Stil und Stilisierung: Arbeiten zur interpretativen Soziolinguistik [Reprint 2010 ed.] 9783111354637, 9783484302358

Die Buchreihe Linguistische Arbeiten hat mit über 500 Bänden zur linguistischen Theoriebildung der letzten Jahrzehnte in

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German Pages 301 [304] Year 1989

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Table of contents :
Einleitung: Stil und Stilisierung in der Interpretativen Soziolinguistik
I. Stil-Spektren: Sprachliche Formen als stilistische Ressourcen
Natürlichkeit und Stil
Lautstilistische Muster in Alltagstexten von Süditalienern
Soziale Stile des Miteinander-Sprechens. Beobachtungen zu Formen der Konfliktbearbeitung in zwei Frauengruppen
II. Stil und Kontextualisierung: Die Konstitution von Aktivitätstypen
Interviewstil: Konversationelle Eigenschaften eines sozialwissenschaftlichen Erhebungsinstruments
Ritual und Ritualzitat. Die Stilisierung des Rituals durch den pastoralen Diskurs
Stilunterschiede in argumentativen Gesprächen oder zum Geselligkeitswert von Dissens
Konstitution und Veränderung von Sprechstilen als Kontextualisierungsverfahren: Die Rolle von Sprachvariation und Prosodie
III. Stilisierung: Stil als Mittel und Ressource sozialer Kategorisierung
Subversive Interaktionen. Sprachliche Verfahren der sozialen Abgrenzung in einer Jugendlichengruppe
Die Stilisierung von Ethnizität
Anschriften der Autorinnen und Autoren
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Stil und Stilisierung: Arbeiten zur interpretativen Soziolinguistik [Reprint 2010 ed.]
 9783111354637, 9783484302358

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Linguistische Arbeiten

235

Herausgegeben von Hans Altmann, Herbert E. Brekle, Hans Jürgen Heringer, Christian Rohrer, Heinz Vater und Otmar Werner

Stil und Stilisierung Arbeiten zur interpretativen Soziolinguistik Herausgegeben von Volker Hinnenkamp und Margret Selting

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1989

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Stil und Stilisierung : Arbeiten zur interpretativen Soziolinguistik / hrsg. von Volker Hinnenkamp u. Margret Selting. — Tübingen : Niemeyer, 1989 (Linguistische Arbeiten ; 235) NE: Hinnenkamp, Volker [Hrsg.]; GT ISBN 3-484-30235-6

ISSN 0344-6727

© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1989 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere fUr Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt

VORWORT Vorliegender Band geht zurück auf unsere Idee, im Rahmen der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft eine AG zum Thema Stil und Stilisierung in Verbindung mit dem 'interpretativen Paradigma' zu initiieren. "Unsere" ist dabei keineswegs auf die Herausgeber beschränkt. Während der Jahrestagung 1987 in Augsburg wurde die Idee geboren, ein Jahr später in Wuppertal wurde die Idee 'materialisiert', Drei Tage intensivster Diskussion wurden so zu einer Art Vorbereitungstreffen für diesen Band. Ein Teil der Wuppertaler Beiträge - ausführlicher und überarbeitet - findet sich hier wieder; in zwei Fällen haben die Autoren ganz neue Beiträge verfaßt; einen Autor haben wir noch nachträglich hinzugewinnen können. So geht der vorliegende Band auch mit auf das Konto der ganzen Wuppertaler AG, auf all diejenigen, die mit Beiträgen, Diskussion und Kritik zu Fragen des Stils, der Stilisierung und der interpretativen Soziolinguistik mitgemischt haben. Allen Mitstreitern und Mitstreiterinnen sei dafür herzlich gedankt. Natürlich ging die Diskussion weiter. Viele Beiträge wurden untereinander ausgetauscht, kommentiert und wiederum kritisiert. So kam schließlich dieser Band dabei heraus. Für uns Herausgeber ist es das erste Projekt dieser Art. Es hat uns mehr Kraft und Mühe gekostet als angenommen; es hat uns aber auch Spaß gemacht. Das nächste mal machen wir einiges anders! Aber Mühe und Diskussion hängen zusammen - wer viel fragt, kriegt viel Antwort. Das kostet Zeit. Wir danken allen Autorinnen und Autoren für ihr Engagement - wenngleich wir idealistischerweise hoffen, daß solches Wissenschaftsverständnis selbstverständlich ist. - Zum Schluß noch ein weises und uns entlastendes Wort: "Das Erste, was noth tuth, ist Leben: der Stil soll leben" (Friedrich Nietzsche). Augsburg und Oldenburg, im Juli 1989

V.H. und M.S.

Vll

INHALT

Margret Selling und Volker Hinnenkamp Einleitung: Stil und Stilisierung in der Interpretativen Soziolinguistik

l

I. Stil-Spektren: Sprachliche Formen als stilistische Ressourcen Peter Auer Natürlichkeit und Stil

27

Frank Ernst Müller Lautstilistische Muster in Alltagstexten von Süditalienern

6i

Inken Keim und Johannes Schwitalla Soziale Stile des Miteinander-Sprechens. Beobachtungen zu Formen der Konfliktbearbeitung in zwei Frauengruppen

83

II. Stil und Kontextualisierung: Die Konstitution von Aktivitätstypen Susanne Uhmann Interviewstil: Konversationelle Eigenschaften eines sozialwissenschaftlichen Erhebungsinstruments

125

Ingwer Paul Ritual und Ritualzitat. Die Stilisierung des Rituals durch den pastoralen Diskurs

167

Helga Kotthoff Stilunterschiede in argumentativen Gesprächen oder zum Geselligkeitswert von Dissens . .

187

Margret Selling Konstitution und Veränderung von Sprechstilen als Kontextualisierungsverfahren: Die Rolle von Sprachvariation und Prosodie

203

van III. Stilisierung: Stil als Mittel und Ressource sozialer Kategorisierung Johannes Schwilalla und Jürgen Streeck Subversive Interaktionen. Sprachliche Verfahren der sozialen Abgrenzung in einer Jugendlichengruppe

229

Volker Hinnenkamp Die Stilisierung von Ethnizität

253

Anschriften der Autorinnen und Autoren

293

EINLEITUNG: STIL UND STILISIERUNG IN DER INTERPRETATIVEN SOZIOLINGUISTIK Margret Setting Volker Hinnenkamp

1.

GRUNDBEGRIFFE EINER INTERPRETATIV-SOZIOLINGUISTISCHEN STILANALYSE

1.1 VORBEMERKUNG 'Stil' ist bekanntlich ein altes Thema der Sprachanalyse, sei es mit Bezug auf geschriebene oder mündliche Sprachverwendung. Um so mehr erstaunt, daß die aktive, sinnherstellende Funktion von Stil, wie sie auch in der Bedeutung des Begriffs 'Stilisierung' mitschwingt, zumindest in der linguistischen Stilistik und Variationsanalyse zwischenzeitlich etwas in Vergessenheit geriet. Was die Beiträge im vorliegenden Band demgegenüber vereint, ist ihr gemeinsames Verständnis, die aktive und sinnherstellende Bedeutung und Funktion von Stil und Stilisierung - vor allem in mündlicher Kommunikation - anhand der Analyse von Transkripten aus face-to-face Kommunikationen (und im geringeren Umfang von anderen Textsorten) im Detail nachzuweisen und damit eine 'interpretativ-soziolinguistische Stilistik/Stilanalyse' zu begründen. Den Rahmen, den die interpretative Soziolinguistik dabei abgibt, ist allerdings kein vordefinierter. Der Begriff geht u.E. zurück auf John Gumperz, der ihn selbst jedoch nie programmatisch begründet hat. Mit Gumperz' Arbeiten der letzten Jahre liegt uns aber dafür ein umfangreicher Korpus einer solchen Soziolinguistik in Praxis vor. Die interpretative Soziolingusitik ist somit auch ein Stück Konstitutionspraxis in genau dem Sinne, wie auch das kommunikative Handeln der Gesellschaftsmitglieder für ihre interaktive 'Realität' konstitutiv ist. "A sociolinguistic approach to communication", so Gumperz und CookGumperz, "must show how these features of discourse contribute to participants' interpretations of each other's motives and intents and show how these features are employed in maintaining conversational involvement" (1982:16). Die zitierten "these features" sind ohne ihren anaphorischen Bezug natürlich kryptisch, doch werden sie im folgenden, in der Einleitung wie in den Beiträgen vielerlei Gestalt annehmen. Interpretative Soziolinguistik bezeichnet so ein Sammelbecken interpretativer Ansätze, das die ethnomethodologische Konversationsanalyse genauso umfaßt wie die Ethnographie des Sprechens.1 Sie ist offen - methodisch offen -, wie sie in methodologischer Hinsicht l Vgl. hier auch die unterschiedlichen Arbeiten in Auer & di Luzio 1984.

'beschränkt' ist: als "interpretativ" im Sinne der zu analysierenden interpretativen Verfahren der Kommunikationsteilnehmer - die wir als Analysanden dann auch wieder selbst sein können. In den heuristischen Rahmen einer solchen interpretativen Soziolinguistik fallen alle Beiträge zum vorliegenden Band. In den meisten Beiträgen wird die Rolle von Sprechund Kommunikationsstilen bzw. von Stilisierungen bei der Herstellung und Veränderung von Interaktionskontexten und -modalitäten mithilfe von Detailanalysen beschrieben und theoretisch im Hinblick auf Stil reflektiert. Ausgangspunkt der empirischen Analysen sind in den meisten Fälle natürliche Interaktionssituationen, zumeist Transkripte von face-toface Kommunikationen.

1.2 VORLAUFER UND ÜBERGÄNGE Gegenüber der traditionellen Stilistik werden Stile in einer interpretativ-soziolinguistischen Perspektive nicht als abhängige Variable beschrieben, die z.B. von bestimmten unabhängigen Kontextmerkmalen determiniert oder zumindest stark einseitig beeinflußt wird. Eine solche Stilauffassung herrschte im Anschluß an die einflußreichen Arbeiten von Labov (v.a. Labov 1972) sowohl in der Soziolinguistik wie auch in der Stilistik lange Zeit hindurch vor, seien die unabhängigen Faktoren nun die Sozialgruppenzugehörigkeit der Sprecherinnen und Sprecher wie in der korrelativen Soziolinguistik (Bernstein 1971, 1973; Labov 1972), materiale Faktoren der Kommunikationssituation wie zumeist in der sogenannten Kontextstilistik (vgl. hierzu auch Enkvist 1973, Crystal & Davy 1969), die Redekonstellation und die Mitteilungsabsicht/Intention wie in der pragmalinguistisch orientierten Stilistik (Sandig 1978), größere Funktionsbereiche der Gesellschaft (bei Riesel & Schendels 1975 "Funktionalstilen"),2 Gattungen der literarischen und nicht-literarischen Textproduktion (Gebrauchstexte, Textsorten; vgl. Sandig 1986), oder eher ideelle Faktoren wie Erwartungen und Normen (z.T. klingt dies vielleicht noch bei Hymes 1974 an; vgl. die Kritik in Gumperz 1977). In Anlehnung an Labovs Arbeiten wurden hier 'Stile' und 'Kontexte' oft als relativ statische, miteinander korrelierbare Einheiten aufgefaßt. 'Stile' wurden aus zugrundeliegenden Sprachformen oder -normen abgeleitet und in Abhängigkeit von den genannten außersprachlichen unabhängigen Variablen für ganze Interaktionen oder zumindest solche Teile von Interaktionen, in denen sich die sie definierenden Faktoren nicht ändern, angenommen und beschrieben. 'Heterogenität' von Sprache war zwar - in Auseinandersetzung mit der Standardtheorie der generativen Grammatik - anerkannt, wurde aber durch die Annahme der Wahl homogener Subsysteme in je veränderten situativen Kontexten 'gebändigt'. Sprechstilveränderungen konnten gemäß der genannten Ansätze folglich nur durch Veränderungen des Kontexts erklärt werden. Und wenn hier keine verantwortlich

2 Für die neuere Entwicklung in diesem Bereich siehe Michel 1985.

machbaren material gegebenen Faktoren in Sicht waren, wurden ersatzweise - um das Prinzip nicht aufgeben zu müssen - innere psychische Faktoren wie 'Aufmerksamkeit' des Sprechers usw. in Betracht gezogen. Auf jeden Fall wurde angenommen, daß Kontexte das Sprachverhalten von Sprechern unidirektional beeinflussen und Kontextveränderungen als Abfolgen diskreter statischer Kontextzustände modelliert werden könnten, um Stilveränderungen zu erklären (vgl. hierzu auch Auer 1986:23). Dieses Erklärungsmuster wirft jedoch erhebliche Probleme auf, wenn man anerkennt, daß Sprecher z.B. allein durch die sukzessive Veränderung von Sprechstilen Kontextveränderungen etwa im Hinblick auf eine Dimension wie Formalität/Informalität zuwege bringen, ohne daß sich der außersprachliche Kontext verändert.3 In der späteren sozialpsychologisch-soziolinguistischen "Akkomodationstheorie" (z.B. Giles & Powesland 1975, Giles 1984) wurde dann zwar gerade die Voraussetzung gemacht, daß Sprecherinnen und Sprecher durch ihren Sprechstil und dessen Veränderung aktiv eine Konvergenz oder Divergenz signalisieren, jedoch wurden und werden weiterhin globale sozialpsychologische Faktoren als Determinanten dafür verantwortlich gemacht, die somit auch experimentelle Versuchsreihen rechtfertigen. Ebenso implizierte die Analyse von Stilen bzw. Sprechstilen als probabilistische Realisierung ausgewählter sprachlicher Variablen über kontextuell definierten Analyseeinheiten eine Homogenitätsannahme, die z.B. unterschiedliche Häufigkeiten dieser Variablen in aufeinanderfolgenden Redebeiträgen innerhalb derselben Situation vernachlässigte. So wurde die Analyse kurzfristiger und allmählicher Stilveränderungen zum Zwecke der Konstitution interaktiver Bedeutungen unmöglich. Allerdings greift auch allein die Vorstellung, daß Stilveränderungen selbst Kontextveränderungen herstellen können, die Prämissen der Korrelationsmethodologie und das Konzept von 'Stil' als abhängiger Variable grundsätzlich an: Denn damit würde die Dichotomisierung der zu analysierenden Variablen in abhängige und unabhängige unmöglich. Eine Konzeption von 'Stil' als sinnhaft verwendetes und kontextkonstituierendes Konstrukt setzt deshalb auch als Prämisse die Vorstellung einer interdependenten, reflexiven Beziehung zwischen 'Stil' und Kontext voraus. In der Stilistik wies schon Enkvist (1973:63f) auf die literarische Verwendung von Stil zur Erzielung bestimmter Effekte oder auf die Wahl von Stil zur Definition oder Manipulation von Kontext hin. Und in der literarischen Stilistik verwarf Riffaterre 1973 (or. 1971) insbesondere die Postulierung eines für Texte statischen tertium comparationis. Er nahm an, daß in jedem Text vom Autor erneut eine eigene 'Norm' konstituiert wird, die als Kontext für spätere Abweichungen von dieser Norm zur Erzielung stilistischer Effekte wirkt. Nach dieser Vorstellung fungieren also dynamische und im Text/in der Situation selbst evozierte Erwartungen als tertium comparationis für folgende, auf diesen Erwartungen aufbauende und sie ausnutzende stilistische Wahlen. Sowohl Kontext als auch Stil sind hier also dynamische und aktiv/interaktiv hergestellte Einheiten, die innerhalb des Textes aufgebaut und relevant gemacht werden, um beim Rezipienten bestimmte Effekte zu

3 Vgl. hier insbesondere Selling 1989 und weitere dort genannte Literatur.

erzielen. Trotz des ganz anderen Bezugsrahmens dürfte die Verwandschaft der Riffaterreschen Vorstellungen zu einer interpretativen Stilanalyse deutlich sein. Ähnlich verhält es sich auch mit der Roman-theoretischen Stilkonzeption, wie sie aus den verschiedenen Arbeiten von Bachtin bekannt ist.4 Stil ist hier unmittelbar angelegt in der Dialogizität des 'Wortes' (Äußerung, Text etc.), in der sozialen Spannung zwischen den 'eigenen' und den 'fremden Worten', die die - immerfort gesellschaftliche - 'Vielstimmigkeit' des Dialogs5 ausmacht, denn "in seinen Kontext kommt das Wort aus einem anderen Kontext, durchwirkt von fremden Sinngebungen" (Bachtin 1969:130). Nach Bachtin kann sich "die Replik aus diesem gemischten Kontext eigener und fremder Wörter nicht herauslösen, ohne daß sie ihren Sinn und ihren Ton verliert" (1979:176). Und so ist es genau diese 'Kontextualisierung', die in die Funktion von Stil eingeht: "Der Stil integriert die Hinweise von außen, die wechselseitige Bezogenheit seiner Elemente mit Elementen des fremden Kontextes organisch. Die 'Innenpolitik' des Stils (die Kombination der Elemente) ist von seiner 'Außenpolitik' (dem Verhältnis zum fremden Wort) bestimmt. Das Wort lebt gleichsam auf der Grenze zwischen seinem eigenen und dem fremden Kontext" (ibid.: 176). Alle zuletzt zitierten Stilauffassungen gehen bereits von einer interdependenten und indexikalischen Wechselbeziehung zwischen kontextuellen und sprachlichen Einheiten aus wie sie auch der Stilauffassung in den hier versammelten Beiträgen zugrundeliegen. Konstitution wie Veränderung von Stilen sind nicht das Produkt oder Resultat der "Anpassung" der Interaktionspartner an Parameter des sozialen Kontextes, der in unabhängigen, z.B. sozialstrukturellen Kategorien zu beschreiben ist, sondern bieten als Mittel und Ressourcen der Herstellung von sozialer und interaktiver Bedeutung methodisch-systematische Einwirk- und Zugriffsmöglichkeiten auf Interaktionskontexte. Mit dieser Stilkonzeption läßt sich einerseits an neuere ethnomethodologisch ausgerichtete Arbeiten zu (Sprech-)Stilen anknüpfen, insbesondere an die Arbeiten von Tannen 1984, Franck 1984 und Sandig 1986. Andererseits wird in den folgenden Beiträgen jedoch stärkeres Gewicht gelegt auf die Rekonstruktion der mit den verwendeten Stilen signalisierten und hergestellten sozialen Bedeutungen innerhalb der analysierten konkreten Situationen mündlichen Sprachgebrauchs. Unter einer zitierten stilistischen Perspektive lassen sich auch neuere Forschungsansätze sinnvoll aufeinander beziehen und miteinander verbinden, z.B. Ansätze aus dem Bereich traditioneller linguistischer Forschungsgebiete, wie Phonologie, Syntax, Semantik usw. und Ansätze aus dem Bereich der Kommunikationsanalyse und der neueren Die Arbeiten von Michail M. Bachtin (1885-1975) sind seit den 20er Jahren in der Sowjetunion entstanden. Bachtin hat auch als sprachwissenschaftlicher Autor unter dem Namen Valentin N. VoloSinov gewirkt. Volosinovs "Marxismus und Sprachphilosophie" (or. 1930) beinhaltet eine entsprechend ähnliche Stilposition. Bei der Romantheorie nimmt sie allerdings einen zentraleren Stellenwert ein und ist über die Jahre weiter ausgearbeitet worden. Bachtin fordert als übergreifende Disziplin der "dialogischen Beziehungen" immer wieder eine die Textwissenschaften umfassende "Metalinguistik" (vgl. z.B. 1969:102). Zur Bachtinschen 'Vielstimmigkeit' in der Alltagssprache siehe auch Schwitalla 1987.

Kontextualiserungsforschung.6 Das gilt aber fernerhin auch für Ansätze, die noch deutlicher über die konkrete Interaktionssituation hinausgehen und auch globalere soziale und subjektive Bedeutungen sprachlichen Handelns in der Gesellschaft miterfassen wollen.7 Damit wird auch hoffentlich deutlich werden, daß die Dichotomic von sogenannter Systemlinguistik versus interpretativer Gesprächsanalyse o.a. heute längst nicht mehr greift und eine Verbindung unterschiedlicher Forschungstraditionen mit unterschiedlichen Perspektiven zu neuen produktiven Einsichten führen wird.

1.3

STIL ALS SOZIAL UND INTERAKTIV INTERPRETIERTES SIGNALISIERUNGSMITTEL

Insofern mit 'Stil' im Rahmen sozialer Handlungszusammenhänge sprachliche und nichtsprachliche Merkmale und Strukturen gemeint sind, die von den Interagierenden methodisch verwendet und interpretiert werden, ist damit eine linguistische Einheit ausgemacht, deren Interpretation die Rekonstruktion der in einer kommunikativen Situation wirksamen sozialen Verhältnisse verlangt. Und genau hier liegt u.E. die unmittelbare Verknüpfbarkeit soziologischer und linguistischer Analysefragestellungen. Die Perspektive auf die Untersuchung von Stilen, gleichgültig auf welcher konkreten Analyseebene betrachtet, stellt die Frage nach dem für die Beteiligten sinnvollen/bedeutsamen Gebrauch kookkunierender sprachlicher Gestaltungs- und Ausdrucksmittel im Vergleich zu paradigmatischen Alternativen (mit natürlich nie genau derselben Bedeutung) in der sich entwickelnden Interaktionssituation ins Zentrum. Eine Stilperspektive bedeutet dann, linguistische Strukturen und Signalisierungsmittel, z.B. im Bereich von Phonetik/Phonologie, Morphologie, Syntax, Lexik, Ideomatik, Phraseologie u.a. bei der Realisierung von Sprechhandlungen, als sozial und interaktiv relevante und signifikante Zeichen zu untersuchen. Im Unterschied zu regionalen, sozialen, situativen und z.B. gruppenspezifischen Varietäten, die man isoliert voneinander und aus der klassifizierenden Perspektive des Wissenschaftlers als linguistische Subsysteme idealisiert und losgelöst von der konkreten Verwendungssituation beschreiben kann, werden Stile in konkreten Situationen/Verwendungszusammenhängen als sozial und interaktiv interpretierte Strukturen/Einheiten/Merkmalbündel erfaßt bzw. als sich konstituierend aus sozial und interaktiv interpretierten Merkmalen: "es gibt linguistische Variation als solche, aber Stil immer nur in Beziehung zu einem interpretierenden Teilnehmer der Kultur in Beziehung zu einem Anderen" (Auer,

6 Vgl. hierzu auch die Arbeiten von Local et al. 1986, Setting 1987 sowie Couper-Kuhlen & Auer 1988, die hier durchaus Verbindungen herstellen wollen. 7 Vgl. hier z.B. die Arbeiten von Januschek 1986, der mit dem kulturanalytischen Ansatz des CCCS (Maas 1980) arbeitet oder Hinnenkamp 1989, der sich auf das Habitus-Konzept des französischen Soziologen Bourdieu und dessen Ansatz einer "Wissenschaft von der Ökonomie praktischer Handlungen" stützt.

in diesem Band, S.29). Oft macht erst die lokale Variation in der Situation Varietäten als als kommunikative Ressource verfügbar und Stil 'sichtbar' (vgl. insbesondere dazu die Beiträge von Uhmann und Selling in diesem Band). Stile dagegegen sind interpretierte und an spezifischen Rezipientenkategorien (eben auch Gruppen, Kulturen, Subkulturen etc.) orientierte holistische kommunikative Zeichen, die als kommunikative Ressource in Alltags- wie institutionellen Kontexten verwendet werden. Alle genannten Arten der Sprachvariation können gleichermaßen als Kontextualisierungshinweise analysiert werden, mit denen sich Interaktionspartner wechselseitig die lokal relevanten, dynamischen und mit den Zeichen erst konstituierten Interaktionskontexte anzeigen und die entsprechenden, damit assoziierten Interpretationsrahmen verfügbar machen (vgl. hierzu insbesondere Gumperz 1982a, Auer 1986). Stil ist in dieser Perspektive nur eine spezifische Art von Kontextualisierungshinweis (vgl. hierzu auch den Beitrag von Auer in diesem Band). Das Kontextualisierungskonzept selbst greift jedoch weiter, denn nicht jeder Kontextualisierungshinweis gehört zu einem Stil. Viele Kontextualisierungshinweise sind nicht in gleichem Maße potentiell bewußt und als holistische Einheiten kategorisiert wie 'Stile', zudem ist bei Kontextualisierungshinweisen nicht unbedingt eine paradigmatische Alternative relevant. In diesem Sinne können dann z.B. spezifische Signale zur Kontextualisierung von Sprecherwechseln oder Reparaturen verwendet werden, diese sind jedoch nicht unbedingt auch Komponenten eines 'Stils' - gleichwohl aber möglicherweise einer 'Stilisierung' (vgl. Hinnenkamp in diesem Band). Stile resultieren also daraus, daß konkretes sprachliches Verhalten in konkreten Sprachgebrauchssituationen interpretiert wird in Relation zu als solchen relevant gemachten paradigmatischen Alternativen. Insofern impliziert Stilanalyse immer auch Stilvergleich. Interaktionsteilnehmer selbst können die jeweils relevanten Alternativen in der Situation selbst durch die Herstellung syntagmatischer und/oder paradigmatischer Kon-traste produzieren (Stilwechsel und andere Formen der Stilveränderung, Selbst- versus Fremdstilisierungen expressis verbis). In dieser Hinsicht sind Stile also dynamische und in der Situation selbst immer wieder erneut hergestellte und gegebenfalls modifizierte und auf den Rezipienten zugeschnittene - gleichwohl für diesen rekonstruierbare - Mittel der Signalisierung und Herstellung gemeinsam geteilter, relevanter sozialer und interaktiver Bedeutungen; sie sind Kontextualisierungsmittel, die kraft ihrer interpretativen "Indexe" auf die jeweils relevanten Interpretationsrahmen verweisen (vgl. auch Selling 1989). Stil ist damit notwendigerweise eine interpretative Kategorie. Obwohl hierbei "soziale Bedeutungen" der verwendeten und induzierten Stile von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern vorausgesetzt werden, bleibt dennoch das Verhältnis von in jeder Situation neu zu leistender Konstilulion bei der Signalisierung und Interpretation von Stilen eine offene Frage.

1.3.1

DER HOLISTISCHE CHARAKTER VON STIL

'Stil' wie auch 'Stilisierung' verweisen auf holistische Strukturen und Einheiten bzw. auf interpretative Konzepte, welche Interaktionsteilnehmer typisierend und kategorisierend bei der Interpretation sprachlichen und nicht-sprachlichen sozialen Handelns in sozialen und interaktiven Kontexten zugrundelegen und verwenden (Hinnenkamp, Schwitalla & Streeck in diesem Band). Wenngleich 'Stil' auch bereits ein gewisses Maß an Konventionalisierung und vorgängige Typisierung in der Vergangenheit voraussetzt - so wird diese Kategorie damit doch immer wieder neu konstituiert und damit als Kategorie und Interpretationsressource relevant gemacht.8 'Stil' impliziert mögliche Alternativen, aus denen aktiv und immer Sinn-konstituierend gewählt wird, gegebenenfalls in Distinktion zu anderen möglichen Sinn-konstituierenden Wahlen. Typisierte 'Stile' als interpretationsrelevante Konstrukte und Konzepte können häufig von Interaktionsteilnehmern auch mit metakommunikativen Ausdrücken benannt werden. Es finden sich dann Zuordnungen zu spezifischen, mit spezifischen Kontexten assoziierten kommunikativen Gattungen wie z.B. 'Verhörstil', 'Interviewstil', Tredigtstil', 'pastoraler Stil', 'Vortragsstil', 'Diskussionsstil', Konversationsstil', Tlauderstil' (vgl. auch die Beiträge von Uhmann und Paul in diesem Band), oder aber Zuordnungen zu sozialen Gruppen oder Milieus wie bei 'sozialen Stilen', 'gehobenem high class Stil', 'Subkulturstilen', 'ethnischen Stilen', 'kulturspezifischen Stilen', 'männlichem' versus 'weiblichem Stil' usw. (vgl, auch die Beiträge von Keim & Schwitalla, Schwitalla & Streeck, Hinnenkamp, Müller und Kotthoff in diesem Band und v.a. auch Hebdige 1983). In anderen Fällen konzeptualisiert man eher dichotomische Handlungscharakterisierungen wie 'höflicher' versus 'unhöflicher Stil', 'persönlicher' versus 'unpersönlicher Stil', 'gestelzt' versus 'natürlich'/'frei' oder 'wie einem der Schnabel gewachsen ist'. Und schließlich typisiert man auf diese Weise auch die sozial und interaktiv sinnhafte Verwendung sprachlicher Varietäten wie 'umgangssprachlich' und 'hochsprachlich' und die Verwendung prosodischer Signale, die Interpretationen auf einem Kontinuum zwischen 'Bestimmtheit'/'Sicherheit'/'in den kommunikativen Vordergrund gestellt' und 'Beiläufigkeit'/'im kommunikativen Hintergrund' nahelegen (siehe Selling in diesem Band).9 Solche metakommunikativen 'Formulierungen' des Wissens und der Konzeptionen über 'Stile' verweisen darauf, daß Interaktionsteilnehmer aufgrund ihrer kommunikativen Erfahrungen und Geschichten über relativ Zeit-konstante Typisierungen verfügen, die sie in Interaktionen als lokal relevante Interpretations- und Interaktionsressource nutzen und

8 Im Falle von Ritualen oder von formelhaftem Sprechen in bestimmten institutionell und konventionell-mechanisch geregelten Kontexten ist häufig ein für bestimmte kommunikative Aktivitäten und Sprechhandlungen per Tradition und/oder expliziter Regelung vorgegebener Stil verbindlich und konstitutiv. Vgl. Pauls Beitrag in diesem Band; zum Konzept institutionell geregelter Kommunikation allgemein vgl. auch Gülich 1981. 9 Für eine genauere und systematischere Klassifizierung metakommunikativer Stil-Konzeptionen vgl. Sandig 1986:24ff.

8

gegebenenfalls auch strategisch ausnutzen können. Gerade mit abrupten Stilwechseln oder langsamen Stilverschiebungen lassen sich auf unterschiedliche Weise in rascher Abfolge und sehr subtil (bis hin zu einer "poetologischen Gestaltung", wie Müller in seinem Beitrag zeigt) unterschiedliche lokale Kontexte und "footings" (Goffman 1979) herstellen. Insbesondere damit vorgenommene explizite soziale Abgrenzungsprozesse (Kategorisierung von Teilnehmern in eine bestimmte soziale, ethnische etc. Kategorie) verweisen dabei auf die Relevanz von 'Stil' nicht nur als Bedeutung von etwas, sondern auch als Mittel zu etwas (vgl. Hinnenkamp, Schwitalla & Streeck in diesem Band; weiterhin Hinnenkamp 1989, Kap. 4; allg. Jayyusi 1984). Indem die Interaktionspartner so mit Stilen Kontextualisierungen ihrer Aktivitäten nahelegen, an denen sich Rezipienten orientieren, schaffen und reproduzieren sie soziale Realität. 'Stil' erfordert die Rekonstruktion der 'frames', die ihm im Gegensatz zu anderen frames Relevanz verleihen und setzten damit in Gumperzscher Perspektive dort an, wo die klassische Konversationsanalyse oft zu kurz greift: Bei der Rekonstruktion der handlungsleitenden Wissensbestände, auch über unmittelbare lokale Interaktionssequenzen hinaus. Gumperz' Kontextualisierungskonzept und die interpretative· (interaktionale) Soziolinguistik liefern hier den Rahmen für die Betrachtung übergreifender Wissensbestände (frames, activity types), können aber dennoch auf die ethnomethodologische Perspektive der systematisch-methodischen Rekonstruktion der Bedeutung dieser Wissensbestände in der Situation nicht verzichten. 'Frames' sind gegenüber 'activity types' beschränkter. 'Frames' sind diejenigen Wissenskonstrukte, die jeweils bestimmte auf Erfahrung gründende oder inkorporierte Wissenbestände vor einem größeren Hintergrund als zusammengehörig und kohärent herausschneiden. 'Frames' verweisen auf Aktivitätstypen. Diese umfassen auch die im Vollzug des Handelns sich ändernden Präsuppositionen über die Situation, über die Kommunikationspartner etc.10 Gumperz beruft sich dabei auf Levinson (1979), der den Begriff im Rückgriff auf das Wittgensteinsche Sprachspiel-Konzept verwendet:"... a fuzzy category whose focal members are goal-defined, socially constituted, bounded, events with constraints on participants, setting, and so on, but above all on the kinds of allowable contributions" (Levinson 1979:368). In unserer Alltagstypisierung rangieren Aktivitätstypen auf einem Kontinuum zwischen extremer Institutionalisiertheit (z.B. eine Messe) und einem Zufallstreffen auf der Straße, die in etwa ihre Entsprechungen finden in den unterschiedlichen Formalitätsgraden und der konstitutiven Rolle von Sprec/iakten. Stile, so Levinson, sind ein Mittel zur Indizierung von Aktivitätstypen (ibid.). Das Wissen über Aktivitätstypen beschränkt unsere Produktion und Interpretation sprachlicher und nicht-sprachlicher Aktivitäten im Rahmen von jeweils situativ relevanten, lokalen Aktivitätstypen wie z.B. im Fall der Alltgskonversation gegenüber dem Interview, der formellen behördlichen Befragung, der rituellen Kommunikationshandlung usw. (vgl. Uhmann, Selling und Paul in diesem Band).

10 Vgl. dazu Gumperz' Ausführungen in Gumperz 1982a und 1988.

Der interaktive Prozeß der Konstitution von Stilen und Kontexten ist also nie voraussetzungslos. Die Interaktionspartner bringen immer schon ihr Alltagswissen über die soziale Welt mit in die Situation: ihr Wissen über Partnerbeziehungen, über (die Kraft von) Kategorisierungen im Sinne von Status, sozialer Schicht und Klasse; ihr Wissen über Interaktionsrollen, über den "Marktwert symbolischer Kapitale" (Bourdieu) und über Macht- und Herrschaftsstrukturen; ihr Wissen über institutionelle Kommunikationsbedingungen wie auch über die Verwendbarkeit von Stilen in typisierten sozialen Kontexten Wissensbestände, die sich in die konkrete Produktion und Interpretation kommunikativer Praxis 'übersetzt* finden (vgl. Hinnenkamp, Keim & Schwitalla, Paul, Schwitalla & Streeck Selling und Uhman in diesem Band). Und je mehr die verwendeten und/oder konstituierten Stile auf geteilte und allgemein gängige Interpretationen bzw. Zuschreibungen von 'sozialen Typen' verweisen, desto relevanter wird hier der Begriff der 'Stilisierung'.

1.3.2

STILISIERUNG

'Stilisierung' meint die Repräsentation, Induzierung, Inszenierung etc. sozial typisierter und interpretierter Sinnfiguren in der Interaktion. Hierbei sollte zwischen Fremd- und Selbststilisierung differenziert werden. Stilisiert wird immer zu. bzw. als etwas: Entweder stilisiert man andere bzw. etwas von anderen als X, oder man bzw. etwas von einem wird als X stilisiert. Zu den sozialen Mechanismen, die mithilfe der Stilisierung in Kraft gesetzt werden, gehören z.B. Mitgliedschaftzuweisungen zu sozialen Gruppen ('membership categorization'), Ab- und Ausgrenzung sozialer Gruppen voneinander, Herstellung und Veränderung von Teilnehmerkonstellationen, Konstitution von Aktivitätstypen, Interaktionsmodalitäten, usw. Interaktionspartner können so der stilisierenden oder stilisierten Subsumtion unterliegen, im Extremfall gar als ein stilisierter Jemand, dem sie nicht entrinnen können (wie Goffmans Stigma-Analyse (Goffman 1967) exemplarisch zeigt); sie können aber auch zu "Individualtypen" ä la Hippietyp o.a. stilisiert werden. Zumeist jedoch handelt es sich um metonymische Stilisierungen in dem Sinne, daß ein Merkmal den Stilisierungseffekt auf andere Merkmale einschließt: z.B. ethnisch und auch sozial; weiblich und auch kognitiv; Rocker und auch rücksichtslos; Intellektueller und auch "einer von denen da oben" etc. (siehe Schwitalla & Streeck in diesem Band sowie Hinnenkamp 1989). Hier können dann unmittelbar auch soziologische Stilanalysen mit Ansätzen wie bei Clarke 1979, Hebdige 1983, Soeffner 1986 anschließen. Im Falle der Selbststilisierung zu etwas präsentiert sich die handelnde Person selbst als subsumierter 'Fall eines sozialen Typs', stellt ihre eigenen subjektiven Handlungen in den Rahmen des Interpretationsschemas des sozialen Typs, z.B. 'des Pechvogels', 'des Alternativfreaks', 'des Rockers', 'des sozialen Aufsteigers', 'des Yuppies', 'des linken Intellektuellen', 'des zerstreuten Professors' o.a. Sprachliche Stile sind dabei nur ein Aspekt, der nur analytisch von anderen wichtigen Stilmitteln wie Gestik, Mimik, Haartracht, Kleidung, Vorlieben, Betätigungen, Lebensweise und Kulturformen unterschieden werden

10 kann. Im Vergleich zu Ritualen etwa (vgl. Paul in diesem Band), in denen die Form der Repräsentation und Inszenierung jedoch meist genau geregelt ist, verlangt Stilisierung vielmehr die aktive Herausarbeitung der typischen und stilisierbaren Kernbereiche des zu repräsentierenden sozialen Typs (siehe Hinnenkamp in diesem Band) und dessen flexible Handhabung in und nach den Erfordernissen der konkreten Gesprächssituation.

1.4 AUFGABEN UND ZIELE Die Aufgaben und Ziele einer interpretativ-soziolinguistischen Stilanalyse lassen sich zusammenfassend wie folgt formulieren: (1) Nachweis der interpretativen Relevanz bzw. des interaktiven "Mobilisierungseffekts" von interpretierten Merkmalbündeln und Strukturen, die wir 'Stil' nennen, d.h. Nachweis, ob/daß, inwieweit, und wie im Detail sich Interaktionspartner an den holistisch als 'Stil' beschriebenen Strukturen und Einheiten orientieren und ihr weiteres Verhalten daran ausrichten. (2) Rekonstruktion der Interpretationsrahmen und Evokationen, die durch gegebene 'Stile' und 'Stilisierungen' verfügbar und lokal relevant gemacht werden. (3) Dekomponierung bzw. Destrukturierung der gegebenen holistischen Einheit 'Stil' in ihre quasi kleinsten interpretativ relevanten konstituierenden Merkmale und Elemente und Analyse der Kombinationsmöglichkeiten und -restriktionen dieser Merkmale zu Merkmalbündeln, die einen gegebenen Stil konstituieren bzw. für eine Stilisierung nutzbar gemacht werden können. Die Kategorie 'Stil' muß nicht zwangsläufig eine relevante Analysekategorie sein (vgl. Kotthoff 1989). Ist ihre Relevanz jedoch gegeben, dann umfaßt eine Stilanalyse gegebenenfalls auch die Rekonstruktion der von den Teilnehmern interpretierten internen Struktur solcher Stilkonstrukte sowie die Rekonstruktion der Grenzen und Beziehungen zwischen unterschiedlichen Stilen. Da die Konstrukte der Linguisten in Bezug auf solche Einheiten nicht unbedingt mit den Konstrukten und interpretativen Konzepten der Interaktionsteilnehmer übereinstimmen, und da zudem bewußtes Reflektieren über Stile gewiß andere Ergebnisse erzielt als eine sequenziell rekonstruierende Analyse der Stilkonstitution in Interaktionen, sind wir auch hier auf detaillierte und sorgfältige sequenziell rekonstruktive Analysen angewiesen, um die Stilkonzeptionen der Teilnehmer offenzulegen.

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2.

EINORDNUNG DER BEITRÄGE UND AUFBAU DES BANDES

2.1 GEMEINSAMKEITEN Allen Beiträgen zu diesem Band ist gemeinsam, daß sie methodisch im weitesten Sinne der interpretativen Soziolinguistik zuzuordnen sind. Für die meisten der Autoreninnen und Autoren ist der Rahmen der ethnomethodologisch-ethnographischen Konversationsanalyse bzw. allgemeiner und weitergehender: der ethnomethodologischen Kommunikationsana\yse grundlegend. Ausgangspunkt sind in den meisten Fällen konkrete Interaktionssituationen, in denen Stil und Stilisierung durchweg als interaktioneil relevante und sinnhaft produzierte und interpretierte Mittel und Ressourcen der Produktion sozialer und interaktiver Bedeutungen in gesellschaftlich verankerten Interaktionssituationen beschrieben werden können. Die im einzelnen unter der skizzierten stilistischen Perspektive betrachteten sprachlichen Phänomene und Ebenen sind sehr vielfältig und heterogen: die Analyse von lautstilistischen Effekten bei konversationeil produzierten "Listen" im gesprochenen Italienisch, die Analyse von Sprachvariation und Prosodie als Sprechstil-konstituierenden Mitteln, lexikalische und semantische Aspekte von sozialen Gruppenstilen, pragmatische Verwendungsbeschränkungen bestimmter Sprechhandlungstypen auf bestimmte soziale Stile, die Analyse von speziellen Interaktionsstilen mit spezifischen Turn-Taking-Verfahren oder Themenabfolgen, schließlich die Analyse von Kontextualisierungshinweisen, die als 'Mittel* der Signalisierung, der Herstellung oder der geordneten Produktion von Veränderungen und Übergängen zwischen Interaktionsmodalitäten, Aktivitätstypen und Interaktionskonstellationen dienen. Alle Beiträge versuchen, holistische Stilphänomene zu dekomponieren und somit zu einem aus dem Verstehen der 'Bauweise' heraus motivierten Verstehen des Gesamtphänomens zu gelangen. Im folgenden werden nun die einzelnen Beiträge kurz vorgestellt und in den oben skizzierten Rahmen eingeordnet.

2.2

ZU DEN BEITRÄGEN IM EINZELNEN

2.2.1 STIL-SPEKTREN: SPRACHLICHE FORMEN ALS STILISTISCHE RESSOURCE Daß Peter Auers Beitrag den Anfang bildet, korreliert weniger mit der alphabetischen Reihenfolge der Namen als mit der Tatsache, daß sein Beitrag viele Facetten des StilSpektrums tangiert, daß er strittige Grundsatzfragen zur Abgrenzung von Stil diskutiert, daß er weiterhin eine Art Brücke konstruiert zwischen theoretischen und empirisch-praktischen Aspekten und daß er schließlich mit der Konfrontation von Natürlichkeit versus kultureller Überformtheit bzw. Konventionalisiertheit aktuelle wie historisierende Probleme von Stil miteinander in Beziehung setzt.

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Kern von Peter Auers Beitrag ist es allerdings, ausgewählte Natürlichkeitsebenen in der Grammatik, die vor allem im Anschluß an das Peirce'sche semiotische Dreieck von "icons", "indices" und "symbols" dargestellt werden, systematisch auf die Stilproblematik zu beziehen und zu diskutieren. Natürlichkeit teilt sich dabei in natüriich-ikonisch und natürlich-indexikalisch, kulturelle Überformtheit korreliert mit symbolischem Zeichengebrauch. Indes, wie Auer selbst anmerkt, ist das tertium comparationis dieser Aufteilung auch schon ein kulturell Überformtes. In den "Vorbemerkungen zum Stilbegriff' stellt Peter Auer dem 'Stü'-Konzept die Begriffe 'Variation', 'Kontextualisierungshinweis' und schließlich 'Varietät' gegenüber. Diese - wenn auch nur skizzenhafte - Klärung erscheint uns ein lang gehegtes Desiderat in der Stil-versus-Nicht-Stil-Debatte, verdeutlicht sie doch, daß 'Stil* eine interpretativsoziolinguistische Kategorie par excellence darstellt. Wichtig erscheint uns auch Auers weitere Unterscheidung von "stilistischer Gestalt" und "stilistischer Gestaltung", nämlich Beschreibungsebene und Konstitutionsebene, die zwar in der interpretativen und interaktionalen Arbeit der Teilnehmer kollabieren, aber für uns Analysanden eines konjunktionalen Nachweises bedürfen. Natürlichkeit in der Grammatik als Stilkriterium muß sich allerdings von der ethnomethodologischen und interpretativ-soziolinguistischen Prämisse der "accountability" (vorübergehend?) trennen, auch wenn das Kriterium der Natürlichkeit ein durchaus alltagssprachliches Bewertungs- und Beurteilungskriterium ist. So dient die semiotische Dreiteilung allein als "metagrammatischer Bewertungsmaßstab, der es erlaubt, über die verschiedenen Ebenen hinweg eine einheitliche Beurteilung eines Stils als mehr oder weniger natürlich vorzunehmen" (S. 34). Und es gibt verschiedene Ebenen, die das erlauben sollen: - In der Prosodie etwa Intonationsverläufe, ikonisiert im Sinne einer "Oben-untenMetapher" gestischer, mimischer, stimmungsmäßiger etc. Abbildhaftigkeit. An einem vereinfachten Bild illustriert vielleicht so: Ist jemand erregt, "steigert sich seine Stimme" oder "überschlägt sie sich fast" - sie geht sozusagen mit dem Gemüt "nach oben". - In der Phänologie korrelieren natürliche Prozesse mit der Aufteilung in Fortisierungsund Lenisierungsteleologien. Auf diagrammatisch-ikonischer Ebene wiederum stellt sich eine l:l-Abbildung zwischen phonemischer und phonetischer Ebene als optimal dar. - In der Morphologie ist Transparenz entscheidendes Natürlichkeitskriterium: "eine Form eine Bedeutung" und "je mehr Form, umso mehr Bedeutung". In sprachtypologischer Auswirkung heißt das etwa, daß ein 'agglutinierender' Sprachbau ikonischer ist als ein 'fusionierender'. - Auf syntaktischer und textdiskursiver Ebene entsprechen 'enge' Abbildbeziehungen zwischen kognitiver und sprachlicher Struktur dem Natürlichkeitsprinzip. Sprachtypologisch favorisiert das die SX-Sprachen vor den XS-Sprachen, da dort Subjekt und Thema zusammenfallen und einer kognitiven Grundfigur entsprechen. Als textuelles Organisationsprinzip finden wir in vielen Sprachen das Prinzip der "natürlichen Zusammengehörigkeit", das inhaltlich, konzeptuell oder perzeptuell Zusammengehöriges etwa

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durch syntaktische Nähe ausdrückt - wie das bei Adjektivreihungen im Deutschen der Fall ist. Im zweiten Teil diskutiert Peter Auer anhand einer Anzahl von Beispielen, wie bestimmte Stilmerkmale semiotisch unter Natürlichkeitsgesichtspunkten gesehen werden und welche Rolle natürliche Prinzipien bei der Konstitution von Stilen spielen könnten: - Beispielhaft sind hier jene Merkmale in Lernersprachen und im Foreigner Talk, die den "spezifische(n) Stil von Sprachlernern und den mit ihnen interagierenden Muttersprachlern (...) durch eine Art Natürlichkeit" kennzeichnet (S. 49). - Spezifische Erzählstile lassen sich gemäß den verschiedenen grammatischen Natürlichkeitskriterien z.B. so unterscheiden, daß direkte Rede 'ikonischer' ist als indirekte. Für den interkulturellen Vergleich von Erzählstilen wäre damit eine vielversprechende Perspektive gewiesen, die mit den Polen oraler und literaler Tradition eng verwebt sein wird, wie es auch Frank Müller in seinem Beitrag andeutet. - Im Bezug auf den Sprachwandel konfligieren unterschiedliche Ebenen miteinander, und Tendenzen zunehmender Ikonizität in einem Bereich ent-ikonisieren andere. - Selbst noch Höflichkeitsstile widerspiegeln Natürlichkeitskriterien: Länge, Komplexität und Mehrdeutigkeit widersprechen der Natürlichkeit. Das betrifft auch 'Alltagsrituale', denn wie jederman weiß, ist schon das Ja-Sagen viel einfacher als das oft komplizierte Ablehnen oder Negieren; oder: ist der Konjunktiv viel komplexer als der Imperativ! - Schließlich korrelieren auch soziale Stile mit Höflichkeit: Schmatzen beim Essen ist sicherlich natürlicher als der schweigsame Verzehr, gilt aber als ungehobelt und 'bäuerlich*. Peter Auer diskutiert hier anhand der kultursoziologisch-strukturalistischen Distinktionsthese des französischen Soziologen Pierre Bourdieu, wie die "feinen Unterschiede" der stetigen (sprachlichen, geschmacklichen, etc.) Abgrenzung von oben nach unten zu einer Polarisierung von Natürlichkeit und Kultiviertheit führen und letztendlich Stil mit dem Haben von Kultur als symbolischem Kapital (und als jederzeit in andere Kapitalformen konvertierbar) gleichsetzen. Hier fängt die Diskussion allerdings erst an, und es gilt den soziologischen Theoretiker Bourdieu vielleicht mit Hilfe der von Peter Auer kompilierten "Natürlichkeit-und-Stil"-Perspektiven auf einen linguistischen (Stil-)Boden (herunter) zu holen. Frank Ernst Müllers Beitrag, ebenfalls den "Stil-Spektren" zugeordnet, schließt aber noch in anderer Weise an Peter Auers Entwürfe und Fragezeichen zur Natürlichkeit an, vielleicht auch mit einem neuen Fragezeichen, in welcher Hinsicht die Gestaltorientiertheit in den Erzählungen süditalienischer Immigranten - bäuerlicher Herkunft zum größten Teil den Natürlichkeitskriterien entsprechen. Den von Peter Auer diskutierten Natürlichkeitskriterien als "universalistische(n) Tugenden würde ich rhythmische, klangliche, poetische, onomatopoetische, mnemotechnische Qualitäten von lokalen Stilen in Mündlichkeits-fixierten

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face-to-face Gemeinschaften als die natürlicheren gegenüberhalten wollen."11 Damit sind bereits verschiedene Aspekte zu den von Frank Müller untersuchten lautstilistischen Mustern und Listenbildungen erwähnt. Ausgangspunkt ist allerdings ein ganz anderer bei Frank Müller, nämlich die Rückführung des Stilbegriffs auf das antike 'stilum vertere', das Wenden des Griffels: Mit dem abgeplatteten Ende konnte Fehlerhaftes, Unschönes oder Überflüssiges im bereits verfaßten Text auf der Wachstafel gelöscht werden, um Platz zu machen für Neues. Damit war die Möglichkeit für eine ad infinitum fortsetzbare 'Stilisierung' des Schrifttextes eröffnet. (Heute erlaubt der PC mit seinen Möglichkeiten, dem Ideal stilistischer Perfektion bis hin zum Erscheinungsbild in nie zuvor gekanntem Maße zu entsprechen.) Die 'medialen Ressourcen' zur Stilisierung von Texten sind somit bei der Schriftproduktion reichhaltiger, ermöglichen weitergehende Stil-Arbeit als in mündlichen Texten, die dagegen roh, unbearbeitet und stillos erscheinen müssen - die 'Natur' des gesprochenen Wortes gegen die 'Kultur' der Schrift, sozusagen. Die Mündlichkeit entbehrt natürlicherweise das "ge-stil-te" Ideal systematisch harmonisierter Endprodukte, sie ist damit aber doch keineswegs defizitär. Die 'erbarmungslose' Prozessualität der gesprochenen Sprache enthält ihre eigenen spontanen medialen Ressourcen, insbesondere solche prosodischer und phonologisch/phonetischer Art, die schriftsprachlich so nicht gegeben sind. Hier setzt Frank Müller ein mit seiner Betrachtung der lautstilistischen Formen und Effekte, die die süditalienischen Sprecher in ganz prosaischen 'Gattungen' wie etwa alltagssprachlichen Aufzählungen mit z.T. erstaunlicher Virtuosität über phonologische und morphonologische Serien zuwege bringen. Dabei wird das gerade verfügbare lautliche Material mitunter 'unzensiert' in die Serienbildung integriert. Selbst noch lautmalende Ausdrücke erscheinen dabei in 'passende' Serien eingebettet, die sie verlängern und unterstreichen. Allerdings: die klanglichen Effekte erliegen hier mitunter dem Sog ihrer eigenen 'stilistischen Gewalt', wenn sie z.B. referentielle Exaktheit zugunsten der klanglichen und sprachlichen Effekte transzendieren. Die lautstilisierende Gestaltung, in der Form literarischen Stilfiguren oft nicht unähnlich, ist jedoch kein Tart pour l'art', sondern dient lokalen Funktionen, etwa solchen persuasiv-rhetorischer Art, solchen der Emphase, auch solchen der 'Hochstilisierung', etwa wenn 'commonsense'-Erfahrungen zu allgemeinen Maximen stilisiert werden. Der häufigste Fall in Frank Müllers Darstellung ist jedoch der der 'Pointierung': Pointen in konversationeilen Erzählungen müssen ja - dies hat Harvey Sacks dargelegt - jener Fokussierung der Aufmerksamkeit der Rezipienten, jenem Erwartungsdruck und jener Interpretationslast entsprechen, wie sie im vorausgehenden Aufbau eines u.U. längeren und komplexeren Erzählschemas und während eines u.U. längeren Redebeitrags des Erzählers aufgebaut worden sind. Von da aus ist es nicht erstaunlich, daß gerade die Höhe- und/oder Abschlußpunkte konversationeller Erzählungen tragenden Pointensätze in besonderer

11 Aus einem Kommentar von Frank Müller (vom 16.6.88) zu Peter Auers Beitrag. Hervorhebung von uns.

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Weise lautstilistisch konturiert sind, auf diesem Wege vom Umfeld abgehoben werden und in besonders verdichteter Weise lautstilistische Markierungen tragen. Trotz der sequentiell und lokal gegebenen Motivation für den Gebrauch solcher Mittel der Stilisierung, argumentiert Frank Müller ethnographisch: Nicht das prinzipielle Vorhandensein solcher Stilmittel, wohl aber ihre forcierte Verwendung, z.B. als eine 'süditalienische' Technik des Overstating', verweisen auf Traditionen Mündlichkeits-orientierter Gemeinschaften, in denen Virtuosität des mündlichen Sprachgebrauchs eine pragmatisch geforderte Eigenschaft darstellt, die für das Erreichen von Handlungszielen u.U. wichtiger ist als referentielle Exaktheit. Inken Keim und Johannes Schwitalla vergleichen die kommunikativen Stilmittel von Konfliktbearbeitungen in zwei Mannheimer Frauengruppen. Die Gruppen gehören sehr unterschiedlichen sozialen Welten an: "'einfache' Leute" eines innerstädtischen Sanierungsgebiets einerseits (Bastelgruppe), Angehörige einer "tonangebenden Schicht eines neuerbauten Stadtteils" andererseits (Literaturgruppe) (S. 83) mit je unterschiedlichen Zielen und Organisationsprinzipien. Die Konflikte, die bei den analysierten Transkriptstellen im Vordergrund stehen, reichen dabei von lokalen Störungen aktuell gemeinsamer Interaktionsziele bis hin zu potentiell gruppensprengendem Verhalten. Ein solcher Vergleich, so die Autoren, setzt "die Beschreibung der jeweiligen kulturellen Systeme voraus" (S. 116). Ihr Vorgehen ist folglich ein ethnographisches. Inken Keim hat beispielsweise vier Jahre lang an den Aktivitäten der 'Bastelgruppe' teilgenommen. Die so gewonnene Insider-Perspektive erlaubt eine lebensweltbezogene Interpretation, die im Rahmen der Konversationsanalyse allein nicht rekonstruiert werden kann. Die beschriebenen Stilmittel der Konfliktbearbeitungen sind zahlreich und nur schwerlich als funktionale Einzel-items zu vergleichen; so kookkurrieren in der Literaturgruppe beispielsweise formulaische Anmahnungen mit Dialektisierungen und scherzhafter Modalisierung zur Abschwächung eines Vorwurfs; gruppenexterne Tratschobjekte entpuppen sich als gruppeninterne Adressierung. Die Konflikte, die in der jeweiligen Gruppe auftauchen, werden unterschiedlich bearbeitet, relativ zu den lebensweltspezifischen Konzepten von Körper, Privatheit oder Aufstiegsorientiertheit. In beiden Gruppen differiert u.a. auch aufgrund der unterschiedlichen Konstitutionsbedingungen der Gruppen die Praxis Image-bedrohender Sprechakte. In der Literaturgruppe gelten Image-beinträchtigende Direktheit oder offene Aggressivität als bedrohlich für die Aufrechterhaltung der Gruppe. Deshalb werden mögliche Imageangriffe durch andeutendes, ironisches oder scherzhaftes Sprechen oder durch Themenvermeidung abgebogen. Die Frauen der Bastelgruppe dagegen praktizieren direkte Image-bedrohende Thematisierungen, die bei leichteren Verstößen gegen Gruppennormen scherzhaft moduliert werden. Bei gruppengefährdendem Verhalten jedoch treten auch aggressive Kommunikationstypen auf. Die beobachteten Verfahren beim Umgang mit Konflikten sind aber nur ein Ausschnitt aus einem übergreifenden kommunikativen Gruppenstil.

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2.2.2 STIL UND KONTEXTUALISIERUNG: DIE KONSTITUTION VON AKTIVITÄTSTYPEN Susanne Uhmann eruiert den Stil eines klassisch-sozialwissenschaftlichen Erhebungsinstruments, des Interviews. Ein Interview ist nicht schon deswegen ein Interview, weil sich zwei oder mehr Leute zu einem solchen treffen. Denn ein Gespräch wird "nur in dem Maße zu einem 'Interview' wie es den Handelnden gelingt, sich diesen speziellen Kontext anzuzeigen, ihn als solchen interpretierbar zu machen und ihn von anderen möglichen Kontexten - wie Verhören, Prüfungen, Diskussionen und Kaffeepläuschchen - abzugrenzen" (S. 126). Ein spezifisches Merkmalsbündel von Kontextualisierungshinweisen formiert sich so zu einem Interviewstil oder besser: zu einem Interaktionsstil Interview, oder: zu einer spezifischen Interaktion, die die Teilnehmer qua der von ihnen 'für einander' angewendeten Stilmittel als Interview verstehen und dem entsprechend (be)handeln. Susanne Uhmann versucht im Rahmen der Konversationsanalyse Sacks'scher Prägung einige solche für das Interview konstitutiven Merkmale - Kontextualisierer von Interviews herauszuarbeiten. Daß sie dabei auf Transkripte eines bestimmten Typs von Interview, zudem der klassische Typ schlechthin - zurückgreift, der durchgehend von dem FrageAntwort-Format (der Frage/Antwort-Paarsequenz) geprägt ist, ist sicherlich kein Zufall und für ihre Analyse insofern bedeutungsvoll, als daß das 'Interview' als sozialwissenschaftliches Erhebungsinstrument - und genau um solche Interviews geht es ja - vielerlei Gestalten annehmen kann, bei denen das Frage-Antwort-Format nicht unbedingt das primär bestimmende Ablaufmuster sein muß, es aber meistens (leider?) immer noch ist. Dem klassischen Format gegenüber steht etwa das "narrative Interview" (Schütze 1981, 1984). Es steht für die weitgehende Außerkraftsetzung des Frage-Antwort-Formats und reduziert den Interviewer nur noch zum Bürgen der kontinuierlichen Aufrechterhaltung formaler Intersubjektivität (Schütze 1984), da die sich entfaltenden narrativen Strukturzwänge andere konditionelle Relevanzen schaffen als das Bindungspotential des Fragens. Ob zum Beispiel in Gang gesetzte biographische Erzählungen dabei noch als 'Interview* vom 'Interviewten' wahrgenommen werden, ist fraglich, da die Schützeschen Elizitierungspraktiken gerade darauf aus sind, das klassische Interviewschema außer Kraft zu setzen, zumindest für den narrativen Hauptteil. Die oftmaligen Schwierigkeiten des narrativen Interviews mögen von daher gerade in der Verletzung des erwarteten 'klassischen' Schemas begründet liegen. Das typisierte Frage-Antwort-Interview wie es Uhmann untersucht, weist - einmal als solches ratifiziert - im Kern eine spezifische Struktur komplementär verteilter Rechte und Pflichten auf: "Strukturierung und Gestaltung ebenso wie die Eröffnung ... (fallen) in den Zuständigkeitsbereich des Interviewers" (S. 136). Das klingt selbstverständlich. Aber bereits der Weg zu dieser Eröffnung ist voller Hindernisse, da trotz eines verabredeten InterviewTreffens das Interview selbst als solches noch nicht in Gang gesetzt ist. Susanne Uhmann zeigt, wie der Gang zur 'ersten Frage' im Interview über Testphasen, den Grad der Gesprächsbereitschaft zu eruieren, über spezielle 'Formulierungen' (Ankündigungen und Er-

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klärungen), anhand 'expliziter Performative' (fragen) und mithilfe präventiver Absicherungsmaßnahmen, um mehr als nur knappe Antworten hervorzulocken, verläuft. Die Gestaltung der ersten Frage hat insofern exemplarischen Charakter, als daß sie einen gemeinsamen Arbeitskonsens für die ratifizierte Zeit des Interviews festlegt, Interessant sind Abweichungen von diesem Konsens. Sie bedürfen der 'Behandlung' und geleiten so zum initial ausgemachten Arbeitskonsens, 'Interview1, zurück. Die Beteiligten zeigen sich damit natürlich an, daß sie über ein genuines und geteiltes Verständnis des 'Interviews' inklusive seiner Interaktionsmodalitäten verfügen. Einem weiteren exemplarischen 'Stilisierer' klassischer Interviewverfahren widmet sich Susanne Uhmann mit der speziellen Themensteuerung in Interviews. Die von ihr beschriebenen Mittel zur Herstellung von Kohärenz und Diskohärenz sind wiederum typisch für die Thematizität von Interviews, da sie z.B. konversationellen Kohärenzmaximen von Alltagskonversationen entgegenstehen, indem sie expliziten Themenwechsel präferieren.

Aus dem Spektrum der Stilmerkmale des Interviews greift Susanne Uhman nur einige exemplarisch heraus. Aber die wenigen Beispiele lassen mehr als deutlich werden wie · ganz im Sinne unseres Stilbegriffs - bestimmte Merkmale von den Interviewpartnern wechselseitig erwartet und eingefordert kookkurrieren und wie bei Rückfällen in Alltagskonversation in das Interview 'zurückgeholt' wird. Das interaktive Zusammenspiel dieser beschriebenen Kontextualisierungshinweise macht das Interview zum Interview und ist konstitutiv für einen 'InterviewstiP. So entstehen gleichzeitig und wechselseitig Kategorien wie 'Alltagsgespräch' versus 'Interview1 als auch die Kategorien 'Interviewer' und 'Interviewter*. Ingwer Paul geht es um die Stilisierung des religiösen Rituals durch den Diskurs der Ritualleiter. Zu diesem Zweck läßt Paul uns teilnehmen an ausgewählten Sequenzen ritueller Kommunikation aus evangelischen Gottesdiensten, standesamtlicher Eheschließung und einer Ausstellungseröffnung. Letztere dienen ihm als analytisches Vergleichsmaterial zum religiösen Ritual. Religiöse Rituale beinhalten ideal her eine 'vertikale Kommunikation', d.h. eine Kommunikation nicht nur vor Gott oder im Namen Gottes, sondern mit Gott. Wichtiger Bestandteil des Aktantenwissens über die Funktionsweise des Rituals scheint darüber hinaus die Vorstellung von der Unwandelbarkeit der Liturgie zu sein. Angesichts der ritualspezifischen "Macht der Form" erscheint jede Paraphrase des Rituals, jedes 'Ritualzitat', wie Paul sagt, als eine Abkehr vom mythischen Ursprung und als eine Kontamination des Sakralen mit dem Profanen. Um das Ritual für die Teilnehmer begreifbar und vollziehbar zu machen, bedarf es oft einer Moderation durch die jeweiligen Ritualleiter in Form von 'Regieanweisungen'. Da die symbolische Modalität der rituellen Kommunikation aber einen selbstverständlichen Vollzug der liturgischen Texte bzw. Handlungen verlangt, entsteht durch die steuernden Zwischentexte eine paradoxe Kommunikationssituation: Die Präsentation der symbolischen Bedeutung im Diskurs tritt an die Stelle der Produktion symbolischer Bedeutung im

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rituellen Vollzug. Der Versuch, die Entfremdung des rituellen Subjekts vom Ritual teilweise aufzuheben, wirkt sich ähnlich aus wie ein Verfremdungseffekt im Sinne Brechts. Die Existenz eines pastoralen Stils belegt anschaulich, daß rituelle Bedeutung - das Produkt ritueller Kommunikation - interaktiv zustandegebracht wird; jeder Vollzug der Liturgie aktualisiert für eine bestimmte Gruppe Form und Inhalt des Rituals. Im Vollzug den Vollzug unterbrechend fungieren Stilisierungen des Rituals dabei teilweise als paraphrasierende Reinterpretationen einer universellen "rituellen Mechanik", teilweise nehmen sie als ästhetisierende Ritualzitate den Platz des Rituals ein. Helga Kotthoff beschreibt spezifische Aspekte von Stilunterschieden in argumentative^. Gesprächen und deren soziale Implikationen für 'Streiter' und 'Stilisierer' als Mitglieder von kulturell und geschlechtsspezifisch unterschiedenen Kategorien. Argumentative Stile können dabei in zweifacher Hinsicht 'interkulturell' sein: Bezogen auf Gesprächspartner unterschiedlicher (national-)kultureller Herkunft (hier Deutsche und Amerikaner) als auch hinsichtlich geschlechtspezifischer Unterschiede zwischen 'männlicher' versus 'weiblicher' Gesprächs- oder Streitkultur. Das 'strittige' Material entstammt Gesprächsdyaden zwischen einer Studentin bzw. einem Studenten und einer Dozentin bzw. einem Dozenten. Die Studenten möchten eine Unterschrift erstreiten gegen die Videoüberwachung in der Universitätsbibliothek bzw. gegen die Kaffeepreiserhöhung in der Universitätscafeteria. Die Bedeutung von Argumentationsstrategien für oder gegen diese Pläne bzw. für oder gegen eine Unterschriftensammlung liegen auf der Hand. Das Verfahren, deutsch-deutsche und amerikanisch-amerikanische Dyaden zu untersuchen, läßt sich als kontrastiv-pragmatisches charakterisieren; genuin 'interkulturell' ist es noch nicht, da die Dyaden nicht kulturell bzw. geschlechtlich gemischt sind (vgl. Hinnenkamp 1989, Kap.l). Andererseits erlauben die beobachteten argumentativ-konversationellen Stilmerkmale, interkulturell markante Unterschiede zu hypostasieren. Diese diskursiven Unterschiede basieren in erster Linie auf 'face-work', jenem durch Erving Goffman (1955 bzw. 1967) in die Soziolinguistik eingebrachten Phänomen der 'Imagepflege', das die heikle Balance jeder menschlichen Begegnung kennzeichnet, sein Selbst positiv darzustellen und damit gleichzeitig das Selbstbild des Gegenübers - schon zum jeweils eigenen Nutzen - gleichfalls zu bewahren. Indes, 'face' als Phänomen ist einerseits universell, was jedoch als Image-gefährdend oder -bedrohend (face-threatening) gilt, ist andererseits kulturell überformt. Stil, genauer, der argumentativ-konversationelle Stil und 'face-work' korrelieren in vielfacher Weise. Argumentativer Stil ist - ebenfalls im Goffmanschen Sinne - immer auch das 'Vergeben' sozialer Information über sich ("giving" versus "giving off; vgl. Goffman 1959), ist somit ein gewichtiger Zug der Selbstdarstellung. Helga Kotthoff kontrastiert nun "konsensmarkiert" mit "dissensmarkiert" als kriterial, "da Nichtübereinstimmung potentiell gesichtsbedrohend ist" (S. 193). Die Herstellung von Konsens bzw. Dissens weist unterschiedliche stilistische Merkmale auf bzw. ist das Resultat von unterschiedlichen Kontextualisierungsleistungen. Gesucht werden von daher 'Textqualitäten, die Angelpunkte des Kontextes sind" (S. 187). Direkt-

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heit versus Indirektheit von Übereinstimmung, Unterbrechungen, thematische (Ab-)Brüche, so wie Weisen der Aufmerksamkeitsbekundung und der Parierung sind hier die stilistischen tokens des argumentativen Diskurses. Amerikanische und deutsche Kontextualisierungsweisen sind dabei unterschiedlich, diejenigen von Frauen und Männern ebenfalls. Argumentativen Stilen kommt so (sub-)kulturell wie geschlechtsspezifisch ein unterschiedlicher "Geselligkeitswert" zu: Für deutsche Männer scheint der Dissens der höchst zelebrierte, für amerikanische Frauen der Konsens. Hier lassen sich nun alle möglichen Konsequenzen für diese doppelt 'interkulturellen' Kommunikationen weiterspinnen und der von Gumperz (1982a, 1982b) beschriebene Teufelskreis von Kontextualisierungsunterschieden, stereotypen Bewertungen und Diskriminierung wird so leicht vorstellbar. Bei Margret Selting steht das kontrastive Potential spezifischer, nur mikroanalytisch zu bestimmender Unterschiede von Sprechstilen bzw. von sprechstilkonstituierenden Mitteln im Vordergrund (vgl. auch Frank Müllers Untersuchung). Anhand zweier Transkriptausschnitte von einem Sozialamtsgespräch zeigt Margret Selting auf, wie der Sachbearbeiter und die Klientin unterschiedliche Interaktionskontexte füreinander lokal relevant machen und sich als jeweiligen Interpretationsrahmen anzeigen. Selting konzentriert sich dabei vor allem auf zwei mikroanalytische Aspekte: Zum einen allgemein auf die Varietätenveränderung, die sich durch auffällige Veränderungen der 'Dichte von Formen' und/oder der Verwendung 'typischer Kernmerkmale' manifestiert, zum anderen auf prosodische Eigenschaften des Gesprächs, wie Sprechgeschwindigkeit, Lautstärke, Tonhöhenverläufe und Akzentrhythmen. Diese Mittel werden nun virtuos und subtil zum Zwecke der Kontextualisierung von unterschiedlichen Interaktionsmodalitäten eingesetzt. Auf der Varietätenebene etwa korrespondiert der Wechsel von amtlicher Abmahnung zur (kommentierten) Klatscherzählung mit dem Wechsel von stärkerer Hochsprachlichkeit zu stärkerer Umgangssprachlichkeit. Übergänge können dabei je nach Funktion abrupt oder fließend sein. Besonders interessant ist die von Selting aufgezeigte Kontextualisierungsfunktion von Akzentrhythmen: kürzere Akzenteinheiten verweisen allgemein eher auf den "kommunikativen Vordergrund", längere Akzenteinheiten eher auf den "kommunikativen Hintergrund". (Hier könnte sich nun eine Vielzahl von Fragen in Sachen der von Auer diskutierten "Natürlichkeit" anschließen.) Wahl und Veränderung sprachlicher Varietäten so wie prosodische Veränderungen können sowohl zusammen als auch unabhängig ins Spiel gebracht werden - und damit natürlich eine Vielzahl von Spielarten ermöglichen, die die ganze alltagssprachliche Virtuosität, vor allem aber die interaktive "Sensibilität" von Interaktionsteilnehmern erfordert, aber auch offenbart.

20 2.2.3 STILISIERUNG: STILE ALS MITTEL UND RESSOURCE SOZIALER KATEGORISIERUNG Bei Johannes Schwitalla und Jürgen Streeck ist die Konstitution und der Umgang mit sozialen Kategorisierungen zentrales Analyseproblem. Aus der Doppelperspektive urbaner Kommunikationsethnographie und einer Theorie der sozialen Differenzierung wird die Interaktion zwischen Mannheimer Arbeiterjugendlichen und einem Sozialforscher beschrieben. Im Mittelpunkt stehen dabei die sprachlich-kommunikativen Aus- und Abgrenzungsweisen bzw. Gruppen-konstitutive Interaktionen. Theoretisch unterlegt ist die Analyse mit der These, daß die Konstitution von Gruppen immer im Zusammenspiel von Fremd- und Selbstkategorisierung und adaptierter Fremdzuschreibung verläuft. Daraus folgen unterschiedliche Alternativen, wie mit den Kategorien eigener und fremder sozialer Welten umgegangen werden kann: So können Fremdkategorisierungen nicht nur zu eigen gemacht, sondern auch ihrer Definitionsgewalt beraubt werden, indem sie in die eigenen Kontexte integriert werden und dabei umgedeutet werden. Die stilistischen Mittel, die sprachlich dafür bereit stehen und die von Schwitalla und Streeck in ihren interaktionslogischen und soziologischen Funktionen analysiert werden, sind prosodischer, phonetischer, lexikalischer, semantischer und pragmatischer Natur. Doch Stilmittel sind sie nur in dem Maße, wie sie als Mittel im Prozeß der sozialen Stilisierung verwendet werden. Die Jugendlichen machen nicht nur den Interviewer auf wesentliche, von ihm verschwiegene Unterschiede zwischen sich und ihm aufmerksam, sie grenzen sich auch aggressiv gegen einen Sozialpädagogen ab, sie drücken den sozialen Abstand durch kategorienbezeichnende Adjektive und Verben aus und sie machen sich über den Vertreter der Erwachsenenwelt durch eine witzige Begriffsübersetzung lustig, die den sozialen Abstand voraussetzt. Die Beispiele zeigen, daß die Jugendlichen sehr genau darauf achten, wie Erwachsene ihnen gegenüber eingestellt sind; entsprechend hart oder durchlässig gestalten sie die Grenze nach 'außen'. Das zentral diskutierte Beispiel mir falle iwwerall uff zeigt, daß der Interviewer, dem diese Selbstdefinition zumindest auf einer der vielen Adressatenebenen gilt, nur der 'generalisierte Andere' der nicht-kompatiblen anderen sozialen Welten ist, vor allem der diese Jugendlichen verwaltenden Welt. So sind auch die Mittel dieser faktisch 'interkulturellen' Interaktionen letztendlich Stilisierungen der Unvereinbarkeit unterschiedlicher sozialer Welten.12

12 Für Soziologen, wie den schon erwähnten Pierre Bourdieu (z.B. Bourdieu 1982a und 1982b), bezeugen ethnographische Studien vorliegender Art den "inkorporierten Klassenethos" der Jugendlichen, sind Selbstilisierungen der untersuchten Art Ausdruck eines "linguistischen" und "kulturellen Habitus", die Sprecher nur "porte-paroles" ihrer Gruppe oder "Klasse". Diese Art Ethnographie ist so in der Tat nicht nur eine Fundgrube für Linguisten und Kommunikationswissenschaftler.

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In dem Beitrag von Volker Hinnenkamp wird der Begriff der Stilisierung noch einmal systematisch entfaltet und anhand von drei 'Fällen' ethnischer Stilisierung exemplifiziert. Die 'Fälle' sind kleine 'interethnische' Ereignisse wie eine Zeitungsüberschrift über ein deutsch-türkisches Fest, ein zweisprachiges Verbotsschild in Deutsch und Türkisch und schließlich ein kurzes Gespräch zwischen einem Deutschen und einem Türken. Allen Beispielen ist gemeinsam, daß sie vordergründig zunächst nichts mit Stilisierung zu tun zu haben scheinen. Mit und in ihnen soll lediglich über etwas informiert werden, etwas verboten werden und jemandem etwas erzählt werden. Bei näherem Hinsehen ist allen Beispielen aber auch gemeinsam, daß mithilfe sozialer Kategorien und Kategorisierung identifiziert, sortiert und schließlich stilisiert wird: Mit Bezug auf ethnische, kulturelle oder sprachliche Andersartigkeit und Differenz wird den 'Anderen', hier den Türken, eine totalisierende kategorische Identität zugeschrieben. Geschaffen wird - mündlich oder schriftlich - eine vereinfachte 'Gestalt', bei der jede Einzelhandlung und jedes Detail ungewollt - die Funktion bekommt, "eine homogene Figuration oder 'Gestalt* [...] zu bilden und darzustellen" (Soeffner 1986:319). Die Mittel dazu können - wie die 'Fälle' zeigen schlicht sein: Eine Konjunktion, die nicht verbindet, sondern trennt; eine Sprachpluralität, die ein und dasselbe Verbot für verschiedene Adressatengruppen in ganz unterschiedlichem Licht erscheinen läßt; kooperative Bemühungen, die so übertrieben sind, daß sie dem Rezipienten unterstellen, die Nachhilfe nötig zu haben. Die Stilisierung von Ethnizität ist aber kein neutrales Gestalt-Geben, sondern subsumiert Individuen wie Gruppen aufgrund ethnisierbarer Differenzen zu Kategorien, von denen man sich aus- und abgrenzen muß, da die mit der Kategorisierung und Stilisierung verknüpften Eigenschaften - sprachliche, kulturelle, moralische Defizite - nur die typischen negativen Eigenschaften der 'Anderen' aufgrund von deren Kategorienzugehörigkeit darstellen. So zirkelschlüssig diese Argumentation auch ist, sie ist genau auch der interaktive und sozial interpretierte Zirkel wechselseitiger Konstituenz von den den 'Anderen' unterstellten Eigenschaften, kategoriengebundenem Wissen zu und über die 'Anderen' und der Stilisierbarkeit der 'Anderen' zu diesen und nur zu diesen 'Anderen'. Die Stilisierung von Ethnizität durch die Out-group' ist so immer auch diskriminierend und ein Stück Reproduktion interethnischer Ungleichheit.

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STIL-SPEKTREN: SPRACHLICHE FORMEN ALS STILISTISCHE RESSOURCEN

NATÜRLICHKEIT UND STIL* Peter Auer

1. VORBEMERKUNGEN Ziel dieses Beitrags ist es, einen Begriff von sprachlicher Natürlichkeit zu entwickeln und semiotisch zu untermauern, der als eine grundlegende Dimension für die Bestimmung linguistischer Stile eingesetzt werden kann, und der deren interaktiven Funktion und sozialer Einbettung Rechnung trägt. Das ist kein leichtes Unterfangen, denn hinter jedem Wort im Titel des Beitrags türmen sich die Probleme auf. "Natur vs. Geist" war ein Leitmotiv der Sprachwissenschaft des vergangenen Jahrhunderts - aber wer würde sich heute noch in diese Tradition stellen wollen? "Stil" war für die idealistische Sprachwissenschaft Voßlers oder Spitzers ein zentraler Begriff, aber die hat die heutige Linguistik fast völlig vergessen. Schließlich das "und" zwischen "Natürlichkeit" und "Stil": was soll es bedeuten, "Natürlichkeit als Stil" oder "Natürlichkeit vs. Stil"? Kann das Natürliche stilvoll sein, der Stil natürlich?

1.1 VORBEMERKUNGEN ZUM STILBEGRIFF Ein kleiner Blick in die Geschichte des Stil-Begriffs zeigt, daß sich Stil und Natur lange Zeit in einem Gegensatzpaar gegenüberstanden, wobei die Sympathie einmal auf der einen, dann wieder auf der anderen Seite der Opposition lag. Die Sympathie galt dem Stil während der jahrhundertelangen Herrschaft der aus der Klassik begründeten rhetorischen und poetologischen Stillehre, sie galt der Natur in der Zeit der bürgerlichen Auflehnung gegen diese Stillehre in der ersten Hälfte des ISJahrhunderts: Rousseau und die Empfindsamen machten den traditionellen Stil wegen seiner uneigentlichen Figuren, der Differenziertheit seiner Ausdrucksmittel und seiner gelehrten Brillianz geradezu verantwortlich für die Grundübel der absolutistischen Gesellschaften und setzten ihm das Ideal einer einfachen, unmittelbaren, d.h.: natürlichen Ausdrucksfähigkeit entgegen.1

* Mein herzlicher Dank für viele einschlägige Hinweise und scharfsinnige Kommentare zu dieser Arbeit geht an Margret Selting, Volker Hinnenkamp, Frank Müller, Klaus Müller und Jürgen Streeck. l

Vgl. zu Rousseaus Stil-Kritik Dirscherl 1986. Allgemeines zur Stildiskussion in der abendländischen Geistesgeschichte findet sich bei Heinz 1986: 231 ff.

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Die Stillosigkeit, die die antirhetorische Ästhetik forderte, wurde allerdings selbst sehr schnell zum Stil und führte so nicht zum Verschwinden des Stilbegriffs (die ihm damals zugeordneten negativen Konnotationen leben in den pejorativen Termini stilisiert bzw. manieriert2 weiter), sondern zu seiner Generalisierung auf beliebige in sich konsistente3 Ausdrucksformen. Es entwickelte sich eine neue Auffassung, der zufolge Stil nicht mehr gegen Natur stand, sondern auch "natürliche Stile" möglich wurden. Als Weinreich, Labov & Herzog (1968) bzw. Hymes (1974 [1979]) das in langen Jahrzehnten ziemlich verwelkte Mauerblümchen 'Stil' wieder ins Zentrum der linguistischen Theoriebildung rückten4, bauten sie auf diesem neutralen Stilbegriff auf: Stil ist für Hymes in seinem berühmten Artikel über "Ways of Speaking" schlicht "die Art und Weise, etwas zu tun" (1979: 167). Dieser Sprechweise folgend soll Natürlichkeit im folgenden als möglicher Stil verstanden werden. Wenn ich mich hier einem 'neutralen' Stilbegriff anschließe, soll das nicht heißen, daß Stil lediglich als unterschiedliche Verpackungsmöglichkeit für denselben Inhalt gesehen wird; er würde nämlich dann - anders als in der traditionellen Drei-Stil-Lehre - zum Extra, zu etwas, was zur referentiellen Bedeutung lediglich dazukommt und so die Trennung zwischen Inhalt und Form etabliert, wobei die 'eigentliche', 'referentielle' Bedeutung der 'wahren' Semantik vorbehalten bliebe.5 Die Trennung zwischen referentieller und stilistischer Bedeutung macht nur Sinn, wenn Sprache vornehmlich auf das Artefakt Grammatik reduziert wird; eine solche Auffassung von Sprache hat keinen Platz für die Stilistik und ist wegen ihrer minimalistisch verengten Sicht auf den Gegenstand der Linguistik abzulehnen. Nun ist allerdings zu fragen, ob der neutrale Stilbegriff im Sinne Hymes nicht eigentlich überflüssig ist; denn deckt er nicht dasselbe ab, was schon mit Begriffen wie

2 Letzterer geht auf den kunstästhetischen, ursprünglich wertneutralen maniera-Begriff der italienischen Renaissance zurück. 3 Freilich wird auch diese Forderung in einer zweiten, (post?)modernen Wendung aufgegeben: im Synkretismus ist die Abwesenheit von Konsistenz zwar "Provokation von Stil" (Lachmann 1986), wird aber zugleich selbst zu Stil erhoben. 4 Es ist bemerkenswert, daß trotz der einheimischen Voßler-Spitzer-Tradition die Neuentdeckung des Stilbegriffs die deutsche Sprachwissenschaft erst über diesen Umweg der amerikanischen Soziolinguistik und Ethnographie des Sprechens erreichte. Bis dahin liefen unter diesem Etikett neben präskriptiven, populärwissenschaftlichen Stilistiken (als letztem Überbleibsel der alten Rhetorik-Tradition) lediglich Anwendungen strukturalistischer Linguistik-Methoden auf literarische Texte. Die Prager Schule, die auf eine ununterbrochene Tradition in der Stilforschung zurückblicken kann, blieb ohne Auswirkungen. 5

Daß die Soziolinguistik Labovscher Tradition den Stilbegriff nur um den Preis der Trennung zwischen referentieller und sozio-stilistischer Bedeutung theoriefähig machen konnte, sicherte der nicht-soziolinguistischen mainstream-Linguistik den Zentralbereich der Sprachwissenschaft, ohne daß sie sich mit Stil hätte beschäftigen müssen. Sie führte also gerade zur Ausgrenzung des Stils als einer additiven Komponente der Sprache. Die Labovianische Soziolinguistik und die Generative Grammatik ihrer Zeit waren im Grunde komplementäre Richtungen, die sich wechselseitig ihre Autonomie sicherten.

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Variation oder Varietät, mindestens aber mit Gumperz' "Kontextualisierungshinweis"6 ausreichend beschrieben ist? Eine Differenzierung ist möglich, wenn Stil als Menge kookkurrierender, sozial interpretierter Merkmale aufgefaßt wird. Von Stil kann erst die Rede sein, wenn Strukturmerkmale nicht nur zu einem gewissen Grad über eine längere Textpassage harmonieren, sondern auch zusammen oder jeweils individuell7 von den Mitgliedern einer Kultur bzw. Sprechgemeinschaft konsistent interpretiert werden. (Diese Interpretation impliziert immer auch den Vergleich mit anderen verfügbaren/ alternativen Stilen, wie Bourdieu (1982: 59f) zurecht unterstreicht.) Dagegen ist Variation eine Eigenschaft sprachlicher Daten, die vom Linguisten ohne Rekurs auf die Verstehensleistungen der Sprachbenutzer (Interaktions-teilnehmer) mittels seiner Fachkenntnis festgestellt werden kann (und bekanntlich in allen natürlichen Daten immer festgestellt wird). Variation wird dann nicht zu Stil, wenn die in einem Corpus beobachteten Variationsphänomene, nicht nur einzeln, sondern auch in ihrem Zusammenwirken, von den Teilnehmern unbemerkt und/oder von ihnen uninterpretiert bleiben; d.h. also, wenn sie nicht dazu verwendet werden, dem Sprecher bestimmte soziale Prädikate zuzuordnen oder um ihn als Individuum zu charakterisieren.8 So verstanden wird Stil in der Tat zu einem zentralen Begriff aller interpretativen Ansätze in der Linguistik - und mehr oder weniger explizit läßt sich der interpretative Stilbegriff bei Erickson und den Mikroethnographen (z.B. Erickson 1984), bei Tannen (z.B. 1981), bei Sandig (1986), bei Selling (z.B. 1989), in unseren Konstanzer Arbeiten zur Interpretativen Soziolinguistik (z.B. Auer & Di Luzio (Hrsg.) 1984 und 1988) und bei anderen (nicht zuletzt den Autoren in diesem Band) nachweisen. Stil ist hier immer als Stil-von-x-interpretiert-von-y zu verstehen; es gibt linguistische Variation als solche, aber Stil immer nur in Beziehung zu einem interpretierenden Teilnehmer der Kultur und in Beziehung zu einem Anderen, den dieser ihm zuschreibt. Gumperz' "Kontextualisierungshinweise" sind mit dem Stilbegriff eng verwandt, liegen jedoch auf anderen Generalisierungsebenen; zwar ist jedes Stilmerkmal ein Kontex-

6 Vgl. Cook-Gumperz & Gumperz (1976); Auer (1986). 7 Hier ist Sellings (1987) Unterscheidung zwischen Kernmerkmalen, die schon alleine eine bestimmte Interpretation erlauben, und peripheren Merkmalen, die dies nur in Kombination mit anderen, besonders mit Kernmerkmalen, tun, sinnvoll. Im ersteren Fall wird Stil eher analytisch interpretiert, im zweiten eher holistisch. 8

Eine solche Auffassung hat gewisse Ähnlichkeiten mit manchen linguistischen Arbeiten zur literarischen Stilistik; zum Beispiel ist für Riffaterre (1973:32) ein definierendes Merkmal von Stil, daß er vom Autor mit Wirkungsabsicht eingesetzt wird. Dies geht über die Forderung nach Interpretierbarkeit der dem Stil zugeordneten linguistischen Variablen insofern hinaus, als damit eine bewußte Funktionalisierung impliziert ist. Für eine nicht-literarische Verwendung des Stilbegriffs, um die es im vorliegenden Beitrag geht, ist diese Einschränkung sicherlich zu stark. Einschlägiger ist Hymes (1979:177): "Das wesentliche Kriterium eines signifikanten Sprechstils ist [aber gibt es dann auch nicht-signifikante? P.A], daß er außerhalb seines definierenden Kontextes erkannt und verwendet werden kann, das heißt, von anderen Sprechern und an anderen Orten als denen, an die seine Bedeutung typischerweise gebunden ist, oder daß er in bezug auf die Sprecher und Orte mit einem oder mehreren anderen Stilen kontrastiert werden kann."

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tualisierungshinweis, und mithin Stil eine Menge kookkurierender Kontextualisierungshinweise, umgekehrt gehört aber nicht jeder Kontextualisierungshinweis zu einem Stil: wir können von Kontextualisierung einer Konversation, der Kontextualisierung des Rederechts, der Kontextualisierung einer Unterbrechung, der Kontextualisierung von Themenbeendigungen und -neuanfängen usf. reden; den Status eines Stils haben diese Merkmale aber nicht, denn wir würden nicht vom Stil einer Unterbrechung o.a. sprechen. Es scheint sinnvoll, das dreistellige Prädikat Stil-von-x-wie-interpretiert-von-y auf solche einzuschränken, die Individuen ('Stil des Woytila- Papstes'), Gruppen von Individuen ('Stil italienischer Migrantenkinder'), Rollen, die Individuen übernehmen können bzw. müssen (Deferenzstile), Textsorten ('NachrichtensuT) und vielleicht Medien ('schriftlicher Stil') bezeichnen. Im Vergleich zu Kontextualisierungsverfahren sind Stile stärker kulturell reifiziert; oft sind sie den Mitgliedern einer Kultur/ Sprechgemeinschaft bewußt und teils sogar benennbar (also, im Sinne Schütz', "sekundäre Konstrukte"). Über Stil kann man sprechen, kaum aber über Kontextualisierung. Am schwierigsten ist die Abgrenzung von Stilen und Varietäten9. Der Begriff "Varietät" wird selbst unterschiedlich verwendet; sowohl in seiner strukturellen Verwendungsweise (derzufolge der Linguist aufgrund seines Wissens Varietäten ausgrenzt und definiert) als auch in seiner rekonstruktiv-interpretativen (derzufolge Varietäten von den Mitgliedern wahrgenommene Einheiten in einem Repertoire sind) gibt es jedoch zwei wichtige Differenzierungskriterien gegen 'Stil': zum einen sind Varietäten immer (Sub)Systeme mit relativ scharfen tatsächlichen oder wahrgenommenen Grenzen, die im Regelfall eine eindeutige Entscheidung darüber erlauben, ob gerade Varietät A oder Varietät B gesprochen wird; zum anderen sind Varietäten ausschließlich durch grammatische Merkmale definiert, während Stile auch Merkmale aus anderen kommunikativen Systemen (Turn-Taking, Gestik, etc.) mit umfassen können. Zusammenfassend ergibt sich folgende Abgrenzung: Variation = uninterpretierte sprachliche Verschiedenheit Kontextualisierungshinweis = interpretiertes sprachliches oder nicht-sprachliches Merkmal Varietät - Menge interpretierter oder uninterpretierter stark kookkurierender grammatischer Merkmale, die gegen andere Varietäten im Repertoire abgegrenzt und (oft) bewußt/benennbar sind Stil = Menge interpretierter, kookkurierender sprachlicher und/oder nichtsprachlicher Merkmale, die (Gruppen/Rollen von) Personen, Textsorten, Medien, etc. zugeschrieben werden.

Hymes sieht Varietäten als eine spezielle Art von Stilen, nämlich (1979:177) als "Sprechstile, die an soziale Gruppen gebunden sind". Ihm zufolge ist also der Varietätenbegriff deriviert und daher eigentlich überflüssig.

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Die linguistische Beschäftigung mit Stil hat m.E. zwei Komponenten, die mit den Termini "stilistische Gestalt" und "stilistische Gestaltung" umschrieben werden können. Zur Erforschung der stilistischen Gestalten gehört es, die sprachlichen oder sonstigen Dimensionen zu beschreiben, die stilistisch nutzbar sind; bei der Erforschung des stilistischen Gestaltern ist hingegen zu fragen, wie sich auf diesen Dimensionen konkrete interpretierte Stile konstituieren und zwischen den Gesprächsteilnehmern ausgehandelt werden. Die doppelte Aufgabe, kontextfreie Systeme zu identifizieren und deren Verwendung für bestimmte Kontextualisierungsaufgaben, also ihre Lokalisierung im sozialen und kommunikativen Raum zu analysieren, ist für das Turn-Taking-System10 in der Konversationsanalyse besonders glücklich gelöst worden, das somit als Untersuchungsparadigma gelten kann: das System als solches ist eine kontextfreie "Maschinerie"; es spezifiziert aber eine Dimension, auf der sich konkrete Turn-Taking-Stile (z.B. von Tannen 1979 amerikanischer Ostküstenund Westküsten-Stil) einordnen lassen. In diesem Beitrag soll eine grammatische Dimension für Stil vorgeschlagen werden, der ähnlich zentrale Bedeutung zukommt: die Dimension Natürlichkeit vs. Konventionalisierung (kulturelle Überformtheit).

1.2 VORBEMERKUNGEN ZUM BEGRIFF 'NATÜRLICHKEIT Der Begriff ist nicht ungefährlich und durch inflationären Gebrauch abgenutzt; wenn er hier trotzdem verwendet wird, dann deshalb, weil sich in den letzten Jahren in verschiedenen Teilbereichen der Sprachwissenschaft Theorien der Natürlichkeit entwickelt haben, die miteinander kompatibel sind und die gesamte Grammatik, von der Prosodie über Phonologic und Morphologie bis zur Syntax, zu erfassen erlauben. Innerhalb dieser Theorien läßt sich präzisieren, was unter 'natürlichen sprachlichen Strukturen' zu verstehen ist. Die Idee selbst, die Opposition Natürlichkeit vs. Konventionalisierung zu einer Gnmddimension der Stilistik (bzw. Poetik und Rhetorik zu Zeiten, als es den Stilbegriff in dieser Art noch nicht gab) zu machen, ist alt. Sie findet sich zum Beispiel in der einflußreichen Poetria Nova des Geoffroi de Vinsauf (um 1210); er gibt zur rechten Gestaltung der dispositio, der Einleitung eines poetischen Werks, folgende Anweisung (Z. Soff):11 Ordo bifurcat iter: tum limite nititur artis, Turn sequitur stratam naturae. Linea stratae Est ibi dux, ubi res et verba sequuntur eumdem Cursum nee sermo declinat ab ordine rerum. 10 Sacks, Schegloff & Jefferson 1978. 11 Zit. nach Faral (Hrsg.) 1958. Ein schlechter Kommentar dazu ist Gallo (1978), dem zu Geoffrois Unterscheidung nicht mehr einfällt, als daß sie "quite curious to say the least" sei (S. 70), ein besserer, der die Verbindung zum Ikonismus herstellt, Enkvist (1981).

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Limite currit opus, si praelocet aptior ordo Posteriora prius, vel detrahat ipsa priora Posterius; sed in hoc, nee posterior priori, Ordine transposito, nee posteriore priora Dedecus incurrunt, immo sine lite licenter Alternas sedes capiunt et more faceto Sponte sibi cedunt: ars callida res ita vertit, Ut non pervertat; transponit ut hoc tarnen ipso lius ponat.12 Nach Geoffroi impliziert die natürliche Sprechweise eine Ähnlichkeit zwischen darstellender Sprache und dargestellten Dingen (ordo naturalis), während künstliches bzw. kunstvolles Schreiben gerade diese natürliche Ähnlichkeit auflöst. Erstere Variante ist die übliche, unauffällige, häufigere: der breite Weg, zweitere die unüblichere, schwierigere, in sich weiter ausdifferenzierte (es gibt nur eine natürliche, aber viele künstliche/ kunstvolle Darstellungsweisen) und daher besonders zu lehren und zu lernende: der schmale Weg. Läßt man diese Bewertung aus dem Spiel, so scheint mir Geoffroi schon einen zentralen Gedanken für die semiotische Analyse von Stilen auf der Natürlichkeitsdimension formuliert zu haben. Allerdings erst die halbe Wahrheit: denn um einen für die Stilanalyse brauchbaren Natürlichkeitsbegriff zu entwickeln, muß man zum ikonischen Prinzip, wie es in Geoffrois ordo naturalis exemplifiziert ist, das indexikalische Symbolisierungsverfahren mit hinzunehmen. Dann läßt sich die Dimension Natürlichkeit vs. kulturelle Überformtheit so verstehen, daß auf ihrem kulturell überformten Pol sprachspezifische, der jeweiligen historischen Entwicklung geschuldete Zeichen stehen, während auf ihrem natürlichen Pol wiederum eine Verzweigung in natürlich-ikonische und natürlich-indexikalische13 Zeichen vorzunehmen ist. Die drei semiotischen Verfahren entsprechen in der Zeichentheorie Charles S. Peirce den "icons", "indices" und "symbols". Ikonizität impliziert Similariät; sie stiftet die zeichenkonstitutive Beziehung zwischen abbildender Zeichengestalt und abgebildetem Gegenstand. Indexikalität als Konstituens des Zeichens setzt hingegen Kontiguität zwischen Zeichen und bezeichnetem Gegenstand voraus.14 Dabei kann diese Kontiguitäts-

2 Übersetzung: Der Weg, auf den die disposilio erfolgt, ist zweigeteilt; auf der einen Seite kann sie dem Pfad der Kunst folgen, auf der anderen der breiten Straße der Natur. Die letztere ist dort der Leitfaden, wo die Dinge und die Worte denselben Lauf nehmen und die Rede nicht von der Reihenfolge der Dinge abweicht. Der Pfad der Kunst wird eingeschlagen, wenn geschicktererweise das Spätere vor dem Früheren steht, oder wenn die eigentlich früheren Dinge nach hinten geschoben werden; und in diesem Fall nehmen weder die späteren, nach vorn gerückten Dinge, noch die früheren, nach hinten gerückten, Schaden; vielmehr tauschen sie ohne Konflikt Plätze, und leichtherzig und freiwillig weichen sie einander: die geschickte Kunst invertiert so, daß nicht pervertiert wird; sie stellt so um, daß sie dadurch die Sache besser darstellt. 13 Der Begriff wird hier weiter gebraucht als in der Ethnomethodologie und auch in der Semantik gemeinhin üblich, nämlich als Adjektiv zu Peirce' "Index". 14 Dazu Peirce 1966ff (Book II, Chpt. 2 & 3); ähnliche, teils weiterführende Gedanken dazu finden sich bei Jakobson 1956, andeutungsweise auch bei Gessinger 1982: 134ff.

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beziehung zwischen sprachlichen Zeichen (endophorisch, syntaktisch) oder zwischen dem sprachlichen Zeichen und seinem nicht-sprachlichen Kontext (Situation, Hintergrundwissen) (exophorisch, pragmatisch) vermitteln. Tatsächlich sind sprachliche Zeichen jedoch oft eine Mischung aus symbolischen, indexikalischen und ikonischen Aspekten. (Peirce sieht solche Kombinationen von Zeichenbildungsverfahren ausdrücklich vor.) In der folgenden Exemplifizierung der einzelnen Zeichentypen auf den einzelnen linguistischen Analyseebenen wird sich zeigen, daß ikonische und indexikalische Zeichenbildungsverfahren unter funktionalen, kommunikativen Aspekten recht verschieden zu beurteilen sind. Diese funktionale Verschiedenheit ist ebenfalls bereits in Peirce' Darstellung der "indices" und "icons" angelegt. Aus der Perspektive der Zeichenerkennung ist das ikonische Zeichenbildungsverfahren das einfachste; es funktioniert aufgrund einer Qualität des Zeichens, die dieses dem bezeichneten Objekt ähnlich macht: "it simply happens that its qualities resemble those of that object, and excite analogous sensations in the mind for which it is a likeness" (Peirce 2.298). Für den Zeichenproduzenten (den Sprecher) ist die Sache allerdings nicht so einfach: er muß nämlich dafür sorgen, daß das von ihm produzierte Zeichen dem intendierten Gegenstand ähnlich ist. Das indexikalische Zeichen-bildungsverfahren, von Peirce zwischen ikonischem und symbolischem eingeordnet, fordert hingegen den Rezipienten des Zeichens; dieses ist nur als Zeichen funktionsfähig, weil es als "organic pair" (Peirce 2.298) an ein Objekt gebunden ist; der Rezipient kann deshalb das IndexZeichen nur dann verstehen, wenn er seinen Kontext, nämlich die Kontiguitätsbeziehung zum Objekt, nachvollzieht: Der Index "is in dynamical (including spatial) connection both with the individual object, on the one hand, and with the senses or memory of the person for whom it serves as a sign, on the other hand" (Peirce 2.304). Die Aufgabe des Zeichenproduzenten ist dafür in diesem Fall weniger anspruchsvoll: er muß die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf ein Objekt richten, kann dabei aber die Gestalt des Zeichens wie auch des zu bezeichnenden Objekts außer acht lassen. Zwar folgen beide Zeichenbildungsverfahren natürliche Prinzipien, sie arbeiten jedoch den konstitutiven Rollen der Sprechsituation, nämlich dem Sprecher und dem Rezipienten, in unterschiedlicher Weise zu: Indexikalität erleichtert meist die Sache des Sprechers, Ikonizität die des Rezipienten; umgekehrt geht abnehmende Indexikalität zulasten des Sprechers, abnehmende Ikonizität zulasten des Rezipienten15. Wir erhalten also folgendes Schema:

(Siehe nächste Seite)

15 Allerdings laufen indexikalische und ikonische Tendenzen einander nicht notwendigerweise zuwider. Es gibt Fälle (Regeln, diachrone Entwicklungen), in denen Zunahme bzw. Abnahme auf beiden Natürlichkeitsdimensionen involviert ist.

34 ikonische Zeichenbildungsverfahren (hörerunterstützend)

symbolische Zeichenbildungsverfahren

v

indexikalische Zelchenbildungsverf ahren (sprecherunterstützend) * S/ natürlich

·>.

* V konventlonalisiert (grammatikalisiert)

Ein illustratives Beispiel kann vielleicht schon an dieser Stelle veranschaulichen, was mit dieser Dreiteilung gemeint ist. Zum Zwecke der Herstellung von Textkohärenz stehen uns im Deutschen (wie in vielen anderen Sprachen) unter anderem die beiden Mittel der Wiederholung und der Pronominalisierung (einschl. Null-Pronomen) zur Verfügung. Wann welches der beiden Mittel eingesetzt wird, ist teilweise grammatikalisiert (und daher konventionalisiert); in anderen Fällen ist die Wahl zwischen Pronominalisierung und Wiederholung hingegen ein stilistisches Phänomen. Beide Verfahren beruhen auf natürlichen Prinzipien. Dabei ist die Wiederholung ikonisch: sie macht die Dekodierung für den Rezipienten leichter, belastet aber die Produktion ('umständlicher', 'länger'). Hingegen ist die Pronominalisierung indexikalisch: sie entlastet (vor allem beim Null-Pronomen) den Sprecher artikulatorisch, bürdet jedoch dem Rezipienten die Aufgabe auf, die korrekte Vorgängerstruktur zu identifizieren, auf die sich das Pronomen bezieht. (Dabei sind natürlich wiederum sprachspezifische Grammatikalisierungen zu berücksichtigen.)

2. NATÜRLICHKEIT IN DER GRAMMATIK Das skizzierte Modell für die stilkonstituierende Dimension Natürlichkeit vs. Konventionalisiemng ist nun anhand von Beispielen aus den verschiedenen Ebenen der Grammatik weiter auszufüllen. Die semiotische Dreiteilung in Indizes, Ikonen und Symbole dient dabei als metagrammatischer Bewertungsmaßstab, der es erlaubt, über die verschiedenen Ebenen hinweg eine einheitliche Beurteilung eines Stils als mehr oder weniger natürlich vorzunehmen. Wir bewegen uns also nicht auf der Beschreibungsebene der Grammatik, sondern der der Grammatiktheorie. Die genannten semiotischen Zeichenbildungsverfahren sollen die auf den einzelnen Ebenen der grammatischen Beschreibung nachgewiesenen natürlichen Prinzipien vergleichbar machen, diese aber auf keinen Fall ersetzen. Es ist beim gegenwärtigen Stand der Forschung weder eine exhaustive Liste dieser natürlichen Prinzipien möglich, die in der Phonologie, Syntax, Morphologie usf. notwendig sind, noch ist zu

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entscheiden, ob sie sämtlich als ikonische und/oder indexikalische eingestuft werden können. Die folgenden Ausführungen stützen sich soweit möglich auf die schon existierenden Natürlichkeitstheorien, die unter semiotischen Aspekten interpretiert werden. Nicht alle sind gleichermaßen ausgereift, und in manchen Bereichen ist die empirische Fundierung noch recht mangelhaft. Es lassen sich jedoch immerhin auf allen Ebenen Hypothesen darüber aufstellen, welches von zwei oder mehr alternativen Strukturmerkmalen das natürlich-ikonischere bzw. natürlich-indexikalischere, bzw. welche das kulturell überformtere (symbolischere) ist. (Fast immer haben wir es mit einer Mischung zu tun.)16 Die Darstellung ist notwendigerweise sehr gedrängt. Vor allem im Bereich der Natürlichen Phonologic und der Natürlichen Morphologie werden Leser oder Leserin mit Nachdruck auf die hier nur unzureichend zusammengefaßte, inzwischen recht umfangreiche Literatur verwiesen.

2.1 PROSODIE Im Bereich der Prosodie gibt es bisher nur wenige Versuche, natürliche Strukturen von konventionalisierten zu unterscheiden. Es geht um die Aufteilung der phonetischen Substanz in rhythmische Glieder oder Phrasen ("tone" im Sinne Hallidays) sowie die Intonationskurven auf diesen Phrasen ("tune", "tonicity"). Bolinger argumentiert (z.B. 1983), daß Intonationsverläufe (im Gegensatz zu den grammatikalisierten Mustern der Tonsprachen) durch die Sprachen der Welt hindurch einem konsistenten Ikonizitäts-Prinzip folgen. Intonationskonturen können nur steigen oder sinken. Diese Bewegung ist seiner Meinung nach mit gestischen und mimischen Auf-/Ab-Bewegungen zusammen Teil der "up-down metaphor"17; oder anders gesagt: eine steigende Intonationskurve ist ikonisches Abbild nicht-sprachlicher Zeichen wie hochgezogener Augenbrauen, lächelnd nach oben gezogener Mundwinkel, erhobener Hände (und umgekehrt), und hat deshalb eine natürliche Bedeutung, die etwa mit Offenheit', 'Zugänglichkeit', 'Friedfertigkeit (Aggressionsunlust)', 'Erwartung' zu umschreiben wäre. Umgekehrt ist eine sinkende Intonationskurve als ikonisches Abbild nicht-sprachlicher Zeichen wie nach unten gezogener Mundwinkel, Senken des Kopfes, Senken der Augen (bzw. umgekehrt) anzusehen und durch den komplementären semantischen Bereich zu umschreiben, etwa 'Abschluß', 'Unzugänglichkeit', 'Ärger/ Aggression', 'Erwartungslosigkeit'. Tatsächlich läßt sich in Sprachen wie dem Deutschen oder Englischen, in denen die Tonhöhe keine phonematische (grammatikalisier-

16 Selbstverständlich sind alle Aussagen über Natürlichkeit empirisch anhand sprachinterner und -externer Kriterien zu überprüfen. Vgl. zum Verfahren dieser empirischen Überprüfung Dressler (Hrsg.) 1987. 17 Zur up-down-metaphor vgl. Lakoff & Johnson 1980: 57 und 14ff.

36 te) Funktion hat,18 feststellen, daß steigende phrasenfinale Intonationsverläufe verwendet werden, um Nicht-Terminiertheit zu signalisieren (sei es im eigenen Turn ("progrediente Intonation"), sei es in Paarsequenzen (v.a. bei Satzfragen));19 fallende phrasenfinale Intonationsverläufe signalisieren hingegen Terminiertheit. Eine ähnliche Idee findet sich bei dem Psychiater Aron Bodenheimer (1984: 49): Wird ein Satz durch seine Passagen hindurch so melodisiert, daß er an seinem Ende unten im Grundton ankommt, so gilt er als entschieden, eindeutig, als geschlossen und bestimmt. Ist der Satz fertig, so tut er kund: Alles kann von nun an hier, 'am Boden' bleiben. Danach ist jedermann frei. Man kann schweigen, man kann auch frei weiterreden. Was immer dagegen als Frage melodisiert ist, das äußert sich als nach oben Angehobenes. Von dort oben her aber hat es drängenden, ja bedrängenden Effekt. Es bringt jeden Hörenden um seine Ruhe, nötigt ihn mit verborgener Gewalt, daß er das Obengehaltene gleichsam herunterhole und so das Offengelassene abschließe - durch eine Äußerung, die man Antwort benennt. Weitere Evidenz für Bolingers Hypothese kann man in der Tatsache sehen, daß die semantisch nicht motivierte Verwendung steigender Intonationskurven häufig als 'unsicher', 'weiblich' oder 'defensiv', aber auch als 'höflich' interpretiert wird.20 Eine noch eindeutigere Rolle scheint Ikonizität in der Prosodie bei der rhythmischen Gliederung der Rede in intonatorische Phrasen und bei der Prominenzabstufung der einzelnen Silben zu spielen. Eine natürliche rhythmische Gliederung bildet die semantische und die prosodische Struktur aufeinander ab; die rhythmische Gruppenbildung entspricht der semanti-schen, und die stärksten phonetischen Hervorhebungen fallen auf die Akzentsilben der semantisch zentralen Wörter im Fokus der Äußerung. Ein solcher Ikonismus ist Sache des Sprechers, und wie sehr er dem Rezipienten das Zuhören erleichtert, ist aus der traditionellen Sprecherziehung bekannt (vgl. Saran 1907).

18 Es kann natürlich auch in Tonsprachen ikonische Verfahren geben, die dann aber anderen semantischen Funktionen dienen (z.B. Diminutiv-Bildung durch Hochton im Bini oder im Kantonesischen; vgl. dazu Wescott 1971:423). 19 Die erwähnten Sprachen kennen aber auch lexikalische und grammatische Frage-Markierungen, d.h. die Intonation muß nicht allein die Interpretation der Äußerung als Frage sicherstellen. Daher werden w-Fragen nicht mit steigender Intonation geäußert. Aber auch Satzfragen können natürlich anderweitig kontextualisiert werden; empirisch zeigt sich, daß steigende Intonationskurven nur einer der möglichen und verwendeten Kontextualisierungshinweise für erste Glieder in Paarsequenzen sind (zur Intonation von englischen Satzfragen vgl. Geluykens 1986). In Sprachen mit obligatorischen Frage- Partikeln (z.B. dem Türkischen) dürfte dieser Anteil noch geringer sein. 20 Vgl. zusammenfassend Groß 1987: 75ff. Solche anti-ikonischen Intonationsverläufe gelten als auffällig oder manieriert, solange sie nicht zu einem kulturell geformten (nicht-natürlichen) Stil generalisiert werden oder gar in das grammatische System einer Sprache oder Varietät Einzug halten. Dies ist z.B. im Australischen Englisch geschehen, das sich durch steigende finale Intonation kennzeichnet.

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In diesem Sinn nicht natürlich, weil nicht ikonisch, ist z.B. die rhythmische Gliederung, mit der im folgenden Beispiel21 aus Büchners "Lenz" vorgelesen wird: endlich,// hörte er Stimmen,// er sah Lichter,// es wurde ihm leichter,// man sagte ihm// er hätte noch eine halbe Stunde.// nach Waldbach.// er ging durch das Dorf,// die Lichter schienen// durch die Fenster,// er sah hinein.// im Vorbeigehn/ Kinder am Tische// Weiber Mädchen/ alles.// stille Gesichter.

Der 'manierierte', 'unnatürliche', 'künstlerische' o.a. Stil dieser Rezitation ist auf die Reibung zwischen syntaktisch-semantischer und rhythmischer Gliederung an den unterstrichenen Stellen zurückzuführen.

2.2 PHONOLOGIE In der Phonologic gibt es, im Gegensatz zur Prosodie, bereits eine ausgearbeitete Theorie der Natürlichkeit - nämlich die Natürliche Phonologic22 -, innerhalb derer Dressler (1980, 1984) das semiotische Modell von Peirce einsetzt und auf die phonologischen Prozeßteleologien anwendet. Die natürlichen Prozesse in einer Sprache lassen sich in solche mit Fortisierungs- und solche mit Lenisierungsteleologie aufteilen. Erstere sind artikulationserschwerend, jedoch meist perzeptionserleichternd; für letztere gilt das umgekehrte. Entsprechend bauen die Fortisierungen phonologische Distinktionen auf bzw. verstärken sie. Oft sind sie kontextfrei. Lenisierungen verwischen zugrundeliegende Distinktionen und sind oft kontextsensitiv. Den Prozessen stehen morphonologischen Regeln ohne natürliche Teleologie gegenüber, die durch morphologische Restriktionen und Ausnahmen gekennzeichnet sind. (Meistens sind sie im Lauf der historischen Entwicklung kamouflierte, einstmals natürliche Prozesse, die morphologisiert oder lexikalisiert worden sind und ihre ursprüngliche Motivation und Produktivität verloren haben.) Nun entspricht die Dreiteilung in (morphonologische) Regeln, fortisierende Prozesse und lenisierende Prozesse der Peirceschen Unterscheidung zwischen konventionalisierten Symbolen, Ikonen und Indizes (wobei die Grenzen jeweils fließend sind, besonders zwischen den konventionalisierten und den natürlichen Zeichen). Eine phonologische Struktur-Veränderung ist um so ikonischer, je ähnlicher ihr Input (signifio) und Output (signifiant) sind. Mit Peirce ist zwischen materieller und diagrammatischer Ähnlichkeit zu unterscheiden. Materielle Ähnlichkeit zwischen Input und Output impliziert, daß die derivierte Oberfläche von der zugrundeliegenden Einheit in möglichst wenigen Merkmalen abweicht. In diesem Sinn ist z.B. eine Regel ikonischer (und das heißt, natürlicher), die

21 Aus einer am 19.1. 1988 in SWF 3 ausgestrahlen Sendung über Pfarrer Oberlin. Punkt markiert sinkende, Komma steigende Intonationskurve, Doppelstrich lange, Einfachstrich kurze Pause. Weitere schöne Beispiele für unnatürliche Prosodien hat Pawlowski (1987: 102ff) gesammelt. 22 Vgl. Stampe 1979, Donegan 1978 Dressler 1985, Auer im Druck (a) und zahlreiche andere.

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Plosive aspiriert (d.h. lediglich eine artikulatorische Eigenschaft hinzufügt), als eine, die /a/ in /i/ verwandelt. Besonders unikonische Regeln sind solche, die Segmente tilgen, denn die Ähnlichkeit zwischen einem beliebigen Segment und ist die geringste mögliche. (Materieller Ikonismus in der Phonologie geht nach dieser Auffassung also weit über die Onomatopöie hinaus, die traditionellerweise mit diesem Begriff assoziiert wird.) Diagrammatische Ikonizität ("D-iconicity", vgl. Peirce 1966ff, Jakobson 1966) ist eine abstraktere Angelegenheit: sie betrifft die Ähnlichkeit zwischen Konstellationen von Strukturen im signifiant und im signifio. D-Ikonizität kann Konstellationen von sprachlichen Merkmalen auf Konstellationen außersprachlicher Merkmale beziehen ("motivation" im Sinne von Haiman 1980); wichtiger für die Phonologie ist jedoch eine zweite Möglichkeit, nämlich Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen Konstellationen sprachlicher Strukturen innerhalb der Grammatik ("isomorphism" im Sinne von Haiman 1980). Diese grammatische D-Ikonizität nimmt zu, je ähnlicher die Lautsysteme auf den verschiedenen Ableitungsstufen sind. Sie erhöht sich, je uniformer ein Prozeß ist, d.h. besonders, je mehr er natürliche Klassen von Lauten ausnahmslos erfaßt und korreliert deshalb stark mit der wechselseitigen Rekonstruierbarkeit von Input und Output (biuniqueness). Zu unterscheiden ist: - eineindeutige Rekonstruierbarkeit in intrinischen Allophonen, z.B. in Sprachen mit obligatorischer, aber nicht distinktiver Aspiration von Plosiven:

N \

/P/ \

[ph]

N \

[th]

[kh]

- eindeutige Rekonstruierbarkeit z.B. bei extrinsischen (kontext-bedingten) Allophonen, etwa dt.

wechselseitige Nicht-Rekonstruierbarkeit, z.B. dt. ALV:

N

M

23 Nota bene: Die Natürlichkeit einer Regel ist nicht nur auf der Ikonizitätsdimension, sondern auch auf der Indexikalitätsdimension zu bestimmen. Wenn hier gesagt wird, daß kontextbedingte Allophone oder Neutralisierungen weniger ikonisch sind also kontextfreie Allophone, so ist hinzuzufügen, daß in beiden Fällen auch Umgebungsfaktoren im Spiel sind, d.h. es ist auch die Indexikalitätsdimension betroffen. Kontextsensitive Allophonregeln sind indexikalischer als kontextfreie. Um bestimmen zu können, welche von beiden - kontextfreie oder kontextsensitive Regeln natürlicher sind, müßten die beiden Dimensionen gegeneinander aufgerechnet werden. Wie dies geschehen könnte, ist beim gegenwärtigen Stand der Forschung unklar.

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Die optimale ikonische Beziehung zwischen phonemischer und phonetischer Ebene wäre eine 1:1-Abbildung (maximale Durchsichtigkeit der Oberfläche und Rekonstruierbarkeit der zugrundeliegenden Lautintentionen). Optimal ikonische Prozesse transformieren also eine natürliche Klasse distinktiver Laute in eine diesen eineindeutig zuordenbare andere natürliche Klasse von Lauten, die mindestens genauso distinktiv sind. Sie behindern deshalb die Perzeption nicht (oft verbessern sie sie sogar, etwa, wenn die im Vergleich zu den Lenes im System sowieso schon stärkere Klasse der deutschen Fortis-Plosive noch zusätzlich durch einen natürlichen Prozeß aspiriert wird). Ikonizität in der Phonologic geht deshalb mit ionisierender oder zumindest nicht Ionisierender Teleologie des Prozesses zusammen. Das Umgekehrte gilt für die indexikalischen Prozesse. Im Sinne endophorischer Verweise etablieren sie Kontiguitätsbeziehungen zwischen phonologischen Elementen und ihren Nachbarelementen, d.h. sie sind kontextsensitiv. Durch Angleichung an die Artikulationsweise der Nachbarlaute kommt es zur Artikulationserleichterung, die aber oft die Ikonizität der Beziehung zwischen Input und Output verringert und so zulasten der Perzeption geht. Solche indexikalischen Prozesse (wie z.B. die Nasalassimilation im Deutschen) haben deshalb Lenisierungsteleologie. Als exophorische Verweise stellen Ionisierende Verschleifungen, z.B. in Allegroregeln, außerdem eine indexikalische Bindung an den nicht-linguistischen Kontext her: sie setzen vermehrtes Hintergrundwissen der Rezipienten voraus, während ikonisch-fortisierende Sprechweisen mit weniger Rekurs auf den Kontext ("Prädiktabilität", Redundanz) auskommen. Ikonische und indexikalische Tendenzen stehen in der Phonologie meist in Konflikt, manchmal kollaborieren sie jedoch auch. Z.B. sind absolute Neutralisierungen nicht nur deshalb extrem unnatürlich, weil sie wechselseitig nicht rekonstruierbare Beziehungen zwischen zugrundeliegender und phonematischer Struktur erzeugen, sondern auch, weil sie keine Kontextspuren hinterlassen und daher keine Kontiguitätsbeziehungen zu den Nachbarsegmenten eingehen. Umgekehrt genügt die Vokalharmonie sowohl ikonischen als auch indexikalischen Prinzipien, wenn auch beiden nicht hundertprozentig. Etwa harmonieren im Türkischen Suffixvokale mit dem letzten Stammvokal in bezug auf die Merkmale [hinten] und [rund], d.h. die Suffixe -lAr (Plural) und -/ (Akkusativ) harmonieren z.B. mit dem Stamm ev (Hochvokal, 'Haus') zu evleri ('die Häuser, Akk.), aber mit dem Stamm (Tiefvokal, Tasche') zu . Ikonizität ist hier gegeben, weil sich aus den Oberflächenrealisierungen die zugrundeliegende Unterscheidung nach dem Merkmal [±hoch] mühelos rekonstruieren läßt (allerdings ist die Beziehung nicht eineindeutig), Indexikalität ist im Spiel, weil die Vokalharmonie Verbindungen zwischen den Vokalen eines Wortes herstellt. (Als Fernassimilation ist sie freilich weniger indexikalisch als eine Nahassimilation.)

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2.3 MORPHOLOGIE In der Morphologie sind die Natürlichkeitstheorien am besten ausgearbeitet worden; dabei ist jedoch der Rekurs auf semiotische Prinzipien meist auf das der Ikonizität beschränkt, während die Indexikalität wenig Berücksichtigung findet.24 Die wichtigsten Beiträge aus jüngerer Zeit sind die Natürlichen Morphologien Mayerthalers (1981, etc.) und Wurzels (1984, etc.); eine Zusammenfassung findet sich in Dressler (Hrsg.) 1987. Auch im Bereich der Morphologie ist es sinnvoll, zwischen materiellem und diagrammatischem Ikonismus zu unterscheiden.25 Das D-ikonische Grundprinzip innerhalb des morphologischen Systems ist - im Gegensatz zur Phonologic - ein semantisches: "eine Form - eine Bedeutung", d.h. "biuniqueness" zwischen semantischen und morpho-logischen Einheiten. Diese ist um so besser realisiert, je weniger die Morpheme miteinander bzw. mit der Wurzel verschmelzen (also je weniger "fusion", im Sinne Sapirs, vorliegt) und je durchsichtiger deshalb die morphologische Struktur des Wortes ist. Der agglutinierende Sprachtypus folgt diesem Prinzip am eindeutigsten und ist deshalb optimal ikonisch. Sprachwandel impliziert hier immer einen Übergang zu indexikalischeren Kodierungsformen. Bei den flektierenden Sprachen, deren Morphologie wesentlich weniger ikonisch ist, verläuft die typische Tendenz des Sprachwandels hingegen in umgekehrter Richtung: sie tendieren dazu, morphologische Kategorien mit mehreren, nicht-phonologisch festgelegten Exponenten (Allomorphen) zu vereinheitlichen, indem die weniger häufige oder komplexere Alternante zunehmend vermieden wird und schließlich verschwindet. Außerdem werden homophone Exponenten verschiedener Kategorien abgebaut. Es setzt sich auf diese Weise im Sprachwandel ein höheres Maß an Ikonizität durch, das wegen der erreichten eindeutigeren Markierung die semantische Transparenz fördert und dem Rezipienten dient. Eines von vielen Beispielen dafür gibt Wurzel für das deutsche Numerussystem: die Pluralmarkierung wird im heutigen Standard ohne phonologische Motivation am Nomen durch ein Flexiv (/-(e)n/, /-e/, /-s/, /-er/), durch Umlaut oder seltener gar nicht (d.h. nur extern durch den Artikel) markiert. Es gibt nun eine Reihe von Indizien dafür, daß sich dieses morphologische Exponentensystem vereinfacht, indem Pluralmarker auch dort eingeführt werden, wo sie früher gefehlt haben (vgl. die Kumpels, die Fräuleins, die Mädeln, die Dackeln, die Stiefeln); weitere Vereinfachungen betreffen den Übertritt von der n- zur s-Pluralklasse bei vokalisch auslautenden Nomina, etwa im Aromas, Kontos, Schemas (statt Aromen, Konten, Schemen)26, und den Übertritt von der n- zur e-Pluralklasse bei den

24 Ausnahmen sind Dressler 1987: l lOf, Antilla 1975. 25 Einige Autoren führen Transparenz (1:1-Beziehung zwischen Form und Bedeutung) oder Systemadäquatheit als eigene Teleologien auf; es scheint mir jedoch möglich und nützlich, sie unter Ikonismus (vor allem diagrammatischen Ikonismus) zu subsumieren, wie dies im vorliegenden Überblick geschieht. 26 In einigen regionalen Umgangssprachen ist diese Tendenz zum s-PIural noch wesentlich ausgeprägter; vgl. für das Ruhrgebiet Formen wie Kinners, Mödkens, Dackels, Stiefels, Äugskes ('Äuglein'). (Diese Beispiele verdanke ich V. Hinnenkamp.)

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Maskulina (schon abgeschlossen in Greise, Hahne, Monde statt früherem Greisen, Hahnen, Monden). Die D-Ikonizität innerhalb der Morphologie ist ein semiotisches Verweissystem von sprachlichen auf sprachliche Strukturen ("Systemadäquatheit" im Sinne Wurzels). DIkonizität in der Morphologie kann aber auch Konstellationen sprachlicher mit sprachunabhängigen (außersprachlichen) Merkmalen in eine Abbildungsbeziehung bringen. Die Bestandteile von Systemen morphologischer Kategorien sind oft pragmatisch und formal gesehen nicht gleichwertig. Zum Beispiel ist Singular im Vergleich zu Plural eine unmarkierte Kategorie, Nominativ gegenüber den anderen Kasus, Aktiv gegenüber Passiv, Präsens den übrigen Tempora gegenüber, usf. Mayerthaler führt solche Markiertheitsverhältnisse auf die prototypische Kommunikationssituation zurück, in der der Sprecher menschlich, einzeln (definit), gegenwärtig und handlungsfähig ist, und leitet aus diesem Ungleichgewicht die Erwartung ab, daß natürlichere morphologische Ausdruckssysteme diese prototypische Kommunikationssituation konstruktioneil abbilden. Das natürlichere, ikonischere morphologische System ist demzufolge eines, in dem die pragmatisch markierte Kategorie auch durch ein 'Mehr' an Form ausgedrückt wird. Zur Teleologie der l:l-Zuordnung von Form und Bedeutung kommt also eine zweite: mehr Form bildet ikonisch mehr Bedeutung (= Abweichung vom pragmatischen Normalfall als "default assignment") ab. Entsprechend ist die Pluralkodierung durch Suffix oder durch Längung ikonischer (natürlicher) als die durch Umlaut, die Nicht-Markierung des Plurals nicht-ikonisch, die Markierung durch Wegnahme eines im Singular vorhandenen Elements kontra-ikonisch (z.B. russ. Gen..Sg. gosudarstvo Gen.Pl. gosudarstv 'Staaten'; dt. Eltern · Elternteil27). Dasselbe Kriterium läßt sich auch auf die Derivationsmorphologie anwenden, wo markierende semantische Kategorien (z.B. Agentiv oder deverbale Nominalisierung), die der Wurzel Bedeutung hinzufügen, nicht durch subtraktive morphologische Prozesse gebildet werden dürfen, wenn sie natürlich sein sollen; vgl. etwa die in diesem Sinn unnatürlichen Formen Linguistik > Linguist, ital. revocare > revoca.™ Morphologische Irregularitäten - vor allem die Suppletion - sind in diesem Sinne unnatürlich, weil sie den diagrammatischen Ikonizitäts-anforderungen widersprechen; analogischer Ausgleich ist hingegen als Zunahme der D-Ikonizität (Systemadäquatheit) zu werten und entsprechend eine natürliche Tendenz des Sprachwandels. Daß sich Suppletionsparadigmen bei hochfrequenten Lexemen entgegen natürlichen Voraussagen trotzdem halten können und gegen den Sprachwandel sogar erstaunlich resistent sind, scheint mir (entgegen Werner 1987) der Natürlichen Morphologie keinen Abbruch zu tun. Meist entsteht Suppletion ja nicht um ihrer selbst willen, sondern als Folge phonologischer Lenisierungsprozesse oder als Folge des lexikalischen Wandels (vgl. Ronneburger-Sibold 1987). Sie hat also durchaus natürliche Gründe. Zu erklären ist allerdings, warum diese 27 Die Umgangssprache zeigt Tendenzen, hier die natürlichere Neubildung Eiter einzuführen. 28 Die letztgenannten Beispiele sind aus Giacalone Ramat (1985). Vgl. auch Dressler 1987: lOlff. Typisch sind in solchen Fällen umgangssprachliche 'falsche' Bildungen, die die Natürlichkeit (Diagrammatizität) wieder herstellen, also z.B. Linguistiker oder wocazione.

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Gründe, die außerhalb der Morphologie liegen (meist im Lexikon oder in der Phonologie), im Falle der Suppletion die Oberhand über natürliche morphologische Gesichtspunkte wie Transparenz oder Uniformität gewinnen können, während dies sonst nicht der Fall ist. Die naheliegende Antwort ist, daß sich die Sprache sozusagen morphologische Unnatürlichkeit erlaubt, gerade um hochfrequente und/oder psychologisch besonders zentrale Lexeme, die als ganze gespeichert werden, aus dem Kontext der regelmäßigen Lexeme herauszuheben. Daraus darf man aber nicht schließen, daß Ikonismus und Irregularität gleichberechtigte Tendenzen der Morphologie und gleichermaßen natürlich sind. Die Suppletion kann nur funktionieren, weil sie vor dem Hintergrund der Regularität als 'Normalfair steht; sie ist selbst in der Morphologie der flektierenden Sprachen der "Sonderfall" (Werner 1987: 303) und kann in den agglutinierenden auf ein Mindestmaß zurückgehen; schließlich ist sie durch die Übergeneralisierungen auf der Grundlage der produktiven Regeln im Erstspracherwerb klar als unnatürlich ausgewiesen. Auch in der Morphologie gibt es nicht nur natürliche Ikonisierung, sondern auch natürliche Indexikalisierung. Vor allem die endophorische Indexikalität spielt in der Morphologie eine wichtige Rolle. Sie betrifft (auf der Schwelle zur Syntax) die Beziehungen, die mit morphologischen Mitteln zwischen den Wörtern hergestellt werden (Kongruenz durch Genus, Nominalklassifikatoren, etc.), die Reihenfolge, mit der sich die morphologischen Affixe an die Wurzel anschließen und (auf der Schwelle zur Phonologie) die Kontiguitätsbeziehungen zwischen allomorphischen Varianten (z.B. verweist engl. auch- endophorisch auf -ess). Zu diesem in sich sehr komplizierten Bereich sei hier lediglich auf Dressler (1987) und Antilla (1975) verwiesen. Exophorisch indexikalisch, weil vom Wissenskontext der Benutzer abhängig, sind nicht-transparente derivative und kompositioneile Bildungen. Die semantische Ambiguität dieser Bildungen ist nur durch Konvention oder unmittelbaren Kontext auflösbar; sie verweisen also aus der sprachlichen Struktur in den Wissenshintergrund oder auf das sprachliche Umfeld. Viele deutsche Komposita gehören zu diesen indexikalischen morphologischen Bildungen; vgl. etwa das von Heringer ausführlich diskutierte Beispiel der Fischfrau (Heringer 1984), den kürzlich erfundenen Hurenball (für, von oder mit? [Berlin]), die Standpackung (für Milchtüten, die stehen können, nicht etwa den Kioskverkauf [Packungsaufdruck]) oder die Gesundheitsbildung (nicht Bildung der Gesundheit, sondern Bildung zum Zwecke der Volkshygiene [München]). Exophorisch sind außerdem jene Prozesse in den morphologischen Randbereichen des Lexikons einzustufen, die Wörter erzeugen, deren Bedeutung nicht kompositionell, sondern intertextuell hergestellt wird. Ich meine hier vor allem die Eigennamen. Sie sind Kürzel, die den sprachlichen Kodierungsaufwand verringern; andererseits sind sie, auch wenn durchsichtige morphologische Bildungsweisen vorliegen, semantisch nicht aus ihren Einzelteilen rekonstruierbar. Die gängige Bedeutungstheorie für Eigennamen29 nimmt an, daß sie ihre referentielle Kraft aus dem Rückverweisen in einer Kette von Namenverwen-

29 Vgl. Kripke 1972.

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düngen beziehen, die schließlich in einem Taufakt endet. Da in solche Ketten von Namenverwendungen in vielen Fällen nicht alle, sondern nur eine mehr oder weniger große Gruppe von Sprachbenutzern einer Sprachgemeinschaft eingebunden sind, haben Eigennamen eine doppelte indexikalische Kraft: einerseits verweisen sie auf frühere Namenverwendungen, andererseits auf die soziale Gruppe, der der Sprecher angehört, und die sich, unter anderem, durch die Kenntnis des Namens auszeichnet. Eigennamen sind deshalb nur dann als Kürzel verwendbar, wenn Sprecher und Rezipient zu einer gemeinsamen Gruppe gehören.30 Neben den Eigennamen indizieren zahlreiche andere Wortarten soziale Zugehörigkeit und soziales (auch fachsprachliches) Wissen; die Fähigkeit, Akronyme aufzulösen und semantisch opake Kompositions- bzw. Derivationsbildungen zu verstehen, verweist auf gruppenspezifische Wissensbestände, die klar jenseits des allgemeinen sprachlichen Wissens liegen. (Wer z.B. die tatsächliche, aus ihren Bestandteilen nur sehr wenig komponierbare Bedeutung der Komposita Festplatte, Echtzeit, Windowtechnik, Softwarelösung kennt, wer die eigenartige Lehn-(Falsch-)Übersetzung künstliche Intelligenz versteht, obwohl sie nicht aus der Semantik von künstlich rekonstruiert werden kann, wer die Abkürzungen Modem (Modulator-Demodulator) oder Pixel (picture element) auflösen kann, zeigt, daß er in eine Fachsprache eingeweiht ist, die nur einer Untergruppe der Sprecher des Deutschen geläufig ist.) Auch manche morphologische Bildungsweisen selbst haben solche exophorische Verweiskraft; ein einschlägiges Beispiel aus jüngster Zeit sind die halbproduktiven Derivierungen auf -i, wie in Wessi, Knacki, Schicki-Micid, Studi, die als 'Szenesprache' gelten. Opake Komposita und Derivationen sowie selbstverständlich Eigennamen und Akronyme werden oft von sozial definierten Untergruppen einer Sprechgemeinschaft eingeführt (via Fachwortschatz, Gruppenjargons, Sondersprachen), auch wenn sie später in das gemeinsame Repertoire der gesamten Sprechgemeinschaft - sogar in den Standard Eingang finden. Sie verweisen aber, noch lange nachdem sie die sie schaffende soziale Gruppe verlassen haben, auf deren sprachliches (und meist auch nicht-sprachliches kulturelles) Sonderwissen. Bekanntlich interagieren die Natürlichkeitstendenzen in der Phonologie oft mit denen in der Morphologie, so daß die beiden Ebenen immer zusammen betrachtet werden sollten.31 Etwa geht die Anwendung kontextsensitiver Lenisierungsregeln in der Phonologie (Indexikalisierung) nicht nur zulasten der phonologischen, sondern auch zulasten der morphologischen Ikonizität (vgl. z.B. die Kurzformen ge:.m, le:m, ne:.m aus /ge:ben, le:ben, nermen/, die neue Exponenten für die Lexeme {leb-, geb-, nehm-} einführen) Indexikalitätsabnahme in der Phonologie kann zu mehr, aber auch zu weniger morphologischem Ikonizität führen.

30 Vgl. Auer 1983. 31 Nach gängiger Darstellung (z.B: bei Wurzel 1981: 31ff) geht die Natürlichkeit in der Phonologie zulasten der Natürlichkeit in der Morphologie. Dabei wird in der Phonologie Natürlichkeit mit Indexikalität (Lenisierung), in der Morphologie aber mit Ikonizität gleichgesetzt. Das ist aber, wie gezeigt, unzureichend.

44 2.4 SYNTAX UND TEXT Für die Syntax und Textkonstitution gibt es erstaunlicherweise noch keine explizite Natürlichkeitstheorie. Allerdings kann man viel von dem, was Givon (1979) unter dem Stichwort "pragmatischer" vs. "grammatischer" Modus diskutiert, als Ikonismus in der Syntax bzw. im Text verstehen; zum Ikonismus in der Syntax haben sich zahlreiche Linguisten geäußert (vgl. Haiman 1980, Posner 1980 u.a.); Behaghels "Gesetze" (1932:4) formulieren teilweise ikonische und indexikalische Grundprinzipien; die aus der Sprachtypologie bekannten Dominanzhierarchien (wie semantische Rollenhierarchien für Subjekt- und Objekthaftigkeit, Familiaritätshierarchien, die Topic > Comment- und "given" > "new"-Hierarchien, "animacy hierarchies"; vgl. zusammenfassend Siewierska 1988) stellen natürliche Abbildbeziehungen zwischen kognitiver und sprachlicher Strukturierung dar; funktionale Syntaktiker wie Kuno (1987) arbeiten mit natürlichen Prinzipien; und die Diskussion um die ordo naturalis. war, wie oben im Fall des Geoffroi de Vinsauf angedeutet, schon in der Scholastik ein Thema. Ordo naturalis (besonders die Abbildung von Ereignisfolgen auf die "event clauses" in einem Narrativ), Zitate anstelle indirekter Redewiedergabe u.a. sind triviale, D-ikonische bzw. materiell-ikonische Verfahren, die auf Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen Dargestelltem und darstellender Form beruhen. Ebenso eindeutig ikonisch ist die schon erwähnte textuelle Kohärenzbildung durch Wortwiederholungen (anstelle von Pronomina) oder durch rekurrierende syntaktische Muster. Damit ist aber der Bereich des Ikonismus auf der Syntax- und Textebene keineswegs erschöpft. Jakobson (1966) und viele andere haben darauf verwiesen, daß die Ähnlichkeitsrelation, die für das D-ikonische Zeichen konsumtiv ist, nicht in erster Linie zwischen dem physikalischen Objekt und dem sprachlichen signifiant besteht. Vielmehr ist die Entität, die vom ikonischen Zeichenbildungsverfahren in eine Ähnlichkeitsbeziehung zur sprachlichen Zeichengestalt gestellt wird, eine kognitive Repräsentation.32 D-ikonische syntaktische und Textbildungsverfahren sind folglich (auch) solche, die kognitive Strukturen und Prozesse möglichst gut in die sprachliche Zeichensubstanz abbilden. So ist die sprachtypologisch attestierte Dominanz von Sprachen, die das Subjekt vor das Objekt (und/oder vor das Verb) stellen (SX ist wesentlich häufiger als XS), auf ein ikonisches Prinzip zurückzuführen: das Subjekt enthält typischerweise das Thema des Satzes, über das in der Verbalphrase als Rhema etwas ausgesagt wird; und das Thema legt - im Sinne der Gestaltpsychologie33 - den Grund, auf dem dann etwas als Figur fokussiert wird. Hier wird keine Objektrelation in der realen Welt, sondern die kognitive Präzedenz

32 Auch bei Peirce heißt es (zit. in Jakobson 1966): The order of elements in language parallels that in physical experience or the order of knowledge" (meine Unterstreichungen). Ähnlich argumentiert Eco 1972: 213. 33 Rubin 1915/1921.

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des Grunds vor der Figur im Vorher-Nachher der S X-Beziehung D-ikonisch abgebildet.34 Noch natürlicher (d.h. weniger grammatikalisierend) verfahren Sprachen, die kein grammatisches Subjekt kennen und der Syntax einfacher Aussagesätze statt einer Subjekt/Prädikateine Topic/Comment-Struktur zugrundelegen,35 und entsprechend ikonisierend sind Tendenzen in den umgangssprachlichen Varianten von Subjekt/Prädikat-Sprachen einzustufen, den "topic", wenn er nicht im Subjekt kodiert ist, durch Linksversetzungen in die Anfangsstellung zu bringen.36 (Bekannt sind die einschlägigen Verfahren des Französischen vom Typ mon ami, son livre, je le lui ai .37) Weitere Beispiele solcher kognitiv begründeten Ikonizität in der Syntax sind die Adjektiv-Stellung z.B. im Deutschen, wo die näher am Bezugsnomen stehenden Adjektive mehr als die periphereren auf 'innere' Eigenschaften des Gegenstands verweisen, vgl. meine vier schönen großen blauen hölzernen Kugeln, (Seiler 1976, Posner 1980), die Stellung der Adverbialphrasen im Chinesischen (Tai 1985) oder die Abbildung sozialer oder pragmatischer Dominanzstrukturen in Konjunkten. (Beispiel für das erste etwa: prestigereichere Person wird zuerst genannt, z.B. Hohes Gericht, meine Damen und Herren; Beispiel für das zweite: umgangssprachliche Tendenz zur Voranstellung des Pronomens ich - ich und mein Bruder, verboten qua Konvention in den höheren Sprachschichten.) Zwischen Morphologie und Syntax steht die Reduplikation als ikonisches Zeichenbildungsverfahren. An ihrem Beispiel läßt sich gut deutlich machen, daß auch in Fällen offensichtlicher natürlicher Zeichenbildung immer auch konventionalisierte Aspekte eine Rolle spielen: die Reduplikation kann einerseits Bestimmtheit ausdrücken (ital. presto presto36), andererseits auch Vagheit (so im Hausa: ja 'rot', ja-ja 'rötlich'39). Als letztes Beispiel für syntaktisch-textuellen D-Ikonismus sei die Präferenz für linke anstelle von rechten Grenzmarkierungen in Einbettungen genannt, die sich wieder auf die gestaltpsychologische Präzedenz des Grunds vor der Figur zurückführen läßt. Von einer bestimmten Größe und Komplexität an werden subordinierte sprachliche Einheiten diskursiver oder syntaktischer Art durch eigene Einleitungs- oder Schlußmarkierungen von der superordinierten Struktur abgesetzt. Solche Rahmungssignale sind am Anfang wichtiger, häufiger und unvermeidlicher als am Ende der subordinierten Struktur. Dies zeigt sich etwa an den in der Konversationsanalyse untersuchten Sequenzvorläufen ("pres") wie darf ich

34 So argumentiert z.B. Vennemann 1973:27f, ohne allerdings den Begriff Ikonizität zu verwenden. Ebenso spricht Plank (1979) von einer "Parallelisierung von Wahrnehmungsverlauf oder Denkverlauf und Satzgliedanordnung". 35 Vgl. für das Chinesische: Li & Thompson 1976. 36 Man muß allerdings berücksichtigen, daß bei der Anordnung des Topic vor dem Comment auch Kontiguitätsaspekte eine Rolle spielen, weil der vorangestellte Topic näher am Vor-Text ist, in dem der Hintergrund aufgebaut wird, auf den er sich bezieht. 37 Vgl. F. Müller 1987 (MS). 38 Wierzbicka 1986. 39 Vgl. Plank 1979: 158.

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Dich was fragen?, ich hab da ein Problem, etc.40, an Themeneinleitungen wie da fällt mir ein..., apropos... oder an Textgliederungsverfahren (ich komme nun zum nächsten Punkt...); es gibt zwar auch entsprechende Schlußmarkierungen, diese scheinen jedoch weniger wichtig zu sein als die Anfangsmarkierungen, denn wenn eine von beiden fehlt, dann ist es die Schlußmarkierung. Dasselbe Ungleichgewicht findet sich aber auch in der Syntax subordinierter satzwertiger Strukturen: ihre Einleitung durch Subjunktionen erleichtert ihre Prozessierung mehr als ihre Ausleitung oder das Fehlen von Komplement-Markierungen. Entsprechend sind Subordinierungen durch vorangestellte Marker natürlicher (weil ikonischer) als solche durch nachgestellte; tatsächlich findet sich eine entsprechende Tendenz zur Ummarkierung zum Beispiel im Türkischen, das umgangssprachlich dazu tendiert, die links vom Bezugsnomen stehenden Partizipialkonstruktionen durch ki'eingeleitete', rechtsstehende 'Nebensätze' zu ersetzen.41 Die bisher erwähnten Fälle von Ikonizität in der Syntax betrafen die Ähnlichkeit zwischen Konstellationen sprachlicher und außersprachlicher (hauptsächlich kognitiver) Strukturen; aber selbstverständlich spielt auch die D-Ikonizität innerhalb der Grammatik ("Systemadäquatheit") in der Syntax eine wichtige Rolle. Am deutlichsten wird sie vielleicht in der typologischen Tendenz, daß Sprachen die Stellung von Nukleus und Satellit ("head" und "modifier") einheitlich handhaben (vgl. Greenberg 1966, ausführlicher dazu Vennemanns Prinzip der "natürlichen Serialisierung", etwa Vennemann 1973). Schließlich zum Index auf der Syntax- und Textebene. Im Begriff der "Indexikalität" ist dieses Verfahren der Zeichenbildung teilweise mit "Situationsabhängigkeit" identifiziert worden (erinnert sei an Bar-Hillel und Teile der formalen Semantik), d.h. man hat vor allem Pronomina und andere deiktische Elemente (Adverbien, Tempusformen, etc.) als indexikalisch eingestuft. Aus der Peirceschen Perspektive ist dies aber eine arge Einengung. Eine Kontiguitätsbeziehung zwischen Repräsentamen und Objekt kann nämlich auch durch innertextuelle Nähe hergestellt werden. Es sind demzufolge die folgenden indexikalischen Strategien zu unterscheiden: a) exophorische Verweise, d.h. Kontiguitätsbeziehungen zwischen Sprache und Kontext, wobei zum Kontext sowohl die raum-zeitliche ("symphysische", im Sinne Bühlers) Sprechsituation zählt, als auch die Hintergrund-Wissensbestände der Teilnehmer. Weil sich in der gesprochenen Sprache solche Kontiguitätsbeziehungen im Vergleich zur schriftlichen enorm vermehren, kann sie es sich mehr als jene erlauben, die Versprachlichung zu minimieren42 und mögliche Verstehensprobleme der dialogischen Klärung, also der Reparaturarbeit zu überlassen. Neben den deiktischen sprachlichen Ausdrücken gehören hierher auch Ellipsen, vor allem Kontextellipsen.43

40 Vgl. Schegloff 1980. 41 Vgl. Antinucci, Duranti & Gebert 1979; Auer, im Druck (b). 42 Sacks & Schegloff 1979, Levinson 1987. 43 Zum Begriff der Kontextellipse siehe Auer & Di Luzio 1988.

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b) endophorische Verweise auf das textuelle Umfeld, und zwar besonders auf die Vorgängerstrukturen im Text (Anaphora) und c) (davon nicht unabhängig) das Näheprinzip, das von Behaghel (1932:4) kurz und bündig so formuliert wird: "Das oberste Gesetz ist dieses, daß das geistig eng Zusammengehörige auch eng zusammengestellt wird". Im Mündlichen setzt sich dieses Prinzip oft gegen explizite Markierungen der Beziehung zwischen linguistischen Strukturen durch. Stehen z.B. zwei Sätze nebeneinander, so wird unterstellt, daß sie in einer semantischen Beziehungen zueinander stehen (etwa einer temporalen, kausalen, konsekutiven). Das Nähe-Prinzip besagt außerdem, daß syntaktisch und/oder semantisch zusammengehörende Elemente auch dann nicht zuweit voneinander entfernt werden sollten, wenn der Bezug zwischen ihnen strukturell eindeutig ist. Aus diesem Grund werden z.B. im Deutschen Satzklammern vermieden bzw. aufgelöst, wenn das eingeklammerte Material zu umfangreich erscheint.

2.5 ZUSAMMENFASSUNG:

NATÜRLICHKEIT IN DER GRAMMATIK

Auf allen Ebenen der Sprachstruktur gibt es also dieselbe Spannung zwischen natürlichen Tendenzen einerseits und konventionalisierten Strukturen andererseits. Die natürlichen Tendenzen zerfallen jeweils in ikonisierende und indexikalisierende, wobei die ersteren größere Transparenz erzeugen und daher die Anforderungen an den Rezipienten verringern, während die letzeren die linguistische Transparenz zugunsten der Kürze oder Aussprechbarkeit verringern und dafür vom Rezipienten verlangen, Verbindungen zum sprachlichen oder nicht-sprachlichen Kontext herzustellen. Die folgende Zusammenstellung zeigt die einzelnen Verfahren noch einmal - mit Beispielen - im Überblick: Natürliche Tendenzen in der Grammatik Prosodie -ikonisch: l:l-Beziehung zwischen rhythmischer und semantischer Gruppierung, steigende/ fallende Intonation als Sequenzierungsindikator Phonologic - ikonisch: - materieller Bconismus: maximale substantielle Ähnlichkeit zwischen Regel-Input und Output, Onomatopoetisches - diagrammatischer Ikonismus: Uniformität von Prozessen, biuniqueness - indexikalisch: - endophorisch: kontextabhängige Prozesse (Assimilationen) - exophorisch: redundanzreduzierende Allegroprozesse Morphologie - D-ikonisch: - zwischen grammatischen und pragmatischen Strukturen:' 'mehr Bedeutung = mehr Form1 - innerhalb der Grammatik: 'eine Form - eine Bedeutung', Analogie, Synonymabbau

48 - indexikalisch: - exophorisch: nicht-transparente Komposita, Abk., Eigennamen qua "rigide Designatoren" - endophorisch: Nähe des Affixes zur Wurzel, Kongruenz, Allomorphie Syntax und Text - ikonisch: - materiell: Wiederholungen, direkte Rede - diagrammatisch zwischen pragmatisch-kognitiven und sprachlichen Strukturen: ordo naturalis, SX vor XS, Topic/ Comment, Adjektivreihenfolge, Präferenz für linke vor rechten Klammern - diagrammatisch innerhalb der Grammatik: natürliche Serialisierung - indexikalisch: - exophorisch: Deixis und Kontextabhängigkeit - endophorisch: Näheprinzip, Anaphern/ Kataphern.

Das Dreieck zwischen Konventionalisierung, Indexikalisierung und Ikonisierung stellt nun eine wichtige strukturelle Potentialität für Stil dar, oder anders gesagt: in dieser Spannung lassen sich viele Stile strukturell verorten. Ein konkreter Stil kann dabei mehr oder weniger nah an den drei Polen lokalisiert werden, und zwar oft durchgängig auf allen grammatischen Ebenen in ähnlicher Weise, manchmal auch auf den einzelnen Ebenen unterschiedlich.

3. BEISPIELE In diesem Abschnitt sollen einige Beispiele für die Rolle natürlicher Prinzipien bei der Konstitution verschiedener Stile vorgestellt werden. Wieder kann im gegebenen Rahmen nicht mehr geleistet werden, als einige Möglichkeiten anzudeuten, wie bestimmte Stilmerkmale semiotisch unter Natürlichkeitsgesichtspunkten gesehen werden können.

3.1 LERNERSPRACHEN UND FOREIGNER TALK Klaus Müller hat in einer umfangreichen Arbeit (K. Müller, MS) die sprachlichen Strukturen in Lernersprachen (er bezieht sich auf den Zweitspracherwerb, seine Ergebnisse sind aber teils wohl auch auf den Erstspracherwerb übertragbar) und in der Sprache der mit Lernern interagierenden Muttersprachler (auch hier wären wohl Ausweitungen auf das "motherese" möglich) untersucht. Sein Ergebnis ist (sehr vereinfacht), daß in solchen Interaktionen, wenn man sie mit denen zwischen Muttersprachlern vergleicht, eine Mischung aus indexikalisierenden ("kontextuelle Semantik") und ikonisierenden Strategien in den Vordergrund tritt. Erstere sind wohl eher für die früheren, elementaren Stadien der

49 Kommunikation zwischen Lernern und Muttersprachlern kennzeichnend, letztere für die fortgeschritteneren. Zur "kontextuellen Semantik" zählt K. Müller "externe Kontextualisierungshinweise" (exophorische Kontextualisierung) wie die demonstratio ad oculos. personale Deixis, Empraxis, die Verwendung von Heckenausdrücken; dazu kommen in Müllers "natürlicher Semantik" ikonische Kodierungsformen, etwa: expressive Dehnungen und ikonische Intonationskurven, vokale Mimesis, Pronomenflucht, in der Lexik Abbau von Mehrdeutigkeiten zur Unterstützung des Grundprinzips 'eine Form - eine Bedeutung' und eine Präferenz für Konkreta anstelle von Abstrakta (als Fall von Metonymie würde ich diese allerdings eher zur Indexikalität zählen), Präferenz für Eigennamen (sie unterstützen das l:l-Prinzip), in der Morphologie Reduplikationen (cf. Hinnenkamps Beispiel: was is los Ali, du boxbox mit Deiner Frau) und einmalige Markierung morphologischer Kategorien durch Adverb bzw. Pronomen anstelle der (teils die Markierung verdoppelnden) Verbalaffixe (gestern ich komme statt ich kam), in der Syntax das "factorizing principle", durch das komplexe Sachverhalte sozusagen 'häppchenweise' formuliert und dem Rezipienten zur Bestätigung vorgelegt werden, die Verwendung eines eingeschränkten Repertoires ähnlicher Syntaxmuster (häufiger Infinitivgebrauch, unter anderem unterstützt durch die Verwendung von Modalverben), Rechtsverlagerungen und andere Ausklammerungsstrategien.44 Allgemein läßt sich sagen, daß viele der in der L2-Forschung diskutierten Vereinfachungsstrategien ikonischen Prinzipien folgen, indem sie die Sprache durchschaubarer und regelmäßiger machen. Der spezifische Stil von Sprachlernern und den mit ihnen interagierenden Muttersprachlern ist also durch eine Art von Natürlichkeit gekennzeichnet, die die Bedürfnisse des Lerners nach Rekonstruierbarkeit und Transparenz in den Vordergrund stellt und so den "input" für ihn optimiert.45

3.2 ERZÄHLSTILE In Auer & Di Luzio (1988) wird der Erzählstil italienischer Migrantenkinder mit dem gleichaltriger monolingualer Kinder in Italien verglichen. Hier geht es nicht oder nur teilweise um Lernersprachen, denn die untersuchten Kinder sprechen durchweg recht gut italienisch und deutsch, sondern um kulturelle Stile, die sich selbst dadurch auszeichnen, daß in ihnen unterschiedliche semiotische Verfahren (symbolische, indexikalische, ikonische Zeichenbildung) dominieren. Wir haben die dominanten Stile in den beiden Kindergruppen folgendermaßen zusammengefaßt:

44 Zum "factorizing principle" und zur Topic- anstelle von Subjekt-Markierung auch Harding 1984. 45 Natürlich trifft das nicht auf a]le Vereinfachungen in solchen Varietäten zu (vgl. die strukturelle Beschreibung des Foreigner-Registers z.B. bei Hinnenkamp 1982 und 1984). Aber die Strukturen des Foreigner-Registers sind ja auch nicht alle funktional und perzeptionserleichternd, und trotz universaler Tendenzen sind sie nicht frei von sprachspezifischen, symbolischen Kodierungen.

50 Stil A (Varesc)

Stil B (Konstanz)

redundant ausschmückend explizit verschoben indirekte Rede

elliptisch knapp inferenzreich situiert, analogische Deixis direkte Rede Onomatopöie szenisch-expressiv

episch-distanziert

Es ist nicht schwer, hinter der Charakterisierung des 'italienischen' Geschichten-Erzählstils (linke Spalte) symbolische und ikonische, hinter dem 'deutsch-italienischen' Erzählstil vor allem indexikalische (sowie teilweise ikonische) Zeichenbildungsverfahren zu entdecken. Wenn die untersuchten Konstanzer Kinder Geschichten erzählen, so sind diese extrem kurz und auf das Wesentliche beschränkt, syntaktisch und semantisch voller Ellipsen und empraktisch in das Umfeld der Äußerung eingebunden. Der Rezipient muß ständig auf der Hut sein: er muß ergänzen, was nicht gesagt wird, den Situationskontext beachten und Verweise darauf erkennen, sein Hintergrundwissen einsetzen, um Andeutungen zu verstehen und Inferenzen zu ziehen. Ikonische Elemente kommen zu diesen indexikalischen hinzu, wenn es um die szeni-sche Darstellung des Erzählstoffes geht: dann tritt Onomatopoesis an die Stelle der symbolischen Kodierungen der 'italienischen' Erzähler, direkte Rede an die Stelle der indirekten Redewiedergabe. Daß der bilinguale Stil den bei weitem größeren Unterhaltungswert hat, sei hier nur am Rande erwähnt.46

3.3 VOM MÜNDLICHEN ZUM SCHRIFTLICHEN IN DER ALTGRIECHISCHEN LYRIK Der Vareser Stil des Geschichtenerzählens zeigt Merkmale von Schriftlichkeit, die dem Stil der bilingualen, in der BRD sozialisierten Kinder mit seiner erhöhten Situations- und allgemein Kontexteinbindung fehlen. Auf eine diachrone Achse projiziert, stellt Rosier (1983) einen ähnlichen Unterschied zwischen der frühen und der späteren altgriechischen Lyrik fest. Die Entwicklung vollzieht sich von den ersten, nur wenig und indirekt überlieferten Werken, die ausschließlich für eine Aufführungssituation geschaffen (und vor allem auf Symposien in intimen Gruppen vorgetragen) wurden und in denen situationsabhängige (Anredeformen, demonstratio ad oculos. Imperativ) und wissensabhängige (Eigennamen) Referenzmittel verwendet werden, über wiederaufgeführte bzw. wiedervorgetragene Werke, die aus dem Kontext, für den sie geschaffen worden waren, in immer neue Situationen eingepaßt wurden und dabei die ursprüngliche direkte Deixis in Deixis am Phantasma

46 Der kondensierte Stil unserer deutsch-italienisch bilingualen, aber in der BRD sozialisierten Kinder findet sich in Schwitallas Beschreibung des von ihm schichtenspezifisch bewerteten Erzählstils deutscher erwachsener Arbeiter wieder (1988: 130).

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(Erinnerung, Vorstellung...) verwandelten, bis zur Lyrik für Leser, in der Deixis und Eigennamen nicht mehr oder nur noch in fiktionaler Verwendung vorkommen. Die zu beobachtende Verwandlung mündlicher (Hör-) in schriftliche (Lese-)Texte geht also mit der Abnahme indexikalischer sprachlicher Mittel in diesem Texten Hand in Hand, die deren Einbettung in das Umfeld herstellen.

3.4 SPRACHWANDEL: VOM EXPLIZITEN ZUM KOMPRIMIERTEN STIL Nach von Polenz (1985) und anderen ist es eine "Entwicklungstendenz des deutschen Sprachbaus", daß komplexe Inhalte zunehmend nicht durch ihnen entsprechende komplexe sprachliche Ausdrucksmittel (wie Hypotaxe, Erweiterungen) ikonisch abgebildet werden, sondern durch verkürzte und ungenaue, dafür aber Zeit und Raum sparende Mittel. Diese neuen Ausdrucksmittel für komplexe Inhalte sind "elliptisch, kompakt und implikativ"; sie sind semantisch "unterdeterminiert", eine "ökonomische Routinesprache" (S.29), können aber bei Verständigungsproblemen durch explizitere Formulierungen aufgelöst werden. Wenn unterstellt werden darf, daß diese Analyse für die Syntax und die Wortbildung des Gegenwartsdeutsch zutrifft, so läßt sie sich als De-Ikonisierung (also Konventionalisierung) und zugleich als Indexikalisierung (zunehmende exophorische Kontextabhängigkeit) verstehen. Die neuen Strukturen, die von Polenz nennt, zeichnen sich durch verstärkte Undurchsichtigkeit aus; was gemeint ist, kann nicht mehr durch strukturelle Analyse erschlossen werden, man muß wissen, was sie als Ganzes bedeuten. Als Beispiel vergleicht von Polenz die 10 Gebote in der Luther-Fassung mit den Grundrechten aus dem Grundgesetz und stellt unter anderem fest: anstelle der Hypotaxe in den 10 Geboten findet sich im GG fast nur einfache Parataxe, obwohl die ausgedrückten Inhalte wesentlich komplexer sind (De-Ikonisierung); das GG kommt fast ohne die explizite Kennzeichnung semantischer Verknüpfungen aus: wo sie in den lo Geboten expliziert werden (sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Dinge beschicken; aber am siebenten Tag ist der Sabbat des Herrn...), müssen sie im GG erschlossen werden (Indexikalisierung); stattdessen ist das GG voll von Nominalisierungen und komplexen Attributen (Verpflichtung aller staatlichen Gewalt, Recht der persönlichen Ehre), während in den 10 Geboten z.B. Satznominalisierungen ganz fehlen und Attribute nur einstufig sind - d.h. an die Stelle der komplexen Satzstrukturen treten komplexe NP-Strukturen mit unklaren Bezügen (Indexikalisierung). Zugleich verringert sich im GG allerdings die situative Einbettung (Deixis) des Textes: während in den 10 Geboten der Sprecher explizit genannt wird (ich bin der Herr, dein Gott...) und sich in Imperativen an seine (generalisierten) Rezipienten wendet (du sollst...), ist die Handlungsstruktur des GG sehr abstrakt und aus der Situation verschoben. Die konstatierte Abnahme der Ikonizität korreliert also mit einer Zunahme der exophorischen Verweise auf den Wissenskontext, aber mit einer Abnahme der Situations-Verweise. Das Beispiel macht deutlich, daß Sprachwandel nicht unbedingt mit Natürlichkeitszunahme verknüpft ist. Man sollte vielmehr umgekehrt davon ausgehen, daß jede Form von

52 Sprachwandel, auch wenn sie eine Zunahme der indexikalischen oder der ikonischen Zeichenbildungsverfahren mit sich bringt, schon deshalb ein kulturell geprägtes Ereignis sein muß, weil aus dem Angebot an Möglichkeiten, wie Natürlichkeit zu realisieren ist (Indexikalität vs. Ikonizität, verschiedene grammatische Ebenen), manche zulasten anderer ausgewählt werden. Zudem gibt es selbstverständlich immer soziale Gruppen, die sich dadurch definieren, daß sie natürliche Entwicklungstendenzen ablehnen und - durch 'Sprachwandel von oben' oder durch die bewußte sprachpflegerische Tätigkeit bestimmter Institutionen - konventionell-unnatürliche sprachliche Elemente einführen oder bewahren. Durch Übernahme aus Substandard- und Fachsprachen, Dialekten und Fremdsprachen können ebenfalls nicht-natürliche Veränderungen in einer Sprache ausgelöst werden. (Im Fall des GG spielt sicherlich der Einfluß der juristischen Fachsprache eine Rolle.) Die Veränderungen in der Syntax des Deutschen, die von Polenz aufzählt, implizieren nicht, daß das Deutsche immer natürlicher wird; es verlagern sich eher die natürlichen Strukturen vom ikonischen in den indexikalischen Bereich. Noch einmal sei darauf hingewiesen, daß dadurch Kürze (Ökonomie) und teils auch weniger struktureller Kodierungsaufwand, also sprecherunterstützende Faktoren, durch gesteigerte Interpretationsleistung des Rezipienten erkauft werden.

3.5 HOFLICHKEITSSTILE Es ist bekannt, daß in Sprachen mit grammatikalisierten Höflichkeitsformen die formellrespektvollen im Vergleich zu den intimeren Varianten entweder morphologisch und/ oder pragmatisch markiert sind.47 Im Sinne der Natürlichkeitstheorie sind diese markierten Formen Verstöße gegen natürliche semiotische Tendenzen; sie vermeiden entweder die Referenz auf die zentralen Rollen der Sprechsituation (Hörer, Sprecher) ganz - versprachlichen also das für die Sprechsituation Konstitutive gar nicht - oder sie kodieren die zentralen Rollen der Sprechsituation mit einfacheren Formen als die weniger zentralen (wie: Referenz auf mehrere Sprecher, mehrere Rezipienten, Sprecher und Hörer etc.). Beispiele für Natürlichkeitsabnahme in höflicheren Stilen sind: -

bei den Personalpronomina die vous-Varianten (etwa im Französischen, Deutschen, Türkischen), bei denen die pragmatisch unnatürlicheren (Mehrzahl statt Einzahl) und morphologisch markierteren (komplexeren) Formen an die Stelle der natürlicheren (ikonischeren) treten, aber auch die indirekte Markierung durch die 3. Person (anstelle der 2.) wie z.B. im Italienischen;

47 Vgl. Brown & Levinson 1978; Weinrich (1986) postuliert, daß von zwei Formen immer die "weniger scharf konturierte" als Höflichkeitsform eingesetzt werde; zum Deutschen verweist er auf J. Grimms Rede "Über das Pedantische in der deutschen Sprache" (1847); für Grimm kommt die Sie-Anrede aus der "schwülen luft galanter höflichkeit" (Frankreichs); sie wird als verschleiernd-indirekt kritisiert. Grimm empfiehlt dagegen die "Rückkehr zur Natur", nämlich zum einfachen Du (1847 [1984: 129]).

53 -

allgemein indirekte Personenreferenz durch Umschreibungen (Vermeidung der Personalpronomina vor allem der ersten, teils auch der zweiten Person), wie z.B. im Javanischen48 oder Japanischen.49 In allen Fällen geht die höflichere Referenzform zulasten des ikonischen Prinzips "eine Form - eine Bedeutung" sowie gegen den pragmatischmorphologischen Ikonismus, den Sprecher durch die einfacheren Formen zu bezeichnen; - morphologisch komplexere und pragmatisch indirekte Verbalformen in höflicher Ausdrucksweise, v.a. bei Bitten (z.B. dt. würden Sie..., ital. potrebbe..., Unmöglichkeit der Verwendung des Imperativsuffixes in allen Stilebenen des Javanesischen außer den beiden niedrigsten, Ngoko-lugu und Antyo-böso). Dieselbe Tendenz zur unnatürlichen, indirekten Ausdrucksweise in den höflicheren Sprachstilen zeigt sich auch auf der Textebene; indirekte 'Sprechakte' sind grosso modo höflicher als direkte, bestimmte Formen redundanten Fonnulierens können phatische Akte wie Beschwichtigung und Versicherung der Wertschätzung ("face-work") darstellen (vgl. K. Müller 1979). Auf der anderen Seite stehen extrem indexikalisierende konversationelle Strategien, die für sehr informelle, direkte Kommunikationskontexte typisch sind.50

3.6 SOZIALE STILE Schließlich läßt sich die Unterscheidung zwischen natürlichen und konventionalisierten Kodierungsformen auch auf klassen- oder Schichten-spezifische Sprechweisen anwenden. Leider ist es hier weitgehend unmöglich, auf empirische Untersuchungen zurückzugreifen. Ich will lediglich versuchen, die Konvergenz zwischen Bourdieus theoretischem Ansatz und den linguistischen Natürlichkeitstheorien darzustellen. Es ist hierbei davon auszugehen, daß - zumindest historisch - die jeweils spezifischen, konventionellen Überformungen von Sprache Teil der von Bourdieu so genannten legitimen Kultur sind und von den oberen Klassen der Gesellschaft gerade zu dem Zweck kodifiziert werden, Distinktionen zu den niederen Klassen aufzubauen, die sie von deren natürlicherer Sprechweise abgrenzen. Solche konventionellen Überformungen sind nur in Form kulturellen Kapitals erlernbar,

48 Im Javanischen steht im höflicheren Register für die l.Ps. kawulo (wörtl. 'Unterworfener') oder abdi dalem (wörtl. 'Ihr Diener'), für die Ehefrau des Sprechers statt dem unmarkierten samah : kontjo wingfcing (wörtl. 'friend in the back of the house' - vgl. Jap. okusan, aber auch brit. Unterschichts-Engl. hers indoor) - oder ibunipon (wörtl. ' the mother of the children'). Siehe Poedjosoedarmo 1968: 54-81. 49 Hier werden die Pronomina der 1. und 2. Person im höflicheren Stil völlig vermieden (vgl. z.B. Coulmas 1980). 50 Es gibt in vielen, vor allem asiatischen Kulturen ausgeprägte Geschlechtsunterschiede in der Verwendung der höflicheren Sprachstile. Es scheint fast so, als ob in manchen Ländern (z.B. Japan) die Frauen 'verantwortlich' für die Tradierung der konventionalisierten Lebensformen (in Kleidung, Eßsitten, Körperhaltung und eben auch Sprache) wären, während sich die Männer Überschreitungen dieser Formen in Richtung auf natürlichere Verhaltensweisen 'leisten' können. Die Unterscheidung in höflichere und informellere Stile überschneidet sich hier also mit der in männliche und weibliche Stile.

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das durch familiäre und schulische Sozialisation erworben wird und sich im Habitus zur dauerhaften Disposition im Individuum inkorporiert. Auf die Sprache angewendet bedeutet das: die ikonischen und indexikalischen Strukturen, die den Stil der unteren Klassen kennzeichnen, sind funktional aus der Sprechsituation begründet, weil sie entweder den Rezipienten oder den Sprecher unterstützen und entlasten. Der Stil der oberen Klassen hingegen löst sich von dieser Funktionalisierung, indem er nicht-ikonische und nichtindexikalische Strukturen fordert, die ästhetisch aufgewertet werden (der Stil der unteren Schichten klingt 'bäuerlich' oder 'derb', der der oberen Schichten 'fein* oder 'gepflegt'), gerade weil sie sich von den Notwendigkeiten der Sprechsituation lösen.51 Der Wert sprachlicher Formen ist hier nicht mehr nur ein kommunikativer, d.h. er ist nicht der Effizienz der Informationsübermittlung unterworfen, sondern auch ein sozialer: er stellt Reichtum und Macht zur Schau. (Bourdieu geht dabei so weit, daß er den unteren Schichten alle Kultur - allen Stil - abspricht und somit zum traditionellen Stilbegriff zurückkehrt, der Stil und Natur als Gegensatzpaar sieht: "In der Tat erscheinen die unter ökonomischem Gesichtspunkt unterprivilegiertesten und am härtesten betroffenen Klassen in diesem Spiel von Verbreitung und Distinktion, das das eigentlich kulturelle Spiel ist und sich objektiv nach der Klassenstruktur organisiert, nur als Kontrastmittel, d.h. als der zur Hervorhebung der anderen notwendige Gegensatz, bzw. als 'Natur'" (1974:72f).) Die Verdrängung der natürlichen Sprechweise im gehobenen Stil und in der offiziellen (legitimen) Sprache ist für Bourdieu ein Teil der Verdrängung des Körpers: ...le language domestiquo, censure devenue nature, qui proscrit les propos 'gras', les plaisanteries 'lourdes' et les accents 'grasseyants', va de pair avec la domestication du corps qui exclut toute manifestation excessive des appotits ou des sentiments (les cris aussi bien que les larmes ou les grands gestes) et qui soumet le corps a toutes sortes de disciplines et de censures visant ä le donaturaliser (1982: 92), und sogar der Kastration der Virilität der natürlichen (männlichen?) Körperlichkeit durch Effeminierung (weswegen die Frauen bei der Übernahme der Mittelschichtssprachformen auch weniger Probleme haben - cf. Labov): du point du vue des classes dominoes l'adoption du style dominant apparaisse comme un reniement de l'identito sociale et de l'identito sexuelle, une repudiation des valeures viriles qui sont constitutives de l'appartenance de classe (1982:93). "Geschmack" und Stil fallen bei Bourdieu zusammen: der "gute Geschmack" (ästhetische Geschmack) der oberen Klassen unterscheidet sich vom "barbarischen" der unteren, indem er Form und Funktion, aber auch Zeichen und Körper voneinander löst.52

51 Vgl. Bourdieus, allerdings auf die Rezeption von Kunst abzielenden Bemerkungen zur Natürlickeit in Bourdieu 1979 [1984:100ff]. 52 Vgl. die Bourdieu-Exegese und -Kritik bei H-P. Müller 1986.

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Das Dilemma des aufsteigenden Kleinbürgertums ist es nun, diesen Zusammenhang als einen selbst natürlichen (d.h. nicht in einer Art 'Kulturkampf vom gehobenen Bürgertum und der Intelligenz durchgesetzten und daher veränderlichen) zu sehen. Das Kleinbürgertum versucht, kulturelles Kapital zu erwerben und zur Schau zu stellen, indem es die distinktiven, nicht-natürlichen Merkmale des gehobenen Bürgertums kopiert und übergeneralisiert (vgl. Labovs Hyperkorrektion, Labov 1972, Kap.5). Dieses Verfahren kann aber nicht zum Ziel führen, denn es steht den tonangebenden Kreisen frei, aus dem Stilkontinuum zwischen Natürlichkeit und Konventionalisierung neue Strukturen zu Distinktionszwekken für sich zu reklamieren; so daß in verschiedenen historischen Epochen53 diese sich gerade dem natürlichen Stil der Unterschicht anschließen bzw. ihn kopieren (zitieren?). Die Zuordnung von sprachlicher Natürlichkeit zu den niederen, und Konventionalisierung zu den höheren sozialen Klassen ist also nicht ein für alle mal gegeben, sondern veränderbar.54 Leider sind Bourdieus eigene Anmerkungen zu konkreten linguistischen Manifestationen dieser verdrängten Körperlichkeit und Natürlichkeit im Stil der gehobenen Klassen nur oberflächlich.55 Man wird also noch eine Menge empirischer Befunde brauchen, bevor man seine faszinierenden Thesen sprachwissenschaftlich akzeptieren kann. Der Übertragung auf die deutsche soziolinguistische Situation steht nicht nur die von Frankreich unterschiedene Struktur der bundesrepublikanischen Gesellschaft entgegen, die die Zuordnung linguistischer Merkmale zu sozialen Schichten erschwert, sondern auch die geringere Brauchbarkeit der deutschen Standardsprache als Distinktionsmerkmal und das größere Prestige der (vor allem oberdeutschen) Dialekte. Der Übergang vom Standard in den Dialekt läßt sich aber keinesfalls als Anwendung natürlicher Prinzipien beschreiben: die Gleichung Dialekt = Standard + Indexikalisierung/Ikonisierung geht nicht auf.56

53 Das letzte Mal vermutlich in der 68er Generation von Intellektuellen, auch bei LinguistikProfessoren mit akademischer Sozialisation aus dieser Zeit leicht zu konstatieren. 54 Bourdieu wendet sich folgerichtig auch ganz explizit gegen das kulturelle Sickermodell (1982: 57ff). 55 An empirischen Untersuchungen ist mir lediglich Encreves Studie zur "liaison" bekannt (1982). Hier geht es um ein Phänomen, das seit Jahrhunderten die französische Orthoepie bestimmt. Der zugrundeliegende natürliche Prozess ist die Aufrechterhaltung der CV-Struktur auch bei vokalisch anlautenden Wörtern. Allerdings ist schon seit so langer Zeit eine Gruppe von Ausnahmen etabliert, in denen keine Liaison möglich ist (z.B. nach et, h aspire, un, huü, onze, Nomen im Sing.), daß der Raum für sozial diskriminierende Phänomene auf die fakultativen Liaisons geschmolzen ist (bei Verben z.B: je vais essayer, bei Plural-Nomina z.B. soldats anglais). Im Bereich dieser fakultativen Liaison steigt das Wissen um die Liaison-Möglichkeit mit der Schichtenzugehörigkeit an, während die niederen Schichten den Prozess durchgängig vermeiden. 56 Man muß in der deutschen Dialektphonologie mit wesentlich differenzierteren Modellen arbeiten; vgl. Auer im Druck (a).

56

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LAUTSTILISTISCHE MUSTER IN ALLTAGSTEXTEN VON SÜDITALIENERN* Frank Ernst Müller

1. STIL UND STILISIERUNG Der Begriff des Stils geht etymologisch auf die antike Praktik des Schreibens zurück, wie Gumbrecht (1986) darlegt. Lateinisch 'stilus' bezeichnete den eisernen Schreibgriffel, mit dem die Buchstaben in die mit Wachs beschichtete Tafel eingeritzt wurden. Das Schreibende des Griffels war zugespitzt, das rückwärtige Ende hingegen war abgeplattet und diente Korrekturzwecken, nämlich dem Auslöschen von Buchstaben. Vermutlich ist es das Korrekturende bzw. das Wenden des Griffels, das 'stilum vertere', d.h. die Möglichkeiten des Tilgens und Ersetzens von Elementen und somit der Überarbeitung und Neukonzeption bereits gesetzter Elemente, die für die Bedeutungserweiterung und Entstehung der Stilmetapher entscheidend gewesen sind: "Ohne Zweifel assoziierte man die Buchstabenlöschende Wirkung der abgeplatteten Seite des 'stilus' mit dem Tilgen überflüssiger SprachElemente, und so wurde die 'Stil'-Arbeit zu einem Synonym für die Suche nach einer Eleganz und Prägnanz der Schlichtheit, welche ihrerseits wohl im ersten vorchristlichen Jahrhundert mit dem Übergang von mündlicher zu schriftlicher Performanz assoziiert wurde" (Gumbrecht 1986:731). Die ursprüngliche enge Verbindung des Stilbegriffes mit dem Schreibakt und darüber hinaus mit der Schriftgenese von Texten scheint mir auch unter heutigen Fragestellungen von Interesse: Die 'Stil-Arbeit', d.h. die zu stilisierender Überarbeitung und Korrektur verfügbaren symbolischen Verfahren, ihre Anwendungen, Auswirkungen und ihr Zeichenstatus sind vermutlich in schriftlichen Texten ganz andere als in mündlichen. Die damit gesetzte Unterschiedlichkeit von Möglichkeiten der Stilisierung ist in der zeitgenössichen Debatte um die 'Poetik' oder 'Gestaltorientiertheit' von konversationellen Texten wenig beachtet worden.1 Das Vermögen zu solcher 'poetischer* Gestaltung von umgangssprachlichen Texten ist z.T. bereits in der traditionelleren, noch nicht von den interpretativen, konversationsanalytischen Ansätzen berührten Soziolinguistik thematisch gewesen - ich erinnere an die bekannte Argumentation von Labov, Unterschichtsangehörige seien die besseren und virtuoseren mündlichen Erzähler (Labov 1972). Das angeführte Konzept, den Stil-Begriff zunächst einmal von den elementaren medialen Ressourcen her zu verstehen, die für die 'Schrift-Maschine(n)' eben andere sind als * l

Für die hilfreiche und detaillierte Kommentierung einer vorausgehenden Version des vorliegenden Aufsatzes danke ich Margret Selling und Volker Hinnenkamp. Vgl. hierzu Sacks (1968-1971, 1978), Gülich (1980), Kallmeyer (1981), Bierbach (1985), Stempel (1987) und Bange (1986,1987).

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für die gesprochene Sprache und jeweils andere Techniken der Hervorbringung, insbesondere der korrigierenden, revidierenden, raffinierenden Überarbeitung, erlauben oder ausschließen, ist zunächst noch etwas zu verdeutlichen. In dem oben angeführten Zitat mag die Reduktion auf die Tilgung von überflüssigen Sprach-Elementen (Hervorhebung: Gumbrecht) und die darüber vom Autor hergestellte Ableitung eines auf Ökonomie und Knappheit gerichteten Stilideals der Schlichtheit, das die Redundanzen des Mündlichen vermeidet, ein wenig vorschnell erscheinen2 - getilgt wird ja vermutlich nicht nur ersatzlos, sondern auch z.B. um Platz für neue, stilistisch verbesserte Reformulierungen, Expansionen etc. einzufügen. Wohl aber erzeugt bereits die faktisch eröffnete Möglichkeit zu leichter Ersetzbarkeit der Zeichen eine größere Selektivität und strengere Auswahl- und Suchdispositionen, die vermutlich Stilprägung i.S. des Autors favorisieren. Die so im Schrifttext strenger und selektiver herstellbare Sprachrichtigkeit kann und wird dann auch, wie Gumbrecht (1986) im weiteren dann ausführt, auf die Standards der Bewertung der mündlichen Rede zurückwirken. Zuzustimmen ist aber v.a. der grundlegenden, durch die Etymologie nahegelegten und gestützten Idee, eine wichtige Quelle für Stilbildung, für Stilbewußtsein, für stilisierendes 'monitoring' entstehender Texte und entsprechende Textrevisionen aller Art gerade beim Schreibakt anzusiedeln bzw. historisch bei der materialen Pragmatik leicht gemachter Korrekturprozesse beim Schreiben. Das erleichterte Korrigieren ist von daher vermutlich als zeichenpraktische und konsequenzenreiche Erneuerung von einigem Rang anzusehen. Das Wachstafel-System ist zugleich hart und weich genug: Es fügt der Errungenschaft der Objektpermanenz der Schrift, die den Text vor der Flüchtigkeit des Mündlichen bewahrt, die Errungenschaft leichter Revidierbarkeit und Ersetzbarkeit der Zeichen hinzu und verändert damit die Arbeitsweisen am Text, u.a. die Ökonomie des prospektiv-retrospektiven Voranschreitens in der Zeichenproduktion: Die bereits einmal gesetzten Zeichen verlieren an Stabilität und Verbindlichkeit. Textrevisionen erfolgen nun unter dem Gesichtspunkt, daß die bereits einmal gesetzten Zeichen leicht, nämlich durch 'stilum vertere', gelöscht und durch neue ersetzt werden können und die Ressourcen für Stilisierung wachsen. Gumbrecht (1986:731) zitiert gar einen Satz von Horaz ("Saepe stilum vertas, Herum quae digna legi sunt/scripturus"), der die Häufigkeit des 'stilum vertere', m.a.W. also die Intensität der Arbeit am geschriebenen Text, in eins setzt mit seiner resultierenden Lesenswürdigkeit. Nicht jede(r) wird freilich durch eifriges 'stilum vertere' auch schon zu einem Horaz; umgekehrt ist von großen Stilisten wie etwa Flaubert, Proust oder Joyce aus der Literaturgeschichte bekannt, daß sie ihre Texte in z.T. sehr langwierigen und selektiven Prozessen der Reformulierung erarbeitet haben. Insgesamt gesehen ist wohl die 'superiorito ocrasante des textes reconnus" von der Rey-Debove (1981) in ihrer Analyse der Korrekturen und Überarbeitungen eines überlieferten, handschriftlichen Proust-Manuskripts spricht, ohne professionelles 'stilum vertere' nicht vorstellbar. Die Arbeit am geschriebenen Text kann erfolgen in einer vom Verfasser frei wählbaren Prozessualität - gesetzte Zeichen können durch neue ersetzt werden, die substitutiv, permutativ oder additiv eingeführt werden können und zwar an beliebig wählbarer Stelle 2

Zur Ableitung des Askese-Stils von Sparta, des Eloquenz-Stils von Athen, vgl. SchliebenLange (1986).

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im Text, in beliebiger Reihenfolge, in beliebig häufigen Wiederholungen und Durchläufen, zu beliebigen Zeitpunkten. Von vielen Autoren ist bekannt, daß sie ihre Texte Von hinten nach vorne schreiben', von 'cut up'-Techniken einmal ganz zu schweigen. Erzählweisen, die auf solcher 'Stil'-Arbeit beruhen, wird man im Mündlichen schwerlich begegnen. Ein wichtiger Gesichtspunkt betrifft ferner die (Un-)Sichtbarkeit der genannten, für 'Stil'-Arbeit verfügbaren Prozeduren der Überformung, Reformulierung, teilweisen oder vollständigen Neugestaltung im verschrifteten Text: Das Resultat solcher Prozeduren, die letzte bereinigte Edition, bei der ja die öffentliche Rezeption erst beginnt, präsentiert sich, wie Rey-Debove (1981:6) formuliert, als abgeschlossener Text, der Merkmale und Spuren seiner sprachlichen Entstehungs- und Gestaltungsarbeit nicht mehr in manifester Form enthält. Für mündliche konversationelle Texte gibt es keinen 'einsamen Erzähler' (vgl. Stempel 1987), abgesehen von Sonderfällen wie etwa dem 'replay' von bewährten und oft reproduzierten konversationellen Erzählungen aus dem persönlichen Thesaurus von Erzählern; und es gibt kein dem 'stilum vertere' vergleichbares Arsenal von Ressourcen der Stilisierung, keine der letzten Edition vorausgehenden Entwürfe, Skizzen, Probeversionen, die retrospektiv in Teilen oder in toto überarbeitet und stilistisch durchformt werden könnten. In mündlicher Sprache muß sich der Stilist improvisierend bewähren im 'apercu' des ersten Entwurfs, der bereits in statu nascendi und synchron zu seiner Entstehung gehört und rezipiert wird. Die Emergenz des Textes hat jederzeit eine für Rezipienten manifeste zu sein, einschließlich der Korrekturen, z.B. der selbstinitiierten 'repairs', die in ihrer Sichtbarkeit, beschränkten Reichweite und in ihrer sequentiellen Gebundenheit mit den ungebundenen und nach Belieben anwendbaren Korrekturprozessen des 'stilum vertere' wenig gemein haben.

2. MUNDLICHKEITSSTIL Nun lassen sich mündliche Stile sicher nicht zureichend 'par dofaut' beschreiben, das Mündliche enthält eigene Ressourcen der Stilisierung, allerdings sind diese, z.B. die prosodischen, an Intonation, Rhythmus und Sprechtempo geknüpften, nicht leicht zu charakterisieren. Orale Stile, die in dem als Kontinuum anzusetzenden Feld von schriftnahen vs. schriftfernen Stilen eher beim Mündlichkeitspol liegen und verstärkt von Mitteln Gebrauch machen, die schriftsprachlich nicht gegeben sind, sind inzwischen in vielfacher Weise beschrieben worden.3 Ich beschränke mich im folgenden auf einige wenige Merkmale, die für die vorliegende Betrachtung von besonderer Bedeutung sind. Beschreibungen, die sich auf entfernte und noch primär mündlich verfaßte afrikanische Gesellschaften beziehen (Houis 1971, Hagege 1985), haben vor allem auf die Bedeutung der Rekurrenz als ein wichtiges Gliederungsmittel hingewiesen und auf die stark Vgl. Chafe (1982), Tannen (1982a, 1982b), Gumperz/Kaltman/O'Connor (1984), Collins/Michaels (1986), Auer/di Luzio (1988). In gewissen Weise hat die Forschung zu schriftlichkeits- bzw. mündlichkeitsorientierten Stilen die bekannte ältere soziolinguistische Forschung zu unterschiedlich explikationsfähigen sprachlichen Codes beerbt und verändert. Vgl. hierzu die Darstellung in Auer/di Luzio (1988).

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ausgeprägte Tendenz zu Wiederholungen, Wiederaufnahmen und Parallelismen prosodischer, lexikalischer und syntaktischer Art. Die Strukturierung über Rekurrenz als Mündlichkeitsmerkmal läßt sich entgegensetzen der wiederholungsfreien und vorgängig bereinigten Ökonomie schriftlicher Formulierungsverfahren, die u.a. durch die Verfügbarkeit von Korrekturmechanismen möglich wird, wie sie oben angeführt wurden und wie sie Ong (1982:40) als 'karge Linearität' ("sparse linearity") beschrieben hat. Die weiter unten beschriebenen Assonanzen und Lautserien treten vorzugsweise in Paradigmen der Aufzählung auf, die in doppelter Weise als Rekurrenzen zu sehen sind: Zum einen als Muster rekurrenter - insbesondere morphosyntaktischer - Strukturen, die in parallelen Fügungen wiederholt werden, häufig auch mit parallelen intonatorischen und rhythmischen Strukturen. Zum anderen wird die Rekurrenz der Strukturen auch genutzt, z.B. als Iterativ- oder Durativ-Konstruktion wie in den folgenden Beispielen (1) und (2), um die Häufigkeit, anhaltende Dauer oder sonstige 'Vielheit' parallel wiederkehrender Ereignisse zu formulieren. In diesem Fall handelt es sich dann auch um ein ikonisches, aber eben aufwendiges und wenig ökonomisches Formulierungsverfahren, das die Konstruktion eines ganzen eigenen Paradigmas nach sich zieht und in diesem Sinne der 'kargen Linearität' schriftoptimierender Verfahren entgegensteht. (1)

(2)

(CIL 23:23) P:

In e vinniri, iri e vinniri, iri e vinniri

P:

Gehen und kommen, gehen und kommen, gehen und kommen

(BER 13:30) P:

ma sempre lontano della famiglia era, sempre una fabbrica di mattone, un lavoro sporco sempre cosi

P:

aber immer noch war ich weit weg von der Familie, immer noch eine Ziegelfabrik, eine schmutzige Arbeit, immer noch so

Die obere Grenze bei iterierenden oder durativen Aufzählungen wie in (1) und (2) und auch bei anderen ist dabei zumeist die Dreizahl, wie aus der Rhetorik (vgl. Lausberg 1967:29) ebenso wie aus konversationsanalytischen Arbeiten (vgl. Atkinson 1984, Jefferson in Vorb.) gut belegt ist. Der besonders ausgeprägte formulaische Sprachgebrauch, ein weiteres Merkmal, das in Beschreibungen mündlicher Stile dargelegt worden ist (vgl. Kallmeyer/Keim 1988), führt uns näher an die lautstilistische Ebene heran. Zum formulaischen Sprachgebrauch gehört u.a. der Gebrauch von Sprichwörtern oder ähnlichen Prägungen, die zumeist in hohem Maße 'euphonisch' organisiert sind. Vergleiche dazu das folgende, im Zu-

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sammenhang der 'Altersklage' von einer Sprecherin (50 Jahre, seit 12 Jahren in der BRD) geäußerte Beispiel. (3)

CrescEnE l'annE, crescEnE i malanni Es wachsen die Jahre, es wachsen die Gebrechen

In (3) überlagern sich kumulativ eine Vielzahl formaler Strukturierungen: u.a. Alliterationen und Assonanzen; in der hier zitierten dialektalen Version des Sprichwortes vielleicht sogar eine vokalische Abstimmung in den Formen von Artikel und Pluralmorphem vgl. l'annE, aber i malanni; syntaktischer und lexikalischer Parallelismus mit Minimalvariation; eine Anordnung der Konstituenten nach ihrem Umfang, die dem rhetorischen Prinzip der Ordo naturalis' vom wachsenden Umfang der sequenzierten Redeteile folgt und den längeren Konstituenten nachordnet; eine silbische Anordnung, die eine rhythmisierte metrische Akzentuierung nahelegt. Der "Klangzauber", der in hohem Maße euphonisch und rhythmisch elaborierte Formalismus des Sprichworts, basiert unvermeidlich auf Wiederholung und Rekurrenz von Strukturen. Er hebt den Ausdruck hervor vor dem Hintergrund der vergleichsweise ungestalteten umgebenden Alltagssprache und sichert dem Sprichwort, das ans auditive Gedächtnis appelliert, seinen 'memorabile'-Effekt (vgl. Stempel 1987:117), Merkbarkeit und Prägnanz. Aus diesem Formalismus ergeben sich Konsequenzen auch für die diskursiven Verwendungsweisen des Sprichworts, z.B. seine gute Eignung für die Verwendung als gestaltschließendes Element im Rahmen einer 'topic-bounding-technique', "which involves one party's offering of a proverbial or aphoristic formulation of conventional wisdom which can be heard as the 'moral' or 'lesson' of the topic being thereby possibly closed" (Schegloff/Sacks 1973:306). Kein Sprecher spricht nur in Sprichworten und letztere gewinnen ihre auffällige Sichtbarkeit und ihr 'memorabile' ja gerade erst durch ihr Hervortreten vor dem Hintergrund weniger gestaltorientiert und poetisch geformter Alltagssprache. Gleichwohl lassen sich, wie im folgenden zu zeigen sein wird, auch in der ad hoc formulierten Alltagssprache der süditalienischen Sprecher(innen) lautstilistische Strukturen nachweisen, die sich mit poetischen Formen wie in (3) im Formalismus - wenngleich nicht in der Funktion - vergleichen lassen. 3. SPRECHER UND TEXTE Die Texte, aus denen oben und im folgenden zitiert wird (vgl. Müller 1987), bestehen aus einem insgesamt ca. 6-stündigen Corpus von Interviews mit süditalienischen Familien, die seit ca. 10-20 Jahren in Frankfurt leben. (Die Mütter eher 10, die Väter eher 20 Jahre.) Teilnehmer der Interviews sind jeweils Mutter und Vater der Familie, zwei Interviewer sowie weitere, 'zufällig' anwesende Freunde der Familien und Kinder. Von den beiden Interviewern ist der eine mit den Familien - Eltern wie Kindern - seit langer Zeit vertraut und hat die Interviews angebahnt, der andere ist (Süd-)Italiener und selbst Sohn inzwi-

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sehen zurückgewanderter italienischer Migranten. Thematische Gegenstände der Interviews sind in erster Linie Veranlassung und Anbahnung der Emigration nach Deutschland, die Erfahrungen in der deutschen Arbeitswelt und der deutschen Emigrationszeit sowie die gegenwärtigen und zukünftigen Perspektiven und Projekte der Familien. Die Eltern, geboren zumeist in den 30er und beginnenden 40er Jahren, entstammen dörflichen Zusammenhängen oder 'Agro-Städten' wie z.B. Ragusa oder Mazara del Vallo in Sizilien. Ihre Schulbildung ist sehr gering, z.T. inexistent. Folgt man de Mauros (1984) Darstellung der sprach- und sozialgeschichtlichen Entwicklung Süditaliens, so sind zu dem Zeitpunkt, wo die schulische Sozialisation der Betreffenden altersgerecht hätte stattfinden können, die rein mündlichen Laien-Praktiken von Familie und dörflicher Öffentlichkeit die bestimmenden Bildungsorgane und Bildungsformen gewesen, während Schule und Schriftlichkeit sozial entfernte, vergleichsweise irrelevante und schwächliche Instanzen darstellten. Virtuosität des mündlichen Sprachgebrauchs, wie sie im folgenden an einigen Ausschnitten deutlich werden mag, ist daher nichts Ungewöhnliches und auch nicht schieres Tart pour l'art', sondern eine handlungsfunktionale und noch heute in Süditalien überlebenswichtige sprachliche Fähigkeit. 4.1. LAUTSTILISTISCHE MUSTER Auch wenn, wie angeführt, lautstilistische Muster in der hervorhebenden und reliefsetzenden Funktion dem Klangzauber von Spruchweisheiten angenähert werden können, so sind sie doch im allgemeinen weniger sichtbar, da die so eingekleideten Sätze eben keine akzeptierten, überhöhten, zeitlos gültigen Sätze des 'conventional wisdom' sind, sondern 'nur' individuelle und lokal gültige Formulierungen eines gegebenen Sprechers. Hier finden sich jedoch Übergangsformen, bei denen Sprecher eigene Prägungen so stilisieren, daß sie sich der Formelhaftigkeit prägnanter Spruchweisheiten annähern, so im folgenden Beispiel (4): (4)

(BOR50:19f) P:

e dico/e devo dire anche un atra cosa: "Come siamo not, sono anche i tedesc', come sono i tedesc', siamo anche noi"

P:

und ich sage/und ich muss noch etwas anderes sagen: "Wie wir sind, so sind auch die Deutschen, wie die Deutschen sind, so sind auch wir"

Aus dem vorausgehenden Kontext und der Art der Einführung durch ein selbstbezügliches 'verbum dicendi' geht hier hervor, daß der Sprecher sich anschickt, an dieser Stelle eine Lehre oder Sentenz von allgemeiner Bedeutung zu formulieren. Die Stilisierung dieser Formulierung zum formelähnlichen allgemeinen Satz erfolgt über expletive Formen und Chiliasmus, d.h. hier durch spiegelbildliche Anordnung der Vergleichssätze der Metapher. Ein dem Chiasmus entfernt ähnliches, zugleich syntaktisches und lautliches Muster der Stilisierung, wird deutlich in der Verwendung von Echostrukturen wie in (5). Echos

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bilden hier sowohl das rhythmisch intermittierend eingefügte disse, das den Vokativ und den Nebensatzkonstituenten einrahmt, wie das Verb rechts und links vom Objektsnomen. (5)

(BOR38:14f) P:

No, sä, sä come di/dissE nu tedesco 'mbacci'a me - ora e mono questo qua - dissE "Matteo" dissE, "quando tu fa la barba" dissE, "tE mittE a squadrE tE mittE?".

P:

Nein, wissen sie, wissen Sie wie mir mal ein Deutscher ins Gesicht ge/gesagt hat - der ist jetzt gestorben derjenige - sagt er "Matteo" sagt er, Venn du dich rasierst" sagt er, "legst du dir ein Lineal legst du dir an?"

Stilisierung und heraushebende Reliefgebung gelten hier dem Pointensatz einer kleinen Erzählung, mit der sich der Erzähler (='Matteo') hier selbst den Spiegel vorhält - 'face work' in mehrfachem Sinne: Matteo ist im Nebenberuf Friseur und trägt lange heruntergezogene und präzis geschnittene Koteletten. Wie im folgenden noch deutlich werden wird, ist die lautliche Stilisierung ein wiederkehrend anzutreffender Aspekt der Gestaltung von Pointen.4 Formen wie (4) und (5) verweisen auf das Zusammenwirken von syntaktischer Struktur und 'Klangzauber' und sind wohl ohne Zweifel als Prozeduren der sprachlich-stilistischen Gliederung gesprochener Sprache erkennbar. Schwieriger einzuordnen sind Fälle wie in (6), wo durch die wiederholte Verwendung vorwiegend /m/- und /a/-haltiger Lexeme (ammia, mia, mamma, ammalata, amma/a mamma, stavam) eine entsprechende Lautserie über eine ganze Sequenz hinweg entsteht. (6) steht am Ende einer längeren Passage, in der die Sprecherin die Emigrationszeit ihrer Familie dargestellt hat und nun mit ihrer eigenen Geschichte abschließt. (6)

(BOR2:14f) M:

Questopozzo raccontarlE, questa ,. situazione ammia. Da creatura, tenevE ventEnov'annE, e v'nuta la crocE di mia mamma. Mamma a ventEnov'annE ha v'nut' u guai, stat'ammalata tutto, ha v'nut'u guai di ventEnov'anne, e morta sessantaquatt'anne.//I:Hm//F'gurEtE quant'annE ca ha stat'amma/a mamma mi'ammalat'. Stavam in Germania! //I:Hm//E questa la storia mia.

M:

Das kann ich erzählen, das ist die,.meine Situation. Noch jung, mit neunundzwanzig Jahren, ist das Leiden meiner Mutter gekommen. Mutter, mit neunundzwanzig sind die Schmerzen gekommen, ganz krank ist sie gewesen. Mit neunundzwanzig sind die Schmerzen gekommen, mit vierundsechzig ist sie gestorben.//I:Hm//Stellen sie sich nur

Zur Stilisierung von Pointen in Erzählungen vgl. Kalimeyer (1981) und Bange (1987). Illustrative Beispiele für die Bedeutung lautlicher Stilisierung für die 'punch-lines' von Witzen finden sich in Bierbach (1985) und Streeck (1988).

68 nur vor, wieviele Jahre krank/meine Mutter krank gewesen ist. Und wir waren in Deutschland!//I:Hm//Das ist meine Geschichte.

Ist die Lautserie in (6), einschließlich des in die Serie eingebetteten und sie fortsetzenden Versprechers amma/a mamma Teil der stilisierenden Gestaltung der Äußerung und vielleicht expressive Verstärkung der Klage? Eine weniger diffuse Serie zeigt (7). Die auch hier über eine längere Sequenz hinweg fortgesetzte /k/-Serie - /k/ hier in schiena, co\ caricare, cassE, comu, carica, cassi, ehe, china, 'tac' - könnte auch hier Zufall sein. (7)

(CIL22:16f) M:

A schiena, a schiena, quannu si strapazza la schiena io co'caricare i cassE näfabbrica, comu una carica i cassi rofierro, mentre ehe e forte, si china e 'tac'

M:

Das Kreuz, das Kreuz, wenn das Kreuz angestrengt wird, bei mir mit dem Aufladen der Kästen in der Fabrik, wenn frau die Kästen aus Eisen aufstapelt, auch wenn du stark bist, du bückst dich und 'zack'

Gegen eine Zufallsinterpretation spricht hier zumindest der onomatopoetische Abschluß Vac', vermutlich mit begleitender Schmerzgeste für 'Hexenschuss' oder 'ausgerenktes Kreuz' produziert. Die onomatopoetische Form nimmt hier die bis dahin überwiegend anlautende und alliterierende /k/-Serie auf und bringt sie mit einem effektvollen Auslaut zu Ende. Das Onomatopoetikum, zugleich Geräusch-malend das Klappern der Eisenkästen beim Stapeln - und Schmerz-malend - der 'Schuß' ins Kreuz beim Bücken, ist hier auch nicht nur beiläufig, sondern steht im Vordergund, ist pointierendes Stilmittel mit kulminativer Funktion, das - zusammen mit der zu vermutenden Geste - zugleich End- und Höhepunkt der kurzen Erzählung gestaltet. Das folgende Beispiel (8) zeigt eine rhetorisch effektvolle, argumentative, um nicht zu sagen polemische Verwendung einer Lautserie. In der Szene von (8) geht es um die Beziehungen (rapporti) zu Deutschen. Auf die entsprechende Frage des Interviewers L stellt der Interviewte Gastarbeiter P seine durchaus positiven Erfahrungen mit Deutschen dar, mit denen indes der links-liberal eingestellte (und auch akademisch gebildete) Interviewer, der vermutlich von P lieber Illustratives zur Ausländerfeindlichkeit der Deutschen hören würde, nicht zufriedengestellt ist. L beginnt (in lOf) in klassischer Intellektuellenmanier, den thematisch hier zentralen Begriff der rapporti u.a. durch die Einführung von 'Ebenen' zu differenzieren und zu 'soziologisieren'. (8)

RAPPORTO BENE (BER 19:15f) 01 02 03 04 05 06

P: L: P:

No, no, bene, ci rispettavano molt'i tedeschi a noi allgraj isTwöJ tPoi pol s 'ha malvagito unpo', dopo ehe sessantuno. A sessanta, cinquantanove, qui ne vovano bene tutti i tedeschi,//L: Hm//perche noi ci

69 07 08 09 10

L:

11

P:

Si, si

12 13 14

L: P:

Solo cosi, a livello di saluto, ma poi c 'efapporto [ Rapporto pure bene, pertanto pure, pure, bene.

01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14

P:

Nein, nein, gut, die haben uns sehr respektiert die Deutsehen damals Ja, aber Dann, dann ist es etwas schlechter geworden, nach einundsechzig. Sechzig, neunundfünfzig mochten uns alle Deutschen hier gerne,//L:Hm//weil wir uns Respekt verschafft haben, unsere Arbeit gemacht haben und auf der Strasse haben sie uns überall begrüßt, haben uns gefeiert. Ja, aber jetzt sagen sie 'auf der Strasse', ja? Ja, ja Nur so, auf der Ebene von Grüßen, es gibt aber Beziehungen Beziehungen, die auch gut, trotzdem auch, auch gut waren!

L: P:

L: P: L: P: P:

facevamo rispettare, lavoravam ', facevamo U notro dovere e neUa strada ci vuliano bene, unne ni vidiunu, ni vidiunu, cifacivanu unafesta. Si, ma adesso ci dice "nella strada", no?

In (01) reformuliert P seine Ausgangsposition (ci rispettavano molt'i tedeschi) und differenziert diese, über L's Interventionsversuch Si, ma in (03) hinweg, zeitgeschichtlich, wobei die Beziehungen zu den Deutschen progressiv bzw. regressiv, mit dem Voranschreiten in die Vergangenheit (1961,1960,1959) besser werden. Den in (03) begonnenen, in (10) fortgeführten Versuch des Interviewers, weitere Differenzierungen und Graduierungen einzuführen, coupiert P an der Stelle, wo in der Intervention L's der zentrale Begriff des rapporto erscheint. P unterbindet den Versuch weiterer Graduierung durch eine absolute, emphatische Reformulierung seines Ausgangspunkts: Rapporto pure bene, pertanto pure, pure bene. Die Serie der hier alliterativ angeschlossenen /p/-Laute, die die Emphase unterstützen und mittragen, hat somit in (8) einen genau lokalisierbaren Ausgangspunkt - das Emphase tragende, argumentativ zentrale und interaktiv kontroverse Nomen des rapporto. Die Reihe der sich anschließenden verstärkenden Modifikatoren wird hier vom Sprecher so gewählt - z.B. statt eines semantisch äquivalenten, lautlich indes bezugs- und effektlosen anche -, daß sie zum Kopfnomen lautlich passen und Aspekte von dessen Lautstruktur wiederaufnehmen und verstärken. Die Lautserie in (8) dient, aus interaktiver Perspektive gesehen, als Effekt, mit dem der Sprecher in direkter, offener Konfrontation zu einem Kontrahenten eine kontroverse Position behauptet bzw. die Behauptung einer solchen Position rhetorisch effektvoll zu flankieren versucht. Der Sprecher zeigt somit hier gerade in der konversationell bekanntlich in hohem Maße dyspräferierten Situation des offenen Antagonismus eine 'poetische', sprachspielerisch anmutende Disposition.

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4.2. LISTEN Emphatische Kontexte wie in (6)-(8) sind bevorzugte Orte für lautstilistische Effekte und Serienbildung. Nun gibt es, von Beschreibungen eines anderen serienbildenden Prozesses her, der Listenbildung, Evidenz, die es nahelegt, auch und gerade hier, in den alltagssprachlichen Paradigmen der Aufzählung, einen solchen bevorzugten Ort für Lautserien und Assonanzen zu vermuten. Der Zusammenhang ist durch seine Häufigkeit in den 'einfachen Formen' - Slogans, Losungen, Titel, Graffiti, Werbesprüche u.a. - jeder und jedem zumindest oberflächlich bekannt und ist zudem als schriftsprachliches Stilmittel im zeitgenössischen Journalismus beliebt, vgl. etwa 'Monster, Muskeln und Medaillen', eine FAZÜberschrift zur letzten Olympiade, oder 'Kasbah, Kiff und Knaben', wie laut 'Zeit'-Feuilleton der in Tanger lebende William Burroughs dem Journalisten geantwortet haben soll auf die Frage, was ihn in dieser Stadt festhalte. Alliteration ist dabei eine sehr häufige Form; die Serie kann aber auch Auslautreihen betreffen oder morphonologische, gleich abgeleitete Wortbildungseinheiten in Reihe setzen, wie in 'liberto, ogalite", fraternito', Silben, wie im neufranzösischen Argot-Terminus für den Kurzaufenthalt an Autobahnraststätten 'pipicacacafo', oder sie kann mehrere Strukturebenen zugleich betreffen, wie in 'veni, vidi, vici'. Sacks (1971) und Jefferson (in Vorb.) gehen davon aus, daß es projektive, vorausund zurückblickende Anteile in der Wortwahl gibt, die sie 'historical sensitivity' nennen. Ihre Annahme erinnert im übrigen an Meringers (1895) klassische psycholinguistische Hypothese der 'Vorklänge' und 'Nachklänge'. "Words can be selected in 'historically sensitive' ways, i.e. can be selected by reference to prior or projected events. They may have sounds which are similar to surrounding sounds" (Jefferson in Vorb.:7). Da nun die Konstruktion von Listen eine spezifische Formulierungsarbeit darstellt, die morphosyntaktische und semantische Parallelbildungen beinhaltet, ist es plausibel zu erwarten, daß die Sprecher bei dieser Formulierungsarbeit auch vom phonologischen Potential des gerade verfügbaren Materials Gebrauch machen und Assonanzen und weitergehende Ansätze zu phonologischen und morphonologischen Serien bilden. Nach Jefferson/Sacks ist 'acoustic consonance', Klangzauber, v.a. zu erwarten beim listenabschließenden Element des 'general list completed. Dreigliedrige Listen werden häufig mit einem allgemeinen Element abgeschlossen, das streng genommen nicht mehr in der Reihe der beiden vorausgehenden Elemente steht und mit dem die Fortsetzbarkeit der Liste nur angedeutet wird, das gleichwohl aber die Liste dreigliedrig vollständig macht. Da für dieses generalisierende Schlußelement ein großes Arsenal an Formen verfügbar ist, und die Wortwahl hier nicht mehr eingeschränkt ist durch die referentiellen Zwänge, die die Wahl der beiden vorausgehenden Listenglieder einschränken, sind die Schlußelemente dieser Art das Material, das für klangliche Effekte empfänglicher ist. In diesem Sinne lassen sich in der Liste von (9) auch /k/-Alliteration bzw. /k/-Assonanz zwischen vorletztem Listenelement und generalisierendem Schlußelement deuten. Jefferson (in Vorb.) verweist in ihrer Arbeit zu den Listenstrukturen auf die an verstreuten Stellen - zumeist in den 'Lectures' - formulierten einschlägigen Ideen von Sacks und stützt sich darauf. Mit dem Literaturverweis 'Jefferson/Sacks' wird im folgenden dieser Zusammenhang angesprochen.

71

Im konversationellen Zusammmenhang verweist M hier mit der Einkaufsliste von (9) darauf, daß sie 'italienisch' einkauft und distanziert sich von der deutschen Kontrastmenge, Wurst und Brot. (9)

(CIL41:3f) M:

Accatto u pisce, came, cose accussine.

M:

Ich kaufe den Fisch, Fleisch, solche Sachen.

Weiter entwickelt und nicht nur Listenfüller ist das Schlußelement in (10). Der Sprecher beschreibt hier seine Erfahrungen als Aussiedler in Libyen in den 30er Jahren. (10)

(CIL35:31f) (In Libia, F. M.) si ha messo questa terra in coltivazionE, //B:Hm//si metteva/s'hannE piantatE vignetE, mandoletE, tantE tantE bellE cosE. (In Libyen, F. M.) haben wir diesen Boden kultiviert, //B:Hm//man setzte/man pflanzte Weinstöcke, Mandelbäume, viele viele schöne Sachen

In (10) bildet das dritte, listenabschließende Element nicht nur, wie nach Jefferson/Sacks zu erwarten, 'consonances' - vgl. die fortgesetzte /t/- und /an/-Serie, sondern ist unter mehreren Gesichtspunkten das gewichtigste Element in der Reihe: Es enthält eine Steigerung im Umfang des gesamten Konstituenten, d.h. also auch in akustischer Fülle und im Klangkörper; es enthält Steigerung in der Zahl und Angabe der Vielzahl (tonte tonte), Steigerung durch Reduplikation und Steigerung durch die an dieser Stelle erfolgende Bewertung (belle). Allgemeiner gesehen sind Dreier-Listen als Paradigmen, die die stärkste und generellste Aussage am Ende enthalten, eine Methode der Steigerung und Intensivierung und in dieser Form in den Texten häufig. Assonanzen und weitere klangliche Effekte finden sich ferner im Gebrauch der italienischen Sprecher in den Listen weit über den Bereich des listenabschließenden Elements hinaus und sind in einer größeren Zahl von Listen anzutreffen. Einige wenige Beispiele müssen hier genügen. Man betrachte (11) und (12), die in kurzem Abstand von der gleichen Sprecherin produziert werden und auch den gleichen Sachverhalt beschreiben: Die Sprecherin charakterisiert hier die Abgelegenheit ihrer ersten Wohnung an der Peripherie von Frankfurt.

72 (11)

(PUT9:llf) M:

Noi siamo vistE questa casa, non c'era U pane vicino, non c'era U vin', non c'era aequo, non c'e niente.

(/n/: npi, non,pane, vicino, vin', niente; /vi·/: yjste, vicino, yjn')6 M:

(12)

Wir haben uns dieses Haus angesehen, es gab kein Brot in der Nähe, es gab keinen Wein, es gab kein Wasser, es gibt nichts da.

(PUT 10:17) M:

Poi, poipensare,

portammo l'acqua, ciportammo unpo'di birra, ilpane, tutto.

(/P/> /b/-'BPi> ßensare, BPrtammo, ßp', bjrra, ßane) M:

Dann, das muß man sich vorstellen, haben wir das Wasser da hingetragen, haben wir uns ein bisschen Bier hingetragen, das Brot, alles.

In (11) bildet unterhalb der Wortebene der /n/-Laut die stärkste Serie und ist in der Liste insgesamt 14fach realisiert (/n/ in tjpi, non, pane, vicinjj, v/a', njente). Eine zweite Serie besteht auf der Ebene der Silben im Wortanlaut (/vi-/ in yjste, yjpino, yjn"). Die Liste ist also nicht nur, wie offensichtlich, auf morphosyntaktischer und semantischer Ebene strukturiert, sondern auch auf phonologischer weit über eine Zufallsverteilung ihrer lautlichen Bestandteile hinaus geordnet. Im folgenden wird, soweit vorhanden, der Klangzauber von Listen in einer Klammer unter dem jeweiligen Beispiel - wie schon oben in (11) und (12) notiert. Dabei wird, maximalistisch verfahrend, die größte Serie angemerkt, die in der Liste auf der Ebene von einzelnen Lauten, Lautverbindungen, Silben oder ggf. Wortbildungseinheiten unterhalb der Wortebene realisiert ist. Der Klangzauber von Listen ist nicht ganz neutral zur referentiellen Exaktheit und zum Wahrheitswert von Formulierungen und mag diese gelegentlich in seinen Bann schlagen. Es ergibt sich, wenngleich auf kleiner und prosaischer Ebene angesiedelt, aus dem Vergleich von (11) und (12) ein Problem von Dichtung und Wahrheit. (11) und (12) nehmen, wie angeführt, Bezug auf den nämlichen Sachverhalt. In referenzieller Hinsicht verglichen enthalten beide Listen acqua \mdpane, unterscheiden sich jedoch in Bezug auf vin' - in (11) - und birra - in (12). Vom Klangzauber her gesehen 'paßt' vin' besser in die Liste 6

In dieser Art "Fußnote" wird hier und im folgenden die maximale lautliche Serie einer Passage notiert.

73

(11), birra besser in (12). Es ist also nicht auszuschließen, daß der Unterschied, der vin' auf die eine, birra auf die andere Liste bringt, ein Unterschied in der 'Poetik' ist. Die Beispiele (11) und (12) sind noch in anderen Hinsichten aufschlußreich und zeigen eine bei den süditalienischen Sprechern des Corpus großflächig und durchgängig nachweisbare Verwendungsweise von Listen: Diese dienen auch dem 'tutto/niente-Sprachgebrauch', der Zuspitzung von Affirmation und Negation7. In (12) wird der oben genannte Sachverhalt affirmativ abgebildet und die Affirmation durch Listen und Serienbildung sowie durch Allquantifizierung (tutto) verstärkt. In der Konverse (11) erfolgt dies analog und auch hier mit dem Aliquanter (niente) als abschließendem Listenglied - für die Negation. Parallel zu (11) in der /n/-Tönung und im Listenaufbau mit dem Aliquanter als Schlußelement ist Beispiel (13). Die Sprecherin beklagt hier emphatisch die traditionellsizilianische häusliche Abgeschiedenheit ihrer Erziehung, die sie an anderer Stelle rigoros und ungebrochen als Erziehungsmodell für ihre Töchter aufrecht erhält und argumentativ verficht. Die Liste erscheint im sequentiellen Zusammenhang an exponierter Stelle: Als abschließender, bewertender Kommentar einer längeren Erzählung, in der M ihre von Angst und Unverständnis geprägten Erfahrungen in der deutschen Arbeitswelt dargestellt hat. (13)

(PAV 22:32)a M:

pirche nun avia nesciutu mai d'incasa, nun avia aiutu a nessuna parte, nenti.

(/n/: nun, nesciutu, incasa, nessuna, nenti) M:

weil ich nie jemals aus dem Haus gekommen bin, nie irgendwo eine Hilfe gehabt habe, nichts.

Die Aliquanteren der Affirmation und Negation erscheinen nicht nur, wie oben, am Ende der Liste als 'general list completers', sondern häufiger noch an deren Anfang und sind mithin bevorzugte Auslöser von Listenbildung. Ein einfaches Beispiel ist (14). Die emphatische Negation dient hier der Affirmation einer 'salute da leone' (im Folgetext) des Sprechers. (14)

(CIL 21:22) P:

Ho fatto quattro annE, cinquE annE ami, di i mi/militare, mai un dolore di testa, mai una febbre, mai una malattia.

(/m/: mi, militare, mai, malattia)

7

Zur 'negazione' bzw. 'affirmatione rafforzata' im Italienischen vgl. Holtus (1985).

74

P:

Ich habe vier Jahre, nein sogar fünf, bei den Mi/Militär gemacht, nie einmal Kopfschmerzen, nie ein Fieber, nie eine Krankheit

Der Aliquanter mai ist hier Dreh- und Angelpunkt der Listenkonstruktion: im syntaktischen Sinne als 'pivot', im prosodischen Sinne als Träger des Hauptakzents und, last not least, als das für den Klangzauber maßgebliche Element: Das in Betonung und syntaktischer Position prominenteste und in der Rekurrenz des Vorkommens häufigste Element des Allquantors 'färbt' hier die Liste ein und zieht die stärkste Serie auf sich. Ähnlich (15), wo der Aliquanter tutta die dominante Tönung gibt und die stärkste Serie bildet. (15) zeigt insgesamt eine virtuose Ausschöpfung der über dreigliedrige Listenstruktur, phonologische Serienbildung und Allquantifizierung eröffneten Ressourcen. Die Sprecherin beschreibt hier, wie sie (im Alter von 54 Jahren, F. M.) nach 12 Jahren Deutschland zum ersten Male in ihre Heimatstadt in Sizilien zurückgekehrt ist, dort sogleich mit ihrer Schwiegertochter ausgeht ins Stadtinnere und konsterniert das libertäre Flanieren noch jugendlicher "Dämchen" auf der Straße sieht: (15)

(PAV31:9) M:

Ma ce lo giuro, io ehe era/ch 'aiu statu cca dudici anni, appena vinnE in Italia, escemmo cun me nora e vitti tutta 'sta strata china tuttE di signorinellE tuttE quattro cinquE tuttE.. giovEnottE. Ci dissE a me nora "Macche successE ccä?" Veru (? ?) Tutta 'sta strata china!

(/t/: vitti, tutta, 'sta, strata, tutte quattro, giovEnoße; /a/: tutta, 'sta, strata, china, quattro) M:

Aber das schwör ich, wie ich war/wie ich 12 Jahre hier gewesen bin, kaum war ich in Italien, sind wir ausgegangen mit meiner Schwiegertochter, und da seh ich die ganze Straße war voll, alles junge Dämchen, alle zu viert oder fünft alles.. Jugendliche. Sag ich zu meiner Schwiegertochter "Was ist denn hier los?" Ehrlich (? ?). Die ganze Straße voll!

In die /t/-Serie integriert als 'materia sonans', die der Affirmation klanglichen Effekt und Resonanz geben, ist hier u.a.: Die dialektale Form strata - an anderer Stelle gebraucht die Sprecherin die italienische Form; die Zahlenangabe quattro · bei Schätzwerten sind die Zahlwörter in gewissem Rahmen frei wählbar und somit verfügbar als resonanzbildendes Material; die Suffixbildung mgiövEnottE - auch hier existiert im Italienischen ein größeres Spektrum nicht-/t/-haltiger Wahlmöglichkeiten. Die /t/-Förmigkeit ist mithin eine von der Sprecherin vorgenommene durchgängige lautstilistische und poetische Gestaltung der Äußerung. Auch die bereits oben angeführten onomatopoetischen Formen sind nicht selten in den Prozeß der Listenbildung integriert, vergleiche (16). Auch (16) erscheint am Ende ei-

75

ner längeren konversationellen Erzählung. Dabei nutzt der Erzähler das serielle Potential der Dreierliste: die pointenhaft zugespitzte Formulierung mit der onomatopoetischen Form, die den Abschluß bildet, erscheint an dritter Position in der Liste. Mit der onomatopoetischen Form, die wie die von (7) und andere in bereits angelegte Serien eingebettet ist und diese verlängert und verstärkt, wird hier auf drastischderbe Weise der Abschluß einer dramatischen Erzählung stilisiert, in der der Erzähler einen unmittelbar in seiner Nähe geschehenen Betriebsunfall mit tödlichem Ausgang dargestellt hat. (16)

(BER 12:9f) P:

( ) luportono (U mono, F. M.) all'avanti dell'ufficio.//L:Hm//Quando arriva U, arriva una tavola, una cassa cu quattru tavole R loprende uno con un braccio, uno con 'na gamba, 'brrumm' e u durrupunu dentru.

(/P/> /b/, /T/:jyende, braccio, 'bmimm'. durrupunu, dentru; /u/: uno, un, 'brrumm, durrupunu, dentru) P:

( ) tragen ihn (den Toten, F. M.) vors Betriebsbüro. //L:Hm//Wie er da ankommt, kommt eine Planke, eine Kiste aus vier Planken an, einer nimmt ihn am Arm, einer am Bein, 'rrumms' und reingeschmissen.

4.3. ZWEISPRACHIGELISTEN Im vorausgehenden wurden Lautserien und Listenbildung v.a. als Potential und als Ressource dargestellt, die von den süditalienischen Sprechern(innen) nicht selten virtuos und kunstvoll als poetisch-rhetorisches Stilmittel gebraucht werden. Von einer als Stilmittel beherrschten Ressource kann im gleichen Sinne gewiß nicht die Rede sein bei den zweisprachigen Listen, die z.T. in Deutsch formuliert werden müssen. Die Hürde der Fremdsprachigkeit verstärkt den Aspekt von zu lösender Formulierungsaufgabe, der der Listenbildung ebenfalls zukommt, und beleuchtet Schwierigkeiten und Probleme, einiges 'auf die Reihe' (eines zumeist dreigliedrigen Paradigmas) zu bringen. Zwei Beispiele müssen hier genügen. Der Sprecher von (17), der uns noch von den Koteletten von (5) her in Erinnerung ist, beschreibt mit der Liste hier die im Rahmen seines Nebenberufs als 'barbiere' im sonntäglichen Rhythmus erfolgenden Reisen in Frankfurter Stadtteile. (17)

(BOR28:2f) P:

'Na domenica andav'a'Enkheim', 'na domenica andav'a 'Rödelheim', 'na domenica andav'a 'Schönhof.

76 (/-h-/: Enkheim, Rödelheim, Schönhof; /ö/: Rödelheim, Schönhof; morphon, Serie/-heim/: Enkheim. Rödelheim} P:

Einen Sonntag ging's nach Enkheim, einen Sonntag ging's nach Rödelheim, einen Sonntag ging's nach Schönhof

Beispiel (17) belegt noch einmal anschaulich die mehrfach erwähnte ikonische Gebrauchsweise von Listen: Rekurrente, rhythmisch wiederkehrende Serien von Alltagshandlungen werden von den italienischen Sprechern unseres Corpus häufig durch Rekurrenz und rhythmische Wiederholung im Dreierparadigma zum Ausdruck gebracht. Liste (17) ist referentiell eingeschränkt, d.h. u.a. vom Wahrheitswert her und vom Repertoire des Sprechers über Stadtteileigennamen. Wie er an einer anderen Stelle sagt, ist Matteo noch in anderen Frankfurter Stadtteilen als 'barbiere' tätig geworden, z.B. in 'Niederrad' und in 'Hausen', die aber nicht auf der Liste von (17) erscheinen und vom Klangzauber her sich hier auch nicht gut einfügen würden. Der Sprecher scheint somit aus dem Gesamtrepertoire der hier möglichen Kandidaten ein (morpho-)phonologisch gut zusammenpassendes Ensemble auszuwählen - sicher nicht aus Gründen des schieren Wohlklangs. Vielmehr liegt die Vermutung nahe, daß die (morpho-)phonologischen Affiliationen zwischen den Namen - auch oder gerade bei fremdsprachlich erschwerter Aufgabe eine praktische heuristische Strategie bilden, die das Auffinden nächster passender Listenelemente erleichtert, und der Wohlklang mithin mnemotechnische Aufgaben erfüllt. Dabei folgt die Aufzählung der deutschen Eigennamen in (17) nicht nur der dreigliedrigen Vollständigkeit und den notierten (morpho-)phonologischen Affiliationen. Im gehörten Text auffälliger noch ist die Affiliation, die über eine Besonderheit und Schwierigkeit der Artikulation erfolgt: Das für Sprecher romanischer Sprachen bekanntlich schwierige deutsche /h/ wird vom Sprecher hier in hyperkorrekter Weise angegangen und spaltet, eine artikulatorische Klippe größeren Ausmaßes, die drei deutschen Eigennamen in je zwei Hälften, eine 'ante' und eine 'post quem': Enk-Heim, Rodel-Heim, Schön-Hof. In (18) kündigt der Sprecher (leichtfertig?) im bis dato italienisch gehaltenen Diskurs eine Liste an, was die Erwartung auf einen damit verbundenen rhetorischen Effekt hervorbringt. Formulieren muß er die Liste jedoch auf Deutsch, da es sich auch hier um Eigennamen, oder doch ähnliche Gebilde, nämlich Speisenamen handelt. Zwischen Ankündigung der Liste und Ausführung bzw. noch während der Ausführung interveniert die Sprachgrenze. (Da das Paradigma der Liste in (18) nur peu ä peu zustandekommt, wird sie hier linear geschrieben; I: Interviewer; F: Sohn von P; 'ääh': qualifiziert die Kartoffeln; von der einleitenden Zahlenliste wird abgesehen.) (18)

(BOR23:16f) P:

Alia cinquantanovE, alia sessanta, alia sessantuno, qui in Germania, sä ehe vEdeva solE?

I:

No

P:

PatatE.. Kartoffel ääh.. (An F:) Come si chiama, U cartuccE lä?

77 F: P:

(? ?) Rotkohl Eh.. Rot/Rotkohl, mehr! (Lacht)

Weiss/Weisskohl//I:Hm//Sonstnix.

(/k/: Kartoffel, cartucce, Rotkohl, Weisskphl; morphophon. Serie: /-kohl/: Rot/Rotkohl Weiß/Weißkohl) P: I: P: F: P:

Neunundfünfzig, sechzig, einundsechzig, hier in Deutschland, wissen sie was man da nur zu sehen bekam? Nein PatatE .. Kartoffel ääh .. (An F:) Wie heisst das, dieses Blattgemüse da? (? ?) Rotkohl Eh .. Rot/Rotkohl, Weiß/Weißkohl//I:Hm//Sonst nix mehr! (Lacht)

P produziert das erste Listenglied zunächst italienisch (patatE), dann deutsch (Kartoffel). Um das fehlende nächste deutsche Listenglied zu erhalten, wendet er sich mit Bitte um Übersetzungshilfe an Sohn F. Dabei kann er, um den nächsten deutschen Terminus zu erfragen, die unmittelbar vorausliegende Kartoffel aufnehmen und kommt von da aus, über die phonologische Ähnlichkeit Kartoffel/cartucce, mühelos weiter zum nächsten, dem zweiten italienischen Listenelement. Von F erhält er die Übersetzung und somit das nächste, das zweite deutsche Listenelement Rotkohl. Von diesem kann er das dritte, Weißkohl über die Wortbildungsähnlichkeit ableiten und das Paradigma dreigliedrig vollständig machen. Die Liste wird also gebildet mit patate - Kartoffel - cartucce - Rotkohl(F) - Rot/Rotkohl Weiß/Weißkohl und von nahezu jedem der Elemente gibt es auch eine phonologische oder morphonologische Affiliation, die zum nächsten führt. Die dreigliedrig vollständige 'Vielheit' der Liste dient hier als Verfahren zur Formulierung intensiven Mangels, wie an der Schlußformel deutlich wird. Das Sonst nix mehr! bezieht sich im übrigen, wie aus dem weiteren Diskurs hervorgeht, nur auf das, was in der deutschen Küche 'Beilage' ist, statt Gemüse, wie in der italienischen Küche. Das Thema Kohl kann jedoch an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden. 5. RESÜMEE Lautstilisierende Gestaltung ist nicht auf die 'belles lettres" beschränkt, sondern auch ein wichtiges alltagsrhetorisches Mittel zur Pointierung, Konturierung und emphatischen Hervorhebung von Äußerungen. Die verstärkende 'amplificatio' war im vorausgehenden ein zentraler Punkt der Beobachtung, nicht aus apriorischen Gründen, sondern aus dem Versuch heraus, einer in den süditalienischen Texten wahrgenommenen Tendenz gerecht zu werden. Im vorliegenden Corpus jedenfalls scheinen emphatische Kontexte lautstilistische Effekte zu favorisieren bzw. werden durch solche im Verbund mit anderen Faktoren auch konstituiert. Dieser noch sehr allgemeine und nicht leicht zu beschreibende Konnex von Emphase und Lautstilisierung wurde in Zusammenhang gebracht mit einem in der klassischen Rhetorik wie in der neueren Konversationsanalyse detaillierter beschriebenen Typus der 'am-

78 plificatio', der Listenbildung und den Listenstrukturen. Mit Blick auf die süditalienischen Sprecher und ihre Listenproduktionen wurde dabei unterschieden zwischen: a)

b)

Formen, wo die Sprecher die Poetik der Assonanzen und Lautserien nutzen als Ressource für eine pervasive lautstilistische Gestaltung, die alltagsrhetorischen Zwecken dient und den Effekt einer Äußerung verstärkt. Listenbildung und Lautserien dienen insbesondere allquantifizierenden Formen der Negation und Affirmation. Listenparadigmen haben nicht selten Aliquanteren (tutto, niente, sempre, mai, u.a.) zum Auslösepunkt, die auf lexikalischem oder syntaktischem Wege nicht mehr zu steigern sind, wohl aber durch Klangzauber. Der Klangzauber kann direkt über dem lautlichen Körper des Allquantors operieren, diesen verbreitern und verbreiten im Listenparadigma. Listen dieser Form sind auch von einem traditionellen Verständnis von Poetik her gesehen von beachtlicher Virtuosität und brauchen den Vergleich mit der Belletristik nicht zu scheuen. Während Listenbildung und Lautserien sicher ein allgemeines Phänomen darstellen, läßt sich vielleicht die forcierte Gebrauchsweise als rhetorische 'amplificatio' als eine kulturspezifische, süditalienische Technik des Overstating' betrachten. Klangzauber läßt sich auch in den fremdsprachigen Listen finden. Er verweist hier indes nicht auf Virtuosität der Sprachbeherrschung und rhetorisch-stilistische Effekte, sondern auf Schwierigkeit und Anforderungscharakter der Listenbildung (vgl, Jefferson in Vorb.) und auf Mnemotechnik. Die (morpho-)phonologischen Affiliationen dienen hier vermutlich als praktische heuristische Hilfsmittel und Leitlinien der lexikalischen 'search and discovery'-Prozeduren, um passende nächste Elemente von vorausgehenden abzuleiten.

Die beiden genannten Gesichtspunkte - stilistische Ressource und Poetik auf der einen, praktische Heuristik und Mnemotechnik auf der anderen - müssen indes nicht als unversöhnliche Gegensätze betrachtet werden. Der Zusammenhang von Poetik und Mnemotechnik ist in vorschriftlichen Gesellschaften, die von primärer Mündlichkeit bestimmt waren, bekanntlich ein sehr enger gewesen und Strukturen der Rekurrenz haben dabei eine wichtige Rolle gespielt. Rekurrenzstrukturen sind im vorausgehenden als Merkmale des Mündlichkeitsstils der süditalienischen Sprecher(innen) zwar gezielt, aber auch einseitig betrachtet worden: Wünschenswert ist jedenfalls das Einbeziehen ihrer intonatorischen und rhythmischen Aspekte. Werden diese hinzugezogen, so ergibt sich möglicherweise auch zusätzliche Evidenz für die These von Walter Ong: "Redundancy characterizes oral thought and speech. It is more natural to thought and speech than is sparse linearity. Sparsely linear analytic thought is an artificial creation, structured by the technology of writing. Eliminating redundancy on a significant scale demands a time-obviating technology, writing, which imposes some kind of strain in preventing expression from falling into its more natural heavily rhythmic and balanced patterns" (Ong 1982:40).

79

ANHANG Zu den Spezifika süditalienischer Dialekte, wie sie die im Text repräsentierten Sprecher(innen) verwenden, vgl. Müller 1987 und di Luzio 1988. Zur Transkription //B:Hm// / .,..,... ( ) (? ?) (In Libia, F. M.) (Lacht) E "Enkheim"

'paradigmatische Schreibweise' Übersetzungen

'Continued werden mit Angabe des Autors in Text des laufenden Sprechers eingefügt Steht zwischen abgebrochener Struktur und Neustart Turn-interne Pausen oder Verzögerungen Nicht zitierte Teile Nicht identifizierbare Teile Zum Leseverständnis von mir ergänzte Teile Sprachbegleitende Symbolik Wie in erEnE, steht für Schwa-Laut In italienischen Texten erscheinende deutsche Worte werden nur durch Anführungszeichen markiert und es wird kein Versuch phonetischer Abbildung etwa ihres hessischen Dialekteinschlags gemacht Listenstrukturen werden aus dem ansonsten linearen Transkript vertikal ausgegliedert In den Übersetzungen wird kein Versuch gemacht, lautliche Eigenschaften des italienischen Originals nachzubilden.

80

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SOZIALE STILE DES MITEINANDER-SPRECHENS. BEOBACHTUNGEN ZU FORMEN DER KONFLIKTBEARBEITUNG IN ZWEI FRAUENGRUPPEN Inken Keim Johannes Schwitalla

1. EINLEITUNG: ZIELSETZUNG. INFORMATIONEN ZU DEN GRUPPEN Im Rahmen des Projekts 'Kommunikation in der Stadt',1 das am Institut für deutsche Sprache durchgeführt wird, untersuchen wir das sprachlich kommunikative Verhalten in zwei Frauengruppen daraufhin, wie sich in der Realisierung bestimmter kommunikativer Muster bei der Bewältigung spezifischer Aufgaben, nämlich der Konfliktbearbeitung, die soziale Identität dieser Gruppen zeigt. Die erste Frauengruppe, die 'Bastelgruppe', stammt aus einem Stadtteil der Mannheimer Innenstadt mit der volkstümlichen Bezeichnung "die Filsbach".2 Die Gruppe besteht aus ca. 25 Frauen, die sich seit Jahren regelmäßig wöchentlich im Nebenraum eines gemeinnützigen Vereins treffen. Die meisten von ihnen gehören zur angestammten Stadtteilbevölkerung, vorwiegend Arbeiter, Handwerker und kleinere Geschäftsleute. Die Treffen dienen vor allem der Geselligkeit, auch wenn der äußere Anlaß das Basteln und Handarbeiten ist. Die Treffen werden von einem Vereinsmitglied betreut. Inken Keim war vier Jahre Mitglied dieser Gruppe. Sie konnte in dieser Zeit regelmäßig Tonbandaufnahmen machen. Die zweite Gruppe, die 'Literaturgruppe', besteht aus neun Frauen, die sich vierzehntägig reihum in der Wohnung einer Teilnehmerin treffen, um sich aus literarischen Erzählungen und Romanen vorzulesen. Diese Frauen wohnen in den bevorzugten Wohnbereichen des Neubaustadtteils Mannheim-Vogelstang.3 Sie gehören zur 'tonangebenden' Schicht des Stadtteils. Neun ihrer Treffen wurden von Johannes Schwitalla im Jahr 1985 aufgezeichnet, wobei er nur bei einem selbst dabei war. Die beiden Frauengruppen sind unter mehreren Aspekten vergleichbar: Es sind Freizeitgruppen, die sich im wesentlichen unterhalten wollen. Die Mitglieder sind Frauen in mittleren bis älteren Lebensjahren, meist verheiratet mit zum Teil schon erwachsenen Kindern. Es sind vor allem Hausfrauen, einige arbeiten auch außer Haus. Neben diesen Gemeinsamkeiten gibt es aber eine Reihe von Unterschieden, die einen direkten Vergleich des Kommunikationsverhaltens nicht zulassen. Vor allem fol1 2 3

Zu Anlage und Ziel des Projekts vgl. W. Kallmeyer (1989b). Zur Darstellung dieses Mannheimer Stadtteils: I. Keim (1989). Zur Darstellung des Mannheimer Stadtteils Vogelstang: J. Schwitalla (1989).

84

gende Unterschiede zwischen den Gruppen halten wir für wichtig und führen sie hier stichwortartig auf:

BASTELGRUPPE

LTTERATURGRUPPE

Zugehörigkeit zu unterschiedlichen sozialen Welten: 'Einfache' Leute der deutschen Stammbevölkerung aus einem alten, durch Sanierung, hohen Ausländeranteil und Armut charakterisierten Stadtteil.

Angehörige der sozialen tonangebenden Schicht eines neuerbauten Stadtteils, der von der Planung her sozial gemischt ist. Die Frauen oder ihre Männer üben dort organisatorische Tätigkeiten aus in den Kirchen, in der Politik und in Freizeitorganisationen des Sports, der Kunst und der Bildung.

Unterschiedliche Ziele der Treffen: Äußerer Anlaß ist das Bastelangebot eines gemeinnützigen Vereins zur Wiederbelebung des Stadtteils. Das eigentliche Ziel der Treffen ist jedoch Geselligkeit und Unterhaltung (je mehr man lachen konnte, desto schöner war das Treffen).

Gemeinsames Lesen und Besprechen von literarisch anspruchsvollen Romanen und Erzählungen; zum Teil konkurrierend dazu das Interesse, sich mit Gleichgesinnten über fa-miliäre Probleme auszutauschen, sich verstanden zu wissen. Regelmäßiges Informieren über familiäre Ereignisse.

Unterschiedliche Organisationsprinzipien der Grupoentreffen: Fremdinitiative, die Treffgelegenheit wird vom Verein angeboten; Programmangebote und Materialien dazu werden vom Veranstalter verantwortet. Zur Aufrechterhaltung der Treffen ist wenig Eigeninitiative notwendig und kaum Eigenaufwand zur Durchführung der Treffen; lockere Teilnahmeregelung.

Selbstinitiative und Selbstverantwortlichkeit für das Gelingen und die Aufrechterhaltung der Treffen; impliziter Zwang zur Teilnahme. Hohes Maß an Engagement und viel Vorbereitungsaufwand für die Treffen (ausführliche Diskussionen über die zu lesenden Romane).

Unterschiedliche Vertrautheit der Gruppenmitelieder: Durch langjähriges Bekanntsein und enges Zusammenwohnen sind die Biographien der Frauen wechselseitig bekannt; hohe Durchsichtigkeit der privaten und sozialen Verhältnisse; gleichzeitig großes Bedürfnis nach Distanz; kaum Einladungen in Wohnungen; Abschirmung des privaten Bereichs vor der Gruppe; enge Vertrautheit nur zwischen einzelnen Mitgliedern der Gruppe, doch ohne deren jeweilige Familien.

Hohe Gemeinsamkeit der Interessen (Literatur, Kunst); Vertrautheit mit dem Wohn- und Lebensstil der anderen, die eine bewußte Öffnung für die anderen voraussetzt. Relativ kurze persönliche Bekanntschaft; gute Kenntnis der gegenseitigen familiären Situation, zum Teil auch enge, freundschaftliche Beziehungen zwischen einigen Frauen und deren Familien (gemeinsame Urlaube, Ausflüge, Theaterbesuche).

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Unterschiedliche Lebensräume außerhalb der Gruppentreffen: Die meisten Mitglieder haben soziale Kontakte vor allem innerhalb des Stadtteils; geringe überregionale Mobilität; Kontakte mit höheren sozialen Welten vor allem im institutionellen Kontext; Erfahrung als von dene da oben abhängig.

Leitung anderer Freizeitgruppen mit Teilnehmern aus anderen sozialen Milieus; hohe überregionale Mobilität; weiter Freundesund Bekanntenkreis (auch vermittelt durch die Kollegen der Männer).

Wir gehen davon aus, daß es in beiden Gruppen aufgrund der Zugehörigkeit ihrer Mitglieder zu unterschiedlichen sozialen Welten auch unterschiedliche Konzepte von Unterhaltung, unterschiedliche Auffassungen des Imageschutzes und unterschiedliche Vorstellungen darüber gibt, wie bestimmte Themen oder Probleme besprochen werden sollen. Diese auf verschiedenen Ebenen sehr unterschiedlichen Voraussetzungen der Gruppentreffen bedingen u.a.: - unterschiedliche Kommunikationsformen zur Aufrechterhaltung und Durchführung der Treffen, und - unterschiedliche Regeln für Nähe und Distanz. Die Bewältigung dieser kommunikativen Aufgaben ist konstitutiv für den sozialen und kommunikativen Stil der jeweiligen Gruppe. Einige der Formen für die Aufrechterhaltung von sozialem Zusammenhalt und für die Regelung von Nähe/Distanz in den beiden Gruppen, die in der Konfliktbearbeitung eine Rolle spielen, fassen wir hier kurz zusammen. In der Bastelgruppe ist die ernste und ungebrochene Behandlung von persönlichen Problemen nicht erwünscht, da Unterhaltung und Amüsement Priorität haben. Die meisten Mitglieder haben jedoch persönliche Probleme (Alkoholismus, Arbeitslosigkeit, Abhängigkeit von sozialen Einrichtungen), und aufgrund der räumlichen und sozialen Enge wissen die anderen sehr oft von diesen Problemen; d.h. sie besitzen unfreiwillig erworbenes Wissen aus der Privatsphäre der anderen. Für die Behandlung dieses allgemeinen Wissens gilt in der Gruppe, daß die Betroffene selbst ihr Problem mit 'begrenzter Offenheit' präsentiert und in Form und Modalität den in der Gruppe geltenden Regeln für Geselligkeit entsprechend bearbeitet. Bevorzugte Formen dafür sind Witz, Frotzeln und amüsante Erzählungen. Das persönliche Problem wird dabei thematisch auf körperliche bzw. sexuelle Aspekte reduziert (über Eheprobleme z.B. wird unter sexuellem Aspekt gewitzelt). Gleichzeitig jedoch respektieren die Mitglieder das allgemeine Bemühen um die Erhaltung und Abschirmung eines privaten (Rest-)Bereichs. Aus der Perspektive derjenigen, die Probleme, Schwierigkeiten u.a. hat, ist es wichtig herauszufinden, was die anderen darüber wissen; nur diesen Teil gilt es offenzulegen. Aus der Perspektive der anderen ist es wichtig zu kontrollieren, daß die Betroffene die anderen von ihrem Wissen entlastet, indem sie selbst das allen Bekannte thematisiert. Die Problembearbeitung in der Gruppe gleicht einem Balanceakt zwischen 'begrenzter Offenheit* einerseits und der Ausklammerung aus der Gruppeninteraktion andererseits.

86

Bei der Bearbeitung von Konflikten, die Gruppennormverletzungen folgen, wird in der Bastelgruppe ähnlich verfahren. Zuerst muß die Nonnverletzende ihr 'Vergehen' selbst thematisieren, bevor es direkt und explizit in der Gruppe behandelt wird. Hat die Thematisierung durch die Betroffene noch nicht stattgefunden, wird das Kritikobjekt andeutend und indirekt behandelt; emotionale Aspekte des Konflikts dagegen, Ärger, Wut, Enttäuschung u.a., werden direkt und stark expressiv zum Ausdruck gebracht. In der Literaturgruppe dagegen ist die Behandlung persönlicher Probleme in ernster, ungebrochener Modalität wesentlicher Bestandteil der Treffen. Die Frauen respektieren es, wenn eine Frau nicht über ihr Problem sprechen will; sie dringen aber in sie, ihr Herz auszuschütten, wenn sie das Gefühl haben, etwas belaste sie. Über Familienprobleme wird nicht ohne Zustimmung der Betroffenen geredet. Andererseits gilt die Regel, andere Frauen nicht zu sehr mit den eigenen Problemen zu belasten. Bestimmte Themen jedoch, wie die Frauen- und besonders die Ehefrauenrolle, zu denen es in der Gruppe unterschiedliche Einstellungen und lebenspraktische Lösungen gibt, werden behutsam behandelt, meist nur angedeutet, selten argumentativ und in ernsthafter Weise. Divergenzen werden durch Anspielungen und nicht-aggressives Frotzeln angedeutet. Die Frauen praktizieren einen bestimmten Stil des Umgangs miteinander. Sie sind darauf bedacht, die persönliche Sphäre4 der jeweils anderen zu achten und ihr "positives Image"5 hervorzuheben, wozu sie einige typisierte Ausdrucksmuster von Höflichkeit verwenden. Diese Grundregel läßt negative Wertungen in ihrer Formulierung behandlungsbedürftig werden; sie verbietet grobe und beleidigende Ausdrücke. Für eine exemplarische Darstellung von Stilmerkmalen halten wir Konfliktbearbeitungen deshalb für erfolgversprechend, weil es bei Störungen des unproblematischen Ablaufs der Interaktion und bei Schwierigkeiten der Beziehungsgestaltung in erhöhtem Maße darauf ankommt, den rechten Ton zu finden und eigene Interessen, verletzte Gefühle und sich widerstreitende Ansichten in einer Weise zu versprachlichen, die den sprachlich kommunikativen Gruppennormen entspricht. Unter 'Konflikten' verstehen wir ganz allgemein Diskrepanzen zwischen den Mitgliedern der Gruppen hinsichtlich beziehungsbezogener, wertbezogener und wissensbezogener Geltungsansprüche, die sich die Beteiligten wechselseitig verdeutlichen und gegeneinander zu verteidigen oder durchzusetzen versuchen.6 Um Konfliktbearbeitungen in diesen beiden Gruppen gegenüberstellen zu können, wählen wir einige vergleichbare Konfliktanlässe aus, die in beiden Gruppen auftreten, und beschreiben dann exemplarisch einige typische Bearbeitungsmuster. Dabei gehen wir von relativ einfachen Konfliktanlässen zu den schwerwiegenderen über. Es sind dies: - Störungen des aktuellen gemeinsamen Interaktionsziels; - Konflikte, die daraus entstehen, daß eine Beteiligte ein Thema tabu halten will, die anderen aber das Bedürfnis haben, darüber zu sprechen;

4

Vgl. Raible (1987) 146.

5

Vgl. Brown/Levinson (1987) 13f.

6

Vgl. Rehbock (1987) 177, Anm. 1.

87

- Konflikte, die aus grundsätzlichen und für die Beteiligten relevanten unterschiedlichen Wertungssystemen entstehen, und schließlich - potentiell gruppensprengendes Verhalten. Dabei wollen wir die typischen Bearbeitungsverfahren in den Gruppen daraufhin betrachten - wie der Umgang mit persönlicher Nähe und Distanz geregelt ist; - aufgrund welcher Bedingungen Konflikte verschärft oder abgeschwächt werden; - ob sich bei der Konfliktbearbeitung für beide Gruppen typische und bevorzugte Realisierungsformen feststellen lassen und ob sie generellen Regeln der Gruppeninteraktion zugeordnet werden können.

2. KONFLIKTANLÄSSE UND KONFLIKTBEARBEITUNGEN 2.1. STÖRUNGEN DES AKTUELLEN INTERAKTIONSZIELS In beiden Gruppen können kommunikative Verhaltensweisen von Gruppenmitgliedern, die dem von der Gesamtgruppe zu einem bestimmten Zeitpunkt fokussierten Interaktionsziel entgegenlaufen, Anlässe zu leichteren Konflikten bieten. In den Gruppen werden unterschiedliche Verhaltensweisen als störend empfunden und Verstöße werden unterschiedlich bearbeitet.

2.1.1. BASTELGRUPPE: BEILEGEN DER STÖRUNG DURCH ORDNUNGSRUFE Im Vergleich zur Literaturgruppe verlaufen Treffen in der Bastelgruppe insgesamt turbulenter. Wenn viele Mitglieder anwesend sind, gibt es meist mehrere kleine Gesprächskreise, die jedoch jederzeit aufgebrochen werden können, wenn eines der Mitglieder ein kommunikatives Angebot an die Gruppe macht, das einen hohen Geselligkeitswert verspricht, z.B. ein neuer Witz, ein amüsantes Erlebnis u.a.. Die meisten der Gruppe wenden sich dann dem interessanten thematischen Angebot zu, mögliche parallel laufende leisere Zweier- oder Dreiergespräche werden nicht als störend betrachtet. Während es den Hauptakteurinnen der Gruppe meist problemlos gelingt, sich durch spezifische Angebotsformulierungen Gehör zu verschaffen, fällt es der Gruppenbetreuerin, Frau Kranz, schwer, ihre thematischen Initiativen in der Gruppe durchzusetzen, vor allem, wenn sie Organisationsaufgaben betreffen (z.B. Planungsüberlegungen zu Festen, Ausflügen u.a.). Sie erhält oft Unterstützung durch andere Frauen, die mit Ordnungsrufen die anderen zur Disziplin auffordern. Ordnungsrufe gegen kommunikative Disziplinlosigkeit sind im allgemeinen nicht konfliktträchtig; sie werden, nachdem auf sie verbal reagiert wurde, in der Regel befolgt, ohne Mißstimmung hervorgerufen zu haben. Die verbale Reaktion enthält nur in seltenen Fällen, meist jedoch Frau Kranz gegenüber, eine Entschuldigung für die eigene Disziplinlosigkeit.

88

Ordnungsrufe und die jeweiligen Reaktionen bestehen meist aus Formeln,^ die je nach Situationsanforderung und nach Modalität der Reaktion variieren. Die Verwendung von relativ festen paarigen Formeln für Zurechtweisung und Reaktion darauf erlauben die schnelle und kommunikativ unaufwendige Bearbeitung von momentanen Interaktionsstörungen. Der Formelcharakter ermöglicht eine unpersönliche Art des Tadels; die direkte persönliche Zurechtweisung auf einen konkreten Verstoß mit der inhärenten Gefahr, einen Konflikt auszulösen, kann damit vermieden werden. Die Verwendung von Formeln gestattet es also den Frauen, eine momentane kommunikative Störung effektiv zu bearbeiten und dabei gleichzeitig die persönliche Distanz zwischen Tadelnder und Getadelter aufrechtzuerhalten. Ordnungsrufe können spielerische Zurechtweisungen sein, auf die die Getadelten ebenfalls spielerisch durch einen Gegenangriff reagieren. So wurde z.B. der Angriff auf das rücksichtslose, laute Dozieren einer Beteiligten in Konkurrenz zu einer von der Gruppe bevorzugten und fokussierten Aktivität durch den ironischen Angriff mensch is des e schlaui fraa von der Getadelten gekontert durch gibt=s wenigschens äni dohin die was weeß. Ordnungsrufe können auch ernste direkte Zurechtweisungen sein, z.B.: mensch sei do=mo ruhisch die entweder durch Eingestehen, z.B.: ja isch halt moigosch oder durch Kontern, wie z.B.: mensch geh net so ( = an) erwidert werden. Größere Rücksichtslosigkeit der Störenden einerseits und Hartnäckigkeit der zur Ordnung Rufenden andererseits können aber auch zu kleinen Konflikten führen, die einer aufwendigeren Bearbeitung bedürfen. Auch dazu werden wiederum Formeln eingesetzt. Das folgende Beispiel, in dem die Konfliktverursacherin den Konflikt für sich erfolgreich beenden kann, erhellt darüber hinaus weitere konstitutive Merkmale der Gruppentreffen: Als Frau Kranz (KR) eine Weihnachtsfeier in der Gruppe besprechen will, beginnt Frau Kunz (KU) parallel dazu mit einer derb-amüsanten Erzählung und setzt sich durch. Frau Kunz ist eine der Hauptgruppenunterhalterinnen, die geschätzt ist wegen ihrer Fähigkeit zu Witz, Komik und Groteske. Als Frau Kunz nach dem ersten derb-witzigen Erzählhöhepunkt ihre Erzählung expandieren will, versucht Frau Bart (BA) zu unterbrechen durch die Ermahnung: die fra kränz will was schbresche. Darauf reagiert Frau Kunz nicht und erzählt voller Intensität weiter. Gerade als sie die nächste Pointe präsentieren will, wird sie von Frau Held (HE) unterbrochen:^

7

Zum Begriff der Formel, zur Formelbildung und verschiedenen Formeltypen in der Bastelgruppe vgl. W. Kallmeyer/1. Keim (1986 und 1989a).

8

Die Erläuterungen zu den Transkripten befinden sich im Anhang.

89

1 HE: die redd heid widda fer allel K:

LACHEN

2 KU: sense; ah ja isch bin jo 3 HE: die fra Kranz woll=doch was sciibre"sche: nitt 4 KU: ruhisch sach nix mehr vu=mir herd=a nix mehr K:

EINIGE IACHEN

5 HE: nä" so woll=3na des aa nit hawwe nö K:

AUCH ANDERE PROTESTIEREN

6 KU: nei"n sch=hab aa moin sdxtolz 7 HE: nönö 8 IN: des war ja langweilich fra Kunz 9 HE: jo: mer sin froh daß se do" 10 IN: ohne sie geht des net 11 KR: ne ich würde des/ 12 KU:

#sch=bin do=nit eiern

K:

ILACHEN IN DER STIMME!

13 HE: is nitt daß ma was zu lache hawwe 14 IN: IACHT 15 KU: clo":n hert# K:

AI1£ IACHEN

Mit dem formelhaften Tadel für rücksichtsloses Erzählen (Z. l im Sinne von: Sie maßt sich das Rederecht für alle an) unterbricht Frau Held Frau Kunzes Erzählung kurz vor der Pointe und zeigt durch den ungewöhnlich harten Eingriff in eine unterhaltsame Aktivität, daß für die Beteiligten die Planungsinitiative von Frau Kranz zu diesem Zeitpunkt Priorität hat vor der derben Spaß versprechenden Erzählung von Frau Kunz. Frau Kunzes zunehmende Rücksichtslosigkeit ahndet Frau Held durch eine grobe Mißachtung von Frau Kunzes Erzählerrolle. Darauf reagiert Frau Kunz kurz und schroff: sense (= Schluß, Ruhe). Frau Held begründet den harten Eingriff dadurch, daß sie Frau Kranz zum Rederecht verhelfen wollte (Z. 3). Darauf folgt keine Entschuldigung u.a. von Frau Kunz für die getadelte Rücksichtslosigkeit, sondern sie kündigt in beleidigtem Ton ihre Absicht an, fortan absolut zu schweigen (Z. 4). Auf den fallgebundenen Vorwurf reagiert sie durch Generalisierung ihrer Absicht zur Verhaltensänderung (= schweigen) und bringt sie damit in direkten Zusammenhang mit ihrer Rolle als Unterhalterin; ihre Reaktion enthält so die implizite Drohung, die Unterhalterrolle aufzugeben. Damit evoziert sie Reparaturversu-

90

ehe der anderen (Z. 10). Das Reparaturangebot wehrt sie zunächst noch in 'schmollendbeleidigtem' Ton ab, signalisiert durch die Verwendung der Formel sch=hab aa moin schdolz jedoch, daß ihr Beleidigtsein spielerische Elemente hat. Nach der expliziten und ernst gemeinten Anerkennung ihrer Rolle als Gruppenunterhalterin durch Frau Held (Z. 9/13 ) protestiert sie spielerisch gegen die zugeschriebene Rolle, indem sie sie als Clownrolle zurückweist (Z. 15). Doch sie stimmt in das Lachen der übrigen ein und übernimmt anschließend die Rolle. Frau Kunz kann den Konflikt, den sie durch rücksichtsloses Verhalten auslöste, zu ihrem Vorteil beenden, d.h. nicht sie muß sich bei Frau Kranz entschuldigen, sondern die Tadelnden reparieren ihren Vorwurf: - weil Frau Kunz die fallbezogen erwünschte Reaktion auf eine Entgleisung in direkten Zusammenhang bringt mit einer für die Gruppentreffen wichtigen Interaktionsform: amüsante Erzählungen mit hohem Unterhaltungswert; - weil sie weiß, daß sie für diese Interaktionsform ebenso wie für andere Unterhaltungsformen eine der zentralen Figuren der Gruppe ist; und - weil die momentane Entgleisung ihr in Ausübung gerade dieser Unterhalterrolle passierte. Die Reparaturen des Vorwurfs durch die anderen bestätigen die Priorität der Unterhalterrolle, der auch gröbere interaktive Entgleisungen nachgeordnet werden. Gelingt bei Entgleisungen der spielerisch-gebrochene Bezug zur Unterhalterrolle, sind Entschuldigungen auch der Betreuerin gegenüber nicht erforderlich; dagegen sind Reparaturen für den Tadel erwartbar. 2.1.2. UTERATURGRUPPE: IRONISCHE UND SCHERZHAFTE MODALISIERUNGEN ZUR BEILEGUNG DER STÖRUNG Die Frauen der Literaturgruppe erheben für sich den Anspruch, an einem Gespräch teilzunehmen, das Auseinanderbrechen in mehrere Gesprächsfoki lehnen sie ab. Die Frauen müssen jedoch beständig mit dem Widerspruch fertig werden, daß sie zwar zusammenkommen, um ein Thema aus der Literatur gemeinsam zu behandeln, daß sie aber andererseits das Bedürfnis haben, bestimmte private Themen entweder allen Anwesenden oder nur bestimmten Adressatinnen mitzuteilen und mit ihnen zu besprechen. Da dieser Konflikttyp strukturell aus dem Widerstreit zwischen offiziellem Interaktionsziel und eigenen Gesprächsbedürfnissen der Beteiligten vorgegeben ist und häufig vorkommt, haben die Frauen mehr Bearbeitungsmöglichkeiten im Vergleich zu anderen Konflikttypen entwickelt. Bei der Durchführung zeigt sich, daß die Frauen darauf bedacht sind, die persönliche Distanz zu wahren und keine Mißstimmung aufkommen zu lassen. Dies gelingt den Frauen durch die Realisierung ironischer Sprechakte und durch stilistische Abwandlungen und Formulierungsbearbeitungen der Ordnungsrufe.

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a) Ironische Zurechtweisung Z.B. sagt eine Vorleserin, während sich zwei andere Frauen über einen Pullover unterhalten, der in einer Zeitschrift abgebildet ist: ich hoffe, es stört euch nicht, daß ich lese während ihr die Zeitschrift anguckt. Die Ironie entsteht aus der Umkehrung der Agens-Rolle, wer wen stört. b) Kurze Ordnungsrufe Ein dringlich gestalteter Ordnungsruf (Imperativ, lauteres Sprechen) wird spielerisch abgeschwächt durch eine Variation zum dialektalen Sprechen: 1 KE: ja dann müßt=er jetzt a"lle mal zuhören * 2 ST: jat ich hö:rel 3 EB:

so4 ich bitte um aufmerksamkeit 2 EB: jetz isch aber ruhei Hier kontrastieren formelhafte Wendungen aus dem Bereich der Öffentlichkeit und dem eher privaten, vertrauten Umgang zwischen Eltern und Kindern (oder Lehrer - Schüler). c) Scherzhafte, übertriebene Aufforderung Damit werden zwei kommunikative Handlungen gleichzeitig vollzogen: einerseits werden durch den gespielten, scherzhaften Charakter die Wirkungspotenzen nicht-modalisierter Sprechakte aufgehoben; andererseits aber wird durch den propositionalen Gehalt der Äußerung dennoch auf kritische Punkte des Verhaltens einer Adressatin verwiesen. Sprachliche Mittel zum Ausdruck der Ironie sind dabei meistens übertreibende Lexik und ein übertrieben empörter, ernster Sprechton. Als Beispiel seien zwei kurze Passagen zitiert, die während der Vorlesephase geäußert wurden, bevor das letzte Beispiel einsetzte. Frau Funke (FU) ist die Vorleserin: 1 FU: bittet wa"s wart 2 NW: EWJSTET 3 EB: diese u"nqualifizierten (...) 4 BA: laß dich nicht so ablenken i 5 SE: ich hab gesagt irgendwie is ro:sa und pink 6

: K:

#Gu"drun hö:r mal zu: das (qehört?qeht) nicht fGESPIEÜT EMPCKTf

7 SE: modern he he 8 NW: ha ha ha 9 KE:

( (

) )

92

10

: zur sa"che#

11 GR: nee nee Gudrun ich hab gekuckt hier du hast dich auch mit deinem 12 GR: Strickzeug beschäftigt13 OT: STCHNT# is ne fre"chheit# * hier wird einem K:

# GESPIELT EMPCKT #

14 OT: unterste"llt# #ob man hier zuhört* #cder nicht# K:

# SCHMUNZELND #

# IACHEND #

15 NW: 16 EB:

ha ha ha

nei:n des wird

17 EB: doch nich unterste"llt sondern einfach be*o:b*achteti 18 GR: des war nur 19 GR: ne feststellung 20 EB: #ja -»ganz genau # K:

# GESPIELT SCHNIPPISCH #

Die Modalisierung des Tadels setzt nach dem etwas verschämt gesprochenen Eingeständnis von Frau Senft (SE) ein, die zugibt, über etwas gesprochen zu haben, was nicht zum Thema der vorgelesenen Erzählung gehört. Die Zurechtweisung von Frau Bareis (BA): Gudrun hör mal zu, des gehört nicht zur sache ist wie ein tadelnder Verweis in der Schule. Die Übertreibungen liegen einerseits in der Syntax (Imperativ), vor allem aber in der Prosodie: rhythmisch betonte oder gelängte Vokale: Gu"drun hö.r mal zu: das (gehört?geht) nicht zur sa"che. Normalerweise wird ein Tadel akzeptiert. Wenn er bearbeitet wird, dann auf spielerische Weise wie hier, wo sich die Störenden (Frau Senft und Frau Ott) ihrer Schuld bewußt sind. Die spielerische Bearbeitung verschiebt das Problem in eine andere Modalität, die gleichzeitig weniger Image-bedrohend ist. Es folgt keine Rechtfertigung der Betroffenen, sondern ein Eingeständnis (Frau Senft Z. 5) bzw. eine gespielte Entrüstung von Frau Ott (OT): is ja nefrechheit... (Z. 13-14). Auch sie rhythmisiert ihre ersten drei Teilsätze und sie artikuliert das "t" in unterstellt mit einer besonders starken fortis-Aussprache. Sie kann aber diese entrüstete Sprechweise nicht durchhalten, sondern fällt in ein lachendes Sprechen, das vollends ihre Rede als uneigentlich kennzeichnet. Bemerkenswert ist auch, daß Frau Ebert, die eine nachträgliche metakommunikative Definition def Äußerung von Frau Gries (GR) gibt (des wird doch nicht unterstellt, sondern einfach beobachtet), im Wort beobachtet durch zweimalige Pausensetzung den Rhythmus von Frau Ott aufnimmt. Zur größeren Sicherheit folgt abschließend auf die Modalisierung eine abschwächende metakommunikative Äußerung. d) Rechtfertigung aufgrund der Gruppennormen: 'zur Sache sprechen' In Beispiel c) Zeile 6/10 wurde auf eine Gruppennorm verwiesen: Die Lektüre darf nur unterbrochen werden, wenn es der Klärung des Vorgelesenen dient (das (geht?gehört)

93 nicht zur sacke). Nebengespräche, die im Einklang mit dem offiziellen Interaktionsziel stehen, werden geduldet und eine Frau, die deswegen getadek wird, kann sich unter Berufung auf diese Gruppennorm rechtfertigen. Im folgenden Beispiel hatte Frau Funke etwas zum vorgelesenen Text nachgefragt; Frau Kerk (KE) ruft die Gruppe zur Ordnung : 1 KE: #aber ich glaube wir müssen da wi"rklich mal wenichstens zwanzidi K:

# LEECHT VORWURFSVOLL #

2 KE: ininuten hi"ntereinander ohne jegliche Unterbrechung redenlfl 3 OT: als ob es mir be/ # K:

# GANZ LEISE GEFLÜSTERT #

10 KE: und wieder reinkcmnti ** denn es is 11 KE: eigentlich zau"berhaft geschrieben 12 ST: ja des is (so ironisch) es ist sehr qei:strei:ch- und/ 13 NW: (schöne) geschiente 14 FU: ich denke es is nämlich auch au"fschlußreich 15 KE: seh"r genau beobachtet 16 FU: diese/ ** 17 ST: es is mal wieder eine der geschienten die man 18 ST: fnich für sich selber liestK:

# = FPAIJ FUNKE #

Vorwurf und Gegenvorwurf zwischen Frau Kerk und Frau Ott werden von beiden nicht weiter behandelt. Stattdessen rechtfertigt Frau Funke ihre Unterbrechung und begründet sie (Z. 5-7). Eine Replik auf diese Rechtfertigung spricht Frau Ott ganz leise, kaum hörbar, wie für sich selbst gesprochen und dadurch ihrer kommunikativen Qualität entkleidet (Z. 9). Von nun an kooperieren fast alle Beteiligten an der Konfliktbeendigung: Frau Kerk, die Urheberin der Turbulenz, akzeptiert die Rechtfertigung von Frau Funke, indem sie eine - wenn auch deiktisch von ich zu man verschobene - Ergänzung dieser Rechtfertigung gibt (Z. 10-11). Dann folgt ein Themawechsel zu einem Lob des Romans, also von einer negativ zu einer positiv gerichteten Tätigkeit, und in dieses Lob fallen drei weitere Sprecherinnen ein, welche zusätzliche Qualitäten des Romans thematisieren (Z. 12-18). Die Konfliktphase löst sich also in einem allgemeinen Konsens auf. Daß der Konflikt keine Beziehungsschädigung in der Gruppe hinterlassen hat, sieht man auch daran,

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daß Frau Ott, die den Konflikt verschärfte (Z. 3), die in der Gruppe übliche Verhaltensregel für Gäste einhält und die Gastgeberin bittet, sich möglichst wenig Mühe mit den Gästen zu machen. In beiden Gruppen werden also Störungen daran gemessen, wie sehr sie das gemeinsam akzeptierte und für wichtig gehaltene Interaktionsziel der Gruppentreffen behindern. 'Störungen', die diesen Interaktionszielen entsprechen, können in der Literaturgruppe gerechtfertigt werden. Ordnungsrufe werden in beiden Gruppen unterschiedlich durchgeführt, vornehmlich formelhaft und ohne Notwendigkeit zur weiteren verbalen Bearbeitung in der Bastelgruppe; vornehmlich ironisch und scherzhaft eingekleidet, zur Vermeidung eines zu direkten Tadels in der Literaturgruppe.

2.2. DAS TABUHALTEN VON THEMEN Hier behandeln wir Konflikte, die dadurch entstehen, daß Beteiligte sich bei der Behandlung von Themen, die persönliche Probleme tangieren, zurückhalten, bei denen sie sich aber nach der Meinung anderer (der ganzen Gruppe oder einzelner Mitglieder) aktiv beteiligen sollten, und zwar in der Weise, in der Problembehandlungen in den Gruppen geregelt sind.

2.2.1. BASTELGRUPPE: AUFHEBUNG VON TABU-THEMEN Private Probleme werden in der Bastelgruppe nur in einem Bearbeitungsmodus behandelt, der für die anderen Unterhaltungswert hat. Zu den Interaktionsformen mit hohem Unterhaltungswert gehören das Erzählen von sexuellen Witzen, das Erzählen amüsanter derber Geschichten und frotzelnde Phantasie- und Unsinnspiele mit sexueller bzw. allgemein körperlicher Thematik. Unter dem Unterhaltungsaspekt werden ernste persönliche oder familiäre Probleme bei der Präsentation in der Gruppe auf allgemein körperliche bzw. sexuelle Aspekte reduziert und in scherzhafter Modalität als etwas Amüsantes geschildert oder durch Frotzelspiele u.a. bearbeitet. Außerdem gehört es, wie oben bereits ausgeführt, zu den Regeln der Gruppe, daß man persönliche Probleme, von denen man annimmt oder weiß, daß die anderen sie kennen, in der Gruppe thematisiert, und zwar in amüsanter Form. Gegen diese Norm verstößt eine der Frauen, die versucht, ihr Problem, das alle kennen, tabu zu halten. Der Verstoß wird indirekt durch 'hartes Frotzeln'9 mit dem Ziel der Bloßstellung des Opfers bestraft. Reagiert das Opfer betroffen, ist das Ziel erreicht; es folgen keine Renormalisierungsaktivitäten der Angreiferin/nen, sondern diese zeigt bzw. zeigen Schadenfreude und Lust an der Rache durch kreischendes Lachen. Zu Inhalt und Verlauf des harten Frotzeins als indirekte Kritik bei Verletzung von Gruppennormen folgendes Beispiel:

Zu verschiedenen Typen des Frotzeins vgl. I. Keim (1988). Inhalt, Form und Funktion des Frotzeins in der Bastelgruppe (masch.).

95 Die Gruppe unternimmt einen Ausflug in ein Waldgebiet mit Tiergehegen am Rande von Mannheim. Vor dem Wildschweingehege zeigt sieh Frau Held (HE) spielerisch übertreibend an einem der Keiler interessiert. Darauf startet Frau Schumann (SU) ihren ersten Angriff auf Frau Held: 1 SU: «-die frau Held is auf den keiler so wild2 IN:

3 HE:

#-meinst=e 11 OT: >ha des weiß man ja 12 NW: >(quatsch) K:

# ABWEHREND #

13 SE: des glaub ich (...) nichi 14 BA: nicht ja genau * ia Gudrun STÖ6ST ATEM AUS 15 OT: manchmal se"lber nich-

Frau Funke argumentiert weiter, viele medizinische Untersuchungen hätten kein Ergebnis gebracht, und sie rate Frau Senft zu einer psychosomatischen Klinik. Diese glaubt aber nicht, daß sie große kümmemisse habe; es sei der kleinscheiß, der einen ärgert, aber nich so, daß er mich psychisch belastet. Frau Funke kehrt auch dieses Argument für ihre These um: du, wenn de des wüßtest, dann brauchtest du ja kein NN (= Krankheit) zu kriegen. Der Disput geht so aus, daß Frau Senft Frau Funke bittet, vierzehn Tage bei ihr übernachten zu dürfen, um abzuklären, ob nicht doch eine materielle Ursache dahintersteckt. Frau Funke geht auf diesen Vorschlag ein. Wesentlich für die Literaturgruppe scheint uns, daß Diskrepanzen in der Bereitwilligkeit bzw. Fähigkeit, über eigene Probleme zu sprechen, indirekt und argumentativ behandelt werden. Im vorliegenden Fall läßt man das eigentliche Konfliktthema (das Tabuhalten persönlicher Probleme) auf sich beruhen und zeigt sich kooperativ-helfend bei der praktischen Lösung des persönlichen Problems. Die reflexive und kooperative Art des Umgangs miteinander kommt auch im Diskussionsstil zum Ausdruck: Die Frauen hören einander zu, sie verwenden die Argumente der Gegnerin für eigene Argumentationsziele und sie sprechen oft metakommunikativ über argumentative Tätigkeiten und den argumentativen Status von Behauptungen.

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2.3. MEINUNGSUNTERSCHIEDE UND DIVERGENZEN DER WERTUNGSSYSTEME Manche Konflikte entstehen aufgrund unterschiedlicher Wertungssysteme, die mit generellen Lebensorientierungen oder Lebenssituationen der Frauen zusammenhängen. 2.3.1. BASTELGRUPPE: AUFDECKUNG DER DIVERGENZEN DURCH STREIT Konflikte der genannten Art treten in der Bastelgruppe häufig auf und führen oft zu expandierten Normendebatten, meist in Verbindung mit Tratsch und/oder Berichten/Erzählungen aus Filmen und Illustrierten. Sie sind immer verbunden mit Bewertungen, mit sozialer Typisierung bzw. Kategorisierung und mit mehr oder minder expliziten Abgrenzungen von negativ bewerteten Rollen- und/oder Statuskategorien bzw. mit kategoriengebundenen Handlungsweisen.10 Die in der Gruppe übliche Ordnung nach Statuskategorien ist dreigliedrig; in Relation zu 'uns* gibt es Statuskategorien Oberhalb' und 'unterhalb von uns'. Eine besondere Bedeutung kommt in der Gruppe einer Statuskategorie zwischen 'uns* und Oben' zu, den möschte-sein bzw. foine leut. Damit werden Leute bezeichnet, die aus 'unserer Mitte' stammen, sich nach Oben' orientieren und sich von 'uns' distanzieren, denen jedoch für den sozialen Aufstieg die ideellen und materiellen Voraussetzungen fehlen. Sie werden immer negativ bewertet, ihre Handlungsweisen als vorgebliche entlarvt. Das folgende Beispiel stellt einen Konfliktfall dar, bei dem es um die implizite Zuordnung zur Kategorie der foine leut geht. Den Konflikt verschärfend kommt hinzu, daß das betreffende Gruppenmitglied sein Aufwärtsstreben vor den anderen zu verbergen sucht, alle aber davon wissen. Der Konflikt um divergierende soziale Orientierungen wird also überlagert durch einen Konflikt wegen der Verletzung von Gruppenregeln (vgl. oben 2.2.1. Tabuhalten von Problemen). Die Bearbeitungsform ist der offene Streit. Offenem Streit gehen meist andere Formen der Konfliktbearbeitung voraus, wie Frotzeln (vgl. oben 2.2.) oder Tratsch (vgl. unten 2.4.); Streit bricht nach länger schwelendem Konflikt bei vergleichsweise nichtigen Anlässen aus und kann zu kurzen oder ausgedehnten heftigen Wortwechseln führen, meist verbunden mit derben Beschimpfungen. So auch im folgenden Beispiel. Frau Wichmer (WH) zeigt den anderen Frauen Photos von ihren fünf Katzen. Da die Photos in ihrer Wohnung gemacht wurden, gewährt sie den Frauen unbeabsichtigt Einblick in ihren Privatbereich. Auf einem der Bilder ist viel von Frau Wichmers teuer eingerichteter Wohnung zu sehen, eine Katze räkelt sich auf einem rotplüschigen Sofa, und Frau Wichmer sitzt in einem langen, dunkelrot glänzenden Kleid daneben. Die Bilder werden von einigen Frauen überschwenglich kommentiert; nur Frau Kunz (KU) macht bissige Bemerkungen. Als sie das letzte Bild betrachtet, beginnt folgender Abtausch:

10 Zu Rollen- und Statuskategorien vgl. W. Kalimeyer (1988). Zum Begriff kategoriengebundener Handlungsweisen vgl. W. Kallmeyer/I. Keim (1989b).

101 1 KU: 2 IN:

her isch kurnn glei ( . . . ) # K: 6 Kü:

# DROHEND # WENDET SICH AN ANDERE FRAU UND

WETTER DIE BIU3ER

Das Referenzobjekt in Frau Kunzes erstem Turn ist vordergründig Frau Wichmers Katze. Doch auf dem Hintergrund der in spielerischen Andeutungen üblichen Verwendung von weiblichen bzw. männlichen Tieren als Metaphern für Frauen oder Männer bleibt die Referenz in gewisser Weise ambivalent. Der vorsichtig durch Irrealis formulierten Zuschreibung liegt eine implizite Vergleichsrelation zugrunde: Die Katze (oder Frau Wichmer?) räkelt sich so, daß man meinen könnte, sie wäre die Nitribit. Das Vergleichsobjekt ist eindeutig negativ. Der Name referiert auf ein in sogenannten prominenten Kreisen verkehrendes Callgirl aus den 60er Jahren, das in Frankfurt ermordet wurde und dessen Mord nie aufgeklärt wurde. Der Fall wurde durch aufsehenerregende Presseberichte bundesweit bekannt. Die Referenz auf dieses Callgirl in Zusammenhang mit Frau Wichmers teurer Wohnungsausstattung schafft einen neuen Deutungsrahmen für die außerhalb der sozialen Normalität stehende Wohlhabenheit von Frau Wichmer und suggeriert als Erklärung dafür: Wohlhabenheit durch Prostitution und zwar Prostitution in höheren Kreisen. In ernster Modalität bedeutete dies eine tiefgehende Beleidigung von Frau Wichmer. Doch Frau Kunz hält durch das, wenn auch boshafte Lachen, die Modalität offen und schwächt die implizit bleibende Beleidigung durch vorsichtiges Formulieren ab (Irrealis, Vergleich). Frau Kunzes Bosheit kann hier nicht auf dunkle Punkte in Frau Wichmers Wohlhabenheit zielen (denn alle wissen, daß sie durch langjähriges Führen eines gut gehenden Lokals und nicht durch Prostitution zu ihrem relativen Wohlstand kam), sondern der zweite Aspekt der Nitribit-Metapher, die Orientierung auf .höhere Kreise' hin ist der eigentliche Kritikpunkt; diese Orientierung wird auf dem Photo durch Frau Wichmers aufwendige Wohnungseinrichtung mit teuren Gegenständen, Teppichen und Antiquitäten offenbart. Frau Kunze kritisiert auf indirekte Weise, daß Frau Wichmer durch das Sichumgeben mit solchen, nicht zu ihrer Welt gehörenden Statussymbolen mehr scheinen will, als sie ist, sich geschmacklich von ihrer Welt distanziert. Auf Frau Kunzes Angriff zeigt sich Frau Wichmer stark getroffen; sie reagiert wütend mit einem harten Schimpfwort (arschloch) und der Aufforderung an Frau Kunz, Anspielungen und Unterstellungen der gemachten Art zu unterlassen (Z. 3). Auf Frau Wichmers Beschimpfung reagiert Frau Kunz jetzt ebenfalls wütend mit der Drohformel her isch kumm glei (...), die sie vermutlich durch niwwer komplettierte. Es handelt sich hier um eine den Mitgliedern geläufige Drohformel, die die Androhung von Schlägen beinhaltet, die man auszuführen ankündigt, wenn der Kontrahent nicht zurücksteckt.

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Frau Wichmers Replik auf die Drohformel stellt eine deutlich schwächere Form der Beleidigung dar, d.h. sie hat die implizite Kritik erfaßt und steckt zurück. Auf einer Skala von Schimpfwörtern für Frauen gehört bledi kuh zu den milderen Formen, am anderen Ende der Skala liegen die eher harten Schimpfwörter mit Bezeichnungen für Prostituierte (z.B. hur), nitribit in Frau Kunzes erstem Turn gehört nicht zu den Schimpfwörtern, bezeichnet jedoch eine soziale Kategorie, auf die sich in der Schimpfwortskala die besonders harten Schimpfwörter beziehen. D.h. Frau Kunz beginnt die Auseinandersetzung auf der Kategorisierungsebene mit einer stark negativ bewerteten sozialen Kategorie. Mit dieser wissentlich falschen, allerdings durch die halbspielerische Modalität abgeschwächte Negativkategorisierung straft sie Frau Wichmer für ihre hier unwillentlich offenbarte, bisher verborgen gehaltene Aufwärtsorientierung. Nach diesem Abtausch reden die beiden Frauen ca. eine halbe Stunde nicht mehr miteinander; dann wendet sich Frau Wichmer mit einer teils ärgerlich, teils scherzhaft geäußerten Drohformel nochmals an Frau Kunz und leitet damit die Beilegung des Konflikts ein: isch schlack der noch doi brill runner her wenn =d so =e großi gosch hosch. Darauf reagiert Frau Kunz nonverbal, sie schneidet Fratzen. Anschließend lachen beide Frauen; der Streit ist damit beendet. In der Beteiligungsweise am Streit erweist sich Frau Wichmer als echtes Gruppenmitglied (Kenntnis der Drohformel, Kenntnis der Regeln für Deeskalierung des Konflikts, Verstehen der Nitribit-Metapher und der damit implizierten Kritik) und stellt damit selbst einen offensichtlichen Gegensatz her zu dem an ihr kritisierten Aufwärtsstreben. Sie akzeptiert die normative Basis der Kritik und leitet später die Beilegung des Konflikts ein. Dem Streit liegen zwei sich überlagernde Konflikttypen zugrunde, das erklärt seine Heftigkeit. Auffallend an der Durchführung des Streits sind folgende Merkmale: - Ärger und Aggression werden von beiden Konfliktparteien offen geäußert durch Beschimpfungen und Drohformeln. Dies ist auch bei anderen Streitereien der Fall. - Das Kritikobjekt (Aufwärtsorientierung) und die damit verbundene negative soziale Kategorisierung wird mehrfach verschlüsselt (Vergleich, mehrdimensionale Metapher.Irrealis) eingeführt. Die Indirektheit der Kritik hat mit der Tabuisierung des Themas durch Frau Wichmer zu tun. - Die Strafe für die Tabuisierung erfolgt durch bewußte, allerdings spielerisch gemilderte Falschkategorisierung (Prostituierte) von Frau Wichmer. - Die Absage von der inkriminierten Haltung erfolgt implizit durch das Praktizieren gruppenspezifischer Streitverfahren.

2.3.2. LITERATURGRUPPE: DAS VERDECKTHALTEN VON DIVERGENZEN Ähnliche Konfliktanlässe, die in einer sozialen Absetzung gegenüber den Gruppenmitgliedern gründen könnten, werden anders behandelt. Nur gruppenextern wird eine Frau, die sich für etwas Besseres hält als die Nachbarschaftsumgebung ihres Stadtteils, durch eine gezierte, überfeine Sprechweise karikiert. Die Frauen haben - wie gesagt - unterschiedliche Ansichten über das Frauenbild, die Eherolle, Erziehungsprinzipien, literari-

103 sehe Vorlieben usw. Es bestehen auch unterschiedliche finanzielle Ressourcen der Familien und damit ein unterschiedlich aufwendiger Lebensstil, der von den Frauen aufmerksam registriert wird (s.u.). Wo unterschiedliche Ansichten und Einstellungen zur Lebenspraxis in den Gesprächen thematisch auftauchen, werden sie auf eine Weise behandelt, die die Differenzen markiert, jedoch den Willen zeigt, darüber nicht in einen Streit zu geraten, sondern über partielle gemeinsame Ansichten zu einem Konsens zu gelangen. Durchführungsmittel sind dafür: argumentativer Diskurs, die Zurücknahme einer negativen Wertung, das Ausnützen sprachlicher Abschwächungsformen bei Kritik, Andeutungen der Meinungsdivergenzen in frotzelnder, aber nicht-aggressiver Form; in einem Falle die Transposition einer Meinungsdifferenz in einen bildlich-metaphorischen Bereich mit komischer Wirkung, d.h. in anderer Modalisierung. Zunächst soll ein Beispiel diskutiert werden, das auf unterschiedlichen Vorstellungen der Frauen über den Aufwand bei Festen beruht. Mehrere Frauen reagieren kritisch auf die Mitteilung von Frau Sternberg und Frau Kerk, daß sie sehr viele Gäste bei Hochzeitsfeiern eingeladen haben: 1 ST: und für hu"ndert personen * äh hatten se ja vo"rjehabt * langt des ja 2 ST: nich hinten un nich vorne! jai * 3 PU: #