eines Sprechers möglich, wenn der Klang der Stimme das alleinige Ausgangsmaterial einer Untersuchung ist: Zwar lässt sich sicher ein gewisses Bild des Sprechers imaginieren, man wird aber im Falle einer »Deakusmatisierung« (Chion, s.u.) zumeist enttäuscht. Denn das Bild des visuell erfahrbaren Körpers stimmt in den allerseltensten Fällen mit jenem Bild des Körpers überein, welches sich über den akustischen Weg der Stimme zeigt. Dies steht jedoch in keinem Widerspruch
ES GIBT KEINE ›KÖRPERLOSEN STIMMEN‹ | 183
zur Körperhaftigkeit von Stimmen – geht es doch bei der akustisch erlebbaren Körperlichkeit gerade nicht um eine bloße Verdopplung eines visuell gegebenen ;% + # # sich zeigt. Stimmen im Hörspiel sind auch deshalb keine ›körperlosen Wesenheiten‹, da sie von Menschen gesprochen werden – ganz gleich, ob es sich um Schauspieler
# ' #chern während der Verlautbarung nicht bewusst ist, dass sie später in einem völlig # { #= *; es auch unerheblich, auf welchem (Speicher-)Medium Stimmen konserviert werden: ob auf einem physikalischen Tonträger – dem Tonband etwa – oder als digitalisierte Bits und Bytes auf einem Computer. Beide Klangmaterialien lassen sich beliebig verändern, jedoch mit einigen nicht ganz unerheblichen Unterschieden: " # `#* ders und neu zusammensetzen, es kann jedoch zugleich auch wieder verlustfrei in den Ausgangszustand zurückgeführt werden. Bei Aufzeichnungen auf physikalischen Trägern ist diese Rückführung in der Form nicht möglich, da jede Transformation auch auf dem Medium selbst seine Schnittstellen als Spur bzw. Marke zurücklässt. Was beiden dennoch gemein ist, ist der Ausgangspunkt des Klangmaterials: menschliche Verlautbarungen. Die Bearbeitung solchen stimmlichen Materials ist so dem realen Erklingen der Stimme immer nachgeordnet. Es gibt zudem mehrere – zumindest heuristisch differenzierbare – Möglichkeiten, Stimmen im Hörspiel wahrzunehmen. Dazu bedarf es unterschiedlicher Hörhaltungen: Hört man nur auf die physikalische Information der Stimme (nach Knilli: auf die Stimme als Schall), so gehen alle anderen der Verlautbarung inhärenten Momente (Stimmung, Gestimmtheit, Laune, Gemütszustand, Krankheiten etc.) verloren. Hört man nur auf das Gesagte, auf den semantischen Gehalt also, geht ebenso die Wirksamkeit der Stimme verloren und man löscht dementsprechend die klanglichen Eigenschaften der Stimme zugunsten ihrer medialen Funktion als Träger des dichterischen Wortes aus (wie etwa in Schwitzkes Hörspieldramaturgie). Ein dritter Weg der Wahrnehmung ist jener, bei dem man möglichst nur die pathischen, ethischen, appellativen Eigenschaften der Stimme fokussiert, ohne dabei weder auf die semantischen Inhalte noch auf die physikalisch messbaren Größen zu achten. { tischen, d.h. sie sind noch nicht ins Verhältnis mit einer wie auch immer gearteten Visualität gesetzt. Es entstehen daher außerdem mehr oder minder willkürliche – und dabei handelt es sich immer noch um Phänomene diesseits des Akustischen – Imaginationen, Assoziationen, Erinnerungen, die über die Verlautbarung hinaus evoziert werden können. All dies geschieht – lässt man sich auf diese bloß akusti-
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sche Wahrnehmung ein – ohne jegliche Form einer konkreten Visualisierung. Ein solches System, welches sich hinter der Perzeption des bloß Akustischen verbirgt, "`# ;; # " ; Dabei werden die Analysen der vorliegenden Studie Phänomene fokussieren, deren Stimmlichkeit sich weder zur Genüge als abstraktes Geräusch (Ars Acustica) beschreiben lässt noch ausschließlich als reines Medium (Hörbuch, Innerlichkeitshörspiel). Die Stimmen erfahren jeweils unterschiedliche Abstufungen: mal * %" | } setzt, mal werden sie in musikalischer Form komponiert, verschiedentlich montiert und collagiert, mal sind sie szenisch improvisiert und folgen somit – zumindest während der Aufnahmephasen – einer Strategie der Kontingenz, da Sprache und Stimm-Klang nur bis zu einem bestimmten Punkt vorbestimmt sein können. Die Stimmen der zu analysierenden Beispiele folgen somit weder bloß dem entkörperlichten und entsinnlichten Klangideal eines Heinz Schwitzke – für den der dichteri $* = * = Medialität bzw. die Eigenschaft, ein doppeltes Medium zu sein: Die Stimme sorgt einerseits für den Transport von Sprache, andererseits gibt sie Zeugnis für den Körper ab, sie ist also das akustische Medium sowohl für die sprachliche Kommunikation als auch für die nicht-sprachliche und in manchen Teilen enigmatisch sich gebärdende Kommunikation, die jenseits bestimmter inhaltlicher Aussagen ; = # perliche Eigenschaften inhärent sind und sie daher – selbst nicht im sogenannten ›Innerlichkeitshörspiel‹ – nie wirklich körperlos sein kann.
Stimmlichkeit und Räumlichkeit im Hörspiel
Die Stimme ist – wie alle anderen Klangereignisse auch – sowohl ein zeitliches als auch ein räumliches Phänomen.1 Wie im Zusammenspiel von (Originalton-)Stimmen, Musik und Geräusch grundsätzlich ›Raum‹ hervorgebracht werden kann, ^ *;2 Dies geschieht auch vor dem Hintergrund der Frage, inwiefern es gerade die körperliche Dimension der Stimme ist, die erfahrbar wird, indem mit der Räumlichkeit des Akustischen gearbeitet wird. Mit Hallgeräten und anderen, unterschiedlich einsetzbaren elektroakustischen Effekten kann man Stimmen einerseits in unterschiedlichen Atmosphären inszenieren und andererseits mit den Stimmen ganz spezielle Atmosphären erzeugen. Stimmen können Teil eines konkreten bzw. konkret vorstellbaren Raums sein, der ! @" " und komponiert wird (dies wird im Radiojargon in der Regel mit dem Begriff }; Q Hermann Kappelhoff diesbezüglich von einem apriorisch gegebenen Raum, dem sogenannten »Handlungsraum«, in welchem die (konkreten) Bewegungen der [ '" jekten, Dingen und Menschen in einem Raum bezeichnet, der präzise unserer alltäglichen Wahrnehmungswelt entspricht«.3 Diese Dimension des von Kappelhoff fokussierten kinematographischen Bildes verhält sich analog zu einer wesentli1
Darauf verweist u.a. Gernot Böhme in Böhme: 2006 und 2004. Vgl. zu den unterschiedlichen Formen der Räumlichkeit der Stimme: Kolesch/Pinto/Schrödl (Hg.): 2008, darin v.a. neben den einführenden Kapiteln der Herausgeber: Böhme: 2008, Werner Nothdurft: »Gesprächsräume«, S. 33-43 sowie Johanna Dombois: »Master Voices: Opernstimmen im virtuellen Raum: Fidelio, 21. Jahrhundert«, S. 127-142.
2
Vgl. hierzu im Besonderen auch den Abschnitt »Zwei Sequenzanalysen«.
3
Hermann Kappelhoff: »Die Anschaulichkeit des Sozialen und die Utopie im Film. Eisensteins Theorie des Bewegungsbildes«, in: Gottfried Boehm/Birgit Mersmann/Chris-
188 | STIMMEN AUF DER SPUR
chen Dimension des radiophonen Raums des Hörspiels: Beide sind eng mit unserer Alltagswahrnehmung verschränkt und beziehen sich »auf einen Raum, der jeder Bewegung« sowie jeder akustischen Erscheinung, »die wir sinnlich erfassen, notwendig vorausliegt«.4 Je ›unräumlicher‹ die Stimme in einem Hörspiel abgemischt wird, d.h. je weniger sie sich mit einem a priori gegebenen Raum unserer alltäglichen Wahrnehmungswelt in Einklang bringen lässt, desto abstrakter wird die Szenerie und desto mehr nähert sich die dortige Verlautbarung dem literarischen Verfahren des inneren Monologs im Roman.5 Die Grenze einer so verstandenen ›Unräumlichkeit‹ der stimmlichen Inszenierung stellt in der radiophonen Kunst auf der einen Sei{ | ";;$ `< *#* *" # $ * " * };= der anderen Seite entsteht eine schier unendliche Räumlichkeit bzw. räumliche & #* *; % Qformern gänzlich von einer semantisierbaren Artikulation von der Sprache löst * ;* &{ und Klangkunst liegt das gesamte und breite Spektrum des Stimmeinsatzes in
tian Spies (Hg.): Movens Bild. Zwischen Evidenz und Affekt. München: Fink, 2008, S. 301-320, hier: 307 (meine Herv. V.P.). 4
Ebd. Kappelhoff begreift daher diesen »apriorisch gegebenen Raum als eine erste Di [ ; ~ # == * # * " % Abbildlichkeit und realistischer Reproduktion gleichsetzen«. Mit Stanley Cavell sei vielmehr von »›automatischen Weltprojektionen‹ [zu] sprechen: Von Bildern, die sich zwar als gewohnheitsmäßige Weltwahrnehmung präsentieren, die aber etwas darstellen, was keinesfalls einen Ort in unserer Alltagswelt bezeichnet« (Ebd.).
5
Diese ›unräumliche‹ Inszenierung betrifft auch Hörspiele der Innerlichkeit (s.o.). Die+ ]" # + = # `# { $# Worts. Die derart bewusst inszenierte ›Unräumlichkeit‹ stellt sich als eine Qualität der technischen Realisierung der Stimme dar. Der Inhalt des gesprochenen Worts kann dementsprechend nie in Gänze mit dem Rezipienten verschmelzen, wie Schwitzke dies mehrfach postulierte. Die besondere Ausprägung und Charakteristik der Sprecherstim * $|}' ; me ist daher durchaus als Bindeglied im Schwitzke’schen Sinne zu verstehen, doch lässt sich keinesfalls – dies ist der entscheidende Punkt – ihre phänomenale Eigenheit und Eigenständigkeit negieren.
SONOSPHÄRE IM HÖRSPIEL | 189
{ ^ +^ und Transformation, die die technische Realisierung bietet. Die Gestaltung von Räumen kann somit als eine »grundsätzliche Voraussetzung für jede Hörspielproduktion«6 gelten und ist – neben dem Gebrauch von Stimmen – eines der entscheidenden Elemente, die die ästhetische Ausrichtung sowie die aisthetisch hervorzubringende Wirksamkeit eines Hörspiels bestimmt. Werner Klipperts Postulat zur Unverzichtbarkeit der Stimme im Hörspiel lässt sich somit aus dieser Perspektive reformulieren: ! 8! *'# . Im Folgenden werden die Ausführungen zur medialen Grundbedingung der radiophonen Situation um den Aspekt der Erzeugung von Räumlichkeit erweitert und anschließend am Beispiel R UHE 1 konkretisiert. In diesem Zuge kommen auch die im Theater-Kapitel schon eingeführten Begriffe Akustische Großaufnahme und Cocktailparty-Effekt wieder ins Spiel, die für das Hörspiel weiter ausdifferenziert werden. Dabei wird v.a. auf die Zwischenräumlichkeit eingegangen, die durch die Stimmen als radiophone Klangereignisse im Hörspiel ausgelöst werden, und welche den Radiohörer als ihren Rezipienten in besonderer Weise ansprechen und binden. Wie trägt Stimmlichkeit zur Hervorbringung von Räumen bei? Welche Wirkung erzeugt die jeweilige Räumlichkeit beim Rezipienten, der – wie zuvor formuliert – dem radiophonen Klangereignis als einem einsinnigen, * " Q "< werden dabei die Verhältnisse der jeweiligen Klangereignisse untereinander markiert und generiert?
1
SONOSPHÄRE IM HÖRSPIEL
Werner Klippert setzt sich in seiner Schrift Elemente des Hörspiels mit der räumlichen Wirksamkeit von Stimmen im Hörspiel auseinander und differenziert diese aus, indem er von den räumlichen Gegebenheiten des Theaters abhebt: »Der Bühnenraum ist schon da, wenn noch kein Schauspieler aufgetreten ist, der Hörspielraum gewinnt Kontur mit dem Erklingen der darstellenden Stimme. Sie färbt den ›Raum‹ mit ihrer Lebensatmosphäre und bezeichnet die Verhältnisse. Grundverschieden ist die Sprechhaltung dessen, der jemand anspricht (realer Raum) von dem, der mit sich selbst spricht (innerer Raum) oder der in der Art platonischer Dialoge Gedanken austauscht. Die Intensität des Sprechens läßt die Entfernung ermessen, die der Sprechende zu überbrücken gedenkt. In Wahrheit geht es aber im Hörspiel, speziell im monofonen, nicht um die Illusion eines geometrischen Raumes, sondern um die Schaffung eines Beziehungs-, Stimmungs- und Er-
6
Schmedes: 2001, S. 100.
190 | STIMMEN AUF DER SPUR lebnisraumes, beziehungsweise um Spielmöglichkeiten für Stimmen, die je nach Aufnahmeverfahren gewisse Raumeindrücke vermitteln. Die Stimme schafft nicht eigentlich Raum, sondern Situation. Aber auf diese Weise wird das Kuriosum möglich, daß die ›körperlose‹ Stimme außer der Person den Ort der Handlung und dazu die Handlung verkörpert«.7
Klippert ist – trotz des Gebrauchs des Begriffs der ›körperlosen‹ Stimme – prinzipiell zuzustimmen, doch lohnt es sich, einen genaueren Blick darauf zu werfen, was damit gemeint sein könnte, wenn Stimme »nicht eigentlich Raum, sondern Situation« generiere. Dieser Unterscheidung zwischen Erzeugung einer Situation und eines Raums möchte ich in der Weise nicht folgen, da dem Phänomen Stimme, wie zuvor gezeigt, in seinem Erklingen sogleich – neben der Zeitlichkeit – eine Räumlichkeit eignet. Der Begriff der Situation, wie Klippert ihn hier verwendet, bescheinigt der akustischen Situation eine unmögliche ›Unräumlichkeit‹, die dem Klangereignis Stimme so nicht gerecht wird, sondern höchstens für eine literarisch erzeugte Situation gelten kann. Daher fällt Klippert in diesem Punkt, obwohl er wichtige Ansatzpunkte zur Funktion der Stimme im Hörspiel benennt, wieder hinter der Beschreibung der Hörspielstimme als primär akustisches Ereignis zurück zu Gunsten der ›körperlosen‹, der inneren Stimmen, die in gewisser Weise ›unräumlich‹ erscheinen sollen. Dies widerspricht jedoch dem körperlichen Klangereignis Stimme, deren basale Eigenschaft ist, zugleich Räumlichkeit und Zeitlichkeit hervorzubringen. Der derart bei Klippert verstandene Begriff der (akustischen) Situation scheint so irrtümlicherweise von ihrer genuinen Räumlichkeit abstrahierbar zu sein. Doch der akustischen Situation ist immer auch eine Sonosphäre implizit, in der der Rezipient sich vom Klangereignis angesprochen und sich zu einer Antwort im Sinne einer Reaktion genötigt fühlt. Die akustische Situation beschreibt vielmehr die Raum-Zeitlichkeit des Hörspiels, die v.a. mittels der Stimmen-Klänge hervorgebracht wird. Der Begriff der akustischen Situation bringt also gerade nicht eine Abstraktion mit sich, sondern weist eindeutig auf die Verknüpfung und gegenseitige Bedingung von Räumlichkeit und Zeitlichkeit hin, die zudem von einem Rezipienten gewahrt wird. Der Raum der Rezeption eines Hörspiels ist – im Gegensatz zu den meisten Fällen im Theater – nicht gleichzusetzen mit dem Produktionsraum. Durch die mediale Grundbedingung und die zeitliche Differenz sind Produktion und Rezeption radiophoner Kunst per se voneinander geschieden. Das unveränderliche Artefakt Hörspiel erscheint somit als Klangereignis immer schon im ›Raum der leiblichen Anwesenheit‹ des Rezipienten, ganz gleich, ob dieser das Hörspiel über Lautsprecher oder Kopfhörer hört, und das Klangereignis stellt somit eine räumliche Ver-
7
Klippert: 1977, S. 105.
WELCHE RÄUME WERDEN IM HÖRSPIEL INSZENIERT? | 191
bindung zwischen Hörspiel und Zuhörer her. Der Raum des Hörspiels stellt sich somit als ein anderer dar, als der Raum der Rezeption. Für das Hörspiel ist die Sonosphäre deshalb auch nicht als Blase, wie etwa im Theater-Raum, sondern als ›Zwischen‹-Raum zu denken. Denn die Sonosphäre des Theaters bezieht sich auf denselben Ort des Geschehens, den Akteure und Zuschauer/-hörer miteinander teilen. Bei der Rezeption radiophoner Kunst gibt es in der Regel zwei Räume, die die Sonosphäre als Zwischenraum gedacht miteinander verbinden: den (Handlungs-) Raum des Hörspiels sowie den Raum der Rezeption. Letzterer kann am Radioapparat, an der Stereoanlage zu Hause, oder aber auch – wie bei der Rezeption von = ' ;'{ *" je nach Abstraktionsgrad der Inszenierung als ein äußerst künstlicher Raum oder auch als ein konkreter »Handlungsraum« im Sinne Kappelhoffs zu verstehen.
2
WELCHE RÄUME WERDEN IM HÖRSPIEL INSZENIERT?
Je nach Art des radiophonen Klangereignisses können ganz unterschiedliche Räume über den auditiven Kanal in Szene gesetzt werden, dies kann von Hörspiel { #[ $ # sein. Dennoch lassen sich einige Raumtypen beschreiben, die wiederkehrend erzeugt werden.8 In vielen Monolog-Hörspielen und dem Hörbuch etwa werden die Stimmen betont ›unräumlich‹ inszeniert, sodass sie ohne einen auffällig gestalteten Zusatz von Hall- und Geräuscheffekten, die auf konkrete Räume hinweisen könnten, auskommen.9 * * # ganz nah am Mikrophon zu sein, aber dennoch neutral und distanziert zu klingen. Dieser elektroakustisch hervorgebrachte Stimm-Raum ist in etwa mit dem Sicherheitston von Nachrichtensprechern zu vergleichen. Traditionell inszenierte und narrative Dialog-Hörspiele können einerseits & #" _ ; spricht dem monophonen Innerlichkeitshörspiel Schwitzke’scher Prägung, in wel8
Die folgende Aufzählung der miteinander in Verbindung gebrachten Räume bezieht
9
Somit soll der Begriff der ›unräumlichen‹ Inszenierung von Stimmen in zweifacher
sich auf die Kategorisierungen von Schmedes: 2001. Weise gebraucht werden: der technische Vorgang des ›Unräumlichen‹ wird durch das ~ & {&==;; $ * che effektlos abgemischte Stimme auch als ›trocken‹ bezeichnet. Auf der anderen Seite – auf der phänomenalen Ebene – lässt sich keinesfalls aus o.g. Gründen von einer ›Unräumlichkeit‹ sprechen, da diese ja per se unmöglich ist, da jedes Klangphänomen zugleich zeitlich wie räumlich ist.
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chem neben den Stimmen nur sparsam illustrierende Geräusche oder Musik als akustischer Vorhang und Markierung von Szenenwechseln eingesetzt werden. Dialog-Hörspiele werden jedoch andererseits auch und v.a. in konkreten Räumen inszeniert, in denen atmosphärische und charakteristische Klanglandschaften, die sogenannte ›Atmo‹, zu den Dialogen gemischt werden (s.u.). Meist werden diese atmosphärischen Soundscapes dem Hörspiel nachträglich hinzugefügt, um die jeweilig erwünschte akustische Raumillusion zu erzeugen. In einigen Fällen jedoch – wie bspw. in den meisten Arbeiten Paul Plampers – werden bestimmte Dialog-Passagen in realen Räumen in Szene gesetzt, um eine realistische Klangkulisse zu evozieren und eine möglichst natürliche, szenisch ausagierte Situation zu erzeugen. & " # ~ # bestimmte Szenen kommentieren oder räumliche, zeitliche wie inhaltlich elliptische Veränderungen sprachlich markieren etc., werden zumeist – in Absetzung zur räumlichen szenischen Situation – bewusst ›unräumlich‹ – im technischen Sinne – gemischt und wiedergegeben. In Originalton-Hörspielen wiederum können disparate Räume zusammengebracht werden: es werden somit diejenigen Räume, aus denen das Originalmaterial gerissen wurde, in einen neuen Klangraum überführt, in welchem die diversen Stimm-Ereignisse einen ganz neuen und endgültigen Klangraum hervorbringen. Es entsteht somit eine eigene, neue Narration, welche aus dem vorausgehenden (Found-Footage-)Material montiert und collagiert wird. Ich werde diesbezüglich an der Arbeit C RASHING A EROPLANES (FASTEN YOUR SEAT B ELTS) von Andreas Ammer zeigen, in welcher Weise derart im Grunde disparate Klangräume in einen völlig neuen und eigenen Hörraum zusammengebracht werden, indem bspw. Originaltonsequenzen mit szenisch nachbereiteten und von Schauspielern nachge $ **;10 10 Einen Sonderfall hinsichtlich der Generierung von Räumen stellen darüber hinausgehend die Verfolgungs-Hörspiele Andreas Ammers dar: Dort spielen v.a. Laiensprecher mit der Beobachtung und der Verfolgung Fremder, was stark an die ENNES
FILATURES PARISI -
(1978/79) bzw. die SUITE VÉNITIENNE (1980) Sophie Calles erinnert, in denen die
Künstlerin die gezielte Verfolgung unbekannter Personen aufnimmt, diese photographiert und die Photos in Ausstellungen und Tagebüchern mit Kommentaren versieht. Die im Hörspiel erklingenden Stimmen der Beschatter werden von Ammer bewusst an Original›hör‹plätzen, u.a. an einer Straße, an einem Kinderspielplatz, einem Bahnhof, oder auch während der Fahrt im Auto in Szene gesetzt. Hier zeigt sich jedoch die Grenze des inszenierten Grundmaterials deutlich, da die Sprecher ihre spontanen Beobachtungen in ihr Aufzeichnungsgerät sprechen. Es soll hierüber eine konkrete, weitestgehend authentische Stimmlichkeit und Räumlichkeit erzeugt werden. Es
WELCHE RÄUME WERDEN IM HÖRSPIEL INSZENIERT? | 193
Akustische und imaginäre Räume Götz Schmedes unterscheidet bezüglich der Ausprägung von Räumlichkeit strukturell zwischen akustischen und imaginären Räumen im Hörspiel. Als akustische gelten dementsprechend »alle hörbaren, als Klang materialisierten Räume. Sie entstehen aus der Aufteilung der zu einer Szenerie gehörenden Elemente auf stereophone Positionen, aus den Entfernungen der * ristik der darzustellenden Räume. Alle drei Merkmale sind gleichermaßen relevante Bedeutungsträger für die Konstitution akustischer Räume. Jeder Raum kann demnach als dreifach ==" Q &# ihrer Entfernungen sowie hinsichtlich seiner allgemeinen Klangcharakteristika hinterfragt werden«.11
{ * #* @> = schen Wahrnehmungskanal – mittels der Aufnahme von Stimmen hervorgebracht werden kann, derart, dass neben dem Klang der Stimme und den anderen akustischen Phänomenen die Raumposition der Klänge und ebenso die Wahl und Position der Mikrophone eine entscheidende Rolle spielen.12 Der akustische Raum des Hörspiels lässt sich hinsichtlich der Rahmensetzung und des räumlichen Verhältnisses der jeweiligen Klangereignisse in einem Vergleich mit dem (audio)visuellen Raum des Films konturieren: Wird im Film die Breite des Handlungsraums v.a. über die Einstellungsgröße determiniert, so erzeugen diesen Effekt analog dazu im Hörspiel die zugeordneten Stereopositionen. Der akustische Raum wird somit »als äußerer Rahmen für darin angesiedelte Klangereignisse« gesetzt. »Dieser Rahmen«, so Schmedes weiter,
werden bewusste, sozusagen ›spontane‹ Originaltöne produziert, um daraus eine spannungsvolle und im Moment der Artikulation entstehende Geschichte als eine möglichst lineare Narration entwickeln zu können. Ich möchte im Rahmen der vorliegenden Studie jedoch nur auf die beiden Hörspiele verweisen und nicht näher behandeln (vgl. hierzu: O N
THE
TRACKS [UNDERCOVER-H ÖRSPIEL] [WDR 2002, R: Andreas Ammer/
Console] sowie SWEET S URRENDER [ STILL
ON THE
T RACKS] [WDR 2003, R: Dies.]).
11 Schmedes: 2001, S. 100. 12 Ein monophones Hörspiel bietet ganz andere Möglichkeiten als ein stereophones, das räumliche Klangspektrum in der Kunstkopf-Stereophonie ist noch ausführlicher; HeadSet, Mikroport, Raummikrophon, Standmikrophon und Tischmikrophon bieten jeweils eine eigene Klangcharakteristik.
194 | STIMMEN AUF DER SPUR »determiniert nicht nur den Schauplatz für die Klangereignisse, sondern geht zugleich aus ihnen hervor, worin der zentrale Unterschied zum optischen Raum besteht, der auch ohne die Aktivität handelnder Figuren oder eine sonstige Ereignishaftigkeit angedeutet werden kann. Die Breite des akustischen Raums resultiert aus den Stereopositionen, seine Tiefe aus den Entfernungen und seine Charakteristik – beispielsweise seine Größe – aus der mit den Klängen hervorgerufenen Resonanz«.13
Erschließen sich diese drei Ebenen der räumlichen Verhältnisse im Filmbild zumeist aus der Visualität der gewählten Einstellungsgröße der Aufnahmen, so können diese dementsprechend auch in der monomodalen Radiophonie in jeweils unterschiedlicher Gewichtung variiert werden. Das Filmbild verweist in der Regel deutlicher als das Hörspiel auf seine räumlichen Verhältnisse.14 Jedoch, so Götz Schmedes, »bleibt der akustische Raum für jeden Rezipienten bis zu einem gewissen Grad unbestimmt, da mit Klängen lediglich räumliche Merkmale vermittelbar ;# Q # "gen zu Räumen oder Raumverhältnissen ist weniger eindeutig als bei optischen Zeichen. Klang ist immer nur ein Indiz für den Raum, der ein akustisches Ereignis #+ &= `" ' ;15 Dabei sind die Grenzen zwischen reiner Klangwahrnehmung und Imaginati `* #&=nung und Klangcharakteristik« näher bestimmt: »Alle drei Merkmale tragen auf ihre Weise zur Imagination von Räumlichkeit bei und verweisen auch auf Räume jenseits desjenigen zwischen den Lautsprechern. Stereopositionen und Entfernungen markieren Raumaufteilungen und Bewegungen darin, die Klangcharakteristik die Schauplätze selbst: Die Akustik des Innenraums einer Kirche unterscheidet sich von der einer Bahnhofshalle, der Klang der Küche einer Wohnung von dem einer Großküche. Und neben der akustischen Raumgestaltung tragen auch viele verbale Verweise zum Entstehen imaginärer Räume bei. Oftmals ergänzend zu den Raumklängen weist der Wortlaut auf Schauplätze hin, sei es durch einen Erzähler oder durch dramatische Figuren, sei es als direkte Ortsangabe oder als indirekter Bestandteil szenischer Figurenrede«.16
13 Ebd., S. 100. 14 Dies liegt auch daran, dass die »gewohnheitsmäßige Weltwahrnehmung« (Kappelhoff: 2008, S. 307) sowohl über das Visuelle als auch über das Auditive generiert werden kann. 15 Schmedes: 2001, S. 101. 16 Ebd., S. 101.
WELCHE RÄUME WERDEN IM HÖRSPIEL INSZENIERT? | 195
Gestaltung des akustischen Hintergrunds Die Gestaltung des akustischen Hintergrunds, der sogenannten ›Atmo‹, dient u.a. zur Orientierung des Rezipienten im Hörspiel.17 In der (Post-)Produktion wird da ;;= & # stimmte (Dialog-)Situation näher bestimmen sollen mit dem Zweck der akustischräumlichen Situierung. Jeder kann sich etwa den Handlungsraum eines Bahnhofs vorstellen: Dieser wäre bspw. charakterisiert durch die in den Bahnhof einfahrenden und bremsenden Züge, durch die halligen und metallen ertönenden BahnhofsAnsagen aus den Lautsprechern, durch das schrille Erklingen einer Trillerpfeife, * ;& = also, die ständig in Bewegung ist, die unruhig ist; eine Situation, die droht zu # # ' >* genommen zu werden. Dieses Soundscape kann außerdem markieren, ob sich der [ = # _ ^ ;|+ ein eigenes, bahnhofstypisches akustisches Design) bzw. ob es sich dabei um die & = > ;18 Wenn von der ›Atmo‹ als Orientierungsmoment gesprochen wird, geschieht dies mit Blick auf jene Räumlichkeit, die apriorisch gegeben ist, eine Räumlichkeit, die sich als »gewohnheitsmäßige Weltwahrnehmung« (Kappelhoff) zeigt. Die ›Atmo‹ wird sozusagen als ›hintergründiger‹ Klangteppich einer ›vordergrün ~ ; = 17 Vgl. ebd., S. 100ff. 18 Eine der ersten uns akustisch erhaltene radiophone Klanglandschaft ist das OriginaltonHörstück WEEKEND von Walter Ruttmann aus dem Jahre 1930, in der typische Sounds vom freitäglichen Feierabend einer Telephonvermittlung über die wochenendliche Landpartie mit Dorfkapelle bis hin zum montäglichen Geräusch des Weckers miteinander kombiniert und collagiert wurden. Vgl. hierzu Karl Karst: »Hörreise zur Akustischen Kunst«, in: Meißner/Krzewina (Hg.): 2009, S. 124-133, hier: 129: »›Weekend‹ ist ein Hör-Film im buchstäblichen Sinne: Sounds erscheinen nicht als illustratives Beiwerk, sondern als eigenständiges Material einer künstlerischen Collage. Klang ist Klang – und: Klänge kommen nicht von einem Instrument, sondern sind technisch aufgezeichnete Original-Töne der Wirklichkeit, Material der akustischen Realität, zusammengefügt zu einem Werk einer neuen akustischen Kunst«. Zu Ruttmanns WEEKEND siehe auch: Wolfgang Hagen: »Walter Ruttmanns Großstadt-WEEKEND. Zur Herkunft der Hörcollage aus der ungegenständlichen Malerei«, in: Nicola Gess/Florian Schreiner/Manuela K. Schulz (Hg.): Hörstürze. Akustik und Gewalt im 20. Jahrhundert. Würzburg: Königshausen und Neumann, 2005b, S. 183-200 sowie Antje Vowinckel: Collagen im Hörspiel: die Entwicklung einer radiophonen Kunst. Würzburg: Königshausen und Neumann, 1995, S. 60-75.
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** & ^ * [ des Settings im realistischen Roman, an welchem Ort etwa die Geschichte spielt, mit dem großen Unterschied jedoch, dass sie im Hörspiel als akustischer Sub { "=; ›Atmo‹, wie dies Andreas Hagelüken formuliert, »ein unglaublich dichtes, weil vielschichtiges Gebilde sein und sie offeriert – bei entsprechender Aufnahmetechnik – neben den Inhalten der in ihr angesiedelten Klangquellen (also die klassischen Materialien Klang/Geräusch/Sprache) einen weiteren, elementaren Baustein der Radioarbeit: den […] Raum des Geschehens, der in seiner Eigenschaft alle in ihm & *" > aus dezidiert von seiner Beschaffenheit (als Größe, Einrichtung und akustische Bedingung der Möglichkeit) spricht«.19
Besonders interessant erscheint Hagelüken zudem, »dass die Aufmerksamkeit der Produktion weniger einer Abbildung des Entstehungs- oder Aufnahmeraumes gilt als der Zielvorstellung des abzubildenden, tontechnisch realisierten Handlungsraumes, kurz des Illusionsraumes«.20 Dies wird in den meisten Fällen derart realisiert, obwohl – wie die folgenden Analysen zeigen werden – auch andere Methoden der Hervorbringung der ›Atmo‹ durchaus möglich sind, in denen bspw. auch in realistischen bzw. realen = ; Nach den theoretischen Ausführungen in den zurückliegenden Abschnitten zur 8 ! * Beispiel des nouveau roman, nämlich dem Roman La Jalousie von Alain Robbe-Grillet (Paris: Minuit, 1957), in welchem aus der Perspektive eines quasi-unsichtbaren Erzählers die Ereignisse geschildert, Gedanken artikuliert und versteckte Handlungen vollzogen werden. Die Erzählinstanz ist hierbei zumeist Teil der Diegese, kaschiert diese aber bis zu gewissen Momenten, die vom Leser z.T. entschlüsselt werden können. Ein Beispiel: Der ›Erzähler‹/die Erzählinstanz ist anscheinend – folgt man einer die Narration eher plausibilisierenden Lektüre – ein eifersüchtiger Mann, der seine Frau dabei beobachtet, wie sie mit einem Bekannten anbandelt. Dies wird vom Erzähler mal aus der Distanz geschildert, mal aus nächster Nähe. Der Erzähler ist u.a. Teil der Diegese, d.h. alle drei Hauptpersonen sitzen gemeinsam an einem Tisch, der Erzähler wird aber weder angesprochen noch nimmt er aktiv an einem Gespräch Teil, sodass man als Leser den & # & " < lung und über die jeweilige Zeitlichkeit der einzelnen Sequenzen hergestellt wird. Das theatrale Tableau des M OLIÈRE ist schon in Gänze da und der Zuschauhörer kann kontemplativ die Szenerie sowie den restlichen Theaterraum inklusive der anderen Zuschauer/-hörer betrachten und verfügt dabei auch über eine gewisse Zeit. Das radiophone Tableau in RUHE 1 hingegen entfaltet sich mit der Zeit und gibt erst mit dem Ende ein vollständiges ›Hör-Bild‹ ab. Narratologisch formuliert: Erzählzeit und erzählte Zeit fallen beim Hörspiel-Hören eigentlich in eins. Folgt man jedoch der Logik der Fiktion, so entspricht die Erzählzeit nicht der erzählten Zeit. Die erzählte Zeit wird dabei zwar marginal gedehnt oder verkürzt, aber das Entscheidende hierbei ist die Wiederholungsstruktur bzw. Kreisstruktur innerhalb des Hörspiels. 1.3 Akustische Großaufnahme und Cocktailparty-Effekt Hinsichtlich der Stimmen, die radiophon in Erscheinung treten, konnte schon an mehreren Stellen angedeutet werden, dass Radiostimmen nicht nur per se akusmatisch und daher immer mit Stimmen aus dem Off vergleichbar sind.11 Dies gilt insofern, als dass man als Rezipient nicht über die visuelle Entsprechung einer => | Acousmêtre nach Michel Chion). Doch können Stimmen im Hörspiel ebenso jene unterschiedlichen Funktionen erfüllen, die nach Chion ein Acousmêtre im Film übernehmen kann, wenn auch 11 Vgl. hierzu das Kapitel »Hörspiele als akusmatische Ereignisse«.
EINE RADIOPHONE AUSGANGSSITUATION | 209
unter anderen technischen und medialen Voraussetzungen. Der Modus der unterschiedlichen Abstufungen des »montrer«, des »montrer partiellement« sowie des »ne pas montrer« der Stimmen im audiovisuellen Medium Kino oder Fernsehen funktioniert analog dazu – so meine These – auch hinsichtlich der Funktionen der Stimmen ohne visuelle Entsprechung im Radio. Wie können nun diese unterschiedlichen Abstufungen funktional gesteuert bzw. in Szene gesetzt werden? Es lassen sich hierzu bspw. Akustische Großaufnahmen in der Radiophonie inszenieren. Diese werden zumeist mittels der Mischung hergestellt, in der Lautstärke- sowie Frequenzverhältnisse derart miteinander kombiniert werden können, dass im einen Fall über die Lautstärke manche Stimmen im Vordergrund, andere im Hintergrund zu vernehmen sind, auf der anderen Seite spielen leichter wahrnehmbare Frequenzen eine Rolle: Sie können gegenüber anderen Stimm- oder Geräuschfrequenzen, deren Wahrnehmbarkeit erschwert oder gar verdeckt ist, in den Vordergrund rücken. Dieses Phänomen der Verdeckung akustischer Ereignisse wird in der Tonstudiotechnik sowie in der Psychoakustik auch als »Simultanverdeckung« oder »Maskierung« (masking) bezeichnet: »Werden dem Ohr zwei Schallsignale angeboten, so kann eines der beiden unhörbar sein, falls die Signale in Zeit- und Frequenzbereich nah beieinander liegen (Verdeckung, engl. masking). Bei der Verdeckung gleichzeitig dargebotener Signale (Simultanverdeckung) sind folgende Effekte zu beobachten: – dicht benachbarte Töne verdecken einander stärker als Töne mit großem Frequenzunterschied; – die Verdeckung ist im Frequenzbereich unsymmetrisch, höhere Töne werden stärker verdeckt als tiefere Töne; – je größer der Pegel des verdeckenden Tons ist, desto breiter ist der verdeckte Frequenzbereich; – je größer die Bandbreite des verdeckenden Tons ist, desto breiter ist der verdeckte Frequenzbereich; Rauschen verdeckt alle Frequenzbereiche gleichmäßig. Durch Simultanverdeckung […] wird aus der Hörschwelle die Mithörschwelle«.12
Die Akustische Großaufnahme im Hörspiel lässt sich zudem auch über die räumliche Inszenierung der Stimmen respektive des Klangteppichs kreieren, indem man mit Hall- oder anderen atmosphärischen Effekten die unterschiedlichen Stimmen " % *; { mischt. So kann etwa (wie zuvor fürs Theater beschrieben) ein beim ersten Hören kaum wahrnehmbarer Laut, ein kleiner Seufzer bzw. ein leises Flüstern und 12 Thomas Görne: Tontechnik. Leipzig: Carl Hanser Verlag, 2006, S. 116f. (Herv. i.O.). ! [ ==% ;;{^¡ Eberhard Zwicker: Psycho-Acoustics Facts and Models. Berlin/Heidelberg/New York: Springer, 32007, S. 61-110.
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Hauchen elektroakustisch in den Vordergrund gerückt werden, und es wird sogar möglich, den scheinbar lauten und lärmenden Klangteppich so in den Hintergrund zu mischen, dass das Flüstern sich klar und deutlich etwa von der sogenannten ›Atmo‹ des Alltagslärms, etwa derjenigen eines Bahnhofs, abheben kann. Derart kann auch der sogenannte Cocktailparty-Effekt erzeugt und in besonderer Weise inszeniert werden. Mit diesem Effekt bezeichnet man eigentlich die Fähigkeit des menschlichen Gehörs, aus einem vielstimmigen Klangteppich aus Gemurmel, Geräuschen, Seufzern, Schluchzern, Gesprächen immer wieder eini{ # nie um schematisch gleich lange Sequenzen handelt, in denen immer die gleiche Zeit erzählt und darüber formal eine Synchronizität erzeugt würde. Die Synchronisierung = #* #> ^ ;
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zweier Sequenzen bzw. auf der Interaktion zwischen zwei ›Tischen‹. Hierin wird deutlich werden, wie im Akustischen Tableau, als welches ich dieses Hörspiel letztlich fassen möchte, nicht unbedingt ein Heran- oder Wegzoomen akustisch realisiert werden muss, um Räumlichkeit zu erreichen – inwiefern die anderen Gespräche an den Nebentischen als stimmlich-akustische Klangpotenziale immer auch schon im Raume schweben. Nähe und Distanz im Akustischen Tableau R UHE 1 Dass die hintergründigen Unterhaltungen, Gespräche und Reaktionen als potenzielle Klangereignisse im Klangraum ›umherschwirren‹, zeigt sich in der letzten Phase der Sequenz »Abgrund nebenan«, in der es zu einer circa einminütigen Kommunikations-Interaktion zwischen zwei Tischen (virtuell zwei Sequenzen) kommt (TC: 00:43:22-00:44:14). Mehmet stellt nach dem Aufprall und während [ `Q> ^ge: »Ist das normal?«, Wuttke erwidert dies mit einem bestimmten »Ganz ruhig!« Beide schweigen anschließend. In diesem Schweigen rückt das Gespräch des Nachbartisches ins Hörfeld des Rezipienten (dies geschieht, ohne dass die Lautstärke jenes Gesprächs technisch erhöht wird). Ich höre nun die Stimme einer empörten älteren Frau, die bislang noch nicht im Vordergrund, d.h. als Protagonistin einer Sequenz in Erscheinung getreten ist. Sie sagt: »Hier muss doch einer im Hause sein, der etwas zu sagen hat, und zu bestimmen hat, das kann man doch nicht mit ansehen!« Daraufhin der Kellner: »Wie gesagt, es wird sich schon drum gekümmert«. Wuttke schaltet sich unvermittelt in das Gespräch ein und wendet sich anscheinend dem Kellner zu: »Haben Sie denn die Polizei gerufen?« Stellt sich für R UHE 1 immer wieder die Frage »Wer hört?«, entfaltet sich hier also eine ›mise en abyme‹-Struktur: Ich höre und belausche Wuttke, der die Empörung der alten Frau hört und belauscht, ich werde als Rezipient des Hörspiels nun zum Entendeur des sowohl auf visueller (Prügelei) als auch akustischer Ebene (Gespräch am Nebentisch) beobachtenden Wuttke. Darüber wird die Position des Belauschenden – genauer: desjenigen, der die Tischgespräche belauscht – vom Rezipienten, der sich trotz aller immersiven Potenziale des Hörspiels immer noch ` #= ^ *;
pelt. In diesem Moment entfernt sich das Gehörte für den Rezipienten deshalb vom Status einer Tonbandaufnahme. Es verstärkt sich hier vielmehr der Eindruck einer internen Fokalisierung des Gehörten (s.o.). Wir hören also in den Ohren der jeweiligen Figur ›mit‹, wir nehmen wahr, was Wuttke wahrnimmt. Man könnte
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somit – in Anlehnung an die sogenannte ›Camera-Eye-Perspektive‹ (Stanzel)25 – in diesem Fall von einer ›Microphone-Ear-Perspektive‹ sprechen. Eine solche ›Microphone-Ear-Perspektive‹ erzeugt hier eine quasi-objektive bzw. ›neutrale‹ Hörperspektive auf das Geschehen: im Sinne einer Beobachtung, einer neutralen Gewahrwerdung von Geschehensabläufen durch ein Mikrophon. Und zugleich ist dieses Gewahren mit einer Figur gekoppelt, wird als Hörakt zu einer subjektiv-menschlichen Wahrnehmung transformiert.26 Gerade das verstärkt nun – so meine These – die Involvierung des Rezipienten in die akustische Szenerie. Es entsteht der Eindruck einer Perspektivierung, die der subjektiven Einstellung der Kamera beim Film gleicht, einer Einstellung, die einen bloß eingeschränkten Blick auf die Szene zulässt: Dort sieht man, etabliert über eine Schuss-Gegenschuss-Konstruktion, mit einem Protagonisten und erkennt nur dessen begrenztes Blickfeld. Ähnliches geschieht in der vorliegenden Sequenz hinsichtlich des Mikrophon-Ohrs. Die Stimmen der alten Dame vom Nebentisch und diejenige des Kellners sind über eine gewisse Distanz hinweg wahrnehmbar und stehen so im klar vernehmbaren Kontrast zu den Mikrophonstimmen der Hauptakteure der Sequenz, Wuttke und Kücük, deren Atmen, deren Anhauchen deutlich als im Vordergrund positioniert zu gewahren sind – parallel zum (Streit-)Gespräch zwischen der alten Dame und dem Kellner. Die Stimmen der beiden Protagonisten dieser Sequenz sind also – und dies gilt für alle anderen Sequenzen auch – als Nahaufnahmen konzipiert und aufgenommen, das Hauchen, Schmatzen, die Anlaute, die sonst unhörbaren, leisen Geräusche der sich öffnenden Lippen werden als Großaufnahme besonders deutlich wahrgenommen. Die Stimmen des Nebentischs werden somit aus einer Art partiell distanzierten Perspektive wahrgenom# * & ` ; { deshalb, weil die ›Totale‹, die Caféhaus-Atmosphäre, ebenfalls noch qua Stimmengewirr im Hintergrund wahrzunehmen ist. Somit lassen sich hinsichtlich einer ›Figuren-Raum-Konstellation‹ zumindest drei unterschiedliche Ebenen in dieser Sequenz unterscheiden, die jeweils auch andere Stimmgesten wahrnehmbar werden lassen: 1. die Protagonisten (Tischgespräch im Vordergrund); 2. die Nebenakteure (Gespräche vom Nebentisch); 3. alle anderen Akteure (Caféhaus-Atmosphäre). Und diese drei Ebenen markieren einerseits die räumlichen Unterschiede in der Inszenierung von Nähe und Distanz und 25 Vgl. Franz K. Stanzel in Auseinandersetzung mit Robbe-Grillets La Jalousie im Kapitel »›Camera Eye‹«, in: Ders.: Theorie des Erzählens. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 61995, S. 294-299, hier: 297. 26 Ich danke der Romanistin Christina Schaefer für diesen Hinweis, inwiefern sich in der bei Robbe-Grillet so prominenten ›Camera Eye‹-Technik eine Kopplung von Neutralisierung-Objektivierung und Gebundenheit an menschliche Wahrnehmung realisiert.
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suggerieren somit einen geometrisch imaginierbaren Raum. Andererseits werden Stimmen gleichzeitig mit jeweils unterschiedlichen Klangeigenschaften in Szene gesetzt: 1. klare und deutliche Artikulation mit Großaufnahme der außersprachlichen, artikulatorischen, prosodischen Klangereignisse der Stimmen (Tischgespräch im Vordergrund); 2. klare und deutliche Artikulation aus halbnaher Distanz |~ }x; * # stimmlich als wabernde Klangmasse bzw. Stimmengewirr wahrzunehmende Kakophonie der Stimmen aus dem Hintergrund in Totaler Einstellung (Caféhaus-Atmosphäre). Es treffen dementsprechend zeitgleich mehrere Stimm-Gesten aufeinander, die auf je unterschiedliche räumliche Konstellationen verweisen, die unterschiedliche Räume markieren und die somit Rahmen (der Wahrnehmung) setzen – und dies gilt folglich für die durchaus als offen und omnidirektional zu betrachtende Hör-Perspektive (im Verhältnis zur immer durch einen (Bild-)Rahmen eingeschränkten bzw. nach einer Seite gerichteten Blick-Perspektive). Das Besondere an dieser Hör-Perspektive ist in der Tat, dass hier gänzlich unterschiedliche Wahrnehmungsangebote parallel ablaufen, die man aber zugleich wahrnehmen und bis zu einem gewissen Punkt auch selbst fokussieren kann. Daher ergibt sich aus der Inszenierung von R UHE 1 ein vielschichtiges und akustisches Tableau, welches – bis auf wenige Ausnahmen – nur aus technisch realisierten Stimmen in Szene gesetzt wurde. Die vereinzelt auftretenden Geräusche (urbanes Rauschen, Handyklingeln, Geschirrgeklapper) unterstützen hierbei die detailgetreue Inszenierung der Szenerie eines Caféhauses. Im Vordergrund stehen jedoch immer die jeweiligen Stimmen und die zu einem Großteil improvisierten Tischgespräche (s.u.). { Q ~ = aus diesem Zusammenspiel der technisch realisierten Stimmen ein akustisches Tableau vor bzw. in den Ohren des Hörers. Zugleich, da man sich auch als Teil der Szene oder zumindest teilnehmender akustischer Beobachter (Entendeur) mittels der quasi-objektiven und neutralen ›Microphone-Ear-Perspektive‹ in diesem Hör * #* $ um nicht zuletzt sich selbst darin zu beobachten.
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STIMME, IMPROVISATION UND SZENISCHES SPIEL IM HÖRSPIEL Es liegt ein sonderbarer Quell der Begeisterung für denjenigen, der spricht, in einem menschlichen Antlitz, das ihm gegenübersteht; und ein Blick, der uns einen halb ausgedrückten Gedanken schon als begriffen ankündigt, schenkt uns oft den Ausdruck für die ganze andere Hälfte desselben. Ich glaube, daß mancher große Redner, in dem Augenblick, da er den Mund aufmachte, noch nicht wußte, was er sagen würde. Aber die Überzeugung, daß er die ihm nöthige Gedankenfülle schon aus den Umständen, und der daraus resultirenden Erregung seines Gemüths schöpfen würde, machte ihn dreist genug, den Anfang, auf gutes Glück hin, zu setzen. HEINRICH V. KLEIST/1805-06
_ { Q " ein schwieriges oder gar merkwürdiges Unterfangen zu sein und bringt Zweifel hervor – und dies nicht nur mit Blick auf die im ersten Abschnitt dieses Kapitels diskutierten theoretischen Positionen eines Richard Kolb oder Heinz Schwitzke. Stimmen und zudem kollektive Improvisationen im Hörspiel scheinen hinsichtlich der deutschsprachigen Hörspieltradition diese Zweifel zu verstärken.27 Diese letztendlich als ›theatral‹ zu kategorisierende Art der Herangehensweise an eine Hörspielproduktion ist auch heute immer noch, und selbst nach den Entwicklungen, die die unterschiedlichen Ausrichtungen des Neuen Hörspiels mit sich brachten, durchaus ungewöhnlich, setzt man diese in Bezug zum Gros der produzierten und gesendeten Hörspielarbeiten. Ich möchte nun daher den in aktuellen kulturwissenschaftlichen Debatten stehenden Begriff der Improvisation ins Spiel bringen – insbesondere Publika27 Nur Antje Vowinckel benennt am Rande ihrer Studie zu Collagen im Hörspiel (1995, S. 278), die Möglichkeit der Improvisation im Hörspiel, einerseits als ein historisches Merkmal, als den Radiomachern der 1920er Jahre in Deutschland noch nicht wirklich klar war, in welche Richtung sich diese neue Kunstform entwickeln würde, anderer [* # Hörspiele mit Hilfe von Aleatorik und Improvisationen erstellt haben. Bei den letztge{ ' # { # ;
STIMME, IMPROVISATION UND SZENISCHES SPIEL | 225
|+ } * | } hen hier zur Diskussion. Für meine Ausführungen fruchtbar machen möchte ich den Begriff insbesondere für die hörspielimprovisatorischen Arbeiten Paul Plampers. Denn Plamper ist einer der wenigen Regisseure radiophoner Produktionen, die zwar eine narrative Linie verfolgen, während deren Produktionsprozess jedoch maßgeblich mit Improvisationen gearbeitet wird, bevor schließlich das im Rahmen von Improvisationen/Aktionen/Handlungen/szenischen Übungen entstandene Rohmaterial bearbeitet und zu einem Artefakt montiert wird. Aus dieser { * = | scher) Offenheit sowie Spontaneität des (stimm-körperlichen) Ausdrucks auf der Produktionsebene und collagierter und sowohl inhaltlich als auch formal strenger Zusammenführung dieser Stimmen zu einer ›erzählbaren Geschichte‹ auf der Postproduktionsebene.28 3.1 Exkurs: Zum Begriff der Improvisation Improvisation hat derzeit »Konjunktur«. Dies gilt nicht nur für den Bereich des künstlerischen Arbeitens im engeren Sinne, denn, so der Theaterwissenschaftler Hans-Friedrich Bormann, »[w]as seit jeher als ein wichtiges Moment jeder kreativen Tätigkeit angesehen wurde, wird gegenwärtig zu einem Paradigma eines neuen, anderen Arbeitens erklärt. (…) Wer improvisiert, betritt den Möglichkeitsraum einer freien Kreativität, an deren umfassendem und universellem Charakter kein Zweifel zu bestehen scheint«.29
»Improvisieren«, so fasst Kai van Eikels den gemeinsamen Nenner der aktuellen Debatten um dieses Konzept bzw. diese (Lebens-)Einstellung zu (alltäglichem 28 Die Informationen über die Produktionsweisen der Hörspiele Paul Plampers entnehme ich mehreren Gesprächen, die ich mit dem Regisseur u.a. im Rahmen einer vom Forschungsprojekt »Stimmen als Paradigmen des Performativen« des SFB Kulturen des Performativen veranstalteten Tagung im Mai 2006 sowie im Rahmen eines von mir veranstalteten Proseminars zum Thema Radiostimmen (WS 2006/07), beide Veranstaltungen jeweils am Institut für Theaterwissenschaft der FU Berlin, geführt habe. Für die offen geführten und aufschlussreichen Diskussionen sowie für die Bereitstellung des Hörspielmaterials gilt Paul Plamper mein besonderer Dank. 29 Hans-Friedrich Bormann: »›Improv is still rubbish‹. Strategien und Aporien der Improvisation«, in: Gabriele Brandstetter/Bettina Brandl-Risi/Kai van Eikels (Hg.): SchwarmEmotion. Bewegung zwischen Affekt und Masse. Freiburg: Rombach, 2007, S. 125-146, hier: 125.
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wie künstlerischem) Handeln zusammen, entwickle »die menschliche Fähigkeit, auf ungeplante, so nicht vorhergesehene Situationen zu reagieren, zu einem eigenen Prinzip«. Improvisation stehe, so van Eikels, »für eine besondere Einstellung des Handelns, für besondere Handlungsformen und -techniken, für eine besondere Weise, Handeln wahrzunehmen, und ein besonderes Verständnis dessen, was Handeln ist – alles gewonnen aus der Beziehung zum Unvorhersehbaren, die das Reagieren auf Unvorhergesehenes eingeht«.30
Bormann seinerseits macht hinsichtlich dieses für universell gehaltenen Charakters des Improvisierens eine Einschränkung und beschreibt Improvisation als ein Handeln, welches sowohl Wissen als auch eine bestimmte Könnerschaft voraussetzt, denn »[z]ur Improvisation wird das Handeln (…) erst dann, wenn zum Wissen und zur handwerklichen Könnerschaft eine gewisse $# ! und Gewandtheit hinzukommen sowie die Bereitschaft, mit Überraschungen umzugehen und die Verbundenheit und Ganzheit des Geschehens zu akzeptieren«.31
Improvisation ist außerdem – und dies wird in der aktuellen Debatte von den meisten Autoren betont – keineswegs als Gegenbegriff zum Konzept der Komposition zu denken, sondern eher als eine Ausprägung dieser komplementären Relation zu verstehen: Auf der einen Seite entstehe die Improvisation weder als eine
# * $# Q # etc. abgesteckte Rahmen, mal ist der Rahmen – permeabel, also zu beiden Richtungen durchlässig – offener abgesteckt, um den jeweils Handelnden im Wortsinn größere ›Spiel-Räume‹ zu ermöglichen. Beiden zunächst scheinbar gegenpoligen, aber sich ergänzenden Konzepten der Improvisation und der Komposition eignet daher grundsätzlich, wie dies Ronald Kurt betont, der »Bezug auf Bekanntes und das Vorgegebensein von Formen«.35 _
satz zum Ausgearbeiteten bildet, besagt lediglich, daß es die Geste der Spontaneität, ! 8 "# , im Unterschied zur mühsamen, langwierigen Arbeit, deren Spur vom Gebilde ablesbar ist, auch wenn es seit der Renaissance zu den Forderungen der Ästhetik gehört, daß sie verwischt werden soll, als strebe Komposition insgeheim danach, die Maske der Improvisation zu tragen, also gewissermaßen den Rückfall auf eine Entwicklungsstufe zu simulieren, von # " Musikgeschichte begründete, losgerissen hat« (Carl Dahlhaus: »Was heißt Improvisation?«, in: Reinhold Brinkmann (Hg.): Improvisation und neue Musik. Mainz: Schott, 1979, S. 9-23, hier: 9f., meine Herv., V.P.). 33 Ronald Kurt: »Komposition und Improvisation als Grundbegriffe einer allgemeinen Handlungstheorie«, in: Ders./Klaus Näumann: Menschliches Handeln als Improvisation. Sozial- und musikwissenschaftliche Perspektiven. Bielefeld: transcript, 2009, S. 1746, hier: 25f. 34 Dahlhaus: 1979, S. 15. 35 Kurt: 2009, S. 26.
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= %# [ " statt«. Jegliches improvisatorische Handeln sei daher, so Kurt weiter, »an Kompositionen rückgebunden; es geschieht nicht voraussetzungsfrei. Der Improvisierende erschafft sein Handeln schließlich nicht spontan aus dem Nichts, sondern er schöpft aus einem Repertoire vorkomponierter Handlungsmuster, die er (bewusst oder auch nicht*} = #
# # ;36
Improvisation und Komposition wären somit als die beiden Pole eines Verhältnisses # * {; #= { ren möglichst schnell und adäquat zu reagieren bzw. im besten Fall zu antizipieren. Bertram beschreibt dieses Phänomen dieser kollektiven und antizipatorischen Aufmerksamkeitsmaschinerie als »Anerkennung« des Anderen. Die »Anschlussaktionen«, so Bertram, »lassen sich als Praktiken begreifen, mittels derer Aus-
43 Ebd., S. 165. 44 Georg W. Bertram: »Improvisation und Normativität«, in: Bormann/Brandstetter/Matzke (Hg.): 2010, S. 21-39, hier: 24 (Herv. i.O.).
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gangsaktionen anerkannt werden«.45 & * ^ = Q $ »Wenn eine Schauspielerin improvisierend spricht, steht stets in Frage, ob andere an ihre Äußerungen anschließen werden. Das heißt selbstverständlich nicht, dass es immer darum geht, dass sie auf diese Äußerung hin ihrerseits etwas zu sagen wissen. Anschlüsse können sehr unterschiedlich ausfallen. Dennoch lassen sie sich zu einem praktischen Kriterium von Anerkennung machen. Eine Ausgangsaktion wird demnach dann von anderen anerkannt, wenn sie an sie anschließen. Nicht anerkannt wird sie, wenn niemand an sie anschließt. Das Gelingen und Misslingen improvisierenden Tuns lässt sich somit darauf zurückführen, dass Improvisierende sich durch Anschlussaktionen wechselseitig Anerkennung zollen beziehungsweise sich eine solche verweigern. Normative Bindungen in Improvisationen kommen, so gesehen, durch die Interaktion von Improvisierenden mittels Ausgangs- und Anschlussaktionen zustande«.46
Diese grundsätzliche »normative Bindung« im freien Spiel der Improvisation zwischen Ausgangs- und Anschlussaktion erfordert – wie schon angedeutet – eine bestimmte Freiheit bzw. eine bis zu einem gewissen Maß eingeschränkte Offenheit, denn »[a]lle Anschlüsse haben einen Spielraum. Dennoch ist der Spielraum bestimmt und nicht beliebig«.47 Denn so wie es in der Improvisation um die Anerkennung des Anderen geht, die ein hohes Maß an Aufmerksamkeit sowie ein »Gespür« (Schouten) und Antizipation voraussetzt, so ist der Begriff der Anerkennung nicht ohne den Begriff des »Anspruchs« (Waldenfels)48 zu denken, um ein 45 Ebd., S. 30. 46 Ebd. 47 Ebd., S. 32. 48 Vgl. zum Begriff des Anspruchs (des Fremden) als »unausweichlichem« Phänomen im ' " =¦# &Vorproduktion).55 Dieser Rahmen wird formal durch die von der Improvisation gegebene Offenheit der Stimmen- und Dialogführung sowie der dabei entstehenden Kontingenzen durchbrochen (Produktionsebene). Letztlich mündet das Ausgangs-Rohmaterial über den Weg der Selektion, des Ausschneidens und des Collagierens wieder in @ ' |Nachproduktion). Zur technischen Realisierung der Stimme in den vorliegenden Hörspiel-Beispielen gehören somit folgende Elemente, die die derart als ›technischer Apparat‹ verstandenen Einzel-Phänomene ausmachen und die Rezeption jeweils unterschiedlich steuern. Dabei handelt es sich zunächst um bestimmte Stimmen, die entweder von professionellen bzw. von nicht-professionellen Sprecherinnen und Sprechern stammen und die über je individuelle stimm-körperliche Qualitäten verfügen. Die ausgewählten Stimmen sollen – im Falle der Hörspiele Plampers – möglichst in Improvisationen aufgezeichnet werden. Der rote Faden der ›Story‹ ist punktuell vorgegeben, dennoch steht die Ergebnisoffenheit der Dialoge und der %= ; `# tive Rahmen (die Makrostruktur) gesetzt ist und auf der mikrostrukturellen Ebene der einzelnen Sätze, der einzelnen Verlautbarungen, Intonation etc. grundsätzliche Variabilität besteht. = & '_ * ' *;~ #=> _ nierung des Alltäglichen einer Caféhaus-Situation über die stimm-körperliche Improvisation einerseits und die stimm-körperliche Inszenierung von Laiensprechern andererseits zur verstärkten Wahrnehmung eines »effet de réel« (Barthes) im Rahmen der Fiktion. Dieser »effet de réel« wiederum ist es, der das ethische Moment, welches das vorliegende Hörspiel in Form der oben beschriebenen Abhörsituation erzeugt, unterstreicht. Der Zuhörer wird beim Hören von RUHE 1 dementsprechend in die Rolle des Entendeurs gedrängt, da die einzelnen Tischgespräche geradezu ›für sich stehen‹, die einzelnen Sequenzen weder über eine & " > ' => "`# *; dieser Hinsicht ›neutrale‹ bzw. ›wertfrei gesetzte‹ Position der einzelnen Sequenzen sowie die vordergründig in Szene gesetzte Alltäglichkeit der Stimmen und Gespräche unterstreichen letztendlich auch das, was Brecht von den Akteuren des epischen Theaters einfordert, nämlich »es nicht zur restlosen Verwandlung in die demonstrierte Person«62# ^ _! renden Illusionstheaters folgend, kommen zu lassen.
62 Ebd., S. 376.
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Szenisches Spiel als Verstärkung der # $ H OCHHAUS Neben den stimm-körperlichen Improvisationen von Dialogmaterial und den Verlautbarungen von Laiensprechern arbeitet Paul Plamper durch den Einsatz szenischen Spiels mit einer weiteren Technik, die seinen Arbeiten sowohl im Gros der Hörspielproduktionen einen Sonderstatus zuweist als auch eigene immersive Ef= ; & akustischen Rohmaterials ist insbesondere auffällig in seinem 2006 entstandenen Dreiteiler HOCHHAUS .63 Produktionsästhetisch relevant ist hierbei, dass die Szenen in der Regel quasi-theatral ausagiert werden – wenn die Akteure bspw. essen und trinken, tun sie dies tatsächlich. Das Sprechen mit vollem Mund wird in H OCHHAUS genauso wenig unterdrückt wie das Schmatzen, das plötzliche Aufstehen vom Tisch, das Hinund Hergehen, Geräusche, die durch das Gläserrücken entstehen etc. Plamper weicht somit nicht zuletzt auch in wirkungsästhetischer Perspektive vom Postulat des Zeigens der ›inneren Bewegung im Menschen‹ ab. Der Hörspielmacher präsentiert vielmehr Stimm-Körper, deren grundlegende Funktion gerade darin besteht, sich konkret und viel zu bewegen. Ganz gleich, ob die Sprecher mit Mikroports ausgestattet sind, oder ob die Stimmen über Raummikrophone zu vernehmen sind: Sie klingen nur selten ›clean‹, sind sie nur wenig von äußeren Störgeräuschen bereinigt.64 Spricht also im Hörspiel HOCHHAUS der laut und deutlich zu vernehmende, essende und schmatzende Milan Peschel in der Figur des Andy Lang in einer Szene etwa in Nahaufnahme zu seinen am Tisch sitzenden Kindern (via Mikroport oder Tischmikrophon), so entfernt er sich während der Aufnahmen tatsächlich von einem Tisch (und vom Mikrophon), öffnet ein reales Fenster und brüllt in $ `# * $ > ;&det in der Aufnahmesituation also die tatsächliche Bewegung und somit ein spe & realen räumlichen Begebenheiten des Aufnahmeorts statt. Gerade die Vermittlung dieser unterschiedlichen, innerhalb eines klassischen Paradigmas fehlerhaften und zu vermeidenden Klangqualitäten steht also im Mittelpunkt: Wendet sich Peschel vom Mikrophon ab und brüllt so aus dem offenen Fenster nach draußen, so tut er dies auch auf Kosten des WortSinns; Ähnliches gilt für das Sprechen mit vollem Mund. Es werden somit zum 63 Ich verzichte in diesem Abschnitt auf eine nähere Verortung der hier besprochenen und { ; 64 Hierin folgen die derart aufgenommenen Stimmen ebenso einer Inszenierung des ›Nicht-Perfekten‹. In einer klassischen Tonstudioproduktion werden, wenn inszenatorisch für nötig erachtet, Geräusche vielmehr nachträglich hinzugefügt.
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einen stimm-körperliche Qualitäten in den Vordergrund gerückt, die jenseits einer ausgeprägten stimmlichen Ausbildung klanglich besonders in Erscheinung treten, also Schmatzgeräusche, Stöhnen und Ächzen (Nebenprodukte der stimmlichen Artikulation)65 und Schreie, andererseits treten formal-technische Besonderheiten, wie bspw. Bewegungen vom Mikrophon weg, Sprechen mit dem Rücken zum Mikrophon, Sprechen aus dem Fenster heraus in den Vordergrund. Beides erschwert und unterminiert letztlich die Semantisierbarkeit der stimmlich artikulierten Sprache. Im Verlauf der Aufnahmen zeigen die Stimmen auf diese Weise in einem großen artikulatorischen Umfang ihre besonderen Charakteristika.66 Wie in RUHE 1 besteht auch in H OCHHAUS eine Besonderheit darin, mehrfach improvisierte und aufgezeichnete Sequenzen miteinander zu verknüpfen, also jeweilige Versatzstücke aus den unterschiedlichen Dialogpassagen zu kombinieren. Q* " # > z.T. deutlich hörbaren Schnitte erkennt, keineswegs ein Manko, ganz im Gegenteil: es unterstreicht im Detail vielmehr die Gesamtdynamik des Hörspiels. Durch die Postproduktion kommt somit hinzu, dass das fertige Hörspiel-Produkt trotz des improvisatorischen Charakters in Gänze ›durchproduziert‹ und durch Manipulationen am Material, durch die Schaffung einer szenischen Atmosphäre bearbeitet worden ist. Es ergibt sich daraus letztendlich ein für den Hörer undurchschauba@ ~ '_ ; =te Kreativitätspotenzial der Sprecher forciert einerseits Emergenzen, sorgt für eine Offenheit des Resultats. Andererseits wird in der Postproduktion nichts mehr dem Zufall überlassen, da Atmosphären, Dialoge und Spielsituationen einer klaren dramaturgischen Stoßrichtung folgen. Das improvisierte Ausgangs-Material wird in der Re-Inszenierung folglich dem Plot sowie der Montage untergeordnet. Die Mischung aus Aufnahmen mit Raummikrophonen und Mikroports schafft dabei für den Rezipienten eine ganz außergewöhnliche Position: Der Hörer wird zum akustisch teilnehmenden Beobachter, zum von den Sprechern nicht weiter beachteten Teil der Szene. Über dieses immersive Raumerlebnis – sowohl in R UHE 1 als auch in HOCHHAUS – ist der Hörer letztlich stärker in die Handlung involviert als im distanzierter wahrzunehmenden reinen ›Studio-Hörspiel‹. 65 Vgl. hierzu auch meine Ausführungen zur MOLIÈRE -Inszenierung, v.a. im Abschnitt »Kontrollierte Nebenhörplätze: simulierte Körpergeräusche«. 66 Verstärkt und erweitert wird das artikulatorische Spektrum noch dadurch, dass gerade Plamper in nahezu allen seinen Hörspielen auf Stimmen mit herausragenden (Klang-) Qualitäten zurückgreift: für die männlichen Stimmen seien hier, stellvertretend für viele mehr, Volker Spengler, Martin Wuttke, Milan Peschel, Lars Rudolph genannt, für die weiblichen Stimmen seien hier stellvertretend Margarita Broich, Caroline Peters, Birgit Minichmayr, Astrid Meyerfeldt, Christin König und Irm Herrmann erwähnt.
Andreas Ammer/F.M. Einheit: C RASHING AEROPLANES (FASTEN Y OUR SEAT BELTS)
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ORIGINALTONSTIMMEN IM HÖRSPIEL
Originaltöne – mit diesem gesonderten Aspekt des Radiophonen möchte ich das Hörspielkapitel abschließen – dokumentieren in der Regel reale Ereignisse und bekunden somit die Authentizität des Gehörten. Dadurch erhält der (meist nicht im Rahmen einer Kunstproduktion entstandene) Originalton im Hörspiel immer schon einen herausgehobenen Stellenwert. Die Originaltonstimme, so Nikolaus Wegmann, »kommt vor jedem thematischen Einsatz. Sie füllt den Raum, sie ist präsent und sie ist darin als ein wiedererkanntes Original eine besondere Qualität, der sich der Berichterstatter nicht entziehen kann oder will«. Sie übt durchaus auch eine narrative Funktion aus, da sie einen Berichterstatter etwa »zu einem Erzähler macht, der dabei gewesen ist«.1 Dem Originalton eignet daher immer etwas Spontanes, Plötzliches; im Origi " > " Verwendung, die Entstehungssituation des Originaltons liegt prinzipiell außerhalb einer traditionellen Hörspielproduktion in einem (Hörfunk-)Studio. Soll der Ori '* # #* Hörspiel auch zu ganz anderen Zwecken eingesetzt, etwa um bewusste Brüche herzustellen, inhaltliche Kontrapunkte zu setzen, Interviewfragmente in einen an# ; =
1
Nikolaus Wegmann: »Der Original-Ton. Eine Medienerzählung«, in: Harun Maye/Cornelius Reiber/Nikolaus Wegmann (Hg): Original/Ton. Zur Mediengeschichte des OTons. Konstanz: UVK, 2007, S. 15-24, hier: 19.
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" #=> 2, und es verliert im Rahmen des Hörspiels partiell seinen authentischen Status, indem es mit & # > # >=> ^ sierung erfährt. Nikolaus Wegmann, und dies ist für das Hörspiel C RASHING A EROPLANES von Ammer und F.M. Einheit von erheblicher Bedeutung, geht in seinem Beitrag »Der Original-Ton. Eine Medienerzählung« sogar noch weiter, wenn er postuliert, dass man »[e]inen wirklichen Originalton« nicht »ohne Anteilnahme« hört, denn: »Er schlägt seine Zuhörer in Bann. In dem Augenblick, in dem er spricht und da ist, gibt es nichts mehr, was die Aufmerksamkeit von ihm ablenkt. Er ist ein Präsenzmedium. Es gibt keine Diskrepanz zwischen der akustischen Dimension und dem Körper, der Haltung, in der gesprochen wird, und dem, was gesagt wird. […] Der Originalton ist als Ereignis echt, […] er hat ›Aura‹«.3
Diese Aussage lässt darauf schließen, dass es hinsichtlich der Stimme als das per= Q" = und ihrer Wirksamkeit geben kann. Heben sich inszenierte Stimmen von professionellen Sprechern schon prinzipiell aus Klanglandschaften hervor, so ist mit der eingegliederten Originaltonstimme ein darüber hinausgehendes Differenzkriterium benannt. Die Originaltonstimme hebt sich somit nicht nur aus der jeweiligen Klangkulisse ab, sie hebt sich auch von anderen, von inszenierten Stimmen von Schauspielern ab. Dem ursprünglichen Originaltonmaterial eignet diese spezielle Aura seiner ›Echtheit‹ und es ist, Julia Tieke zufolge, »in der Regel aufgrund seiner akustischen Ästhetik erkennbar: hörbare Raumakustik, Nebengeräusche oder frei formulierte Sprache«.4 Tieke merkt dabei zu Recht medienkritisch an, dass der Originalton bewusst herstellbar und imitierbar ist, so dass dieser seine Echtheit gewissermaßen vortäuschen kann: »O-Töne sind nicht nur bearbeitet und damit produziert. Durch die Imitation bestimmter akustischer Merkmale ist ein O-Ton als solcher insgesamt herstellbar. Wenn ich einen
2
Jürg Häusermann: »Zugespieltes Material. Der O-Ton und seine Interpretation«, in: Maye/Reiber/Wegmann (Hg): 2007, S. 25-49, hier: 29.
3 4
Wegmann: 2007, S. 19f. Julia Tieke: »Doppelte Verwirklichung – Zur Verwendung von Originalton im Hörspiel Pitcher«, in: Maye/Reiber/Wegmann (Hg): 2007, S. 101-115, hier: 105.
ORIGINALTONSTIMMEN IM HÖRSPIEL | 255
O-Ton als solchen mühelos erkenne, garantiert das daher nicht unbedingt seine ›Echtheit‹. Vielmehr erfüllt das Material zunächst ästhetische Konventionen des O-Tons«.5
Es muss also genauestens zu- und hingehört werden, um Hinweise zu entdecken, ob der gehörte Originalton nicht vielleicht doch von Beginn an inszeniert ist und nicht erst in der Postproduktion eine Manipulation am ›echten‹ Originalton vollzogen wurde. Ähnliches wusste bekanntermaßen Orson Welles 1938 in seinem Hörspiel T HE WAR OF THE W ORLDS geschickt und wirkungsvoll einzusetzen, indem die Reportagen über den Angriff der fremden Spezies aus dem Weltall sich als derart ›echt‹ ausgeben konnten – inklusive der Inszenierung der für den ›Reporter‹ tödlichen Funkstille –, sodass sie zum Schrecken der Zuhörer, die in großer Zahl während der laufenden Sendung zuschalteten und daher die von Beginn { * = { ten, für wahr genommen werden konnten.6 Doch verweist der in der Regel deutlich herausgestellte Gebrauch des Originaltons im Hörspiel »auf eine außerästhetische Wirklichkeit und somit auf seine Entstehungssituation«. Jeder Originalton stehe hierin, so Tieke weiter, »[i]n dem Spannungsverhältnis von Konstruktion/Manipulation – im Sinne eines mehr oder minder bewussten Eingriffs – und der Zuschreibung von Wirklichkeitsreferenz«.7 rung, von ›Echtheit‹ bzw. um das Spiel von bewusster Manipulation des Originalmaterials, welches sich immer an der Schwelle zum Wirklichen oder zumindest ## # so Jürgen Geers, »inhaltlich wie formal die gleiche Vielfalt künstlerischer Stilmit* # den Kollegen« beanspruchen. »Die Formensprache des Originaltons«, so Geers weiter, »umfaßt die literarischen Stilmittel Erzählung und Dialog ebenso, wie die $ ; * nerischen Aspekten, beispielsweise Portrait und Collage, genauso inspiriert, wie
5
Ebd.
%; => = {* ª !$ tönende Pfeifen des abstürzenden Flugzeugs, das alarmierende Piepen der auf den = ^ [ @ tionalisierten Dialogen zuvor: die ›gelebte Präsenz‹ der sterbenden Piloten zeigt sich in aller ihr dokumentarischen Grausamkeit und bestätigt zudem den besonderen Sog, den ein Originalton auf den Rezipienten ausüben kann: Ich muss mich *` & =" mir daher außerordentlich schwer, diese ›echten‹ Stimmen, diese ›authentischen‹ Schreie der Todesangst der Piloten aus distanzierter Position zu betrachten. Status der nachgesprochenen Dialoge Die Deutlichkeit und überwältigende Fülle des Originaltons im Überlebenskampf der beiden Piloten spiegelt sich – als ins Gegenteil verkehrt – in dem nahezu farblosen Stimmeinsatz von Wuttke und Tregor. Der distanzierte Stimmgestus, in dem sie die übersetzten Aufzeichnungen nachsprechen, scheint der Situation, auf die referiert wird, nicht angemessen, wenn die Stimmen der Schauspieler nüchtern das unentrinnbare Schicksal protokollieren. Doch gerade dieser zurückgenommene Gestus erst schafft für den Rezipienten den adäquaten Aufmerksamkeitsraum für eine Wahrnehmung der realen Stimmen der Piloten. Fiktionalität und Realität/ = = > =& =;_ Q wieder und wieder leiden und sterben hören, der Klang ihrer Stimmen hebt sich im Verlauf des Hörspiels in schier zynischer Weise von den immergleich ritualisierten stimmlich und anderweitig akustisch dargebotenen Flugvorgängen ab. Dies wird dem Zuhörer umso deutlicher ›in die Ohren geführt‹, wenn man die Stimmangebote, die Ammer und Einheit allein in dieser Sequenz präsentieren, miteinander vergleicht: Sie geben einem zunächst das Ritual des Abspielens der Sicherheitshinweise zu hören, wie man sich bei einem drohenden Flugzeugabsturz zu verhalten habe. Die weibliche Stimme, die diese Sicherheitshinweise eingesprochen hat, * `
= $ &$;] len Ammer und Einheit schonungslos gegenüber: auf der einen Seite handelt es sich um eine stilisierte Fiktion (Sicherheitshinweise vom Band sowie die nachgesprochenen Dialoge) sowie auf der anderen Seite um die brutale Realität (Originalton aus dem Cockpit). Es wird hier auf ergreifende Art und Weise deutlich, wie die technischen Aufzeichnungs- und Reproduktionsmöglichkeiten ein unentrinnbares Gefühl der Immersion oktroyieren können: Es ist mir als Zuhörendem möglich, wieder und
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wieder die Piloten auf ihrem unaufhaltsamen Weg dem Tode entgegen zu hören und kann mich dem nicht entziehen – außer ich schalte das Radio ab. In CRASHING AEROPLANES wird keinesfalls die Sensationsgier oder gar die Lust am Leid anderer Menschen befriedigt. Die Stimmen der Piloten geben Zeugnis über ihr Leid, ihre Stimmen sind die akustischen Überreste ihrer noch lebendigen Körper: die akusti
& # ' # des Zuhörenden eine überwältigende Wirksamkeit erzeugen und ihm somit einen Respons abverlangen.
Teil III: Film
Technische Realisierung der Stimme im Film
1
HISTORISCHE POSITIONEN ZUR STIMME IM FILM
Das Erklingen der unterschiedlichsten Stimmen im Film ist seit der endgültigen & $ Q Y zwischen 1927 und 1935 nicht mehr aus dem kinematographischen Dispositiv * ;] => = & %"#**; #* " `@"#@ ein offensives Mienenspiel auszeichnete, mit der Zeit zurückhaltenderen und zunehmend auf sprachliche Artikulation ausgelegten Darstellungsformen wich: Für die wissenschaftliche und ästhetische Auseinandersetzung mit Film und Kino rückte nun die Frage nach dem Verhältnis von Bild und Ton in den Fokus.1 Somit wurde der Ton im Film – also der Einsatz von Musik, Geräusch sowie von Stimmen als ›neuen‹ bzw. ›neu zu entdeckenden‹ Teilphänomenen der Kinemato @ * [ und Analysen, bedeutete seine Einführung doch einen radikalen Einschnitt in der +^ ; $* schen Positionen, die im wesentlichen den Ton als neue Errungenschaft des Films behandeln2, werde ich im Folgenden die Funktion/en und Möglichkeiten des äs ] ^ # $ ;
1
Siehe generell zur Übergangsphase die Studie von Corinna Müller: % =. München: Fink, 2003.
2
Es liegen meines Wissens aus jener Zeit keine Arbeiten vor, die sich allein mit der Stimme im Film beschäftigen.
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Der Film wurde ursprünglich – aufgrund seines Trägermaterials: des Zelluloidstreifens – als ein photographisches bzw. als Bildmedium betrachtet.3 Somit wurde die auditive Ebene zunächst nicht als gleichberechtigter Partner zur Bildebene im kinematographischen Dispositiv angesehen.4 Die Tonspur galt vielmehr manchem zeitgenössischen Filmkritiker als eine Art ›Anhängsel‹ des bewegten Bildmaterials. Neben diesem medienästhetischen Befremden barg auf der rezeptionsästhetischen Seite der um 1930 blecherne sowie unausgewogene Klang der technisch reproduzierten Stimmen und der Geräusche einige grundlegende Ton-Probleme: Konnte der Zuschauer/-hörer auf der einen Seite eine ›realistischere‹ Darstellung sehen und hören als zuvor, indem man Schauspieler im Film nicht mehr nur körperlich, mimisch und gestisch agieren sah, sondern diese sich nun auch verbal und geräuschvoll artikulieren konnten, was der Realität der alltäglichen Wahrnehmung de facto näher kam, so konnte auf der anderen Seite aufgrund der (noch) mangelhaften Qualität der technischen Aufnahme- und Wiedergabeapparaturen, also der Mikrophone und Lautsprecher-Anlagen – auch aus damaligem Verständnis gesehen –, nur schwer ein ›natürlicher‹ bzw. ›naturalistischer‹ Sound erzeugt werden.5 Des Weiteren musste beim Publikum in jener Epoche ein allgemeiner Umge* ' # Atmosphären, Geräuschen, Filmmusiken6 etc. musste neu ›erlernt‹ werden, der Ton-Film musste dem hinzugewonnenen Phänomen Klang und dessen adäquater Produktion wie Reproduktion nachkommen, was zugleich Risiken und Chancen => +=; =$*; " = ^# 3
Dass sich dies mit der zunehmenden Digitalisierung und Entmaterialisierung des Mediums Film im Laufe des 20. Jahrhunderts entscheidend verändert hat, versteht sich zwar von selbst, das Grundcharakteristikum des Films, ein audiovisuelles Medium zu sein, hat sich jedoch nicht verändert.
4
Vgl. hierzu Siegfried Kracauer: Werke. Bd. 3 [Theorie des Films, 1960], Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2005, S. 175-218.
5
Vgl. hierzu Rudolf Arnheim: Film als Kunst. Berlin: Rowohlt, 1932.
* # ' * " # bzw. tonlos vonstattenging aufgrund der Anwesenheit eines Organisten, eines Kinoerzählers o.Ä., so ist die Erfahrung, in der Kinosituation die Stimmen der Darsteller sowie die Musik aus dem Lautsprecher hören zu können, eine neue und ungewohnte. Ist doch Q " #' & " > wie derjenigen des Organisten, der seine musikalische Interpretation darbot, im Gegen Q $ " Darstellung – oder zumindest eine grundlegend andere Weise des Zusammenspiels von Bild und Ton.
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etwa ein (harter) Schnitt durch einen zeitbasierten Klang eher als störend, als Riss in der auditiven Wahrnehmung empfunden wurde – eben als ein solcher Schnitt entlang der bewegten (Einzel-)Bilder des Zelluloidstreifens.7 Somit stand bei der ] $ Q " Ebenen Bild und Ton im Vordergrund – das Problemfeld sei hier kurz skizziert: Es stellte sich alsbald die Frage nach dem Umgang mit Redundanzen, die im Verhältnis von Bild und Ton möglich waren (1).8 An diese Problematik, die die Einführung des Tons als gleichwertig zu behandelndes Phänomen im Vergleich zur Bildebene betraf, schloss sich die in den Anfangsjahren technisch noch schwer herzustellende Bild-Ton-Synchronizität an (2). Die bis dahin unkompliziert zu realisierende Internationalität von Filmproduktionen – der Film war ja de facto ›stumm‹, und die Zwischentitel und Dialoge konnten somit bislang ohne großen Aufwand in die jeweilige Sprache übertragen werden – musste in dieser Übergangsphase im Hinblick auf zukünftige mehrsprachige Produktionen überdacht werden (3). Es stellte = ^ [ | ;" ner Stimme etwa oder der Sprachkompetenz des jeweiligen Schauspielers9), nach Y ' ` = gekonventionen einstellen können. 8
Vgl. hierzu die Ausführungen der russischen Filmschaffenden Pudowkin, Eisenstein * +;& ¡ $ # | } nicht mehr eingesetzt wurden (6).10= $ hinderte jedoch einzelne Künstler wie etwa Charlie Chaplin nicht daran, zunächst * #=> * einzusetzen. Chaplin weigerte sich im speziellen Fall, seiner bislang ›stummen‹ Figur des Tramp etwa eine Sprech-Stimme zuzuweisen.11 Q # & => $ Publikum durchaus Irritationen hervorgerufen haben, fasst Rudolf Arnheim 1932
|}^ * =$* = kritisch zusammen:
eben zitierter Korrespondenz Hans Müller ankündigt (»Alles andere ist ziemlich zum kotzen und nur, weil ich es so gut mit meiner goettlichen Gussy [Holl, V.P.] und meinen Hunden getroffen habe ist es auf die Dauer hier zu ertragen, aber im Oktober vielleicht schon frueher bin ich wieder daheim und bin sehr neugierig, wie mich das alles nach dreijaehriger Abwesenheit beruehren wird«), geschieht bei Maurice Chevalier das genaue Gegenteil, dessen starker französischer Akzent ihn in den USA letzten Endes zu $ ; 10 Dies konnte im Einzelfall sowohl an der Qualität der Stimme als auch an der Um ; * ; nur einige Namen von (berühmten und erfolgreichen) Akteuren erwähnt, die sich nicht
$ ~ # [# @ # Pola Negri, Lucy Doraine, Ossi Oswalda sowie Buster Keaton konnten ihre Erfolge im =$>; *" erweiterbar. Der zuvor genannte Emil Jannings konnte trotz der Probleme in den USA + $= ; 11 * ` & = $ * CITY LIGHTS (USA 1931) als auch in MODERN TIMES (USA 1936) für ein differenziertes und ausgeklügeltes Sounddesign für sich zu nutzen. In einem ähnlichen Modus funktionieren später auch die Filme von Jacques Tati, in denen zwar wenig gesprochen, aber vielmehr ›gemurmelt‹ wird, etwa in LES
VACANCES DE
M ONSIEUR H ULOT (F 1953). Das Sound-
design besitzt eine eigene und eigenständige Prägnanz gegenüber dem sonst ›stummen‹ Bildmaterial (vgl. speziell zu Tati u.a. Chion: 1982, S. 71f. sowie Ders.: Un art sonore, le cinéma. Paris: Cahiers du Cinéma, 2003a, S. 171-178).
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= Q #* # = " = & =>$ ;*erschreckend grunzende Frühgeburten auf das Publikum losließ, Schnellprodukte einer von der Konkurrenz gehetzten Industrie, wenn ein Kuß wie ein Donnerwetter klang und eine Frauenstimme wie eine Dampfsirene, wenn minderwertig aufgenommene Filme auf minderwertigen Projektoren vorgeführt wurden, wenn die Dialoge der Schauspieler das letzte Schmierenstück an Albernheit übertrafen, wenn der Ton mit dem Bild nicht zusammenstimmte, weil der Synchronismus versagte, * ^ = [ $ propagierte, wenn man den Schauspielern ausländischer Filme die Worte, die sie gesprochen hatten, wegschnitt und ihnen dafür eine ganz fremde Stimme und Worte einer ganz andern Sprache in den Mund legte oder aber die unverständlichen ausländischen Reden beibehielt und dafür gespenstische Spruchbänder in der eignen Muttersprache über die Bilder huschen ließ, wenn man Originalfassung und Bearbeitung szenenweise durcheinander schnitt oder alle Dialogstellen einfach herausnahm und sie durch Zwischentitel ersetzte, und wenn man sich mit noch wilderer Entschlossenheit, als das beim stummen Film schon der Fall gewesen war, auf die erprobtesten und abgedroschensten Operetten- und Rührstückthemen warf – ja, dann konnte man sich nicht wundern, daß die Besucher protestierten und = >$ ] + ±12
'= " =Film als Kunst beschäftigt sich zwar zu @` Q `[ @# + $ # fasst schlichtweg diejenigen Punkte zusammen, die (nicht nur seiner Ansicht nach) technisch mangelhaft und verbesserungswürdig waren. Es geht ihm also vielmehr " # zuarbeiten – dies gilt sowohl für die visuelle Stumm- wie auch für die audiovisuel$;&* * => { * ^ ohne Bild noch akustisches Theater ist13# *$ ater ohne Ton noch bloß bewegte Photographie oder photographierte Bewegung. $ #$===# sondern genuin ein audiovisuelles Phänomen, welches nur in seiner ganzheitlichen gestalterischen Ausprägung zu denken und wahrzunehmen ist:
12 Arnheim: 1932, S. 229f. (meine Herv., V.P.), vgl. hierzu auch Meyer-Kalkus: 2001, S. 346-363. 13 Vgl. hierzu meine Ausführungen zu Arnheims »Lob der Blindheit« im Teil zur Stimme im Hörspiel der vorliegenden Studie.
272 | STIMMEN AUF DER SPUR $ $ > @;$+= $ & ;]* * $ " > ~ = =; _ Maße wie das Filmbild naturnäher ist als das Bühnenbild, wird auch die Filmsprache lebensnäher sein müssen«.14
Es geht Arnheim also darum, die jeweilige mediale Ausprägung in ihren genuinen Eigenschaften ernstzunehmen.15$ => genes Medium dar, »in dem Bild, Wort, Geräusch gemeinsam und gleichberechtigt formend wirken«.16 Q * * ~ ! # ! nisierung ausländischer Filme für den heimischen Markt sowie die Untertitelung lehnt Arnheim als künstlich und gerade nicht künstlerisch strikt ab: ` ^ " $ " $chen kann, ist selbstverständlich […]. Ebenso unmöglich ist, Schauspielern, die etwa einen $ # " # gefähr den Mundbewegungen anpaßt. Die Schauspieler sollten in solchen Fällen Schadenersatzklagen einreichen, denn das Publikum macht sich nicht klar, daß da eine fremde Stimme eingeschmuggelt worden ist [sic!] sondern macht den Schauspieler, der auf der Leinwand den dürftigen Gesamteffekt mit seinem Leibe decken muß, verantwortlich – es läßt sich kaum eine schlimmere Schädigung eines Schauspielers erdenken! Daß hier die primitivsten Voraussetzungen für künstlerische Wirkungen fortfallen, ist wohl selbstverständlich«.17
Es lassen sich zusammenfassend folgende Punkte, die bzgl. der Ästhetik der Stim ^ `_ # => _$ "
14 Ebd., S. 240 (meine Herv., V.P.). 15 Die medienpuristische Einstellung in Arnheims Denken bzw. das Betonen einer dem jeweiligen Medium entsprechenden Rezeptionshaltung, medienästhetische Prämissen also, die auch im einige Jahre später publizierten »Lob der Blindheit« evident werden, ließen sich stark vereinfacht auf die tautologische Formel zusammenbringen: ›Ein # $ $# { {spiel.‹ 16 Ebd., S. 256. 17 Ebd., S. 293.
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der Technik entsprechend aufgezeichnete und wiedergegebene Stimme des Akteurs zur Geltung kommen, selbst eine Nachvertonung bzw. eine Doublage der eigenen Stimme wird von Arnheim strikt abgelehnt. Die derart eingesetzte Stimme
$* & * ^;18 Auf ] * =* $ @" werden, da diese einerseits die Bild-Ton-Synchronizität beeinträchtigten und andererseits bloß prothetisch und somit in einer der (Ton-)Filmkunst unangemessenen Weise eingesetzt würden. Béla Balázs betont in seinem 1945 entstandenen Film-Buch hingegen – neben ebenso kritischen Äußerungen gegenüber der Nachsynchronisierung von Stumm* ! |}19 – in einem optimistischeren Ton= % # $ ;[µ darin auf die sogenannte »Unteilbarkeit des Tons« ab, da der Ton, im Gegensatz zu den ausschnitthaften Filmbildern, immer nur als Ganzheit den Kinosaal besetzt 18 Diese Fremdheitserfahrung der Stimme und des Körpers treffen sich an dem Punkt, auf $ # ^ ! |}# eingegangen bin. Ich werde daher dieser Fremderfahrung der synchronisierten Stimme in der Folge nicht weiter nachgehen. Eine adäquate und ausführlichere Untersuchung Q ^ ! $ meines Wissens noch aus. Die von mir im Abschnitt zur Stimme im Theater erwähnte Literatur umfasst nur in Ansätzen das Spektrum der Doublage. Möglich bzw. wünschenswert wären medientheoretische, -historische sowie -ästhetische Untersuchungen zur Synchronstimme im nationalen sowie internationalen Vergleich. Dies umfasst nicht Q " # &lungen (aufgrund kultureller Besonderheiten der jeweils synchronisierenden Länder) in Drehbuch und Dialogregie der unterschiedlichen Sprachversionen. 19 »Jede Synchronisation in einer fremden Sprache ist auch schon darum unvermeidlich falsch und unkünstlerisch, weil zu jeder Sprache organisch auch jene ausdrucksvollen Gesten gehören, die eben für die Menschen der betreffenden Sprache charakteristisch sind. Man kann nicht englisch sprechen und dies mit italienischen Handbewegungen begleiten«, in: Béla Balázs: Der Film. Werden und Wesen einer neuen Kunst [1945/1949]. Wien: Globus, 21961, hier: S. 65 [1949, S. 70] (Herv. i.O.). Ich zitiere in der Folge sowohl die Ausgabe von 1961 als auch in […] diejenige von 1949, da in der späteren Fassung, nach Auffassung Helmut H. Diederichs, z.T. erhebliche editorische Veränderungen festzustellen sind, die von der ersten Übersetzung aus dem Ungarischen in manchen Punkten abweichen (»Béla Balázs und sein Beitrag zur formästhetischen ^ # ¡¡***; ;= ;¡ ¡¡ ; htm vom 21.10.2010).
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'" ;&* = & [ $ $# == # % hören, ohne ihn sehen zu müssen, die Möglichkeit, die intimste Nahaufnahme zu betrachten und zugleich die ganze Weite des enormen Raumes zu hören«. Diese seien jedoch Möglichkeiten, »die der Film nur selten und kaum jemals ganz ausgenützt hat. Ein Antlitz, dem Meere zugewandt – ich sehe nur das Gesicht, ganz nah – das Meer höre ich –, ich spüre die Korrespondenz der Unendlichkeit des Raumes mit der inneren Entrücktheit, die sich auf dem Gesicht spiegelt«.20 _$ [µ +* ander verknüpft werden – er spricht hier vorrangig von den ans Schauspiel gebundenen visuellen Ausdrucksmodi Mimik und Gestik, die mit Stimme, Musik und Geräusch korrespondieren können. Er sieht die Errungenschaft des Tons im Film als Ergänzung vielmehr im positiven Sinne, als Möglichkeit der Vervollkommnung der Filmkunst und keineswegs als Problem, welches die Reinheit der bewegten [ |}^ _^ _$> Töne nicht erklärt werden. Neben dem Wort sehen wir den Blick, das Lächeln, die Geste – den ganzen Akkord des Ausdrucks und dessen bestimmte Schattierung«.21 $# * [µ * # Erzeugung einer Natürlichkeit, der Generierung eines realistischeren Illusionsef=# *"> $ 22 Bild und Ton einzeln betrachtet ergeben Arnheim zufolge wie zuvor gesehen keinen Sinn, sondern beide Elemente generieren ein gemeinsames Ganzes, welches letztlich beide Wahr20 Balázs: 1961, S. 52 [1949, S. 53]. 21 Ebd., S. 212 [1949, S. 231]. 22 Siegfried Kracauer bspw. sieht den Film hingegen als primäres Bildmedium, eine Gleichberechtigung von Ton und Bild sei ihm zufolge weder denkbar noch erwünscht: »Die Legitimität dieser Vorherrschaft [des Bildes gegenüber des Tons, V.P.] gründet in der unbestreitbaren Tatsache, daß nicht die Tonkamera, sondern die eigentliche Film * x*@" Sprache gehören ausschließlich dem Film an. Man mag die Ansicht vertreten, daß das Hinzukommen der Sprache Versuche rechtfertige, ein Gleichgewicht zwischen Wort und Bild herzustellen; wie sich bald zeigen wird, sind solche Versuche jedoch zum ;$ " @ # * ihre wesentlichen Mitteilungen von den Bildern ausgehen« (in: Kracauer: 2005, S. 176). An anderer Stelle betont Kracauer das seiner Ansicht nach genuin photographi ' ^>|&;#;};
HISTORISCHE POSITIONEN ZUR STIMME IM FILM | 275
nehmungsmodi Sehen und Hören gleichermaßen anspricht – und in Kombination des Tons mit einer Großaufnahme des Gesichts eines Akteurs werde, so Balázs, eine Unmittelbarkeit des Ausdrucks gezeigt: »Schicksalhaft kann jener Augenblick sein, da jemand ein Geräusch vernimmt oder ein Wort hört und begreift. Das Nahbild wird sowohl das Gesicht zeigen als auch den Ton vernehmen lassen. [1949: Das Nahbild wird auch das Gesicht zeigen, auch den Ton vernehmen lassen.] Das Drama, das sich auf einem Antlitz abspielt, wird gezeigt, seine Ursache und Erklärung werden zu hören sein. Dies geschieht sozusagen auf zwei Ebenen mit kontrapunktalen Wendungen«.23
Neben diesen »kontrapunktalen Wendungen«, die im Bild-Ton-Verhältnis erzeugt werden können (oder sollen) und die selbstverständlich auch für die Stimme im Film als akustisches Element gelten, ist es der Effekt des »Asynchronismus« – also die Dissoziation des Phänomens, welches nur zu sehen, aber nicht zu hören ist, sowie des Phänomens, welches zu hören, aber im Bildfeld unsichtbar bleibt (das Acousmêtre im Sinne Chions etwa, s.u.) –, der Balázs zufolge den wirksamsten Effekt erzielen kann: » 6;= ; ! +! = In synchronen Aufnahmen ist der Ton eigentlich nur eine naturalistische Ergänzung des Bildes. Er dient dazu, den Film noch naturähnlicher zu machen. In der asynchronen Aufnahme hingegen kann der Ton, vom Bilde unabhängig geworden, der Filmszene eine parallele Bedeutung, sozusagen einen Begleitsinn geben«.24
23 Balázs: 1961, S. 216. [1949, S. 236] 24 Ebd., S. 227. [1949, S. 247] (Herv. i.O.). Der von Balázs sogenannte »Begleitsinn« lässt sich zudem mit dem von Michel Chion ins Spiel gebrachten Begriff des »valeur ajoutée« verknüpfen, der dadurch den phänomenalen bzw. zeichenhaften ›Mehrwert‹ des Tons im Verhältnis zum Bild beschreibt: »Par valeur ajoutée, nous désignons la va = ¦# +¤¨ ner à croire, dans l’impression immédiate qu’on en a ou le souvenir qu’on en garde, = ¦ ¤ # et est déjà contenue dans l’image seule. Et jusqu’à procurer l’impression, éminemment injuste, que le son est inutile, et qu’il redouble un sens qu’en réalité il amène et crée, soit de toutes pièces, soit par sa différence même d’avec ce qu’on voit« (Michel Chion: L’Audio-Vision [1990] Paris: Nathan, 22008a, S. 8f.). Folge des ›valeur ajoutée‹ sei es, Redundanzen zu vermeiden bzw. aufzuheben sowie Bild und Ton automatisch in ein intermodales Spannungsverhältnis bringen zu können, welches von Chion im Begriff
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Die von Balázs nicht weiter kommentierte Analogie zum »Manifest zum Tonª ;& #Q* drow postulieren darin hinsichtlich einer Vervollkommnung der Montagetechnik genau jenen Punkt der Vermeidung von Redundanzen in Form kontrapunktischer Verwendung von Bild und Ton, denn »[n]ur eine kontrapunktische Verwendung des Tons in Beziehung zum visuellen Montage-Bestandteil wird neue Möglichkeiten der Montage-Entwicklung und Montage-Perfektion erlauben«.25 Die Autoren == % " $[ ;ran schlossen sich bzgl. der Stimmen der Akteure v.a. praktische Fragen an (wie gesehen stellte sich im Besonderen die Frage nach der Doublage fremdsprachiger Filme, nach den stimmlichen bzw. sprecherischen Fähigkeiten der einzelnen #^ " ^!chronisierung von Bild- und Tonspur). Ab Mitte der 1970er Jahre erlangte – und dies v.a. in der frankophonen Filmtheorie – die Performanz der Stimme als eigenwertiges Phänomen des kinematographischen Dispositivs eine herausgehobe " ; Es ist dabei Autoren wie Pascal Bonitzer27, Serge Daney28 sowie insbesondere Michel Chion29 zu verdanken, dass aus der Beschäftigung mit der Stimme im Film der Synchrese subsumiert wird (s.u.) und eines der grundlegenden Gestaltungsprinzipien audiovisueller Medien darstelle. 25 & ¡Q* ¡*ªª#;|{; ;;}; 26 Ebd., S. 56 (Herv. i.O.). 27 Pascal Bonitzer: Le regard et la voix. Paris: Union générale d’éditions (10/18), 1976. 28 Serge Daney: »L’orgue et l’aspirateur« [1977], in: Ders.: La rampe. Paris: Gallimard, 1996, S. 162-176. 29 Chion: 1982; Ders.: 22008a; Ders.: Le Son [1998]. Paris: Armand Colin, 22004; Ders.: Un art sonore, le cinéma. Paris: Cahiers du cinéma, 2003a; in deutschsprachiger Fassung u.a.: Ders.: »Mabuse – Magie und Kräfte des ›Acousmêtre‹. Auszüge aus die ›Die Stimme im Kino‹«, in: Epping-Jäger/Linz (Hg.): 2003b, S. 124-159; Ders.: »Le phrasé
DIE STIMME IN DER FRANKOPHONEN FILMTHEORIE | 277
bzw. des Verhältnisses von Stimme und Stimmlichkeit zu Bildfeld, Körper und Räumlichkeit eine eigene Auseinandersetzung in ihren differenten Ausprägungen hervorging. Hinzu kommen einzelne Untersuchungen, die auf weitere zentrale Aspekte bzgl. der Stimme im Film eingehen, wie der Beitrag zur »stimmlichen Artikulation und zum Körper im Kino« von Marie Ann Doane30 sowie die Studien von Jean Châteauvert31, Alain Boillat32 und Christine Noll Brinckmann33 speziell zur differenzierten Darstellung und Funktion des Voice-over.34 Michel Chions Verdienst ist es, mit der Etablierung des Begriffsfelds rund um das Acousmêtre, also der Stimme ohne visuell einzuordnender Quelle im Bildfeld, einen fundierten Beitrag hinsichtlich des prekären Verhältnisses von erklingender Stimme einer Figur und deren Zuordnung zu einem visuell erfahrbaren Körper im Film zu formulieren und zentrale Anstöße einer Theorie des Films als Audiovision zu lancieren.35 Er legt dabei in seiner frühen Studie La voix au cinéma den Schwerpunkt auf eine psychoanalytische, lacanianische Deutung der Funktionsweisen der Stimme im Film: Das Acousmêtre strebe Chion zufolge danach, deakusmatisiert zu werden, nötige so den Rezipienten dazu, dem auditiven Antlitz der Stimme ein Q [ audio-visuel/Die audiovisuelle Phrasierung« sowie »Les douze oreilles/Die zwölf Oh# $ >Un art sonore, le cinéma, a.a.O., in Übersetzung erschienen in: Petra Maria-Meyer (Hg.): acoustic turn. München: Fink, 2008b und c, S. 541-562 sowie S. 563-600. 30 Mary Ann Doane: »The Voice in the Cinema: The Articulation of Body and Space« [1980], in: Philip Rosen (Hg.): [ 8+## 8"6+3 =6 New York: Columbia Univ. Press, 1986, S. 335-348. 31 Jean Châteauvert: Des mots à l’image. La voix over au cinéma. Québec/Paris: Méridiens Klincksieck, 1996. 32 Alain Boillat: Du bonimenteur à la voix-over. Voix attraction et voix-narration au cinéma. Lausanne: Éditions Antipodes, 2007. 33 Christine N. Brinckmann: »Der Voice-Over als subjektivierende Erzählstruktur des Film Noir« [1985], in: Dies.: Die anthropomorphe Kamera und andere Schriften zur [ . Zürich: Chronos Verlag, 1997, S. 115-129. 34 * = ^ = tieren, würde den Rahmen der vorliegenden Untersuchung sprengen. Die notwendige * = Q = theoretischen Diskussion zur Stimme im Film, da diese nach meinem Verständnis die wichtigsten Anstöße in dieser Debatte generiert haben. 35 Auf die für die vorliegende Studie zentralen Ausführungen Michel Chions zum Acousmêtre, zur Deakusmatisierung sowie zur Synchrese werde ich in den folgenden Abschnitten noch gesondert eingehen.
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ren des Zuschauers/-hörers nach einer konkreten Verortung der von Jacques Lacan als Partialobjekt, als »objet a«36 eingestuften Stimme nachzugehen bzw. nachzugeben. Chion spricht in diesem Zusammenhang sogar von einem symbolischen # = # = *; @`= renden Mundes zu verorten. Diese relativ knappe Feststellung impliziert jedoch ;&; * "# nem Körper zuordenbar wird, wenn man als Rezipient einen sich (dazu synchron) bewegenden Mund zu sehen bekommt, so wie dies Mladen Dolar beschreibt: »Die Stimme kommt aus dem Innern des Körpers, aus dem Bauch, dem Magen – aus etwas, das mit der Aktivität des Mundes unvereinbar ist und nicht auf sie reduziert werden kann. ]#`* ³== #! x @ # er macht das Rätsel nur noch rätselhafter«.37
Für Serge Daney wiederum gibt es in seinem Beitrag »L’orgue et l’aspirateur« keine andere Möglichkeit, Sicherheit über die Verortung der Stimme im Film zu erlangen, als sie einem »visuellen Double«, also einem visuell erfahrbaren Körper zuzuordnen.38 Daney verortet dann auch den Sitz der Stimme nicht an der Ober36 Siehe zur herausgehobenen Position der Stimme als Partialobjekt im Lacanschen Sinne im Speziellen Mladen Dolar: »Das Objekt Stimme«, in: Friedrich Kittler/Thomas Macho/Sigrid Weigel (Hg.): ; R&_diengeschichte der Stimme. Berlin: Akademie Verlag, 2002, S. 233-256; Ders.: »Sechs Lektionen über Stimme und Bedeutung, in: Felderer (Hg.): 2004, S. 199-222 sowie ; # * topologischen Punkt angesiedelt, an der Schnittstelle von Sprache und Körper; diese Schnittstelle aber gehört zu keinem der beiden. Was Sprache und Körper gemeinsam haben, ist die Stimme, doch ist die Stimme weder Teil der Sprache noch Teil des Körpers. Die Stimme entstammt dem Körper, ohne Teil seiner zu sein, und sie trägt die # $
;] _ $ ren einzige Gemeinsamkeit – es ist die Topologie des objet petit a«. 37 Dolar: 2007, S. 96 (meine Herv., V.P.). 38 %;!#;=;|{; ;;} ¦# ¤ peut avoir un double visuel, comme une ombre dont elle serait la proie. Elle ne semble en effet jamais aussi saisissable, tangible qu’au moment où elle est émise, où elle quitte le corps dans le dessin et la torsion des lèvres. Cette métonymie est décisive: c’est ce qui est vu (les lèvres en mouvement, la bouche ouverte, la langue et les dents) qui permet de conclure à la réalité de ce qui est, au même moment, entendu«. Es ist Daney zufolge letztendlich das Gesehene, das dem Gehörten durch die Möglichkeit der Zuord-
DIE STIMME IN DER FRANKOPHONEN FILMTHEORIE | 279
" " *;" im Filmbild, sondern die Stimme entstehe nur im und durch einen sich in Gänze artikulierenden Körper: »La bouche est le lieu où se lit le plus facilement (le } ; ¨# ¦ ¤ ¶# ## ;39 Die Zuordnung des Mundes biete sich als Ort und Quelle der Stimme – dies lässt sich aus Daneys Parenthese folgern – »der Einfachheit (wörtlich: der Faulheit) halber« an, doch könne man weder das Herz noch die Lungen usw. sehen, die ebenso an der stimmlichen Artikulation beteiligt sind. Daney »misstraut« sogar in der Folge auf einer etwas anders gelagerten Ebene den räumlichen Zuordnungen der In- bzw. Off-Stimme und verweigert ihnen gar = " # [ = `% # & " Phänomen implizit negieren und die Stimme demzufolge als bloßes Anhängsel des Visuellen angesehen werde: Q # = ¦ cabulaire, celui du in et du off, trop étroitement repris du domaine visuel et reconduisant, sans qu’on y prenne garde, l’hégémonie de l’œil et sa conséquence obligée: la mutilation de l’oreille (le cinéma, ce serait avant tout l’image, l’image qui ›en fait plein la vue‹ le regard qui dirige etc.)«.40
Diese Zuordnungen von In und Off, die der »Hegemonie des Auges« folgen, seien sogar für die »Verstümmelung des Ohres« verantwortlich, erfasste man den Film v.a. von der visuellen Seite her. Daney plädiert daher für die Kategorisierung von vier unterschiedlichen Stimm-Typen und setzt sich darin entschieden von den eta ==# # * ;41& ==+ | } Erzählers, des Kommentators (also eher dem Voice-over oder dem Acousmêtre & " #;;}# # > kein sichtbares Double verfügt, jedoch in die Diegese eingreift. Beiden Stimmnung Evidenz verleiht. Und es scheint zunächst so, als dass Daney die Entstehung der Stimme »den sich bewegenden Lippen, dem geöffneten Mund, der Zunge sowie den Zähnen« zuordnet. Er betont jedoch diese Zuordenbarkeit als prinzipiell metonymisch, denn der Sitz bzw. die eigentliche Quelle der Stimme sei letzten Endes im gesamten Körper zu verorten. 39 Daney: 1996, S. 168f. 40 Ebd., S. 169 (Herv. i.O.). 41 Ebd., S. 170ff.
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$! ~ ; stimmt Daney als diejenige Stimme, die als »Auswurf« aus dem sichtbaren Mund eines Sprechers »ausgespien« wird: »La voix out, ¤ ¸# tant qu’elle sort de la bouche. Jet, déjection, déchet. Un de ces objets que le corps | ´¤## ## ;};42 Mit * ! + #
les Double, den Körper des Sprechers also, im Bild hat, jedoch der Mund nicht zu sehen ist, wie etwa wenn der Körper des Sprechers nur in Teilen oder von hinten gezeigt wird. Diese von Daney durchaus kritisch zusammengestellte Kategorisie + * * = Diskussion nicht durchsetzen. Die Debatten um die Stimme und ihrem Verhältnis zum Körper des Akteurs, des Bildfelds sowie des Körpers des Zuschauers/-hörers bzw. »audiospectateur« (Boillat) münden im weiteren Diskursverlauf in unterschiedliche Einzelstudien zur Stimme im Film. Doane (1980) betont die Körperlichkeit der erklingenden sowie die Leiblichkeit der rezipierten Stimme, Châteauvert (1996) sowie Boillat (2007) verfolgen eine historische Perspektivierung der Stimme, in welcher sie im Kinoerzähler bzw. Filmerklärer (bonimenteur)43 der frühen und frühesten kinematographischen Vorführungen den Vorläufer der Erzählerstimme im Sprech- und $#% ; Wie im Verlauf des nachfolgenden theoretischen Aperçus zu sehen sein wird, stehen die Erläuterungen und Ausführungen in engem Kontakt zu Fragen nach der räumlichen Position, nach der räumlichen Verortung der Stimmen im Film. Somit * ] & "
' = " entierungshilfen wie On, Off, Over, ›champ‹, ›hors-champ‹ etc. Damit wird eine 42 Ebd., S. 173 (Herv, i. O.). 43 * Y $ Chions (Chion: 2003b) mit der ersten Bedeutung des Wortes, des Marktschreiers also, versehen. Dies ist jedoch meiner Ansicht nicht ganz korrekt, da – obwohl in der frühesten Filmgeschichte der Kinematograph sicher eine Jahrmarktsattraktion war – hiermit " # + Q# oder auch den jeweiligen Figuren im Film eine Stimme gibt, gemeint ist, und die nicht unbedingt ›marktschreierisch‹ klingen muss. Ich habe schon im Abschnitt zur Stimme im Theater auf Hanns Dieter Hüsch hingewiesen, der – selbstverständlich nicht live vor Publikum – alle Stimmen von Slapstick-Filmen inklusive des Erzählers übernommen
; Q *" ==> ;
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[ = #[ =#' lich der Stimme im Verhältnis zur Diegese, wie sie auch etwa Gilles Deleuze in seinen beiden Kinobüchern thematisiert hat, offenbar.44 Fragen nach einer Ästhetik der Stimme im Film problematisieren daher immer den Status von Stimmlichkeit, Körperlichkeit und ! . Das heißt aber auch, dass Stimme im Film demnach immer im Verhältnis zu ihrem Sprecher zu betrachten ist (im Falle des Synchronsprechers sind es somit zwei Körper, die in Erscheinung treten: der visuelle auf der einen bzw. der akustische auf der anderen Seite ein und desselben, * Q "}; ^ hinterlässt so in mehrfacher Hinsicht (körperliche wie räumliche) Spuren, die auf den Körper des Zuschauers/-hörers (›audiospectateur‹) treffen und mal für dessen Orientierung, mal für dessen Desorientierung verantwortlich sind.
44 Gilles Deleuze: 1997a, darin v.a. das Kapitel »Bildfeld und Einstellung. Kadrierung und Szenenaufgliederung«, S. 27-48; Ders.: Das Zeit-Bild. Kino 2 [1985]. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1997b, »Die Bestandteile des Bildes«, S. 289-334 sowie »Schlußfolgerungen«, S. 335-359.
Stimme im Film: Räumlichkeit, Körperlichkeit und Visualisierung
1
SYNCHRESE UND SONOSPHÄRE IM FILM
1.1 Synchrese Die synchron zu den Handlungen im Bildfeld verortbaren Klänge sind meist ein Effekt der in der Wahrnehmung zusammengebrachten visuellen wie auditiven Elemente. Diese Zusammenführung der beiden Wahrnehmungsmodi möchte ich mit Michel Chion unter dem Neologismus der Synchrese fassen: »La synchrèse (mot que nous forgeons en combinant ›synchronisme‹ et ›synthèse‹) est la soudure irrésistible et spontanée qui se produit entre un phénomène sonore et un phénomène ©# ¦gique rationnelle«.1
Im Konzept der Synchrese wird das Zusammenführen von auditiver und visueller Ebene sowohl als additives Prinzip (auf der Produktionsebene) als auch als relationales Prinzip (auf der Rezeptionsebene) der beiden unterschiedlichen Phänomenbereiche beschrieben. In der Synchrese wird die Erscheinung der Räumlichkeit der Bildebene mit der Zeitlichkeit der Tonebene zusammengebracht. Andersherum wird auch die Bewegung im und die Bewegung des Bildes mit der zeitgleich erzeugten Räumlichkeit der Klangebene verknüpft. Im Begriff der Synchrese vereinigen sich somit die entscheidenden Bereiche der audiovisuellen Wahrnehmung, * " % " [ Tonebene und ihre stufenlosen Übergänge untereinander auszeichnet. Im Automatisierungsprozess der Synchrese werden Bild und Klang miteinander verknüpft, 1
Chion: 2008a, S. 55.
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synthetisiert sowie zeitlich aufeinander abgestimmt, also synchronisiert. Chion bewertet daher die Synchrese konkret als eine anthropologische Konstante: ¤¤ ¤¨ # ¦ l’enfant au berceau est d’emblée sensible au synchronisme des phénomènes visibles et audibles; et au cinéma, il est avéré, par le principe même du bruitage, qu’un son que l’on fait tomber en même temps qu’un mouvement visuel lui est automatiquement accolé, même si sa matière, sa couleur, son timbre, ne sont que très grossièrement voire pas du tout cohérents avec le phénomène qu’il accompagne. C’est ce que nous appelons la synchrèse – phénomène indépendant du raisonnement, mais aussi de la question secondaire du pouvoir et de la causalité«.2
Das Phänomen der Synchrese als automatisierter Zusammenführung von Visuellem und Auditivem funktioniert Chion zufolge sowohl jenseits schlüssiger Gedankengänge als auch unabhängig von Machtstrukturen und Kausalitätsprinzipien. Daraus lässt sich grundsätzlich auf ein asemantisches und nicht-hierarchisches Verhältnis der beiden Rezeptionsmodi schließen.3 Erst im Nachhinein – so meine These – können wir bestimmte Bilder bestimmten Klängen kognitiv zuordnen, sie nach Kausalität und evozierten Machtstrukturen hinterfragen. Die Synchrese stellt also eine Art präsymbolisches Erscheinungsprinzip im Film dar, unter welchem räumliche, klang-räumliche sowie zeitliche Phänomene zusammengefasst werden können, die sich zunächst hierarchiefrei und wertungsneutral zeigen. Aufgrund der Synchrese in der Wahrnehmung des Films sei es nahezu unmöglich, die Klangebene von der Bildebene separat zu betrachten. Chion beschreibt daher die Synchrese als ein »unkontrollierbares Phänomen«, denn sie führe auf direktem Wege zur Etablierung eines »rapport étroit d’interdépendance et à rapporter à une cause commune, même s’ils sont de nature et de source complètement différentes, des sons et des images qui n’ont souvent que peu de relation dans la réalité. Le cinéma utilise abondamment cet effet, qui permet notam! #¤ ¦
2
Chion: 2003a, S. 40 (Herv. i.O.).
3
Ebd., S. 193: »La synchrèse est, tout autant que la perception continue du mouvement entre les 24 images par seconde du cinématographe, un fait idéologiquement neutre et statistiquement universel; un fait qui n’implique aucun asservissement du son à l’image«. In diesem Punkt wird die nicht-hierarchisch strukturierte Ordnung von Bild und Ton von Chion nochmals unterstrichen.
SYNCHRESE UND SONOSPHÄRE IM FILM | 285
sons de pas souvent très éloignés d’un bruit de pas, mais qui sont synchronisés avec la mar ¤# ¸ ¦ ¤ ¨¤ ;4
Ist die Synchrese auf der einen Seite als homogenisierender, als Kohärenz erzeugender Effekt einsetzbar, werden also zeitgleich erscheinende Bilder und Töne, Geräusche, Stimmen automatisch in Einklang gebracht, das Prinzip der Synchronisation (Doublage) lässt sich dementsprechend schnell nachvollziehen, indem man Stimme und Körper einander zuordnen kann. Der Film kann auf der anderen Seite selbstverständlich auch mit der Dissoziation von Bild und Ton operieren, sodass Bild und Ton im Kognitions- sowie Semiotisierungsprozess keine logische Einheit bilden und so keine Kohärenzerzeugung möglich ist, sondern die beiden Phänomenebenen sich vielmehr konterkarieren und Irritationen in der ganzheitlichen Wahrnehmung provozieren. Chion schreibt dazu: »La synchrèse permet aussi de jouer d’effets de contradiction et de décalage (disproportion ¦# ± histoires comiques et fantastiques), effets qui, sans elle, conduiraient à une pure et simple désolidarisation de l’›audio‹ et du ›visuel‹. Bref, sans la synchrèse, le son, obligé de res¨¦ ¦# ¦ | # = ¦ # § ¦};5
Dieser Effekt der Synchrese im Film lässt sich nach Michel Chion speziell durch sogenannte »Synchronisationspunkte« (›point de synchronisation‹) organisieren und konstruieren. »Synchronisationspunkt« nennt Chion »in einer audiovisuellen Verkettung einen stark hervorspringenden Punkt der synchronen Bewegung zwischen einem Klangmoment und einem gleichzeitig auftretenden visuellen Moment, anders gesagt, ein Moment, in dem der Effekt der Synchrese stärker markiert und # &==] ==; {"keit und die Verteilung der Synchronisationspunkte während der Dauer einer Sequenz tragen dazu bei, ihr ihre Phrasierung und ihren Rhythmus zu geben, aber auch Sinn zu schaffen«.6
4
Ebd., S. 192f.
5
Chion: 2004, S. 224, vgl. hierzu auch Fahlenbrach: 2003.
6
Michel Chion: 2008b, S. 548, original in Chion: 2003a, S. 239 (Herv. i.O.): »Nous appelons point de synchronisation# ´ # saillant de rencontre synchrone entre un moment sonore et un moment visuel concomitants, autrement dit un moment où l’effet de synchrèse est plus marqué et plus accentué, créant un effet de soulignement et de scansion. La fréquence et la disposition des points
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! = == von visuellem und auditivem Phänomen und markieren darin einen Moment der '"; *;^ sierung einer Figur (s.u.), die bislang nur als stimm-körperliche Spur im Film in Erscheinung getreten ist.7 1.2 Sonosphäre Die unterschiedlichen Ausprägungen der Stimme, etwa diejenige der agierenden Figuren im On oder Off bzw. die eines (auktorialen) Erzählers im Over etc., neh = &$ ;@" => ' $#$ * Leinwand überschreitet: die Sonosphäre des Kinosaals wird von den unterschiedlichen Klängen, Geräuschen, Musikeinspielungen und Stimmen, die allesamt über die im Raum angeordneten Lautsprecher übermittelt und dementsprechend jenseits der Bildebene erklingen, bevölkert. Thomas Elsaesser und Malte Hagener beschreiben in ihrer Filmtheorie zur Einführung in dieser Hinsicht, wie der »Widerstreit von (Bild-)Fläche und (Ton-)Raum auf vielfältige Art und Weise produktiv gemacht [wurde]«, und formulieren allgemein zum Bild-Ton-Verhältnis sowie der Problematik der Räumlichkeit: »Wenn der Film über den Ton nicht mehr nur vorne auf der Leinwand lokalisiert werden kann, sondern überall im Raum ist, dann stellt sich einmal mehr die Frage, ob der Film in ^ = ` ;8
de synchronisation dans la durée d’une séquence contribuent à lui donner son phrasé et son rythme, mais aussi à créer des effets de sens«. ! | }Q funktionieren, wenn also ein Element – etwa das Gesicht zur Stimme – gerade nicht gezeigt wird, obwohl der ›pythagoreische‹ Vorhang – wie etwa in D AS TESTAMENT
DES
DR . MABUSE (D 1933, R: Fritz Lang) – gelüftet wird und anstatt des Delinquenten einen Pappkameraden in Form des Doktors, ein Tischmikrophon und einen Trichter-Lautsprecher erscheinen lässt, aus welchem wiederum eine akusmatische Stimme ertönt. Anstatt des Gesichts Mabuses sieht man diesen Lautsprecher (Michel Chion nennt dies »acousmachine«), dennoch stellt dies auch einen besonderen Moment der Spannung für den Zuschauer/-hörer dar, da dem Begehren nach der Präsentation des Gesichts Mabuses nicht nachgekommen und vielmehr ein weiteres Acousmêtre erzeugt wird. Vgl. hierzu auch Chion: 1982, S. 23ff. sowie Chion: 2003b. 8
Thomas Elsaesser/Malte Hagener: Filmtheorie zur Einführung. Hamburg: Junius, 2007, S. 176f.
SYNCHRESE UND SONOSPHÄRE IM FILM | 287
Vor allem die Entwicklung der Lautsprecheranlagen sowie der Dolby-SurroundTechnik und die Belegung von vielfachen Tonspuren »ermöglichen eine Überschreitung des Bildrahmens, so dass der Film nicht länger ausschließlich auf der Leinwand abläuft, sondern sich im Zuschauerraum fortsetzt«.9 Es seien gerade die technologischen Entwicklungen bzgl. des »aural hervorgebrachten Raum[s]«, die große ästhetische Potenziale freigesetzt haben. Die Mehrlagigkeit und Multidirektionalität der Tonebene sowie die daraus resultierende »Entgrenzung des Bildes« ermöglichen, so die Autoren weiter, »vielfach Töne, die keinen erkennbaren Ursprung mehr besitzen, sondern scheinbar von einem Ort zu kommen scheinen, der nicht mehr genau zu bestimmen ist«.10 Aus rein technisch-apparativer Perspektive geht hervor, dass das kinematogra * " besteht: aus einer visuellen sowie einer auditiven Komponente. Dies führt bspw. Q zu der Behauptung, dass die Klangebene per se niemals mit der Bildebene korrespondiert bzw. korrespondieren kann, da Bild und Ton gänzlich unterschiedliche und voneinander unabhängige Wahrnehmungsmodi bedienen. Jean Châteauvert zufolge seien etwa »les sons […] toujours reproduits par les haut-parleurs dissimulés dans la salle« per se akusmatisch, also ohne sichtbare Quelle11 und daher keinesfalls der Bildebene zugehörig. Dies sieht er allein darin begründet, dass die [ $ ; %* =' Odin stellt Châteauvert hinsichtlich der seiner Ansicht nach genuin akusmatischen Klangsphäre der Filmrezeption fest: ¹ # ¤ sont générés par les haut-parleurs dans la salle et derrière l’écran, alors que mon attention est focalisée sur l’écran; à un second niveau, un son peut être dit acousmatique parce que ¤+ ¦¨¤¦ # accompagne l’action ou souligne l’émotion d’une scène«.12
Es seien somit zwei unterschiedliche Typen akusmatischer Erscheinungen voneinander getrennt zu analysieren: aus rein technisch-apparativer Perspektive gesehen scheint es einleuchtend, dass die Klänge in der konkreten Rezeptionssituation im Kinosaal nicht aus dem Bild, sondern aus den wie auch immer im Raum angeordneten Lautsprechern ertönen. Auf einer anderen, medienästhetischen Ebene 9
Ebd., S. 178.
10 Ebd., S. 179. 11 Châteauvert: 1996, S. 105. 12 Ebd.
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geht es vielmehr um das Verhältnis des Tons zum Bild und nicht um das Verhältnis von Ton und Bild. Die unterschiedlichen Stimm-Typen im Film sind jeweils in ihren ›inneren‹ wie ›äußeren‹ räumlichen Gegebenheiten verankert, die sich im Verhältnis der $ [ & nosphäre im Film ausmachen. Selbst die Stimme eines distanzierten (etwa eines auktorialen) Erzählers verhält bzw. positioniert sich trotz allem relativ zur Bildebene des Films. Die unterschiedlichen Stimm-Typen, die ich im Folgenden als On-, Off- bzw. Over-Stimmen bezeichnen möchte und die bestimmten FigurenTypen im Film zuzuordnen sind, gehen ein je eigenes Verhältnis zu den sie artikulierenden Körpern einerseits, aber auch zur jeweils räumlichen Darstellung sowohl auf der Ton- als auch auf der Filmebene andererseits ein. Generell zur Relation von Stimme, Körper und Raum bzw. zur Verankerung von Stimme und Kör " `* ! »Just as the voice must be anchored by a given body, the body must be anchored in given ;$ * ! niques designed to spatialize the voice, to localize it, give it depth, and thus lend to the characters the consistency of the real«.13
Die audiovisuelle Kinosituation zeichne sich durch mehrere unterschiedliche Raumkonstellationen aus, die dem kinematographischen Dispositiv eingeschrieben sind. So unterscheidet Doane in ihrem Konzept allein drei solcher Raumtypen, (1) den virtuellen Raum der Diegese, (2) den sichtbaren Raum auf der Leinwand sowie (3) den akustischen Raum des Kinosaals. Der diegetische Raum besitze, so Doane, »no physical limits; it is not contained or measurable. It is a virtual space ! (as well as implications that its objects can be touched, smelled, and tasted)«. Derjenige Raum hingegen, der innerhalb der Grenzen der Leinwand visualisiert ist, = = ; Der akustische und somit vermeintlich »rahmenlose« Raum des Auditoriums wird seinerseits wie folgt charakterisiert: »[D]espite the fact that the speaker is behind the screen and therefore sound appears to emanating from a focused point, sound is not ›framed‹ in the same way as the image. In a sense, it envelops the spectator«.14 Wird einerseits die visuelle Ebene des Films in den Abmessungen des [ = *; "re des Films, so ist andererseits die auditive Ebene der Kinosituation in einem an13 Doane: 1986, S. 337. 14 Alle Zitate ebd., S. 339 (Herv. i.O.).
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ders gearteten Rahmen eingegrenzt: Diese auditive Ebene »hüllt« (envelops) den Zuschauer/-hörer, analog zur traditionell theatralen Raum-Konstellation, in eine akustische Blase, in die Sonosphäre des Kinosaals. Sind die auf der Leinwand dargestellte Räumlichkeit sowie diejenige, die via Lautsprecher und Luft übermittelt * #* * #* [ = *;* [* x* #*> Lautsprecher in den Kinosaal übermittelt wird; wir hören atmosphärische Sounds, Stimmen, Geräusche oder eine mehr oder minder suggestive Filmmusik –, so geht der virtuelle Raum der Diegese immer mit einer imaginativen und kognitiven Verknüpfung durch den Zuschauer/-hörer einher: Das, was weder im Bild noch über die Lautsprecher gezeigt wird, bspw. die andere Seite des sichtbaren Raums und @"#* |%}< ' abgeglichen und miteinander verknüpft bzw. ineinander verschränkt. _
'" nannten »metaspace«15 des Kino(saal)s. Sie verdeutlicht dies anhand der Funktion bzw. Verortung der Off-Stimme im klassisch inszenierten Film: $ ¤ = ;¢^ nomenon of the voice-off cannot be understood outside a consideration of the relationships established between the diegesis, the visible space of the screen, and the acoustical space = ;$ * = = = theater, but this is the space with which it is least concerned. The voice-off deepens the di # * = # ** ;_ **!# accounts for ;$ == * = = ¤ = ! ! = ;_ tes both what the screen reveals of the diegesis and what it conceals«.16
Bemerkenswert an dieser Aussage ist, dass die Off-Stimme gerade nicht bzw. we [ #' der visuell begrenzten, aber virtuell offenen, unendlich weiten Diegese, den das Filmbild nicht auszufüllen vermag, wiederbringe. Die Off-Stimme funktioniere daher wie ein Scharnier, welches zwischen dem Verdeckten und dem Enthüllten der Diegese gelagert sei. Die Sonosphäre im Film ist somit einerseits nach ›innen‹ gerichtet: Dies betrifft das interne Zusammenspiel von Bild- und Tonebene, Bild und Ton werden also in bestimmter Weise aufeinander abgestimmt, sie werden auf der Produktionsebene 15 Ebd., S. 340. 16 Ebd. (Herv. i.O.).
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synchronisiert. Die Sonosphäre im Film ist aber zugleich auch nach ›außen‹ gerichtet, und dies betrifft die Rezeptionsseite: das gleichzeitige Wahrnehmen des zweidimensionalen Bildfelds und des den Raum des Kinos überwindenden und in den Körper des Zuschauers/-hörers eindringenden Klangs. Der Zuschauer/-hörer re-konstruiert dabei performativ den individuell rezipierten Film: Er erkennt Zeichenstrukturen, deiktische Markierungen im Film und bringt sie kognitiv wie semiotisch zusammen.17 Hans J. Wulff differenziert seinerseits zwischen der relativen Lage von Räumen im zweidimensionalen Film sowie der darin enthaltenen konkreten sowie vorgestellten, dreidimensionalen Handlungswelt. Der »Aufbau der inneren Repräsentation eines zusammenhängenden Raumes« sei Wulff zufolge eine der elementarsten Leistungen des Rezipienten. »Auf einer ersten Stufe handelt es sich dabei«, so Wulff, »um eine Vorstellung der , ihrer relativen Lage, der Distanzen zwischen Handlungsräumen und dergleichen mehr«. Zudem gehe es »um die Vorstellung der gesamten Handlungswelt der Geschichte. Denn nicht alle abgebildeten Räume sind auch Handlungsräume. Manche bleiben für die Handlung ungenutzt, bilden bloß Hintergründe oder Environments. Hintergründe wie Handlungsräume * % ' " ;18 tiven Realität‹ des szenisch Dargestellten inhärieren auch diejenigen Elemente, die auf der Bildebene nicht zu gewahren sind. So konstituieren die auditive sowie die visuelle Ebene einen gemeinsamen Rahmen, Wulff schlägt hierfür den Begriff »Horizonte der Diegese« vor, da »mit dem, was man sieht, immer auch ein formaler Rahmen des Mitgegebenen gesetzt ist: Ich sehe die eine Seite des Stuhls, die andere – nicht-sichtbare – ist mitgegeben; ich sehe
17 Die imaginative und kognitive Dimension der Filmrezeption ist es, die von Doane hier in den Vordergrund gestellt wird (ebenso von Hans J. Wulff und Edward Branigan, s.u.). Doch das Aufgreifen dieses Diskursstrangs soll keineswegs infrage stellen, dass Film # # # * # schwebend gelassen werden«, um eine »bewusste Desorientierung« beim Rezipienten hervorzubringen. So seien es auf der einen Seite »Gestaltungsmittel wie die 24 Ebd., S. 155. Diese aktive Suchbewegung wird Michel Chion zufolge aufgrund einer Art »aimantation spatiale«, eines »räumlichen Magnetismus« also – auch schon dem * sprechern im Kino ertönt, so verknüpft der Rezipient automatisch diesen Klang (eines *} =[ & & nes audiovisuellen und synchronen Ereignisses, welches er auf der Leinwand verortet. %>= *; + = Zuschauers/-hörers statt (vgl. Chion: 2003a, S. 221ff.). 25 Flückiger: 2007, S. 298. 26 Vgl. das Kapitel »Stimmlichkeit und Räumlichkeit im Hörspiel« der vorliegenden Studie. 27 Ebd., S. 298. 28 Flückiger geht sogar so weit zu behaupten, dass wir als Rezipienten »auf das Auseinanderklaffen von visueller und auditiver Raumwahrnehmung panisch reagieren« (ebd., S. 299). Eine solche Zuspitzung scheint mir jedoch ein wenig überzogen.
SYNCHRESE UND SONOSPHÄRE IM FILM | 293
Negierung des Raums durch eine begrenzte Schärfentiefe, durch diffuse Objek =$ = Raums durch Detailaufnahmen«, die für diese Art der bewussten Desorientierung *;= @" und die diffuse Atmosphäre des Surround-Klangs, der nirgends im Bild verankert scheint«, die diese Irritationsmomente auf der Tonebene bewirken.29 Klangräumlichkeit im Film zeichnet sich also in einer solchen Perspektive dadurch aus, dass ein apriorisch gegebener Raum sowie eine virtuelle Handlungswelt visuell wie akustisch, nach bestimmten Montageprinzipien, der Kadrierung sowie der Licht- und Tongebung, dargestellt werden: visuell und akustisch mittels der agieQ# " " nen Welt – und unterstützt durch die diegetische, in der konkreten Handlungswelt ' " & * nende Musik aus dem virtuellen Orchestergraben. Die virtuelle Handlungswelt der Diegese folgt einer bestimmten Plausibilisierungsstrategie, in der Handlungen, Figuren, Gegenstände, Stimmen, Sounds und Musik vom Zuschauer/-hörer gesehen und gehört werden können. Die wahrgenommenen auditiv wie visuell auftretenden Phänomene gleicht der Rezipient im Sinne Wulffs mit seinem (Vor-)Wissen ab und entwirft bzw. re-konstruiert diese Handlungswelt, indem er versucht, diesem aus Fragmenten zusammengesetzten Gefüge eine Kohärenz, eine nachvollziehbare Ganzheit zu verschaffen. Die Sonosphäre des Kinosaals ist dabei in etwa mit derjenigen Situation zu vergleichen, die ich im ersten Teil der vorliegenden Studie zur technischen Realisierung der Stimme im Theater, v.a. anhand der Inszenierung des MOLIÈRE , beschrieben und analysiert habe. Es liegt jedoch der grundsätzliche, mediale Unterschied zwischen Kino- und klassischer Theatersituation auf der Guckkastenbühne vor30: Die Aktionen sind im Film nur auf der zweidimensionalen Leinwand wahrnehmbar, der Sound sowie dessen synchrones bzw. asynchrones Verhältnis zur visuellen Ebene sind es, die eine konkrete und keine vorgestellte Räumlichkeit ;& & dieses Bildraums im ›master space‹ (nach Branigan bzw. Wulff), also im Kopf des Zuschauers/-hörers statt. Dieser sieht und hört Raum-Konstellationen im Film, verbindet diese mit seinem Wissen um die Räumlichkeit des realen Schauplatzes 29 Ebd., S. 320f. 30 Als eine Ausnahme und Subvertierung dieser medialen Differenz kann Frank Castorfs Inszenierung von D ER M EISTER
UND
MARGARITA an der Berliner Volksbühne (Premie-
re: 14. Juni 2002) gelten, bei der die gesamte zweite Hälfte der Aufführung nur noch via Leinwand und technisch realisierten Stimmen zu sehen und zu hören ist.
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(des apriorisch gegebenen Raums) sowie der eigenen Räumlichkeit der von Wulff ' "| } ` oder minder bewusst ein bzw. sein körperliches wie subjektives Raumerleben. Der Zuschauer/-hörer gleicht Bild-Wahrnehmung und Klang-Wahrnehmung ständig ab – dies lässt sich im Besonderen aus Flückigers Ausführungen folgern –, sodass bei Dissoziation von Bild und Ton Irritationen entstehen und der Drang bzw. das Begehren nach Kohärenz sich als ein primäres Bedürfnis nach Verknüpfung von Bild und Ton zu einem audiovisuellen und ganzheitlichen Wahrnehmungsereignis zeigt. Interessant erscheinen daher v.a. diejenigen Phänomene, bei welchen dieses Begehren nicht erfüllbar zu sein scheint, indem die Dissoziation von Bild und Ton auf die Spitze getrieben und dem Verlangen nach Plausibilisierung, nach Kohärenz nicht oder nur kaum nachgekommen werden kann. Mary Ann Doane beschreibt ebenso dieses scheinbar universelle Prinzip des Begehrens nach der Zusammenführung der beiden Rezeptionsmodi Sehen und Hören in ein ganzheitliches Wahrnehmungskonstrukt. Dieses Konstrukt werde generiert durch die zweidimensionale Rezeption der Bildebene als Wahrnehmung einer ›inneren‹ Räumlichkeit sowie der gleichzeitigen räumlichen Rezeption der Tonebene als Wahrnehmung sowohl dieser ›inneren‹ Räumlichkeit als auch – und dies ist die entscheidende mediale Differenz – der Rezeption der ›äußeren‹ Räumlichkeit im Kinosaal. Die Rezeption der Bildebene bleibt qua Medium Leinwand " # #x ' ebene qua Medium Lautsprecher und Luft ist immer eine in den Körper des Rezi * " * Haut und die Ohren des Rezipienten überschreitende Wahrnehmungsform. Doane schreibt im Speziellen zur »sonorous envelope«, zur akustischen Hülle bzw. Sonosphäre im Kino: »At the cinema, the sonorous envelope provided by the theatrical space together with techniques employed in the construction of the sound track work to sustain the narcissistic pleasure derived from the image of a certain unity, cohesion, and hence, an identity grounded by the spectator’s phantasmatic relation to his/her own body. The aural illusion of position ! = ! * the voice and endow it with ›presence‹ guarantees the singularity and stability of a point of audition, thus holding at bay the potential trauma of dispersal, dismemberment, difference. The subordination of the voice to the screen as the site of the spectacle’s unfolding makes vision and hearing work together in manufacturing the ›hallucination‹ of a fully sensory world. Nevertheless, the recorded voice, which presupposes a certain depth, is in contradic * = * ;31
31 Doane: 1986, S. 343f.
SYNCHRESE UND SONOSPHÄRE IM FILM | 295
Die Sonosphäre im Kino verstärke somit das Begehren des Zuschauers/-hörers nach Einheitlichkeit, nach Kohärenz und gehe zudem dem Bedürfnis nach einer narzisstischen Verknüpfung zum eigenen Körper nach. Die Illusion der Verortung, die durch die beiden Phänomenebenen des kinematographischen Dispositivs evoziert wird, verhindere das unbefriedigende bzw. beängstigende Gefühl der [ $* & ' ; * beiden Rezeptionsmodi in der räumlichen Tiefe der erklingenden Stimmen und Klänge sowie der Flächigkeit des zweidimensionalen Bildes bestehen. Ton im Film dient jedoch nicht nur dazu, und diese Einschränkung möchte ich an diesem Punkt mit Elsaesser und Hagener noch einmal gesondert herausstellen, »uns im Raum zu orientieren und zu stabilisieren, sondern [Ton, V.P.] kann auch desorientieren und aus dem Gleichgewicht bringen«32, denn »[a]uf der einen Seite steht der Ton (und das Bild) als Stabilisator unseres Gleichgewichtssinns, als Verortung und ›Zentrierung‹ des Blicks in der Geometrie des perspektivischen Rau; ] = # * # $ (und das Bild) als ›Mobilisierung‹ unserer technologischen Geräte wie auch als ›Mobilisierung‹ unserer Sinne und Körper«.33 Die Tonebene wird also bei Elsaesser und Hagener – obwohl auch sie v.a. die Bildebene als das Film generierende Element ansehen – durchaus nicht als bloße & & »Beim Ton handelt es sich nicht einfach um einen zusätzlichen Informationsträger zum Bild, um ein pures Anhängsel, sondern die Akustik erfüllt eine sehr viel umfassendere Aufgabe der tatsächlichen und metaphorischen Verankerung und Stabilisierung des Zuschauerkörpers im Raum«.34
Die (Eigen-)Wertigkeit der Tonebene wird in folgender Aussage – trotz des darin festgestellten und der Bildebene zugesprochenen Primats im Film – deutlich: »Da Ton den Raum mit Schwingungen erfüllt, wird die Bedeutung dem Ort des Bildes zugeschrieben, auch wenn es von ganz woanders ›kommen‹ mag. Deshalb steht der Ton für den Raum, den das Bild impliziert, denn der Gehörsinn zieht uns in die Welt hinein, während das Sehen uns Abstand verschafft. […] Mit dem Ton dringt die neue Objektwelt in unerwarteter Weise auf und in uns ein. Die neue technologische ›Flüssigkeit‹ des Tons kann sich jeglicher materieller Substanz anheften, aber auch jeglicher semantischer Substanz:
32 Elsaesser/Hagener: 2007, S. 179. 33 Ebd., S. 185f. 34 Ebd., S. 165.
296 | STIMMEN AUF DER SPUR $ = % 8; !% 8 ! 8 + !8Y Ytung, aber auch in seiner erneuten Trennung von ihnen hochgradig mobil. Deshalb müssen wir in der modernen Filmtheorie mit der Annahme vorsichtig sein, dass uns der Übergang zum Paradigma des Körpers und des verkörperten Sehens einen festen Boden unter den Füßen verschafft; vielleicht entpuppt sich der vermeintlich feste Grund als Weg aus zermahlenen Schädeln und Knochen«.35
Es ist schließlich die Flüchtigkeit, die Fluidität und Multidirektionalität des Klanglichen, der stimm-körperlichen Erscheinungen, die den besonderen Reiz ausmachen. Daran, dass sich die Töne, die eine mögliche Verbindung mit der Bildebene #''= "# "gen eingeschriebene Potenzial, Bedeutungen zu unterstützen, sie zugleich zu unterminieren, sowohl Halt als auch Desorientierung generieren zu können, was das Hinterfragen des (Wahrnehmungs-)Paradigmas des Körpers sowie des Postulats des verkörperten Sehens unterstreicht und deutlich macht, dass Film nicht nur qua [ {"# {* neriert, sondern die klangliche Realisierung ein gewichtiges und entscheidendes Moment ist, das den Film und dessen Wahrnehmung nicht bloß als ein Anhängsel, sondern als eigenwertiges Phänomen gestaltet.
2
ON, OFF ODER OVER? ZUM VERHÄLTNIS VON STIMME, BILDFELD UND REZIPIENT
Es ging mir im vorangegangenen Kapitel im Speziellen darum, mit Begriffen wie dem apriorisch gegebenen Raum, der virtuellen Handlungswelt und der Diegese, ' "# " ^ zu beschreiben, sie in eine ›innere‹ und ›äußere‹ Wahrnehmungsebene heuris = ;[ = % " visuell-körperlicher Entsprechung und ihrem visuell-erfahrbaren und zuordenbaQ ' | © }# möchte ich zunächst generelle Raumeinteilungen hinsichtlich der Markierung von & *; ` [ = " " ; & [ = $[ =#* Gilles Deleuze unter dem System der Kadrierung zusammenfasst36, und denen ich 35 Ebd., S. 186f. (meine Herv., V.P.). 36 Gilles Deleuze fasst das grundlegende und technische Prinzip der Bild-Ton-Zuordnung unter dem Begriff der Kadrierung sowie den im Bildkader enthaltenen Elementen
ON, OFF ODER OVER? | 297
zur inneren wie äußeren Orientierung die Begriffe On, Off bzw. Over zuordnen möchte. Als On-Stimme bezeichne ich diejenige Stimme, der eindeutig ein sprechendes Gesicht im Bildfeld (›cadre‹) zur gehörten Verlautbarung zuzuordnen ist. Als solche ist die On-Stimme am einfachsten wahrzunehmen. Die Quelle des Tons, in diesem Falle also der Stimme, verorte ich in der auditiven wie visuellen Übereinstimmung bzw. Verknüpfbarkeit beider.37 Die On-Stimme ist nach meinem Verständnis als Teil der Diegese sowie des Bildfelds, welches der »portion d’espace offerte à l’œil du spectateur, cadrée par l’objectif, projetée sur l’écran«38 entspricht, einzuordnen. Als Phänomen der Diegese ist sie zugleich Teil der internen =&& =& ' tät‹ – zu verstehen, denn »[b]ei diesem ersten Bezug haben wir es mit dem Verhältnis zwischen einem gegebenen Ensemble und einem weiter gefaßten zu tun, das jenes fortsetzt oder umfaßt – und doch sind beide von gleicher Natur«.46 Hierin ist implizit markiert, dass das Ensemble aus dem Off, in diesem Falle folglich die noch oder wieder rein akustisch wahrnehmbare Stimme, einen direkten Ein= >; Als Over-Stimme möchte ich schließlich diejenige Stimme bezeichnen, die – zunächst wie die Off-Stimme – keine visuell-körperliche Entsprechung, keine * ;_ # + [ und Tonfelds und ist daher auch der Off-Stimme übergeordnet bzw. vorgelagert. Bonitzer – der, darauf sei nochmals hingewiesen, den Begriff Over nicht gebraucht – spricht in diesem Zusammenhang von der Stimme des Kommentars, die im Verhältnis zum Bildfeld einer »Ordnung des Anderen« angehöre. Dieser Typ der Stimme sei 43 Deleuze: 1997a, S. 33f. Die von Deleuze ins Spiel gebrachten Ensembles können sowohl Personen, Stimmen, Objekte, Geräusche sein, die wiederum in einer räumlichen Figuration in Erscheinung treten. Diese Ensembles sind zunächst auf der konkreten Darstellungsebene verortet und gehören (noch) nicht etwa der Ordnung der Montage an. 44 Ebd., S. 34. 45 Deleuze: 1997b, S. 302. 46 Ebd.
300 | STIMMEN AUF DER SPUR »celle du commentaire, c’est-à-dire celle d’une voix¦ ¦ ¤ ##voix off, puisque celle-ci retentit hors-champ, autrement dit au champ de l’Autre. Il s’agit ici de réduire autant que possible, non la portée informative du commentaire, mais son caractère assertif et si l’on veut autoritaire, cet ar == # où nul ne peut la localiser«.47
Aufgrund der Tatsache, dass diese Stimme im Verhältnis zum Bildkader nicht oder nur kaum verortbar ist, gehöre sie somit nicht nur der Ordnung des Anderen an, denn diese Art der Stimme sei, so Bonitzer »[a]bsolument autre et absolument indéterminé. Et en ce sens, transcendant: d’où cet incontestable, incontesté, supposé ;&¤ ¤# ==¦ tel est l’essence de son pouvoir«.48 Der Over-Stimme des Kommentars wird somit eine genuine Allwissenheit unterstellt, ihr inhäriere eine nicht zu hinterfragende Machtstruktur. Bei Deleuze zeugt dieser Typ der ›absoluten‹ Off-Stimme »von einer ziemlich beunruhigenden Präsenz, von der nicht einmal mehr gesagt werden kann, daß sie # #` # wo, außerhalb des homogenen Raums und der homogenen Zeit«.49 Das Over fällt sozusagen aus dem Verhältnis zum On bzw. zum Off heraus: das ›radikale Anderswo‹ bezeichnet nicht nur einen anderen Raum, sondern impliziert auch eine andere Zeitlichkeit. Dieses raum-zeitlich anders gelagerte ›hors-champ‹ zeuge »von einer andersartigen Macht, die jeden Raum und jedes Ensemble übersteigt: es bezieht sich nun auf das Ganze, das sich in den Ensembles äußert, auf die Veränderung, die in der Bewegung, auf die Dauer, die im Raum, auf den lebendigen Begriff, der im Bild, und auf den Geist, der in der Materie zum Ausdruck kommt. In diesem Fall besteht der Ton aus == # Sprechakten (eine Stimme, die eine Erinnerung wachruft, kommentiert, über ein Wissen verfügt und eine Allmacht oder zumindest eine außerordentliche Macht über die Bilderfolge besitzt)«.50
Und dies bedeutet letztlich auch, dass der Status der Over-Stimme im Verhältnis zur Diegese ein nicht so eindeutig fassbarer ist, wie es die bisherigen Ausführungen vielleicht nahelegen könnten. Dies gilt es also im Einzelfall zu überprüfen. Denn
47 Bonitzer: 1976, S. 29 (Herv. i.O.). 48 Ebd., S. 33 (Herv. i.O.). 49 Deleuze: 1997a, S. 34. 50 Deleuze: 1997b, S. 302f.
ON, OFF ODER OVER? | 301
bezeichnet das Verhältnis der Over-Stimme des Kommentars in einem Dokumen * | } & " ' ' " – wie etwa der Erzähler in Lars von Triers D OGVILLE – eindeutig ein distanziertes Verhältnis zur Diegese, zur ›internen‹ Kommunikationsstruktur des Films, so _ & " #* @ =*; mal des Film Noir oder in Quentin Tarantinos K ILL B ILL V OL . 1 und 2 (Uma $ ¡$ [ *;[ } * Q Diegese ein. Prinzipiell jedoch – und dies möchte ich zunächst festhalten – ist die Over-Stimme des Erzählers als ein jenseits des auf der ersten Ebene des Films wahrzunehmenden Raums und der Zeit (der Diegese) in Erscheinung tretendes Phänomen zu fassen. So möchte ich den Vorschlag von Mary Ann Doane hinsichtlich der Unterscheidung von Off-Stimme und Over-Stimme aufgreifen, den sie pointiert in der folgenden Aussage vereint: »The voiceover commentary in the documentary, unlike the voice-off, the voiceover during # # # == #disembodied voice. While the latter *= ! = # commentary is necessarily presented as outside that space. It is its radical otherness with respect to the diegesis which endows this voice with a certain authority. As a form of direct address, it speaks without mediation to the audience, bypassing the ›characters‹ and establishing a complicity between itself and the spectator – together they understand and thus place the image. It is precisely because the voice is not localizable, because it cannot be yoked to a body, that it is capable of interpreting the image, producing its truth«.51
51 Doane: 1986, S. 341 (Herv. i.O.). Zwei Einschränkungen möchte ich zu dieser Aussage dennoch zu bedenken geben: Hinsichtlich der ersten Einschränkung gibt es bestimmte # =
" *# * diese Stimmen außerdem einen bestimmten (visuellen) Körper implizieren, da geradezu automatisch die Stimmen assoziativ mit einem bestimmten Körper verknüpft werden |};_ $% * " setzten Stimme Christian Brückners zumindest den Körper Robert de Niros zuordnen, der Stimme Rolf Schults wird fast automatisch mit dem Körper Robert Redfords imaginativ verknüpft. Ähnliches gilt für die Stimme Hansi Jochmanns, die immer auch den Körper Jodie Fosters assoziativ aufscheinen lässt. Bezüglich der zweiten Einschränkung zu Doanes Aussage möchte ich in aller Kürze nur darauf verweisen, dass in der ^#* # # Stimmen immer qua Stimmlichkeit körperliche Spuren eingeschrieben sind und korrek-
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^ # " *" # * | }& " geordnet sein, sie nimmt bzw. sie hat jedoch in der Regel ebenso wenig direkten & = ; & " sich daher weder im Bildfeld (›champ‹) noch jenseits des diegetischen Bildfelds (›hors-champ‹), sie ist daher auch nicht den audiovisuell wahrnehmbaren diegetischen Strukturen aufgepfropft, sondern ist der Diegese vorgelagert bzw. übergeordnet.52 Letzeres stellt jedoch keine Hierarchisierung dar, sondern soll nur die jeweils unterschiedlich gelagerten räumlichen Zusammenhänge verdeutlichen. ~ * Räumlichkeit im Film nahegebracht und eine einheitliche Terminologie eingeführt
# = * der unterschiedlichen Stimmen-Typen im Film gehen. Diesbezüglich werde ich " = ==[ === des Acousmêtre und somit des Verhältnisses von hörbaren Stimmen als körperlichen Spuren zu ihrer (Nicht-)Visualisierung im Bildkader noch einmal intensiver in den Blick nehmen, bevor ich vor diesem theoretischen Hintergrund auf einige prägnante Filmbeispiele zu sprechen kommen werde.
terweise von Stimmen ohne visueller Entsprechung die Rede sein müsste. Sie kann also »disembodied«, ohne Körper, nur im Verhältnis zu ihrer Visualisierung sein. 52 Michel Chion, der ebenso wie Bonitzer und Deleuze nicht mit dem Begriff des Voiceover operiert, ihn aber zumindest als anglophone Bezeichnung markiert, schreibt etwa ==¢¤¦ quement son ›off‹ celui dont la source supposée est non seulement absente de l’image, mais aussi non-diégétique, c’est-à-dire située en un autre temps et un autre lieu que la ¦¦ #§¦# tion, dites en anglais voice-over, et bien sûr de la musique de fosse«, in: Chion: 2008a, S. 65 (Herv. i.O.).
ACOUSMÊTRE UND DEAKUSMATISIERUNG | 303
3
ACOUSMÊTRE UND DEAKUSMATISIERUNG: ZUR VISUALISIERUNG DER OFF-STIMME Le cinéma de chaque époque a l’acousmêtre qu’il mérite. MICHEL CHION/1982, S.53
In den vorangegangenen Abschnitten habe ich schon mehrfach auf den Begriff des Acousmêtre hingewiesen, der von Michel Chion zu Beginn der 1980er Jahre
=> *; = audiovisuellen Medium Film stark auf das Verhältnis von Klängen und der Visualisierung ihrer jeweiligen Quellen im Bildfeld an. Analog zum Shakespeareschen »Sein oder Nichtsein« erhebt Chion daher das Ton-Bild-Verhältnis zu einem der zentralen (Spannungs-)Punkte im Film: »Voir ou ne pas voir la source du son: tout ¨# ¦+¨ ;53 Chion vertieft dies bspw. an unterschiedlichen Ausprägungen der Stimme im Film, u.a. die Stim#* # ==# ^ # die schon zu sehen war, in der Folge nicht mehr im Bildkader zu sehen, aber dennoch in irgendeiner Weise anwesend und Teil der Diegese ist. Relevanter ist für Chion jedoch die Stimme, die noch keinem visuell wahrnehmbaren Körper zuzuordnen ist, einem Körper, den man als Zuschauer/-hörer zu sehen erwartet und den man in einem »Irgendwo« (»quelque part«) jenseits des Bildfelds, aber innerhalb der Diegese situiert. Es seien laut Chion u.a. jene Klänge und jene Stimmen, die Teil eines »Versteckspiels«54, die »ni tout à fait dedans, ni clairement dehors« sind, welche die Stärke und die Möglichkeiten des Kinos (»la puissance du cinéma en tant que tel«) auszeichnen und untermauern.55 Diese Stimmen, die Chion zufolge zugleich eine »schicksalhafte« strukturelle An- wie Abwesenheit markieren56, die zudem »un pied dans l’image«57 haben, bezeichnet er nach der einen Gruppe der Schüler des Pythagoras als Acousmêtre: ¦ ¤ # ¤ été déjà visualisée – quand on ne peut mettre encore sur elle un visage, on a donc un être d’une espèce particulière, sorte d’ombre parlante et agissante à laquelle nous donnons le nom d’acousmêtre, c’est-à-dire être acousmatique. Mais si vous l’avez déjà vue ou si, pour 53 Chion: 1982, S. 14. 54 Ebd., S. 26. 55 Ebd., S. 15 (Herv. i.O.). 56 Ebd., S. 28: »Ni dedans ni dehors, c’est le destin, au cinéma, de l’acousmêtre«. 57 Ebd., S. 29.
304 | STIMMEN AUF DER SPUR parler cinéma, vous continuez à l’entendre alors qu’elle vient de sortir du champ où elle était visible – est-ce toujours un acousmêtre? Sans doute mais d’une autre espèce, celle des acousmêtres déjà visualisés«.58
Das Acousmêtre ist ein Stimm-Körper ohne visuelle Entsprechung, es ist keineswegs als ›körperlose Stimme‹ zu bezeichnen.59 Eine besondere Funktion des Acousmêtre sei es, ein versteckspielerisches »Spannungs- und Irritationsmoment« zu erzeugen, das Erklingen der akusmatischen Stimme sei daher eine »invitation à aller y voir, il peut être aussi une invitation à se perdre«.60 Dieser scheinbare Drang des Zuschauers/-hörers, der »Einladung« des Acousmêtre nachzugeben und nach ihm »zu schauen bzw. zu suchen«, führt mehr oder minder direkt dazu, der mysteriösen und in mancherlei Hinsicht ›unheimlichen‹ Stimme ohne visueller Entsprechung vier Grundeigenschaften und Funktionen zuzuordnen: Ubiquität, Panoptismus, Allwissenheit, Allmacht.61 Chion stuft zunächst die unterschiedlichen Typen des Acousmêtre allesamt als ›körperlose‹ Off-Stimmen ein, »qui dans # ¤¦ ¦; " sogleich die Körperlosigkeit auf die zeitweilig fehlende Visualisierung des Körpers ein: »Quand nous disons ›sans corps‹, cela peut vouloir dire: placées temporairement hors-corps, détachées du corps qu’on ne voit plus, et mises en orbite dans le champ acousmatique périphérique«.62 ; ! ^ nen Höhepunkt in der visuellen Darstellung desjenigen, der spricht. Chion formuliert diesbezüglich ein wenig pathetisch, dass die Stimme, die sich noch nicht im [ = #
fräulichkeit« einbüße: ¢§ ¦# = posé l’émettre n’a pas encore été inscrit dans le champ de vision. Sa désacousmatisation, # = #+ ¦ # ´ ¦¨ ¦¤ © # même temps, le fait rentrer dans le rang des humains«.63
58 Ebd., S. 27 (Herv. i.O.). 59 Vgl. das Kapitel »Es gibt keine ›körperlosen Stimmen‹« im Teil zur Stimme im Hörspiel der vorliegenden Studie. 60 Ebd., S. 29 (Herv. i.O.). 61 Vgl. ebd. 62 Ebd., S. 47. 63 Ebd., S. 28f. (Herv. i.O.).
ACOUSMÊTRE UND DEAKUSMATISIERUNG | 305
Mit der Deakusmatisierung verliere das Acousmêtre somit all seine es zuvor mys & =; & * ;* [ % " Blick nehmen, da – so meine These – über den Klang der Erzählerstimme eine für den Zuschauer/-hörer irritierende, verstörende Diskontinuität von Bildebene (Diegese) und Erzählerebene erzeugt wird. In mehreren Transfersequenzen überlagern sich die Handlungen im virtuellen ›Nicht-Ort‹ Dogville mit den jeweiligen konkreten oder auch eingespielten und @" "= * & " # chestergraben‹ auf der anderen Seite. Hier kommt es zu einigen Diskrepanzen im Bild-Stimme-Verhältnis, denn das, was im Bild-Tonfeld rezipierbar ist, kann mit #*& " # nicht immer eindeutig in Einklang gebracht werden.
1
Es sei an dieser Stelle betont, dass es sich um rein punktuell vorzustellende medienästhetische Aspekte handelt, die die technische Realisierung stimm-körperlicher, d.h. auditiver Phänomene im Verhältnis zur visuellen Ebene betreffen. Eine erschöpfende ! ^ *
des Œuvres des jeweiligen Regisseurs ist nicht Gegenstand der vorliegenden Studie. Ich werde dennoch versuchen, die Szenen, soweit dies die Verständlichkeit der Analy=#
;
2
Die Produktion des dritten Teils der Amerika-Trilogie mit dem geplanten Titel WASHINGTON
ist nach heutigem Stand der Dinge auf unbestimmte Zeit verschoben.
ERZÄHLERSTIMMEN IM FILM | 311
Das Voice-over John Hurts erscheint zunächst als ein klassischer Erzählertypus, der – nach den Prämissen Gustave Flauberts – nahezu emotionslos (›impassible‹), unpersönlich (›impersonnel‹) bzw. sachlich und unparteiisch (›impartial‹) in die Geschichte eingebettet ist und sich jeden direkten Kommentar verbietet und somit gewissermaßen eine Distanz zum diegetischen Geschehen einerseits und eine vermeintliche Nähe zum Rezipienten andererseits aufbaut. Das Voice-over des Erzählers sei generell, so formuliert dies etwa Alain Boillat, bezogen »à un ¦ # #|¤ ses mondes)«.3 & " = Diegese ein, obwohl sie aufgrund der Übermittlung der die Diegese betreffenden Informationen partiell Teil dessen ist, sie zumindest über gewisse Dinge ›Bescheid weiß‹ und zur Aufklärung bzw. zur Kohärenz der Geschichte beitragen kann. Der & " = * ' "| ' "} #* " ~ der Dialoge zum Originalton verhält. Der Rezipient erleidet durch diese ›Aura des Realen‹ eine unerträgliche Nähe zu den Originaltönen und bezeugt im Moment des Hörens den Tod der Stimm-Körper, der während der realen und vergangenen ' * * ;' in dieser Hinsicht zwar nicht Mit-Täter des Gesagten, doch fühlt man sich involviert und dieser Situation unentrinnbar ausgesetzt. Im Falle von C RASHING A EROPLANES wird diese Mit-Verantwortung dahingehend exponiert, da der Moment des Todes gerade nicht zu hören ist, und daher der Tod der Piloten in der Imagination ; M EXICO‹ verdeutlichen und konkretisieren das auch zehn Jahre danach noch immer unfassbare Attentat auf das World Trade Center, und die darin zu hörenden Personen symbolisieren stellvertretend
RÜCKKOPPLUNGEN | 369
den kollektiven Schockzustand der USA. Die Stimmen der Opfer und der zufäl Q* [ =@" sind Teil des gemeinschaftlichen Gedächtnisses geworden. Diese Art der Dissoziation von technisch realisierter (Originalton-)Stimme und Körper wird in den letztgenannten Beispielen als Irritation, als nachhaltiger Schockmoment von unentrinnbarer Nähe und Eindringlichkeit, als reine Affektivität erfahren. Im Falle des Films I L POSTINO wird diese Dissoziation von erinnerter Stimme und erinnertem Körper auf eine andere Art beschrieben. Dort wird in erster Linie auf die Vergegenwärtigung von Vergangenem in der stimm-körperlichen Präsenz des abwesenden Protagonisten abgehoben. Auch hier wird eine pathische Dimension der Stimme exponiert, v.a. weil sie als Spur des vergangenen Körpers wieder * ;& ^ % mit dem Abschluss der Dreharbeiten verstorbenen Massimo Troisi ist nicht bloß _ ^ |= [ $ tion mittels Musik, Schnittfolge, Nahaufnahmen des Gesichts Noirets/Nerudas) emotional aufgeladen. Es ist gerade die real spürbare Gebrechlichkeit des Schauspielers, die es zulässt, obwohl es sich um einen völlig undokumentarischen, also # * ; & ' " somit eine andere Form der Präsenz und Nähe (Distanzlosigkeit) der wahrgenommenen Stimme aus. Dass Stimmen als körperliche Spuren nicht nur als Originaltöne den Rezipi * = # hand der Inszenierung enthemmter Stimmen – etwa in MOLIÈRE , aber auch in SEUL CONTRE TOUS , gezeigt werden. Diese Stimmen folgen dort einer Ästhetik der Verausgabung, die sowohl auf Produktionsseite (ich denke dabei im Speziellen an Thomas Thiemes Beleidigungskaskaden, dessen monströse Stimmgesten und die Schlussszene in MOLIÈRE) als auch auf Rezipientenseite (dies gilt sowohl für M O LIÈRE als auch hinsichtlich der unentwegten Wahrnehmung der ›Ich-Stimme‹ Philippe Nahons in SEUL CONTRE TOUS ) nachhaltige Wirkungen erzeugen und Spuren hinterlassen. Eine der grundlegenden Qualitäten von Stimme ist, dass durch sie Identität * ;_ _ " mit technisch realisierten Stimmen als ein komplexes Phänomen erscheint, liegt u.a. daran, dass etwa diese vom Körper des Verursachers getrennten Stimmen per se ›anders‹ (erfahrbar) sind als die leibhaftig rezipierten Stimmen, und auch daran, dass sie beliebig transformierbar und manipulierbar sind. Dies konnte ich an einigen Analysen, in welchen genau diese Punkte konterkariert und darüber mehr oder minder große Irritationen und Verstörungen evoziert werden, herausarbei;| } %= ! |}
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sich bspw. die Theater-Inszenierung des S OMMERNACHTSTRAUMS zu eigen, in der mehreren auf der Bühne agierenden Personen ›fremde Stimmen‹ und die ›Worte Anderer‹ in den Mund gelegt und so die Stimme des jeweiligen Sprechers dem Körper des jeweiligen Akteurs aufgepfropft wird. Diese gleichzeitige An- und Abwesenheit bzw. multiple Anwesenheit von Personen oder Figuren wird etwa in M ULHOLLAND D RIVE anhand des Playback-Verfahrens verdeutlicht und anhand der analysierten Sequenz aus LOST H IGHWAY der Gebrauch des Alltagsmediums Telephon subvertiert. Die grundsätzliche Eigenschaft der Stimme, ›vokaler Personalausweis‹ zu sein und somit Identität zu stiften, wird in den letztgenannten Beispielen nicht nur hinterfragt, sondern es wird das Verhältnis von Stimme und Identität letztlich invertiert. Im Film IL POSTINO wird Identität hingegen gerade er- und bezeugt, indem das technische Aufnahme- und Reproduktionsmedium als Archiv, also als Authentizität bekundender Speicher eingesetzt wird. Und in DAS WEISSE BAND wird über die beiden (stimm-)körperlichen Erscheinungen des Protagonisten gerade nicht ein Spiel mit multiplen Identitäten evoziert, sondern sie verbinden sich zu einem kohärenten, Zeitlichkeit erzeugenden Konstrukt. Das besondere Verhältnis von Stimme und Text bzw. von Stimme, Bild und Text konnte explizit an den beiden Filmen DOGVILLE und H IROSHIMA MON AMOUR herausgestellt werden. Es konnte speziell erörtert werden, dass die Stimme weder als bloßes Medium noch als akustische Verlängerung sowohl des Gesagten als auch des zu Sehenden fungiert, sondern dass sie über das Potenzial verfügt, das sprachlich wie auch das visuell Wahrgenommene zu subvertieren. So produzieren *; `& " DOGVILLE (nicht nur) in der hier analysierten Sequenz einen zynischen Kommentar zu den Handlungen der diegetischen Figuren auf der Bildebene. Dies zeigt sich etwa mittels des lakonischen Tonfalls John Hurts. Die brutale Härte und Kälte, mit der die Figuren in der Diegese agieren und in Nahaufnahmen gezeigt werden, wird aufgrund der Distanznahme durch diese Stimme noch verstärkt, was zudem die Scharnierfunktion des Erzählers zwischen Diegese und Zuschauer/-hörer destabilisiert. In HIROSHIMA MON AMOUR hingegen kommentieren zunächst distanzierte und ›ortlose‹ Stimmen die stummen Bild-Dokumente des Atombombenabwurfs und ›begleiten‹ diese zumeist assoziativ. Schließlich bricht im Schockmoment der unvermittelten Deakusmatisierung Q | } ' " Dokumentarische ein. Durch diese Verstörung wird nicht zuletzt hinterfragt, was die Stimmen zuvor artikuliert haben. Über die nachträgliche Vergegenwärtigung ==> des Bildmaterials stellt man fest, dass tatsächlich vieles im Film re-inszeniert ist, denn selbst das visuelle Originalmaterial wird letztlich aus einer Dokumentation geschnitten, in diesen Film neu eingefügt und in die Gesamtkomposition einge ; [ * > #
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doch mit dem Übertritt aus dem ›ortlosen‹ Raum außerhalb der Diegese (Over) in die Diegese (On und Off) mehr preis als sie sollten, wenn sie bloßes Vehikel für Text wären.
AUSKLANG Den in der vorliegenden Studie analysierten Stimmen, die veränderte und in mehr oder minder auffälliger Weise bearbeitete, ›natürlich künstliche‹ Stimmen sind, eignen somit folgende medienästhetische und verallgemeinerbare Eigenschaften, die sie zum einen ähnlich, aber auch und zugleich different zu Stimmen sein lassen, die wir im Rahmen einer Face-to-Face-Kommunikation (also auch im Theater ohne den Gebrauch technischer Mittel) gewahren. Die in den unterschiedlichen Kunstformen sich zeigenden Stimmen sind immer konkret erklingende Stimmen körperlichen und menschlichen Ursprungs und werden als Spuren einer bestimmten körperlichen Erscheinung gewahrt. Sie sind somit nicht bloß als Medium, als rein akustische Extension der Sprache zu den#
" " men jenseits der Sprache Möglichkeiten, sprachliche Inhalte zwar artikulatorisch zu unterstützen, diese aber auch ganz im Gegenteil zu unterminieren, was durch den strategischen Einsatz elektroakustischer Mittel verstärkt wird. Obwohl also grundsätzlich gilt, dass diese Stimmen körperlichen Ursprungs sind, existieren sie zugleich jedoch qua technischem Apparat als von ihren Quellen, ihren sie artikulierenden Körpern getrennte, wodurch sich letztendlich der gesamte Horizont ihrer Wirkungsweisen öffnet. Diese Stimmen werden von anderen Körpern über das Gehör aufgenommen und können so ein Stück weit als die ihren aufgefasst werden. Die Rezeption dieser Stimmen ist daher auch immer als ein körperlicher Akt der Wahrnehmung im Sinne der Aisthesis zu beschreiben. Den Stimmen kommen so bestimmte zeitliche und räumliche, materielle oder auch physikalische Eigenschaften zu und evozieren entsprechend beim Rezipienten, je nach Gestimmtheit, körperliche, affektive, emotionale, pathische, semiotische Wirkungen. Die Fragilität der prozessualen Existenz der Stimmen zeigt sich in ihrer gleichzeitigen Bekundung einer Anwesenheit qua stimm-körperlicher Präsenz und einer * > & = ; = _ "# sie sind aber ebenso fähig, über ihre technische Realisierung Identitätsstörungen zu markieren. Der Stimme eignet zudem ein besonderer Appellcharakter, der uns zu einem Respons ›anstiftet‹: Unter vielen zeitgleich in Erscheinung tretenden Geräuschen und Klangereignissen ist es letzten Endes die Stimme, die uns anruft, die wir etwa mittels des Cocktailparty-Effekts aktiv heraushören können. Wir reagieren auf den Appell mit einer Antwort auf die von uns gehörten Stimmen,
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indem wir ihre Existenz anerkennen und uns zu ihnen hinwenden. Originalton = # *
' Inszenierung ermöglicht. Technisch realisierte Stimmen im Theater sind oftmals viel mehr als eine bloße Verlängerung eines vorgelagerten Sinns, sie dienen somit einer medienästhetischen Strategie und nicht einer prothetischen Verwendung zur besseren, physikalisch-messbaren Verständlichkeit und Überwindung räumlicher Distanzen. Gleiches gilt für die per se mikrophonierten Stimmen im narrativen Hörspiel, die immer mehr bewirken, als einem Text eine bloß klangliche Erscheinung zu geben. Entscheidend ist vielmehr, dass es sich dabei um verkörperte Sprache handelt, was bedeutet, dass diese Sprache nur qua Zeitlichkeit und Räumlichkeit, die durch die Stimme erzeugt werden, existieren kann und über eine eigene und andere Existenz verfügt als ein geschriebener Text. Stimmen im Film *
* =
> & als auch auf ihre Raum generierende Funktion. Sie erscheinen als Teil des Bildfeldes und erweitern bzw. überschreiten zugleich das zweidimensionale Bildfeld hin zum dreidimensionalen Bild-Tonfeld. Sie markieren so das besondere Verhältnis der beiden Rezeptionsmodi Sehen und Hören, die im audiovisuellen Medium Film miteinander verknüpft, verbunden, aber auch gegeneinander ausgespielt werden können. Stimmlichkeit ist daher mit Körperlichkeit, Zeitlichkeit und Räumlichkeit nicht bloß verbunden. Stimme ist in ihrer Performativität zugleich materieller Körper, = '" Neugeborenen, der Appell, der den Beginn des Lebens markiert und der letzte # > & liche Spur abschließt. Was bleibt, ist die Präsenz der technisch reproduzierbaren Stimme, deren Nachhall immer und immer wieder als die Spur von Vergangenem in ihrer wieder-holbaren Gegenwärtigkeit erfahren werden kann.
Danksagung
Es gilt zum Abschluss einigen mir äußerst wichtigen Menschen zu danken, die mit ihren klugen und inspirierenden Gedanken, kritischen und konstruktiven Anmerkungen, allem voran aber mit offenen Ohren und Augen zum Gelingen der vorliegenden Studie beigetragen haben. In erster Linie möchte ich Prof. Dr. Doris Kolesch für die Betreuung meiner Promotion im Rahmen des Projekts »Stimmen als Paradigmen des Performativen« danken, für ihren kreativen und theoretischen Input und ihr offenes Ohr, immer dann, wenn ich der Dissertation eine inhaltliche oder strukturelle Wendung geben wollte. Prof. Dr. Dr. h.c. Erika Fischer-Lichte gilt mein großer Dank für die inhaltliche Auseinandersetzung und theoretischen Anstöße im Rahmen des Sonderforschungsbereichs »Kulturen des Performativen« sowie für ihre persönliche Unterstützung, die mir u.a. im Forschungsverbund »Theater und Fest in Europa« zuteilwurde. Ich danke außerdem Prof. Dr. Matthias Warstat, Prof. Dr. Hermann Kappelhoff sowie Dr. Andreas Wolfsteiner für ihren (zeit-)intensiven Beitrag und die außerordentlich fruchtbare Diskussion während der Disputation im Mai 2011. Für die anregenden Gespräche in künstlerischer und stimm-praktischer Hinsicht möchte ich mich an dieser Stelle ganz herzlich bei Paul Plamper und Benedikt Haubrich bedanken, die mir einen ausführlichen und aufschlussreichen Einblick in ihre kreative Arbeit gewährt haben. Ich danke Monika Rittershaus, Matthias Horn und Evi Wiedemann für die Bereitstellung der durchweg wunderbaren Photographien, Suse Schmitt für die sorgfältige Überarbeitung des Titelbildes und die Unterstützung an der Konzeption des Covers sowie Gero Wierichs vom transcript-Verlag für die gute und unkomplizierte Zusammenarbeit. Das vorliegende Buch wäre jedoch nicht dieses Buch geworden ohne die zahlreichen, aber immer konstruktiven Anmerkungen meiner Freunde und Kollegen,
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die sich der Lektüre des einen oder anderen größeren Abschnitts gewidmet haben: Hierfür danke ich Jenny Schrödl, Julia Tieke und Tilo Renz. Mein ganz besonderer Dank gilt jedoch Christina, die für ALLE meine inhaltlichen, strukturellen und theoretischen Fragen aus nächster Nähe immer offen gewesen ist und mich auf diesem nicht immer leichten Weg mit ihrer unersetzlichen und unschätzbaren Unterstützung begleitet hat. Ich bin unbeschreiblich froh darüber, mit ihr, Tag für Tag, die Begeisterung über das bislang Erreichte in Liebe teilen zu können. Dieses Buch ist meinen Eltern Filomena und Francesco gewidmet. Leider sind sie viel zu weit entfernt und ihre Stimmen verklungen, als dass sie meinen Enthusiasmus teilen könnten.
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