Österreichisches Jahrbuch für Politik 2022 [1 ed.] 9783205217213, 9783205217190


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Österreichisches Jahrbuch für Politik 2022 [1 ed.]
 9783205217213, 9783205217190

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österreichisches jahrbuch für politik 2022

Österreichisches Jahrbuch für Politik 2022 Herausgegeben von Andreas Khol, Stefan Karner, Wolfgang Sobotka, Bettina Rausch und Günther Ofner

Böhlau Verlag Wien · Köln

Redaktion: Dr. Christian Moser-Sollmann Redaktionssekretariat: Dr. Saskia Dragosits Anschrift: Tivoligasse 73, 1120 Wien Tel.: 01/81420-19 E-Mail: [email protected] Eine Publikation der Politischen Akademie Umschlagentwurf: Rebecca Ruminak Satz: Böhlau Verlag, Wien Typographie: Corporate S und Bembo © Politische Akademie 2023 Alle Rechte vorbehalten Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co. KG, Wien · Köln · Weimar ISBN 978-3-205-21721-3 ISSN: 0170-0847

Inhalt XI Vorwort der Herausgeber

Wahlen 3 Franz Sommer: Analyse der Bundespräsidentenwahl 2022 15 Rainer Nick/Paul Unterhuber: Landtagswahl 2022 in Tirol.

Erwartungen und die Frage nach der Rolle der medialen Demoskopie in Wahlzeiten Innenpolitik 31 Bettina Rausch: Über die Rolle des Staates in der Krise 43 Diana Kinnert: Grüne Selbstgerechtigkeit gegen politischen

Kompromiss

53 Andreas Unterberger: Volkspartei: Pech,­Vernichtungskrieg oder

­Selbstzerstörung

67 Walter Hämmerle: Lehrjahr eines Lernenden 77 Christian Moser-Sollmann: Karl Nehammer. Ein Porträt im Spiegel

der Medien

89 André Buchegger: Die österreichische Klima- und ­Energiepolitik

in Zeiten multipler Krisen. 2022: Jahr der Herausforderungen und Chancen 99 Andreas Khol: Bundesstaatsanwalt oder ­Generalstaatsanwalt? Demokratie oder Richterstaat? 1 11 Susanne Raab: Medien. „Die einzige Konstante ist die Veränderung im Universum“

V

österreichisches jahrbuch für politik 2022

1 21 Herwig Hösele: Von Hermann Schützenhöfer zu Christopher

1 33 1 41 1 51 1 61

1 81

Drexler. Ein gelungener Landeshauptmannwechsel angesichts volatiler Wählerschaft Christoph Schmidt: Burgenland. Folgt auf die Verstaatlichungsorgie ein Finanzdebakel? Tristan Pöchacker: Wiedereröffnung des historischen Parlamentsgebäudes Andreas Khol: Die demokratiegefährdende Praxis der parlamentarischen ­Untersuchungsausschüsse geht weiter Caroline Abbrederis: „Das hier ist eine politische ­Veranstaltung“. Die Aktenvorlage im Untersuchungs­ausschuss auf dem rechtlichen Prüfstand Wolfgang Sobotka/Florian Groder: Parlamentarische Diplomatie. Der Blickwinkel Österreichs

Die vierte Gewalt. Unter Druck oder Druckmittel? 1 97 Alois Vahrner: Kursrutsch der „Medien-Währung Glaubwürdigkeit“

stoppen

2 01 Andreas Koller: Demokratie in der Vertrauenskrise. Wie konnte das

passieren?

07 Christian Ultsch: Die flüchtige Macht der vierten Gewalt 2 2 13 Ernst Sittinger: Zahme Medien kann sich die D ­ emokratie nicht

leisten

17 Petra Stuiber: Wo kein Wille ist, ist auch kein Weg aus dem Sumpf 2 2 25 Georg Wailand: Die 4. Gewalt. Unter Druck oder Druckmittel? 2 29 Martina Salomon: Die vierte Macht. Unter Druck oder

Druckmittel? Wissenschaft 37 Heinz Fassmann: Nach dem Nobelpreis. Zufrieden in die Zukunft? 2 2 49 Christian Moser-Sollmann: Die kupierte Alternative

VI

inhalt

261 Andreas Kirschhofer-Bozenhardt: Der erblindete Spiegel.

Demoskopie auf Schleuderkurs Wirtschaft 2 85 Jürgen Streitner: Merit-Order: Optionen für eine neue

Strompreisfindung

2 99 Margit Schratzenstaller: Bewältigung der Teuerung und der

anderen Herausforderungen für die ökosoziale Marktwirtschaft. Welt-, europa- und österreichweit 3 15 Monika Köppl-Turyna: Inflation und Energiekrise. Hinweise zur ordnungspolitischen ­Bewältigung 27 Daniel Varro: Wie standortverträglich ist die Ö 3 ­ kologisierung unseres Steuersystems? Europa 3 41 Paul Luif: Österreich ohne enge Zusammen­arbeitspartner in der EU. 53 3 3 63 3 87 4 01

11 4 4 27 4 33

Neutralität als Hindernis? Stefan Karner: Russlands Krieg in der Ukraine und seine Folgen Paul Ertl: Karl Nehammer in heikler Mission Velina Tchakarova: Russlands Krieg gegen die Ukraine. Sicherheit, Militär, Geopolitik Arnold H. Kammel: Eine Zeitenwende für die ­Landesverteidigung? Der Krieg in der Ukraine und die ­Auswirkungen auf das Österreichische Bundesheer Emil Brix: Die geopolitische Zeitenwende Valentin Inzko: Westbalkan – aktuelle E ­ ntwicklungen Michael Borchard: „Das neue ‚Normal‘“. Die Ampel und TürkisGrün: E ­ rfolgs­bedingungen und Heraus­forderungen der Realpolitik und der Krisenbewältigung für neue Koalitio­nen auf der nationalen Ebene

VII

österreichisches jahrbuch für politik 2022

Zeitgeschichte 447 Wolfgang Sander: Politische Bildung und ­gesellschaftlicher

Zusammenhalt

4 51 Christian Tesch: 50 Jahre staatsbürgerliche Bildung. Im Interesse

unserer Demokratie

4 57 Maria Maltschnig: 50 Jahre Karl-Renner-Institut. Geschichte

verstehen, Zukunft gestalten

61 Axel Kassegger: 50 Jahre Parteiakademien in Ö 4 ­ sterreich 4 65 Lukas Schretzmayer-Sustala: 50 Jahre politische Bildungsarbeit. 71 4 4 77 4 81 87 4 4 95 5 05 5 17

Was tun in der Vertrauenskrise? Dagmar Tutschek: Warum Bildung der Schlüssel zum Wandel ist Elisabeth Mayerhofer: Politische Bildung. Ein Blick in die Zukunft Stefan Karner: Der Kärntner Konsensweg – (k)eine Selbstverständlichkeit Valentin Inzko: Kärntner Jubiläen und Gedenktage  Alfred Riedl: 75 Jahre Österreichischer ­Gemeindebund. „Die Zukunft des Landes liegt in den Gemeinden“ Thomas Walter Köhler/Christian Mertens: Abschied vom Palais Todesco. Zur Erinnerung an einen politischen I­ ntellektuellen Alexander Purger: Satirischer Jahresrückblick: Von Aufrüstung bis Zaun. Das ABC eines Jahres, das es ganz schön in sich hatte und so manchen ganz schön außer sich brachte

529 Biografien der Herausgeber und Autoren 537 Personenregister 539 Sachregister

VIII

leitartikel/vorwort der herausgeber

UM POLITIK ZU VERSTEHEN, MUSS MAN DIE HINTERGRÜNDE KENNEN. www.tt.com

Vorwort der Herausgeber Im Jahre 2022 dauerten die Krisen der Vorjahre noch an, aber völlig unerwartet kamen noch weitere dazu: Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine erschütterte und betraf die gesamte Welt, aber auch besonders Europa und Österreich. Er führte zu einer Krise in der Energieversorgung und zu einer energiekostengetriebenen Erhöhung der Verbraucherpreise. Mit einem Krieg in Europa hatte die Allgemeinheit trotz der Annexion der ukrai­nischen Halbinsel Krim im Frühjahr 2014, den separatistischen Bewegungen in Donezk und Luhansk im Osten der Ukraine und dem autoritären Umgang mit Demonstrationen und Opposition in Russland nicht mehr gerechnet. Trotz dieser bedrohlichen Entwicklungen wurde Russland unter Führung von Staatspräsident Wladimir Putin allgemein als Staat eingeschätzt, der auf dem Weg zur sozialen Marktwirtschaft und der Demokratie Fortschritte machte. Schließlich war es Mitglied der Organisation für die Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und des Europarats und hatte auch am NATO-Programm der Partnerschaft für den Frieden aktiv mitgearbeitet. Der Krieg entwickelte sich mit bisher nicht bekannter Brutalität. Alle Regeln des Kriegsrechts, das mit der Haager Landkriegsordnung (1899/1906) begann und mit den Genfer Konventionen zum universell geltenden Kriegsvölkerrecht wurde, wurden vorsätzlich und systematisch gebrochen. Die Grundsätze der weltweit geltenden Friedensordnung durch die Gründung der Vereinten Nationen (1945) wurden ebenso gebrochen: Gewaltverzicht, Schutz der Menschenrechte, friedliche Beilegung von Konflikten. Schließlich wurden auch die Fortschritte des Helsinki– Prozesses vernichtet, welche zur Gründung der OSZE geführt hatten. Schon 1997 hatte die Ukraine auf dem NATO-Gipfel in Madrid einen militärischen Partnerschaftsvertrag mit der NATO verabschiedet. Dieser schützte sie ebenso wenig, wie alle anderen Instrumente des Völkerrechts und der Vereinten Nationen. Die bedrückende Erkenntnis wurde gewonnen, dass Atommächte faktisch unbeschränkt das Recht brechen können, da es keine wirksamen Mittel der Rechtsdurchsetzung gibt und niemand einen Atomkrieg wagen kann. Setzt sich Russland durch, wird die derzeitige Weltfriedensordnung zur Makulatur, und an ihre Stelle tritt das System

XI

österreichisches jahrbuch für politik 2022

der Einflusszonen globaler Mächte, in denen sie weitgehend unbehelligt agieren können. Der Krieg gegen die Ukraine bedroht daher nicht nur die Weltordnung, sondern auch die Europäische Friedensordnung. Russland ist inzwischen nicht mehr Mitglied des Europarats; die OSZE ist lahmgelegt. Angesichts dieser neuen Bedrohung müssen alle Staaten plötzlich Anstrengungen für ihre Sicherheit machen – auch Österreich musste sofort reagieren. „Die Geographie ist das Schicksal der Nationen“, meinte einst Charles de Gaulle. Österreich lag von 1945 bis zum Ende des Eisernen Vorhangs genau an der Bruchzone zwischen dem freien Westen und dem kommunistischen Osten. Wenn am Ende des Ukraine-Kriegs ein neuer Kalter Krieg entstehen sollte, so hat sich für Österreich die Zone der Konfrontation um Tausende Kilometer in den Osten verschoben – dennoch eine bedrohliche Perspektive. Im parteiübergreifenden Konsens wurde daher die ständige Kürzung der Mittel für die Landesverteidigung beendet. Die Verbesserung der Wehrfähigkeit wurde beschlossen und die Mittel für die Landesverteidigung wurden erhöht. In unserem Jahrbuch finden sich dazu Beiträge von Stefan Karner, Velina Tchakarova, Arnold Kammel, Emil Brix und Paul Luif. Auch die Innenpolitik kam erst im Laufe des Jahres 2022 einigermaßen zur Ruhe. Das letzte Trimester 2021 wird als Drei-Kanzler-Trimester in die Geschichte eingehen. Am 6. 10. 2021 trat Sebastian Kurz zurück, ihm folgte am 11. 10. 2021 Alexander Schallenberg, dem nach dem endgültigen Rückzug von Sebastian Kurz aus der Politik am 6. 12. 2021 Karl Nehammer folgte. Die Arbeit der türkis-grünen Koalition nahm unter der Führung von Kanzler Nehammer und Vizekanzler Werner Kogler in der Regierung, und den Klub-Vorsitzenden August Wöginger und Sigrid Maurer im Parlament Fahrt auf. Die Bilanz des Jahres 2022 kann sich durchaus sehen lassen, wurde aber von der veröffentlichten Meinung nicht anerkannt – und auch die Bevölkerung ließ sich nicht beeindrucken. Dazu war das innenpolitische Klima zu vergiftet, und die Zeiten der ausklingenden Pandemie, der beginnenden Energiekrise und der alle Maße sprengenden Teuerung sowie die Kriegsangst erzeugten eine generell sehr schlechte und von Ängsten geprägte Stimmung bei den Menschen. Dieses Phänomen trifft alle Regierungen in Europa gleichermaßen.

XII

leitartikel/vorwort

Zu Karl Nehammer und seiner Zwischenbilanz haben wir mehrere Beiträge im Jahrbuch: ein Porträt anhand von Presseberichten von Christian Moser-Sollmann, eine sehr kritischen Analyse von Andreas Unterberger und schließlich eine ebenso kritische Bilanz von Walter Hämmerle, der Nehammers erstes Jahr als „Lehrjahr eines Lernenden“ beschreibt und ihm attestiert, die Zusammenarbeit mit den Grünen inmitten vielfacher Krisen stabilisiert zu haben. Das vergiftete Klima haben wir schon angesprochen, und die Krisenangst weiter Teile der Bevölkerung. Mit den Bedrohungen der Demokratie in Österreich befassen sich Bettina Rausch (die Rolle des Staates in der Krise) und Andreas Khol (die demokratiebedrohende Praxis der Untersuchungsausschüsse). Sieben Chefredakteure diskutieren die Rolle und Probleme der Medien, der Vierten Gewalt: Alois Vahrner, Andreas Koller, Christian Ultsch, Ernst Sittinger, Petra Stuiber, Georg Wailand und Martina Salomon. Natürlich werden die zahlreichen Reformen der Regierung gewürdigt, die sich in einem Normaljahr sehen lassen könnten: die ökosoziale Steuerreform, die Abschaffung der sog. Kalten Progression, die laufende Wertsicherung der staatlichen Beihilfen durch jährliche Anpassung an die Teuerung, die vielen Klimaschutz-Maßnahmen und Maßnahmen der Siche­ rung der Energieversorgung Österreichs: André Buchegger (Klima- und Energiepolitik in Zeiten multipler Krisen), Margit Schratzenstaller (Bewältigung der Teuerung), Monika Köppl-Turyna (ordnungspolitische Bewältigung der Inflation und der Energiekrise), Daniel Varro (Standortverträglichkeit der Ökologisierung unseres Steuersystems), Michael Borchard vergleicht die Krisenbewältigungsstrategien der deutschen und österreichischen Regierung und Diana Kinnert schreibt über grüne Selbstgerechtigkeit in der Klimaschutzbewegung. Wichtige Reformen werden angesprochen und diskutiert. Andreas Khol analysiert die Vorschläge zur Einrichtung einer neuen Weisungsspitze für die Staatsanwälte in der Form des Bundestaatsanwalts. Susanne Raab stellt die neue Medienförderung zur Diskussion. Caroline Abbrederis und Andreas Khol stellen nachdrücklich eine Reform des Rechts der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse dar, zu denen der Leitartikler im Kurier vom 18. 1. 2023, Christian Böhmer, nach dem unrühmlichen Ende des laufenden

XIII

österreichisches jahrbuch für politik 2022

Ausschusses meinte: „Irgendetwas muss aber geschehen. Denn der nächste Untersuchungsausschuss kommt bestimmt. Und wenn die Parlamentarier ihr Ruf irgendwie kümmert, dann sollte er nicht anders ablaufen, nein: Er muss es.“ Die Wahlen im Jahr 2022 werden wie stets dargestellt und b­ ewertet. Franz Sommer zeigt die Besonderheiten im Ergebnis der Bundespräsi­ dentenwahl auf, Rainer Nick und Paul Unterhuber analysieren die Tiro­ ler Wahl. Eine Besonderheit der Tiroler Wahl bestand darin, dass drei Meinungsforschungsinstitute in einer Massenzeitung sechs Tage vor der Wahl übereinstimmend einen Absturz der langjährigen Landeshauptmann-Partei voraussagten. Ihre Prognose wich zehn Prozent vom tatsächlichen Ergebnis ab. Unter dem Titel: „Der erblindete Spiegel – Demoskopie auf Schleuderkurs“ geht Andreas Kirschhofer-Bozenhardt den Ursachen dieser und anderer offensichtlichen Fehlprognosen auf den Grund. In der Kurzzusammenfassung meint er: „Demoskopische Erhebungen bieten bei fachgerechter Anwendung der Politik die Chance, rasch und problemadäquat auf den wirtschaftlichen und sozialen Wandel zu reagieren. Diese Vorzüge kommen in der politischen Praxis jedoch immer weniger zum Tragen. Zu beobachten ist ein zunehmender Verlust an methodischer Sauberkeit und Wissen bei der Erstellung von Umfragen, aber auch ein erschreckender Umgang mit der Demoskopie durch Politik und Medien.“ Wir wollen auf weitere besondere Beiträge hinweisen: So würdigt Stefan Karner den Ortstafelstreit vor 50 Jahren und dessen Lösung in Kärnten, Valentin Inzko die Aussöhnung zwischen Deutsch- und Slowenisch-Sprachigen vor 50 Jahren in der katholischen Kirche, und Christoph Schmidt weist auf die stille Revolution im Burgenland hin und fragt: Folgt auf die Verstaatlichungsorgie ein Finanzdebakel? Im Krisenjahr 2022 gab es auch ein Jubiläum zu feiern: 50 Jahre Parteiakademien in Österreich. Am 9. Juli 1972 wurde im österreichischen Parlament einstimmig das „Bundesgesetz zur Förderung staatsbürgerlicher Bildungsarbeit im Bereich der politischen Parteien sowie der Publizistik“ beschlossen, um die Politik zu professionalisieren und die Funktionäre und Mandatare umfassend und gut für ihre politische Arbeit auszubilden. Nach einer allgemeinen Einführung in das Thema „Demokratiepolitische Bil-

XIV

leitartikel/vorwort

dungsarbeit“ von Wolfgang Sander geben mit Christian Tesch (Politische Akademie), Maria Maltschnig (Renner-Institut), Axel Kassegger (Freiheitliches Bildungsinstitut), Dagmar Tutschek (Freda – die Grüne Zunkunftsakademie) und Lukas Sustala (NEOS Lab) Vertreter aller fünf Parteiakademien einen Einblick in Anspruch, Selbstverständnis und aktuelle Arbeitsschwerpunkte der Parteiakademien. Elisabeth Mayerhofer rundet den Themenschwerpunkt mit einem Ausblick auf die Zukunft der politischen Bildungsarbeit ab. Zu guter Letzt: Das Parlament ist in fünf Jahren und dem Einsatz von 400 Millionen Euro glanzvoll restauriert worden – darüber berichtet Tristan Pöchacker, der als Mitarbeiter unseres Mitherausgebers Präsident Wolfgang Sobotka das Sanierungsprojekt begleitet hat. Wien, am 25. Jänner 2022 Andreas Khol, Stefan Karner, Wolfgang Sobotka, Bettina Rausch, Günther Ofner

XV

Wahlen

UNSERE INDUSTRIE schafft Wohlstand Österreichs Industrie ist Treiber für Fortschritt sowie Garant für Wachstum und Lebensqualität. Sie leistet fast ein Drittel der gesamten heimischen Wirtschaftskraft und schafft rund eine Million Arbeitsplätze.

Zukunft gestalten

Industriellenvereinigung

Franz Sommer

Analyse der Bundespräsidentenwahl 2022 Zumindest in einem Punkt verzeichnete die Bundespräsidentenwahl 2022 einen neuen Rekord: Auf dem Stimmzettel standen sieben Kandidaten-Namen. Und trotzdem zweifelte niemand daran, dass der Amtsinhaber Alexander Van der Bellen diese Wahl für sich entscheiden wird. Fraglich war nur, ob für seine Wiederwahl eine Stichwahl erforderlich sein wird oder nicht.

3

österreichisches jahrbuch für politik 2022

Während die Traditionsparteien ÖVP und SPÖ auf die Aufstellung eines eigenen Kandidaten/einer eigenen Kandidatin verzichteten, schickte die FPÖ mit Walter Rosenkranz einen eigenen Kandidaten ins Rennen. Norbert Hofer, der 2016 erst bei der (wiederholten) Stichwahl gegen Alexander Van der Bellen unterlag, zeigte diesmal keine Ambitionen und signalisierte bereits lange vor der Wahl, dass er nicht gegen den amtierenden Bundespräsidenten antreten wird. 6.000 Unterstützungsunterschriften waren für eine Kandidatur erforderlich. Sechs (männliche) Kandidaten schafften diese Hürde. Gereiht nach dem Alphabet standen folgende Namen auf dem Stimmzettel: Michael Brunner, Gerald Grosz, Walter Rosenkranz, Heinrich Staudinger, Alexander Van der Bellen, Tassilo Wallentin und Dominik Wlazny. Gereiht nach den demoskopisch erhobenen Wahlchancen führte der FPÖ-Kandidat Walter Rosenkranz das Kandidatenfeld an, gefolgt von Tassilo Wallentin, der auf eine hohe Präsenz in der Kronenzeitung zählen konnte, und von Dominik Wlazny, der mit seiner „Bierpartei“ bei der Wiener Gemeinderatswahl 2020 einen kleinen Achtungserfolg erzielt hatte. Gerald Grosz, Ex-Nationalratsabgeordneter der BZÖ, lag in den Umfragen zwar hinter Walter Rosenkranz, Tassilo Wallentin und Dominik Wlazny, aber noch vor Michael Brunner und Heinrich Staudinger, die in der Wählergunst von Beginn an die beiden letzten Plätze belegten. Ernst zu nehmende „Herausforderer“ waren all diese Kandidaten jedenfalls nicht. Keinem schien es darum zu gehen, in die Hofburg einzuziehen. Das unausgesprochene Motto war offensichtlich: „Dabei sein ist alles!“ Und einen möglichst guten Platz hinter dem Gewinner der Wahl zu belegen. Auch Walter Rosenkranz hat bei seinen Wahlkampfauftritten zwar eine Stichwahl gegen Alexander Van der Bellen als realistisches Ziel ausgegeben, wirklich daran geglaubt hat wahrscheinlich aber auch er selbst nicht.

4

Franz Sommer    |   Analyse der Bundespräsidentenwahl 2022

Bundespräsidentenwahl 9. Oktober 2022 Deklarierte Wahlabsichten für die Kandidaten; Erhebungszeitraum: 10. September–6. Oktober 2022. Datenbasis: „Werde sicher wählen“ und „Habe bereits gewählt“, Befragte mit Kandidaten-Präferenz = 100 Prozent. Frage: „Insgesamt 7 Kandidaten stehen in alphabetischer Reihenfolge auf dem Stimmzettel. Welchen der folgenden Kandidaten werden Sie am 9. Oktober voraussichtlich Ihre Stimme geben? Auch wenn Sie sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht entschieden haben: Welcher der sieben Kandidaten kommt für Sie persönlich am ehesten infrage?“ Kandidaten

Befragte mit deklarierter Kandidatenpräferenz in Prozent

Michael Brunner

2,0

Gerald Grosz

7,2

Walter Rosenkranz Heinrich Staudinger Alexander Van der Bellen

16,1 1,8 53,8

Tassilo Wallentin

8,8

Dominik Wlazny

10,3

Gesamt

100,0

Quelle: Demox Research, Online-Befragung, 3.000 CAWI-Interviews (kumuliert), Recall-Gewichtung nach der Bundespräsidentenwahl, 2. Wahlgang 2022, Erhebungszeitraum: 10. 9.–6. 10. 2022

Der Ausgang der Bundespräsidentenwahl vom 9. Oktober 2022 spiegelt im Kern die erhobenen Wahlabsichten für die Kandidaten von Mitte September bis Anfang Oktober wieder. Die Stärkerelationen zwischen den Kandidaten auf Basis der Befragten mit Beteiligungsabsicht („Werde sicher wählen“ oder „Habe bereits mittels Briefwahl gewählt“) waren vom tatsächlichen Wahlergebnis nicht weit entfernt. Die Wähleranteile der Kandidaten am Wahltag weichen nicht gravierend von den kumulierten Kandidatenpräferenz-Messungen vor der Wahl ab: Alexander Van der Bellen und Walter Rosenkranz haben im Ergebnis etwas besser abgeschnitten als in den Umfragen vor der Wahl, bei Gerald Grosz war es umgekehrt. Das Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Dominik Wlazny und Tassilo Wallentin war am Wahltag noch knapper als in den Umfragen vor der Wahl. Heinrich Staudinger und Michael Brunner belegten erwartungsgemäß den letzten bzw. vorletzten Platz.

5

österreichisches jahrbuch für politik 2022

Das Briefwahlergebnis zeigt im Vergleich zum Urnenwahlergebnis die bekannten Muster: Auf Basis des Urnenwahlergebnisses kommen die „rechten“ Kandidaten Rosenkranz, Grosz und Wallentin auf 33,5 Prozent der gültig abgegebenen Stimmen. Bei den Briefwahlstimmen liegt ihr gemeinsamer Wähleranteil mit 26,6 Prozent signifikant niedriger. Spiegelverkehrt sind die Ergebnisse bei Alexander Van der Bellen. Er erzielt im Gesamtergebnis 56,7 Prozent, bei den Urnenwahlstimmen 54,6 Prozent und bei den Briefwahlstimmen 65,3 Prozent. Obwohl die Zahl der Briefwahl-Wähler seit Jahren kontinuierlich zunimmt, haben sich die strukturellen Unterschiede zwischen BriefwahlWählern und Urnenwahl-Wählern nicht nivelliert. Briefwahl-Wähler und Urnenwahl-Wähler unterscheiden sich in Bezug auf soziodemographische Merkmale und ihrem Wahlverhalten nach wie vor markant. Diese strukturellen Unterschiede resultieren allerdings indirekt aus der regionalen Verteilung der Urnenwahl- und Briefwahlstimmen: Städtisch-urbane Wähler wählen signifikant häufiger mittels Briefwahl als Wähler in ländlichen Regionen. Bundespräsidentenwahl 9. Oktober 2022 Wähleranteile der Kandidaten Österreich gesamt; Urnenwahl – Briefwahl – Gesamtergebnis

Kandidaten

Ergebnis Urnen­wahl

Ergebnis Briefwahl

Ergebnis Urnen- und

in %

in %

Briefwahl in %

Michael Brunner

2,2

1,9

2,1

Gerald Grosz

6,0

4,0

5,6

Walter Rosenkranz

19,1

11,9

17,7

Heinrich Staudinger

1,6

1,7

1,6

54,6

65,3

56,7

Tassilo Wallentin

8,4

6,7

8,1

Dominik Wlazny

8,2

8,6

8,3

100,0

100,0

100,0

Alexander Van der Bellen

Gesamt

Wahlberechtigte: 6.363.489 Ausgestellte Wahlkarten:

958.136

Abgegebene Stimmen:

4.148.082

Wahlbeteiligung: 65,2 Prozent

6

Franz Sommer    |   Analyse der Bundespräsidentenwahl 2022

Das starke Stadt-Land-Gefälle im Abschneiden Van der Bellens bei der Wiederholungsstichwahl am 4. Dezember 2016 war bei der Wahl am 9. Oktober 2022 jedoch weniger stark ausgeprägt. Aus der wahlstatistischen Auswertung der Ergebnisse nach der Gemeindegröße geht hervor, dass Van der Bellen seinen Wähleranteil in ländlichen Wahlbezirken um 5 bis 7,5 Prozentpunkte erhöhen konnte. In Klein- und Mittelstädten fiel der Zuwachs an Wählerstimmen mit einem Plus von 2,9 Prozentpunkten bereits deutlich schwächer aus. In der Bundeshauptstadt Wien und in den Landeshauptstädten erzielte der am 9. Oktober 2022 wiedergewählte Bundespräsident mit 62,9 bzw. 61,4 Prozent zwar deutlich höhere Wähleranteile als im Durchschnitt (Österreich gesamt: 56,7 Prozent), aber im Vergleich zu 2016 ging sein Wähleranteil sogar geringfügig zurück: Das kumulierte Ergebnis der acht Landeshauptstädte weist auf Basis der Urnenwahlstimmen einen marginalen Rückgang (minus 0,1 Prozent) auf, in der Bundeshauptstadt Wien ging der Wähleranteil Van der Bellens von 63,6 auf 62,9 Prozent zurück. Bundespräsidentenwahl 9. Oktober 2022 Wahlstatistische Aggregatdatenanalyse: Wähleranteile Van der Bellens in städtischen/ländlichen Regionen (BPRW 8. 10. 2022–BPRW 4. 12. 2016)

Gemeindegröße

Van der Bellen BPRW 2022 in Prozent

Anteilsveränderungen VdB 2016 – VdB 2022 +– Prozent

Kleinstgemeinden Kleingemeinden

52,6 50,2

+ 7,5 + 6,2

Mittlere/Größere Gemeinden Klein- und Mittelstädte

51,9 53,1

+ 5,0 + 2,9

Landeshauptstädte Bundeshauptstadt Wien

61,4 62,9

–0,1 –0,7

Quelle: ARGE WAHLEN, wahlstatistische Auswertung der Urnenwahlstimmen Bundespräsidentenwahl 9. Oktober 2022 Deklarierte Wahlabsichten für den Amtsinhaber und seine „Herausforderer“ nach der Einstellung zur Arbeit der Regierung und den EU-Sanktionen gegen Russland Erhebungszeitraum: 5.–6. Oktober 2022

7

österreichisches jahrbuch für politik 2022

Antwortvorgaben

Amtsinhaber

„Herausforderer“ Rosenkranz, Grosz

Van der Bellen in %

und Wallentin (kumuliert) in %

Nach dem Urteil über die Arbeit der ÖVP/GRÜNE-Koalitionsregierung: - Bin zufrieden

61

13

- Bin unzufrieden

25

37

18

48

54

14

Nach der Einstellung zu den EUSanktionen gegen Russland: Österreich sollte einen Alleingang gegen die EU wagen und die Sanktionen aufheben Österreich sollte mit den anderen EU-Staaten die Sanktionen weiter unterstützen

Quelle: Demox Research, Online-Befragung, 1.000 CAWI-Interviews (kumuliert), Recall-Gewichtung nach der Bundespräsidentenwahl 2. Wahlgang 2022, Erhebungszeitraum: 5.–6. 10. 2022

Auch bei der Bundespräsidentenwahl 2016 stand die Frage, ob die Wähler ihre Stimme in erster Linie FÜR oder GEGEN bestimmte Kandidaten abgeben, im Zentrum des Erkenntnisinteresses. Die Ergebnisse der Wahltagsbefragung GFK Austria 2016 waren eindeutig: Bei 64 Prozent der befragten Wähler Van der Bellens war der Beweggrund „Hofer verhindern“ ausschlaggebend. Lediglich 36 Prozent Wähler Van der Bellens gaben als zentralen Beweggrund an, für Van der Bellen zu stimmen, „weil sie von ihm persönlich überzeugt sind“. Mit umgekehrten Vorzeichen und in deutlich schwächerer Ausprägung waren diese Muster auch bei der Bundespräsidentenwahl 2022 zu sehen. Von den Präferenten der sechs „Gegenkandidaten“ (Brunner, Grosz, Rosenkranz, Staudinger, Wallentin, Wlazny) gaben im Schnitt 54 Prozent zu, dass ihr Votum eigentlich ein Votum gegen den amtierenden Bundespräsidenten (zentraler Beweggrund: „Weil ich mit der Amtsführung von Van der Bellen unzufrieden bin“) ist. Den zentralen Beweggrund „Weil ich von ‚meinem‘ Kandidaten überzeugt bin“ gaben dagegen nur 43 Prozent der befragten „Herausforderer“-Wähler an.

8

Franz Sommer    |   Analyse der Bundespräsidentenwahl 2022

Sobald die demoskopisch messbaren Vorbehalte gegen Van der Bellen zusätzlich mit negativen Einstellungen zur EU und mit einer pessimistischen Wahrnehmung zur aktuellen Entwicklung Österreichs („Österreich geht in die falsche Richtung“) kombiniert werden, verstärken sich die Effekte. Wer in der „Herausforderer“-Präferentengruppe der Meinung ist, dass der EU-Beitritt mehr Nachteile als Vorteile gebracht hat oder die Einschätzung teilt, dass „Österreich in die falsche Richtung geht“, tendiert stärker zum Hauptbeweggrund „Weil ich mit der Amtsführung von Van der Bellen unzufrieden bin“ (58 bzw. 59 Prozent). Bundespräsidentenwahl 9. Oktober 2022 Hauptmotiv der deklarierten Brunner/Grosz/Rosenkranz/Staudinger/Wallentin/Wlazny-Wähler: Vom bevorzugten Kandidaten überzeugt oder vor allem gegen Van der Bellen? Erhebungszeitraum: 5.–6. Oktober 2022

Antwortvorgaben Wähler der „Herausforderer“ gesamt

Weil ich von „meinem“

Weil ich mit der Amtsführung

Kandidaten überzeugt

von Van der Bellen unzufrieden

bin in %

bin in % 43

54

5441

4258

6639

3059

Nach der Einstellung zum EU-Beitritt: - Hat mehr Vorteile gebracht - Hat mehr Nachteile gebracht Nach der Einschätzung zur Entwicklung in Österreich: - Geht in die richtige Richtung - Geht in die falsche Richtung

Quelle: D emox Research, Online-Befragung, 1.000 CAWI-Interviews (kumuliert), Recall-Gewichtung nach der Bundespräsidentenwahl 2. Wahlgang 2022, Erhebungszeitraum: 5.–6. 10. 2022

Unabhängig von Pro- und Contra-Motiven für einzelne Kandidaten werden die Aufgaben, die „der künftige Bundespräsident in erster Linie wahrnehmen sollte“, von den Wählern der fünf Parlamentsparteien sehr differenziert gesehen. ÖVP-Wähler erwarten sich vom Bundespräsidenten in erster Linie, dass er den Staat nach außen repräsentiert. Vor allem FPÖ-, aber auch

9

österreichisches jahrbuch für politik 2022

SPÖ-Wähler sehen die zentrale Aufgabe des Bundespräsidenten darin, die Zukunftsthemen des Landes zur Sprache zu bringen. Und für GRÜNE bzw. NEOS-Wähler ist vor allem wichtig, dass der Bundespräsident im Inland als ausgleichende Integrationsfigur auftritt. Bundespräsidentenwahl 9. Oktober 2022 Primäre Aufgaben des Bundespräsidenten Erhebungszeitraum: 5.–6. Oktober 2022 Frage: „Welche der folgenden Aufgaben sollte der künftige Bundespräsident in erster Linie wahrnehmen?“

Antwortvorgaben Den Staat nach außen repräsentieren

ÖVP-Wähler

SPÖ-Wähler

FPÖ-Wähler

Grüne/NEOS

in %

in %

in %

Wähler in %

45

28

11

24

31

28

30

39

22

40

58

32

Im Inland als ausgleichende Integra­ tionsfigur auftreten Die Zukunftsthemen des Landes zur Sprache bringen

Quelle: Demox Research, Online-Befragung, 1.000 CAWI-Interviews (kumuliert), Recall-Gewichtung nach der Bundespräsidentenwahl 2. Wahlgang 2022, Erhebungszeitraum: 5.–6.10. 2022

Norbert Hofer hat bei der Wiederholungsstichwahl am 4. Dezember 2016 über 46 Prozent der gültigen Stimmen auf sich vereinigen können. Lange vor der Wahl war klar, dass aufgrund einer völlig anderen Ausgangssituation kein FPÖ-Kandidat auch nur annähernd an dieses Ergebnis herankommen wird. Dem FPÖ-Kandidaten Walter Rosenkranz wurde schnell bewusst, dass auch andere Kandidaten im großen Teich der Hofer-Stimmen fischen werden. Die Ergebnisse der Wählerstromanalyse haben die vermutete Aufteilung der Hofer-Stimmen 2016 bestätigt: 35 Prozent für Rosenkranz, 15 Prozent für Wallentin, 10 Prozent für Grosz und – doch überraschend – 18 Prozent für Van der Bellen.

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Franz Sommer    |   Analyse der Bundespräsidentenwahl 2022

Bundespräsidentenwahl 9. Oktober 2022 WÄHLERSTROMANALYSE Wie haben die Wähler Norbert Hofers (BPRW 2016) 2016 bei der Bundespräsidentenwahl 2022 gewählt? Hofer-Wähler BPRW 4.12.2016

Hofer 2016 in Prozent

Alexander Van der Bellen

18

Walter Rosenkranz

35

Gerald Grosz

10

Tassilo Wallentin

15

Michael Brunner

3

Dominik Wlazny

7

Heinrich Staudinger

2

Nicht/Ungültig gewählt *)

10

Quelle: Institut für Wahl-, Sozial- und Methodenforschung

Eine verlässlichere Vergleichsbasis für die Wählerstromanalyse ist die Natio­ nalratswahl 2019, die ziemlich genau drei Jahre vor der Bundespräsidentenwahl 2022 stattgefunden hat. Das analytische Interesse konzentrierte sich dabei vor allem auf die Wähler der beiden Traditionsparteien ÖVP und SPÖ, die sich von vornherein darauf festgelegt hatten, gegen einen amtierenden Bundespräsidenten keinen eigenen Kandidaten in ein aussichtsloses Rennen zu schicken. Mehr noch: Van der Bellen konnte zumindest auf eine dosierte Unterstützung dieser beiden Parteien hoffen. Gemessen an den Wahlempfehlungen für Van der Bellen war die SPÖ recht offensiv. Auch mehrere ÖVP-Spitzenpolitiker (insbesondere aus der Steiermark) outeten sich als Van der Bellen-Wähler, aber insgesamt gesehen agierte die ÖVP zurückhaltender als die SPÖ.

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österreichisches jahrbuch für politik 2022

Bundespräsidentenwahl 9. Oktober 2022 WÄHLERSTROMANALYSE Wie haben SPÖ-Wähler der Nationalratswahl 2019 bei der Bundespräsidentenwahl 2022 gewählt?

SPÖ-Wähler NRW 2019 Alexander Van der Bellen

SPÖ-Wähler NRW 2019 in Prozent 53

Walter Rosenkranz

1

Gerald Grosz

1

Tassilo Wallentin

2

Michael Brunner

1

Dominik Wlazny

18

Heinrich Staudinger Nicht/Ungültig gewählt

1 22

Quelle: Institut für Wahl-, Sozial- und Methodenforschung

Nach den Ergebnissen der vorliegenden Wählerstromanalyse haben nur 53 Prozent der SPÖ- und 43 Prozent der ÖVP-Wähler am 9. Oktober für Van der Bellen gestimmt. Für die Kandidaten Rosenkranz, Grosz und Wallentin gab es bei SPÖ-Wählern (NRW 2019) kaum etwas zu holen. Gut abgeschnitten hat bei SPÖ-Wählern dagegen Dominik Wlazny. Schon in den Umfragen vor der Wahl verstärkte sich mit dem Näherrücken des Wahltermines die Tendenz von SPÖ-Wählern in Richtung Dominik Wlazny – vor allem in der Bundeshauptstadt Wien. Dass Van der Bellen in Wien unter seinem Wahlergebnis 2016 lag, ist vor allem darauf zurückzuführen, dass Dominik Wlazny, bekannt geworden als Gründer der „Bierpartei“, dem Amtsinhaber in der Bundeshauptstadt überdurchschnittlich viele potenzielle Van-der-Bellen-Stimmen abspenstig machen konnte. Bei ÖVP-Wählern war Wlazny dagegen weit weniger erfolgreich.

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Franz Sommer    |   Analyse der Bundespräsidentenwahl 2022

Bundespräsidentenwahl 9. Oktober 2022 WÄHLERSTROMANALYSE Wie haben ÖVP-Wähler der Nationalratswahl 2019 bei der Bundespräsidentenwahl 2022 gewählt?

ÖVP-Wähler NRW 2019

ÖVP-Wähler NRW 2019 in Prozent

Alexander Van der Bellen

43

Walter Rosenkranz

16

Gerald Grosz

9

Tassilo Wallentin

9

Michael Brunner

3

Dominik Wlazny

4

Heinrich Staudinger

3

Nicht/Ungültig gewählt

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Quelle: Institut für Wahl-, Sozial- und Methodenforschung

Auffallend gut abgeschnitten haben unter ÖVP-Wählern 2019 die Kandidaten Rosenkranz, Grosz und Wallentin. Nach den Ergebnissen der Wählerstromanalyse haben 34 Prozent der ÖVP-Wähler einen dieser drei Kandidaten gewählt. In seiner Aussagekraft relativiert werden diese Wanderungsmuster durch massive Verwerfungen in der Wähler- und Parteienlandschaft. Die ÖVP hat viele ihrer 2019 vor dem Hintergrund eines spektakulären „Sebastian-Kurz-Effektes“ errungenen Wählerstimmen wieder an die FPÖ verloren. Ein Großteil der 34 Prozent ÖVP-Wähler, die am 9. Oktober entweder Rosenkranz, Grosz oder Wallentin gewählt haben, sind mittlerweile keine ÖVP-Wähler mehr, sie sind wieder zur FPÖ abgewandert.

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Rainer Nick/Paul Unterhuber

Landtagswahl 2022 in Tirol Erwartungen und die Frage nach der Rolle der medialen Demoskopie in Wahlzeiten

Die vorverlegten Tiroler Landtagswahlen 2022 waren durch Umbrüche in einem „schwarzen Kernland“ geprägt, die Koalition aus Volkspartei und Grünen, seit neun Jahren in Tirol die Landespolitik gestaltend, erhielt – nach personellen Wechseln an der Spitze – keine Mehrheit mehr und wurde durch eine Koalition der Volkspartei mit der SPÖ abgelöst. Die Wahl war von bundespolitischen Einflüssen, dem personellen Wechsel an der Spitze der Volkspartei hin zu Anton Mattle und der aus den publizierten Wahlumfragen resultierenden Erwartungshaltung eines historischen Verlusts der Volkspartei geprägt, der dann in dieser Form nicht eintraf.

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österreichisches jahrbuch für politik 2022

Die Stimmung am Wahlabend des 25. September 2022 in Tirol erschien schlichtweg paradox: die Tiroler Volkspartei – unter diesem Namen firmiert die ÖVP seit vielen Jahren in Tirol – hatte soeben einen Verlust von annähernd zehn Prozentpunkten eingefahren, aber die Stimmung bei der Parteianhängerschaft grenzte an euphorische Begeisterung. Hintergrund: Viel war über einen bevorstehenden Machtverlust der Volkspartei spekuliert worden, der gesamte Wahlkampf drehte sich hauptsächlich um die Frage: „Wie viel verliert die Tiroler Volkspartei?“. Aber die erwarteten Folgen des Wahlergebnisses für die Tiroler Dauerregierungspartei blieben überschaubar. Viel lässt sich mit dem Stichwort „Erwartungsmanagement“ bei der Tiroler Landtagswahl 2022 erklären, aber welchen Einfluss hatten insbesondere veröffentlichte Umfragen im Vorfeld der Landtagswahl, welchen Einfluss hatten Abnutzungserscheinungen der Landesregierung und inwieweit waren bundespolitische Auswirkungen in Tirol Faktoren, die zum Wahlergebnis nennenswert beigetragen haben? Die Ausgangslage der Landtagswahl 2022: „Gamechanger“ Corona und Umbruch in der Volkspartei Der Ausgang der Tiroler Landtagswahl im Frühjahr 2018 war noch stark von äußerst günstigen Voraussetzungen für die Tiroler Volkspartei geprägt: Sebastian Kurz hatte der Gesamtpartei neuen Schwung und Einfluss verschafft, Spaltungstendenzen in der Tiroler Volkspartei, die noch fünf Jahre zuvor die Partei forderten, waren überwunden, Landeshauptmann Günther Platter hatte hervorragende Persönlichkeitswerte und die Koalition mit den Grünen hatte eine gute Arbeitsbilanz vorzulegen; die Zusammenarbeit erschien weitgehend harmonisch und lösungsorientiert. Bis zu den einschneidenden Ereignissen der Coronapandemie ab März 2020 hatte sich daran nichts geändert. Mit dem Frühjahr 2020 rückten die Folgen der weltweiten Coronapandemie alle anderen Aspekte der politischen Agenda in den Hintergrund. Waren in den ersten Monaten die Maßnahmen der Bundesregierung zum Schutz von Bevölkerung, Gesundheit, Wirtschaft und finanzieller Sicherheit von enormen Zustimmungsraten geprägt, wandelte sich dieses Bild 2021

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Rainer Nick/Paul Unterhuber    |   Landtagswahl 2022 in Tirol

dramatisch. Nicht nur unterschiedliche Auffassungen zum Thema Impfen oder zur Aufrechterhaltung von Corona-Restriktionen versus einer Öffnung und Aufhebung aller Einschränkungen standen im Raum, der Fokus hatte sich auch auf einzelne Schauplätze verlagert, die direkt oder indirekt mit dem Management der Pandemie zusammenhingen. Der Politik entglitt zunehmend die Rolle, nachvollziehbar auf die Coronapandemie zu reagieren. Tabelle 1: Beurteilung Krisenmanagement Coronakrise Bund und Tirol im Zeitvergleich sehr gut/ eher gut

eher schlecht/ sehr schlecht

Bundesregierung – April 2020

88

10

Bundesregierung – November 2020

68

35

Bundesregierung – Dezember 2021

53

45

Tiroler Landesregierung – April 2020

78

20

Tiroler Landesreg. – November 2020

56

38

Tiroler Landesreg. – Dezember 2021

50

48

Fragestellung: „Wenn Sie an die Bewältigung der Coronakrise durch die Bundesregierung denken – wie beurteilen Sie das Krisenmanagement der österreichischen Bundesregierung?“/ „Und wenn Sie an Tirol denken: Wie hat Tirol die Coronapandemie – auch im Vergleich mit anderen Bundesländern – bisher alles in allem gemeistert?“ Umfrage Demox Research, N=600 Befragte, repräsentativ für Tirol, Multi Mode (CATI+CAWI-Interviews), April 2020–Dezember 2021, in Prozent, Rest auf 100=„Weiß nicht“

Mit Herbst 2021 führte mit dem Abgang von Sebastian Kurz als Bundeskanzler und Parteiobmann eine innenpolitische Krise zu weiteren dramatischen Auswirkungen in der politischen Stimmungslage in Österreich. Die Rolle von anonymen Anzeigen, den Ermittlungen der Wirtschaftsund Korruptionsstaatsanwaltschaft, die Veröffentlichung von teilweise privaten Chat-Nachrichten aus dem Umfeld von Sebastian Kurz sorgten für ein poli­tisches Erdbeben, das durch den sog. „ÖVP Korruptions-Untersuchungsausschuss“ des Österreichischen Nationalrats ab 2022 in permanenter Form seine mediale Präsenz erhielt.

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österreichisches jahrbuch für politik 2022

So wurde mit Anfang 2022 eine völlig neue politische Ausgangslage in Tirol wahrgenommen, die sich insbesondere in folgenden Aspekten spiegelt: • Das Tourismusland Tirol stand zu Beginn der Pandemie immer wieder im Fokus deutlich kritischer Berichterstattung im deutschen Sprachraum, was nachhaltig Zweifel am Krisenmanagement der Landesregierung aufkommen ließ. • Die Coronapandemie hatte tiefe Spuren bis hin zu Spaltungstenden­ zen in der österreichischen Gesellschaft hinterlassen. Die aus der AntiImpfbewegung entstandene Partei „Menschen-Freiheit-Grundrechte“ (kurz: MFG) hatte österreichweit politisch Fuß gefasst. Auch in Tirol war das Phänomen trotz fehlender bekannter Persönlichkeiten oder breiterer medialer Präsenz auf Umfrageergebnisse weit über fünf Prozent (Eingangshürde ins Landesparlament) gekommen. • Die politische Aufbruchsstimmung von Sebastian Kurz und mit ihm der „neuen Volkspartei“ war nicht nur beendet, sondern fand durch den „ÖVP-Korruptions-Untersuchungsausschuss“ des Österreichischen Nationalrats in Permanenz eine negative Neuinterpretation. Die vermeintlichen Verfehlungen der Volkspartei wurden in regelmäßiger Form medial vorgeführt und führten nicht nur zu einem Vertrauensverlust gegenüber der Volkspartei, sondern auch in die Politik in ihrer Gesamtheit. • Die Bürgermeister- und Gemeinderatswahlen im Frühjahr des Jahres 2022 hatten diese Schwierigkeiten der Tiroler Volkspartei bestätigt. Auch wenn durch die Eigenart der Listenvielfalt bei Kommunalwahlen in Tirol eine Gesamtbewertung immer schwierig ist, so verlor die Tiroler Volkspartei doch in zahlreichen bevölkerungsreichen Städten und Gemeinden die Bürgermeistersessel. In den Ergebnissen der Bürgermeisterwahlen wurde jedenfalls ein klarer Verlust der einst politisch bestimmenden Kraft „Tiroler Volkspartei“ sichtbar. • Die in Tirol seit neun Jahren regierende Koalition aus Volkspartei und Grünen schien ebenfalls an ihrem gestalterischen Ende angekommen. Interessanterweise nahmen mit dem Eintritt der Grünen in die ÖVPgeführte Bundesregierung die Spannungen zwischen den Koalitionspartnern im Land eher zu: in Fragen des in Tiroler Ballungs- und Tourismusgebieten teuren Wohnens, des Umgangs mit Grund und

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Rainer Nick/Paul Unterhuber    |   Landtagswahl 2022 in Tirol

Boden, vor allem aber in Fragen der Infrastrukturentwicklung (wie Planungen zu Kraftwerksbauten, zur touristischen Infrastruktur oder zu Straßenprojekten) wurden zunehmend Dissonanzen spürbar, die eher auf eine partielle Lähmung im Regierungshandeln schließen ließen als auf eine konkrete Problemlösungskompetenz. In der Bevölkerung wurde ein starker Veränderungswunsch gegenüber der Politik immer sichtbarer. Tabelle 2: Kontinuität vs. Wechsel in der Tiroler Politik im Zeitverlauf weiter wie bisher

es muss sich viel ändern

Tiroler Politik – Februar 2018

54

43

Tiroler Politik – März 2022

24

68

Fragestellung: „Wenn Sie ganz allgemein an die Landespolitik in Tirol denken: Soll es Ihrer Meinung nach insgesamt gesehen so weitergehen wie bisher oder muss sich vieles ändern?“ Umfrage Demox Research, n=600/800 Befragte, repräsentativ für Tirol, Multi Mode (CATI+CAWI-Interviews), Februar 2018– März 2022, in Prozent, Rest auf 100 = „Weiß nicht“





Die personellen Rahmenbedingungen innerhalb der Tiroler Landesregierung hatten sich verändert: die langjährige Landeshauptmannstellvertreterin und Frontfrau der Grünen, Ingrid Felipe, kündigte im Frühjahr 2022 ihren Rückzug aus der Politik an. Aufseiten der Volkspartei gab es 2021 eine kleine Regierungsumbildung, zwei Landesräte wurden ersetzt. Die Frage, ob Günther Platter die Tiroler Volkspartei wieder in die Wahl führen würde, nahm zunehmend Fahrt auf. Bei der Präsenta­ tion der zwei neuen Regierungsmitglieder im Mai 2021 erklärte der Landeshauptmann, selbstverständlich wieder als Spitzenkandidat zur Verfügung zu stehen, und erreichte damit, dass innerparteiliche Spekulationen damit zumindest nach außen hin vorerst beendet schienen.

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österreichisches jahrbuch für politik 2022

Tabelle 3: Zufriedenheit mit der Tiroler Politik im Zeitverlauf … sehr/ eher zufrieden

… eher/ sehr unzufrieden

Tiroler Politik – Jänner 2018

82

16

Tiroler Politik – März 2022

42

54

Tiroler Politik – Juni 2022

31

66

Fragestellung: „Wenn Sie ganz allgemein an die Politik in Tirol denken – sind Sie persönlich damit eher …?“ Umfrage Demox Research, N=600/600/800 Befragte, repräsentativ für Tirol, Multi Mode (CATI+CAWI-Interviews), Jänner 2018–Juni 2022, in Prozent, Rest auf 100=„Weiß nicht“

Die Lage hatte sich innerhalb von zwei Jahren aber grundlegend verändert. Der angekündigte Rückzug von Ingrid Felipe ließ maßgebliche Änderungen in der Koalitionsarchitektur erwarten, insbesondere weil die Zusammenarbeit zwischen Felipe und Platter als sehr gut empfunden wurde. Die zwei neuen Landesräte für die Volkspartei hatten zudem keinen nachhaltigen Effekt, war der Wechsel einerseits als überfällig erachtet worden (insbesondere bei dem in der Coronakrise kommunikativ über weite Strecken glücklos agierenden Gesundheitslandesrates), zum anderen als zu wenig innovativ wahrgenommen wurde, um eine grundlegende Neuaufstellung der Politik in Tirol zu demonstrieren. Die Zufriedenheit mit der Landespolitik erreichte einen negativen Rekordwert. Nach den für die Tiroler Volkspartei teilweise enttäuschenden Bürgermeisterwahlen im Frühjahr 2022 und um eine Nachfolgedebatte mitten im bzw. unmittelbar nach einem Wahlkampf 2023 zu verhindern, gab Günther Platter nach mehr als 20 Jahren in Spitzenpositionen der Landes- und Bundespolitik seinen Rückzug bekannt und ebnete den Weg zu vorgezogenen Landtagswahlen. Die Tiroler Volkspartei mischt die Karten neu: Anton Mattle übernimmt Mit seiner Ankündigung, nicht mehr als Landeshauptmannkandidat anzutreten und sich aus der Politik zurückzuziehen, verband Günther Platter zugleich seinen Vorschlag an die Parteigremien, den erst seit einem Jahr amtie-

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Rainer Nick/Paul Unterhuber    |   Landtagswahl 2022 in Tirol

renden Wirtschaftslandesrat, langjährigen Abgeordneten und Bürgermeister von Galtür Anton Mattle zum neuen Landesparteiobmann und Landeshauptmannkandidaten zu nominieren. Damit verknüpft sollten die Wahlen auf Herbst 2022 vorverlegt werden und Günther Platter bis zu dieser Wahl im Amt bleiben. Diese für eine österreichische Landeshauptmannpartei unübliche Vorgehensweise, ohne einen Landeshauptmannbonus in die Wahl zu gehen, wurde in den Folgemonaten immer wieder – interessanterweise außerhalb Tirols mehr als in Tirol selbst – hinterfragt. Tabelle 4: Entscheidung für Anton Mattle als Nachfolger von Günther Platter nach Altersgruppen ja, richtige Entscheidung

nein, falsche ­Entscheidung

ist mir gleichgültig/ keine Angaben

TIROL gesamt

40

21

39

Altersgruppe bis 30 Jahre

26

19

55

Altersgruppe 30 bis 49 Jahre

35

21

44

Altersgruppe 50 bis 65 Jahre

40

28

32

Altersgruppe über 65 Jahre

60

15

25

Fragestellung: „Landeshauptmann Günther Platter hat angekündigt, bei der nächsten Landtagswahl nicht mehr zu kandidieren. Er hat Landesrat Anton Mattle als seinen Nachfolger vorgeschlagen. Hat LH Günther Platter einen richtigen Schritt gesetzt?“ Umfrage Demox Research, N=800 Befragte, repräsentativ für Tirol, Multi Mode (CATI+CAWI-Interviews), Juni 2022, in Prozent

Die Nominierung von Anton Mattle wurde zuerst verhalten, aber insbesondere bei den Wählerinnen und Wählern über 65 Jahre sehr positiv aufgenommen. Es ist auch jene Wählergruppe, die Anton Mattle – aus Erfahrung mit der Galtür-Lawinenkatastrophe – mit großem Abstand zutraut, die anstehenden Probleme in Tirol zu lösen, während die Jüngeren mehrheitlich kein wirkliches Meinungsbild von ihm hatten.

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österreichisches jahrbuch für politik 2022

Tabelle 5: Kompetenz von Anton Mattle, anstehende Probleme zu lösen, nach Altersgruppen ja, ist die richtige Person

nein, ist nicht die richtige Person

weiß nicht/ kenne ihn nicht/ keine Angaben

TIROL gesamt

19

17

64

Altersgruppe bis 30 Jahre

11

13

76

Altersgruppe 30 bis 49 Jahre

10

17

73

Altersgruppe 50 bis 65 Jahre

21

26

53

Altersgruppe über 65 Jahre

41

 9

50

Fragestellung: „Und ist Anton Mattle derzeit die richtige Person, um die anstehenden Aufgaben zu bewältigen und die dringenden Probleme im Land zu lösen?“ Umfrage Demox Research, N=800 Befragte, repräsentativ für Tirol, Multi Mode (CATI+CAWIInterviews), Juni 2022, in Prozent

Auch wenn die Nominierung Mattles aufgrund seiner jahrzehntelangen politischen Erfahrung und seines Lebensalters nicht gerade als Verjüngungskur und Aufbruch der Tiroler Volkspartei zu vermitteln war, so brachte die Nominierung des allseits – insbesondere auch über die Parteigrenzen hinaus – anerkannten und geschätzten „Tonis“ innerparteiliche Zustimmung. Mattle verkörperte durch seinen in der modernen Medienwelt eher unüblichen persönlichen Stil und sein sehr sachorientiertes Arbeitsverständnis ein personifiziertes Gegenmodell zu der durch die Chat-Aaffäre und den parlamentarischen Untersuchungsausschuss gebeutelte Bundes-ÖVP bzw. zu den die Ära Kurz prägenden Personen. Die Spitzenkandidaten und personelle Überraschungen Hatten SPÖ, FPÖ und NEOS mit den bereits bekannten Landesparteiob­ männern Dornauer, Abwerzger und Oberhofer die Spitzenkandidatenfrage schon länger geklärt, blieb die Spitzenkandidatenfrage bei den Grünen nach dem Rückzug von Ingrid Felipe offen. Nach einer durchaus kontrovers geführten Nominierungsphase fiel die Wahl auf das Spitzenduo Gebi Mair

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Rainer Nick/Paul Unterhuber    |   Landtagswahl 2022 in Tirol

und Petra Wohfahrtstätter. Diese Spitzenkandidatenauswahl hatte offensichtlich Narben hinterlassen, weil nicht nur die unterlegene Soziallandesrätin Gabriele Fischer, sondern auch andere bisherige Mandatarinnen und Mandatare ihren Ausstieg aus der Politik erklärten. Im Wahlkampf der Grünen selbst war dann von einem Frau/Mann-Team wenig zu spüren, sondern der erfahrene Politprofi Mair war das personelle Aushängeschild der Tiroler Grünen. Überraschend hingegen die Nominierung der Position der Spitzenkandidatur bei der „Liste Fritz“. Beobachter hatten damit gerechnet, dass die langjährige und sich gerade während der Coronakrise profilierende Klubobfrau Andrea Haselwanter-Schneider zugunsten ihres langjährigen politischen Wegbegleiters Markus Sint in die zweite Reihe treten würde. Als sich hingegen abzeichnete, dass keine andere Landtagspartei – eben auch nicht die Grünen – eine Frau an der Spitze nominieren würde, entschied das Team Fritz innerhalb von Stunden, Haselwanter-Schneider als Spitzenkandidatin ins Rennen zu schicken. Damit hatte die „Liste Fritz“ ein Allein­stellungsmerkmal mit einer Spitzenkandidatin, und die entsprechende Aufmerksamkeit während des gesamten Wahlkampfs war der Partei des ehemaligen Arbeiterkammerchefs Fritz Dinkhauser sicher. Die Volkspartei nominierte neben dem neuen Spitzenkandidaten Anton Mattle mit der ehemaligen Innsbrucker Bürgermeisterin Christine Oppitz-Plörer und der Kufsteiner Bezirkspolizeikommandantin Astrid Mair als Quereinsteigerinnen zwei bekanntere Namen. Der Unterstützungskandidatur von Oppitz-Plörer, die noch 2013 eine der treibenden Kräfte ­einer Parteiabspaltung war, auf dem letzten Landeslistenplatz kam deshalb in ihrer symbolischen Wirkung in und außerhalb der Volkspartei durchaus Bedeutung zu. Grundlegende personelle Weichenstellungen hin zu einer Erneuerung fanden in der Volkspartei allerdings vor der Wahl nur in überschaubarem Umfang statt, der personelle Wechsel innerhalb der Landeshauptmannpartei blieb vornehmlich auf die Spitze beschränkt. Mattle gelang es aber innerhalb kürzester Zeit, Terrain gutzumachen, seine Bekanntheit deutlich zu verbessern und den Anteil der Personen, die ihm die notwendige Führungskompetenz zutrauen, innerhalb eines Monats um neun Prozentpunkte zu steigern.

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österreichisches jahrbuch für politik 2022

Tabelle 6: Kompetenz von Anton Mattle, anstehende Probleme zu lösen, im Zeitvergleich ja, ist die richtige Person

nein, ist nicht die richtige Person

weiß nicht/ kenne ihn nicht/ keine Angaben

Tirol, Juni 2022

19

17

64

Tirol, Juli 2022

28

18

54

Fragestellung: „Und ist Anton Mattle derzeit die richtige Person, um die anstehenden Aufgaben zu bewältigen und die dringenden Probleme im Land zu lösen?“ Umfrage Demox Research, N=800 Befragte, repräsentativ für Tirol, Multi Mode (CATI+CAWIInterviews), Juni und Juli 2022, in Prozent

Erwartungen und Mobilisierung im Wahlkampf Der kurze Wahlkampf rückte neben der bundespolitischen Großwetterlage einige landesspezifische Themen in den Mittelpunkt: teures Wohnen, Pflege, Umgang mit dem Tourismus (auch als vermeintlichem Preistreiber für Wohnen und Lebenshaltungskosten), die vielfältige Verkehrsbelastung, den notwendigen Ausbau der Energieversorgung. Auffallend waren in den thematischen Bereichen folgende Aspekte der Auseinandersetzung: • Den Grünen fiel es schwer, aus der Rolle der (Landes-)Regierungspartei über zwei Perioden hinaus als „angriffige Alternative“ enttäuschte Wählerinnen und Wähler anzusprechen. Die fehlende Zuspitzung auf Kernthemen wie z. B. den Klimawandel und die Folgen für Tirol ließ die Grünen im Wahlkampf eher „blass“ erscheinen. • Die „Liste Fritz“ als Besonderheit der politischen Landschaft Tirols besetzte erfolgreich die sozialen Themen Pflege (in der Altenbetreuung wie im Spitalswesen) und „zu teures Wohnen“ und positionierte sich als politische Kraft, die sich der Bekämpfung von Privilegien und vermeintlichen Ungerechtigkeiten annimmt. Der Liste Fritz gelang es, in diesen Bereichen durch ihre konsequente Oppositionspolitik über Jahre in ihrer Kampagne glaubwürdiger zu erscheinen als die SPÖ oder die mitregierenden Grünen. Hinzu kam eine klare Ansage, jegliche Regierungskooperation mit der Volkspartei dezidiert auszuschließen und weiterhin als oppositionelle Kontrollkraft agieren zu wollen.

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Rainer Nick/Paul Unterhuber    |   Landtagswahl 2022 in Tirol





Die Tiroler SPÖ zeigte sich thematisch eher zurückhaltend, offensichtlich um sich als möglicher Regierungspartner einer künftigen Landesregierung nicht wieder aus dem Rennen zu nehmen. Entgegen dem teilweise sehr provokativ anmutenden Stil in der Vergangenheit zeigte sich der SPÖ-Spitzenkandidat Georg Dornauer bewusst moderat. Die FPÖ Tirol setzte auf die allgemeine Politikverdrossenheit und versuchte die Asyl- und Zuwanderungsthematik aber auch das CoronaManagement von Bundes- und Landesregierung in den Mittelpunkt zu rücken. Begünstigt durch die frühzeitige und dezidierte Ablehnung der FPÖ als möglichem Regierungspartner durch Anton Mattle versuchte die FPÖ als „einzig wahre Alternative“ zur Langzeitregierungspartei Volkspartei aufzutreten, was im Landeshauptmannanspruch von Markus Abwerzger (Stichwort: „Duell um Tirol“) gipfelte.

Viel wesentlicher als thematische Positionierungen wurden im Wahlkampf einzelne stilistische Aspekte wahrgenommen: • Die Tiroler Volkspartei schaffte mit der Ankündigung, auf dem Stimmzettel unter der Kurzbezeichnung „Mattle“ zu kandidieren, einen Überraschungscoup. Innerhalb weniger Wochen wurde der neue Spitzenkandidat damit in seiner Bekanntheit nach oben katapultiert, einer breiten Masse wurde der neue Spitzenkandidat erst durch diese Ankündigung und der daraus resultierenden öffentlichen Debatte ob der Zulässigkeit der Listenbezeichnung für die Volkspartei bekannt. Lag die namentliche Bekanntheit Anton Mattles in Tirol bei seiner Nominierung noch bei 36 Prozent, so erreichte sie dann Anfang September Werte von 77 Prozent. • Der Landeshauptmann-Anspruch von Markus Abwerzger (FPÖ) ermöglichte es wiederum Anton Mattle und der Volkspartei, ein stark auf die Person und die Stabilität fokussiertes Gegenmodell darzustellen: Mattle rückte seine Ablehnung gegenüber taktischen Wahlkampfspielen in den Mittelpunkt und präsentierte sich als „anderer Typ Politiker“, der durch seine Erfahrung (Stichwort: Bürgermeister Galtür und Lawinenkatastrophe), durch Sachlichkeit und Ehrlichkeit für einen anti­populistischen Politikstil stehe. • Die Coronakrise und die vom Corona-Hilfsfonds an Vereine ausbezahlten Unterstützungsgelder wurden durch medial inszenierte An-

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österreichisches jahrbuch für politik 2022

griffe auf Tiroler Seniorenbund und Tiroler Landjugend/Jungbauernschaft Teil eines Versuchs, ein „Sittenbild der Volkspartei“ zu zeichnen. Auch die Versuche, durch Vorladung einzelner Spitzenvertreter der Tiroler Volkspartei vor den parlamentarischen Untersuchungsausschuss das Thema prominent zu lancieren, führten offensichtlich eher zu einer Solidarisierung dieser mitgliederstarken Organisationen beim Wahlverhalten. Die Folge war zum Beispiel ein fulminantes Vorzugsstimmenergebnis des Landjugend-Obmanns, der auf der Landesliste der Volkspartei kandidierte. Kaum ein anderer Wahlkampf bisher war allerdings so stark durch die veröffentlichten Umfragen beeinflusst wie die Tiroler Landtagswahl 2022. Der Volkspartei wurde von unterschiedlichen Instituten und Medien ein beispielloser Niedergang prognostiziert. Die Erwartungen in Hinblick auf das Wahlergebnis waren daher ein entscheidender Faktor dieser Wahl geworden. Tabelle 7: Vergleich veröffentlichter Umfragen zur Tiroler Landtagswahl Tiroler Volkspartei

SPÖ

FPÖ

Grüne

NEOS

Liste Fritz

MFG

andere

Lazarsfeld (Beutelmayer), n=504, 25.8., OE24

25

21

19

7

7

15

3

3

IMAD, n=600, 29.8.– 1.9., Kronen Zeitung

25,3

17,8

16,6

12,4

11,7

11,5

2,4

2,3

Gallup, 1.9., n=600, Tiroler Tageszeitung

26

19

20

11

8

9

3

4

GMK, 6.9., n=600 CATI, Bezirksblätter*

35–39

14–18

15–19

8–12

7–9

5–7

3–5

k.A.

Market, 9.9., n=600, Tirolerbasics

26

21

18

9

7

14

3

2

Quelle: veröffentlichte Umfragen, in Prozent * Die Umfrage von GMK Graz, veröffentlicht in den Bezirksblättern, sah eine Schwankungsbreite sowohl bei den ausgewiesenen Werten als auch noch darüber hinaus von +/–4,5 Prozentpunkten vor.

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Rainer Nick/Paul Unterhuber    |   Landtagswahl 2022 in Tirol

Die Volkspartei formulierte ebenfalls lange im Sinne eines aktiven Erwartungsmanagements sehr niedrige, im unteren 30-%-Bereich angesetzte Wahlziele. Insbesondere gegenüber den eigenen Funktionärinnen und Funktionären wurde erst intern, dann durch eine öffentliche Wortmeldung Mattles auch extern in den Medien die Möglichkeit, auch 33–34 % erzielen zu können, angedeutet. Die mediale Inszenierung über Wochen, dass nicht nur ein Niedergang, sondern auch eine Landesregierung ohne Beteiligung der Tiroler Volkspartei möglich wäre, führte offensichtlich zu einem mobilisierenden Effekt in bestimmten Wählerkreisen zugunsten der Volkspartei. Insbesondere bei den Wählergruppen über 65 Jahren und jenen, die im Vorfeld in den Umfragen angegeben hatten, „ganz sicher wählen zu gehen“, schnitt die Volkspartei deutlich besser ab, als bei jenen, deren Beteiligung an der Landtagswahl unsicher war. Tabelle 8: Rohdaten deklarierter Wählergruppen vor der Wahl Tiroler Volkspartei

SPÖ

FPÖ

Grüne

NEOS

Liste Fritz

MFG

andere

Tirol gesamt (Recallgewichtet)

30

19

18

 9

 9

11

2

1

Altersgruppe ab 65 Jahren

52

14

 7

 9

 6

12

0

0

Wahlbeteiligung „Ganz sicher“

31

18

18

 9

10

11

2

1

Wahlbeteiligung ­„Vielleicht“

19

25

17

19

 1

10

3

4

Quelle: Umfragen Demox Research, N=1600 deklarierte Befragte, repräsentativ für Tirol, Multi Mode (CATI+CAWI-Interviews), September 2022, in Prozent

Das Wahlergebnis der Landtagswahl war für viele Beobachter daher eher eine Überraschung, weil es insbesondere für die Tiroler Volkspartei ein Ergebnis weit über den publizierten Erwartungswerten brachte. Für die Analyse sind folgende Aspekte von wesentlicher Bedeutung:

27

österreichisches jahrbuch für politik 2022





Steigerung der Wahlbeteiligung: Durch die in den veröffentlichten Umfragedaten und ihrer Interpretation möglicher Folgen, kam es offensichtlich zu einer Steigerung der Wahlbeteiligung. Hatte diese 2018 noch 60 Prozent betragen, steigerte sie sich 2022 auf 65 Prozent. Die Gemeinde mit der höchsten Wahlbeteiligung war Galtür, die Heimatgemeinde des Langzeitbürgermeisters Toni Mattle, mit 87,34 Prozent. Mobilisierung der relevanten Wählergruppen: Bereits zu Beginn des Wahlkampfs waren die hohen Zustimmungswerte Anton Mattles in der älteren Bevölkerung sichtbar. Die kolportierten Umfragen in Medien mobilisierten offensichtlich gerade diese starke Anhängerschaft der Volkspartei und Anton Mattles. Eines wurde deutlich: Der Zielgruppenwahlkampf der Volkspartei hatte in Anbetracht der schwierigen strategischen Umstände für die Landeshauptmannpartei – auch mit wahrscheinlich unbeabsichtigter Mithilfe einiger Medien – recht gut funktioniert.

Das Wahlergebnis stabilisierte letztlich die Tiroler Volkspartei, weil mit den erzielten 14 Mandaten und angesichts der politischen Heterogenität der anderen Landtagsparteien eine Regierungsmehrheit jenseits der Volkspartei ausgeschlossen war und die Tiroler Volkspartei wiederum als führende Kraft in einer Zweier-Koalition (diesmal mit der SPÖ) den Landeshauptmann stellen konnte. Tabelle 9: Wahlergebnis Tirol Tiroler Volks­ partei

SPÖ

FPÖ

Grüne

NEOS

Liste Fritz

MFG

andere

Tirol Wahlergebnis

34,7 (–9,6)

17,5 (+0,2)

18,8 (+3,3)

9,2 (–1,5)

6,3 (+1,1)

9,9 (+4,4)

2,8 (+2,8)

0,9

Mandate

14 (–3)

7 (+1)

7 (+2)

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Wahlergebnis Tirol in Prozent bzw. Mandaten, in Klammer Veränderung zu 2018

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Innenpolitik

WIR MACHT’S MÖGLICH. Es ist nicht der Einzelne, der die Welt verändert. Es ist die Gemeinschaft, die stärker ist als alles andere. Das Wir, das füreinander sorgt und füreinander Mehrwert schafft. Aus der Region und für die Region und die Menschen, die darin leben. So ermöglichen wir die Verwirklichung großer Träume und gestalten eine nachhaltige Zukunft. wirmachtsmöglich.at Impressum: Medieninhaber: Raiffeisen-Holding Niederösterreich-Wien, F.-W.-Raiffeisen-Platz 1, 1020 Wien.

Bettina Rausch

Über die Rolle des Staates in der Krise Fragen nach dem optimalen Staat und damit auch nach seinen Aufgaben und Di­men­sionen werden lebhaft diskutiert. Nicht nur in der Gegenwart, sondern seitdem über menschliches Zusammenleben in strukturierter Form generell nachgedacht wird. Immerhin steht die Staatsmacht stets unter einem Rechtfertigungsdruck für den Eingriff in individuelle Freiheiten, den jegliche Regelung des Zusammenlebens notwendigerweise mit sich bringt. Vor dem Hintergrund der programmatischen Grundwerte und Grundhaltungen der Volkspartei und dem ordnungspolitischen Modell der Ökosozialen Marktwirtschaft werden in diesem Beitrag wesentliche „krisenpolitische“ Entscheidungen der vergangenen Jahre einer entsprechenden Bewertung unterzogen.

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Not kennt kein Gebot: Diese bekannte Redewendung bezeichnet nicht nur die alltagspraktische Erfahrung, dass in extremen Krisensituationen mitunter andere Verfahren zur Anwendung kommen müssen – weil ein existenzielles Problem auf Basis des bisher gültigen Regelwerks nicht gelöst werden kann. Der Grundsatz „Not kennt kein Gebot“ hat faktisch auch den Zugang von Institutionen und Entscheidungsträgern bei der Lösung existenzieller finanzieller Krisen der jüngsten Vergangenheit geprägt. Der frühere Präsident der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, hat mit der Formulierung „whatever it takes“ dafür nicht nur den rhetorischen, sondern auch den handlungspraktischen Standard geprägt. Mit den Worten „Within our mandate, the ECB is ready to do whatever it takes to preserve the euro. And believe me, it will be enough“ hat Draghi bekanntlich am 26. Juli 2012 mit seiner Rede bei der Global Investment Conference in London1 erfolgreich die Finanzmärkte beruhigt – und mit der Anwendung geldpolitischer Instrumente begonnen, die alles andere als zum Standardrepertoire der EZB gehören. Die „Whatever it takes“-Phrase – und der dadurch erhoffte „Draghi-­ Effekt“ – ist in der Folge zum geflügelten Wort geworden, das Markus Söder2 und Olaf Scholz3 ebenso bemüht haben, wie Politiker in Großbritannien und Italien. In Österreich hat der vormalige Finanzminister Gernot Blümel in einer deutschsprachigen Variante – „Koste es, was es wolle“ – die Wirtschaft mit Blick auf die Corona-Hilfen beruhigt.4 Der amtierende Finanzminister Magnus Brunner hat diese Maxime im Kontext von Energiesituation und Teuerung aufgrund der Ukraine-Krise auf „Koste es, was es braucht“ angepasst5. Dass Österreich sowohl mit seinen Corona-Hilfen, als auch bei den Maßnahmen gegen die Teuerung im internationalen Vergleich für Menschen und Betriebe wichtige Unterstützung geliefert hat, steht au-

1 https://www.youtube.com/watch?v=Pq1V0aPEO3c 2 https://www.bundeskanzler.de/bk-de/aktuelles/pressekonferenz-von-bundeskanzlerinmerkel-ministerpraesident-soeder-und-dem-ersten-buergermeister-tschentscher-1730300 3 https://www.tagesspiegel.de/politik/wie-die-bundesregierung-die-wirtschaft-stuetzen-willscholz-persoenlicher-whatever-it-takes-moment/25642184.html 4 https://www.sn.at/wirtschaft/oesterreich/bluemel-praesentiert-krisenbudget-koste-eswas-es-wolle-85133107 5 https://kurier.at/politik/inland/koste-es-was-es-wolle-so-aendert-finanzminister-brunnerdas-kurz-zitat/401986649

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Bettina Rausch    |   Über die Rolle des Staates in der Krise

ßer Frage. Daran ändern auch punktuelle Vorwürfe der „Überförderung“ von Betrieben oder zur mangelnden „sozialen Treffsicherheit“ von Unterstützungsmaßnahmen nichts. Vielmehr sind die Vorwürfe mit Blick auf notwendige Schnelligkeit und Breitenwirksamkeit von Hilfsmaßnahmen selbst auf den Prüfstand zu stellen. Zu Unrecht bezogene Hilfen müssen zudem zurückgezahlt werden. Verständnis staatlichen Handelns auf dem Prüfstand Trotzdem ist es notwendig, vor dem Hintergrund der Krisen der vergangenen Jahre – Coronapandemie, Angriffskrieg auf ein europäisches Land, Energieversorgung, Teuerung – zu hinterfragen, wie es um unser Verständnis von staatlichem Handeln bestellt ist. Denn es ist ein offenes Geheimnis: Die bisherigen Krisen sind dazu angetan, dieses Verständnis zu verändern. Einerseits in eine Richtung, die mehr staatliches Handeln nicht nur in Krisenzeiten als notwendig und selbstverständlich erachtet, und andererseits in eine Richtung, die staatliche Handlungen auch mit Blick auf grundrechtliche Fragen generell stärker in Zweifel stellt. In einer repräsentativen Demokratie müssen sich daher die Parteien die Frage stellen lassen und sich selbst die Frage stellen –, wie sie auf derartige Krisen auf der Basis ihres Wertefundaments und ihrer grundsätzlichen Programmatik reagieren – und ob sie bisher richtig reagiert haben. Parteien in Regierungsverantwortung trifft diese Frage in der Praxis noch stärker. Vor diesem Hintergrund unternimmt der vorliegende Beitrag den Versuch, die konkrete Politik der Volkspartei in der Zeit der multiplen Krisen im Lichte der Werte und Programmatik der Partei einzuordnen und zu reflektieren. Historische Schlaglichter Gleich vorweg: Fragen nach dem optimalen Staat und damit auch nach seinen Aufgaben und Dimensionen werden lebhaft diskutiert. Nicht nur in der Gegenwart, sondern seitdem über menschliches Zusammenleben in strukturierter Form generell nachgedacht wird. Immerhin steht die Staatsmacht stets unter einem Rechtfertigungsdruck für den Eingriff in individuelle Freiheiten, den jegliche Regelung des Zusammenlebens notwendigerweise

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mit sich bringt. Die Bandbreite der Staatsdebatte reicht daher von der griechischen und römischen Antike über die europäische Aufklärung bis in die heutige Zeit. Ausgewählte Positionen machen die Tragweite der (historischen) Debatte deutlich. • Nach Thomas Hobbes6 ist der Naturzustand des Menschen – ohne staatliche Strukturen und Regelungen – gekennzeichnet vom Recht des Stärkeren, vom Kampf jedes gegen jeden. Der Mensch sei dem Menschen Wolf („homo homini lupus“). Der aristotelischen Idee des grundsätzlich auf Gemeinschaft gerichteten Wesens des Menschen („zoon politikon“) steht Hobbes kritisch gegenüber. Er sieht im Naturzustand den menschlichen Selbsterhaltungstrieb dominierend, sozia­les Verhalten bedingte Vertrauen in andere, das nicht natürlich gegeben sei. Dennoch hält es Hobbes für möglich und wünschenswert, den von ihm beschriebenen Naturzustand zu überwinden und eine regelbasierte Gemeinschaft, einen Staat zu schaffen.Voraussetzung dafür ist, dass es für die Menschen rational erscheint, den Regeln zu folgen – nämlich dadurch, dass jene Regeln von dazu berufenen Instanzen auch tatsächlich durchgesetzt werden. Nur so könne jede und jeder Einzelne davon ausgehen, dass auch die anderen sich an die Regeln halten. Sie geben ein Stück ihrer Freiheit auf und erhalten dafür Schutz und Sicherheit. Hobbes ist einer der Begründer der „Vertragstheorie“ für menschliches Zusammenleben. • Ein Jahrhundert später legt Jean-Jacques Rousseau sein Hauptwerk „Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts“7 vor. Während Hobbes noch in der Monarchie eine geeignete Staatsform sieht, argumentiert Rousseau klar für die Demokratie. Grundlage des Staates sei der „Gemeinwille“, dem sich die Menschen aus freien Stücken und aus Vernunft unterwerfen. Auch Rousseau erkennt die Notwendigkeit, Freiheit aufzugeben, wobei er zwei Zugänge zur Freiheit unterscheidet: Aufgegeben werden müsse die „natürliche Freiheit“, die nur durch die

6 Vgl. Hobbes, Thomas (London 1651): Leviathan, im Original digital verfügbar unter https:// www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb10860443 7 Vgl. Rousseau, Jean-Jacques (Amsterdam 1762): Du contrat social ou Principes du droit politique, online verfügbar: https://www.e-rara.ch/gep_r/content/zoom/4127009

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„Stärke des Individuums“ beschränkt sei. Gewonnen werde hingegen „bürgerliche Freiheit“, die „durch den Gemeinwillen begrenzt“ sei. Weil die Schaffung eines Staates notwendig mit der Aufgabe von Freiheiten verbunden ist, diskutiert der politische Liberalismus, wie weit der Staat in individuelle Freiheiten eingreifen dürfe. So nennt beispielsweise John Locke8 „Freiheit, Leben und Eigentum“ als zentrale Menschenrechte, die nicht nur der Staat zu schützen habe, sondern die auch vor Eingriffen durch den Staat sicher sein müssen. In diesem Sinn unterscheidet der liberale Philosoph Isaiah Berlin zwischen „positiver“ und „negativer“ Freiheit – und leistet damit einen wesentlichen Beitrag zur Konkretisierung des liberalen Freiheitsbegriffs9. Berlin argumentiert für die „Freiheit von“, nicht für die „Freiheit zu etwas“. Gerade die „positive“ Freiheit mündet oft in neue Zwänge. Die möglichst große „Freiheit von“ staatlichen Eingriffen und Zwängen steht bei dieser Konzeption im Vordergrund.

Dieser kurze beispielhafte Überblick zeigt, wie die Rolle des Staates und seine Grenzen vielfältig diskutiert wurden und werden. Selbst Einigkeit in grundsätzlichen Aufgaben führt nicht automatisch zu Klarheit und Eindeutigkeit im Staatsverständnis. Das damit für die Politik wesentliche Spannungsfeld ist aber klar umrissen: Der Staat prägt persönliche Freiheits- und staatliche Handlungsspielräume. Wie stark das Pendel in die eine oder die andere Richtung ausschlägt, ist eine Frage der Weltanschauung und der Werte. Der Staat und die Volkspartei Das Menschenbild der Volkspartei und das daraus abgeleitete Wertesystem wurzeln in der Ideengeschichte des europäischen Kontinents. Es ist daher geprägt von der griechischen und römischen Antike, der christlich-jüdischen Tradition und der Philosophie der Aufklärung. Konservative, christ-

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Locke, John (London 1689): Two Treatises of Government Berlin, Isaiah (Oxford 1958): Two Concepts of Liberty

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lich-soziale und liberale Wurzeln stehen gleichberechtigt nebeneinander und bedingen – und zwar ganz im positiven und produktiven Sinn – die Notwendigkeit ständiger Abwägung. Diese Strömungen prägen auch die Programmatik der Volkspartei rund um das Verhältnis zwischen Bürgerinnen und Bürgern und staatlichem Handeln. So heißt es im geltenden Grundsatzprogramm der Volkspartei10: „Die wichtigste Aufgabe des liberalen Rechtsstaates ist es, die Freiheit des Menschen zu schützen. Wir treten gegen jede Form staatlicher Bevormundung und für den konsequenten Schutz privaten Eigentums als Ausdruck persönlicher Freiheit ein.“ Diesem programmatisch liberalen Zugang steht ein konservatives Komplement zur Seite – vor allem, wenn es um Fragen der Sicherheit geht: „Wir setzen uns für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger als Voraussetzung für gelebte Freiheit ein. Wir bekennen uns zum Gewaltmonopol des Staates und zu einer starken Exekutive. Gewaltanwendung und Kriminalität sind mit allen Mitteln des Rechtsstaates konsequent und wirkungsvoll zu bekämpfen.“ Die christlich-soziale Dimension im Staatsverständnis wird im Umgang mit sozialen Herausforderungen deutlich. Dazu erklärt das Grundsatzprogramm: „Wir sehen es als wichtige Aufgabe von Staat und Gesellschaft, für gerechte Verhältnisse zu sorgen. Nur das sichert den sozialen Zusammenhalt und auch die Bereitschaft, Solidarität zu üben.“ Ein ganz entscheidendes Anliegen der Volkspartei in staatlichen Fragen ist die gesicherte Leistungs- und Handlungsfähigkeit des Staates. „Wir wollen ein Staatswesen, das im Dienst der Menschen schlank und leistungsfähig ist. (…) Zu hohe Staatsschulden schränken die Handlungsfähigkeit des Staates ein. Sie belasten nachfolgende Generationen und schaden dem Wirtschafts- und Arbeitsstandort.“ Vorangestellt ist allen programmatischen Positionierungen zum Thema Staat die grundlegende Feststellung, dass staatliches Handeln kein Selbst­ zweck sein darf: „Der Staat ist für die Bürgerinnen und Bürger da. Und nicht umgekehrt. (…) Staatliches Handeln muss den Bürgerinnen und Bürgern dienen und größtmögliche Wahlfreiheit gewährleisten.“ Der kurze Blick auf die programmlichen Fundamente der Volkspartei zeigt, dass staatliches Handeln für Bürgerinnen und Bürger sowohl Freiheit schützen als auch

10 https://www.dievolkspartei.at/Download/Grundsatzprogramm.pdf

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(solidarische) Hilfe sichern soll. Zudem gilt: Der Staat ist nicht für alles zuständig, aber für das, was zu tun ist, muss staatliche Leistungs- und Handlungsfähigkeit gewährleistet sein. Ergänzend muss man natürlich feststellen, dass die Volkspartei als gesamtgesellschaftliche Integrationspartei einem vernünftigen Pragmatismus verpflichtet war und ist. Mit einem Wort: Sie bleibt nicht in der abstrakten Theorie verhaftet, sondern stellt sich auch der Frage, was wirklich nützt, was wirklich wirkt, was in einer bestimmten Situation notwendig ist. Das ist auch ganz im Sinne der Philosophie der Aufklärung, mit der sich auch die Überzeugung durchgesetzt hat, die Vernunft als universelle Urteilsinstanz anzusehen. Max Weber hat das in seiner Schrift „Politik als Beruf “11 unter den Schlagworten Gesinnungsethik und Verantwortungsethik diskutiert. Während erstere vor allem auf Überzeugungen basiert, stellt zweitere die Folgen einer (politischen) Handlung in den Mittelpunkt. Die Abwägung zwischen beiden ist nach Weber notwendig. Für die Volkspartei ist ein verantwortungsethischer Zugang in der Praxis immer wieder prägend. Es geht schließlich nicht darum, in der Theorie Recht haben zu wollen – was allzu schnell in moralische Selbstüberhöhung münden kann –, sondern darum, in der Praxis taugliche und bestmögliche Lösungen zu erwirken. Auch die damit verbundene Zurückhaltung und Mäßigung spricht die Volkspartei in ihrem Grundsatzprogramm sehr klar an: „Wir sind uns dessen bewusst, dass die Unvollkommenheit des Menschen sowie die Begrenztheit seiner Planungs- und Gestaltungsfähigkeit auch der Politik Grenzen setzen. Auch aus diesem Grund haben ideologischer Extremismus und ein totalitäres Politikverständnis keinen Platz in der Volkspartei.“ Wertemodell der Ökosozialen Marktwirtschaft Vernünftiger Pragmatismus und die konstruktive Verbindung von Werten kennzeichnen auch das ordnungspolitische Modell der Ökosozialen Markt-

11 Vgl. Weber, Max (München 1919: Politik als Beruf; online verfügbar unter https://www.deutschestextarchiv.de/book/show/weber_politik_1919

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wirtschaft, das im Kontext des staatlichen Umgangs mit Krisen bzw. der Staatsrolle in der Wirtschaft insgesamt ebenfalls von Relevanz ist. Die Ökosoziale Marktwirtschaft verbindet als Wirtschafts- und Sozial­modell die Werte der Freiheit und Leistung mit den Werten der Solidarität und der Nachhaltigkeit. Anreize im Sinn einer innovativen Ökosozialen Marktwirtschaft sollen die notwendige Balance zwischen leistungsfähiger Wirtschaft, gesellschaftlicher Solidarität und ökologischer Nachhaltigkeit ermöglichen. Das ist für die Volkspartei die Grundlage für breiten Wohlstand, soziale Sicherheit und eine lebenswerte Umwelt. Diese ordnungspolitische Konzeption ist gerade jetzt insofern wichtiger denn je, als es politische Bemühungen gibt, alles staatliche Handeln auf ein Ziel – nämlich auf Klimaziele – auszurichten und dabei alle anderen Ziele zu overrulen. Das birgt nicht nur die Gefahr eines ökologischen Autoritarismus, sondern auch die Gefahr, die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft zur Erreichung sozialer und ökologischer Ziele massiv zu schwächen. Die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung wirtschaftlicher Wertschöpfung und von Arbeitsplätzen ist daher auch ordnungspolitisch ein zentrales politisches Anliegen der Volkspartei. Staatliche Krisenpolitik im programmatischen Check Vor dem Hintergrund der programmatischen Grundwerte und Grundhaltungen der Volkspartei möchte ich wesentliche „krisenpolitische“ Entscheidungen der vergangenen Jahre einer entsprechenden Bewertung unterziehen. Auch mit Blick auf den Krisen-Grundsatz „Not kennt kein Gebot“ und in Anerkennung der Krisen-Maxime „whatever it takes“ ist von Interesse, inwieweit es der Volkspartei gelungen ist, auch unter den Bedingungen massiver Krisen Grundwerte und Grundüberzeugungen in der Politik umund durchzusetzen. COVID-19-Pandemie: Freiheit und Gesundheit Als „Zumutung“ hat etwa Angela Merkel die freiheitseinschränkenden Maßnahmen im Zuge der Coronapandemie bezeichnet – vollkommen zu Recht. Die rückblickende Beurteilung der freiheitseinschränkenden Corona-Maßnahmen muss freilich den – damals mehr als mangelhaften Wis-

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sensstand – berücksichtigen. Die Maßnahmen sind im Spannungsfeld zweier Zielsetzungen zu bewerten: Auf individueller Ebene geht es um den Schutz der Freiheits- und Grundrechte, auf systemischer Ebene um die Aufrechterhaltung der Gesundheitsversorgung im Ganzen – dies wiederum zum Schutz der individuellen Gesundheit und Existenz der Bürgerinnen und Bürger. Ein Vorrang des wünschenswerten eigenverantwortlichen Gesundheits­schutzes war unter den gegebenen Rahmenbedingungen insofern schwer realisierbar, als eigenverantwortliches Handeln sowohl gesichertes Wissen als auch geeignete Möglichkeiten dazu voraussetzt. Beides war in der ersten Phase der Pandemie nicht gegeben, was die staatliche Verantwortung und das staatliche Handeln für ein Funktionieren des Gesundheitssystems eindeutig in den Vordergrund gestellt hat. Der für den Fall staatlichen Nicht-Handelns erwartbare Vorwurf, man habe individuelle Gesundheit und Menschenleben wirtschaftlichen Interessen geopfert, trifft daher nicht zu. COVID-19-Pandemie: Wirtschaft und Finanzen Die vielfältigen Unterstützungsmaßnahmen für Betriebe und Arbeitsplätze entsprechen der programmatischen und ordnungspolitischen Positionierung der Volkspartei, wonach Wirtschaft und Arbeit unverzichtbare Grundlagen für Funktionieren und Erreichen gesellschaftlicher Ziele sind. Nachdem die staatlichen Eingriffe in wirtschaftliche Freiheiten die Leistungen der Wirtschaft für Wertschöpfung und Arbeitsplätze in relevanten Bereichen nicht mehr möglich gemacht haben, war es sowohl ordnungspolitisch, als auch verantwortungsethisch gerechtfertigt, Unterstützungsmaßnahmen zu ergreifen. Die Bundesregierung hat ihre Unterstützungsmaßnahmen auch mit den zentralen Zielen der grundsätzlichen Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen Strukturen und vor allem auch mit Erhalt der Arbeitsplätze begründet. Generell sind staatliche Regulierungen und Eingriffe in die Wirtschaft auch aus liberaler marktwirtschaftlicher Sicht über Krisensituationen hinaus geboten (z. B.Verhinderung von Monopolen). Ukraine-Krieg: Teuerung und Energie Mit dem Ukraine-Krieg waren für Österreich gleich mehrere Krisen verbunden. Neben der Flüchtlingskrise, die Hilfe für eindeutige Kriegsvertriebene – und nicht für irreguläre Migration unter dem Deckmantel des

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Asylrechts – in den Vordergrund gerückt hat, hat vor allem die durch den Krieg ausgelöste Energie- und Teuerungskrise die Volkspartei in der Regierungspolitik gefordert. Auch hier wurden sowohl für Menschen als auch für Unternehmen erhebliche finanzielle Mittel bereitgestellt, um die Auswirkungen der Teuerung zu lindern. Nach Corona-Hilfen in der Höhe von 46 Milliarden Euro wurden im Zeitraum 2022 bis 2026 weitere 41 Milliarden Euro an Hilfszahlungen gegen die Teuerung budgetiert12. Die finanzielle Entlastung für Menschen und Betriebe war zwar den Empfängerinnen und Empfängern, nicht aber einzelnen Beobachterinnen und Beobachtern willkommen, die die von ihnen so bezeichnete „Gießkannen-Politik“, aber nicht staatliches Handeln an sich kritisierten. Mit Blick auf die programmatischen und ordnungspolitischen Grundlagen lässt sich auch hier feststellen, dass die Funktionsfähigkeit der Wirtschaft und die Sicherung der damit verbundenen Arbeitsplätze sowie rasche solidarische Hilfe für von der Teuerung Betroffene angesichts der dramatischen Energiepreise Vorrang hatten und haben. Der Eingriff in die Wirtschaft besteht zudem nicht in Form einer zusätzlichen Belastung, die wirtschaftliche Freiheit einschränken würde, sondern in Form einer Entlastung bzw. Rückgabe von Steuermitteln. Dies gilt auch für den Mittelstand, dessen Zukunft sich zur neuen sozialen Frage entwickelt hat.13 Klima: Preise und Rahmenbedingungen Ein drittes krisenpolitisches Handlungsfeld ist die Klimapolitik. Die damit verbundenen Spannungsfelder sind erheblich und werden durch gesellschaftspolitische Zuspitzung und Moralisierung weiter verschärft. Einerseits geht es darum, die Herausforderungen der Klimaentwicklung durch die Reduktion insbesondere von CO2-Emissionen wirksam zu adressieren, andererseits dürfen durch eindimensionale Maßnahmen nicht Wertschöpfung, Arbeitsplätze, soziale Sicherheit und gesellschaftlicher Zusammenhalt gefährdet werden. 12 https://www.profil.at/oesterreich/spassbremse-schuldenbremse/402293024 13 https://www.nzz.ch/meinung/das-ende-der-selbstverstaendlichkeit-die-mitte-der-gesell schaft-geht-vergessen-ld.1701440?reduced=true

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In diesem Bereich hat die Volkspartei die Etablierung einer Bepreisung von CO2 bei paralleler Entlastung durch einen Klima-Bonus zu verantworten. Diese Maßnahme entspricht voll und ganz den Grundsätzen der Ökosozialen Marktwirtschaft. Dazu kommen Anreize für Klima-Innovationen, welche Österreichs Wirtschaft weiter für innovative Klimaschutz-Maßnahmen mobilisieren sollen. Schon heute ist die österreichische Umwelttechnik-Branche weltweit ein relevanter Player. Anreize für Innovationen und Lösungen aus der Wirtschaft sind insgesamt der stärkste politische Hebel für (weltweiten) Klimaschutz, der Wertschöpfung und Arbeitsplätze sichert. Unbestritten ist, dass die lange geplante CO2-Bepreisung in Zusammenhang mit der aktuellen Energie- und Teuerungskrise spezifische Fragen aufwirft, nachdem der intendierte Lenkungseffekt allein durch die aktuelle Preisentwicklung eingetreten ist. Dass Mobilität nicht nur eine ökologische Herausforderung, sondern vor allem auch eine soziale Frage ist, hat die Volkspartei ebenfalls berücksichtigt: die Verdoppelung der Pendlerpauschale und der Pendlereuro bringen spürbare Entlastung – und bestätigen einmal mehr, dass Politik in fordernden Zeiten pragmatische und vernünftige Lösungen umsetzen muss. Dass sich Politik nicht durch Moral und auch nicht durch Wissenschaft ersetzen lässt, hat Wolfgang Schäuble in seiner Rede zur Wiedereröffnung des österreichischen Parlaments ausgeführt14. Ausblick Die Rolle des Staates für Bürgerinnen und Bürger, Gesellschaft, Wirtschaft und Umwelt wird in und außerhalb von Krisenzeiten weiter in Diskussion bleiben. Die vergangenen Krisen haben deutlich gemacht, dass die Bedeutung des Staates in Krisenzeiten aus guten Gründen deutlich zunehmen kann und auch muss. Ebenso wichtig ist es, nach Überwindung von Krisen wieder die richtige Balance zwischen Staat und Individuen zu finden. Entscheidend ist auch die möglichst rasche Wiedererlangung finanzieller Handlungsfähigkeit des Staates – denn die nächste Krise kommt in unse-

14 https://www.parlament.gv.at/aktuelles/pk/jahr_2023/pk0018

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rem Zeitalter der wachsenden Komplexität und zunehmender Disruption bestimmt. Von diesem Leitgedanken getragen war auch die Vorstellung des Bundesbudgets 202315 durch Finanzminister Magnus Brunner im Parlament. Die Rückkehr zu einer nachhaltigen Budgetpolitik bezeichnet er als „eine Frage des Hausverstandes, der Krisenvorsorge und des richtigen Umgangs mit Steuergeld. Daher ist eine Reduktion der Defizite kein Selbstzweck, keine politische Liebhaberei – sondern kaufmännische Sorgfalt.“ Deutlich wird damit, dass es für die richtige Dosis Staat – die gut wirkt, aber nicht abhängig macht – eine werteorientierte, pragmatische und vernünftige Politik braucht. Die Volkspartei hat in den vergangenen Krisenjahren gezeigt, dass sie auf die massiven Herausforderungen für Menschen und Wirtschaft mit dem zur Verfügung stehenden staatlichen Instrumentarium vernünftig, wirksam und wertebewusst reagiert hat. Noch einmal Wolfgang Schäuble16: „Welche Lösung vernünftiger ist als eine andere, ergibt sich nicht allein aus Fakten, sondern auch aus Bewertungen. Dafür ist ein verlässlicher Wertekompass gerade auch in Krisenzeiten eine unverzichtbare Unterstützung.“

15 https://www.bmf.gv.at/dam/bmfgvat/presse/pressemeldungen/Budgetrede23.pdf 16 https://www.parlament.gv.at/aktuelles/pk/jahr_2023/pk0018

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Diana Kinnert

Grüne Selbstgerechtigkeit gegen politischen Kompromiss Die Klimabewegung steht sich selbst im Weg. Trotz des berechtigten Anliegens, ehrgeizigere Klimapolitik zur Erreichung der international verabredeten Klimaziele umzusetzen, verabschieden sich Aktivisten zunehmend aus dem demokratischen Diskurs. Sie diskreditieren den politischen Kompromiss und huldigen einer radikalen Selbstgerechtigkeit, die sie inzwischen sogar für Parlamentarier aus den eigenen Reihen kaum mehr ansprechbar macht. Daneben stehen Aktionen der sich im totalitären Sprachgebrauch vergaloppierenden „Letzten Generation“, die einzig die Wohlstandsverwahrlosung und Vollakademisierung ihrer Anhänger enttarnen. Das entfernt sie zunehmend von Leistungsträgern wie Leistungsempfängern der Mitte der Gesellschaft. Statt ernstem Lobbyismus für bessere Klimapolitik offenbart die Klimabewegung inzwischen immer öfter ihre Nähe zum politischen Extremismus, antikapitalis­ tischen Systemrevolten und Gewaltaufrufen. Für den Klimaschutz ist diese Verfahrenheit in der Klimadebatte verheerend. Sie verdient Realisten und Aufgeklärte, Innovatoren und Pioniere, die es ernst meinen.

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Im nordrhein-westfälischen Lützerath ereigneten sich Anfang 2023 denkwürdige Szenen. Klimaaktivisten belagerten das Dorf am Tagebau Garzwei­ ler, unter dem rund 110 Millionen Tonnen Braunkohle lagern, bis zur Räumung. Der Protest eskalierte gewaltvoll. Über 100 Verletzte auf beiden Seiten wurden beklagt. Aktivisten wurden ins Krankenhaus gebracht; zahlreiche Polizisten blieben nach dem Einsatz dienstunfähig. Es folgte ein Schlagabtausch gegenseitiger Gewaltvorwürfe. Wenig ungewöhnlich, dürfte man meinen, dass sich insbesondere junge Aktivisten dem großen Energiekonzern RWE entgegenstellen, der im Abbaggern der Kohle unter Lützerath einen Garant für die deutsche Energiesicherheit sieht. Doch besonders wird die Lage dann, wenn das Zustandekommen dieses politischen Kompromisses rekonstruiert wird. Denn verantwortliche Verhandler von politischer Seite waren eben keine politischen Gegner der Klimaszene, sondern ganz im Gegenteil ihr parlamentarischer Arm: Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck sowie die Wirtschafts- und Umweltminister in Nordrhein-Westfalen Mona Neubaur und Oliver Krischer, alle drei Mitglieder der Grünen, haben diese Entscheidung zur Abbaggerung beschlossen. Umweltminister Krischer sieht in der Vereinbarung mit RWE einen „wichtigen Schritt in Richtung Klimaschutz“. Der verhandelte Kompromiss umfasst die Verkleinerung des Tagebaus um die Hälfte, sodass mehr als 280 Millionen Tonnen Kohle insgesamt unter der Erde bleiben werden, sowie die Rettung von fünf Dörfern. „Das ist einer der größten Fortschritte, die wir in den letzten Jahren gemacht haben“, so Krischer. Die Klimabewegung und ihr voran ihre Ikonen Greta Thunberg und Luisa Neubauer sehen das gleichwohl anders. Dafür haben sie ein Gutachten vorgelegt, dass das Einschreiten bei Lützerath für unnötig erklärt. Nach Auffassung von Umweltminister Krischer geht dieses allerdings von „völlig außergewöhnlichen Annahmen“ aus. Es spekuliere darauf, dass der Stromverbrauch in Deutschland zurückgehe oder die Gaspreise stark sinken würden. So verteidigen auch Abgeordnete der Grünen die verhandelte Vereinbarung. Luisa Neubauer, selbst Mitglied der Grünen, wirft ihrer Partei einen Glaubwürdigkeitsverlust vor. In der Talksendung der Journalistin Anne Will prallte sie auf die Bundesvorsitzende der Grünen Ricarda Lang. Neubauer und Lang, beide Grüne mit

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nur drei Jahren Altersunterschied, stehen sich politisch nahe wie kaum zwei andere im politischen Betrieb. Dass ausgerechnet an ihrer Konfrontation die Verfahrenheit der Klimadebatte deutlich wird, ist kein Zufall. Der Klimaaktivismus offenbart ein fragwürdiges Verständnis von Demokratie. Er isoliert sich derart von politischen Realitäten, dass er kaum mehr im Binnendialog der eigenen politischen Szene neugierige Gesprächspartner findet. Das kann ernsthaftem Klimaschutz nur schaden. Klimaprotest und Wohlstandsverwahrlosung Dieser vorhersehbare Stillstand in der Klimadebatte durch die Verweigerung der Anerkennung der anderen Meinung und der Flucht in die stetige Selbstbeschäftigung ist nicht der einzige Fehler der Klimabewegung. Insbesondere im Lichte der innerdeutschen wirtschaftlichen Entwicklung, die vom Krieg in der Ukraine, vom Anstieg der Gaspreise und der Inflation allerorts geprägt ist, geht von zahlreichen Klimaprotesten und -aktionen eine seltsame Distanz zu sozialen Themen aus. Beispielhaft stehen Aktionen der „Letzten Generation“. Immer wieder blockieren ihre Klimaaktivisten Autobahnauffahrten und andere Hauptverkehrswege. Sie streben an, dass Routinen und Systeme zum Erliegen kommen. Damit lösen sie nicht nur Wut und Unverständnis aus, sie decken die Wohlstandsverwahrlosung und Akademisierung der Klimabewegung auf. Durch ihre einseitige soziale Struktur büßt sie an Schlagkraft ein. Extreme Protestaktionen sind bisher selten als intellektuelle Coups in die Geschichte eingegangen. Oft zielen sie auf niedere Instinkte ab, auf Scham, Angst und Neid, wollen Gruppen einschüchtern, Macht demons­ trieren und bringen dabei auch Menschenleben, Tierwohl und Umwelt in Gefahr. Unvergessen, wie Greenpeace 2019 über 3.500 Liter gelbe Farbe auf Berliner Fahrbahnen gekippt hatte, nur um durch das Verteilen der Farbe die Aktivität des Hauptstadtverkehrs nachzuweisen – eine Aktion für den schnellen Kohleausstieg. Was folgte, waren Verkehrsunfälle mit Verletzten und Straßenabsperrungen für die Reinigungsarbeiten. Über 150.000 Liter Wasser wurden für den Abwasch aufgewendet. Ähnlich sinnfrei erscheinen zahlreiche Aktionen aus dem Jahr 2022, als internationale Aktivisten Suppen auf Gemälde oder Fassaden von Luxusboutiquen warfen.

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Daneben stehen gefährlichere Aktionen. Ebenfalls 2019 verübten Unbekannte Brandanschläge auf Leitungen und Kabel der Bahn in Berlin. Bundespolizisten und Feuerwehrleute löschten die Flammen. Verletzte gab es keine. Dafür ein Bekennerschreiben, das Bezug auf den Klimastreik der „Fridays for Future“-Bewegung nahm: „Zu einem richtigen Generalstreik gehören auch Blockaden und feurige Sabotageaktionen“, hieß es. Menschenleben sollten nicht gefährdet werden. Der für politisch motivierte Taten zuständige Staatsschutz der Kriminalpolizei ermittelte. „Mit unserem Aktionsbeitrag wollen wir nicht die „Fridays for Fu­ ture“-Bewegung vereinnahmen – doch sind wir auch dieser Bewegung zugehörig“, hieß es im Bekennerschreiben weiter. Nicht nur seither wird über Sympathie und Distanz zu derartigen Anschlägen und Aktionen gestritten. Verantwortliche der großen Klimabewegungen und Politiker im linksgrünen Parteienspektrum tun sich bisweilen schwer, Extremisten Extremisten zu nennen. Ihr antikapitalistischer Kampf gegen Marktwirtschaft und freie Gesellschaft kann schon mal derselbe sein. Inzwischen warnt auch der Verfassungsschutz. Ziviler Ungehorsam, der Recht breche, sei für Bundesumweltministerin Steffi Lemke beispielsweise „absolut legitim“, wenn er gewaltlos verlaufe. Anlass für diese Einlassung waren die seit mehr als zwei Wochen immer wieder stattfindenden Straßenblockaden selbsternannter Aktivisten der Klimaschutz-Initiative „Letzte Generation“. Gewaltlos sind die Sitzblockaden an Autobahnauffahrten und Hauptverkehrswegen in Städten wie Berlin, Hamburg oder Stuttgart aber nur unmittelbar. Mittelbar ist für Notruf, Pflegekräfte und Eltern kein Durchkommen. Sie müssen Menschen im Stich lassen, weil radikale Aktivisten ihrem Wunsch nach anderen Gesetzen im Lebensmittelrecht und in der Agrarpolitik nicht anders Ausdruck verleihen wollen. Klug sind all diese Protestaktionen nicht. So sind sie meist auch nicht gemeint. Wer am Wochenende die Schule bestreikt oder unbefahrene Straßen blockiert, erregt kein Aufsehen, inszeniert eben nicht „die größtmögliche Störung“, wie sie von den selbsternannten Weltrettern im totalitären Sprachgebrauch der „letzten Generation“ auch gewünscht ist. Sie streben an, dass Routinen und Systeme zum Erliegen kommen. Nur so könne die große Revolution, die Kehrtwende im Klimakampf noch gelingen.

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Totalitärer Sprachgebrauch und romantisierter Freiheitskampf Einzig: dem Klima wird es eben nicht nützen, dabei wären ein echter politischer Kraftakt, globale Strategie und technologische Innovation hin zu mehr Kreislaufwirtschaft, Energieeffizienz, Klimaneutralität und Nachhaltigkeit in Deutschland, Europa und auf der ganzen Welt ja in der Tat dringlich. Doch wer sich im totalitären Sprachgebrauch vergaloppiert, Bilder aus Allmachtsphantasien von Autokraten zitiert, sich über demokratische Prinzipien stellt und mit Arroganz und Witz auf die Fleißigen und Solidarischen in der Gesellschaft hinabblickt, die auf dem Weg zu Kindern oder Jobs an Blockaden verzweifeln, diskreditiert sich als Ratgeber wie Gesprächspartner. Die Straßenblockaden haben nicht nur Wut und Unverständnis ausgelöst, sie haben vor allem auch die Wohlstandsverwahrlosung und Akademisierung der Klimabewegung aufgedeckt. Tiefer lassen Habitus und Kultur nicht blicken. Die Romantisierung ihres angeblichen Freiheitskampfes auf dem Rücken einer fleißigen Gesellschaft verdient Empörung. Es genießt Privilegien, wer sich um die Abholung des eigenen Nachwuchses oder um die Arbeitnehmerpflichten in Fabriken nicht kümmern muss, weil Elternhaus oder Steuerzahler die Versorgung derartiger Berufsaktivisten übernehmen. Mit diesen Repräsentanten an der Spitze einer Bewegung, die einen sozialen Umbau unserer Volkswirtschaft und Industriekultur anstrebt, wird kein Blumentopf zu gewinnen sein. Nicht nur Urgrüne, sondern gerade auch Bürgerliche müssen beklagen, dass ihnen beiden die moderaten, aufstiegsorientierten Lobbyisten für eine ehrgeizigere Klima- und Umweltpolitik fehlen. Wer den radikalen Berufsaktivisten noch applaudiert, nimmt weder sie noch die Klimabewegung an sich ernst. Konservatismus for Future Dabei ginge es anders. Gerade der politische Konservatismus, nicht als Konglomerat von Inhalt gedacht, sondern als Denkform gemeint, verspricht einen politischen Ernst, der auch auf die Klimapolitik angewendet werden kann. Weder überschäumenden Enthusiasmus und die Naivität vor Neuem noch das abwehrende Reaktionäre zu verherrlichen, sondern sich in Zurückhaltung zu üben und zur Vorsicht zu mahnen, nicht universalistisch übergreifen zu wollen – das ist konservativ. Das Konservative macht sich da-

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mit zum Garant für den Schutz vor Gewalt, auch und gerade ideologischer. Darin wohnt der Liebreiz einer Denkschule, die ansonsten eher sittsam-repressiv oder ignorant-kalt daherkommt: Der Konservatismus als politische Idee der Demut folgt dem Sinn der Freiheit. Darin ist bereits alles enthalten, auch die intergenerationelle Verantwortung als Idee, Entscheidungsressourcen nachfolgender Generationen nicht aufzubrauchen. Das Konservative verschreibt sich damit ebenfalls dem Ernst der Klimaverantwortung. Neu ist daran eigentlich nichts. Erst die bekannte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 2021, das sogenannte „Klima-Urteil“, soll den konservativen Auftrag und die Idee der Freiheit um die Schau in die Zukunft erweitert haben. Wer die Pressekommentare liest, die nach der Bekanntgabe des Urteils erschienen sind, kann den Eindruck gewinnen, der Erste Senat des Gerichts habe das grundlegende Verständnis von Gegenwart, Zukunft, Freiheit und Recht umgestoßen. Reinhard Müller urteilte für die FAZ kritisch, das Gericht nehme die Welt in den Blick, „die am deutschen Grundrechtswesen genesen soll“. Im Deutschlandfunk erhob Stephan Detjen das Urteil zu einer „juristischen Sensation“. Die taz feierte „Karlsruhe for Future“. Und auch Ralf Fücks stellte für die „Welt“ fest, es sei „nicht übertrieben“, das Urteil „als historisch zu bezeichnen“. Über die Großzügigkeit der Kompetenzauslegung des Bundesverfassungsgerichts mag trefflich zu streiten sein; interessanter ist jedoch die Frage, ob das Urteil tatsächlich Neues enthält – sich also auch als Grundstein einer neuen politischen Denkschule eignet oder das konservative Denken erweitert oder gar umstößt. Doch nichts davon ist der Fall. In einem Namensbeitrag für die Konrad-Adenauer-Stiftung geht der Leiter der Wissenschaftlichen Dienste des Hauses und des Archivs für Christdemokratische Politik, Matthias Oppermann, dem Ursprung intergenerationeller Verantwortung, also auch der Klimaverantwortung nach. Oppermann, der 2018 über die Entstehung des britischen Liberalkonservatismus im frühen 19. Jahrhundert habilitierte, fühlt sich insbesondere in zwei Aspekten, die in der Urteilsbesprechung Hervorhebung finden, an schon etwas ältere politische Ideenlehren erinnert. Die Schaffung eines Generationenvertrages sowie die globale Dimension von Verantwortung liegen damit nicht erst dem jungen Urteil zugrunde, sondern sind bereits seit dem 18. Jahrhundert in der konservativen Idee verankert. Einer der Urheber die-

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ser Idee, wenn auch lange nicht mehr als „Vater des Konservatismus“ rezipiert, ist der irisch-britische Denker Edmund Burke. Burke als klassischer Whig des 18. Jahrhunderts ist Stichwortgeber eines Liberalkonservatismus, der sich durch liberale Grundlage und konservative Disposition auszeichnet. Nach Oppermann schätzten die britischen Liberalen Burkes kompromisslose Verteidigung der Rechte und Freiheiten der Engländer. Von einem göttlichen Naturrecht und von den abstrakten Naturrechten der französischen Revolutionäre habe dieser nichts gehalten. Er bekämpfte sie gar publizistisch seit 1790 bis zu seinem Tod im Jahr 1797. Rechte mussten aus Burkes Sicht an eine politische Gemeinschaft gebunden sein, um Wirkung zu entfalten. Die englischen Rechte und Freiheiten galten für Burke allerdings unter bestimmten Umständen auch über Großbritannien hinaus, wie Oppermann feststellt und damit auf eine Parallele zum sogenannten „Klima-Urteil“ hinweist. Im Korruptionsprozess gegen den ehemaligen ersten Generalgouverneur von Bengalen, Warren Hastings, sagte Burke 1788, in Indien könne nicht moralisch richtig sein, was in England falsch sei. Die Briten müssten sich auch in Indien an die in Großbritannien geltenden Standards halten. Damit verfolgte Burke eine rhetorische Absicht, und sicher ist diese Theorie der geographischen Kontinuität des britischen Rechts eine wacklige Kon­struk­tion. Eine ähnliche Unsicherheit aber liegt auch in der Feststellung des Bundesverfassungsgerichts, als natürliche Personen seien Jugendliche aus Nepal und Bangladesch „beschwerdebefugt, weil nicht von vornherein auszuschließen“ sei, „dass die Grundrechte des Grundgesetzes den deutschen Staat auch zu ihrem Schutz vor den Folgen des globalen Klimawandels verpflichten“. Es ist also nicht sicher, sondern nur möglich. Beschwerden aus Asien zuzulassen, ist somit nicht als Versuch zu werten, die Welt durch universalistischen Übergriff zu retten, sondern als Anerkennung der Möglichkeit, dass deutsches Recht dort gelten könnte, wo Deutschland durch sein Verhalten Einfluss und damit Macht ausübt. In dem Urteil steckt also ein ähnlich begrenzter Universalismus wie in Burkes Kampf gegen die Ausbeutung Bengalens. Auch die Einschätzung eines angeblich neuen Generationenvertrags und damit der Begriffsdehnung von Freiheit ins Überzeitliche durch das Bundesverfassungsgericht finden laut Oppermann ihren Ursprung im Denken Burkes. Der Kommentar zum „Klima-Urteil“ interpretiert, durch das

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Urteil gegenwärtige Generationen darauf verpflichten zu wollen, heute mehr Anstrengungen zum Klimaschutz zu unternehmen, um die Freiheitsrechte späterer Generationen nicht ungebührlich zu beschränken. In Burkes „Reflections on the Revolution in France“ von 1790 kritisierte dieser die französischen Revolutionäre für den Umsturz einer von der Klugheit vieler Generationen geschaffenen politischen Ordnung, die er zwar für reformbedürftig, aber entwicklungsfähig hielt. Burke gab sich damit als Reformer zu erkennen. Durch die Zerstörung des Ancien Régime richteten sich die Revolutionäre nicht nur gegen die Vergangenheit, sondern auch gegen die Zukunft. Sie nahmen Frankreich die Möglichkeit, die organisch entstandene politische Ordnung durch Reform zu verbessern. Oppermann erinnert, Burke vertrete damit die Idee eines fließenden Gesellschaftsvertrags, der weder Anfang noch Ende kenne. In einer berühmten Passage seiner „Reflections“ heißt es, die Gesellschaft sei eine „Gemeinschaft nicht nur zwischen den Lebenden, sondern zwischen den Lebenden, den Toten und denjenigen, die geboren werden“. Das galt für ihn in jeder Hinsicht, nicht nur für den Staat. Burke verteidigte stets das Privateigentum, aber ein Eigentümer war aus seiner Sicht nur ein Treuhänder, der gegenüber seinen Vorgängern und seinen Nachfolgern zu einem verantwortlichen Umgang mit diesem Eigentum verpflichtet war. Warum sollten die Natur und ihre Ressourcen davon ausgenommen sein? Die Menschen jeder Generation waren Burke zufolge nur „temporäre Eigentümer und lebenslange Pächter“ der Schätze dieser Welt. Sie hätten kein Recht, so mit ihrem Eigentum umzugehen, dass nachfolgenden Generationen nur noch Ruinen blieben. Obwohl unwahrscheinlich ist, dass die Richterinnen und Richter des Ersten Senats in Karlsruhe an Burke dachten, urteilten sie in dessen Geist, als sie feststellten, das Grundgesetz „verpflichtet unter bestimmten Voraussetzungen zur Sicherung grundrechtsgeschützter Freiheit über die Zeit und zur verhältnismäßigen Verteilung von Freiheitschancen über die Generationen“. Ihr Urteil mag „wuchtig, aber richtig“ sein, wie Markus Söder twitterte, aber nicht, weil es revolutionär oder radikal ist. Es ist im Sinne Burkes, und damit auf eine gemäßigte, liberale Weise konservativ, konstatiert Oppermann. Die Verpflichtung zu Nachhaltigkeit und der Antrieb zu ehrgeizigerer Klimaschutzpolitik sind also eben nicht als Fremdauftrag progressiver oder linker Denkschulen zu lesen.

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Es sind nicht die Bilder festgenommener Aktivisten wie Greta Thunberg oder Luisa Neubauer in Lützerath, die die Klimapolitik nach vorne bringen. Der Antrieb zu besserer Klimaschutzpolitik wohnt konservativer Denkform und einem tatsächlichen britischen Liberalkonservatismus unmittelbar inne. Die christliche Verantwortung zur Bewahrung der Schöpfung bleibt davon unberührt. Der Konservatismus allein kann mit zur Einsicht führen, dass jetzige Generationen ausschließlich als Treuhänder für zukünftige Generationen walten. Umweltschutz beginnt deshalb beim eigenen Besitz. Es ist bedeutend, dies geradewegs in konservativen und politischen Sphären zu thematisieren. Gerade weil die aktivistische Klimabewegung politischem Streit und Kompromiss den Rücken kehrt, werden demokratische Lobbyisten für die Sache des Klimaschutzes dringender denn je gebraucht. Die Verbindung von Ökologie mit linken Politikansätzen ist kein Schicksal. Die große Bedeutung, die ökologischen Themen heute beigemes­ sen wird, muss nicht zwangsläufig politisch Grünen zugutekommen. Konservative werden oft als nicht authentisch kritisiert, wenn sie sich ökologischer Themen annehmen. Dabei wäre es nicht schwer, einer solchen Profilierung Authentizität zu verleihen. Indem das Bundesverfassungs­ gericht, im Sinne Burkes, von der Notwendigkeit gesprochen hat, den Klima­schutz mit anderen Verfassungsgütern abzuwägen, weist es einen Weg dorthin. Literatur https://www.rnd.de/politik/luetzerath-kompromiss-laut-nrw-umweltminister-ein-richtiger-schritt-5FDX4NCWYUX43FUSZFDW WOS7AU.html https://www.focus.de/politik/meinung/strassen-blockaden-decken-wohlstandsverwahrlosung-der-klimabewegung-auf_ id_54936646.html https://taz.de/Diana-Kinnert-ueber-Klimapolitik/!5806691/ https://www.kas.de/de/web/die-politische-meinung/blog/detail/-/content/ein-burkeanisches-urteil

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Andreas Unterberger

Volkspartei: Pech, ­Vernichtungskrieg oder ­Selbstzerstörung Der Absturz der ÖVP ist historisch, grenzt an Vernichtung. Interessant ist eine Analyse der vielen Ursachen, die nur teilweise international sind. Viele Teilnehmer am strategisch angelegten Feldzug zur ÖVP-Vernichtung sind aber in Österreich selbst zu suchen. Und zu finden. Allerdings: Der Feldzug hätte nie gelingen können, hätte die ÖVP ihn nicht mit allzu vielen eigenen Fehlern überhaupt erst ermöglicht.

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Nach ihren strahlenden Höhepunkten in den zwei Epochen unter Wolfgang Schüssel und Sebastian Kurz steht die ÖVP am Ende des Jahres 2022 so schlecht da wie noch nie. Sie ist binnen zweidreiviertel Jahren bei Umfragen auf weit weniger als die Hälfte der früheren Werte abgestürzt. Wurden ihr im April 2020 noch mehr als 46 Prozent der Wähler zugeschrieben, also noch weit mehr als die 37 Prozent der Nationalratswahl 2019, so lag sie Ende 2022 unter 21 Prozent. Das ist dramatisch und fast ohne jeden Vergleich. Lediglich die Freiheitlichen hatten schon mehrmals eine annähernd ähnliche Hochschaubahnfahrt hinter sich. Im Zeitraum des oben skizzierten ÖVP-Absturzes stieg die FPÖ von 11 auf 28 Prozent, und vom vierten Platz auf einen sicheren ersten Umfrageplatz.1 Nicht nur bei der ÖVP fragt man sich naturgemäß nach den Ursachen dieses Absturzes der einst großen Partei. • Ist er selbst verschuldet? • Ist er Folge eines aggressiven Vernichtungsfeldzugs durch die Konkurrenz? • Oder ist die ÖVP ohne eigenes Mitverschulden Opfer externer Faktoren geworden? Um einen Teil der Antworten vorwegzunehmen: In allen drei Ursachenbündeln gibt es Kausalitäten. Auch wenn deren jeweiliger Anteil nicht auf den Prozentpunkt genau bewertet werden kann, auch wenn sich die Antworten auf die beiden ersten Fragen vermischen. Es ist nicht nur spannend, sondern auch dringend notwendig, die Gründe dieses Absturzes genauer zu analysieren – zumindest dann, wenn man das Überleben einer liberalkonservativen und christlich orientierten Partei im Interesse Österreichs für wichtig hält. Und wenn man sich nicht mit der Generalaussage begnügt, dass die Wähler halt viel mobiler geworden sind als einst, und dass die Wähler rechts der Mitte das noch viel mehr sind. Die Fieberkurven der ÖVP werden eindeutig durch die Persönlichkeit des Sebastian Kurz erklärt. Denn viele Jahre vor seinem Amtsantritt stand die ÖVP fast so schlecht da wie jetzt: Sie lag bei Umfragen lange unter 25 Pro-

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Vergleiche dazu den APA-Wahltrend unter https://apa.at/produkt/apa-wahltrend/

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zent und war oft nur dritte in der Ergebnishierarchie der Parteien. Im letzten halben Jahrhundert hat sie überhaupt nur unter zwei Parteiobmännern die 40-Prozent-Grenze übersteigen können: unter Alois Mock und Wolfgang Schüssel, also unter jenen Chefs, die am deutlichsten und klarsten für das gestanden sind, was auch die inhaltliche Botschaft des Sebastian Kurz gewesen ist. Das war ein mutiger und klar konservativer Kurs, auf dem alle drei weit über die von der ÖVP immer verfolgten Interessen von Wirtschaftstreibenden, Bauern und Besserverdienern hinaus gefahren sind – so unterschiedlich sie als Personen und Politiker auch gewesen sind. Diesen mit wenigen Ausnahmen einheitlichen Kurs kann man mit ein paar Stichworten umreißen; die ÖVP war: • für die klassische Familie, • kontra Gleichstellung von schwulen Beziehungen, • pro Leistungsprinzip, • für „weniger Staat, mehr privat“, • prowestlich, • klar antikommunistisch und antinazistisch, • für niedrige Steuern, • für eine herausgehobene Stellung des Christentums, • für „law and order“, • für ein klares Bekenntnis zu Österreich, • gegen illegale Einwanderung, • für eine Eigenständigkeit der Republik gegenüber Deutschland, • für eine möglichst enge europäische Integration • und für die kulturelle, intellektuelle, habsburgische Tradition Österreichs. Sobald die ÖVP unter anderen Obmännern von dieser Linie abgewichen ist2, ist es ihr immer schlecht gegangen, vor allem wenn gleichzeitig viele

2 Eine persönliche Anekdote dazu: Als ich in der Ära Busek in der Zeitung das Adjektiv „konservativ“ für die ÖVP verwendete, erhielt ich einen erbosten Anruf aus dem Kabinett Buseks (ganz offensichtlich auf Auftrag): „Wir sind keine konservative Partei!“ Keine konkrete Antwort bekam ich dann auf meine Gegenfrage: „Gern zur Kenntnis genommen – aber was soll man jenen Lesern antworten, die sich als konservativ fühlen und die wissen wollen, welche Partei sie wählen sollen?“

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dieser Werte von der FPÖ besetzt worden sind oder wenn die SPÖ unter Bruno Kreisky auch eine Ausstrahlung auf konservative Wähler hatte. Aber dennoch gibt es in den letzten drei Jahren auch klare externe Ursachen der ÖVP-Krise, die weit über die eigenen Fehler beziehungsweise den dadurch ermöglichten Vernichtungsfeldzug der Konkurrenz hinausgehen. Die internationalen Ursachen Dabei ist an erster Stelle die Coronapandemie zu nennen. Diese war Treibsatz des steilen Aufstiegs der Kanzlerpartei im Frühjahr 2020, wie auch ihres noch viel weiter nach unten führenden Absinkens seither. In den Anfangsmonaten der Pandemie wollte fast ganz Österreich unter den Schutz und Schirm von Sebastian Kurz flüchten. Er war damals der überzeugende Führer des Landes, der in vollem Konsens mit seinem Koalitionspartner energische Maßnahmen im Kampf gegen die Pandemie setzte, der allen versprach, dass alle wirtschaftlichen Schäden durch die Pandemie und ihre Bekämpfung ausgeglichen würden. Koste es, was es wolle. Das besorgte Kopfschütteln von Finanz- und Wirtschaftsexperten über dieses Versprechen wurde kaum beachtet. Kurz mutierte vielmehr damals in der Projektion der Wähler vom erfolgreichen Jungpolitiker zum Landesvater, der sich allen Bedrohungen entgegenstellt. Die Oppositionsparteien waren anfangs in Schockstarre. Das ließ sie intensiv über Alternativen nachdenken, die dann am Ende des Folgejahres in den „ÖVP-Korruptions-Untersuchungsausschuss“ mündeten. Der weitere Verlauf der Pandemie samt ihrer Bekämpfung verlief für Kurz und die ÖVP nach dem politischen Anfangstriumph aber zunehmend deprimierend. Dabei waren vor allem folgende Aspekte wirksam: • Die Menschen wurden der Pandemie und damit automatisch auch der Maßnahmen gegen sie immer mehr überdrüssig, weshalb sich auch bei kleinsten Fehlern der Missmut steigerte. • Bei einer Minderheit der Österreicher, die vor allem die Freiheitlichen und die neugegründete, überwiegend im rechten Milieu entstandene Partei MFG (Menschen Freiheit Grundrechte) unterstützte, setzte sich der Glaube durch, dass COVID ohnedies nur eine harmlose Grippe wäre, weshalb der Aufwand (von Lockdowns bis zur Maskenpflicht) völlig übertrieben, schikanös und totalitär sei.

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Eine weitere, eng verbundene Minderheit, die ebenfalls im bürgerlichen Lager gewütet hat, kam aus dem esoterisch-homöopathischen Eck. Sie bekämpfte wütend die Impfungen und sah gesunde Ernährung als ausreichend an. Zu oft wurden die Pandemie-Verordnungen geändert, als dass sie noch auf viel Akzeptanz stoßen hätten können. Sie waren zwar alle gut gemeint, wurden aber immer öfter als neue Sekkatur empfunden. In der Schnelligkeit der diversen Verordnungen passierten zu viele Detailfehler, für die zwar primär das grüne Gesundheitsministerium zuständig war, die aber trotzdem vor allem bei ÖVP-Wählern Reaktio­ nen auslösten. Maßnahmen wie die bei etlichen ängstlichen Wählern unpopuläre Impfpflicht wurden dann doch wieder zurückgezogen, was spätestens bei den Kurz-Nachfolgern Schallenberg und Nehammer das anfängliche Image einer starken Regierung endgültig zerstörte.

Es ist angesichts der Wählerreaktion wenig Trost für die ÖVP, dass sie in der ganzen Coronakrise bis auf das wirtschaftlich verhängnisvolle „Koste es, was es wolle“ keine groben Fehler begangen hat. Wenig Trost ist es auch, dass es weltweit fast allen Regierungen ähnlich gegangen ist. Fast überall – so auch bei den beiden größten Nachbarn Österreichs – haben Wahlen in der Coronakrise zu einem Machtwechsel geführt. Der Frust der Wähler über diverse Lockdowns und sonstige Verbote, aber auch über die eigene Hilflosigkeit einer unheimlichen Seuche gegenüber, lud sich einfach auf die Regierungen ab. Die Pandemie hat man ja nicht abwählen können. Freilich konnten auch die neu Gewählten nicht lange davon profitieren: Der deutschen Ampelkoalition geht es schon wieder so schlecht wie Schwarz-Grün in Österreich. An zweiter Stelle steht die Inflation, ein ebenfalls von außen kommender Faktor, ein Wind, der den Regierenden vieler Länder massiv ins Gesicht geblasen hat.3 Die Inflation hat sich im Jahr 2022 mit über zehn

3 Vergleiche dazu https://de.statista.com/statistik/daten/studie/288914/umfrage/infla tionsrate-in-oesterreich-nach-monaten/

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Prozent mehr als verdoppelt. Sie hat selbst wieder drei Hauptursachen. Zwei davon liegen nicht im Verantwortungsbereich der Republik Österreich beziehungsweise der Volkspartei. Erstens war die jahrelang von den Mittelmeerländern und den sozialistischen EU-Regierungen durchgesetzte Politik des billigen Geldes der Europäischen Zentralbank inflationsauslösend. Zweck dieser Geldpolitik war eindeutig Hilfe für die Staaten, damit sie billig Schulden machen und ihre Wohlfahrtssysteme finanzieren, also Wähler bestechen können. Das Gratisgeld von der EZB ist erst Mitte 2022, also viel zu spät und genau dann abgeschafft worden, als in Italien eine Rechtsregierung an die Macht gekommen ist (auf die man offenbar viel weniger Rücksicht nehmen wollte). Zweitens: Das nächste große Ursachenbündel der steigenden Inflation war der Ukraine-Krieg, der größte Krieg in Europa seit 1945. Denn: • Kriege treiben immer die Preise, besonders die Energiepreise, weil sich der globale Energiebedarf erhöht und etliche Nachschubwege unterbrochen sind; • Russland hat gezielt den Export von Gas reduziert und dieses dadurch verteuert; • Russland hat in der Ukraine gezielt Energieerzeugungsanlagen bombardiert; • die Ukraine mit ihren vielen Atomkraftwerken konnte des Krieges wegen kaum noch Strom exportieren. Dazu kamen weitere externe Faktoren wie die seit der grünen Regierungsbeteiligung forcierte deutsche Schließungspolitik bei Kohle und Atomkraftwerken, wie das zeitweise Niedrigwasser auf großen europäischen Flüssen, wie die zahlreichen reparaturbedingten Schließungen französischer Atomkraftwerke. Drittens: Diese Ursache der Inflation war sehr wohl hausgemacht. Das waren die überschießenden Corona-Hilfen der letzten Jahre. Die „Koste es, was es wolle“-Geldausschüttungen milderten zwar kurzfristig die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie, sie hatten aber böse Folgen und hinterließen einen gewaltigen Rucksack an zusätzlichen Schulden, die kostspielige Rettung von „Zombies“ (sowieso nicht mehr lebensfähigen Unternehmen), und viel zu viel frei herumschwebendes Geld. All das muss ohne gleichzei-

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tige Erhöhung der Wertschöpfung zwangsläufig immer inflationäre Wirkung haben. Naturgemäß werden von den Wählern Probleme wie Inflation und Energiemangel der Regierung und dort primär der Kanzlerpartei angelastet. Sie erwarten einfach von der Regierung, dass sie ihr Leben ungestört weiterführen können. Sie kümmern sich wenig um EZB-Fehler und den russischen Gaskrieg. Und jene, die sich kümmern, können vielfach darauf verweisen, dass sie ja einst gegen den Beitritt zur gemeinsamen Währung gewesen seien, und darauf, dass sie ja auch die Sanktionen gegen Russland ablehnen (wobei ignoriert wird, dass es gegen russische Gasexporte eigentlich gar keine Sanktionen gibt). An dritter Stelle des wachsenden Wählerunmuts steht die zu Jahresende 2022 anhebende Rezession. Diese hängt zwar eng mit dem zuvor Erwähnten zusammen (Corona, Corona-Bekämpfung, Energiemangel, Inflation), sollte aber doch extra erwähnt werden. Denn der Verlauf der Konjunktur ist seit langem als die klassische Ursache von Wahlerfolgen und Niederlagen nachgewiesen. Geht es den Menschen gut, bestätigen sie gern die Regierung, geht es ihnen schlecht, wählen sie diese ab. Die Rezession ab Jahresende 2022 war aber bei allen nationalen Fehlern eindeutig eine sehr internationale, wie etwa die zu diesem Zeitpunkt bekannt gewordenen Massenentlassungen großer amerikanischer Konzerne zeigen. Dieser Zusammenhang steht nur scheinbar im Gegensatz zum lange dominierenden Mangel an qualifizierten Arbeitskräften. Die Rezession dürfte aber auch einen Normalisierungseffekt haben: Arbeitskräfte können wieder weniger versuchen, die Bedingungen zu diktieren (wie etwa: viel Homeoffice und eine angenehme Work-Life-Balance, also guter Gehalt bei wenig Arbeitsstress), sondern nehmen auch unangenehme Jobs an. Der Feldzug gegen die ÖVP Das letztlich gleiche, wenn auch nie offen zugegebene Ziel aller Parteien ist, möglichst alle Wählerstimmen zu erlangen, also die Konkurrenz zu vernichten. Das ist ihr ganz legales Selbstverständnis. Das erklärt jedoch noch nicht, warum gerade die ÖVP eindeutig weitaus häufiger Ziel der Angriffe politischer Gegner ist, als diese selbst angegriffen werden.

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Das bedarf einer aufschlüsselnden Analyse, weil die Angriffe auf vielen Ebenen erfolgen, weil meist erst schwere Fehler der Volkspartei diese Angriffe erst ermöglicht haben. • Die folgenschwersten Vernichtungsattacken auf die ÖVP hat die Korruptionsstaatsanwaltschaft geritten. Sie hat gezielt den weitaus erfolgreichsten ÖVP-Mann der letzten Jahre, also Sebastian Kurz, kaputtgeschossen. Motiv mag dabei gewesen sein, dass Kurz es einmal gewagt hat, die WKStA zu kritisieren, oder aber der Umstand, dass linke Staatsanwälte wissen, dass eine Partei wie die Volkspartei stärker als andere von der Qualität des Mannes an der Spitze abhängig ist. Tatsache ist jedoch, dass die zwei Vorwürfe gegen Kurz, die ständig an die Öffentlichkeit gespielt worden sind, extrem dünn sind und nach Ansicht vieler Rechtsexperten nie zu einer rechtskräftigen Verurteilung des früheren ÖVP-Obmannes führen können. Das gilt für den Vorwurf der Falschaussage im parlamentarischen Untersuchungsausschuss, wo Kurz zwar durch die reflexartige Antwort „Nein“ formal die Unwahrheit gesagt hat (was Politiker oft automatisch sagen, damit ihnen keine Zustimmung zu all den in der Frage enthaltenen Aspekten unterschoben werden kann), wozu er aber im nächsten Satz sofort die Korrektur nachgeschoben hat und wozu er dann nachträglich eine – im Parlament sonst immer mögliche! – Protokollkorrektur anbringen wollte, die ihm aber beim Ausschuss von der Opposition verweigert worden ist. Das gilt ebenso für den Vorwurf, Kurz hätte den Finanzministeriums-Beamten Thomas Schmid dazu angestiftet, Umfragen, die im Inter­ esse des damaligen Aufstiegs von Kurz gelegen seien, in Auftrag zu geben und falsch abzurechnen. Auch das klingt absurd. Haben doch zahllose andere breit publizierte Umfragen damals haargenau dasselbe gezeigt wie die Schmid-Umfragen, nämlich dass die ÖVP mit dem damaligen Außenminister Kurz als Chef dramatisch besser abschneiden würde als mit Reinhold Mitterlehner. Wozu sollte dann für Kurz eine so komplizierte Operation notwendig sein, dasselbe noch einmal via FinanzministeriumsUmfragen zu erfragen? Den einzigen „Beweis“ sehen die Kurz-Jäger in einer späteren Aussage von Schmid. Diese ist aber extrem unglaubwürdig. Denn sie wurde erst

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gemacht, als Schmid, der durch zahllose Beweise selbst schwer belastet ist, die Flucht nach vorne angetreten hat, in der Hoffnung, den strafbefreienden Kronzeugen-Status zu erlangen. Daraufhin hat er bereitwillig fast wörtlich alles wiederholt, was sich vorher die Staatsanwälte in ihren Vermutungstheorien alles zusammengereimt haben. Das ist eindeutig als Gefälligkeitsaussage zu werten, um sich selbst zu retten. Bei jeder anderen Aussagelinie hätten die Staatsanwälte Schmid nämlich den Kronzeugenstatus verweigert. Das Blöde für WKStA und Schmid ist aber nicht nur, dass diese Aussage aufgrund dieser Zusammenhänge wenig wiegt, sondern auch, dass es keinerlei Sachbeweise gibt, die sie bestätigen. Dabei gibt es von dem ex­trem geschwätzigen Schmid Hunderttausende Chats über alles Mögliche, bis hin zu seiner sexuellen Veranlagung. Es gibt darin jedoch kein einziges Mail oder SMS, das eine Anstiftung durch Kurz beweisen würde. • Wenn man nach den Tätern des ÖVP-Vernichtungsfeldzugs sucht, ist daher Schmid an allererster Stelle zu nennen. Er war das, was man umgangssprachlich als „karrieregeilen“ Typ bezeichnet, der sich einst ganz an den aufgehenden Stern der ÖVP anzubiedern versucht hat. Genauso übel hat er sich dann auch an ihm gerächt, als er merkte, dass ihm Kurz nicht hilft oder helfen kann. Man muss Kurz vorwerfen, dass er Schmids Charakter nicht durchschaut und ihn nicht aus seinem Freundeskreis entfernt hat. Aber das ist eine Kritik an seiner Fähigkeit, Personen zu durchschauen. Das ist jedoch strafrechtlich irrelevant. Daher ist es auch nicht wahrscheinlich, dass die WKStA – wie es eigentlich ihre Pflicht wäre – Kurz demnächst vor einen Richter stellen wird. Sie will sich keine neuerliche Blamage einhandeln, weil die gegen Kurz gesammelten Beweise viel zu dünn sind (wie es ihr schon in so vielen Prozessen gegen andere passiert ist). Andererseits will sie das erst recht nicht durch eine Einstellung des Verfahrens zugeben. Sie wird daher Kurz noch lange als Beschuldigten behandeln. Das Ziel seiner Vernichtung als Politiker und eines schweren Schadens für die ÖVP haben sie ja ohnedies schon durch das Vorverfahren erreicht, und zwar durch ein strafrechtlich eigentlich völlig irrelevantes Detail: Sie haben aus der unübersehbaren Menge von Chats, die sie sich

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geschnappt haben, auch eines in den Strafakt genommen, in dem Kurz in einer vermeintlich privaten Unterhaltung ein Schimpfwort für Mitterlehner verwendet hat. Von einem solchen Strafakt ist es oft nur ein kurzer Weg in die Öffentlichkeit – mit (was als wahrscheinlich gilt) oder ohne Zutun der Staatsanwälte. Dieses Schimpfwort aber war für manche in der ÖVP – vor allem in einigen Bundesländern – zu viel. Sie haben deswegen Kurz nahegelegt zurückzutreten. Was er auch getan hat. Was aber die ÖVP nicht gerettet hat – wie die Rücktritts-Forderer wohl gehofft haben –, sondern noch viel tiefer in den Abgrund gestürzt hat. Denn aus dem Rücktritt wurde von vielen Wählern ohne tieferen Durchblick geschlossen, dass die Vorwürfe gegen Kurz offenbar doch stimmen. • Damit kann man also etliche, freilich nicht genau identifizierbare ÖVPBundesländer-Chefs als wichtigen Teil der Armee der ÖVP-Vernichter einordnen. • Ganz entscheidend war bei der Vernichtung von Kurz und ÖVP zweifellos auch die Rolle der Justizministerin. Alma Zadić hat die WKStA immer voll gedeckt, trotz deren eindeutig politischer Agenda, trotz der zahllosen sich ergebnislos über viele Jahre hinziehenden Strafverfolgungen, was nur durch Bösartigkeit oder Unfähigkeit erklärbar ist (was auch eindeutig menschenrechtswidrig ist). Sie zur Justizministerin zu machen, war – über das problematische Eingehen einer Koalition mit den Grünen hinaus – einer der schwersten und sich alsbald rächenden politischen Fehler von Kurz. Sie war eine der engsten Weggefährtinnen des deklarierten Kurz-Hassers Peter Pilz gewesen und hatte Kurz vor Regierungseintritt auch selbst persönlich attackiert. Wie parteiisch Zadić agierte, war auch daran zu sehen, dass sie sowohl den zuständigen Oberstaatsanwalt wie auch den zuständigen Justiz-Sek­ tionschef einfach suspendiert hat. Denn die beiden waren die einzigen, die den Umtrieben der WKStA noch entgegengetreten sind. • Eine stark auffallende Einheit bei diesem Feldzug sind die Medien. Die ÖVP wie auch die FPÖ stehen einer heute bis auf wenige Ausnahmen praktisch geschlossenen Linksfront gegenüber. Das ist in keinem anderen Land so der Fall.

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Das ist zwar angesichts des aus dem Linkskurs der Redaktionen folgenden Auflagenrückgangs primär ein Problem der Verleger, hängt aber auch mit schweren Fehlern der ÖVP selbst zusammen: • Sie hat es (wieder auf Veranlassung ihrer Landeshauptleute, die für sich im ORF noch Vorteile erkennen) verabsäumt, auf die Vorschläge der FPÖ einzusteigen und die ORF-Zwangsgebühren abzuschaffen, sodass der heute total auf ÖVP-Hass eingeschworene ORF sich wie alle anderen Medien finanzieren hätte müssen, also durch Abos und Werbung. • Sie hat nicht begriffen, dass sich die SPÖ mittels der großen Finanzstärke des Wiener-Rathaus-Imperiums die Abhängigkeit vieler Medien erkauft hat. Kurz wollte selbst eine ähnliche Strategie fahren – was völlig missglückt ist –, statt das einzig Richtige zu tun: mit einem Strafrechtsparagraphen klarzustellen, dass alle Verwalter öffentlicher Gelder diese bei Inseraten und Kooperationen nur streng objektiv ausgeben dürfen, also nur durch einen Vergabeschlüssel, der sich aus der MediaAnalyse ergibt und erst nach Vorprüfung der Inhalte durch ein richterähnliches Gremium. • Eine weitere, gleichsam logische Einheit der Anti-ÖVP-Vernichtungsarmee sind die anderen Parteien. Sie waren besonders aggressiv, weil sie erkannt haben, dass bei der ÖVP weitaus am leichtesten Stimmen zu fischen sind, wie schon an der großen Volatilität des ÖVP-Stimmenanteils ablesbar ist. Sie wissen: Die Volkspartei hat nur noch wenige Stammwähler, die mit der Partei durch Dick und Dünn gehen. Das hängt nicht zuletzt mit dem Schrumpfen des Kleingewerbes und des Bauernanteils zusammen, mit dem fast noch stärkeren Abnehmen der Zahl der regelmäßigen Kirchgänger und mit dem großen Ärger vieler Ein-Personen-Unternehmen über die als Filiale der ÖVP angesehene Wirtschaftskammer. Eine Partei der Mitte hat ganz automatisch auch am meisten Feinde. Denn sie wird von rechts und links angegriffen, während etwa die Grünen nie sonderlich viele Wähler bei der FPÖ holen könnten. Die ÖVP hat auch inhaltlich Schnittmengen in viele verschiedene Richtungen; so etwa mit der FPÖ und Teilen der SPÖ bei der Migrationspolitik, so etwa mit Rot und Grün bei der Corona-Bekämpfung, so etwa

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mit den NEOS und Teilen der FPÖ bei der Wirtschaftspolitik. Je mehr solche Schnittmengen es gibt, umso aggressiver will und muss man zeigen, dass man keineswegs dasselbe, sondern etwas anderes, etwas Besseres ist als die ÖVP. • Die anderen Parteien haben daher die Waffe gegen die ÖVP geschmiedet: Sie haben – was ja Minderheitenrecht ist, was aber de facto auch vom grünen Koalitions-„Partner“ voll unterstützt worden ist – aus der eigentlich sich um den ehemaligen FPÖ-Chef drehenden Ibiza-Affäre einen zur Gänze gegen die ÖVP gerichteten parlamentarischen Untersuchungsausschuss gemacht, wobei schon dessen Titel „ÖVP-Korruptions-Untersuchungsausschuss“ eine alle rechtsstaatlichen Prinzipien verletzende Vorverurteilung darstellt. Zwar hat der Ausschuss in Wahrheit nichts an den Tag gebracht, außer dass die von der WKStA wohl genau zu diesem Zweck angelegten Akten an die Öffentlichkeit gespielt werden konnten. Aber der Titel des Ausschusses wurde allein vom ORF Hunderte Male gezielt in die Öffentlichkeit getragen, sodass in weiten Kreisen der Bevölkerung automatisch der Eindruck entstand, ÖVP und Korruption wären synonym. Gleichzeitig konnten Rot und Pink vor jeder Sitzung wilde, vom ORF verbreitete Anschuldigungen gegen die ÖVP ausstoßen, wobei es ihnen völlig egal war, dass die Zeugenaussagen dann keine Rechtfertigung gebracht haben. Aber letztlich war es ja einst die ÖVP, die in Tateinheit mit den anderen Parteien den rechtlichen Rahmen für die Verwandlung des „Instruments Untersuchungsausschuss“ in ein Hass-Tribunal ermöglicht hat. • In diesem Zusammenhang ist schließlich auch – last not least – auf den letzten ÖVP-Jäger zu verweisen: auf den Verfassungsgerichtshof. Dieser hat alle Versuche der ÖVP, die Unfairness der Ausschuss-Konstruktion zu verhindern, abgewiesen. Der Gipfelpunkt war, dass die Abgeordneten dank des VfGH Zugriff auf alles erhielten, was „abstrakt relevant“ für ihre Behauptungen ist. Das bedeutete letztlich: auf alles. Da gab es keinen Datenschutz mehr, kein Post- oder Telefon-Geheimnis. Aber auch da wieder ist eindeutig: Einige auf ÖVP-Vorschlag entsandte Richter haben sich im VfGH massiv gegen die ÖVP gewandt. Einige Mit-

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terlehner- und Pröll-Ernennungen haben sich an der Kurz-ÖVP gerächt. Die ÖVP hat sich aber auch von einigen Landeshauptleuten ungeeignete Kandidaten aufschwatzen lassen. Mit anderen Worten: Die ÖVP hat zu viel der Feinde, was ihr keine Ehre eingebracht, sondern sie vielmehr der Vernichtung nahegebracht hat. Sie ist dabei aber keineswegs nur das schuldlose Opfer böser Kräfte, sondern Opfer des Versagens ihrer eigenen Politik – in Sachen Justiz, in Sachen Medien, in Sachen Personal, in Sachen Koalition.

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Walter Hämmerle

Lehrjahr eines Lernenden Ende 2021 übernimmt Karl Nehammer als dritter Kanzler binnen weniger Wochen die Führung einer wankenden Regierung. Zwölf Monate später liegt die FPÖ in den Umfragen an der Spitze, rangiert die ÖVP nur mehr auf Platz drei. Dazwischen erschüttert ein Krieg Europa, gehen Energiepreise und Teuerung durch die Decke und sorgen die Ermittlungen gegen Ex-Kanzler Kurz und zahlreiche seiner ehemaligen Vertrauten für ständige Schlagzeilen. Der Neue im Kanzleramt konnte die ÖVP nicht aus ihrer Krise führen, aber die Zusammenarbeit mit den Grünen inmitten vielfacher Krisen stabilisieren.

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Was ist dran an den Gerüchten um eine Ablöse von Kanzler Karl Nehammer, fragt die seriöse „Kleine Zeitung“ Anfang August 2022. Kurz zuvor lässt die weniger gut beleumdete Postille „Österreich“ ihre Leser Ende April rätseln, ob Sebastian Kurz im Herbst zurückkomme – und ob Nehammer in Wirklichkeit nicht heilfroh sei, den „Horror-Job Kanzler“ endlich wieder abzugeben. So wie Alexander Schallenberg Ende 2021 nach nicht einmal zwei Monaten im Amt des Regierungschefs wieder ins Außenministerium zurückkehrt, nachdem die Granden der ÖVP Nehammer in den Chefsessel gehievt. Dessen Aufstieg fällt zusammen mit dem Ende des türkisen Projekts zusammen. Neben Kurz, der im Oktober noch hofft, als Partei- und Klubchef die Regierungsgeschicke aus der zweiten Reihe steuern zu können, verlässt Ende 2021 mit Finanzminister Gernot Blümel, Landwirtschaftsministerin Elisabeth Köstinger, Parteimanager Axel Melchior und Kurz’ Kabinettschef Bernhard Bonelli der innerste Kreis des ehemaligen Führungszirkels die Bühne. Kurz, Schallenberg, Nehammer: Drei Kanzler binnen weniger Wochen. Ende 2021 ist die ÖVP am Rande der Regierungsfähigkeit. Mit Kurz bricht das Machtzentrum weg, ein neues muss sich erst formieren. Nicht zum ersten Mal in der jüngeren Vergangenheit verfällt die Politik der Alpenrepublik in eine daueraufgeregte, fiebrige Nervosität. Die einst eintönige Vorhersehbarkeit ist einer strukturellen Unberechenbarkeit gewichen, wo, wie im Lotto, immer alles möglich scheint. Der Höhenflug der ÖVP, der 2017 begonnen hat, ist zu Ende, zu Beginn 2022 ist in den Umfragen die SPÖ unter Pamela Rendi-Wagner stärkste Kraft. Zwölf Monate später lacht die FPÖ vom ersten Platz, und Herbert Kickl ist ihr Obmann – ausgerechnet die FPÖ, deren ehemaliger Parteichef Heinz-Christian Strache mit seiner Ibiza-Affäre die Turbulenzen und Ermittlungen der vergangenen Jahre erst ins Rollen gebracht hat. Die Kanzlerpartei liegt nur mehr auf Platz drei, die Regierung aus ÖVP und Grünen verharrt hartnäckig in einem Vertrauenstief, dem die Demoskopen das Adjektiv „historisch“ anheften. Allerdings: Noch vermitteln die Momentaufnahmen der Umfragen nicht wirklich den Eindruck, als ob mit Blick auf die nächsten Wahlen, die spätestens im Herbst 2024 anstehen, schon alles entschieden wäre. Dafür trägt fast jede Partei zu viele Ungewissheiten und ungelöste Probleme im eigenen Rucksack mit sich.

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Der Krieg und seine Folgen Hinzu kommt: Nur mit der Innenpolitik im Fokus lässt sich das Jahr 2022 nicht fassen, jedenfalls nicht sinnvoll. In Europa tobt, kaum 1.300 Kilometer von Wien entfernt, ein blutiger Krieg. Am 24. Februar befiehlt Russlands Präsident Putin seiner Armee die Invasion der Ukraine. Zwar stiegen Energiepreise und Inflation schon in den Monaten davor, doch mit Beginn der russischen Invasion ist kein Halten mehr. Millionen ukrainischer Familien, vorwiegend Frauen und Kinder, flüchten in die EU, die meisten nach Polen, mehr als 70.000 finden in Österreich Schutz. Die EU, USA, Großbritannien und weitere westliche Staaten beschließen eine Serie von Sanktionen gegen Putins Regime und Hilfen für die Ukraine. Österreich ist von den Folgen des Kriegs besonders betroffen. Rund 80 Prozent des importierten Erdgases liefert Russland, und das seit Jahrzehnten. Hinzu kommen vielfältige wirtschaftliche Verflechtungen. Das ist der Rahmen, der der europäischen wie österreichischen Politik 2022 seinen Stempel aufdrückt. Dabei klingt die Pandemie im Laufe des Jahres zwar ab, doch lauert stets die Gefahr einer neuen, gefährlicheren Mutation des Coronavirus.Vor diesem Hintergrund reist Nehammer am 11.  April für ein Treffen mit Putin nach Russland. Österreichs Kanzler ist der erste – und bis dato einzige – EU-Regierungschef, der nach Kriegsbeginn nach Russland fährt. Die Reise wird als abgestimmte diplomatische Offensive dargestellt. Unmittelbar vor Putin trifft Nehammer den ukrainischen Präsidenten Selenskyi in Kiew, anschließend fährt er direkt weiter zum türkischen Staatschef Erdoğan. Auch der deutsche Kanzler und die Präsidentin der EU-Kommission werden im Vorhinein kontaktiert. Das Treffen sei eine „Risiko-Mission“, wie Nehammer später selbst einbekennt, aber er wolle jede Gelegenheit ergreifen, einen Beitrag zu einer Beendigung des Kriegs zu leisten. Das klingt ehrenwert und ist doch auch reichlich naiv. Nehammer selbst verfügt über keine nennenswerte außenpolitische Erfahrung. Die Reise zu Putin sorgt deshalb zwar für große Schlagzeilen – die meisten davon distanziert bis kritisch –, doch konkrete Ergebnisse kann sie nicht vorweisen. Auch innenpolitisch verpufft die Reise, zumal sich die angebliche Zusage des russischen Präsidenten, wonach die Gaslieferungen nach Österreich für den kommenden Winter gesichert seien,

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ebenso als Illusion erweist. Putin nutzt die Energieexporte seines Landes als Waffe im immer umfassenderen Wirtschaftskrieg mit dem Westen. Deutlich defensiver agiert Nehammer, was die sicherheitspolitischen Konsequenzen aus dem russischen Angriffskrieg angeht. Schweden und Finnland, beides Staaten, die wie Österreich nach 1945 auf die Neutralität in militärischen Konflikten setzten, brechen aufgrund der Invasion mit dieser Tradition und beantragen den Beitritt zur NATO. Österreich will davon nicht nur nichts wissen, sondern nicht einmal diskutieren. Anfang März plädiert der ehemalige Nationalratspräsident und ÖVP-Politiker Andreas Khol angesichts der grundsätzlich veränderten Sicherheitslage ebenfalls für einen NATO-Beitritt oder zumindest die Mitarbeit Österreichs in einer Europäischen Armee. Nehammers „Njet“ fällt kurz und kategorisch aus: „Österreich war neutral, Österreich ist neutral, Österreich wird auch neutral bleiben.“ Dieses „Aus und Basta“ ist, wenn man sich allein die innenpolitische Konstellation vor Augen führt, zumindest verständlich. In Österreich gilt die Neutralität seit ihrem Beschluss 1955 als Garant, ja, Synonym für Sicherheit und Wohlstand. Die rituelle Beschwörung der Neutralität ersetzt seitdem jede ernsthafte Auseinandersetzung mit Fragen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Diese Entwicklung gipfelt 2019 im Lagebericht Thomas Starlingers, der damals als Verteidigungsminister im Beamtenkabinett von Brigitte Bierlein fungiert. Dieser Bericht spricht dem Bundesheer die Einsatzbereitschaft im Ernstfall ab und beziffert das unmittelbare Budgetloch bis 2030 mit 16,2 Milliarden Euro. Trotzdem beschwören sämtliche Parteien mit Ausnahme der NEOS auch nach dem russischen Überfall die Neutralität als bestmöglichen Garanten für die Sicherheit Österreichs – und die überwältigende Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger will es genauso. Innenpolitisch riskiert deshalb jede Partei und jeder Politiker, der öffentlich an der Neutralität rüttelt, politischen Selbstmord. Nehammers Diskursverweigerung mag für einen Kanzler und eine Kanzlerpartei in der Vertrauenskrise verständlich sein; sie bleibt ein Armutszeugnis für die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Elite dieses Landes, wichtige Fragen mit der gebotenen Ernsthaftigkeit und Seriosität zu diskutieren. Erheblich mehr Energie investiert die Regierung in das unmittelbare Krisenmanagement. Dazu zählen Maßnahmen gegen die allgemeine Teuerung und insbesondere die massiv gestiegenen Energiekosten für Haushalte

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wie für Unternehmen, der beschleunigte Ausbau erneuerbarer Energieträger, aber auch die Diversifizierung der Gaslieferungen, um die Abhängigkeit von Russland zu reduzieren. ÖVP und Grüne lassen sich dabei nicht lumpen und pumpen Steuergeld in großer Menge in den Wirtschaftskreislauf. Die Kosten der bisher beschlossenen Entlastungspakete belaufen sich bis 2026 auf rund 35 Milliarden Euro. Österreich rangiert damit, wie die Regierung selbst hervorhebt, im Spitzenfeld Europas, geschlagen nur vom kleinen, aber reichen Luxemburg und deutlich vor dem eigentlichen Vergleichsmaßstab Deutschland. An der massiven Kritik an der Koalition ändert das wenig. Der Tenor der Kritiker zielt dabei auf den Vorwurf „zu wenig, zu spät“ ab. Zwar lässt sich eine verlässliche Bilanz immer erst im Nachhinein ziehen, doch zeichnet sich einmal mehr ab, dass ÖVP und Grüne – getrieben von den eigenen schlechten Umfragewerten und der Dauerkritik – zur Überförderung neigen. Es wäre dies ein Déjà vu mit den Erfahrungen aus der Coronapandemie. Dabei umfassen die konkreten Entlastungspakete eine Vielzahl an Einzelmaßnahmen, deren Ankündigung und Umsetzung von der Regierung nur unzulänglich kommuniziert wird; und dies trotz erheblicher Ausgaben für Werbung und Kommunikation. Wie schon während der Pandemie gelingt es ÖVP und Grünen nicht, ihre Maßnahmen und konzise politische Botschaft den Bürgern zu vermitteln. Auch dies ein Déjà-vu, das man von der Pandemie kennt, als die Republik einen wilden Zickzack-Kurs bei den Maßnahmen fährt, der am Schluss Unübersichtlichkeit und Verwirrung stiftet. Kaum Spielraum für Nehammer Der Krieg ist der eine Grund für den anhaltenden Krisenmodus der Regierung. Der andere ist die besondere Lage der ÖVP. Bei den aufgrund der Ibiza-Affäre und der Abwahl der Regierung vorgezogenen Neuwahlen Ende 2019 erzielt die ÖVP mit Kurz an der Spitze einen triumphalen Wahlsieg. 37 Prozent bedeuten das mit Abstand beste Ergebnis der Volkspartei seit 2002. Doch dann beginnt der Absturz in altbekannte Tiefen, mit dem einen Unterschied, dass die ÖVP sich jetzt zudem als emotionaler und

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politischer Reibebaum der Republik wiederfindet – eine Rolle, die einst der FPÖ vorbehalten schien. Im Dezember 2021 setzt der Nationalrat den Untersuchungsausschuss zur Klärung von Korruptionsvorwürfen gegen ÖVP-Regierungsmitglieder ein, der tatsächliche und vermeintliche Fehltritte zum Dauerthema macht. Zwar funktioniert die Regierung auf Kabinettsebene einigermaßen leidlich, doch im U-Ausschuss sieht sich die Volkspartei einer geschlossenen Front an Kritikern gegenüber. Dass Ton und Stil der Auseinandersetzungen die politische Debatte vergiften, trägt mit zum fortgesetzten Ansehensverlust nicht nur der ÖVP, sondern der gesamten Politik bei. Es ist einfach, politische Stabilität in Instabilität zu verwandeln, der umgekehrte Weg erweist sich als ungleich schwieriger. Auch davon legt das Jahr 2022 beredtes Zeugnis ab. Nehammer muss als Kanzler und ÖVP-Obmann einen Spagat bewältigen. Regierung wie Partei verharren hartnäckig in der Krise. Das Dauerthema strafrechtlicher Ermittlungen gegen Kurz und zahlreiche ehemalige und einige aktive ÖVP-Politiker, zudem gegen die Bundespartei selbst, wirkt wie ein Mühlstein um den Hals der Volkspartei. Dass sich mit Thomas Schmid eine der Schlüsselfiguren in den Ermittlungen wegen Amtsmissbrauchs, Untreue und Bestechlichkeit entschließt, mit der Staatsanwaltschaft zu kooperieren und Kronzeugenstatus zu beantragen, macht die Situation für die ÖVP, allen voran Ex-Kanzler Kurz, noch einmal verzwickter. Die Flut an öffentlich gemachten Chat-Nachrichten des ehemaligen Generalsekretärs im Finanzministerium und Sprechers zahlreicher ÖVP-Finanzminister, der zuletzt als Alleinvorstand der Verstaatlichten-Holding ÖBAG agiert, wirft, auch wenn in den meisten Fällen ohne strafrechtliche Relevanz, ein schlechtes, für alle bestürzendes Licht auf das Selbstverständnis der Partei und den Umgang miteinander hinter den Kulissen. Als im Herbst wird bekannt wird, dass Schmid nicht nur sich selbst, sondern auch Kurz – insbesondere im Zusammenhang mit dem sogenannten Beinschab-Tool – schwer beschuldigt (hier geht es um den Vorwurf manipulierter Umfrage-Ergebnisse unter Verwendung von Steuergeldern) hält der Ex-Kanzler an der Beteuerung seiner Unschuld fest. Gegen Kurz wird wegen des Verdachts der Falschaussage im U-Ausschuss, wegen Untreue als Beteiligter sowie wegen Bestechlichkeit als Beteiligter ermittelt. Die ÖVP stellt sich hinter ihren Ex-Obmann und schließt Schmid aus der Partei aus.

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Für Nehammer und die Partei kommt erschwerend hinzu, dass die ehemalige Lichtgestalt der ÖVP wiederholt und offensiv das Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit sucht. Anlässlich der Präsentation seiner Autobiografie gibt Kurz Interviews „en masse“. Das Transkript eines von ihm heimlich aufgenommenen Telefonats mit Schmid, bei dem dieser noch kein Schuldbekenntnis ablegt, übergibt er persönlich der Staatsanwaltschaft und veranstaltet vor Journalisten eine Lesung des Gesprächs mit verteilten Rollen. Anders gesagt: Kurz, der nach seinem Rücktritt von allen politischen Funktionen als „Global Strategist“ bei der Firma des libertären deutsch-amerikanischen Investors Peter Thiel arbeitet und auch selbst als Unternehmer tätig ist, möchte bewusst im Gespräch bleiben; und sei es auch nur, wie kurz vor Weihnachten, via Selfie vom WM-Finale in Katar mit Jared Kushner, dem Schwiegersohn von Ex-Präsident Donald Trump. Ende 2022 kann Nehammer immerhin für sich in Anspruch nehmen, die Regierung mit den Grünen in national wie international turbulenten Zeiten zusammengehalten zu haben. Die Achse mit Werner Kogler, dem Vizekanzler und Parteichef der Grünen, ist intakt. Das ist nicht selbstverständlich: Immerhin ist es Kogler, der Anfang Oktober 2021 – und selbst unter Druck der eigenen Abgeordneten – Sebastian Kurz nach den Hausdurchsuchungen in der ÖVP-Zentrale und im Finanzministerium öffentlich die Amtsfähigkeit abspricht und die Volkspartei auffordert, einen neuen Kanzler zu benennen. Die ÖVP muss dies hinnehmen und ihren Kanzler opfern. Bis heute gilt, was Ende 2021 galt: Der Kanzlerpartei fehlen die politischen Alternativen, die Regierung mit den Grünen ist ihre einzige Chance, vorzeitige Neuwahlen abzuwenden und auf politisch bessere Zeiten zu hoffen. Davon abgesehen sind es vor allem die Krisen, welche die Regierung auch intern zur Disziplin zwingen. Was bei der Präsentation des Regierungsprogramms als „das Beste aus zwei Welten“ angekündigt wurde, mutiert unter dem Druck von Pandemie, Krieg und Teuerung zum „Teuersten aus zwei Welten“, wie die „Wiener Zeitung“ Anfang 2023 titelt. Neben den milliardenschweren Hilfsprogrammen stehen der Einstieg in eine Ökologisierung des Steuersystems, der beschleunigte Ausbau der Energieproduktion aus Erneuerbaren, die teilweise Abschaffung der kalten Progression, die Indexierung von Familien- und Sozialleistungen sowie die ersten Schritte

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in eine Pflegereform auf der Habenseite der Koalition. Das ist nicht nichts; der Weg aus dem Stimmungstief gelingt trotzdem nicht. Auch weil beständig darüber diskutiert wird, was alles bisher nicht gelungen ist, obwohl von Türkis-Grün eigentlich paktiert: etwa ein neues Klimaschutzgesetz, die Arbeitsmarktreform oder die Abschaffung des Amtsgeheimnisses, bei dem vor allem Länder und Gemeinden auf der Bremse stehen. In der Partei erarbeitet sich Nehammer mit seiner – im ­wahrsten Sinn – zupackenden Art durchaus Anerkennung und Sympathien. Ihm selbst, wie auch den Bünden und Landesparteien, ist zudem klar, dass sich die ÖVP einen weiteren Wechsel an der Spitze kaum leisten kann. Beim Parteitag im Mai wählen ihn die Delegierten mit 100 Prozent offiziell zum Obmann – eine verunsicherte Partei unter Druck spricht sich selbst Mut zu. Wenn es darauf ankommt, suchen die Akteure, die die Möglichkeit dazu haben, dennoch die Distanz zur angeschlagenen Bundespartei, zum Kanzler und zur Regierung insgesamt. In Tirol gelingt es dem neuen Spitzenkandidaten Anton Mattle auf diese Weise die Niederlage bei der Landtagswahl Ende September in erträglichen Grenzen zu halten; auch in Niederösterreich, wo Anfang 2023 Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner die aus Sicht der Volkspartei wichtigste Landtagswahl zu schlagen hat, will man von der türkisen Ära nichts mehr wissen. Dabei hat sich die niederösterreichische ÖVP längst wieder als dominantes Machtzentrum der Kanzlerpartei etabliert. Nehammer selbst ist zwar Wiener, politisch sozialisiert wurde er jedoch im Land unter der Enns. Im Innenministerium residiert Gerhard Karner, der unter Erwin Pröll lernte. Neuer Generalsekretär der Partei wird mit Christian Stocker ein weiterer geeichter Niederösterreicher, das gilt nicht minder für Verteidigungsministerin Claudia Tanner. Aller Augen sind auf die Niederösterreich-Wahl gerichtet: Das gilt, als bereits im Sommer die Asylwerberzahlen nach oben gehen. Anders als in den Jahren nach 2015, als die ÖVP unter Kurz das Thema Migration der FPÖ erfolgreich abspenstig macht, bedeutet der Wiederanstieg der irregulären Grenzübertritte nun harten Gegenwind für die Kanzlerpartei. Das damalige Versprechen, die Balkanroute erfolgreich geschlossen zu haben, wird zum Bumerang in der neuen Situation. Nutznießer ist in erster Linie die FPÖ, deren ehemalige Wähler wieder von der ÖVP zurückwandern. Sach-

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politisch sind einige Probleme hausgemacht: Weil außer Wien und dem Burgenland, beide SPÖ-geführt, kein Bundesland die vereinbarten Quoten zur Unterbringung der Asylwerber erfüllt, weiß sich das Innenministerium nicht anders zu helfen, als im Vorfeld des Winters in den Ländern Zelte aufzustellen, um diese zum Handeln zu zwingen. Das stößt auf Kritik, zeigt aber auch die gewünschte Wirkung in den „schwarzen“ Ländern. Am Grundproblem – den vielen Asylwerbern, die irregulär nach Öster­ reich kommen –, ändert das freilich nichts. In ihrer Not entdeckt die ÖVP die lange geplante Schengen-Erweiterung als politischen ­Hebel: Innenminister Karner legt zur Überraschung aller im Dezember ein Veto gegen den Beitritt von Rumänien und Bulgarien ein, um in der EU Druck für einen verbesserten Außengrenzschutz und Maßnahmen für ein beschleu­nigtes Asylverfahren an der Grenze zu machen. Allerdings ­erfüllen beide Staaten sämtliche Kriterien für die Mitgliedschaft im SchengenRaum, entsprechend empört sind Sofia und Bukarest. Kritiker sehen die NÖ-Wahl als eigentlichen Grund für das Veto. Richtig ist allerdings ebenso, dass der Außengrenzschutz der EU tatsächlich nicht funktioniert und die Dublin-Regeln für den Umgang mit Asylwerbern von allen EU-Staaten ignoriert werden, allen voran von Ungarns Premier Orbán, der Zehntausende Migranten nach Österreich durchwinkt. Doch sich mit Orbán anzulegen, davor scheut die ÖVP zurück – die gemeinsame Grenze ist 356 Kilometer lang und ohne nennenswerte natürliche Hürden. Orbán könnte wohl leicht noch mehr Migranten durchwinken – und dann hätte die ÖVP ein noch größeres Problem. Als Innenminister hat sich Nehammer als „Macher mit der Flex“ inszeniert, als frischgebackener Kanzler erklärt er bei Amtsantritt, „der echte Nehammer ist der lernende Nehammer“. Das ist anfangs noch vorrangig auf den Kampf gegen die Pandemie gemünzt, wo sich Türkis-Grün im Spätherbst 2021 mit einem Lockdown-Rekord und einer unter Panik beschlossenen Impfpflicht in die Sackgasse manövriert haben. Zwar wird die Impfpflicht im Februar 2022 im Nationalrat beschlossen, doch per Verordnung gleich wieder ausgesetzt wird; später wird dann auch das ursprüngliche Gesetz zu Grabe getragen – Omikron sei Dank. Die dominante Variante erweist sich zwar als hoch ansteckend, geht jedoch mit einem meist verhältnismäßig milden Verlauf einher.

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Für sich als Kanzler hat Nehammer den Schluss gezogen, dass die Risiken eines harten Bruchs mit seinem Vorvorgänger die etwaigen Vorteile übersteigen. Kurz verkörpert für nicht wenige in den Reihen der ÖVP und ihrer Wähler nach wie vor die Rückeroberung des Kanzleramts und den Aufstieg zur mit Abstand stärksten Kraft im Land. Ob dabei alles mit rechtlich einwandfreien Dingen zugegangen ist, bezweifelt die Wirtschaftsund Korruptionsstaatsanwaltschaft ausdauernd und hartnäckig. Deren Erfolgsbilanz in den bisher durch die Ibiza-Affäre ausgelösten und ungemein umfangreichen Ermittlungen nimmt sich, Stand Anfang 2023 jedenfalls, gleichwohl ziemlich bescheiden aus. Das Narrativ von politischen Gegnern und Kritikern, wonach die ÖVP als Ganzes ein Korruptionsproblem habe, versucht Nehammer aufzunehmen und in einen Motivationsschub für die eigenen Funktionäre umzuwandeln, um der Partei neuen Kampfgeist einzuhauchen. Im zurückliegenden Jahr haben die zahlreichen und gravierenden Krisen nicht nur die Regierung, sondern auch die ÖVP stabilisiert. Das Ausmaß der Herausforderungen hat den Ruf nach Neuwahlen hintangehalten. Aus Sicht Nehammers waren die Krisen eine Chance zur Bewährung als Kanzler und als Parteichef. Für ein abschließendes Urteil darüber, wie sehr das gelingen konnte, ist es nach nur einem Jahr im Amt zu früh. Vorerst bleibt die jüngere Vergangenheit der neuen ÖVP ein großer Mühlstein um den Hals der „erneut neuen“ ÖVP. 2022 ist das Lehrjahr eines Lernenden.

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Karl Nehammer Ein Porträt im Spiegel der Medien Nach den innenpolitischen Turbulenzen infolge des Ibiza-Skandals und den vorgezogenen Neuwahlen trat angesichts unbewiesener Vorwürfe Kanzler Sebastian Kurz als Bundeskanzler zurück. Nach einer interimistischen Kanzlerschaft von Alexander Schallenberg übernahm Karl Nehammer das Kanzleramt am 6. Dezember 2021. Nehammers erstes Jahr war geprägt von einer mannigfaltigen, sich überschneidenden Polykrise: Pandemie, Inflation, Energiekrise, Krieg in der Ukraine. Welche Schwerpunkte setzte der Krisenkanzler in diesen turbulenten Zeiten? Ein Porträt, zusammengestellt aus Medienberichten und persönlichen Anmerkungen.

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Bei der Angelobung von Karl Nehammer hat mich mein Vater angerufen. Wenn in Österreich wichtige staatspolitische Weichenstellungen anstehen, tauscht sich mein politischer Lehrmeister gerne mit mir aus. Mein Vater, ein politischer Mensch, war überrascht von der Wahl und wollte wissen, wie ich den neuen Kanzler charakterisieren würde, da Karl und ich gemeinsam als Referenten für die Politische Akademie gearbeitet haben und ich ihn als Kollegen kenne. Meine Antwort war kurz: „Einen Karl hat jeder Bergsteiger gerne in seiner Seilschaft. Er ist dort, wo er gebraucht wird, redet nur so viel, wie notwendig, und wenn er einem Kollegen helfen kann, geht er auch dorthin, wo es gefährlich ist.“ Als Tiroler Bergfreund hat mein Vater dieses Beispiel sofort verstanden. Aber die meisten Bürgerinnen und Bürger können zur Charakterbeschreibung von Österreichs neuem Kanzler nicht auf die Erfahrungen ehemaliger Kollegen zurückgreifen, sondern werden über die Massenmedien informiert. Nachfolgend erstelle ich daher ein Porträt in Form eines Pressespiegels aus seinem ersten Kanzlerjahr, welches einen ersten Einblick in Persönlichkeit und Amtsverständnis des 18. Bundeskanzlers der Zweiten Republik geben soll. Pflicht zur Heeresfolge Karl Nehammers Berufsethos ist von seiner soldatischen Ausbildung beeinflusst. Nach seiner Matura 1992 begann er seine Berufslaufbahn als Einjährig- Freiwilliger beim österreichischen Bundesheer mit nachfolgender Weiterverpflichtung bis 1996. 1997 musterte Nehammer als Leutnant aus und die beim Bundesheer erlernten soldatischen Tugenden prägten fortan sein Weltbild. Tapferkeit, Anstand, Treue, Bescheidenheit, Kameradschaft, Wahrhaftigkeit, Entschlussfreude und gewissenhafte Pflichterfüllung sind jene soldatischen Tugenden, die der Bevölkerung in einer pazifistischen Gesellschaft kaum mehr gegenwärtig sind, sich aber wie ein roter Faden durch Nehammers Berufslaufbahn ziehen. Dieser Habitus prädestiniert einen Politiker für Bewährungsproben in stürmischen Zeiten, zumal soldatisches Auftreten, Lebensstil und Verhalten sich immer am Ernstfall orientieren müssen. Zu seiner Lebensplanung gehörte laut Eigenauskunft nie die Kanzlerschaft, aber als der Rücktritt von Kurz aus Staatsräson eine rasche Entscheidung erforderte, stand Nehammer zur Stelle. Das Krisenjahr 2022 ist ein Kairos

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für einen Kanzler mit soldatischen Vollzugstugenden und selbstbeherrschtem Handeln, um die anstehenden ordnungspolitischen Entscheidungen in der gebotenen Ernsthaftigkeit zu treffen. Ein Soldat als Kanzler Ein ausgebildeter Leutnant als Bundeskanzler war eine Novität in Österreich, weshalb sich viele Medienporträts mit dem Soldatentum Nehammers auseinandersetzten. „Vom (Partei-)Soldaten zum Kanzler“ titelten etwa die „Salzburger Nachrichten“, indem sie Nehammers soldatische Ausbildung und berufliche Laufbahn innerhalb der Volkspartei als prägende Merkmale seines Lebens nannten. „Nehammer, der schon mit 14 Wahlfolder für Alois Mock verteilte“, wie die „Kleine Zeitung“ schreibt, hat das „christlich-soziale Wertesystem bereits im Elternhaus“ mitbekommen. Als Mann der Basis absolvierte Nehammer Hausbesuche, hängte Plakate in Schaufenstern auf und engagierte sich ehrenamtlich bei zahlreichen Wahlen. Seine Verbundenheit mit dem Wähler und den Basisfunktionären hat das „Profil“ luzide beschrieben, als die Zeitung Nehammer als Einzigen charakterisierte, „der mehr niederösterreichische ÖVP-Funktionäre zwischen Waldviertel und Wechsel kennt als Erwin Pröll“. Neben seiner Loyalität zur Partei demonstrierte Nehammer seine Berufsauffassung auch bei der Übernahme „unangenehmer Aufgaben. Er ist sich für nichts zu gut“, schreibt das „Weekend Magazin“, und er gilt „als harter Hund, über den Scherze nach dem Chuck Norris-Muster kursierten: Karl Nehammer schützt nicht uns vor dem Virus, sondern das Virus vor uns“. Dass Nehammer auch einstecken kann, beweist auch seine Leidenschaft für den Boxsport. Nur wer Rückschläge verkraftet, bereit ist, Schläge zu kassieren, diszipliniert übt, sich aus der Komfortzone wagt und niemals aufgibt, ist für diese altehrwürdige Kampfkunst charakterlich geeignet. Seine aus dem jahrelangen Training angeeignete Kompromisslosigkeit und Durchsetzungskraft in Sachfragen erläutert die „Tiroler Tageszeitung“ mit der soldatischen Metapher des „Stahlhelms“ und seine Arbeitsmoral nennt sie „fleißig und folgsam“. Diese „Furchtlosigkeit bei der Umsetzung unpopulärer Maßnahmen“, wenn sie dem Staatswohl dient, zeichnete Nehammer bereits als Innenminister aus, als er die unpopuläre Abschiebung minderjähriger Schülerinnen nach Georgien und Armenien

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zu verantworten hatte, weil deren Eltern kein Anrecht auf Asyl hatten, wie das Wochenmagazin NEWS berichtete. Nehammer hielt aus Staatsräson Linie und beugte sich nicht dem Druck der veröffentlichten Meinung. Und noch etwas fiel Österreichs größtem Wochenmagazin auf: Dass dieser Minister bei seiner sachlichen Härte einen „moderaten Ton“ anschlug. Seine Härte in der Sache verbinde Nehammer mit einem Stil der Umgänglichkeit und Verbindlichkeit. Damit signalisiere er „Dialogbereitschaft mit allen Wählern und politischen Stakeholdern und gehe auf jeden Einzelnen zu, um den Bürgerinnen und Bürgern Ängste zu nehmen,“ schreibt NEWS. Im Interview umreißt der neue Kanzler seine Prioritäten: als Politiker sich mit den alltäglichen Sorgen und Nöten der Menschen auseinanderzusetzen. Nehammer ist kein Schönwetterkapitän, sondern ein Politiker, der sich den Sachfragen mit „großer Ernsthaftigkeit und Respekt“ widmet. Als Kanzler verfolgt er einen „gesamtheitlichen Ansatz“, was ein Politikverständnis bedeutet, welches Menschen in ihrer jeweiligen Lebenslage Antworten auf ihre Herausforderungen gibt: bei der Kinderbetreuung, in der Ausbildung, in der Arbeit, in der Freizeit, in der Pension. Mit diesem bodenständigen Ansatz unterscheidet sich Nehammer für den „Standard“ von seinem glamourösen Vorgänger. Umgab Kurz die Aura eines Popstars, so der „Standard“, verkörpere Nehammer mehr den Typ des fleißigen Stahlarbeiters: ein ganz normaler Mann, ein Mensch wie du und ich, der seine Kraft dafür einsetzt, die Zukunft des Landes zu schmieden. Ruhe und Verlässlichkeit – und vom Typus ziemlich zurückgelehnt für einen Spitzenpolitiker – sind Charaktereigenschaften, die Nehammer als „klassischen Staatsmann“ und „Verbinder“ ausmachen. „Stark in der Sache, mild in der Art der Ausführung“: Gemäß dieser römischen Lebensmaxime bestritt Nehammer seine steile Karriere vom Referenten der Politischen Akademie über das Generalsekretariat der Volkspartei und das Amt des Innenministers bis zur Kanzlerschaft. Seine Haltung und Berufsauffassung ist für das „Profil“ gekennzeichnet von „Tugenden, die in jeder Partei geschätzt werden: Einsatzfreude, Fleiß, Organisationstalent und am allerwichtigsten: absolute Loyalität“.

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Mann der Basis Als Karl Nehammer beim Parteitag am 14. Mai 2022 mit 100 Prozent aller Delegiertenstimmen gewählt wurde, warnten einige österreichische Leitartikler bereits vor totalitären Zuständen wie ehedem in der kommunistischen Sowjetunion. Dabei lag der Sachverhalt viel einfacher: Nehammer kennt die Partei und die Partei kennt ihn – seit Jahrzehnten. Die daraus resultierende Beliebtheit und Vernetzung innerhalb der Volkspartei spiegelt auch ein Bericht des ORF wider. Die Ernennung von Karl Nehammer zum Regierungschef war in den Bundesländern und Teilorganisationen einhellig positiv aufgenommen worden. Für Tirols ehemaligen Landeshauptmann Günther Platter ist Nehammer der Garant, um „die Republik in ruhige Fahrwasser zu führen“. Als „Persönlichkeit mit Format und Erfahrung, die für Stabilität in der Regierung sorge“, skizziert ihn die niederösterreichische Landeshauptfrau, Johanna Mikl-Leitner. Der oberösterreichische Landeshauptmann Thomas Stelzer sieht Nehammer mit seiner großen Regierungserfahrung als bestens für das Amt des Bundeskanzlers geeignet. Und für Vorarlbergs Landeshauptmann Markus Wallner bringe Nehammer für die Volkspartei eine Zäsur nach der erfolgreichen Ära von Sebastian Kurz. Einschätzungen aus dem Ausland „Kantig, beflissen – und lernfähig“ - mit diesen drei Eigenschaften ­il­lus­triert die „Neue Zürcher Zeitung“ Österreichs Kanzler. Auch die NZZ liest Nehammers Regierungsantritt als Zäsur mit dem Regierungsstil von Sebastian Kurz und sieht ihn gut in der Partei verankert. Seine oft militärische Rhetorik erlaube Rückschlüsse auf seine Dienstbeflissenheit und seine Korrektheit. Als Christdemokrat sei Nehammer der Zusammenhalt von Öster­reichs Gesellschaft das wichtigste Anliegen. Als Kanzler agiert er für die NZZ umgänglicher als in seiner Zeit als Innenminister. Die Koalition mit den Grünen bezeichnet die NZZ als „fragil“. Die Schweizer Qualitätszeitung traut dem öster­reichischen Regierungschef mehr Ausgleich als Kurz zu, da Letzterer auf „den kurzfristigen Effekt bedacht gewesen sei und polarisiert habe.“ Der britische Guardian sieht in seiner Kanzlerschaft eine strategische Schwerpunktsetzung in der Sicherheitspolitik. Nehammer verfolge als zentrales Regierungsanliegen eine klare „Recht und Ordnung“-Politik

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im Bereich der Migrations- und Asylpolitik, immer unter der Prämisse, die innere und äußere Sicherheit der österreichischen Bevölkerung und des Staates langfristig zu gewährleisten. Eine klare Kante in den Politikfeldern Migration, Asyl und innere Sicherheit attestiert ihm auch der „Bayerische ­Rundfunk“. Mit seiner Reise nach Russland zu Putin, um im UkraineKrieg zu vermitteln, hat Nehammer für die „Süddeutsche Zeitung“ außenpolitische Akzente gesetzt. Für seine Initiative und Vermittlungstätigkeit wurde der öster­reichische Kanzler Nehammer als „World Leader“ auch von der „New York Times“ und CNN zitiert. Als disziplinierter Fachmann und linientreuer Christdemokrat sei Österreichs neuer Regierungschef in weltpolitisch unruhigen Zeiten qualifiziert, seine Partei, die Koalition und die Politik generell in ruhigere Fahrwasser zu führen, schreibt die „Augsburger Allgemeine“. Nehammer zeichne eine Fähigkeit zum Pragmatismus aus, die schon die Zusammenarbeit mit den Grünen auf eine gute Kooperations­ basis gehoben habe. Ordnungspolitische Weichenstellungen Inhaltlich war die Kanzlerschaft von Nehammer aufgrund der Polykrise bisher vor allem reaktiv geprägt. Nehammers Fähigkeiten als Krisenmanager waren gefragt, sei es bei der Bekämpfung der Coronapandemie, bei der Sicherstellung der Energieversorgung Österreichs, bei der Eindämmung der Inflation oder bei der Bekämpfung illegaler Migration und der Verhinderung einer neuen Asylkrise. Für legislaturübergreifende Strukturpolitik fehlte bislang die Zeit, und dennoch setzte Nehammer in seinem ersten Jahr bereits einige richtungsweisende Weichenstellungen um. Mit der ökosozialen Steuerreform leitete die Regierung eine ordnungspolitische Wende ein, die Österreich in eine klimafreundliche Zukunft führt und gleichzeitig Beschäftigte und Wirtschaft entlastet. Durch diese ökosoziale Kehre wird eine wertegeleitete Politik, die eine moderne Verantwortungskultur zum Leitbild erhebt, zum fiskalpolitischen Grundsatz erhoben: Mit der Formel „Gebührengesellschaft statt Steuerstaat“ soll bei der Bevölkerung langfristig ein generationenübergreifendes Kostenbewusstsein verankert werden. Eine Trendwende von direkten zu indirekten Steuern (= Nutzungsgebühren) wurde dadurch erstmals in der Zweiten Republik eingeführt, welche

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maßvollen Verbrauch von Ressourcen unterstützt und fördert. Der Leitgedanke für diese neue Epoche ist einfach: Wer konsumiert, soll dafür zahlen. Wer wenig konsumiert, soll weniger zahlen. Und wer mehr konsumiert, soll mehr zahlen. Der einzelne Bürger entscheidet durch sein Konsumverhalten autonom, welche und wie viele Steuern er zahlen muss. Genau diese Verhaltensänderung wird mit dem Klima- und Antiteuerungsbonus unterstützend begleitet. Die ökosoziale Steuerreform beruht auf einsichtigen ordnungspolitischen Überlegungen: Weniger Steuern für die arbeitende Bevölkerung und höhere Gebühren und Abgaben für ressourcenintensives und klimaschädliches Verbraucherverhalten. Diesen fiskalpolitischen Grundsätzen folgt beispielsweise das nationale Emissionszertifikatehandelsgesetz (NEHG 22). Mit diesem Handelsgesetz werden umweltschädliche Energieträger wie Benzin, Gas, Heizöl, Kohle und Kerosin besteuert, was den Einsatz emissionsarmer Technologien günstiger und kosteneffizienter macht. Sowohl die Industrie als auch die Endverbraucher werden durch diese Preisgestaltung zu nachhaltigem Konsum motiviert. Um die entstehenden Mehrkosten für die Bevölkerung abzufedern, hat das Kabinett Nehammer gleichzeitig einen Klimabonus ausbezahlt und eine Stromkostenbremse umgesetzt. Neben diesen Entlastungen setzte die Bundesregierung noch einen historischen Schritt: Die kalte Progression wird – nach jahrzehntelanger Diskussion – mit 1. Januar 2023 abgeschafft. Mit diesem Maßnahmenpaket hat die Regierung Nehammer I den fundamentalen Umbau des Steuersystems begonnen und die ökosoziale Marktwirtschaft für die Anforderungen der Zwanzigerjahre adaptiert. Überarbeitung des europäischen Asylwesens Auch in der Migrationspolitik und im Asylwesen hat sich Karl Nehammer schon im ersten Jahr seiner Amtszeit als Umsetzer und Macher klar positioniert. Da die Dublin-III-Verordnung nicht mehr angewendet werde, obwohl sie nach wie vor gilt, fordert Nehammer eine grundlegende Überarbeitung und Neuregelung des realiter gescheiterten europäischen Asylsystems. Laut geltender Verordnung müssen Asylverfahren in jenem EU-Land beantragt werden, wo die Flüchtlinge zuerst ankommen. Für außereuropäische Asylwerber ist das de facto in Österreich unmöglich. Und dennoch gab es

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im Jahr 2022 fast 100.000 Asylanträge. Die aktuelle Entwicklung gefährdet Öster­reichs innere Sicherheit und die Finanzierbarkeit des Sozialstaates, und Europa muss laut Nehammer nach den Ereignissen des Jahres 2015 ein für alle EU-Mitglieder verbindliches und gerechtes Asylwesen beschließen, das nicht länger an der Realität vorbeigeht. Auf Österreichs Initiative hat er daher im November 2022 mit dem serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić und dem ungarischen Premier Viktor Orbán ein Arbeitsabkommen unterzeichnet, das konkrete gemeinsame Maßnahmen für Grenzschutz und gegen illegale Asylanträge vorsieht. Dieses Memorandum garantiert, dass in Österreich weniger Flüchtlinge und Migranten ankommen. Österreich und Ungarn zahlen Serbien Geld, damit Migranten direkt von Serbien wieder in ihre Herkunftsländer zurückgeflogen werden und nie die europäische Union betreten können. Denn bislang konnten Inder, Burundier und Tunesier über Serbien visafrei einreisen. Beim Sondertreffen der EU-Innenminister im November 2022 positionierte sich Österreich als Wortführer für eine Neuregelung des Asylwesens. Österreichs Position wurde vorab mit Tschechien, der Slowakei und Ungarn in Prag abgestimmt. Aufgrund der derzeitigen Probleme hat Österreich den Beitritt Rumäniens und Bulgariens zum Schengen-Raum blockiert.1 Nur Kroatien wurde aufgenommen. Nehammer hat diese Entscheidung als notwendig für die Sicherheit Öster­reichs erachtet. Für Nehammer steht fest, dass das europäische Asylproblem nur an der Außengrenze des Schengen-Raums gelöst werden kann. Dabei muss für Nehammer auch die nach wie vor ungelöste Problematik der Rückführungen gelöst werden. Flüchtlinge aus Afghanistan und Syrien können zurzeit nicht abgeschoben werden und mit vielen Ländern aus dem nordafrikanischen Raum gibt es keine funktionierenden Rückführungsabkommen2. Auch bei dieser Gesetzeslücke hat Nehammer den Druck erhöht, um bilaterale Abkommen mit weiteren Staaten verbindlich abzuschließen. Durch die europäischen Versäumnisse sind Tausende in Österreich ausreisepflichtig, können aber nicht abgeschoben werden. Und auch die Asylgründe müssen

1 Vergleiche dazu https://www.derstandard.at/story/2000141680549/schengen-vetonehammer-bekraeftigt-oesterreichs-vorgehen-erneut?ref=article 2 Vergleiche dazu https://home-affairs.ec.europa.eu/policies/migration-and-asylum/ irregular-­migration-and-return/return-and-readmission_en

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durchforstet und adaptiert werden. Denn auch die eigene Bevölkerung verdient Schutz.3 Wer sich rechtswidrig Aufenthaltstitel erschleicht und Gesetze bricht, hat mit der Härte des Rechtsstaates zu leben. Generell denkt Nehammer das europäische Asylwesen von Grund auf neu. Eine konsequente Asyl-Politik fußt auf folgenden Säulen: sichere Grenzen, funktionierende Rückführungsabkommen, Zurückweisungen direkt an der Grenze, Verfahrenszentren nur mehr an den Außengrenzen der EU und nicht mehr in Österreich, konsequentes Abschieben von Straftätern und einer deutlichen Begrenzung der quantitativ zu hohen Anzahl von Asylanträgen unter Berücksichtigung der Interessen der heimischen Bevölkerung. Unkontrollierter Zustrom, Überforderung des Sozialstaates und Missachtung bestehender rechtsstaatlicher Regeln seitens der Asylwerber sind der heimischen Bevölkerung nicht mehr zumutbar. Die Zeche der falschen Asylpolitik zahlen seit Jahren Schüler, Lehrer, Sozialarbeiter, Polizisten, die Bewohner der Problemviertel und der steuerzahlende Normalbürger. Bei 80.000 Geburten pro Jahr stehen 100.000 Asylanträge4 für die Bevölkerung in keinem Verhältnis. Nehammer hat schon als Innenminister bei Abschiebungen konsequent die Interessen der österreichischen Bevölkerung vertreten und arbeitet an einer gesamteuropäischen Neuregelung des Asylwesens, die Österreichs überproportional hohe Belastung beendet. Bilanz des ersten Jahres Michael Völker vom „Standard“ rechnet Nehammer „hoch an, sich dem allgemein verbreiteten und von seinem Vorgänger Sebastian Kurz zele­ brierten Drang zur Inszenierung weitgehend entzogen zu haben“. Bei den Rückblicken zum ersten Jahrestag der Kanzlerschaft von Karl Nehammer wurde von den Medien neben der Krisenbewältigung wiederholt auf den Verzicht pompöser Politikinszenierung zugunsten von Sacharbeit hingewiesen und versucht, die Unterschiede im Amtsverständnis zu seinen Vor-

3 Vergleiche dazu ttps://www.nzz.ch/meinung/der-andere-blick/bluttat-in-illerkirchberg-dieeigene-bevoelkerung-verdient-schutz-ld.1715724?reduced=true 4 Vergleiche dazu https://www.derstandard.at/story/2000141394444/100-000asylantraege-­heuerin-oesterreich-echte-staatskrise-oder-populistisches-ablenkungsmanoever

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gängern Kurz, Kern und Faymann herauszuarbeiten. Richard Grasl vom „Kurier“ beschreibt Nehammers erstes Jahr als „bewegt“ und attestiert dem ­Kanzler „die großen Krisen angegangen“ zu haben, wundert sich aber, dass ihm in den aktuellen Umfragen die Wähler seine Leistungen noch „nicht zu danken scheinen“. Der fordernde Spagat „zwischen multiplen Krisen und Kurz-Erbe“ ermögliche ihm „wenig Spielraum“ und verhindere bislang einen „Kanzlerbonus“, so die Schlussfolgerung von „Presse“-Journalist Oliver Pink. Nehammer werde für „seine zupackende und wertschätzende Art“ vom Koalitionspartner, der Opposition sowie parteiintern gelobt, aber „mit dem Nachlass der Ära Kurz“ habe der „Pragmatiker“ zu kämpfen. Des Kanzlers doppelte Herausforderung bestünde darin, einerseits die multiplen Krisen zu bewältigen, und andererseits in der Aufgabe des Parteivorsitzenden, ein zukunftsorientiertes, ordnungspolitisches Programm vorzulegen sowie das durch die Schmid-Affäre beschädigte Vertrauen in die Politik durch harte Arbeit zurückzugewinnen. „Schlag auf Schlag“ hätten sich die Ereignisse des ersten Kanzlerjahres für „Krone“-Journalistin Ida Metzger ereignet, und Krisen seien des Kanzlers wesentlichste Begleiter. Die Bewältigung einer „beispiellosen Krisen-Akkumulation“ bezeichnet auch Walter Hämmerle von der „Wiener Zeitung“ als „gelungen“. Unter Nehammer habe sich die Koalition als „politikfähig“ erwiesen und im EU-Vergleich „schnell mit milliardenschweren Hilfspaketen für Haushalte und Unternehmen reagiert“. Durch die notwendige Schadensbegrenzung der Schmid-Affäre sei er als „ÖVP-Obmann in der Defensive“, da Schmids Behauptungen Mitbewerbern und Kritikern die willkommene Chance geboten habe, „die ÖVP einfach von der Macht zu verdrängen“. Lucian Mayringer von den „Oberösterreichischen Nachrichten“ wertet Nehammers Rolle daher auch als „Schadensbegrenzer.“ Der Untersuchungsausschuss wird von der Opposition als Politikspektakel instrumentalisiert und dient nicht der Aufklärung. Die Bevölkerung hat andere Sorgen und von der künstlichen Aufblähung diffuser Gerüchte die Nase voll, wie der „ATV-Monitor“ ergab5. Dass Thomas Schmids unwahre Behauptungen lange zurückgetretene Politiker be5 Vergleiche dazu https://www.heute.at/s/oesterreicher-haben-vom-oevp-u-ausschussdie-nase-voll-100242268?fbclid=IwAR144NpV-HMo45cvuYDG2oxiKXBLStw2y77wYXA_JYntIDnz K0PVgx9fpmg

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treffen und die Aufarbeitung dieser Vorwürfe durch machtpolitisches Kalkül verzögert werde, erschwere einen „klaren Schlussstrich“, analysiert Georg Renner in der „Kleinen Zeitung“, der Nehammers erstes Jahr als „solide“ und „souverän“ bewertet. Quellen Augsburger Allgemeine: https://www.augsburger-allgemeine.de/politik/portraet-ein-partei-soldat-im-kanzleramt-das-ist-oesterreichs-neuer-regierungschef-id61204446.html Bayrischer Rundfunk: https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/oesterreichs-kuenftiger-kanzler-karl-nehammer-importrait,SqXYbDR?UTM_Name=Web-Share&UTM_Source=E-Mail&UTM_Medium=Link  Grasl, Richard: Der Trümmermann, in: Kurier, 3/12/2022, S. 3. Guardian https://www.theguardian.com/world/2021/dec/03/immigration-hardliner-karl-nehammer-to-take-over-as-austrianleader Hämmerle, Walter: Unter Druck, in: Wiener Zeitung3/4/12/2002, S. 4. Mayringer, Lucian: Der Schadensbegrenzer im Kanzleramt, in: Oberösterreichische Nachrichten 3/12/2022, S. 3. Metzger, Ida: Zwischen „Gift und Markenschaden für ÖVP“, in: Kronen Zeitung, 3/12/2022, S. 2–3. Mittelstaedt, Katharina: Karl Nehammer, ein Selbstversuch, in: Der Standard, 3/4/12/2022, S. 10–11. Neue Zürcher Zeitung: https://www.nzz.ch/international/oesterreich-der-neue-kanzler-karl-nehammer-im-portraetld.1658423?reduced=truenzler Karl Nehammer im Porträt (nzz.ch). News: https://www.news.at/a/karl-nehammer ORF: https://oesterreich.orf.at/stories/3132904/ Pink, Oliver: Als Dritter Bundeskanzler, Die Presse 3/12/2022, S. 1–2. Purger, Alexander: „Diese Koalition bewährt sich in der Krise“, in: Salzburger Nachrichten, 3/12/2022, S. 2–3. Profil: https://www.profil.at/oesterreich/nach-kurz-rueckzug-und-ruecktritt-karl-nehammer-im-portraet-mars-machtmobil/401826706acht mobil (profil.at) Renner, Georg: die zwei Gesichter des Karl Nehammer, in: Kleine Zeitung, 3/12/2022, S. 8. Der Standard: https://www.derstandard.at/story/2000133855578/der-krisenkanzler-wofuer-steht-nehammer-abseits-derkatastrophen?ref=article Der Standard: https://www.derstandard.at/story/2000141488539/ein-jahr-bundeskanzler-nehammer-die-bagatellisierung-dervolkspartei Salzburger Nachrichten: https://www.sn.at/politik/innenpolitik/vom-partei-soldaten-zum-kanzler-wer-ist-karl-nehammer-113464243 Süddeutsche Zeitung: https://www.sueddeutsche.de/politik/oesterreich-nehammer-putin-cobra-affaere-1.5567305 Tiroler Tageszeitung: https://tt.com/go/16494280  Weekend: https://www.weekend.at/politik/neuer-kanzler-karl-nehammer-im-portraetorträt | weekend.at

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A n d r é B u c h e gg e r

Die österreichische Klima- und ­Energiepolitik in Zeiten multipler Krisen 2022: Jahr der Herausforderungen und Chancen Österreich ist gerade dabei, multiple Krisen zu meistern. Einer Gesundheitskrise folgte 2022 eine Energiekrise. Bisher kaum beachtete energiepolitische Abhängigkeiten wurden zum zentralen Spielball der Politik in Europa. Es mussten rasch Alternativen für russisches Erdgas und Erdöl gefunden werden. Doch wie genau haben die Entwicklungen der Klima- und Energiepolitik im Jahr 2022 Österreich verändert? Konnten wir beim Klimaschutz und den erneuerbaren Energien Fortschritte erzielen? Österreich konnte die Energiekrise bisher gut bewältigen. Die Versorgungssicherheit konnte sichergestellt werden. Wichtige Bausteine der Energiewende wurden auf den Weg gebracht, Problemfelder wurden erkannt und adressiert. Dennoch müssen weitere wichtige Schritte gesetzt werden. Technologieoffenheit ist dabei zentral.

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Die multiplen Krisen der letzten Jahre waren für die österreichische Klimaund Energiepolitik eine große Herausforderung. Insbesondere die Energiekrise infolge des ungerechtfertigten Einmarsches Russlands in die Ukraine und dessen Nutzung von Erdgaslieferungen als Waffe stellten die Energiepolitik Europas und vor allem auch Österreichs auf den Kopf. Bisher kaum beachtete energiepolitische Abhängigkeiten wurden zum zentralen Spielball der Politik in Europa. Es mussten rasch Alternativen für russisches Erdgas und Erdöl gefunden werden. Neue Lieferrouten und -quellen wurden erschlossen, um Europas Speicher für den Winter zu füllen. Nahezu täglich berichteten die Medien von aktuellen Füllständen der Speicher, abgeschlossenen Lieferverträgen und Energiepreis-Rallyes. Denn die Energiepreise erreichten 2022 ihren historischen Höchststand. Die „Merit-Order“ wurde – wie es schon während der Coronakrise die unterschiedlichen Virustypen waren – zum Stammtisch-Thema. Die Österreicherinnen und Österreicher wurden 2022 zu „Energieexperten“. Doch wie genau haben die Entwicklungen der Klima- und Energiepolitik im Jahr 2022 Österreich verändert? Konnten wir beim Klimaschutz Fortschritte erzielen? Sind wir Vorreiter im Bereich der erneuerbaren Energien? Sinken unsere CO2-Emissionen? Können wir unsere Abhängigkeit von Erdgas und Öl drastisch oder gar zur Gänze reduzieren? Welche Schritte setzen wir, was braucht es zusätzlich? Nationale und europäische Zielvorgaben Starten wir mit den Zielen, die sich Österreich gesetzt hat bzw. die sich aus den Vorgaben der EU für Österreich ergeben: Österreich hat sich dazu bekannt, im Jahr 2040 klimaneutral zu sein – zehn Jahre vor der EU, die sich 2050 als Ziel gesetzt hat. Gleichzeitig soll bis zum Jahr 2030 Strom zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energiequellen gedeckt werden. Ein neues Energieeffizienzgesetz befindet sich gerade in Ausarbeitung. Hier ist eine deutliche Zielverschärfung (max. 1.050 PJ Endenergieverbrauch im Jahr 2020) angedacht. Wichtige Zielvorgaben von europäischer Seite gibt es für den EUEmissionshandel (EU-ETS) und die Sektoren außerhalb des EU-Emissionshandels (Non-ETS bzw. Effort-Sharing-Sektoren). Während der EU-ETS

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europaweit einheitlich geregelt ist, hat jeder Mitgliedsstaat im Rahmen des Effort Sharing ein individuelles Ziel (basierend auf dem BIP/Kopf) erhalten. Für Österreich bedeutet dies ein herausforderndes Treibhausgas-Reduktionsziel von minus 48 Prozent bis 2030 (Basis 2005). Darüber hinaus bringt die EU in den kommenden Jahren weitere klimapolitische Instrumente wie den CO2-Grenzausgleichsmechanismus (CBAM) ab 2026 und die Ausweitung des EU-ETS auf den Gebäude- und Verkehrsbereich (ab 2027) auf den Weg. Auf globaler Ebene bildet das Pariser Klimaschutzabkommen den Rahmen, um die globale Erderwärmung auf maximal zwei Grad Celsius gegenüber vorindustriellen Werten zu begrenzen bzw. Anstrengungen zu unternehmen, den Anstieg auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. Der Status quo Kommen wir zum Status quo in Österreich. Befinden wir uns auf Zielkurs oder sind Anpassungen bzw. Kurskorrekturen notwendig? Laut Nahzeitprognose (Nowcast 2022)1 des Umweltbundesamts (UBA) sind in Österreich im Jahr 2021 rund 77,1 Mio. Tonnen Treibhausgase emittiert worden. Das ist ein Plus von 4,8 Prozent bzw. 3,5 Mio. Tonnen CO2-Äquivalent gegenüber 2020. Als Gründe dafür werden der Anstieg des Bruttoinlandsprodukts, das Bevölkerungswachstum und die Witterung – das Jahr 2021 war deutlich kühler als der langfristige Trend – genannt. Vor allem die um rund 18 Prozent höhere Stahlproduktion (+1,6 Mio. Tonnen CO2), die höheren Emissionen im Sektor Verkehr (+0,9 Mio. Tonnen CO2) und im Sektor Gebäude (+0,9 Mio. Tonnen CO2) waren die größten Treiber. Dämpfend wirkte die Stilllegung eines Kohlekraftwerks (-0,4 Mio. ­Tonnen CO2). Seit 1990 (78,4 Mio. Tonnen CO2) hat Österreich seine THG-Emissionen kaum gesenkt (2021: 77,1 Mio. Tonnen CO2). Besonders im Sektor Verkehr steigen die THG-Emissionen so stark, dass sie die Einsparungen 1 Nahzeitprognose der österreichischen Treibhausgas-Emissionen für das Jahr 2021 ­(NOWCASE 2022), Umweltbundesamt 2022: https://www.umweltbundesamt.at/fileadmin/site/ publikationen/rep0819.pdf

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aller anderen Sektoren weitgehend zunichtemachen. Seit 2005 haben sich Wirtschaftswachstum und THG-Emissionen entkoppelt. Grund dafür sind u. a. effizientere Produktionsweisen, verbesserte Energieeffizienz und der Ausbau erneuerbarer Energien. Wollen wir die Pariser Klimaziele, die europäischen Zielvorgaben und das Ziel der Bundesregierung, die Klimaneutralität 2040, erreichen, muss die THG-Reduktionsrate allerdings deutlich gesteigert werden. Etwa 4–4,5 Mio. Tonnen CO2 pro Jahr müssten eingespart werden. Besser sieht es im Bereich der Energieversorgung aus. Die erneuerbaren Energien nehmen eine immer wichtigere Rolle im österreichischen Strommix ein. Derzeit werden mehr als 78 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energiequellen gewonnen. Wasserkraft ist in Österreich die zentrale erneuerbare Stromerzeugungstechnologie, gefolgt von Windkraft, Biomasse und Sonnenenergie. Bis 2030 soll der heimische Strombedarf zu 100 Prozent (bilanziell) mit Erneuerbaren gedeckt werden. Der Anteil erneuerbarer Energien am Bruttoendenergieverbrauch liegt bei 36,5 Prozent (2020). Damit wurde die europäische Zielvorgabe von 34 Prozent deutlich übertroffen.2 Nichtsdestotrotz muss immer noch ein erheblicher Teil des nationalen Energiebedarfs durch fossile Energieträger gedeckt werden. Neue Herausforderungen in der Energiepolitik Das Jahr 2022 brachte vielerorts ein Umdenken. Die Energiepolitik, in der Form wie sie viele kannten, musste neue gedacht werden. Erdgas rückte in den Mittelpunkt. Versorgungssicherheit spielte wieder eine wichtige Rolle. Sogar die Wiederinbetriebnahme des Kohlekraftwerks in Mellach stand im Raum, fand aber keine Mehrheit im Parlament. Die Energiepreise stiegen um ein Vielfaches und machten es notwendig, nach den Coronahilfen, weitere Unterstützungsinstrumente auf den Weg zu bringen. Dennoch ist klar, Klimaschutz und Energieeffizienz sind wesentliche Beschleuniger, um bestehende und künftige Abhängigkeiten drastisch zu reduzieren. 2 Energie in Österreich 2022, Bundesministerium für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie 2022: https://www.bmk.gv.at/dam/jcr:3820f7e7-4abb-4324-b8e0aa090325eb4a/Energie_in_OE2022_UA.pdf

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Versorgungssicherheit 2022 sichergestellt Im Jahr 2022 erlangte das Thema (Gas-)Versorgungssicherheit wieder eine zentrale Bedeutung. Wurde es in den letzten Jahren sehr stiefmütterlich behandelt, rückte es mit Beginn der Energiekrise wieder in den Fokus – nicht nur in Österreich, sondern in ganz Europa. Schlagwörter wie Diversifizierung, Einspeicherung oder Leitungskapazitäten wurden zu ständigen medialen Begleitern. Für Österreich wurde von der Bundesregierung das nationale Gas-Einspeicherziel von 80 Prozent bis Jahresende ausgerufen. Dieses Ziel wurde Anfang Oktober 2022 erreicht, einen Monat früher als geplant. Unternehmen haben wichtige Diversifizierungsschritte und Energiesparmaßnahmen gesetzt. Die OMV hat sich darüber hinaus für das Jahr 2023 zusätzliche Leitungskapazitäten aus Norwegen gesichert. Dies ist ein zentraler Baustein für die Vorbereitung auf den nächsten bzw. die kommenden Winter, es wird aber zahlreiche weitere brauchen. Denn Österreich wird mittelfristig noch immer Gas benötigen. 1., 2. und 3. Entlastungspaket Neben der Versorgungssicherheit war die Abfederung der massiv steigenden Energiepreise ein zentrales Thema. Die Bundesregierung setzte umfassende und rasche energiepolitische Maßnahmen, um die Bevölkerung und die Unternehmen zu entlasten. Die Ökostrompauschale (350 Mio. Euro) bzw. der Ökostrom-Förderbeitrag (520 Mio. Euro) wurde ausgesetzt und der Energiekostenausgleich (600 Mio. Euro) auf den Weg gebracht, um die Stromrechnungen direkt zu senken. Auch die spezifischen Energieabgaben (Erdgasabgabe und Elektrizitätsabgabe) wurden um rund 90 % gesenkt (900 Mio. Euro). Landwirte profitieren vom Agrardiesel-Kostenausgleich. Für öffentliche Verkehrsbetriebe gab es einen Ausgleich für die steigenden Energiekos­ ten, um Preissteigerungen (z. B. für Schülerfreifahrten) verhindern zu können. Für Betriebe wurde ein Programm ins Leben gerufen, um den raschen Umstieg auf alternative, dekarbonisierte Antriebsformen zu unterstützen (120 Mio. Euro). Gleichzeitig wurde eine Investitionsoffensive für Energieunabhängigkeit für Windkraft- und Photovoltaik-Projekte gestartet

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(250 Mio. Euro), um wichtige Schritte in Richtung Versorgungssicherheit und Klimaschutz zu setzen. Im September startete die Auszahlung des erhöhten  Klimabonus  sowie des Anti-Teuerungsbonus. Dadurch wurden alle in Österreich lebenden Erwachsenen mit einem Betrag in Höhe von 500 Euro unterstützt, jedes Kind erhielt 250 Euro. Ende September wurde die Stromkostenbremse beschlossen, die seit Dezember 2022 wirksam ist. Dieses Instrument bringt eine durchschnittliche Entlastung von rund 500 Euro für jeden Haushalt, die direkt und automatisch auf der Strom- bzw. Netzrechnung sichtbar wird. Etwa 3 bis 4 Mrd. Euro, je nach Energiepreisentwicklung, stellt die Bundesregierung bis 30. Juni 2024 dafür bereit. Für Unternehmen startete im Herbst eine weitere Entlastung: der Energiekostenzuschuss. Mit 1,3 Mrd. Euro erhalten Unternehmen die not­ wendige Unterstützung, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Gleichzeitig werden Arbeitsplätze gesichert. Kurz vor Weihnachten wurde dieser Energiekostenzuschuss ausgebaut und erheblich aufgestockt. Damit wurde den neuen Möglichkeiten des europäischen Beihilferahmens und dem standortpolitischen Druck aufgrund der Entwicklungen in Deutschland (Stichwort „Doppel-Wumms“ bzw. 200 Mrd. Euro Paket) Rechnung getragen. Die österreichische Bundesregierung hat dafür gesorgt, dass unseren Betrieben kein Wettbewerbsnachteil entsteht. Langfristige und nachhaltige Lösungen essentiell Der Ausbau erneuerbarer Energie ist langfristig die beste Lösung, um die Abhängigkeit von fossilem Gas zu verringern, unsere ambitionierten energie- und klimapolitischen Ziele zu erreichen und den Wirtschafts- und Beschäftigungsstandort Österreich zu attraktivieren. Die Zielerreichung gelingt nur mit mehr Photovoltaik, mehr Biomasse, mehr Windkraftanlagen, mehr Wasserkraft und rascherem Netzausbau. Die Beschleunigung von Genehmigungsverfahren ist zentral. Dies hat nun auch die Europäische Union mit der Einrichtung einer „Überholspur“ (Fast Track) für Energiewendeprojekte erkannt – und dies gilt es nun auch in Österreich mit der Novelle des UVP-Gesetzes schnell umzusetzen. Verfahrensbeschleunigungen bei

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wichtigen Energie- und Infrastrukturprojekten müssen oberste Priorität haben. Verschärfungen wie neue Genehmigungskriterien, die Verfahren weiter in die Länge ziehen, sollten jedenfalls vermieden werden. Die Bundesregierung hat bereits wichtige Schritte zum Ausstieg aus fossiler Energie gesetzt: Die Sauber-Heizen-Offensive bzw. verschiedenste Förderprogramme wie das Erneuerbaren Ausbau Gesetz (EAG) sind bereits in Kraft und das Erneuerbaren Wärme Gesetz (EWG) war in Begutachtung. Auch das EAG ist ein riesiges Investitionspaket für und in die heimische Wirtschaft. Es wird eine Milliarde Euro pro Jahr für die nächsten zehn Jahre investiert – damit werden Investitionen von 30 Milliarden Euro ausgelöst. Das EWG wird den Weg für einen raschen Umstieg auf grüne Heizformen bereiten. Hier gilt es einen technologieoffenen Weg zu wählen. Keine Technologie sollte ausgeschlossen werden, um die Dekarbonisierung des Wärmesektors zu erreichen. Grüne Gase sind dabei ein wichtiger Baustein. Gleichzeitig ist auch ein Bekenntnis von Bund und vor allem den Ländern zur Finanzierung sicherzustellen. Natürlich ist und bleibt – wo es möglich ist – Effizienz das Gebot der Stunde. Das Energieeffizienzgesetz – das kurz vor Weihnachten 2022 in Begutachtung geschickt wurde – wird einen entscheidenden, wirtschafts- und sozialverträglichen Beitrag zum Klimaschutz leisten. Die zentrale Rolle des Wasserstoffs Bereits vor einigen Jahren hat der damalige Bundeskanzler Kurz angekündigt, dass Österreich die Wasserstoffnation Nummer eins werden soll. Ob Industrie oder Verkehr – Wasserstoff soll als Alleskönner in vielen Bereichen als Energieträger eingesetzt werden. Um das herausfordernde – im Regierungsprogramm verankerte – Ziel der Klimaneutralität 2040 zu erreichen, müssen sämtliche Technologien eine Rolle spielen. Vor allem, weil Österreich das – im Gegensatz zu anderen Nationen – ohne Einsatz von Nuklear­energie schaffen möchte. Im Juni 2022 wurde die lang erwartete Wasserstoffstrategie3 präsentiert. Diese wichtige Strategie beinhaltet vier

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Wasserstoffstrategie für Österreich, Bundesministerium für Klimaschutz, Umwelt, Energie,

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Säulen. Eine zentrale Säule ist das ausschließliche Setzen auf klimaneutralen Wasserstoff, die zweite Säule beschäftigt sich mit dem effizienten Wasserstoffeinsatz, die dritte mit der Wasserstoffinfrastruktur und die 4. Säule mit internationalen Wasserstoffpartnerschaften. Leider ist aber betreffend Nutzung von Wasserstoff noch nicht viel mehr passiert. Wollen wir aber in Österreich unsere klima- und energiepolitischen Ziele wie Klimaneutralität und die Transformation der Industrie erreichen, muss in den kommenden Jahren wesentlich mehr im Wasserstoffbereich passieren, als die Veröffentlichung einer Strategie. Wasserstoff muss endlich ernsthaft eine Rolle spielen. Die Umsetzung der Strategie sowie die Implementierung der einzelnen Maßnahmen des Aktionsplans müssen endlich Fahrt aufnehmen. Laut Strategie soll zwar prioritär grüner Wasserstoff in der Industrie, im Flugverkehr, im Schiffsverkehr und im Energiesystem für den Spitzenlastausgleich die Speicherung und Flexibilitätsleistungen eingesetzt werden, dennoch wäre es wohl durchaus sinnvoll, gerade während des Hochlaufs der Wasserstofftechnologie auch andere „Farben“ (z. B. türkisen Wasserstoff) in Betracht zu ziehen. Der genannte türkise Wasserstoff, entsteht beispielsweise durch ein thermisches Verfahren, bei dem Erdgas mittels Methanpyrolyse in Wasserstoff und festen Kohlenstoff gespalten wird. Sofern der Kohlenstoff dauerhaft gebunden bleibt und nicht bei der Weiterverarbeitung verbrannt wird, ist auch dieses Verfahren CO2-neutral. Gleichzeitig ist die Entwicklung eines Programms bzw. einer Strategie für internationale Wasserstoffpartnerschaften nach dem Vorbild Deutschlands und anderer EU-Mitgliedsstaaten dringend erforderlich. Die benötigten Mengen für die Transformation der Industrie und Energieversorgung können nicht – zumindest nicht in absehbarer Zeit – ausschließlich national aufgebracht werden. Der institutionelle Rahmen muss verbessert werden, um Energiewendepartnerschaften bestmöglich zu unterstützen und die neuen Instrumente und Strategien Österreichs und der EU bestmöglich zu nutzen. Entscheidend für den Erfolg derartiger Partnerschaften ist, dass wir uns nicht nur auf die Nutzung und den Export der enormen Solar- und

Mobilität, Innovation und Technologie 2022: https://www.bmk.gv.at/themen/energie/publikatio nen/wasserstoffstrategie.html

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Windressourcen in den österreichischen Markt bzw. in die europäischen Märkte konzentrieren, sondern dass wir eine für beide Seiten vorteilhafte Zusammenarbeit eingehen, die auch zu einem nachhaltigen wirtschaftlichen und sozialen Wandel in den Partnerländern beitragen kann. Gerade hier kann Österreich mit seiner umfassenden Expertise und Erfahrung im Bereich der Umwelttechnologien punkten. CO2-Abscheidung wesentlich für den Klimaschutz Carbon Capture and Utilization (CCU) und Carbon Capture und Storage (CCS) – also die Abscheidung und Speicherung von CO2 – spielen eine zentrale Rolle, um die Pariser Klimaziele zu erreichen. Sie müssen auch in Österreich endlich Fahrt aufnehmen. Die EU-Kommission hat das Thema bereits in ihrem „Fit for 55“-Paket an mehreren Stellen berücksichtigt. Im jüngsten Report des IPCC4 wird die CO2-Abscheidung als unabdingbar zur Erreichung von Netto-Null-Emissionen angesehen. Wenn Österreich bis 2040 klimaneutral sein und die Industrie behalten will, dann führt kein Weg daran vorbei. Zwar gibt es in Österreich bereits einige innovative und wegweisende Projekte in diesem Bereich, eine konkrete Strategie dazu ist aber noch ausständig und sollte dringend angegangen werden. Neben der Schaffung von sektorübergreifenden Wertschöpfungsketten und der Steigerung der Standortattraktivität kann dadurch ein wesentlicher Beitrag zur Erreichung der Klimaneutralität erreicht werden. Fazit In Summe steht Österreich energie- und klimapolitisch gut da. Die neuen Herausforderungen der Krise(n) wurden gut gemeistert. Die Energieversorgung konnte gesichert, die Bevölkerung und die Unternehmen breit entlastet und darüber hinaus konnte ein wesentlicher Beitrag zur Transformation des Energiesystems und zum Klimaschutz geleistet werden. Wichtige 4 Intergovernmental Panel on Climate Change (IPPC), Beitrag der Arbeitsgruppe III (WGIII) zum sechsten Sachstandsbericht (AR6), 2022: https://report.ipcc.ch/ar6wg3/pdf/IPCC_AR6_WGIII_ FinalDraft_FullReport.pdf

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Bausteine der Energiewende wurden auf den Weg gebracht, Problemfelder wurden erkannt und adressiert. Nichtsdestotrotz müssen weitere wichtige Schritte gesetzt werden, um die klima- und energiepolitischen Zielsetzungen zu erreichen. Gleichzeitig muss Österreich wettbewerbsfähig und interessant für Investitionen bleiben. Dafür braucht es ein breites Bündel an In­stru­menten und Technologien und ein gewisses Maß an Offenheit. Daher ein Appell zum Abschluss: Keine Technologie, die zur Energiewende und Emissionsreduktion beiträgt, sollte ausgeschlossen werden. Es darf keine Denkverbote geben. Die Transformation muss im Interesse von uns allen möglichst effizient und zu möglichst geringen Kosten erreicht werden.

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Bundesstaatsanwalt oder ­Generalstaatsanwalt? Demokratie oder Richterstaat? Die Regierung setzte 2022 eine Arbeitsgruppe ein, die einen Vorschlag zur Einrich­ tung einer Bundesstaatsanwaltschaft erarbeiten sollte. Die AG war fast ausschließlich Richtern, Staatsanwälten und Spitzenbeamten vorbehalten. Ihr Vorschlag machte aus dem Bundesstaatsanwalt einen Generalstaatsanwalt, der ohne Mitwirkung des Parlaments aus dem Kreis von Richtern und Staatsanwälten vom Bundespräsidenten bestellt wird. Der Vorschlag folgt richterstaatlichem Denken. Ihm gegenüber steht ein Vorschlag von Johannes Schnizer im Rahmen des Österreich-Konvents. Er folgt Grundsätzen der repräsentativen parlamentarischen Demokratie. Im Beitrag werden die Modelle einander gegenübergestellt und bewertet. Der Verfassungsgesetzgeber wird entscheiden, ob ein richterstaatliches Modell oder ein parlamentarisch-demokratisches Modell eingerichtet wird.

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Am 24. Februar 2022 beschloss die Bundesregierung über gemeinsamen Vorschlag der Justizministerin Alma Zadić und der Verfassungsministerin Karoline Edtstadler einen Ministerratsvortrag zur Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaften und zum Ausbau der Beschuldigtenrechte. Im Internet veröffentlicht, heißt es darin: „Die Bundesregierung hat sich im Regierungsprogramm darauf geeinigt, die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft zu stärken. Ermittlungsverfahren sollen unabhängig und ohne öffentlichen oder politischen Druck geführt werden können. Dabei gilt es ein Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit zu berücksichtigen, die Pressefreiheit zu schützen und gleichzeitig mediale Vorverurteilung zu vermeiden. Staatsanwaltliche Ermittlungsverfahren sollen unter Wahrung der Qualität und Sorgfalt beschleunigt werden, während gleichzeitig die Beschuldigtenrechte des Einzelnen gewahrt und gestärkt sowie negative wirtschaftliche Folgen eines Ermittlungsverfahrens hintangehalten werden sollen. Um diese Ziele und damit eine weitere Stärkung des Vertrauens in den Rechtsstaat zu erreichen, sind konkrete Maßnahmen zu setzen. Eine dieser Maßnahmen ist die Schaffung einer unabhängigen und weisungsfreien Bundesstaatsanwaltschaft, die frei von politischer Beeinflussung ihre wichtige Funktion ausübt.“ Zur Vorgeschichte Die Staatsanwaltschaften sind Teile der Justizverwaltung. Sie sind zwar Organe der ordentlichen Gerichtsbarkeit, aber die Staatsanwälte sind weisungsgebundene Beamte. An der Spitze der Weisungskette steht der Justizminister. Er übt sein Weisungsrecht uneingeschränkt aus. Er ist dafür dem Parlament verantwortlich. Über Vorschlag des damaligen Justizministers Wolfgang Brandstetter wurde 2016 im Justizministerium ein „Weisungsrat“ eingerichtet. Ihm gehören herausragende ehemalige Richter, Staatsanwälte oder Rechtsgelehrte an, die der Justizminister ernennt. Alle „clamorosen“ Fälle, also solche, die besonderen Lärm (lat. clamor) machen, von Politikern und anderen Prominenten, werden ihm zur Stellungnahme vorgelegt. Er empfiehlt dem Minister eine bestimmte Vorgangsweise in der Sache. Minister folgen ihm in der Regel.

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Die strafrechtlichen Ermittlungen und die Anklageerhebung gehören zu den schärfsten Rechten des Staates. Eine Reihe von Vorfällen und Missständen haben das Weisungsrecht und die Tätigkeit der Staatsanwälte seit Jahrzehnten begleitet. Erinnerlich ist der Einsatz der Staatsanwaltschaften für politische Zwecke in der Ära des sozialistischen Justizministers in der Ära Kreisky, Christian Broda. In der Angelegenheit eines Prozesses betreffend ein sozialistisches Regierungsmitglied erließ er 26 Weisungen! In die Geschichte eingegangen ist dabei der Oberstaatsanwalt Otto F. Müller – in der Woche vor einer niederösterreichischen Landtagswahl sollte in einer Wohnbauaffäre der amtierende Landeshauptmann in Untersuchungshaft genommen werden … schon damals wurde die „politische“ Weisungsspitze heftig kritisiert und nach ausländischem Vorbild eine richterliche Unabhängigkeit für die Staatsanwälte verlangt. Nach dem Abgang von Christian Broda kehrte etwas Ruhe ein. Mit ganz wenigen Ausnahmen kehrte man zur Praxis vor Broda zurück, parteilose oder politikferne Fachleute aus dem Stand der Notare oder Rechtsanwälte in die Regierung zu berufen. Dennoch spielte die Frage der Weisungsspitze in allen Verfassungsreform-Diskussionen eine wichtige Rolle. Auch im Österreich-Konvent wurde 2005 ein Vorschlag erarbeitet, der die neue Einrichtung als Oberstes Organ der Vollziehung dem Amt des Rechnungshofpräsidenten nachbildet: Gewählt vom Hauptausschuss des Nationalrats mit Zweidrittelmehrheit, mit auf zwölf Jahre begrenzter Amtszeit, ohne Beschränkung auf Personen aus der Justiz, dem Parlament verantwortlich wie ein Bundesminister und vom Nationalrat auch abberufbar. Über abgeschlossene Vorgänge kann ein Untersuchungsausschuss eingesetzt werden. Vorschlag und Formulierung stammten von Johannes Schnizer, heute Richter am Verfassungsgerichtshof und Autor eines Beitrags zum Thema in diesem Jahrbuch, damals wissenschaftlicher Mitarbeiter im SPÖParlamentsclub. Nachdem in einem berühmten Fall, Jahre vor dem Wirken der Korruptionsstaatsanwaltschaft, Missstände in einer Staatsanwaltschaft eines Bundeslandes bekannt geworden waren, plädierte ich in einem Gastkommentar in der „Presse“ vom 23. 8. 2009 für die Einrichtung eines Generalstaatsanwalts als unabhängige und weisungsfreie Aufsicht.

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Die Diskussion flammte neuerlich und mit großer Heftigkeit nach Gründung der Korruptionsstaatsanwaltschaft auf.1 Sie wurde 2009 gesetzlich eingerichtet und nahm ihre Tätigkeit in vollem Umfang 2011 auf. Sehr bald wurde von der Staatsanwaltschaft selbst, aber auch von politischen Parteien die Forderung nach richterlicher Unabhängigkeit für Staatsanwälte gefordert. Die Diskussion mündete schließlich in die Forderung nach einem unabhängigen und weisungsfreien Bundesstaatsanwalt an der Spitze der Weisungskette, der nicht mehr dem Justizministerium untersteht. Dieses neue Oberste Organ sollte die Staatsanwaltschaften beaufsichtigen. Ins Zentrum der politischen Auseinandersetzung rückte diese Frage im Gefolge eines mit allen, auch gesetzwidrigen Mitteln ausgetragenen Streits zwischen der neuen Staatsanwaltschaft einerseits und der ihr vorgesetzten Oberstaatsanwaltschaft und der ministeriellen Weisungsspitze andererseits. Die Verwaltungs- und Gerichtsverfahren sind diesbezüglich noch nicht rechtskräftig entschieden. Der Verfahrensrichter im Ibiza-Untersuchungsausschuss des Nationalrats wies im Entwurf seines Abschlussberichtes die politische Verantwortung für den ungelösten Konflikt den Justizministern Josef Moser und Clemens Jabloner zu.2 Nachdem die ÖVP vor allem nach Einrichtung des Weisungsrates jahrelang eine Neuordnung der Weisungsspitze als unnötig empfand, wechselte sie noch in der Ära Kurz 2021 ihren Standpunkt.3 Es hatte sich nämlich herausgestellt, dass auch eine von einem unabhängigen Weisungsrat gestaltete Aufsicht über die Staatsanwaltschaften von der Öffentlichkeit als nach wie vor parteipolitisch geprägt empfunden wurde – darüber hinaus wagte kein Minister mehr, eine vom Weisungsrat verschiedene Meinung zu vertreten und wirksam in andere Missstände, die nicht vor den Weisungsrat kamen, einzugreifen. Die Aufsicht des Ministeriums wurde völlig unwirksam, da nach dem justizinternen heftigen Konflikt, der bis heute unent-

1 Amtliche Bezeichnung: Zentrale Staatsanwaltschaft zur Verfolgung von Wirtschaftsstrafsachen und Korruption 2 Vgl. dazu meinen Beitrag im Jahrbuch für Politik 2021: „Wie aus politischen Unterstellungstribunalen wieder parlamentarische Untersuchungsausschüsse werden könnten“, S. 189 ff. 3 In der ORF-Sendung „Im Zentrum“ am 14.Juni 2021 gab ich bekannt, dass ich meine ablehnende Haltung zum Bundesstaatsanwalt geändert hätte, und nun diesen Vorschlag unterstütze. Wenige Tage später übernahm auch Sebastian Kurz diese Position.

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schieden vor den Behörden und Gerichten glimmt, sich kein Minister und kein Beamter mehr zumutet, in dieses Hornissennest zu greifen. So kam es schließlich zum eingangs zitierten Ministerratsbeschluss. Verfassungsministerin Karoline Edtstadler verband die Frage der Weisungsspitze mit einer zusätzlichen: dem Ausbau der Beschuldigtenrechte im Strafverfahren. Die Justizministerin ist seither mit vier weiteren Großbaustellen befasst: Bundesstaatsanwalt, Beschuldigtenrechte, Gestaltung des staatsanwaltlichen Vorverfahrens zur Wahrung des Grundrechts auf Unschuldsvermutung4, Kostenersätze für Freigesprochene oder letztlich Nicht-Angeklagte.5 Die Justizministerin setzt eine Arbeitsgruppe ein Die Justizministerin beauftragte im genannten Ministerratsbeschluss eine Arbeitsgruppe zur Schaffung einer unabhängigen und weisungsfreien Bundesstaatsanwaltschaft, nicht aber mit der Frage des Ausbaus der Beschuldigtenrechte.6 Die Arbeitsgruppe bestand aus 26 Mitgliedern, an der Spitze stand ein Sektionschef des Justizministeriums. Elf Mitglieder waren Richter und Staatsanwälte (de facto die gesamte Spitze der staatlichen Strafrechtspflege), fünf weitere waren Beamte des Justizministeriums, vier Vertreter anderer Ministerien, fünf Professoren und ein Vertreter der Rechtsanwälte. Vertreter des Gesetzgebers gehörten der Kommission nicht an. In der „Presse“ habe ich am 20. 9. 2022, nur wenige Tage nach der Veröffentlichung des Endberichts der Arbeitsgruppe unter dem Titel „Ein

4 Dieses war durch die seit Jahren immer stärker verbreitete Praxis notwendig geworden, das gesamte Vorverfahren ab Befassung der Staatsanwaltschaft durch eine Anzeige oder von Amts wegen öffentlich zu machen. So erwies sich die Unschuldsvermutung als totes Recht: mit der öffentlich gewordenen Ermittlungstätigkeit, die oft mehrere Jahre dauert, bis über eine Anklage entschieden wird (ab dann ist das Verfahren öffentlich), gilt der Beschuldigte schon als schuldig, eine „Gewissheit“, die sich immer mehr einprägt, je länger die Ermittlungen dauern. Wenn dann nach einem Jahr oder zwei das Verfahren eingestellt wird, oder später das Gericht einen Freispruch fällt, so nützt das nichts mehr – das (Vor)urteil „pickt“! Aus der Unschuldsvermutung wird so eine Schuldgewissheit. 5 Vgl. dazu die Ausführungen des stv. Präsidenten der Wiener Rechtsanwaltskammer Dr. Eric Heine in der „Presse“, Rechtspanorama vom 9. 1. 2023, S. 15 , der unter dem Titel „Gefahr im Ver­zug“ auf die ausstehenden dringlichen Gesetzesänderungen hinweist. 6 Alle Einzelheiten finden sich im Endbericht der Arbeitsgruppe vom 15. September 2022, veröffentlicht im Internet.

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Generalstaatsanwalt rückt näher“, den Bericht analysiert. Ich wiederhole im Folgenden weitgehend, was ich damals meinte: „Ein Generalstaatsanwalt (GenSta) soll also in Zukunft die Staatsanwaltschaften beaufsichtigen. Das Weisungsrecht soll vom Bundesminister für Justiz an dieses neue Organ gehen. Ein Expertenvorschlag, über den nun die fachliche und politische Diskussion beginnt. Um es in einem Satz zusammenzufassen: Der Vorschlag der Fachleute schließt das Parlament von der Bestellung dieses neuen Organs vollständig aus, die neue Weisungsspitze für das Anklagerecht der Republik ist ihm nicht verantwortlich und kann von ihm weder kontrolliert noch abberufen werden. Der Bundesregierung geht es nicht besser. Leitender Grundsatz der Experten: Schon der Anschein der Mitwirkung von Regierung oder Parlament gefährdet die Unabhängigkeit der Rechtspflege. Der GenSta soll vom Bundespräsidenten aufgrund eines Vorschlags eines besonderen Personalsenats ernannt werden. Diesem gehören ausschließlich Spitzen von Gerichtsbarkeit und Staatsanwaltschaften an. Bewerber müssen die Ernennungsvoraussetzungen für den richterlichen Dienst erfüllen. Ihm zur Seite stehen nach demselben Verfahren ernannte Generalanwälte. Sie alle sind weisungsfrei und unabhängig. Alle dienen bis zum Erreichen des Pensionsalters. Der GenSta ist daher nicht für eine bestimmte Amtsperiode bestellt. Er kann nur in einem Disziplinarverfahren abgesetzt werden, das dem Richter-Dienstrecht nachgebildet ist, ist also de facto unabsetzbar. Der Vorschlag sieht für dieses neue Oberste Organ im Wesentlichen zwei Aufgabengebiete vor. Aufsicht über die Staatsanwaltschaften und die bisherige Tätigkeit der Generalprokuratur. Die eine Aufgabe erfüllte bisher der Justizminister, die andere eben die Generalprokuratur beim Obersten Gerichtshof, zur Wahrung der Gesetzmäßigkeit der Justiz. Mit diesem Vorschlag setze ich mich heute nicht auseinander. Auch darüber wird aber noch zu diskutieren sein. Für das Aufsichtsrecht über die Staatsanwaltschaften schlagen die Fach­leute Dreiersenate vor. Sie schätzen, dass zwei Senate für die Einzelstrafsachen genügen. Der GenSta und sein Stellvertreter übernehmen jeweils den Vorsitz in einem Senat. Sie entscheiden mit Mehrheit. Die Be­r ichtspflichten der Staatsanwaltschaften werden bis ins Einzelne angesprochen. Für den Laien: Das regelt die Frage, bei welchen Entscheidungen die Staatsanwälte ihre übergeordneten Dienststellen und ggf. die Weisungsspitze um Geneh-

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migung der Strafverfolgung ersuchen müssen. Das ist fast alles erklärbar und nachvollziehbar. Breiten Raum nahm die Beratung über die parlamentarischen Kon­ trollrechte ein. Die Mehrheit rüttelte nicht am Anfragerecht des Nationalrats zu abgeschlossenen Strafsachen, also im Nachhinein. Weitergehendes wurde mehrheitlich abgelehnt. Insbesondere wurde der Vorschlag zurückgewiesen, einen ständigen Unterausschuss im Nationalrat einzurichten, in dem unter Ausschluss der Öffentlichkeit Berichte entgegengenommen und diskutiert werden – nach dem Vorbild bestehender Unterausschüsse z. B. im Bereich Verfassungsschutz. Der Bericht ist inhaltsreich und genau gearbeitet. Er bedeutet in jedem Fall einen wichtigen Schritt zur Verbesserung der derzeit unbefriedigenden Rechtspraxis. Da das Parlament eine entsprechende Verfassungsänderung mit Zweidrittelmehrheit beschließen müsste, ist nun die Diskussion eröffnet. Im Zentrum der Beratungen wird Bestellung, Kontrolle und Abberufung des GenSta stehen. Die Fachleute der Justiz haben sich in der Kommission durchgesetzt. Ihr oberster Leitgedanke: es sollte jeder Anschein parteipolitischer und generell politischer Parteilichkeit von vornherein vermieden werden – daher keine ministerielle und parlamentarische Mitwirkung und Kontrolle. Auch der Weisungsrat habe diesen Anschein nicht zerstören können und müsse daher fallen. Die GenSta wurde daher ganz bewusst nicht als weiteres Oberstes Organ der Vollziehung konstruiert, sondern als Organ der Gerichtsbarkeit, den Präsidenten der Höchstgerichte nachgebildet – mit einer weitreichenden Ausnahme: Die Präsidenten von Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshof werden von der Bundesregierung vorgeschlagen, die dafür an keinen anderen Vorschlag gebunden ist. Der Präsident des Obersten Gerichtshofs, auf Vorschlag des Justizministers, der seinerseits einen Vorschlag des OGH erhält, aber nicht daran gebunden ist. Ein ähnliches „politisches“ Vorschlagsrecht gibt es beim GenSta nicht. Diese Regeln bedeuten, dass Richter und Staatsanwälte allein den GenSta vorschlagen, der aus ihren Reihen kommen muss. Wieweit diese neue Einrichtung dem demokratischen Prinzip unserer Verfassung entspricht, wird zu diskutieren sein. Manche werden gar behaupten, diese Durchbrechung der Systematik unserer Verfassung käme ihrer Gesamtänderung gleich. Die Staatsanwaltschaften sind Organe der ordent-

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lichen Gerichtsbarkeit, aber an die Weisungen ihrer Vorgesetzten gebunden – sie sind also keine weisungsfreien Richter, ihre Aufgabe ist die Ermittlungstätigkeit und die Anklagefunktion. Sie sind und bleiben Teil der Justizverwaltung. Die neue Weisungsspitze müsste daher zwar ein oberstes Organ der Vollziehung, also der Verwaltung sein, ist aber als Teil der Gerichtsbarkeit ausgebildet.“ Soweit das Eigenzitat aus der „Presse“. Die Justizministerin Alma Zadić machte in der Folge den Vorschlag der Arbeitsgruppe zu ihrem eigenen. Für den Regierungspartner nahm die Verfassungsministerin und karenzierte Staatsanwältin Karoline Edtstadler Stellung. Die Neuordnung der Weisungsspitze begrüßte sie. Den Begriff Generalstaatsanwalt lehnte sie ab. Der Ministerrat habe sich für die Bezeichnung Bundesstaatsanwalt entschieden. Dabei wolle sie bleiben. An die Stelle der vorgeschlagenen Dreiersenate zur Ausübung des Weisungsrechts schlägt sie eine Einzelperson, den Bundestaatsanwalt (von mir in der Folge abgekürzt „BuSta“ genannt) vor. Der BuSta sollte vom Hauptausschuss des Nationalrats in einem Verfahren gewählt und abberufen werden, das dem Amt des Rechnungshofpräsidenten nachgebildet ist. Insoweit folgt Edtstadler dem oben dargestellten Vorschlag von Schnizer im Österreich-Konvent. Die Verfassungsministerin kündigte auch an, die Beschlussfassung über die Einrichtung eines BuSta mit einer gleichzeitigen Beschlussfassung über den Ausbau der Beschuldigtenrechte zu verbinden – so wie dies im Ministerratsbeschluss vorgesehen sei. Österreich – eine Demokratie oder auf dem Weg zum Richterstaat? Im Folgenden werden wichtige Einzelheiten des Berichtes der Arbeitsgruppe (künftig: AG) bewertet und manchen Vorschlägen Gegenvorschläge gegenübergestellt. Viele Einzelheiten sind nicht zu kritisieren, wie die Festlegung von Organisation, Teilen der Funktionen, der Dienstausübung, der Rechtsmittel. In folgenden Punkten kann dem Bericht nicht gefolgt werden.

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Bundes- oder Generalstaatsanwaltschaft, Generalprokuratur Die AG schlägt mehrheitlich „Generalstaatsanwaltschaft“ vor. In Österreich seien alle Staatsanwälte Bundesbedienstete, das höchste Strafgericht ist der Oberste Gerichtshof und nicht wie in Deutschland ein Bundesgerichtshof; die Kritik an einer missverständlichen Anlehnung an die deutsche Bezeichnung schimmert durch. Die Frage ist nicht nur eine Geschmacksfrage. Die AG schlägt nämlich –, auch hier nicht einstimmig – vor, die Generalprokuratur vom Obersten Gerichtshof abzuziehen und der neuen Behörde zu unterstellen. Diese Frage ist nicht diskutiert worden. Im Hinblick auf die Funktion der Generalprokuratur, die über ein besonderes Instrument zur Wahrung der objektiven Gesetzmäßigkeit verfügt, die Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes, sollte diese Funktion beim OGH angesiedelt bleiben. Bundesstaatsanwalt bedeutet, dass er für ganz Österreich zuständig ist. Es kann bei dieser Bezeichnung kein Missverständnis entstehen. Dreier-Senat oder Einzelperson als Spitze? Der Ministerratsbeschluss sieht eher eine Einzelspitze vor, also ein monokratisches Oberstes Organ, wie im Schnizer-Vorschlag dem Rechnungshof-Präsidenten nachgebildet. Manchen internationalen Vorbildern folgend, kommt die Mehrheit der AG zu einem Dreiersenat, mehreren Dreiersenaten im Bedarfsfall. Im Hinblick auf die Konstruktion der neuen Weisungsspitze als Oberstes Organ im Sinne unseres Verfassungsgefüges eher einem Regierungsmitglied gleichgestellt als einem Höchstgericht ist der Einzelperson der Vorzug zu geben. Dies schafft auch klare Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten. Die Argumente, die gegen die Einführung einer „Dissenting Opinion“, also einer abweichenden Meinung beim Verfassungsgerichtshof sprechen, gelten auch hier. Die Einwände, dass bei Dreiersenaten sofort die Frage nach dem Parteien-Proporz wie bei der Volksanwaltschaft gestellt wird, sind nicht ohne Substanz. Die AG versucht bei allen Vorschlägen schon den Anschein der Nähe zur Politik zu vermeiden. Hier ist sie inkonsequent. Die AG schlägt weiters, auch hier nicht einstimmig vor, dass nur Richter oder Staatsanwälte eine Funktion in den Dreiersenaten

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und an der Spitze der neuen Behörde einnehmen können. Auch diese Frage wirft die weiter unten gestellte Problematik des Richterstaats auf. Bestellung durchs Parlament oder durch gerichtsähnlichen Personalsenat? Dies ist die entscheidende und grundsätzlichste Frage. Die AG schlägt, vereinfacht dargestellt, Auswahl und Vorschlagsrecht eines Senats vor, der aus Spitzen der Gerichte und Staatsanwaltschaften gebildet wird. Diese Justizbeamten schlagen am Parlament vorbei die Weisungsspitze in der Strafgerichtsbarkeit vor und behalten die Funktion sich selbst vor. Der Bundespräsident ist an den Vorschlag dieses gerichtsähnlichen Organs gebunden. Er kann den Vorschlag nur annehmen oder ablehnen – eine Minimalbefugnis. Abberufen kann der neue „Zweite Justizminister“ nur nach den Regeln des Richterdienstrechts werden, ist also de facto aus politischen Gründen nicht abberufbar. Die Kontrolle des Parlaments ist auf eine Diskussion im Nachhinein beschränkt. Mehrheitlich ist die AG auch dafür, die Tätigkeit des GenSta nicht auf eine bestimmte Amtsdauer zu beschränken. Auch hier soll das Richterdienstrecht gelten: Erst mit dem Pensionsalter von 65 endet die Funktion eines Bestellten. Zur Begründung für die Ausschaltung jeglichen geregelten politischen Einflusses durch Mitwirkung und wirksame Kontrolle sowie Abberufungsrechte wird durchgängig darauf hingewiesen, dass nicht einmal der Anschein einer politischen Abhängigkeit entstehen dürfte. Diese Ausschaltung vor allem des Parlaments und der Bundesregierung sowie die „Zurechtstutzung“ des Bundespräsidenten bei der Ernennung widerspricht der demokratischen Grundordnung unseres Landes: der repräsentativen parla­ men­tarischen Demokratie. Ohne es zu reflektieren oder gar zu diskutieren, reiht sich die AG in die immer weiter verbreitete Kritik am Parlament ein. Der Ansehensverlust des Parlaments, im Demokratiemonitor gemessen, schlägt durch. An die Stelle der Sehnsucht nach einem „starken Mann“ tritt hier die Sehnsucht nach einem Richterstaat. In ihm werden wesentliche politische Entscheidungen von Richtern getroffen, nach ihren eigenen Wertvorstellungen, also auch nach ihren politischen Überzeugungen entscheiden. Denn auch Richter haben politische Überzeugungen, die aber

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nicht transparent werden und Entscheidungsgrundlage für ihre Bestellung darstellen. Richter werden nach diesen Vorstellungen von anderen Richtern ausgebildet und bestellt, ohne Mitwirkung politischer Organe. In der parlamentarischen Demokratie sind aber alle Staatsorgane dem Parlament verantwortlich – nur für die Kontrolle der Gesetzmäßigkeit sind unabhängige und in dieser Funktion weisungsfreie Richter zuständig. Sie sind an die vom Parlament beschlossenen Gesetze gebunden, also indirekt auch dem Parlament unterstellt. Das parlamentarisch-demokratische Modell des Bundesstaatsanwalts, wie es beispielsweise Johannes Schnizer für den Österreich-Konvent entwickelt hat (siehe oben) entspricht der österreichischen Verfassung besser, und ist in allen Details dem Modell der AG vorzuziehen: mit 2/3-Mehrheit vom Nationalrat gewählt, nicht nur auf Richter und Staatsanwälte beschränkt, 12-jährige Amtsdauer ohne Wiederwahl, Abberufung nach dem Modell des Rechnungshofs. So meinte auch der Präsident des Verfassungsgerichtshofs Christoph Grabenwarter in einem Interview in der Tageszeitung „Kurier“ am 2. Jänner 2023 zur Frage: „Die Regierung will einen Bundesstaatsanwalt als neue Weisungsspitze im Strafverfahren. Was halten Sie davon?“ Antwort: „Ich habe es nicht als Defizit empfunden, dass die Spitze bei der Justizministerin ist. Im Finale der Debatte und mit Blick auf den Bauplan der Verfassung bitte ich aber darum, das Prinzip nicht aus dem Blick zu verlieren, dass auch die Strafverfolgungsbehörde der Kontrolle und Verantwortlichkeit des Parlaments unterliegt.“ Letzten Endes muss das Parlament die Entscheidung fällen, ob die neue Einrichtung nach dem Modell eines Richterstaats oder der parlamentarischen Demokratie eingerichtet wird.

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Medien „Die einzige Konstante ist die Veränderung im Universum“ Zu Beginn des neuen Jahres standen heimische Medien vor der größten Herausfor­ derung seit Jahrzehnten. Neben der immer weiter voranschreitenden Digitalisierung sehen sich Medienmacherinnen und Medienmacher auch mit den Folgen von Corona, den Auswirkungen des russischen Angriffskriegs, der Energiekrise und nicht zuletzt dem geänderten Medienverhalten der Konsumentinnen und Konsumenten konfrontiert – und müssen Lösungen besser heute als morgen anbieten.

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Dem griechischen Philosophen Heraklit mit dem titelgebenden Zitat dieses Beitrags kommt hier zeitlose Bedeutung zu, insbesondere im Bereich der Medienpolitik. Die Produktion, der Vertrieb, die damit zusammenhängende Logistik, die unterschiedlichen Medien-Kanäle und daher nicht zuletzt auch unser gesamter Medienkonsum sehen heute gänzlich anders aus, als noch vor 10 oder 20 Jahren. Vielleicht muss man nicht einmal so weit gehen und Jahrzehnte heranziehen. Hat nicht auch die Pandemie ihren beschleunigenden Beitrag zur tiefgreifenden Veränderung unseres Mediennutzungsverhaltens geleistet? Wie wird es in den nächsten fünf Jahren aussehen? Welche (vermutlich noch größere) Rolle werden digitale Plattformen in Zukunft einnehmen? Wie werden sich neue Technologien in den Alltag von Redaktionen integrieren? Welche Auswirkungen werden sie auf unseren Privat- und Arbeitsalltag haben? Viele Fragen, viele Ansätze, viele Denkrichtungen. Jedenfalls bedarf es einer laufenden Überprüfung, ob die notwendigen Rahmenbedingungen für Medienunternehmen noch aktuell sind. Insbesondere im Hinblick darauf, ob diese Rahmenbedingungen den Anforderungen der jeweiligen Zeit und nicht zuletzt unseren gesellschafts- und demokratiepolitischen Ansprüchen an einzelne Medien sowie den gesamten Medienstandort noch genügen. Medienstandort Österreich – ein hohes Gut Geographisch und sprachlich betrachtet, teilt sich Österreich mit Deutschland einen ungefähr zehnmal so großen gleichsprachigen Medienmarkt. Mit dem Nachbarn Schweiz sogar einen beinahe gleich großen. Neben dem Medienmarkt, teilt man sich jedenfalls mit beiden auch einige weitere verwobene Herausforderungen, die neben dem Trend zur Digitalisierung auch rein ökonomische Facetten aufweisen. Und doch geht es neben wirtschaftlichen und technischen Herausforderungen einzelner Unternehmen ordnungspolitisch auch immer um ein Spezifikum: die österreichische Identität. Diese ist unabdingbar mit der heimischen Medienpolitik verbunden, und die Thesen und Konzepte dazu sind zahlreich. Dabei kann bei allen festgehalten werden, dass es doch ein bestimmtes „Wir-Gefühl“ gibt. Es ist dieses Gefühl, das „Spürbare“, das uns

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auf den unterschiedlichsten Ebenen verbindet, das aber auch jede Österreicherin und jeder Österreicher für sich in ganz unterschiedlichen Formen und Ausprägungen – manches Mal bewusst und dann auch wieder vollkommen unbewusst – spürt und wahrnimmt. Heimische Medien spielen in der Herausbildung und Weitergabe dieser österreichischen Identität eine wichtige Rolle. Denn erst durch sie und ihren Versuch der Beschreibung, Deutung oder Einordnung der Dinge, die uns wichtig sind und uns beschäftigen, konnte sich ein gesamtgesellschaftlicher Diskurs darüber herausbilden, was die österreichische Identität ausmacht, was sie prägt und formt. Durch diese wichtige gesellschaftliche Funktion der Medien wurde die österreichische Identität nachhaltig geprägt und der Diskurs darüber über Generationen hinweg weitergeführt und damit stetig gefestigt. Einzelne Medien und die heimische Medienlandschaft an sich haben dementsprechend eine zentrale gesellschaftliche Aufgabe, der sie auch in Zukunft bestmöglich nachkommen können sollen. Sie sind einer der wesentlichen Anker unserer Identität und sorgen dafür, dass der gesellschaftliche Diskurs über die österreichische Identität auch in Zukunft kontinuierlich weitergeführt werden kann – und das insbesondere in einem sich stetig verändernden Umfeld und unter sich laufend erschwerenden Bedingungen. Denn die Herausforderungen für die Redaktionen sind enorm. Die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs sind nicht nur thematisch, sondern auch ganz praktisch zu spüren. Unter anderem durch die Vervielfältigung der Papierpreise als Folge der steigenden Energiepreise und nicht zuletzt auch durch die Beklemmung, die ein Krieg auf europäischem Boden in uns allen auslöst. Wir schaffen den Rahmen, selbst in Krisenzeiten Aufgabe der Medienpolitik ist es, die Rahmenbedingungen für einen nachhaltigen Medienstandort zu schaffen. Wie können wir für unser Land den aktuellen Veränderungen begegnen, ihnen, falls notwendig, entgegenwirken und dabei die nötige demokratiepolitische Verantwortung übernehmen? Das alles auch immer im Lichte des Unionsrechts und der aus Dynamik heraus, dass die Europäische Kommission über die letzten Jahre hinweg immer mehr Freude an EU-weiter Medienregulierung entdeckt hat. Hier geht

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es auch insbesondere darum, die österreichische Identität unseres Medienmarktes zu erhalten, entsprechend weiterhin von anderen Ländern zu lernen und gleichzeitig stets die Robustheit unseres Medienstandorts weiterzuentwickeln. Was wir vielleicht auch gerne übersehen ist, dass vor drei Jahren unsere Welt von einem Tag auf den anderen vollkommen auf den Kopf gestellt wurde: Corona und die Folgen der Pandemie haben uns vor bisher unbekannte Herausforderungen gestellt. Hier hat die Bundesregierunga mehrfach versucht, das Them für verschiedene Branchen abzufedern. Wichtig war natürlich schnell einzugreifen und Sicherheit zu geben, gleichzeitig die Lage stets neu einschätzen zu müssen und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, um unseren Alltag auch in der Pandemie bestmöglich zu organisieren. Auch der Mediensektor war natürlich davon betroffen – wirtschaftlich und sozial. Redaktionen mussten ihre Organisation komplett umstel­len, einige haben sich im Homeoffice einquartiert, Filmproduktionen mussten neue Wege finden, und insgesamt wurde die Resilienz-Fähigkeit aller massiv auf die Probe gestellt. Wichtig war auch hier eine schnelle Unterstützung. Im Dialog wurden Unterstützungspakete für Privatmedien, den Privatrundfunk und nicht-kommerzielle Medien geschnürt. Die wirtschaftliche Einnahmekomponente der einzelnen Medienhäuser wurde zudem durch den sich verändernden Werbemarkt ebenfalls auf eine Belastungsprobe gestellt. Was ist der Leser, die Leserin bereit für den Konsum von Nachrichten zu bezahlen? Wo und wie konsumiert der Leser, die Leserin? Auf der Suche nach Antworten geht es schließlich stets darum, Fragen zu stellen: Wie kann der Medienstandort sich weiterentwickeln? Wie sieht er in einigen Jahren aus? Was müssen wir heute tun, damit wir unser Ziel in der Zukunft erreichen? Es geht schließlich um Journalismus in einem neuen Umfeld, um die Tragfähigkeit der Unternehmen und um Medienkompetenz auf der anderen Seite. Auch die zunehmende Digitalisierung der gesamten Medienlandschaft, unserer Arbeits- und Lebenswelten, aber auch unser veränderter Medienkonsum, zum Beispiel durch digitale Streams, fordern von Medien kontinuierliche Veränderungen und Anpassungen. Denn nicht zuletzt durch die voranschreitende Verschiebung des Hauptabsatzmarktes der eigenen Pro-

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dukte in den digitalen Raum stehen österreichische Medien, Verlage und Rundfunkunternehmen mit der Konkurrenz aus einem zehnmal so großen, gleichsprachigen Nachbarland sowie digitalen Weltmarktführern und international agierenden Kommunikationsplattformen in einem ungleichen und stetig wachsenden Wettbewerb. Die Österreichische Bundesregierung hat es sich zur Aufgabe gemacht, in diesem Bereich die Rahmenbedingungen weiterzuentwickeln, um die Konkurrenzfähigkeit österreichischer Medienunternehmen zu verbessern. So wurde der „Fonds zur Förderung der digitalen Transformation“ geboren. Man darf hier darauf hinweisen, dass dem ganzen Unterfangen ein langer und intensiver Verhandlungs- und Harmonisierungsprozess vorausgegangen ist. Im ersten Auszahlungsjahr konnten dementsprechend rund 54 Millionen Euro ausbezahlt werden, zukünftig stehen hierfür 20 Millionen Euro pro Jahr zur Verfügung. Bei den einzelnen Projekten geht es einerseits um Maßnahmen zur Transformation und den Ausbau der Digitalisierung der Medienlandschaft und andererseits um die Stärkung der journalistischen Tätigkeit, die Aus-, Fort- und Weiterbildung von journalistischen Mitarbeitern im Digitalbereich sowie um die Erhöhung des Jugendschutzes und der Barrierefreiheit im digitalen Raum. Leider werden, sobald es um Digitalisierung und internationalen Wettbewerb mit Onlineplattformen geht, nur allzu leicht die lokalen und regionalen Inhalte und Gepflogenheiten übersehen. Die Konsumentinnen und Konsumenten sollen natürlich auch im Digitalzeitalter und über Onlineplattformen weiterhin Zugang zu diesen Inhalten haben. So darf in diesem Kontext auch auf Sonja Luef und Andy Kaltenbrunner verwiesen werden, die im Journalismus-Report das Thema Lokaljournalismus in Österreich beleuchten und hierbei auch den Soziologen Ulrich Beck (1998) zitieren, der hier vom Phänomen der „Glokalisierung“ spricht, der globalen und lokalen Vernetzung, die sich gegenseitig eher bestärken als einander entgegenwirken. Insbesondere Österreich hat hier über die Jahre hinweg einen starken Lokaljournalismus entwickelt, der auch in Zeiten der Digitalisierung standhaft demokratiepolitische Wichtigkeit einnimmt.

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Innovation(en) in Kunst und Medien Einen weiteren Meilenstein konnten wir im Rahmen der Neuaufstellung der Filmförderung erreichen und damit im Schulterschluss über viele Ressorts hinweg einen langersehnten Wunsch der Film- und Kulturbranche erfüllen. Hier geht es insbesondere darum, den österreichischen Charakter, den österreichischen Film zu unterstützen und hier ein Augenmerk darauf zu legen, wie einzigartig und herausragend österreichische Kreativleistungen sein können. In diesem Bereich ging es uns darum –, vor allem mit der Perspektive auf den gesamten österreichischen Medienstandort –, auch im Vergleich mit benachbarten, wohl auch günstigeren Produktionsstandorten wieder wettbewerbsfähiger zu werden. Wir sehen bereits jetzt, wie Österreich hier internationale Film- und Serienproduktionen vermehrt anzieht und dahingehend auch verschiedene angrenzende Branchen belebt. Ich kann Ihnen daher nur raten: Schauen Sie bei einem Ihrer nächsten Kinobesuche wieder einmal bewusst den Abspann an. Bestimmt fällt Ihnen dann auch das eine oder andere bekannte Symbol einer österreichischen Filmförderungsinstitution auf. Und auch in Zukunft haben wir im Bereich der Filmförderung mit dem Instrument des „Medienfonds“ vor, den ungleichen Wettbewerb zwischen internationalen digitalen Streaming-Plattformen und heimischen Filmproduzentinnen und Filmproduzenten etwas gerechter zu gestalten. Dieser hat zum Ziel, dass umsatzstarke internationale Abrufdienste-Anbieter einen finanziellen Beitrag in den neuen Fonds einzahlen und Streaming-Plattformen dazu verpflichtet werden sollen, in österreichische Werke zu investieren. Damit fördern und sichern wir auch zukünftig die österreichische Kunst und Kultur durch mehr österreichische Werke und festigen damit heimische Identität, gerade auch im digitalen Medienbereich. Es bleibt aber auch abzuwarten und zu evaluieren, wie die vorhin beschriebene Neuaufstellung der Filmförderung den heimischen Filmstandort prägt. Insgesamt muss darauf hingewiesen werden, dass Regulierungsmaßnahmen mit globalen Phänomenen und technologischen Entwicklungen immer schwerer mithalten können, da sie mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten auftreten und sich globale Umwälzungen von politischen Diskussionen oder unterschiedlichen Zielvorstellungen nicht aufhalten lassen. Beispielsweise haben wir über die letzten Jahre hinweg, einen enormen Anstieg von Fake News, aber auch von geplanten Desinformations-

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kampagnen erlebt. Desinformation zeichnet sich vor allem durch die Intention des Absenders aus, eine Form der Destabilisierung zu erreichen. Gerade im Zuge des Ukraine-Krieges zeigt sich, wie Journalismus, Medien und Propaganda gezielt genutzt werden. Es geht in diesem Kontext den Machthabern nicht darum, die Wahrheit zu verbreiten, sondern die Bevölkerung für sich und die eigenen Pläne zu gewinnen. Österreich ist in diesem Kontext durch seinen starken gelebten Journalismus und vor allem durch Selbstregulierungs-Organe zum Glück gut aufgestellt. Doch Desinformation findet meist nicht über klassische Kanäle statt. Vielmehr wird versucht „Narrative“ gezielt über Online-Plattformen oder Messaging Apps einzusetzen und damit den allgemeinen Diskurs zu beeinflussen. Was können Medien dagegen unternehmen? Weiterhin ihren so wichtigen Beitrag zur Demokratie leisten und das tun, was sie am besten können: Objektiven und qualitativ hochwertigen Journalismus anbieten! Auch wenn die Form, wie Nachrichten produziert und konsumiert werden, starken Veränderungen ausgesetzt ist, braucht es jedenfalls einen gelebten unabhängigen, kritischen und neutralen Geist, der auch mit der Zeit geht und Veränderungen einordnet und vielleicht sogar den Anstoß dazu gibt. Demokratie geht nicht ohne Diskurs, und Diskurs wird angestoßen durch Journalismus. Stärkung des Journalismus und Nachschärfung in der Medientransparenz Und um diesen objektiven Journalismus finanzieren, damit die Eigenständigkeit der Medienunternehmen garantieren zu können und gleichzeitig die Medienvielfalt in Österreich abzusichern, haben wir mit dem Entwurf zur neuen Medienförderung einen ersten Schritt im Sinne des österreichischen Medienstandorts und des qualitätsvollen Journalismus gemacht. Innerhalb weniger Monate konnten wir dabei gemeinsam mit der heimischen Medienbranche und den wichtigsten Expertinnen und Experten aus der Medien-Wissenschaft & Forschung, der Werbe-, Rechts- und Vergabepraxis sowie Vertreterinnen und Vertretern der Sozialpartner, Länder und Gemeinden nicht nur die bestehenden Förderinstrumente und -töpfe analysieren, sondern auch ein komplett neues Fördersystem mit insgesamt 20 Millionen

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Euro pro Jahr auf die Beine stellen. Dieser Betrag wird den Qualitätsjournalismus, der sich in qualitativ hochwertigen Rahmenbedingungen besonders entfalten kann (ordentliche Anstellungsverhältnisse, Fehlermanagementund Qualitätssicherungssysteme, Frauenförderpläne, usw.), unabhängig von der Erscheinungsweise und der Medienkanäle (Print oder online) unterstützen und die bisherige Presseförderung in diesem Bereich ergänzen, um journalistische Arbeitsplätze abzusichern, vielfältige Medieninhalte und Medienunternehmen sicherzustellen sowie die professionellen journalistischen Rahmenbedingungen in heimischen Medienbetrieben zu fördern und auch zukünftig auszubauen. Gleichzeitig wird ein lang herbeigesehnter und notwendig gewordener Lückenschluss im Bereich der Medientransparenz vollzogen, wodurch die lückenlose Transparenz bei Aufträgen öffentlich-rechtlicher Rechtsträger betreffend Werbeleistungen sowie die Einhaltung des Sachinformationsgebots bei Medienschaltungen sichergestellt werden wird. Dabei verfolgen wir mit mehr Nachweispflichten und Transparenzbestimmungen das Ziel, die Vergabe von entgeltlichen Einschaltungen durch öffentliche Rechtsträger lückenlos und nachvollziehbar darzulegen sowie für die Öffentlichkeit besser vergleichbar zu machen. Mit diesen beiden wichtigen Gesetzesinitiativen schaffen wir neue, aber auch verbesserte Rahmenbedingungen – finanziell wie organisatorisch –, um freie und unabhängige Medien, die Meinungsvielfalt auch in der Medienlandschaft, Pressefreiheit und öffentliche Kon­ trollfunktion durch Qualitäts- und Investigativ-Journalismus zu sichern und auszubauen. Zukunft der Wiener Zeitung Darüber hinaus haben wir mit dem Transformationsprozess der Wiener Zeitung, der aufgrund der Abschaffung der Pflichtveröffentlichungen und der Digitalisierung des Amtsblattes notwendig wurde, ein richtungsweisendes Projekt gestartet, welches nicht nur Unternehmen wirtschaftlich entlastet, sondern auch dem gesamten heimischen Medienmarkt zugutekommt. Denn für uns war immer klar, dass wenn der Staat mit Steuergeld ein Medienunternehmen betreibt, dieses Unternehmen einen öffentlichen Auftrag benötigt, in Ergänzung und zu Unterstützung von privaten Anbietern, nicht in

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Susanne Raab    |   Medien

Konkurrenz. Die Wiener Zeitung bleibt als Medium und mit unabhängiger Redaktion weiter erhalten und wird fit fürs digitale Zeitalter gemacht. Es wird zusätzlich zum „digitalen schwarzen Brett der Republik“ in Zukunft das Hauptaugenmerk bei der Wiener Zeitung auf zwei Säulen liegen: der Wiener Zeitung als Online- und Printprodukt sowie als Weiterbildungsinstitut für den österreichischen Journalismus. Bereits jetzt gibt es in der Wiener Zeitung ein ausgezeichnetes Modell einer professionellen Journalistenausbildung. Dieses Modell wird noch einmal deutlich ausgebaut, um auch andere österreichische Medien zu unterstützen. Dabei werden junge Menschen nicht nur in allen Bereichen des klassischen und digitalen Journalismus unterrichtet, sondern durchlaufen alle Bereiche der Medienwirtschaft und haben bei diesem Traineeship auch die Möglichkeit, bei anderen privaten Medien zu arbeiten. Hier bleibt festzuhalten: Es handelt sich dabei um kollektivvertragliche Festanstellungen bei der Wiener Zeitung mit dem Ziel einer holistischen und modernen Ausbildungsrotation. Des Weiteren werden die aufgenommenen Teilnehmerinnen bzw. Teilnehmer über bereits bestehende Ausbildungsmöglichkeiten bzw. über Kooperationen ebenfalls die Möglichkeit haben, verschiedene Angebote dahingehend zu nutzen. Abgerundet und ergänzt wird das Konzept („Media Hub Austria“) auch durch die Möglichkeit für Berufseinsteigende, Gründende, aber auch Quereinsteigende, innovative Ideen auszuprobieren und mithilfe von Partnern auch umzusetzen. Damit wird auch die gelebte Veränderung in diesem Bereich verankert und konstant am technologischen Vorsprung gearbeitet. Resümee Gerade in Zeiten wie diesen sind ein starker heimischer Medienstandort und unabhängige Redaktionen für die Demokratie wichtiger denn je. Als Politik wünschen wir uns und brauchen wir unabhängige Medien als vierte Säule der Demokratie und als Korrektiv und kritische Antreiber für unsere tägliche Arbeit. In Österreich haben wir zum Glück bereits sehr starke und etablierte Strukturen, das zeigen nicht zuletzt unzählige Kooperationen österreichischer und ausländischer Medien bei unterschiedlichsten internationalen Recherchen in den verschiedensten Bereichen. Daher ist es aus meiner Sicht nur logisch und richtig, dass wir auch in Zukunft versuchen

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werden, dafür Sorge zu tragen, dass Medien ihrer wichtigen gesellschaftspolitischen Aufgabe – abseits der Berichterstattung über aktuelles politisches, soziales und wirtschaftliches Geschehen und dessen Einordnung und Kommentierung, nämlich auch der Prägung und Weitergabe unserer österreichischen Identität –, bestmöglich nachkommen können sollen ­– rechtlich, kulturell und auch finanziell.

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Herwig Hösele

Von Hermann Schützenhöfer zu Christopher Drexler Ein gelungener Landeshauptmannwechsel angesichts volatiler Wählerschaft Der Landeshauptmann-Wechsel in der Steiermark von Hermann Schützenhöfer zu Christopher Drexler am 4. Juli 2022 ist bilderbuchartig gelungen. Der Wunschkandidat des abgetretenen Landeshauptmannes konnte sein Amt bestens vorbereitet im besten Alter (51) antreten. Drexler überzeugte durch sein Agieren als Landeshauptmann in den ersten Monaten auch die vereinzelt immer noch vorhandenen innerparteilichen Skeptiker und hat nun ausreichend Zeit, um sich bis zum regulären Wahltermin 2024 zu profilieren. Angesichts der in der Steiermark besonders volatilen Wählerschaft und der schwierigen bundespolitischen Rahmenbedingungen hat sich Drexler mit großem Tempo an die Arbeit gemacht und als Wahlziel die Parole „Erster werden“ ausgegeben.

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Erfolgreiche Amtsübergaben in politischen Spitzenfunktionen sind eine Rarität. Meist zwingt eine Wahlniederlage zum Funktionswechsel, oft baut der Amtsinhaber bewusst keinen Nachfolger auf, nicht selten wird der richtige Zeitpunkt verpasst. Auf Bundesebene gelingt er in den seltensten Fällen, auf Landesebene öfter, aber eigentlich auch nicht mehrheitlich. Die am 4. Juli 2022 vollzogene Amtsübergabe Hermann Schützenhöfers an den an diesem Tag vom Steiermärkischen Landtag zum Landeshauptmann gewählten Christopher Drexler hingegen kann allem Anschein nach als „Bilderbuchbeispiel“ beschrieben werden. Ein überaus populär gewordener Landeshauptmann übergibt sein Amt ungefähr zur Mitte der Legislaturperiode an den von ihm sorgsam aufgebauten und bestens vorbereiteten Wunschnachfolger. Man muss auch in den Annalen der steirischen Landespolitik mehr als vier Jahrzehnte zurückblättern, um eine paralleles Beispiel zu finden. Es war ebenfalls ein 4. Juli, nämlich der des Jahres 1980, als Friedrich Niederl die Stafette an Josef Krainer jun. übergab. Krainer jun. wurde damals vom Landtag rund zwei Jahre nach der Landtagswahl 1978 zum Landeshauptmann gewählt und führte eine aus fünf ÖVP- und vier SPÖ-Mitgliedern gebildete Landesregierung, deren Zusammensetzung damals noch durch die Landesverfassung nach dem Proporz auf Basis des Wahlergebnisses festgelegt wurde . Christopher Drexler wurde ebenfalls vom Landtag drei Jahre nach der letzten Landtagswahl 2019 zum Landeshauptmann gewählt und steht an der Spitze einer aus fünf ÖVP- und drei SPÖ-Mitgliedern bestehenden Landesregierung, die sich allerdings nicht mehr im „Zwangsproporz“ zusammengesetzt hat, sondern aufgrund einer Modernisierung und Reform der Landesverfassung seit den Landtagswahlen 2015 durch freie Koalitionen gebildet wird. Seit damals kooperieren ÖVP und SPÖ auf freiwilliger Basis, nachdem sich schon ab 2010 in einer „Reformpartnerschaft“ eine vertrauensvolle Zusammenarbeit entwickelt hatte. Diese steirische VP/SPKoalition, die auch zahlreiche Reformprojekte umsetzte, wurde damit zum positiven Gegenentwurf zu den auf Bundesebene viel kritisierten SP/VPKoalitionen, die insbesondere mit Stillstand und Blockade in Verbindung gebracht wurden. Das steirische Beispiel zeigt, dass eine ehemals große, heute mittelgroße Koalition aus ÖVP und SPÖ nicht per se unerquicklich

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ist, sondern dass vieles vom gemeinsamen Willen und dem wechselseitigen Vertrauen abhängt. Die Landeshauptleute und Landtagswahlen seit 1945 Christopher Drexler ist der neunte Landeshauptmann der Steiermark seit der Wiederherstellung der demokratischen Zweiten Republik nach dem Ende des zerstörerischen Zweiten Weltkriegs in Europa und der Niederlage der bluttriefenden, menschenverachtenden, totalitären NS-Diktatur im Mai 1945. Der erste Landeshauptmann einer aus SP, VP und KP zusammengesetzten Landesregierung war von Mai bis Dezember 1945 der Sozialdemokrat Reinhard Machold, nicht zuletzt, weil die Sozialdemokratie bei den letzten freien Wahlen in der unglücklichen Ersten Republik in der Steier­mark stimmenstärkste Partei war. Bei den ersten Landtagswahlen am 25.  November 1945 errang die Volkspartei die absolute Mehrheit und stellte von nun an sechs Jahrzehnte hindurch den Landeshauptmann, zunächst von 1945–1948 mit dem Mürztaler Bauern Anton Pirchegger, der sein Amt krankheitshalber niederlegen musste. Ihm folgte von Juli 1948 bis zu seinem plötzlichen Tod bei der Fasanenjagd am 28. November 1971 der legendäre Josef Krainer sen. Dieser mit über 23 Jahren am längst dienenden Landeshauptmann der demokratischen Steiermark schlug sechs Landtagswahlen, die beiden ersten 1949 und 1953 aufgrund der politischen Großwetterlage und des Zusammenfallens der Wahltermine von Nationalrats- und Landtagswahl nicht sonderlich erfolgreich. 1949 verlor die Volkspartei aufgrund des Auftretens des FPÖ-Vorläufers VdU (Verband der Unabhängigen) ihre absolute Mehrheit, 1953 sogar die Stimmenmehrheit, lediglich die Wahlarithmetik rettete die Mandatsmehrheit der VP. Auch in der Landesregierung hatte die VP von 1949–1957 keine Mehrheit mehr, da ein VdU-Landesrat je vier Landesräten von VP und SP gegenüberstand. Daraus zog Krainer sen. die Konse­quenz, indem er die Parole ausgab: „Steirisch wählen heißt eigenständig wählen“. 1957 bis 1995 gabe es keine gemeinsamen Wahltage für Natio­nalrat und Landtag in der Steiermark mehr gab. Die ÖVP Steiermark war sorgsam bemüht, sich anders als die Bundespartei darzustellen, und profilierte sich immer mehr als eigenständig agierende Regionalpartei, die sich immer öfter Steirische Volkspartei nannte und nicht „Schwarz“, sondern die steirischen Landesfarben Weiß-Grün zu ihrem

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Farbcode machte. Krainer senior begründete damit das Selbstverständnis der Steirer-VP als kritische Reformkraft und konnte sich Stück für Stück in der Wählergunst vorarbeiten. 1957 wurde die Mehrheit in der Landesregierung zurückgewonnen, 1965 schaffte die VP erstmals wieder die absolute Mandatsmehrheit im Landtag und bei den Landtagswahlen am 15. März 1970 – 14 Tage, nachdem Bruno Kreisky bei den Nationalratswahlen sowohl österreichweit als auch in der Steiermark für die SPÖ die Stimmenmehrheit eroberte und eine dreißigjährige ununterbrochene SP-Kanzlerschaft einleitete – erzielte Krainer für die Steirer-VP sein stimmenprozentmäßig bestes Ergebnis. Auch wenn er Friedrich Niederl, der im Dezember 1971 als 51-Jähriger der vierte Landeshauptmann wurde, als seinen Nachfolger aufbaute, konnte Krainer durch seinen unerwarteten Tod keine geordnete Amtsübergabe vornehmen. 1974 zitterte die Steirer-VP daher mit Landeshauptmann Friedrich Niederl der Landtagswahl entgegen, zumal die SPÖ im Bund bereits die absolute Mehrheit innehatte. Und siehe da: Niederl und die VP erzielten eine absolute Stimmen- und Mandatsmehrheit. Dieser große Erfolg konnte bei den Landtagswahlen 1978 prolongiert werden, wodurch Niederl am 4. Juli 1980 sein Amt harmonisch an den 50 Jahre alten fünften Landeshauptmann Josef Krainer jun. weitergeben konnte, der dieses bis 23. Jänner 1996 innehatte. 1981 und 1986 konnte Krainer jun. die absolute Mehrheit verteidigen, 1991 verlor er durch das Erstarken der Haider-FPÖ sowohl im Landtag als auch in der Landesregierung, wo es nun wieder – wie schon in den 1950er-Jahren – 4:4:1 stand, die absolute Mehrheit. Die von Krainer jun. initiierte Zusammenlegung der Landtagswahlen mit den Nationalratswahlen im Dezember 1995 endete mit schweren Verlusten – die VP hatte bei Mandatsgleichstand stimmenmäßig nur knapp die Nase vorn. Die 50 jährige Waltraud Klasnic wurde nach dramatischen Verhandlungen die erste „Frau Landeshauptmann“ (wie sie angesprochen wurde). Österreichs und damit der sechste Landeshauptmann der Steiermark. Sie feierte mit der Steirer-VP 2000 einen großen Wahlerfolg, der unter anderem wieder die absolute Mehrheit in der Landesregierung brachte. 2005 kam es aber vor allem durch die Kandidatur des ehemaligen geschäftsführenden Landesparteiobmannes der Steirer-VP, Gerhard Hirschmann, gegen seine Mutterpartei zu einer schweren Niederlage, sodass die SPÖ mit dem damals 52-jährigen Franz Voves als siebentem Landeshauptmann nach 60 Jahren wieder die Landesspitze stellte. Hermann

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Schützenhöfer übernahm in dieser schwierigen Situation die Führung der Steirer-VP und konsolidierte sie wieder. Landespolitisch war die Legislaturperiode 2005–2010 durch eine harte Konfrontation SP-VP gekennzeichnet, wobei VP-Klubobmann Christopher Drexler als spitzzüngige Speerspitze der Angriffe fungierte. Das Landtagswahlergebnis 2010 mit stärkeren Verlusten der SP und geringeren der VP führte zum Umdenken. SP und VP bildeten die „Reformpartnerschaft“ und griffen zahlreiche heiße Eisen an: Verkleinerung des Landtags und der Landesregierung, Abschaffung des Regierungsproporzes, Zusammenlegung von Verwaltungsbezirken und -Einheiten, Gemeindestrukturreform (aus über 540 wurden rund 280 Gemeinden). So gingen die Reformpartner mit der festen Absicht in die Landtagswahl 2015, diese erfolgreiche Zusammenarbeit fortzusetzen. Die beginnende Migrationskrise brachte aber beiden schwere Verluste und nahezu drei gleich starke Landtagsparteien, die gerade einmal 16.000 Stimmen oder 2,5 Stimmenprozente auseinanderlagen und einen Mandatsstand von 15 (SP) und je 14 für VP und FP erreichten. Franz Voves sah die Gefahr, dass die SPÖ durch eine VP-FP-Kooperation in der nunmehr verfassungsmäßig möglichen freien Koalitionsbildung erstmals seit 70 Jahren aus der Landesregierung „gekippt“ werden könnte. Im Interesse der von ihm und Schützenhöfer angestrebten Fortsetzung der vertrauensvollen VP-SP-Zusammenarbeit schlug er vor, seinen Reformpartner beim Landtag im Juni 2015 zum Landeshauptmann zu wählen. Hermann Schützenhöfer wurde damit im Alter von 63 Jahren zum achten Landeshauptmann der Steiermark. VP und SP führten unter Schützenhöfer ihre Kooperation unter dem Titel „Zukunftspartnerschaft“ fort. Schützenhöfer krönte sein mehr als fünfzigjähriges Engagement als seriöser Vollblutpolitiker, der eigentlich rund um die Uhr für Land und Partei im Einsatz war, mit dem großen Erfolg bei der Landtagswahl im November 2019, bei der die VP klar stärkste Landtagspartei wurde und die SP mit 13 Prozent Abstand distanzierte. Die „Kleine Zeitung“ titelte „Der beglaubigte Landesvater“. Schützenhöfer setzte die Zusammenarbeit mit dem nunmehrigen SP-Spitzenexponenten Anton Lang fort. Nach den Rücktritten der angesehenen langjährigen VP-Landeshauptleute Josef Pühringer (Oberösterreich) und Erwin Pröll (Niederösterreich) wurde Schützenhöfer zum „Elder Statesman“ unter den VP-Landeschefs und setzte mit drei „Österreich 22“Konferenzen starke Akzente. Vor allem suchte er den richtigen Zeitpunkt,

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um seinem Wunsch-Nachfolger Christopher Drexler einen guten Start als Landeshauptmann zu ermöglichen. Am 4. Juli 2022 war es so weit. Sogar der Tag war genau überlegt und symbolhaft. Die letzte harmonische Amtsübergabe gab es eben auf den Tag genau vor 42 Jahren von Niederl an Krainer jun. Und der 4. Juli ist der USIndependence-Day. Sowohl Krainer jun. als auch Drexler waren bzw. sind große „US-Aficinados“, die sich intensiv mit der US-Politik und den Entwicklungen der Führungsmacht des freien Westens auseinandersetzten und als „Transatlantiker“ bezeichnet werden können, die trotz aller Schwächen der US-Demokratie das gemeinsame Werteband, geprägt von der Aufklärung, betonen. Parallele Lebensläufe – Drexler im besten LH-Alter Die Karrieren von Hermann Schützenhöfer und Christopher Drexler weisen viele auffällige Parallelen auf: Der politische „Selfmademan“ Schützenhöfer (Jg. 1952) startete als Sekretär und Landesobmann der Jungen ÖVP, wurde 1981 als 29-Jähriger Landtagsabgeordneter, war Landessekretär und Landesobmann der VP-Arbeitnehmer*innenbewegung ÖAAB, wurde VP-Landtagsklubobmann und schließlich im Jahr 2000 Landesregierungsmitglied. Christopher Drexler (Jg. 1971) wurde gut vorbereitet und als 51 Jähriger im „besten Alter“ Landeshauptmann – er trat sein Amt im ungefähr selben Lebensalter wie Friedrich Niederl, Josef Krainer jun., Waltraud Klasnic und Franz Voves an. Auch der umfassend gebildete, in Graz geborene Magister der Rechts­ wissenschaften Drexler startete seine politische Laufbahn in der Schülerbewegung und in der Jungen ÖVP, deren Landesobmann er wurde. Schön früh wurde Schützenhöfer auf ihn aufmerksam und machte ihn zu seinem Landessekretär im ÖAAB. Auch Gerhard Hirschmann erkannte rasch das große politische Talent Drexlers und bestellte ihn zum Geschäftsführer der Denkwerkstatt der Steirischen Volkspartei, „Modell Steiermark“, in der in einem sehr offenen Klima unkonventionelle und auch parteiunabhängige Denker interessante Impulse für die Zukunftsgestaltung geben. Im Zuge des Wahlerfolges von Waltraud Klasnic wurde er 2000 als 29-Jähriger Landtagsabgeordneter und über Klasnic’ Vorschlag 2003 VP-

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Landtagsklubobmann der Steirischen Volkspartei und damit eine der zentralen Persönlichkeiten der steirischen Politik. Hermann Schützenhöfer schlug sodann 2006, nachdem er die Obmannschaft der Steirischen Volkspartei übernommen hatte, Drexler zu seinem Nachfolger als Landesobmann des steirischen AAB vor. Drexler war zu diesem Zeitpunkt bereits seit Jahren der engste politische Vertraute Schützenhöfers und sein wichtigster Ratgeber. Als Landtagsklubobmann ritt der brillante Redner Drexler bis 2010 zahlreiche Attacken gegen die SPÖ und insbesondere gegen Franz Voves, den er stets „als derzeit amtierender Landeshauptmann“ bezeichnete und damit die Legitimität des Amtsinhabers anzweifelte. Dass Drexler damit polarisierte und auch viele Pfeile des politischen Gegenübers auf sich zog, lag in der Natur der Sache. Gleichzeitig profilierte er sich immer wieder auch mit Aussagen, die quer zum Mainstream des VP-Establishments lagen, insbesondere im Bereich der Gesellschaftspolitik. So trat er früh, nämlich 2004, offensiv für die „Homo-Ehe“ ein, eine Position, die ihm zunächst viel Kritik einbrachte und von der Bundespartei erst viele Jahre später akzeptiert wurde. Diese Aktivitäten brachten es mit sich, dass Drexler zunächst in den Popularitäts-Rankings nicht auf den vordersten Rängen lag. 2010 erfolgte nach den Landtagswahlen der Paradigmenwechsel in der steirischen Politik. Aus den erbitterten Gegnern der Jahre 2005–2010 wurden verschworene Reformer. Drexler war dabei strategischer Kopf und Regisseur der Reformpartnerschaft, der auch das uneingeschränkte Vertrauen des von ihm in den Jahren davor heftig attackierten Franz Voves erwarb. 2014 wurde Drexler Landesrat für Gesundheit, Spitäler, Pflege, Wissenschaft und Forschung. Dabei setzte er gegen viele Widerstände eines der wichtigsten Reformprojekte der steirischen Landespolitik der letzten Jahrzehnte, die Spitals- und Gesundheitsreform, konsequent um. Als Wissenschaftslandesrat konnte der Intellektuelle seine natürliche Nahebeziehung zu den hohen Schulen und deren Vertreter*innen ausleben. 2017 brachte eine Regierungsumbildung Drexler die Möglichkeit, sein Wunschressort Kunst und Kultur in sein Regierungsportfolio aufzunehmen – ein Ressort, das er auch als Landeshauptmann bewusst behielt. Bei der Regierungsbildung nach den Landtagswahlen 2019 setzte Landeshauptmann Schützenhöfer ein weiteres Zeichen dafür, dass er Drex-

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ler als Wunschnachfolger sah. Drexler konnte das schwierige Spitals- und Gesundheitsressort abgeben und erhielt dafür das mächtige Personalressort und die publikumsträchtigen Sportagenden. Bald nach den Landtagswahlen 2019 flackerten regelmäßig Spekulationen auf, ob und wann Schützenhöfer Drexler als Landeshauptmann installieren werde. Durch die COVID-Pandemie verstummten sie aber immer wieder und Schützenhöfer konnte seinen 70. Geburtstag im Frühjahr 2022 gleichsam am Zenit seiner politischen Laufbahn feiern. Danach stellte er die Weichen im engsten Kreis, sodass der Zeitpunkt der Bekanntgabe des Amtswechsels am 3. Juni 2022 für die meisten Beobachter eine echte Überraschung war. Drexler wurde am selben Tag im VP-Landesparteivorstand einstimmig als Landeshauptmannkandidat und geschäftsführender Landesparteiobmann nominiert. Schützenhöfer strich die zahlreichen Vorzüge Drexlers hervor, gleichzeitig entschlüpfte ihm der Satz: „An seiner Popularität werden wir noch ein bisschen arbeiten müssen.“ Dieser Satz war wohl insbesondere an jene Skeptiker in der Partei adressiert, die Drexlers große Kompetenz anerkannten, aber an seiner Volkstümlichkeit zweifelten. Und Drexler tat seit seiner Designierung alles, um dieses Vorurteil zu widerlegen. Er war den ganzen Sommer nach seiner Wahl durch den Landtag emsig in allen steirischen Bezirken unterwegs. Eine entscheidende Station war der Landesparteitag am 17. September 2022. Dort wurde Drexler nach einer fulminanten Grundsatzrede mit 98 Prozent in geheimer Abstimmung zum Landesparteiobmann gewählt. Er dürfte mit dieser Rede den größten Teil der Delegierten mitgerissen und nahezu alle Zweifler überzeugt haben. Das Team Drexlers Drexler kann sich als Landeshauptmann auf ein bewährtes Team in der Landesparteileitung mit Landesgeschäftsführer Detlev Eisel-Eiselsberg und Organisationsreferent Gerd Wilfling stützen und auf den von Barbara Riener geführten Landtagsklub. Sein Regierungsteam ergänzte er – nachdem durch den Rücktritt Schützenhöfers eine Position frei geworden war – um Werner Amon, dem

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er seit Schüler- und Jugendbewegungstagen verbunden ist. Amon, der in verschiedensten bundespolitischen Funktionen – Bundesobmann der Jungen ÖVP, ÖAAB- und ÖVP-Generalsekretär, Nationalratsabgeordneter, Volksanwalt – reiche Erfahrung gesammelt hatte, übernahm von Drexler das Personal- und Europaressort und zusätzlich die Bildungsagenden. Zum Regierungsteam gehören weiters die Wirtschafts-,Wissenschafts- und Tourismusreferentin Barbara Eibinger-Miedl, die auch stellvertretende ÖVP-Bundesparteiobfrau ist, die Gesundheitsreferentin Juliane Bogner-Strauß, die 2019 nach ihrer Tätigkeit als Familien- und Frauenministerin in die Landesregierung kam und Bundesleiterin der VP-Frauen ist, und Hans Seitinger, der seit 2003 die Agrar- und Wohnbauagenden führt. Gemeinsam mit diesem Team und in enger Abstimmung mit dem von Landeshauptmannstellvertreter Anton Lang angeführten Koalitionspartner SPÖ wird die politische Arbeit in der Steiermark beherzt fortgeführt. Erfreulich ist die wirtschaftliche Entwicklung des Landes – die Steiermark wurde in den letzten Jahren von einer Problemregion zu einer wirtschaftlichen Zukunftsregion mit innovativen Unternehmen, Top-Industriellen und florierendem Fremdenverkehr. Bei Wissenschaft und Forschung ist die Steiermark mit einer F&E-Quote von mehr als fünf Prozent weit über dem öster­reichischen Durchschnitt und unter den Top-3-Regionen Europas. Sorgen bereitet allerdings die Migrationskrise, bei der die Steiermark neben dem Burgenland Hauptbetroffene ist, und die Personalsituation im Gesundheits-, Pflege- und Bildungsbereich, beginnend bei der Elementarpädagogik. Das Migrationskrise- und Integrationsthema veranlasste auch den der Idee der Menschenrechte und Aufklärung in hohem Maße auch programmatisch verpflichteten neuen Landeshauptmann, eine Diskussion zu eröffnen, wieweit die Auslegung der Menschenrechtskonvention mit der aktuellen Migrationssituation in Europa kompatibel ist. Neben intensivierten Aktivitäten im Bereich Klimaschutz ist es Drexler ein besonderes Anliegen, das Bild der Steiermark auch in internationaler Wahrnehmung als lebenswerte, innovative und kreative Region der Vielfalt in allen Bereichen – von der Landschaft bis zu Kunst und Kultur – noch stärker zu konturieren. Ein Weg dazu ist die von ihm initiierte „SteiermarkSchau“, die ausschnittsweise und temporär auch am Wiener Heldenplatz, aber ebenso en miniature u. a. in New York zu sehen sein wird, wobei auf

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die traditionell reiche Kunstszene des Bundeslandes (steirischer herbst, Forum Stadtpark etc.) aufgebaut werden kann. Darüber hinaus will Drexler auch einen neuen programmatischen Zukunftsprozess für die Steiermark aufsetzen und dabei das Label des landespolitischen Langzeitprogramms der Steirer-VP „Modell Steiermark“ reaktivieren, das die inhaltlichen Diskussionen und die Leitlinien der steirischen Politik seit den 1970er-Jahren prägte. Ausblick auf die Landtagswahl 2024 – die Steiermark mit der volatilsten Wählerschaft Politische Beobachter spekulieren natürlich bereits darüber, wie die nächste – regulär im Spätherbst 2024 – stattfindende Landtagswahl wohl ausgehen wird. Faktum ist, dass bei den Landtagswahlen 2019, die der SteirerVP 36,05 % an Wählerstimmen und 18 Landtagsmandate einbrachten, noch kräftiger bundespolitischer Rückenwind durch Sebastian Kurz wehte. Die SP kam 2019 auf 23,02 % und 12 Mandate, die weiteren Parteien erhielte: FP 17,49 % (8 Mandate), Grüne 12,08 % (6), Grüne, KPÖ 5,99 % (2) und NEOS 5,37 % (2). Österreichweit zeigt sich, dass seit dem Kurz-Abgang trotz Landeshauptmann-Bonus in den Bundesländern die Rekordergebnisse nicht nur nicht zu halten sind, sondern dass es zum Teil saftige Verluste setzt. Drexler hat klugerweise die Devise „Erster werden“ ausgegeben und sich auf keine Prozentspielereien eingelassen. Veröffentlichte Umfragen von FPÖ und NEOS sind zwar mit Vorsicht zu genießen, deuten aber darauf hin, dass sich die Steiermark wieder der Situation der damals bereits von der beginnenden Migrationswelle gekennzeichneten Landtagswahl 2015 nähert, die bekanntlich drei nahezu gleich starke Parteien sah: SP 29,29 %, VP 28,45 %, FP 26,76 %. Dazu kommt, dass die Steiermark – wohl nicht zuletzt aufgrund des durch die fünf Universitäten und vier Hochschulen außerordentlich hohen Studierendenanteils an der Bevölkerung – die volatilste Wählerschaft Österreichs aufweist. Bei den letzten Gemeinderatswahlen in Graz 2021 hatte die KPÖ die Mehrheit. Diese als Sozialarbeiter- und Protestbewegung wahrgenommene Partei, die ihren totalitären ideologischen Kern geschickt zu verbergen sucht, ist seit mehreren Jahrzehnten ein steirisches Sonderphä-

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nomen. Das führte dazu, dass die SPÖ in der Stadt Graz bei den Gemeinderatswahlen nur mehr die fünftstärkste(!) Partei nach KP, VP, Grünen und FPÖ ist. Bei Landtags- und Nationalratswahlen hatte in Graz öfter die SPÖ, aber auch die ÖVP die Nase vorn. Die VP allerdings lag bei den Landtagswahlen 2019 mit 25,4 % nur hauchdünn vor den Grünen mit 25,2 %, was das grüne Potenzial im urbanen Raum zeigt, das man auch bei den Bundespräsidentenwahlen 2016 und 2022 erkennen konnte. Der gebürtige Grazer Christopher Drexler, der fünf Jahrzehnte in der steirischen Landeshauptstadt lebte und nun im oststeirischen Passail zu Hause ist, ist ein urbaner Typ, der in der Stadt durchaus punkten kann. Durch ihre Grazer kommunalpolitischen Erfolge sind die Kommunisten, die 1970 aus dem Landtag flogen, 2005 wieder ins Landesparlament gekommen, um auf Sicht zu bleiben. Sie kanalisieren auch viel Proteststimmung. Das theoretische Potenzial der von Kurzzeit-Verteidigungsminister und Unteroffizier Mario Kunasek geführten FPÖ hat nicht nur das Landtagswahlergebnis 2015 aufgezeigt, sondern auch das Faktum, dass die FPÖ bei den Nationalratswahlen 2013 stärkste politische Kraft in der Steiermark wurde und Norbert Hofer bei der Bundespräsidentenwahl 2016 mit 52,7 % vor dem österreichweiten Wahlsieger Alexander Van der Bellen lag – in der Landeshauptstadt wiederum erzielte Van der Bellen mit 64 % einen Kantersieg, was auch ein Schlaglicht auf das Stadt-Land-Gefälle wirft. Fazit Der Landeshauptmann-Wechsel in der Steiermark von Hermann Schützenhöfer zu Christopher Drexler am 4. Juli 2022 ist bilderbuchartig gelungen. Der Wunschkandidat des abgetretenen Landeshauptmannes konnte sein Amt bestens vorbereitet im besten Alter antreten. Drexler überzeugte durch sein Agieren als Landeshauptmann in den ersten Monaten auch die vereinzelt immer noch vorhandenen innerparteilichen Skeptiker und hat nun ausreichend Zeit, um sich bis zum regulären Wahltermin 2024 zu profilieren. Angesichts der in der Steiermark besonders volatilen Wählerschaft und der schwierigen bundespolitischen Rahmenbedingungen hat sich Drexler mit großem Tempo an die Arbeit gemacht und als Wahlziel die Parole ausgegeben: „Erster werden.“

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Burgenland Folgt auf die Verstaatlichungsorgie ein Finanzdebakel? Mehr als 20 staatliche Unternehmensgründungen in zwei Jahren, Buslinien, Bauunternehmen, Werbeagenturen – die Liste der burgenländischen Landesunternehmen wird immer länger, und all das auf Kosten der Steuerzahler. Massenhaft endfällige Schulden, zwei Drittel davon ohne Berichtspflicht am Landtag vorbei, und keine Finanzstrategie – das ist das Bild, welches der Burgenländische Landesrechnungshof von der aktuellen Burgenländischen Landesregierung zeichnet. Führen der Verstaatlichungswahn und das Geldausgeben mit beiden Händen in ein veritables Finanz­ debakel im Burgenland?

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Das Burgenland und seine Bewohner hatten in den letzten 100 Jahren viele große Herausforderungen zu bewältigen.  Vieles, was bisher im Land geschehen ist, wurde im Einvernehmen zwischen Politik, Wirtschaft und den Menschen umgesetzt. Diese Vorgehensweise hat sich über Jahrzehnte bewährt und einen Interessenausgleich zwischen allen Beteiligten zum Wohle des östlichsten Bundeslandes geschaffen. Die Politik ist den Menschen und dem Land verpflichtet und hat deren langfristiges Wohl in den Mittelpunkt ihres Handelns zu stellen. So heißt es auch in der Gelöbnisformel, welche beispielweise der Landeshauptmann vor dem Landtag zu leisten hat: „…  ich werde meine Pflichten nach bestem Wissen und Gewissen erfüllen.“ Die gedeihliche Entwicklung des Burgenlandes ist allerdings seit einiger Zeit stark negativ belastet. Das liegt vor allem daran, dass das Land versucht die Gesetze der Marktwirtschaft außer Kraft zu setzten und regelrecht einem „Verstaatlichungswahn“ verfallen ist. Es wird jenes Steuergeld, welches die Menschen und Unternehmen im Land erwirtschaften, verwendet, um weitere, unzählige Unternehmen zu gründen und dann – wie im Fall der Kommunikation Burgenland – wieder einzustampfen. Es ist nicht die Aufgabe des Landes, Unternehmen zu führen. Das kann die Privatwirtschaft weitaus besser – Belege dafür gibt es weltweit.  Seit die Alleinregierung im Amt ist, steigt die Zahl der ausgelagerten Landesgesellschaften rasant. Deren Schulden finden sich aber nicht im Landesbudget und werden so am Burgenländischen Landtag geschickt vorbeimanövriert. Wenn Landeshauptmann und Landesfinanzreferent Hans Peter Doskozil (SPÖ) seine Budgetrede im Landtag hält, bekommen die 36 Abgeordneten demnach nicht einmal die halbe Wahrheit über die Verschuldung zu hören. Das Burgenland gründete allein in den letzten zwei Jahren mehr als 20 neue Landesgesellschaften. Das Land gründet beispielsweise Buslinien, obwohl es 180 private Bus- und Taxiunternehmen gibt. Es betreibt eine eigene Projektentwicklungs-GmbH, obwohl im Burgenland 710 Unternehmen (technische Büros, Baumeister etc.) auf diese Tätigkeiten spezialisiert sind. Und es gibt seit kurzem eine landeseigene Werbeagentur, die in direkter Konkurrenz zu ca. 1.000 burgenländischen Unternehmen der Kreativwirtschaft steht. Die Liste an ausgegliederten Unternehmen des Landes ist lang und wird immer län-

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ger.  Das bedeutet Wettbewerbsverzerrungen zulasten der Firmen und der Steuerzahler.1 Allein seit dem Jahr 2020 wurden mehr als 20 landeseigene Wirtschaftsunternehmen in den Bereichen Immobilienwirtschaft, Infrastruktur, Kommunikation, Tourismus, Energie, Bildung, Sport sowie Soziale Dienste gegründet. Und es ist erklärtes Ziel der Landesregierung, diese schlecht funktionierenden unternehmerischen Tätigkeiten weiter auszubauen.  Immer mehr burgenländische Unternehmerinnen und Unternehmer fürchten angesichts dieser Entwicklung um die Existenz ihrer Betriebe und die Zukunft ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Dass dies als unmittelbare Bedrohung wahrgenommen wird, hat handfeste Gründe. Es sind vor allem gravierende Wettbewerbsverzerrungen zulasten der Firmen und der Steuerzahler, die durch öffentliche Unternehmen hervorgerufen werden.  Landeseigene Betriebe können sich wesentlich leichter Fremdkapital beschaffen. Die öffentlichen Eigentümer verzichten mitunter auch auf die Verzinsung des eingesetzten Kapitals. Das geht nur, weil die unternehmerischen Risiken die Gemeinschaft, also der Steuerzahler trägt. Das bestätigt auch der Lagebericht der LIB Landesimmobilien Burgenland GmbH für das Geschäftsjahr 2020.2  Auszug aus dem Lagebericht der LIB-Landesimmobilien Burgenland GmbH für das Geschäftsjahr 2020:  … Die Eigenmittelquote gemäß URG beträgt 3,96 % [Vorjahr 4,1  %), die fiktive Schuldentilgungsdauer gemäß URG beträgt 32,8  Jahre (Vorjahr 36 Jahre). Beträgt die Eigenmittelquote weniger als 8 % und die fiktive Schuldentilgungsdauer mehr als 15 Jahre, so liegt ein gesetzlich vermuteter Reorganisationsbedarf vor. Aus den Kennzahlen ergibt sich, dass die Vermutung des Reorganisationsbedarfs infolge des Überschreitens bzw. Unterschreitens der genannten Grenzen gegeben ist. Ein Reorganisationsbedarf liegt dennoch nicht

1 Burgenland 1*1 – Wirtschaftspolitische Agenda der Wirtschaftskammer Burgenland 2 Ebenda

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vor, da das Land Burgenland für langfristige Anleihe- und Kreditfinanzierungen eine Garantieerklärung abgegeben hat.3 Das Land kann also auch dauerhaft defizitäre Geschäftsfelder bewirtschaften. Dieses Vorgehen wirkt sich wiederum negativ auf die Preisgestaltung privater Anbieter im Wettbewerb aus, die auf keine Subventionierung ihrer Leistungsangebote hoffen können. Statt als Konjunkturmotor für den Wirtschaftsstandort zu fungieren, agiert die öffentliche Hand zunehmend als Totengräber der burgenländischen Wirtschaft und des dadurch in den letzten Jahrzehnten hart erarbeiteten gesellschaftlichen Wohlstands des jüngsten Bundeslandes. Die fehlende wirtschaftliche Kompetenz der SPÖ-Alleinregierung wird auch immer vehementer vom Burgenländischen Landes-Rechnungshof (BLRH) aufgezeigt. Beispiel Wohnbaugesellschaften (Mai 2020) Der Bericht des Landes-Rechnungshofes zeigt, dass das Land bei der Aberkennung eine fast endlose Aneinanderreihung von groben Fehlern in rechtlicher, wirtschaftlicher und politischer Art begangen hat. Dadurch ist dem Burgenland ein Schaden in der Höhe von rund 130 Millionen Euro entstanden. Medienberichten zufolge könnte der Schaden für das Land sogar 200 Millionen Euro betragen. Fehlende Immobilien-Bewertungsgutachten der Liegenschaften sowie aktenwidrige und fehlerhafte Bescheide haben dazu geführt, dass die Burgenländerinnen und Burgenländer um weit mehr als 100 Millionen Euro umgefallen sind. Volkspartei und FPÖ haben dazu die Staatsanwaltschaft eingeschaltet. Der Rechnungshof hat in seinem 120-seitigen Bericht ganz klar bestätigt, dass es massive Verfahrensmängel des Landes gegeben hat.

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Lagebericht der LIB Landesimmobilien Burgenland GmbH für das Geschäftsjahr 2020

Christoph Schmidt     |   Burgenland

Beispiel Finanzschulden „Konzern Burgenland“ zum 31. 12. 2021 In seinem im November 2022 veröffentlichten Bericht beleuchtete der Burgenländische Landes-Rechnungshof (BLRH) den Finanzschuldenstand mit Stichtag 31. 12. 2021 im Haushalt des Landes Burgenland und bei 60 Landesbeteiligungen (zusammen als „Konzern Burgenland“ bezeichnet). Die Burgenland Energie, an der das Land Burgenland über die Landesholding Burgenland mit 51 Prozent beteiligt ist, betrachtete der BLRH aufgrund der realwirtschaftlichen Gegebenheiten etwa im Zusammenhang mit dem Aktienrecht gesondert. Der BLRH zählte daher die Burgenland Energie und ihre Konzernunternehmen bei der Betrachtung der Finanzschulden nicht zum „Konzern Burgenland“.4 Die Summe der Finanzschulden im „Konzern Burgenland“ ohne die Burgenland Energie lag zum Stichtag bei rd. 1,80 Mrd. Euro. Davon entfielen auf das Land Burgenland selbst rd. 0,66 Mrd. Euro und somit rund ein Drittel der Finanzschulden. Die Landesholding Burgenland und 55 in die Prüfungshandlungen einbezogene Konzernunternehmen wiesen rund 1,15 Mrd. Euro an Finanzschulden aus. Damit waren rund zwei Drittel der Finanzschulden in die Landesholding Burgenland und ihre Konzernunternehmen ausgelagert. Für diese gab es damit keine Information des Burgenländischen Landtages, weder im Wege des Landesvoranschlages bzw. Finanzplanes noch im Rechnungsabschluss des Landes Burgenland.5 Von den Finanzschulden in Höhe von rd. 1,80 Mrd. Euro waren rd.  0,81 Mrd. Euro bzw. rd. 45 Prozent endfällig und großteils langfristig finanziert. Während der Laufzeiten waren daher lediglich die Zinsen zu bezahlen. Rund 471 Mio. Euro bzw. rd. 26 Prozent waren erst ab dem Jahr 2032 endfällig. Aus Sicht des BLRH sollten die Laufzeiten und Rückführungsmodalitäten von Finanzierungen in Einklang mit realistischen Nutzungsdauern sowie mit realistischen Rückführungszeiträumen stehen. Bei zukünftigen Projekten wäre auf eine generationengerechte Finanzierung zu achten. Langfristige endfällige Finanzierungen, für die über die gesamte

4 Burgenländischer Landes-Rechnungshof, Prüfungsbericht Finanzschulden „Konzern Burgenland“ zum 31.12.2021 5 Ebenda

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Laufzeit hinweg nur die Zinsen bedient werden, verschieben das Thema der Kapitalrückführung auf künftige Generationen.6 Den Finanzschulden in Höhe von rd. 1,80 Mrd. Euro standen Bankguthaben in Höhe von rd. 452 Mio. Euro gegenüber. Davon entfielen rd. 310 Mio. Euro auf das Land Burgenland und rd. 142 Mio. Euro auf die Landesholding bzw. ihre Konzernunternehmen. Angesichts dieser Höhe an liquiden Mitteln und der zeitnahen Aufnahme von weiteren Finanzschulden hinterfragte der BLRH die Strategie hinter den Finanzierungen. Eine kongruente Finanzierungsstrategie für den „Konzern Burgenland“ bzw. eine abgestimmte Vorgangsweise zwischen dem Land Burgenland und seinen Landesbeteiligungen beim Eingehen von Finanzierungen konnte nicht vorgelegt werden.7 Die finanzielle Situation des Landes Burgenlands ist eine tickende Zeitbombe, und die Millionen werden regelrecht wie von Treibsand verschlungen. Die fehlgeschlagene Wirtschaftspolitik und die damit entstandenen finanziellen Nöte versucht das Land Burgenland daher durch neue Steuern und Abgaben zu decken. Damit rollt neben der Konkurrenzwelle durch Landesbetriebe, welche auf Kosten der Steuerzahler gegründet werden, auch eine Belastungswelle auf die Menschen im Burgenland zu. Ein Beispiel ist die Novelle zum Raumplanungsgesetz. Im November 2022 hat die Landesregierung die Abgaben für Photovoltaik und Windkraft deutlich erhöht. Seitdem betragen die maximalen Abgaben 17.600 Euro pro Megawatt Windkraft und 6.500 Euro pro Hektar Photovoltaik. Die Bundesregierung hat im Ministerrat bereits mehrmals Einspruch gegen das burgenländische Raumplanungsgesetz erhoben.  Im Umweltministerium spricht man von einer willkürlichen Erhöhung, die Klimaziele gefährden würde. Bund und Länder seien gefordert, den Ausbau erneuerbarer Energieversorgung zu forcieren – diese Abgabe bewirke genau das Gegenteil. Es sei ein starker Gegensatz zu dem Ziel, das auch im Regierungsprogramm stehe, nämlich die Stromversorgung bis 2030 auf 100 Prozent aus erneuerbaren

6 Burgenländischer Landes-Rechnungshof, Prüfungsbericht Finanzschulden „Konzern Burgenland“ zum 31.12.2021 7 Ebenda

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Energiequellen umzustellen und Österreich bis 2040 klimaneutral zu machen. Darüber hinaus müssen burgenländische Grundeigentümerinnen und -eigentümer ab dem Jahr 2023 Abgaben zahlen. Betroffen sind all jene, die unbebaute Baugrundstücke besitzen. Grundlage dafür ist die Baulandmobilisierungsabgabe, die Teil des neuen Raumplanungsgesetzes ist. Diese Abgabe ist somit eine weitere spürbare Belastung der Burgenländerinnen und Burgenländer in Zeiten der allgemeinen Teuerung. Ob sie die Budgetlücken und die fehlende Finanzstrategie des Landes Burgenlandes sanieren kann, sei infrage gestellt. Blickt man also in den Osten unseres Landes, so ist zu befürchten, dass der von der burgenländischen Alleinregierung eingeschlagene Weg ein weiteres Mal dazu führen wird, dass eine Gebietskörperschaft in einen Finanzskandal schlittert und so Unmengen an Steuergeld verprasst, so wie es beispielsweise 2012 in Salzburg oder Linz der Fall war. Auffällig ist, dass das kleinste Bundesland, welches seit Jahrzehnten von der selben Partei regiert wird, in seiner kurzen Geschichte bereits viele Wirtschafts- und Finanzskandale erlebt hat. Es seien unter anderem allein in den letzten zwei Jahrzehnten der Bank-Burgenland-Skandal, der BEWAG-Skandal, der BEGASSkandal oder aber auch der Commerzialbank-Skandal genannt. Quellenverzeichnis Burgenland 1*1 – Wirtschaftspolitische Agenda der Wirtschaftskammer Burgenland Lagebericht der LIB Landesimmobilien Burgenland GmbH für das Geschäftsjahr 2020  Burgenländischer Landes-Rechnungshof, Prüfungsbericht Finanzschulden „Konzern Burgenland“ zum 31.12.2021

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Wiedereröffnung des historischen Parlamentsgebäudes Mit der formalen Übergabe des historischen Parlamentsgebäudes durch die Bundesimmobiliengesellschaft am 11. Oktober 2022 wurde die Sanierung offiziell abgeschlossen und aus der Parlamentsbaustelle wieder „das Parlament“. Viele Besucherinnen und Besucher fragten sich schon vor dem ersten Betreten, was „wir“, also alle Österreicherinnen und Österreicher, für die knapp 430 Millionen Euro nach vier Jahren Bauzeit bekommen. Etwa 90 Minuten dauert nun die Besuchertour durch den von Theophil Hansen im Stil des Historismus geplanten Ringstraßenbau und bietet dabei einen umfassenden und umwerfenden Einblick in die gelungene Verbindung von moderner Architektur und historischem Bestand. Was dabei besonders ins Auge sticht, ist die konsequente Öffnung des Parlaments für die Bevölkerung – von den über 1.000 m2 des völlig neu erschlossenen Erlebnisses Demokratikum, einer interaktiven Besucherausstellung im Erdgeschoß, bis hin zu dem spektakulären Besucherrundgang um den Nationalratssaal sowie dem neuen Restaurant samt Dachterrassen, das sowohl Parlamentariern als auch Besuchern von Montag bis Samstag offen steht. Die Sanierung hat sich aber nicht auf die repräsentativen Flächen beschränkt – sämtliche 1.640 Räume wurden kernsaniert, 2.200 km Kabel gezogen und 40.000  m2 Böden abgebrochen. Moderne, zeitgemäße Infrastruktur sowie eine offene und verbindende Architektur lassen sowohl in Besucherinnen und Besuchern, als auch vielen Abgeordneten die Hoffnung wachsen, dass mit der Rückübersiedlung in das historische Parlamentsgebäude und damit dem Ende der räumlichen Disparitäten auch der Umgangston wieder verbindlicher wird. Mit der Sanierung wurden sämtliche Voraussetzungen geschaffen, das Parlament mehr denn je als Ort des Austauschs, der respektvollen Begegnung und der gelebten österreichischen Demokratie zu verstehen. Nun liegt es an uns allen, diese Chance auch zu ergreifen.

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Die nachhaltige Sanierung – ein Erfolgsprojekt? Wann ist ein Projekt erfolgreich? Diese Frage erscheint auf den ersten Blick banal, regt jedoch durchaus zum Nachdenken an. Zuallererst richtet man in der Regel den Blick auf Kennzahlen. Bei Bau-, respektive Sanierungsprojekten stehen oftmals die Budgetziele und die projektierte Bauzeit im Vordergrund. 2014 wurde unter Präsidentin Barbara Prammer der einstimmige Beschluss gefasst, das bautechnisch nicht einmal mehr die nötigsten Sicherheits- und Barrierefreiheitsstandards erfüllende historische Parlament um 352,2 Mio. € zu sanieren. Gemäß Art. 30 B-VG unterstützt die Parlamentsdirektion die Organe der Gesetzgebung und des Bundes bei der Erfüllung ihrer Aufgaben. Nach Art. 30 Abs. 6 ist der Präsident des Nationalrats in Angelegenheiten der Parlamentsverwaltung oberstes Verwaltungsorgan. In Österreich gilt das Legalitätsprinzip; gem. Art. 18 B-VG darf die gesamte staatliche Verwaltung nur aufgrund der Gesetze ausgeübt werden. Der einstimmige Beschluss zur Sanierung wurde dementsprechend als Bundesgesetz über die Sanierung des Parlamentsgebäudes, kurz Parlamentsgebäudesanierungsgesetz – PGSG, im Nationalrat beschlossen. § 1 nennt klar die Ziele der Sanierung: „Zur langfristigen Erhaltung des historischen Parlamentsgebäudes in Wien und zur Sicherstellung der Erfüllung der parlamentarischen Aufgaben der Organe der Gesetzgebung des Bundes ist eine nachhaltige Sanierung des Parlamentsgebäudes erforderlich, die insbesondere die Herstellung des gesetzmäßigen Gebäudezustandes, die Behebung aller vorhandenen Mängel und Schäden, funktional effizienzsteigernde Maßnahmen und die Nutzung vorhandener Raumreserven beinhaltet.“ Die §§ 2 und 6 widmen sich den Kosten, wobei dieses Ziel im Jahr 2020 im Rahmen einer Änderung, die insbesondere aufgrund der COVID-19-Pandemie notwendig wurde, angepasst wurde: „Die Kosten für die nachhaltige Sanierung dürfen € 352,2 Mio. nicht übersteigen. Wenn dies infolge unabwendbarer bzw. unvorhergesehener Ereignisse oder zusätzlicher Erfordernisse notwendig ist, kann dieser Betrag um höchstens 20  Prozent überschritten werden“ (…) „Übersteigen die Kosten infolge von außergewöhnlichen Umständen, die auf die COVID19-Pandemie zurückzuführen sind, die in §§  2 oder 3 genannten Höchst-

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grenzen, kann vom Nationalrat eine haushaltsrechtliche Ermächtigung beschlossen werden“. Der Erfolg hinsichtlich der in § 1 Parlamentsgebäudesanierungsgesetz geforderten „Sicherstellung der Erfüllung der parlamentarischen Aufgaben“ kann am ehesten daran gemessen werden, inwieweit die Sanierung zur Erfüllung der vier im Bundesfinanzgesetz1 festgesetzten Wirkungsziele der Untergliederung 02 der Bundesgesetzgebung beiträgt. Wirkungsziel 1: Sicherung der hohen Servicequalität für MandatarInnen und Klubs zur Schaffung von Gestaltungsräumen für die Politik im parlamentarischen Verfahren zur Stärkung des Parlamentarismus. Das Wirkungsziel 1 beschreibt gewissermaßen die Kernaufgaben der Parlamentsdirektion. Die Sanierung hat nicht nur bauliche Mängel behoben und einen „gesetzmäßigen Gebäudezustand“ hergestellt, sondern auch die bestehenden Räume, die überwiegend auf dem technischen Stand des vorigen Jahrhunderts waren, für eine zunehmend digitalisierte Gesellschaft fit gemacht. Neben der neuen Ausstattung wurde das Gebäude auch mit einem digitalen Leitsystem ausgestattet, wodurch neue Möglichkeiten in der Darstellung geschaffen wurden. Sämtliche Ausschusslokale und Besprechungsräume wurden nach bedeutenden österreichischen Künstlerinnen und Künstlern, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie prägenden Persönlichkeiten benannt – und in der neuen Corporate Identity an den dafür vorgesehenen Stellen sichtbar gemacht. Im Erdgeschoß wurden zwei neue Ausschusslokale, benannt nach Erwin Schrödinger und Elise Richter, direkt unter den historischen Sitzungssälen erschlossen. Diese sind modular bestückt, Sitzungen können über Live-Stream geteilt werden, hybride Sitzungen und auch Videokonferenzen durchgeführt und Veranstaltungen darin abgehalten werden. Darüber hinaus sind diese abhörgeschützt und können damit auch für parlamentarische Untersuchungsausschüsse in vertraulichen Sitzungen verwendet werden. Tief unter der Rampe und unter

1 Im Folgenden immer beziehend auf die Wirkungsziele des BFG 2022, Bundesfinanzgesetz für das Jahr 2022, BGBl. I 195/2021.

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dem bekannten Pallas-Athene-Brunnen im zweiten Untergeschoß wurde ein eigener, streng abhörsicherer Sitzungsraum (Oskar Kokoschka) nach internationalen Standards eingerichtet. Dieser bietet nun auch den Parlamentariern erstmals die Möglichkeit, längere, streng vertrauliche Sitzungen auf technisch aktuellem Stand abzuhalten. Auch die bekannten Ausschusslokale neben der Säulenhalle, also der ehemalige Bundesratssaal (Theophil Hansen), die Lokale Bertha von Suttner und Ludwig Wittgenstein sowie das als Milchbar bekannte ehemalige Café (Lise Meitner) wurden durch sehr sensible Eingriffe modernisiert und für Videokonferenzen adaptiert, ohne dabei zu stark in die Bestandsinfrastruktur einzugreifen. Auch das früher ungenutzte Dachgeschoß wurde für den parlamentarischen Betrieb zugänglich gemacht – in einem Neubau, der die vier zentralen Stiegenhäuser verbindet, finden sowohl parlamentarische Ausschüsse, die Demokratiewerkstatt in Form des Jugend- oder Lehrlingsparlaments sowie diverse Veranstaltungen in zwei verglasten Multifunktionsräumen (Egon Schiele, Eugenie Schwarzwald) einen Platz. Die neu geschaffenen Räume werden im parlamentarischen Betrieb dringend benötigt – die Zahl der Sitzungen und Ausschusssitzungen steigt im Jahresvergleich drastisch, insbesondere in Zeiten multipler Krisen wird ausreichend Raum benötigt, um sich in gebotener Weise mit den Themen auseinanderzusetzen. Hinsichtlich technischer Möglichkeiten ist die Ausstattung jedenfalls „State of the Art“, was diverse Nutzungen durch die Parlamentsdirektion und Parlamentsklubs ermöglicht – um sämtliche technischen Möglichkeiten auch im parlamentarischen Betrieb nutzen zu können, bedarf es jedoch noch einer entsprechenden Änderung der Geschäftsordnung durch die Parlamentsklubs. Wirkungsziel 2: Ausbau der Parlamentsdirektion zum Kompetenzund Kommunikationszentrum für Parlamentarismus, Demokratie und Wissenschaft für die interessierte Öffentlichkeit Baulich spiegelt sich das Wirkungsziel 2 insbesondere im neuen „Erlebnis Demokratikum“ wieder. Durch die aufwendige Sanierung gelang es den Architekten im Erdgeschoß auf über 1.000 m², eine offene und einladende Fläche zu entwickeln, die durch das Atelier Brückner und das Architekturbüro BWM um eine interaktive Ausstellung von internationalem Format

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ergänzt wird. In der aktuellen Erstausbaustufe können sich Besucher mit über 50 Stunden an Inhalten (sowohl Deutsch als auch Englisch) und mehr als 1.000 Abbildungen, die von Historikern und Fachexperten der Parlamentsdirektion befüllt wurden, mit der Geschichte der österreichischen Demokratie und dem parlamentarischen Betrieb auseinandersetzen. Dass gerade Kommunikation im politischen Betrieb eine maßgebliche Rolle spielt, liegt schon in der Natur der Sache. Die Art der Medien und Kommunikation hat sich von 1883 bis heute stetig weiterentwickelt. Dem trägt auch die Sanierung Rechnung. Vor 140 Jahren berichtete etwa Mark Twain in seinen Reportagen aus dem Reichsrat, seit 1981 sind Live-Übertragungen der Parlamentssitzungen Teil des ORF-Programms. Um die parlamentarische Arbeit für Bürgerinnen und Bürger verständlich und nachvollziehbar zu machen, ging das Parlamentsmagazin ‚Hohes Haus‘ 1995 erstmals im ORF auf Sendung. Mit dem Internet und insbesondere dem Siegeszug der sozialen Medien hat sich auch der Bezug von Informationen maßgeblich gewandelt. Der Mediennutzung in all ihren Aspekten wird im neuen Auditorium ein Raum gegeben. Dort widmet sich ein eigener Medientisch diesen sogenannten ‚neuen Medien‘, denn unter jugendlichen ist ‚Social Media‘ die Quelle Nummer eins für den Bezug von politischen Informationen, gefolgt von Print- und Online-Zeitungen. Hervor sticht Instagram – Jahr für Jahr nutzen mehr junge Menschen die Bilder- und Kurzvideo-Plattform, um sich über Politik zu informieren. Seit 2020 ist Instagram unter den 16- bis 26-Jährigen auch die wichtigste Social-Media-Bezugsquelle für politische Informationen.“2 In der kernsanierten Bibliothek, die in Zukunft nicht nur Präsenz-, sondern auch Entlehnbibliothek sein wird, wurde eine Ausstellung über den „Sprachraum Demokratie“ installiert. In der Mitte der Ausstellung findet sich zentral eine Sonderausstellung, die sich mit dem Antisemitismus auseinandersetzt. Die Beschäftigung mit unserer Vergangenheit und ein konsequentes Vorgehen gegen antisemitische Tendenzen ist eine zentrale Aufgabe des Parlaments, denn ein antisemitisches Weltbild ist im Kern immer auch antidemokratisch und stellt eine Bedrohung für unsere Demokratie, unsere

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SORA-Bericht „Junge Menschen und Demokratie“ 2020 (parlament.gv.at).

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Werte und die Vielfalt der Gesellschaft dar. Bildung und Aufklärung sind der Schlüssel, diesen Tendenzen entgegenzuwirken – die Weiterentwicklung der Demokratiebildung, wie dies etwa durch die Kooperation des Parlaments mit Yad Vashem geschieht, ist daher ein großer Gewinn. Der Demokratiewerkstatt des Parlaments kommt bei der Erreichung des Wirkungsziels eine maßgebliche Rolle zu – daher wurde diese möglichst nahe am „Herzstück“ des Parlaments, dem neu renovierten Plenarsaal mit der spektakulären Glaskuppel, deren Diagonale 28 Meter misst, situiert. Die Workshops können nun im neuen, verglasten Besucherrundgang (Plenarium) im dritten Obergeschoß stattfinden und bieten damit erstmals die Möglichkeit, live mit dem Sitzungsbetrieb zu arbeiten ohne Sitzungen zu beeinträchtigen. Wirkungsziel 3: Gleichstellungsziel Förderung der Public Awareness (= Schaffung einer möglichst breiten Öffentlichkeit) für die Bedeutung der Partizipation in einer Demokratie unter besonderer Berücksichtigung der Geschlechterdemokratie und Diversität Das Parlament soll für alle Österreicherinnen und Österreicher geöffnet werden. Daher war es für uns im ersten Moment klar, dass auch in der Sanierung ein besonderer Fokus auf eine möglichst umfangreiche Inklusion und Barrierefreiheit gelegt werden muss. Um den ca. 18 % der Bürgerinnen und Bürger, die mit einer Behinderung leben, nicht nur einen barrierefreien Zutritt, der durch technische Normen sichergestellt werden kann, sondern auch ein möglichst gleichwertiges Erlebnis bieten zu können, wurde stark auf die Einbindung der Behindertenverbände, einschlägiger Beratungsunternehmen wie etwa MyAbility und Architektur b4 Hruschka sowie diverser Fokusgruppen geachtet. Ziel ist für uns die Zertifizierung „Fair für alle“. Im Besucherzentrum finden sich daher auch eigene Stationen, die mittels taktiler Gebäudepläne das Parlament für möglichst viele Menschen erlebbar machen. Induktive Hörschleifen, einfache Sprache und genau auf die verschiedenen Anforderungen abgestimmte Schriftgrößen und Kontraste sollen dabei möglichst vielen Menschen den Zugang auch zu den Inhalten eröffnen. Schulungen und Sensibilisierungstrainings für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter runden dabei das Angebot weitestmöglich ab.

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Wirkungsziel 4: Schaffung von optimalen Voraussetzungen für ein aktives Mitwirken von Nationalrat und Bundesrat in europäischen und internationalen Angelegenheiten und die Intensivierung der Kooperation mit europäischen und internationalen Institutionen sowie anderen Parlamenten Parlamentarische Kooperation und Diplomatie sind kein Selbstzweck. Als Mitglied der europäischen Union und zahlreicher internationaler Organisationen steht die Republik Österreich permanent im Austausch mit anderen Staaten. Durch unzählige Fotografien des Pallas-Athene-Brunnens vor dem Prachtbau am Ring darf das Parlamentsgebäude zu Recht als eine Visitenkarte Österreichs bezeichnet werden. Theophil Hansen hat uns mit seiner Architektur einen eindrucksvollen Rahmen für protokollarische Empfänge und Repräsentationszwecke hinterlassen. Durch die gelungene Sanierung wurde die geschichtsträchtige Substanz noch um moderne österreichische Architektur-, Ingenieurs- und Handwerkskunst ergänzt. Auch die in situ eingebrachten Kunstwerke bedeutender zeitgenössischer österreichischer Künstlerinnen und Künstler sind eine Einladung zum Dialog und werden sowohl Besucherinnen und Besuchern als auch internationalen Delegationen neue Blickwinkel eröffnen. Das im Rahmen der nachhaltigen Sanierung eingesetzte Budget und die damit durchgeführten Verbesserungen bedienen klar sämtliche Wirkungsziele und erfüllen den Auftrag und das Ziel des Parlamentsgebäudesanierungsgesetzes eindeutig. Durch eine sorgsame Mittelverwendung, ein ausgeklügelten System an Abwurfpaketen und große Umsicht wurde auch immer darauf geachtet, die im Gesetz vorgesehene Budgetgrenze von 422,6 Mio. € nicht zu sprengen. Auch wenn noch nicht alle Schlussrechnungen gelegt sind, gehen Experten von einem Kostenrisiko in Höhe von 1-3 % aus – dieses Restrisiko ist unter anderem einem historisch hohen Baukostenindex von über 10 %, einer Inflation in ähnlicher Höhe sowie dem zeitweisen Zusammenbruch internationaler Lieferketten geschuldet. Dass sich dieses Risiko trotz aller Herausforderungen in einem überschaubaren Ausmaß bewegt, ist dem partnerschaftlichen Umgang sowie dem großen persönlichen Einsatz sämtlicher am Projekt Beteiligter zu Danken. Geht man nach Kennzahlen und Wirkungszielen, war die Sanierung ein voller Erfolg. Dass das Projekt auch aus Sicht der Besucherinnen und

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Besucher überzeugt, durften wir beim Festakt zur Eröffnung am 12. Jänner und an den Tagen der offenen Tür am darauffolgenden Wochenende hautnah erleben. Demokratie ist nicht selbstverständlich – aber alternativlos „Demokratie ist nicht voraussetzungslos und schon gar nicht selbst­verständ­ lich.“3 Damit hat Dr. Wolfgang Schäuble in seiner Festrede zur Eröffnung des sanierten Parlamentsgebäudes einen Nerv getroffen. Auch wenn es gelungen ist, in der Interimslokation zumindest vorübergehend die räumlichen Voraussetzungen zu schaffen, haben sowohl Demokratie als auch der parlamentarische Betrieb seit dem Auszug aus dem historischen Parlamentsgebäude merklich gelitten. Der Rückblick auf die letzten Jahre im Ausweichquartier in der Hofburg zeigt aus Sicht des österreichischen Parlamentarismus ein differenziertes Bild. Einerseits hat die repräsentative Demokratie eindrucksvoll bewiesen, dass sie in Krisensituationen sowohl schnell, flexibel als auch unbürokratisch reagieren und Lösungen bereitstellen kann. Auch Untätigkeit kann man dem österreichischen Parlament nicht unterstellen – nie gab es mehr Sitzungstage als im Jahr 2022. Andererseits steckt das politische System, und damit auch das Parlament, in einer der größten Vertrauenskrisen der Zweiten Republik, wie die Ergebnisse des Demokratiemonitors zeigen.4 Aus aktuellen Befragungen geht eines klar hervor – die Menschen zweifeln nicht an der Staats- und Regierungsform oder an der Demokratie an sich, sondern an der Integrität der handelnden Akteure.5 Auch wenn, wie Dr. Schäuble überspitzt ausgeführt hat, die Krise der Demokratie in Österreich quasi immanent ist, gilt es die Probleme ernst zu nehmen und auch die damit einhergehenden Chancen zu nutzen.6 An

3 Dr. Wolfgang Schäuble, Festakt zur Eröffnung des sanierten Parlamentsgebäudes, S. 16 (https://www.parlament.gv.at/dokument/XXVII/VER/141/fname_1503923.pdf). 4 Österreichischer Demokratie Monitor 2022 – PK 28.11.2022 (https://www.demokratiemonitor.at/wp-content/uploads/2022/11/2022_SORA_Presseunterlage_Demokratiemonitor.pdf). 5 87 % halten die Demokratie nach wie vor für die beste Staatsform, Österreichischer Demokratie Monitor 2022 – PK 28.11.2022. 6 Dr. Wolfgang Schäuble, Festakt zur Eröffnung des sanierten Parlamentsgebäudes, S. 17 (https://www.parlament.gv.at/dokument/XXVII/VER/141/fname_1503923.pdf)

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dieser Stelle soll nicht auf die Vielzahl von Ursachen für diese Entwicklungen eingegangen werden, sondern darauf, welchen Beitrag wir zur Bewältigung leisten können.7 Denn unsere Demokratie mag nicht perfekt sein – sie ist jedoch ohne Zweifel alternativlos. Durch eine konsequente Öffnung des Parlamentsgebäudes wollen wir jedenfalls unseren Teil tun, dieses verlorene Vertrauen ein Stück weit zurückzugewinnen. Das neue Besucherzentrum und die für alle Bürgerinnen und Bürger geöffnete Gastronomie bieten ausreichend Platz für persönliche Begegnungen mit den Abgeordneten und ermöglichen erstmals einen barrierefreien Einblick in den Arbeitsplatz und Arbeitsalltag derselben. Das verlorene Vertrauen zurückzugewinnen bedarf einer gesamtstaatlichen Anstrengung. Der Auftakt dieser neuen Offenheit und Transparenz wurde eindrucksvoll mit dem Festakt zur Wiedereröffnung am 12. Jänner unter Beteiligung der gesamten Staatsspitze sowie über 1.000 Würdenträgern begangen. Die darauf folgenden Tage der offenen Tür am 14. und 15. Jänner waren ein überwältigender Erfolg, sowohl bei Sonnenschein als auch bei Regen haben über 25.000 Österreicherinnen und Österreicher teils längere Wartezeit auf sich genommen, um ihr neu saniertes Haus zu erkunden. Die Resonanz aus zahlreichen Begegnungen war von einer unglaublichen positiven Grundstimmung geprägt. Dieses ungebrochene Interesse an unserer Demokratie und dem Parlament ist Bestätigung und Ansporn zugleich, diese konsequente Öffnung weiterzuverfolgen und das Parlament als zentralen Ort der Debatten und des Austausches für alle Österreicherinnen und Österreicher erlebbar zu machen. Für uns Abgeordnete, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen bietet der Wiedereinzug in das Hohe Haus eine einmalige Gelegenheit, die eingefahrenen Strukturen zu hinterfragen und die Stärken der parlamentarischen Demokratie wieder in den Fokus zu rücken – nämlich den Wettbewerb der besten Ideen, nicht der billigsten Schlagzeilen. Nationalratspräsident Mag. Wolfgang Sobotka hat es in seinen Begrüßungsworten im Rahmen der feierlichen Eröffnung auf den Punkt gebracht: Der Respekt vor den Meinun7 Zur Thematik Parlament und Krise weiterführend etwa Pöchacker/Sobotka, Das demokratische Parlament und die Krise, in: Hilpold/Steinmair/Raffeiner, Österreich und die EU im Umbruch – eine Nachlese zur Festschrift für Heinrich Neisser (2022), S. 231.

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gen der anderen macht die Vielfalt des Parlaments gerade erst aus und ist Grundvoraussetzung dafür, die angesprochenen multiplen Krisen und Herausforderungen der Zukunft zu bewältigen. Die größte Krise der Demokratie liegt im schwindenden Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger. Daher möchte ich abschließend die sieben Grundregeln des Respekts, die gemeinsam mit Schülern und Schülerinnen in der Demokratiewerkstatt des Parlaments erarbeitet wurden, zitieren: • • •

• • •



Respekt ist ein Grundpfeiler des gesellschaftlichen Miteinanders. Respekt äußert sich in Wertschätzung, Aufmerksamkeit und Ehrerbietung anderen Menschen, Lebewesen und Institutionen gegenüber. Respekt gewährleistet und schützt die persönliche Integrität. Respekt ist die Basis dafür, persönlichen Werten treu zu bleiben und dabei ehrlich und gerecht zu handeln. Respekt hat als Grundlagen die Wahrheit, die Gerechtigkeit, die Achtsamkeit und die Anerkennung. Einstellungen, Religionszugehörigkeit, politische Überzeugung und gesellschaftliche Zugehörigkeit verdienen a priori Respekt. Respekt Kindern, Behinderten und vulnerablen Gruppen gegenüber: Der Schutz von Kindern, Behinderten und Geschlechtern sowie verletzlichen und verwundbaren Gruppen ist unverhandelbar. Respekt gegenüber Minderheiten und Volksgruppen ist eine Säule der Demokratie.

Wenn wir dies beherzigen, kann es uns gelingen, das Vertrauen der Menschen wieder zurückzugewinnen.

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Andreas Khol

Die demokratiegefährdende Praxis der parlamentarischen ­Untersuchungsausschüsse geht weiter Der Beitrag knüpft an den Beitrag zum Ibiza-Untersuchungsausschuss (UA) im Jahrbuch 2021 an. Zuerst wird festgestellt, dass von den 10 Forderungen für Änderungen im strafgerichtlichen Verfahren und den 10 Forderungen nach Änderung des Verfahrensrechts der UA nichts erfüllt wurde. Die Bewertung der Zwischenergebnisse des dem Ibiza-UA folgenden ÖVP-Korruptions-UA unterstreicht diese 20 Forderungen. Im Einzelnen wird auf die Verfassungswidrigkeit des Kurztitels des UA und des Untersuchungsgegenstands hingewiesen. Zu den genannten 20 Forderungen nach Änderungen kommen 5 weitere dazu. Der Autor hält die Forderung nach Öffentlichkeit der Arbeit der UA und einer laufenden Fernsehübertragung für brandgefährlich für das Ansehen des Parlaments. Abschließend verweist er auf Ergebnisse von Umfragen, die zeigen, dass Regierung, Abgeordnete und das Parlament als Folge der Ausschuss-Arbeit in bedrohlichem Ausmaß an Ansehen verloren haben.

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Rückblick auf den „Ibiza-Untersuchungsausschuss“ Im Jahrbuch für Politik 2021 habe ich unter dem Titel: „Wie aus politischen Unterstellungstribunalen wieder parlamentarische Untersuchungsausschüsse werden könnten“1 die geschäftsordnungsgemäßen Ergebnisse des Ibiza-Untersuchungsausschusses (UA) dargestellt. Der Bericht des V ­ erfahrensrichters, den der Präsident des Nationalrats als Ausschussvorsitzender vollständig übernahm, stellte die politische Verantwortung der Justizminister Josef Moser und Clemens Jabloner für die ungelösten Streitigkeiten zwischen Korruptionsstaatsanwaltschaft einerseits und Oberstaatsanwaltschaft Wien sowie beamteter Weisungsspitze im Ministerium andererseits fest. Zu den behaupteten Korruptionsvorwürfen (Postenschacher bei der Casinos Austria, Schredder-Affäre, gesetzwidrige Parteispenden, Gesetzeskauf beim Glückspielgesetz und PRIKRAF) stellte der Richter keine Gesetzwidrigkeiten und daher auch keine politische Verantwortung von Personen fest. In meinem Beitrag schilderte ich die dennoch weit verbreitete „Schuld­vermutung“ betreffend ÖVP- und FPÖ-Politiker als ein tatsächliches Ergebnis des Ausschusses. Ich leitete aus der Ausschussarbeit und ihren Folgen zehn Forderungen nach Änderung der strafgerichtlichen Praxis ab; nicht eine einzige wurde zwischenzeitlich trotz vielfacher öffentlicher Unterstützung durch Fachleute aus Wissenschaft und Praxis erfüllt.2 Gleichermaßen stellte ich zehn notwendige Änderungen für Verfahren und Praxis der UA vor. Auch sie blieben unbeachtet; Reformen der Verfahrensordnung und der Geschäftsordnung stehen im Raum, führen aber nicht zu mehrheitsfähigen Entwürfen.

1 Vgl. dazu: Khol, Andreas: „Wie aus politischen Unterstellungstribunalen wieder parlamentarische Untersuchungsausschüsse werden könnten“, in: Österreichisches Jahrbuch für Politik 2021, Wien/Köln 2022, S. 189 bis 210. 2 Vgl. dazu die Ausführungen des stv. Präsidenten der Wiener Rechtsanwaltskammer, Dr. Eric Heine, in der PRESSE, Rechtspanorama vom 9. 1. 2023, S. 15 , der unter dem Titel „Gefahr im Verzug“ auf die ausstehenden dringlichen Gesetzesänderungen hinweist

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Andreas Khol   |   Die parlamentarischen ­U ntersuchungsausschüsse

Der ÖVP-Korruptions-Untersuchungsausschuss. Verfassungswidriger Kurztitel, verfassungswidriger Gegenstand Im Oktober 2021 brachten Abgeordnete der SPÖ, der FPÖ und von NEOS das Verlangen auf einen UA ein, betreffend Klärung von Korruptionsvorwürfen gegen ÖVP-Regierungsmitglieder. Als Kurztitel wurde in dem Verlangen „ÖVP-Korruptions-Untersuchungsausschuss“3 angegeben. Der Kurztitel war unterstellend und daher offensichtlich verfassungswidrig. Der Untersuchungsgegenstand war dermaßen weit gefasst, dass er nach Ansicht der meisten Geschäftsordnungskenner ebenso verfassungswidrig war.4 Beides setzte allerdings eine zuletzt geübte Praxis fort: Die Antragsteller waren sich sicher, dass es im Geschäftsordnungsausschuss keine Mehrheit für eine Überprüfung der strittigen Fragen durch den Verfassungsgerichtshof geben würde. Der grüne Regierungspartner der ÖVP, gegen die allein sich der UA richtete, hatte von vornherein klargestellt, dass er seine bisherige Ausschusspraxis beibehalten würde. Sie war davon geprägt, dass die Grünen stets mit der Opposition stimmten. Allein der unterstellende Titel wurde in der Folge ein Jahr lang im ORF und allen anderen Medien Hunderte Male wiederholt und abgedruckt. An Sitzungstagen des Ausschusses fielen die Worte „im ÖVP-Korruptions-Untersuchungsausschuss“5 in allen stündlichen Nachrichtensendungen des Tages. Das allein bewirkte, dass nach einem Jahr Ausschussarbeit für viele feststand, dass die ÖVP eine korrupte Partei

3 Vgl. den Wortlaut in der Parlamentsdrucksache 4/US vom 13.10.2021 (XXVII.GP) 4 Wortlaut in der genannten Drucksache: „Untersuchungsgegenstand ist das Gewähren von Vorteilen an mit der ÖVP verbundene natürliche und juristische Personen durch Organe der Vollziehung des Bundes im Zeitraum von 18. Dezember 2017 bis 11. Oktober 2021 sowie diesbezügliche Vorbereitungshandlungen auf Grundlage und ab Beginn des „Projekts Ballhausplatz“ auf Betreiben eines auf längere Zeit angelegten Zusammenschlusses einer größeren Anzahl von in Organen des Bundes tätigen Personen, bestehend aus der ÖVP zuzurechnenden Mitgliedern der Bundesregierung, Staatssekretärinnen und Mitarbeiterinnen ihrer politischen Büros, zu parteipolitischen Zwecken und die damit gegebenenfalls zusammenhängende Umgehung oder Verletzung gesetzlicher Bestimmungen sowie der dadurch dem Bund gegebenenfalls entstandene Schaden.“ In Art. 53 (2) der Bundesverfassung heißt es: „Gegenstand der Untersuchung ist ein bestimmter abgeschlossener Vorgang im Bereich der Vollziehung des Bundes.“ Weder das genannte „Projekt Ballhausplatz“ noch die Vorteilungsgewährung sind festgestellt und bewiesen. Der Zeitraum des Gegenstands ist unbestimmt. Die Folgen: Der UA maßt sich eine gerichtliche Rolle an, um im ersten Schritt behauptete Sachverhalte festzustellen, um dann die politische Verantwortung dafür zu ermitteln. Also handelt es sich offensichtlich um keinen abgeschlossenen Vorgang. 5 Vgl. dazu den Wortlaut des Interviews im „Kurier“ vom 2. 1.2023 von Raffaela Lindorfer.

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sei. Aus der Unschuldsvermutung wurde wiederum eine Schuldgewissheit, die betroffene Partei hatte dagegen kein Rechtsmittel. Die Probleme, die bereits beim Ibiza-A auftraten und aufgezeigt wurden, zeigten sich im ÖVP-UA in dramatisch verschärfter Weise. Zwei unverdächtige Beobachter zu diesen Streitfragen: Christoph Grabenwarter, Präsident des Verfassungsgerichtshofs, zum Ausschuss-Gegenstand funktionsbedingt überaus zurückhaltend, meinte auf die Frage, ob der Spruch des Gerichtshofes zum Ibiza-A, dass in der Aktenvorlage „alles abstrakt Relevante“ vorzulegen sei: „Diese Feststellung aus der Zeit des Ibiza-Ausschusses hat für den nächsten U-Ausschuss eine andere Bedeutung gewonnen, weil der Untersuchungsgegenstand sehr weit formuliert ist.“ Weitere Frage: „Sie meinen der nächste sollte enger gefasst sein?“ Antwort: „Das ist dem Parlament überlassen. Ich sage nur: Je weiter, desto schwieriger ist es, Grenzen zu ziehen – für das Parlament, aber auch für den VfGH.“ Frage: „Viele meinen, die Formulierung … habe ein großes Tor geöffnet. Da schwingt natürlich Kritik am VfGH mit. Wie sehen Sie das?“ Antwort: „Das nehme ich natürlich wahr. Kritik aus der Fachöffentlichkeit nimmt der VfGH auch in seine künftigen Entscheidungen auf. Ich schließe nicht aus, dass die eine oder andere Kritik bei den Kolleginnen und Kollegen zu einem Nachdenkprozess führt.“ Der zweite Beobachter ist Ernst Sittinger, Mitglied der Chefredaktion zum Ausschuss insgesamt und der erzeugten Schuldgewissheit: Unter dem Titel und der Einleitung „Tribunal statt Aufklärung. Der ÖVP-U-Ausschuss litt unter dem Geburtsfehler, dass die politische Strafe schon vor seinem Beginn verhängt war. So konnte das nichts mehr werden – außer viel Flurschaden“ stellte er fest: „Ein Konstruktionsfehler liegt wohl darin, dass die im Kreuzfeuer stehende ÖVP den politischen Preis schon vorher zahlen musste … es wurde also zuerst verurteilt und bestraft und danach erst untersucht … Die Opposition hat es geschafft, die Regierung ein Jahr lang auf der Anklagebank festzukleben. Aber zu welchem Preis? Das Ansehen des parlamentarischen Betriebs ist beschädigt. Zu stark war spürbar, dass es nie um wahrhaftige Aufklärung ging, sondern um das Tribunal von Ängstlichen und Mutlosen, die sich einem Positivwettbewerb um die besseren Zukunftsentwürfe für das Land gar nicht zutrauen. Und sich deshalb mit aller Gewalt

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an das zufällig ergatterte Filetstück des Sündenfalls ‚Projekt Ballhausplatz‘ klammern.“6 Beschwerderecht aller Parteien beim VfGH nötig Daraus ergibt sich für mich in noch stärkerem Maße die Forderung, dass in einer Reform des Rechts der UA in der Geschäftsordnung allen im Parlament vertretenen Parteien das Recht auf Beschwerde beim VfGH einräumen muss. Dann hätte die ÖVP Ausschussfraktion Gegenstand und Titel des UA vom Verfassungsgericht überprüfen lassen können. Sie hätte damit den verhängnisvollen Fehler vermeiden können, der von der Unschuldsvermutung zur Schuldgewissheit geführt hatte und mit am Scheitern des ganzen UA schuldig ist: Gegenstand und Titel des UA. Jedes Ministerium, das durch Beschluss des Ausschusses zur Aktenvorlage verpflichtet wurde, hätte diesen Beweisbeschluss nach Art. 138 b B-VG vor dem Verfassungsgerichtshof anfechten können, und dabei die genannten Verfassungswidrigkeiten als Vorfragen aufwerfen und überprüfen lassen können. Warum dies unterblieb ist unerklärlich. Grabenwarter macht in seinen vorsichtigen Andeutungen klar, dass auch die Frage des Umfangs der Aktenvorlagepflicht noch nicht endgültig entschieden sei. Das Urteil, dass Alles abstrakt Relevante vorzulegen sei, hat zur Weitergabe von vielen Millionen Druckseiten, die auf Lastwagen vors Parlament gekarrt wurden, und zu zahlreichen erbitterten Auseinandersetzungen geführt. Verdünnter Grundrechtsschutz in Österreich europarechtswidrig Auch die Frage des Umgangs mit beschlagnahmten Mobiltelefonen stellte sich erneut und immer dringlicher. Der Grundrechtsschutz ist hier verdünnt, die österreichische Praxis im Widerspruch zu europäischen Grundrechtsnormen – die Justizministerin kommt der Verpflichtung Österreichs

6 Vgl. dazu den Wortlaut der Analyse von Ernst Sittinger in: Kleine Zeitung vom 8.12.2022, Tribüne, S. 11 f.

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zur Umsetzung von verschiedenen europäischen Datenschutznormen nicht nach. Sie hält auch nicht hinter dem Berg warum: Das könnte die Arbeit des UA behindern! Dabei gibt es zahlreiche Vorschläge aus Wissenschaft und Anwaltschaft. Der Umfang der Aktenvorlagepflicht, der Schutz der Rechte Dritter, die Abgrenzung zur Strafjustiz sind dringend regelungsbedürftig Zahlreiche Auseinandersetzungen gab es um den Umfang der Aktenvorlagepflicht von Verwaltungsbehörden, insbesondere auch von jenen der Justizverwaltung, aber auch von Unternehmungen. Einzelentscheidungen des VfGH waren immer wieder nötig. Der Grundrechtsschutz Dritter steht im Fokus. Insbesondere im Hinblick auf die eklatant rechtswidrige und notorische Praxis der österreichischen Strafrechtspflege vor allem in Wien, wo staatsanwaltliche Ermittlungen vom ersten Tag an an die Öffentlichkeit dringen und Vorverurteilungen daher die Regel sind. Auch der UA ist nicht in der Lage, geheime Akten geheim zu halten. Im Gegenteil: eine Opposi­tions­partei (NEOS) hat geheime Akten an die Öffentlichkeit gebracht und sich zu diesem Rechtsbruch folgenlos bekannt. Wahrheitspflicht im Ausschuss und die Drohung der Falschaussage Die Auskunftspersonen stehen im UA unter gerichtlich überwachter Wahrheitspflicht. Dies wird seit eh und je vor allem von Oppositionsparteien dazu ausgenützt, prominente Auskunftspersonen, Politiker und Beamte bei auch nur allerkleinsten Ungenauigkeiten in der Aussage wegen falscher Aussage im Ausschuss anzuzeigen. Dabei gibt es viele Fallstricke, z. B. frühere Antworten auf die gleiche Frage – die geringste Erinnerungslücke wird dann zur behaupteten Falschaussage – aber auch die Aussagen anderer. Eine Verurteilung einer prominenten Auskunftsperson wegen Falschaussage ist das Ziel jener, welche die Arbeit des UA vor allem als Mittel des täglichen politischen Grabenkampfes sehen. Auskunftspersonen sind dann, wenn es um die Feststellung strittiger Sachverhalte geht, im UA zwar immer noch Auskunftspersonen unter Wahrheitspflicht, spielen in der Sache aber die Rolle von Zeugen wie in einem Strafverfahren. Dort gilt allerdings

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das Recht darauf, sich nicht selbst belasten zu müssen. Dies schränkt die Wahrheitspflicht im Strafverfahren ein und gilt als Grundrecht. Im UA gibt es diese Regel nicht. Die Folge ist klar: Jede Auskunftsperson muss frühere Antworten in der Sache kennen, also die Protokolle genau lesen und berücksichtigen und nur dann auf eine Frage antworten, wenn Sicherheit über die Antwort und die eigene Erinnerung besteht. Auskunftspersonen werden daher in der Regel von Anwälten begleitet, die alle Akten vorher genau durchforsten. Die Kosten dafür sind enorm.7 Die Frage, ob nicht auch im UA das Grundrecht darauf besteht, sich nicht selbst belasten zu müssen, auch wenn kein Strafverfahren gegen die Auskunftsperson anhängig ist, ist derzeit gerichtsanhängig und wird wohl demnächst entschieden werden. Die Drohung, eine Anzeige wegen Falschaussage zu erhalten, führt dazu, dass sich viele Auskunftspersonen der Aussage entschlagen oder sich auf Erinnerungslücken berufen. Wird die Wahrheitspflicht eingeschränkt oder dem Recht von Zeugen im Strafverfahren angepasst, gibt es weniger Entschlagungen und weniger Erinnerungslücken. Es würde dem Verfahren zugutekommen. Kostenersatz im Strafverfahren und im Verfahren von UA Es ist hoch an der Zeit, die Kostenersätze im Strafverfahren und analog im Verfahren vor UA neu zu regeln. Die tatsächlichen Aufwendungen der Auskunftspersonen sind zu vergüten, soweit sie der Tarifordnung der Rechtsanwälte entsprechen. Im Strafverfahren können die Kosten ab der Beschuldigung bis zur Entscheidung über die Anklageerhebung sehr hoch werden – sie werden derzeit nicht vergütet. Und auch die Vergütungen bei Freispruch sind nur symbolisch. Auch hier sollten die Sätze der Tarifordnung Maßstab der Vergütung sein.

7 Mir ist ein Fall von einem Betroffenen berichtet worden. Er musste sechs Stunden vor dem UA aussagen. Der ihn begleitende Anwalt verrechnete einen „Freundschaftspreis“ für vorbereitendes Aktenstudium und physische Präsenz von 15.000 €

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Die Öffentlichkeit der Sitzungen des UA würde das Ansehen des Parlaments weiter schwer beschädigen Im Zuge der Arbeit des ÖVP-UA wurde immer wieder von Journalisten verlangt, die Sitzungen des UA, die derzeit medienöffentlich sind, im Fernsehen zu übertragen.8 Ich kann davor nur warnen. Die Erfahrungen mit den Übertragungen der Sitzungen des Nationalrats im ORF sind ernüchternd. Die Öffentlichkeit hat kein Verständnis dafür, wie sich Abgeordnete in Sitzungen, die um 9.00 Uhr beginnen und bis 24 Uhr dauern, benehmen: Das Halbrund ist selten voll besetzt, gähnende Leere um die Mittagszeit, Abgeordnete telefonieren, unterhalten sich, lesen Unterlagen oder Zeitungen, bearbeiten Mails in ihrem Laptop, manche in den hinteren Reihen (dort reicht die Kamera nicht hin) sollen schon Patiencen gelegt haben; von jedem Abgeordneten hat der ORF Bilder im Archiv, die den Betreffenden mit dem Finger an der Nase oder mit geschlossenen Augen zeigen. Neben zündenden Rednern, die freisprechen und rhetorisch glänzen, stehen die vielen kurzen Reden von 90 Sekunden Dauer, gehalten nur wegen der Statistik: Immer noch wird die Qualität und Arbeit eines Abgeordneten danach beurteilt, wie viele Reden er im Nationalratsplenum gehalten hat – ein völlig unzulässiger Maßstab –, ohne jeden Neuigkeitswert, ohne Wechselrede mit Vorrednern. Dazu kommt die Verrohung der Debatten: Kollegen und Regierungsmitglieder werden heftig apostrophiert, „Lügner“ ist beinahe ein Kosewort. Diese aggressiven, oft hetzerischen Auseinandersetzungen stoßen ebenso ab, wie das leere Halbrund. Das Ansehen des Parlaments ist seit der Übertragung der Plenardebatten ständig und kontinuierlich gesunken – ich bin überzeugt, dass hier ein Zusammenhang besteht. Eine Übertragung der Ausschusssitzungen würde Ähnliches zeigen. Wie die Fraktionsführer im Ausschuss vorher in öffentlichen Stellungnahmen übereinander und Dritte herziehen, Straftaten und andere Missetaten behaupten, sich nicht entschuldigen, wenn sich nachträglich die Unrichtigkeit des Vorwurfs herausstellt, das alles versteht die Öffentlichkeit nicht. Solche Debatten sind auch nur unter dem Schutz der Immunität möglich.

8 Die Öffentlichkeit erfährt derzeit sehr genau und im Einzelnen, wie die Aussagen der Auskunftspersonen ablaufen, was sie sagen, was gefragt wird, was Vorsitzender, Verfahrensrichter und Ausschussmitglieder sagen. Große Tageszeitungen, wie Kurier, Presse, Standard berichteten im Liveticker genauestens und aktuell. Ihnen gebührt Dankbarkeit.

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Zwischenbilanz Der UA hat seine Arbeit noch nicht abgeschlossen. Zuerst wurde einmal in einem mühseligen Kompromiss ein zusätzlicher Monat für die Befragungen beschlossen – er sollte am 1. 2. 2023 enden. NEOS wollten keine Verlängerung – sie hatten wohl erkannt, dass die Ausschusspraxis allen Parteien und ihnen selbst schadet. In einem zähen Ringen konnte aber dann keine Einigung über Sitzungstage und Liste der zu Befragenden erzielt werden. Die Parteien scheinen ihre Kompromissfähigkeit vollständig verloren zu haben. Die Vergiftung schreitet fort. Begonnen hat sie im Ibiza-UA, als die ursprünglich zur Verfahrensrichterin bestellte Vizepräsidentin a. D. des OGH Ilse Huber wegen Beleidigungen durch eine NEOS-Abgeordnete zurücktrat. Ihr wurde auch die Äußerung zugeschrieben: „vor Gericht werden selbst Mörder besser behandelt, als im UA die Auskunftspersonen“. So droht die ganze Ausschussarbeit in einer Farce zu enden. Wie werden die Endberichte ausschauen? Wichtig ist nur jener des Präsidenten – er übernimmt in der Regel den Entwurf, den dafür der Verfahrensrichter erstellt – die einzige objektiver Person im Verfahren … Die öffentliche Meinung steht in der Beurteilung in deutlichem Kontrast zur veröffentlichten Meinung. Mehr als die Hälfte der Befragten mehrerer Umfragen nehmen die Arbeit nicht mehr ernst, sehen darin ein parteipolitisches Ränkespiel von heillos zerstrittenen Parlamentsparteien, die sich wechselseitig beschimpfen. Viele Medien sind auch kritischer geworden, aber nicht in dem Ausmaß wie die Allgemeinheit. Befragungen zeigen auch einen enormen Ansehensverlust der Regierung – daran ist auch die parlamentarische Praxis schuld, die neben den vielen Krisen zu allgemeiner Missstimmung führt. Das Ansehen der Politiker ist in den Keller gesunken – das hat in Österreich Tradition. Aber auch das Parlament sinkt rapide im Ansehen, rückt ans Ende im Vertrauensindex. Der Ruf nach dem „starken Mann“ wird ständig lauter, was dann genau von jenen beklagt wird, die daran eine wesentliche Mitschuld tragen: von vielen Medien und vor allem den Abgeordneten selbst. Spannend wird noch sein, wie der Abschlussbericht des Verfahrensrichters gestaltet sein wird und zu welchen Schlussfolgerungen er kommt.

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„Das hier ist eine politische ­Veranstaltung“ Die Aktenvorlage im Untersuchungs­ ausschuss auf dem rechtlichen Prüfstand Untersuchungsausschüsse dienen der Informationsgewinnung zu politischen Zwecken, dürfen dabei aber nicht außerhalb des Rechtsrahmens agieren. Insbesondere die Vorlage von Akten und Unterlagen führt innerhalb dieses Spannungsverhältnisses zwischen Politik und Recht immer wieder zu Streitigkeiten. Daher wurden im Rahmen der Novelle des Untersuchungsausschussrechts neue, enger gefasste Vorgaben zum Aufgabenspektrum der Untersuchungsausschüsse erlassen sowie ein eigenes Streitschlichtungsverfahren rund um die Aktenvorlage geschaffen. Die bisherige Bilanz zeigt: Die Bemühungen fielen nicht auf fruchtbaren Boden. Untersuchungsausschüsse sind nach wie vor von Auseinandersetzungen rund um die Vorlage von Akten und Unterlagen dominiert.

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In wohl jedem Untersuchungsausschuss gab es und gibt es Streitigkeiten rund um die Vorlage von Akten und Unterlagen. Der (Verfassungs-)Gesetzgeber hat sich im Rahmen der Reform des Untersuchungsausschussrechts 2014 bemüht, diese einzudämmen: Durch neue Vorgaben für den Untersuchungsgegenstand sollte dieser künftig eindeutig, klar abgrenzbar und – im Vergleich zu früher – eng gefasst sein. Dies soll der vorlagepflichtigen Stelle die Entscheidung erleichtern, was vorzulegen ist und was nicht. Außerdem dient eines der neu geschaffenen Organstreitverfahren vor dem Verfassungsgerichtshof dazu, Meinungsverschiedenheiten über die Aktenvorlage zu klären. Alle diese Bemühungen fielen leider nicht auf besonders fruchtbaren politischen Boden. So sind – nach einem anfänglich konstruktiven und konsensualen Start im Rahmen des Hypo-Untersuchungsausschusses1 – Untersuchungsausschüsse wiederum massiv von Auseinandersetzungen zur Aktenvorlage dominiert. Der Ibiza-Untersuchungsausschuss hatte seine Arbeit gerade beendet, da verlangte ein Viertel der Mitglieder des Nationalrates bekanntlich die Einsetzung des ÖVP-Untersuchungsausschusses. Das Vorhaben war gekennzeichnet durch einen völlig untauglichen Untersuchungsgegenstand, gespickt mit juristischen Spitzfindigkeiten, konstruiert mit verfassungsrechtlichen Krücken und vom Versuch geprägt, das sogenannte „Projekt Ballhausplatz“ – also den privaten Zusammenschluss mehrerer Personen, mit der Absicht, sich politisch zu engagieren – zu einem Vorgang der Bundes-

1 Nach einem allgemein sehr sachlichen Start des Untersuchungsausschusswesens nach neuer Rechtslage im Hypo-Untersuchungsausschuss, dem Eurofighter-II- und Eurofighter-IIIUntersuchungsausschuss und auch noch dem BVT-Untersuchungsausschuss scheinen ab dem Ibiza-Untersuchungsausschuss alle Dämme gebrochen zu sein. Vom „sehr verantwortungsvollen Umgang“ und „objektiven Zugang“, von „Rechtsstaatlichkeit statt Politikshow“ und der „sachlichen Aufklärung anstelle eines Tribunals“, so wie es sich die Mandatare aller Fraktionen im Rahmen der Debatte im Plenum des Nationalrates anlässlich des Beschlusses der Reform (Sten. Prot 53. Sitzung NR XXV. GP 60 ff) vornahmen, ist schon lange nichts mehr zu bemerken. An­dreas Khol hat dies in ein einer Serie von Beiträgen in den Jahrbüchern für Politik 2020, 2021 und 2022 anschaulich aufgearbeitet (vgl. Khol, „Der Ibiza-Untersuchungsausschuss auf abschüssigem Weg“, in: Khol/Ofner/Rausch/Karner/Sobotka [Hg.], Österreichisches Jahrbuch für Politik 2020 [2021], 327); Khol, „Wie aus politischen Unterstellungstribunalen wieder parlamentarische Untersuchungsausschüsse werden könnten“, in: Khol/Karner/Sobotka/Ofner/Rausch (Hg.), Österreichisches Jahrbuch für Politik 2021 (2022), 189; Khol, „Die demokratiegefährdende Praxis der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse geht weiter“, in: Khol/Karner/Sobotka/Ofner/ Rausch (Hg.), Österreichisches Jahrbuch für Politik 2022 (2023), 55.

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verwaltung zu machen.2 Vom bestimmten und abgeschlossenen Vorgang im Bereich der Vollziehung des Bundes, so wie es das Bundes-Verfassungsgesetz (B‑VG) verlangen würde, war das alles jedenfalls so weit entfernt, dass sich die verlangende Minderheit schon vor der formalen Einsetzung des Untersuchungsausschusses genötigt sah, den vorlagepflichtigen Bundesministerien mit einem außerhalb der Bestimmungen des GOG-NR und der VO-UA stehenden Brief3 eine Art Interpretationshilfe zu übermitteln. Damit war ein sich über die gesamte Verfahrensdauer ziehender Streit über die Grenzen des Untersuchungsgegenstandes vorprogrammiert. Zur Überraschung der Oppositionsfraktionen führte zudem der uferlose, nicht abgrenzbare Untersuchungsgegenstand – in Verbindung mit der bisherigen Rechtsprechung des VfGH zur Aktenvorlage – gleichzeitig auch zu einer Flut von übermittelten Akten und Unterlagen. Prompt folgte die Beschwerde, die vorlagepflichtigen Stellen würden den Untersuchungsausschuss „mit Akten zumüllen“.4 Für eine Bestreitung des Untersuchungsgegenstandes im Geschäftsordnungsausschuss fand sich bekanntlich keine Mehrheit, wohl aber brachte der Abgeordnete Christian Stocker seine verfassungsrechtlichen Bedenken im Rahmen der Einsetzungsdebatte im Plenum des Nationalrats zum Ausdruck.5 Warum sich die Probleme mit der Aktenvorlage nicht – wie es sich wohl mancher Abgeordnete und auch viele Journalistinnen und Journalisten wünschen würde – lösen lassen, indem den Mandataren des Untersuchungsausschusses unbegrenzt Einschau in den vollständigen Aktenbestand der Ressorts gewährt wird, soll nachfolgend aufgearbeitet werden – ebenso, wie die praktischen Probleme, die sich aus der Judikatur des VfGH zur Aktenvorlage ergeben haben. Auf dieser Basis wird anschließend der konkrete Reformbedarf aufgezeigt.

2 Dazu hat auch schon Andreas Khol in seinem Beitrag im letztjährigen „Jahrbuch für Politik“ in aller Deutlichkeit ausgeführt (vgl Khol, „Wie aus politischen Unterstellungstribunalen wieder parlamentarische Untersuchungsausschüsse werden könnten“, in: Khol/Karner/Sobotka/Ofner/ Rausch [Hg.], Österreichisches Jahrbuch für Politik 2021 [2022], 189 [191]). 3 Schreiben der Fraktionsführer der einsetzenden Minderheit des UA 4/US XXVII. GP vom 8.12.2021. 4 Tageszeitung „Heute“, 28.01.2022, 7. 5 Sten. Prot der 133. Sitzung NR XXVII. GP, 161.

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Untersuchungsausschüsse im Verfassungsgefüge Die Gewaltentrennung in Legislative, Exekutive und Judikative ist eines der Grundprinzipien unserer Bundesverfassung und wesentliches Merkmal eines demokratischen Verfassungsstaats.6 Das durch die historische Entwicklung hin zu einer Parteiendemokratie – in der das Parlament zumeist „Vertrauensstelle der Regierung“7 ist – abgeschwächte Spannungsverhältnis zwischen Legislative und Exekutive8 wird durch die Etablierung von wirksamen9 parlamentarischen Kontrollrechten, die auch von der Minderheit ausgeübt werden können, ausgeglichen.10 Dementsprechend ist seit 2014 nicht nur die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses – der als „schärfstes“11 Kontrollinstrument gilt – auch für eine qualifizierte Minderheit möglich, sondern es kommen dieser Minderheit im Ausschussverfahren auch weitreichende Rechte zu. Parlamentarische Kontrolle stellt somit eine Ergänzung der Gewaltentrennung im Sinne von „checks and balances“ dar. Diese Kontrolltätigkeit darf aber nicht dazu führen, dass die selbstständigen Verantwortungsbereiche der Vollziehung oder die verfassungsgesetzlich gewährleistete Unabhängigkeit bestimmter Organe gegenüber der Gesetzgebung in Frage gestellt werden.12 Der Kontrolle sind also verfassungsgesetzliche Schranken – im Falle der Untersuchungsausschüsse insbesondere durch Art 53 B-VG – gesetzt, die den Handlungsspielraum der Untersuchungsausschüsse beschränken. Dass davon nicht alle Mitglieder eines Untersuchungsausschusses begeistert sind, zeigte sich während des ÖVP-Untersuchungsausschusses

6 Berka, Verfassungsrecht8 (2021) Rz 115. 7 Ermacora, „Der Lucona Ausschuss im Lichte staatswissenschaftlicher Erfahrungen“, in: Khol/ Ofner/Ermacora (Hg.), Österreichisches Jahrbuch für Politik 1989 (1990), 225 (225). 8 Adamovich/Funk/Holzinger/Frank, Österreichisches Staatsrecht – Band 1: Grundlagen2 (2011) Rz 1.039 ff. 9 Pabel, „Kontrolle der Vollziehung“, in: Pürgy (Hg.), Das Recht der Länder, Band I 2012 (529) Rz 28. 10 Adamovich/Funk/Holzinger/Frank, Österreichisches Staatsrecht – Band 1: Grundlagen2 (2011) Rz 15.005. 11 Zögernitz, „Unterschiede zwischen den Verfahren in Untersuchungsausschüssen und bei Gerichten/Ermittlungsbehörden“, in: Khol/Karner/Sobotka/Ofner/Rausch (Hg.), Österreichisches Jahrbuch für Politik 2021 (2022), 127 (128); Bußjäger, „Untersuchungsausschüsse im Bund und bei den Ländern“, ÖJZ 2016/50 (348) 348. 12 AB 439 BlgNR XXV. GP, 4.

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immer wieder. So wurden laufend dieselben, sich außerhalb des Untersuchungsgegenstandes befindlichen und daher unzulässigen Fragen gestellt. Gleichzeitig beschwerte man sich jedoch über zu viele Wortmeldungen zur Geschäftsordnung. Während der Befragung eines Landeshauptmannes, dem zum wiederholten Male dieselbe – wie auch von der Vorsitzenden festgestellt – unzulässige Frage gestellt wurde, brachte einer der Abgeordneten das oppositionelle Wunschdenken klar auf den Punkt: „Ich meine, diese Diskussion, ob jetzt etwas rechtlich zulässig ist oder nicht: Das hier ist eine politische Veranstaltung.“13 Doch dabei handelt es sich um einen Irrtum. Die der parlamentarischen Kontrolle unterliegenden Organe handeln auf Grundlage der Gesetze: „Die gesamte staatliche Verwaltung darf nur aufgrund der Gesetze ausgeübt werden.“14 Sie haben die Verwaltung „nach den Bestimmungen der Gesetze“15 zu führen. Das betrifft auch ihre Tätigkeit im Rahmen der Vorlage von Akten und Unterlagen an einen Untersuchungsausschuss. Ihnen fallen im Rahmen ihrer Aufgabenbesorgung vielfältige Informationen zu, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind, etwa aus Gründen der nationalen Sicherheit und des Datenschutzes oder weil sie Personen kompromittieren könnten.16 Die betreffenden Organe unterliegen daher der Verpflichtung zur Wahrung der Amtsverschwiegenheit17 und weiteren Verschwiegenheits- und Geheimhaltungsverpflichtungen.18 Diese Amtsverschwiegenheit gilt für die obersten Organe des Bundes grundsätzlich auch gegenüber dem Nationalrat.19 Keineswegs können diese Organe daher einem Untersuchungsausschuss ihre Akten und Unterlagen nach Gutdünken zur Verfügung stellen.

13 Sten. Prot. der Befragung der Auskunftsperson Mag. Markus Wallner am 1. Juni 2022, 545/KOMM XXVII. GP, Seite 72. 14 Art 18 Abs 1 B-VG. 15 Art 20 Abs 1 B-VG. 16 Forster, Art 20 B-VG, in: Kahl/Khakzadeh/Schmid (Hg.) Kommentar zum Bundesverfassungsrecht, Rz 26. 17 Art. 20 Abs. 3 B-VG. Diese ist zwar immer wieder Gegenstand kontroversieller Diskussionen und die (lauten) Forderungen nach einem Informationsfreiheitsgesetz mögen in einem modernen, liberalen Staat ihre Berechtigung haben. Dennoch hat sich die Verwaltung an der aktuellen Rechtslage zu orientieren. 18 Bspw. dem Datenschutz. 19 Wieser, Art. 20 Abs. 3 B-VG, in: Korinek/Holoubek/Bezemek/Fuchs/Martin/Zellenberg (Hg.), Bundesverfassungsrecht (4. Lfg 2001) Rz 53.

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Es bedarf vielmehr entsprechender gesetzlicher Ermächtigungen. Die Verpflichtung nach Art. 53 Abs. 3 B-VG, einem Untersuchungsausschuss auf Verlangen im Umfang des Gegenstandes der Untersuchung Akten und Unterlagen vorzulegen, ist eine lex specialis zu Art. 20 Abs. 3 B-VG.20 Im Rahmen des Untersuchungsgegenstandes kann sich ein vorlagepflichtiges Organ daher gegenüber dem Untersuchungsausschuss nicht auf das Amtsgeheimnis berufen. Außerhalb des Untersuchungsgegenstandes ist es jedoch sehr wohl an die Amtsverschwiegenheit gebunden. Verletzt ein vorlagepflichtiges Organ die Amtsverschwiegenheit ohne entsprechende Rechtfertigung – wie etwa die lex specialis durch Art. 53 Abs. 3 B-VG –, kann dies strafund dienstrechtliche Folgen nach sich ziehen und überdies Forderungen aus der Amtshaftung auslösen. Wenngleich es die öffentlichen Inszenierungen einiger Mitglieder des Untersuchungsausschusses nicht vermuten lassen, ist dieses Spannungsverhältnis zwischen Vorlageverpflichtung einerseits und Bindung an das Amtsgeheimnis andererseits auch den Oppositionsfraktionen durchaus bewusst. Im schon erwähnten Brief der einsetzenden Minderheit des ÖVP-Untersuchungsausschusses wies diese auf die „schwierige Aufgabe“ der mit der Vorlage von Akten und Unterlagen befassten Mitarbeiter hinsichtlich „des Spannungsverhältnisses zwischen möglichen Amtshaftungsansprüchen einerseits und der Verletzung von Vorlagepflichten andererseits“ selbst hin.21 Um dieses Spannungsverhältnis zwischen den beiden Staatsgewalten aufzulösen und Lösungen bei Meinungsverschiedenheiten über die Zurverfügungstellung von Informationen zu ermöglichen, hat der Verfassungsgesetzgeber im Rahmen der Neugestaltung des Untersuchungsausschuss-Rechts auch eine Reihe von Organstreitverfahren vor dem VfGH eingerichtet.22 Während

20 Dies war auch die herrschende Lehre vor der Reform des Untersuchungsrechts (vgl dazu bspw. Feik, Art 20 Abs 3 B‑VG, in: Kneihs/Lienbacher, RSK-Kommentar Bundesverfassungsrecht, 5. Lfg (2007) Rz 17), anders als für die sonstigen Instrumente der politischen Kontrolle in Art. 52 B-VG, für die die herrschende Lehre die Amtsverschwiegenheit nicht durchbrochen sieht (vgl. bspw Kahl, Art. 52 B-VG, in: Korinek/Holoubek/Bezemek/Fuchs/Martin/Zellenberg (Hg.), Bundesverfassungsrecht (10. Lfg 2011) Rz 38 f. 21 Schreiben der Fraktionsführer der einsetzenden Minderheit des UA 4/US XXVII. GP vom 08.12.2021, 1. 22 Art 138b Abs 1 Z 4 B-VG.

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solche Organstreitverfahren zuvor eher eine „Randerscheinung“23 im Tätigkeitsspektrum des VfGH darstellten, liegen mittlerweile bereits über drei Dutzend Beschlüsse und Erkenntnisse aus diesen Verfahren vor. Für den VfGH bedeutet dies, im Spannungsverhältnis zwischen Politik und Recht – und somit auf „politischem Terrain“24, so Präsident Christoph Grabenwarter – Recht sprechen zu müssen. Der Untersuchungsausschuss ist ein Instrument der politischen Kontrolle, nicht der rechtlichen.25 Grabenwarter stellte auch fest, dass die Rolle der Justiz an sich eine zurückhaltende sei. Sie habe auf dem „Schlachtfeld der Politik“ nichts verloren.26 Man wolle nicht ins „Epizentrum der parteipolitischen Diskussion“ rücken.27 Judikatur zur Aktenvorlage Bereits das erste vor dem VfGH geführte Organstreitverfahren hatte die Vorlage von Akten und Unterlagen an den Untersuchungsausschuss zum Inhalt. Viele weitere sollten folgen. Die Judikaturlinien zu den drei wesentlichen Fragen – Ausnahmen von der Vorlageverpflichtung, Untersuchungsgegenstand als äußere Grenze der Vorlageverpflichtung sowie abstrakte Relevanz – werden nachfolgend dargestellt. Aktenvorlage und Ausnahmetatbestände Bereits in seinem ersten Erkenntnis hielt der VfGH fest, dass die einzigen Ausnahmen von der durch Art. 53 B-VG festgelegten Verpflichtung zur Aktenvorlage28 ebenfalls durch das B-VG normiert sind.29 Dies bedeutet, dass sonstige – weder einfachgesetzliche noch verfassungsgesetzliche – Verschwiegenheitspflichten, an die das vorlagepflichtige Organ an sich gebun-

23 Struth, „Organstreitigkeiten“, in: Grabenwarter/Holoubek/Madner/Pauser (Hg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in der Zukunft – Zukunft der Verfassungsgerichtsbarkeit (2021), 3 (3). 24 Christoph Grabenwarter, Interview mit den „Vorarlberger Nachrichten“, 1. 1.2023, www.vn.at (abgerufen am 01.01.2023). 25 UA 1/2020-15, 3. März 2020, VfSlg 20.370 Rz 166. 26 Tiroler Tageszeitung, 21.05.2022, 6. 27 Tiroler Tageszeitung, 21.05.2022, 6. 28 Es sind dies die Beeinträchtigung der rechtmäßigen Willensbildung der Bundesregierung iSd Art. 53 Abs. 4 B‑VG sowie der Quellenschutz iSd Art. 53 Abs. 3 letzter Satz B-VG. 29 UA 2/2015 uA, VfSlg 19.973 Rz 62.

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den ist, eine Einschränkung der Aktenvorlage rechtfertigen.30 Ein informationspflichtiges Organ hat daher ohne Rücksicht auf sonst bestehende Verschwiegenheitspflichten die vom Untersuchungsausschuss angeforderten Akten und Unterlagen im Umfang des Untersuchungsgegenstandes ungeschwärzt und unabgedeckt vorzulegen.31 Eine Vorlage kann nicht abgelehnt werden, wenn angeforderte Akten und Unterlagen vom Untersuchungsgegenstand erfasst sind.32 Der VfGH weist wohl darauf hin, dass das vorlagepflichtige Organ besonders schutzwürdige Informationen nach den Bestimmungen des Informationsordnungsgesetzes zu klassifizieren hat.33 Er macht ebenso deutlich, dass sich aus dieser umfassenden Vorlageverpflichtung nicht die Befugnis des Untersuchungsausschusses oder eines seiner Mitglieder ergibt, die aus den vorgelegten Akten und Unterlagen gewonnenen Informationen in jedem Fall an die Öffentlichkeit zu bringen – auch nicht im schriftlichen Bericht des Untersuchungsausschusses. Vielmehr hat auch der Untersuchungsausschuss regelmäßig eine Interessenabwägung zwischen privaten Geheimhaltungsinteressen34 und öffentlichen Interessen35 vorzunehmen.36 Tatsächlich kann durch das Informationsordnungsgesetz das für das Grundrecht auf Datenschutz und andere grundrechtliche Garantien – etwa das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens oder das Recht auf ein faires Verfahren – erforderliche Schutzniveau aus mehreren Gründen in der Praxis nicht erreicht werden. Eine korrekte Aktenvorlage im Sinn des Informationsordnungsgesetzes hat sich am Informationsbegriff und nicht am Aktenbegriff zu orientieren. Dies bedeutet, es sind die einzelnen schutzbedürftigen Informationen zu klassifizieren, nicht ein gesamtes Dokument oder gar ein gesamter Akt. Ein dem Nationalrat zugeleitetes Dokument kann also durchaus In-

30 UA 2/2015 uA, VfSlg 19.973 Rz 63. 31 UA 2/2015 uA, VfSlg 19.973 Rz 64. 32 UA 2/2015 uA, VfSlg 19.973 Rz 66. 33 UA 2/2015 uA, VfSlg 19.973 Rz 64. 34 Der VfGH verweist in diesem Zusammenhang auf den Datenschutz und die Achtung des Privat- und Familienlebens. 35 Dazu zählt auch die Bekanntgabe der Kontrollergebnisse des Untersuchungsausschusses. 36 UA 2/2015 uA, VfSlg 19.973 Rz 65.

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formationen enthalten, die durch verschiedene Klassifizierungsstufen geschützt sind. Diese Klassifizierung erfordert neben sorgfältiger Arbeit unweigerlich auch einen entsprechenden Zeitrahmen. In Anbetracht der – trotz der neuen verfassungsgesetzlichen Bestimmungen – immer stärker ausufernden Untersuchungsgegenstände und verhältnismäßig kurzen Vorlagefristen ist dies schlicht unmöglich. Während bei den vorlagepflichtigen Organen regelmäßig die Anzahl jener, die Zugang zu schutzwürdigen Informationen erhalten, so klein wie möglich gehalten und außerdem der tatsächliche Zugriff über elektronische Systeme wie den elektronischen Akt (ELAK) protokolliert wird, ist dies bei dem Parlament zugeleiteten Informationen, auch wenn sie nach dem InfOG klassifiziert sind, nicht der Fall. Zu in Stufe 1 klassifizierten Informationen ist der Zugang innerhalb des parlamentarischen Betriebs nicht reglementiert. Neben allen Abgeordneten und den Bediensteten der Parlamentsdirektion haben auch alle Bediensteten der parlamentarischen Klubs Zugang. Bei Informationen in den Klassifizierungsstufen 2 oder 3 haben neben den Mitgliedern und Ersatzmitgliedern des Untersuchungsausschusses über 150 Mitarbeiter der Parlamentsdirektion und der Klubs Zugang. Diese Informationen werden also einem großen Personenkreis bekannt. Während die unbefugte Weitergabe solcher Informationen im ­Bereich der vorlagepflichtigen Organe (regelmäßig die Bundesministerien) durch §  310 StGB strafrechtlich und durch Bestimmungen des BDG und des VGB dienstrechtlich bewährt ist, fehlt eine strafrechtliche Bewährung für Informationen der Stufe 1 und Stufe 2 für den Untersuchungsausausschuss völlig. Das bei „fortgesetzter Verletzung der Bestimmungen des ­InfOG“ zu verhängende Ordnungsgeld nach Erteilung eines Rufes „zur Sache“ wird wohl kaum geeignet sein, den angesprochenen Grundrechtsschutz zu gewährleisten.37 Das InfOG gewährleistet also für Informationen der Klassifizierungsstufen 1 und 2 keinen praktischen Schutz. Die direkte Weitergabe von dem Untersuchungsausschuss zugeleiteten, klassifizierten Informatio­ nen an die Medien ist in zahlreichen Fällen dokumentiert. Mittlerweile

37 § 21 Abs. 1 Z 4 iVm 54 VO-UA; Vgl. dazu ausführlich: Baumgartner, Untersuchungsausschüsse und Datenschutz, JBl 2022 (201) 206 f.

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versuchen viele Medien gar nicht mehr, ihre Quellen zu verheimlichen. So titelte eine Tageszeitung mit „Aus den Akten des ÖVP-Untersuchungsausschusses“. Die Tageszeitung „Der Standard“ gab bekannt, es gäbe aufschlussreiche Dokumente, „die das Finanzministerium an den U-Ausschuss lieferte und die auch dem STANDARD vorliegen.“38 Dass die SMS-Nachrichten zwischen einem Verfassungsrichter und einem Sektionschef im Justizministerium von NEOS „geleakt“ wurden, wurde sogar von deren Fraktionsführerin öffentlich eingestanden. Es steht außer Frage, dass eine derartige lex imperfecta dem Schutz verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte, wie dem Grundrecht auf Datenschutz und den Bestimmungen der DSGVO, der Achtung des Privat- und Familienlebens oder dem Schutz auf ein faires Verfahren, definitiv nicht genügt. Untersuchungsgegenstand als äußere Grenze für die Aktenvorlage Der VfGH hat bereits ausgesprochen, dass dem Nationalrat durch Art  53 B‑VG zwar besondere Möglichkeiten der Informationserlangung eingeräumt werden, die dem Nationalrat durch die Bundesverfassung übertragene Aufgabe, einen bestimmten abgeschlossenen Vorgang im Bereich Vollziehung des Bundes zu untersuchen, begrenzt aber auch die Rechte und Pflichten des Untersuchungsausschusses. Mit dessen Einsetzung wird auch der Untersuchungsgegenstand festgelegt.39 Eine Vorlageverpflichtung besteht nicht, wenn Akten und Unterlagen nicht vom Untersuchungsgegenstand erfasst sind.40 Dieser legt den „Rahmen des Tätigkeitsbereiches des Untersuchungsausschusses“ fest. Der Untersuchungsausschuss ist an diesen Rahmen gebunden. Er bildet gleichzeitig die Begrenzung der übertragenen Zwangsbefugnisse.41 Akten und Unterlagen außerhalb des Untersuchungsgegenstandes unterliegen somit nicht der Vorlagepflicht an den Untersuchungsausschuss. Der VfGH führt in diesem Zusammenhang zudem aus, dass der Untersuchungsgegenstand auch dem Schutz der von Vorlageverpflichtungen betrof-

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Der Standard, 21.04.2022, 1. UA 2/2015 uA, VfSlg 19.973 Rz 61. UA 2/2015 uA, VfSlg 19.973 Rz 66. UA 1/2020-15, 3. März 2020, VfSlg 20.370 Rz 172.

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fenen Organen dient. Der Untersuchungsgegenstand konkretisiert deren Vorlagepflicht und bestimmt den Vorlageumfang.42 Genau so wenig, wie es nicht vom Belieben betroffener Organe abhängt, welche Akten und Unterlagen innerhalb des Untersuchungsgegenstandes sie dem Untersuchungsausschuss vorlegen,43 liegt es in ihrem Belieben, Akten und Unterlagen außerhalb des Untersuchungsgegenstandes vorzulegen. Wie bereits ausgeführt, kommt eine „freiwillige“ Vorlage schon deshalb nicht infrage, weil die Ausnahme vom Amtsgeheimnis – also die Anerkennung des Art. 53 Abs. 3 B-VG als lex specia­lis zu Art. 20 Abs. 3 B-VG – im Rahmen der Aktenvorlage an Untersuchungsausschüsse nur innerhalb deren Rahmens – also des Untersuchungsgegenstandes – greift. Anders gewendet: Akten und Unterlagen außerhalb des Untersuchungsgegenstandes dürfen dem Untersuchungsausschuss aufgrund der Pflicht zur Amtsverschwiegenheit nicht vorgelegt werden. Schon der vom Geschäftsordnungsausschuss zu fassende grundsätz­ liche Beweisbeschluss verpflichtet die vorlagepflichtigen Organe zur „voll­ ständigen Vorlage“ von Akten und Unterlagen „im Umfang des Unter­su­ chungs­gegenstands“.44 Die vorlagepflichtigen Organe haben bereits zu Beginn des Untersuchungsausschusses ihren Aktenbestand danach zu sortieren, ob bestimmte Aktenstücke vom Untersuchungsgegenstand umfasst sind oder nicht. Behauptungs- und Begründungspflicht Bereits in VfSlg 19.973/2015 stellte der VfGH klar, dass die „bloße Behauptung“, ein Akt sei vom Untersuchungsgegenstand umfasst,45 nicht genügt: Es bedarf einer hinreichend detaillierten Begründung.46 In UA 3/2018-30 führte er aus, das vorlagepflichtige Organ habe dieser Behauptungs- und Begründungspflicht47 bereits gegenüber dem Untersuchungsausschuss und

42 UA 1/2020-15, 3. März 2020, VfSlg 20.370 Rz 172. 43 UA 1/2020-15, 3. März 2020, VfSlg 20.370 Rz 172. 44 § 3 Abs 5 iVm § 24 Abs. 1 VO-UA. 45 Damals noch in Bezug auf das Vorbringen vor dem VfGH. 46 UA 2/2015 uA, VfSlg 19.973 Rz 67. 47 In UA 3/2018-30 hinsichtlich des Vorliegens des Ausnahmetatbestandes nach Art. 53 Abs. 4 B-VG.

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nicht erst im Verfahren vor dem VfGH nachzukommen.48 Die Nichtvorlage sei auf einzelne Akten oder Unterlagen zu beziehen und substanziiert zu begründen.49 Da ein Nachschieben von Begründungen im Organstreitverfahren für keine der Streitparteien möglich ist, prüft der VfGH lediglich, ob und inwieweit den Begründungspflichten spätestens bis zum Ende der Nachbesserungsfrist für die Vorlage50 entsprochen worden ist.51 Im Falle der Ablehnung einer Vorlage müssen die Mitglieder des Untersuchungsausschusses nachvollziehen können, welche Akten und Unterlagen aus welchen Gründen nicht vorgelegt werden. Es bedarf daher zuerst einer Umschreibung des Akten- und Unterlagenbestandes und schließlich einer darauf bezogenen substanziierten Begründung. Wenn sich Akten und Unterlagen als sehr umfangreich erweisen,52 kann es zweckmäßig sein, jene Dokumente, die in einem unmittelbaren sachlichen Zusammenhang stehen, zu Kategorien zusammenzufassen und die Ablehnung ihrer Vorlage je Kategorie zu begründen. Die jeweils geforderte Begründungstiefe ist dabei vom Gegenstand und Umfang der angeforderten Akten und Unterlagen abhängig.53 Für den Fall einer mangelhaften Begründung stellte der VfGH fest: „Kommt das vorlagepflichtige Organ nur seiner Behauptungspflicht nach, begründet es aber die Ablehnung der geforderten Akten und Unterlagen gegenüber dem Untersuchungsausschuss nicht oder in ungenügender Weise, gelten die von der antragstellenden Minderheit angeforderten Akten und Unterlagen als vom Untersuchungsgegenstand erfasst.“54 Im Verfahren UA 4/2021-18, 10. 5. 2021 betraf dies die Vorlage der vollständigen E-Mail-Postfächer von 15 Mitarbeitern des Bundeskanzlers, des Kanzleramtsministers sowie des allgemeinen Kanzlei-E-Mailpostfachs des Kabinetts. Es ist denkunmöglich, dass in diesen Postfächern nicht auch

48 UA 3/2018-30, 11.12.2018 Rz 181. 49 UA 3/2020-11, 2. Dezember 2020, VfSlg 20.425, Rz 153. 50 Kommt ein informationspflichtiges Organ nach Auffassung des Untersuchungsausschusses oder eines Viertels seiner Mitglieder der Verpflichtung einer Aufforderung zur Vorlage von Akten und Unterlagen nicht oder nur ungenügend nach, kann es aufgefordert werden, innerhalb einer Frist von zwei Wochen diesen Verpflichtungen nachzukommen. Vgl § 27 Abs. 4 VO‑UA. 51 UA 4/2021-18, 10.05.2021, Rz 118. 52 Im gegenständlichen Fall umfasste die Aktenanforderung mehrere gesamte E-Mailpostfächer. 53 UA 4/2021-18, 10.05.2021, Rz 119. 54 UA 4/2021-18, 10.05.2021, Rz 133. Ebenso in UA 3/2021-16, 10.05.2021, Rz 74.

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zahllose, vom Untersuchungsgegenstand des Ibiza-UA nicht umfasste Informationen enthalten waren.55 Natürlich kann man erwarten, dass vorlagepflichtige Organe eine entsprechend fehlerfreie Begründung für die Nichtvorlage von Akten und Unterlagen vorbringen. Man darf dabei aber nicht vergessen: Es sind nicht immer juristische gebildete Mitarbeiter oder gar (Verfassungs-) Juristen, die Beurteilung und Begründung vornehmen. Die Untersuchungsgegenstände werden zudem immer ausschweifender und unbestimmter, was die Aktenvorlage nicht erleichtert. Nicht nur der VfGH, sondern auch die vorlagepflichtigen Organe müssen ihre Aufgabe in teilweile unangemessen kurzen Fristen erledigen. Fehler sind unvermeidlich. Im Ergebnis bedeutet dies Folgendes: Wenn einem vorlagepflichtigen Organ ein Fehler hinsichtlich der Begründung, warum bestimmte Akten und Unterlagen nicht vom Untersuchungsgegenstand umfasst sind, unterläuft, hat es diese Akten und Unterlagen dem Untersuchungsausschuss zu übermitteln, obwohl sich die verfassungsrechtliche Ermächtigung – nämlich die Durchbrechung des Amtsgeheimnisses zugunsten der lex specialis des Art. 53 B-VG – nur auf jene Akten und Unterlagen bezieht, die von einem gültigen Untersuchungsgegenstand umfasst sind. Genau dies ist in der Praxis auch schon geschehen. Aktenvorlage und Untersuchungsgegenstand: Abstrakte Relevanz Wie bereits dargestellt, wird durch den Untersuchungsgegenstand die Verpflichtung zur Vorlage von Akten und Unterlagen konkretisiert und jener Umfang bestimmt, innerhalb dessen Akten und Unterlagen vorzulegen sind.56 In einem Organstreitverfahren hinsichtlich der Verpflichtung des Innenministers, dem BVT-Untersuchungsausschuss57 bestimmte Akten und Unterlagen vorzulegen, nahm der VfGH schließlich erstmals Bezug auf das Konzept der „abstrakten Relevanz“, indem er ausführte, dass vorweg zu

55 So stimmte der VfGH in einem Organstreitverfahren zwischen qualifizierter Minderheit und Mehrheit des Untersuchungsausschusses der bestreitenden Mehrheit zu, die ausführte, dass die Vorlage eines gesamten Mail-Accounts „derart weit und undifferenziert“ sei, dass davon sicherlich auch vieles erfasst sei, das keinen Bezug zum Untersuchungsgegenstand aufweise (vgl. UA 4/2022-12, 29.06.2022, Rz 49 f). 56 UA 1/2020-15, 3. März 2020, VfSlg 20.370 Rz 172. 57 UA 3/US XXVI. GP.

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prüfen ist, ob die näher bezeichneten Akten „im Umfang des Gegenstandes der Untersuchung“ liegen. Es bestünde „allein schon […] angesichts des weit formulierten Untersuchungsgegenstandes kein Zweifel“ daran, dass jene Akten und Unterlagen, die das Kabinett des Bundesministers für Inneres kabinettsintern dem BVT zuordne, „zumindest eine abstrakte Relevanz für den Untersuchungsgegenstand [des BVT-Untersuchungsausschusses] haben bzw. haben können“.58 Der VfGH verwies in dem Zusammenhang auf ein Verfahren zwischen dem Rechnungshof und einem Ministerium über die Reichweite der Prüfzuständigkeit des Rechnungshofes,59 in dem er aussprach, dass dem Rechnungshof nur dann (unbeschränkt) Auskünfte und Einsicht auch in vertrauliche Unterlagen gewährt werden muss, wenn dies zum Zwecke der Gebarungsprüfung erforderlich ist. Die Einschaurechte des Rechnungshofes sind verfassungsrechtlich nur insoweit abgesichert, als diese Unterlagen irgendeine abstrakte Relevanz für die Gebarungsüberprüfung der geprüften Stelle haben bzw. haben können.60 Hinsichtlich eines anderen im Organstreitverfahren verfangenen Aktenstückes führte der VfGH aus, dieses weise „nicht einmal die geforderte abstrakte Relevanz für den Untersuchungsgegenstand“ auf und sei daher von der Vorlagepflicht ausgenommen.61 Kurz darauf erkannte der VfGH im Rahmen einer Meinungsverschiedenheit zwischen der Finanzprokuratur und dem Eurofighter-Untersuchungsausschuss62 wiederum, dass für ihn „angesichts des weit formulierten Untersuchungsgegenstandes“63 kein Zweifel besteht, dass Akten und Unterlagen der Task Force Eurofighter „zumindest eine abstrakte Relevanz für den Untersuchungsgegenstand haben bzw. haben können“. Es sei nicht ausgeschlossen, dass diese Akten und Unterlagen der Erfüllung des dem ­ Untersuchungsausschuss mit dem Untersuchungsgegenstand ­übertragenen

58 UA 1/2018-15, 14.09.2018, Rz 80. 59 Verfahren nach Art 126a B-VG, konkret auf VfSlg 19.910/2014. 60 VfSlg 19.910/2014 Rz 57. 61 UA 1/2018-15, 14.09.2018, Rz 83. 62 UA 1/US XXVI. GP. Dieser von einer Mehrheit des Nationalrates eingesetzte Untersuchungsausschuss tagte parallel mit dem BVT-Untersuchungsausschuss. 63 UA 3/2018-30, 11.12.2018 Rz 165.

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Kontrollauftrages dienen könnten.64 Was genau unter dieser „abstrakten Re­ levanz“ zu verstehen sei und wie sich dieser Maßstab nunmehr von der bisherigen Vorgehensweise – nämlich der Prüfung, ob ein Aktenstück vom Untersuchungsgegenstand umfasst sei oder nicht – unterscheidet, äußerte sich der VfGH in den beiden Erkenntnissen nicht.65 Jedenfalls warf die neue Formulierung in der Praxis mehr Probleme auf, als sie Entscheidungshilfe66 darstellte. Dennoch nahm der Geschäftsordnungsausschuss in seinem grundsätzlichen Beweisbeschluss für den Ibiza-Untersuchungsausschuss erstmals auf die „abstrakte Relevanz“ Bezug, indem er im Zusammenhang darüber, was er unter der Wendung „Akten und Unterlagen“ verstehe, anfügte, dass es gemäß der Rechtsprechung des VfGH genüge, dass solche Akten und Unterlagen „abstrakt für die Untersuchung von Relevanz sein könnten“.67 Ausführungen darüber, wie eine Überprüfung dieser „abstrakten Relevanz“ vorzunehmen wäre, traf auch der Geschäftsordnungsausschuss nicht. Die das vorlagepflichtige Organ treffende, auf die einzelnen Akten unter den Unterlagen näher bezogene, substanziierte Begründungspflicht für die fehlende (potentielle) abstrakte Relevanz der nicht vorgelegten Aktenstücke besteht nach der Rechtsprechung des VfGH bereits gegenüber dem Untersuchungsausschuss und nicht erst im Verfahren vor dem VfGH.68 In UA 4/2020-10, 18.01.2021, einem Verfahren über die Rechtmäßigkeit eines Beschlusses des Ibiza-Untersuchungsausschusses hinsichtlich des fehlenden sachlichen Zusammenhangs der Ladung einer Auskunftsperson mit dem Untersuchungsgegenstand, übertrug der VfGH die Verpflichtung, die „fehlende (potenzielle) abstrakte Relevanz der Ladung der verlangten Auskunftsperson“ zu begründen, auch der beschlussfassenden Mehrheit im Untersuchungsausschuss.69 Erst in UA 4/2022-12, 29.05.2022,

64 UA 3/2018-30, 11.12.2018 Rz 165. 65 Anders als die Finanzprokuratur, die bereits in UA 3/2018-30, 11.12.2018, ausführte, dass auch „die abstrakte Eignung eines Aktes und einer Unterlage eine Grundlage in einem konkreten und rechtlich zulässigen Untersuchungsgegenstand haben“ müsse. Vgl UA 3/2018-30, 11.12.2018 Rz 156. 66 Khol, Kommentar der anderen, 11.05.2021, 23. 67 AB 33 Anlage 2 BlgNR XXVII. GP, 1. 68 UA 3/2020-11, 02.12.2020, VfSlg 20.425, Rz 153 f. 69 UA 4/2020-10, 18.01.2021, Rz 43; Ebenso in UA 1/2021-13, 3. März 2021, Rz 102, UA 3/2021-16, 10.05.2021 Rz 68, UA 4/2021-18, 10.05.2021 Rz 113 f.

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einem Organstreitverfahren zwischen einem Untersuchungsausschuss und einem Viertel seiner Mitglieder hinsichtlich des sachlichen Zusammenhangs einer ergänzenden Beweisanforderung, erhellte der VfGH den Rechtsanwender, in dem er ausführte, dass es den Organstreitparteien im Rahmen ihrer Begründungspflicht obliegt, auszuführen, ob ein Verlangen „vom Umfang des Untersuchungsgegenstandes gedeckt – und damit von (potentieller) abstrakter Relevanz für den Untersuchungsgegenstand – ist“ oder nicht.70 Einem Verlangen hingegen, das „nicht ‚im Umfang des Gegenstandes der Untersuchung‘ liegt“, kommt auch „keine abstrakte Relevanz für den Untersuchungsgegenstand“ zu.71 Der VfGH stellte damit klar, dass Akten und Unterlagen dann von (potenzieller) abstrakter Relevanz für den Untersuchungsgegenstand sind, wenn sie vom Untersuchungsgegenstand gedeckt sind. Erreicht ein vorlage­ pflichtiges Organ also die Aufforderung zur Vorlage von Akten und Unterlagen, hat es zu überprüfen, ob die angeforderten Akten und Unterlagen vom Untersuchungsgegenstand umfasst sind und damit die abstrakte Relevanz zu bejahen ist oder, ob die angeforderten Akten und Unterlagen nicht vom Untersuchungsgegenstand umfasst sind und damit die abstrakte Relevanz zu verneinen ist. Daher ist im Rahmen einer Aktenvorlage nach wie vor schlicht zu überprüfen, ob Akten und Unterlagen vom Untersuchungsgegenstand umfasst sind oder nicht. Reformbedarf und Ausblick Die Judikatur des VfGH zur „abstrakten Relevanz“ birgt somit d­eutlich weniger Probleme als vielfach befürchtet, führt sie doch – nach den Klarstellungen des VfGH in seinen jüngsten Judikaten – keinesfalls zu einer Ausdehnung der Vorlagepflicht. Es handelt sich dabei nur um eine andere Umschreibung der bisher bereits geübten Praxis: Bei jedem Ersuchen um Vorlage von Akten und Unterlagen hat das vorlagepflichtige Organ zu prüfen, ob der konkrete Akt vom Untersuchungsgegenstand des Unter-

70 UA 4/2022-12, 29.05.2022, Rz 42. 71 UA 4/2022-12, 29.05.2022, Rz 46.

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suchungsausschusses umfasst ist – und ihm somit eine abstrakte Relevanz zukommt – oder eben nicht. Weit größere Auswirkungen hat die Feststellung des VfGH, dass im Rahmen der Vorlage von Akten und Unterlagen, die innerhalb des Untersuchungsgegenstandes stehen, über die zwei verfassungsgesetzlich angeordneten Ausnahmen des Quellenschutzes sowie der Wahrung eines Kernbereichs exekutiver Eigenverantwortung hinaus, keine sonstigen Verschwiegenheitsverpflichtungen – wie etwa der Datenschutz  – eine Nichtvorlage rechtfertigen. Solche schutzbedürftigen Informationen sind nach dem InfOG zu klassifizieren. Dass dadurch das notwendige Schutz­niveau nicht garantiert wird – „Leaks“ stehen faktisch an der Tagesordnung – ist mittlerweile evident. Aus rechtsstaatlichen Überlegungen ist es geboten, dass der (Verfassungs-)Gesetzgeber Regelungen erlässt, die das grundrechtlich gebotene Schutzniveau sicherstellen. Erhebliche – und bisher leider kaum beachtete – Auswirkungen hat eine weitere Feststellung des VfGH: Er geht davon aus, wenn ein vorlagepflichtiges Organ im Rahmen des dem Verfahren vor dem VfGH vorgelagerten wechselseitigen Kommunikationsprozesses gegenüber dem Untersuchungsausschuss seine Begründungspflicht, warum Akten oder Unterlagen nicht vom Untersuchungsgegenstand umfasst seien, nicht oder nur ungenügend nachkommt, diese Akten und Unterlagen „als vom Untersuchungsgegenstand erfasst“ gelten. Dies gilt ohne weitere Überprüfung des tatsächlichen Inhaltes dieser Akten und Unterlagen bzw. ohne Möglichkeit der Verbesserung der Begründungspflicht. Die Akten und Unterlagen sind somit ohne weitere Rücksichtnahme auf das Amtsgeheimnis dem Untersuchungsausschuss zu übermitteln – auch, wenn sie tatsächlich nicht vom Untersuchungsgegenstand umfasst sind. Zu dieser kuriosen Situation kommt es, weil der VfGH sich – wo immer möglich – auf die Klärung formaler Fragen zurückzieht und nicht inhaltlich entscheidet.72 Das mag aus Sicht des VfGH konsequent sein. Das Resultat – nämlich eine Durchbrechung des Amtsgeheimnisses für Akten und Unterlagen, die nicht von der Ermächti-

72 So hielt auch der Präsident des VfGH fest, dass der VfGH – weil es „so ein politisches Feld“ sei, auf dem man sich bewege – „einen besonders hohen Wert auf verfahrensrechtliche Feinheiten und auf Formvorschriften“ lege. Diese führe „manchmal eben zu formalen Entscheidungen“ (vgl FN 21).

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gung des Art. 53 B-VG umfasst sind – wird der Verfassungsgesetzgeber bei der Beschlussfassung der Untersuchungsausschuss-Rechtsnovelle kaum intendiert haben. Weder finden sich Hinweise dafür in den Materialien, noch existiert eine entsprechende verfassungsgesetzliche Grundlage. Besonders in diesem Bereich werden Regelungen zu erlassen sein, die ein verfassungskonformes Handeln der vorlagepflichtigen Organe ermöglichen. Als ebenso problematisch erweisen sich die immer ausufernder und unbestimmbarer formulierten Untersuchungsgegenstände. Zwar stellte der VfGH fest, dass grundsätzlich der einsetzenden Minderheit das Recht zukommt, das Thema des von ihr eingesetzten Untersuchungsausschusses selbst zu bestimmen.73 Er stellt aber auch klar, dass ein solches Verlangen nur dann zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses führen kann, wenn der zu untersuchende Vorgang den Anforderungen des Art. 53 Abs. 2 B-VG an den Untersuchungsgegenstand entspricht. Der Verfassungsgesetzgeber hat zur Überprüfung dieser Anforderungen für den Fall eines von einer qualifizierten Minderheit verlangten Untersuchungsausschusses den Geschäftsordnungsausschuss bestimmt und der qualifizierten Minderheit ein entsprechendes Organstreitverfahren beim VfGH eröffnet, um sich wiederum gegen einen solchen Beschluss der Mehrheit des Geschäftsordnungsausschusses wehren zu können. Wenn sich nunmehr – bei begründeten Bedenken – keine Mehrheit für eine Bestreitung des Untersuchungsgegenstandes findet, wird der Untersuchungsausschuss – mangels Beschlusses des Geschäftsordnungsausschusses74 – mit einem verfassungswidrigen Untersuchungsgegen­

73 UA 1/2020-15, 03.03.2020, VfSlg 20.370, Rz 167. 74 Warum dieser nicht gefasst wurde, kann an dieser Stelle dahingestellt bleiben. Andreas Khol vermutet in seinem Beitrag im Jahrbuch für Politik 2020, (Teile) der Mehrheit befürchteten wohl eine (neuerliche) Medienschelte (Khol, „Der Ibiza-Untersuchungsausschuss auf abschüssigem Weg“, in: Khol/Ofner/Rausch/Karner/Sobotka [Hg.], Österreichisches Jahrbuch für Politik 2020 [2021], 327 [331]). Im Übrigen hat der VfGH auch im Verfahren über die teilweise Unzulässigkeit des Untersuchungsgegenstandes des Ibiza-UA rein formal entschieden, dass der Geschäftsordnungsausschuss in diesem Falle durch die Wahl der Feststellung einer „teilweisen Unzulässigkeit“ und die Art und Weise, wie der Geschäftsordnungsausschuss diese Wahl vornahm, eine unzulässige „politische Wertung“ vornahm (VfSlg 20.370 Rz 196). Eine teilweise Unzulässigkeitserklärung käme nur ausnahmsweise in Betracht (VfSlg 20.370 Rz 190). Zur inhaltlichen Frage, nämlich ob der von der Einsetzungsminderheit gewählte Untersuchungsgegenstand verfassungskonform war oder nicht, schwieg der VfGH. Zur Frage, warum der verfassungswidrige Untersuchungsgegenstand des ÖVP-Untersuchungsausschusses nicht bestritten wird, äußet sich Andreas Khol treffend in seinem diesjährigen Jahrbuchbeitrag aus (vgl Khol, „Die demokratiegefährdende Praxis der par-

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stand eingesetzt. Dem Verfassungsgesetzgeber wird nicht zu unterstellen sein, dass er ein System schaffen wollte, nach dem eine parlamentarische Minder­ heit einen nicht verfassungskonformen Untersuchungsausschuss einsetzen kann. Es ist daher geboten, die Möglichkeit zur direkten, inhaltlichen Bestrei­ tung eines verfassungswidrigen Untersuchungsgegenstandes auch ­einer parlamentarischen Minderheit einzuräumen.75 Darüber hinaus sollte unmissverständlich geregelt werden, dass neben den vorlagepflichtigen Organen auch alle vom Untersuchungsausschussverfahren betroffenen Personen – insbesondere Auskunftspersonen – die Zulässigkeit des Untersuchungsgegenstandes in einem formalen Verfahren infrage stellen können. In ihre Grund- und Persönlichkeitsrechte wird teilweise massiv und ohne adäquate Rechtsschutzmittel eingegriffen. Eine Möglichkeit, überprüfen zu lassen, ob diese Eingriffe auf einer verfassungskonformen Grundlage stattfinden, wäre im mindesten Fall geboten.

lamentarischen Untersuchungsausschüsse geht weiter“, in: Khol/Karner/Sobotka/Ofner/Rausch [Hg.], Österreichisches Jahrbuch für Politik 2022 (2023), 75 So auch Khol, in: Khol in Karner/Sobotka/Ofner/Rausch [2023], 55.

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Parlamentarische Diplomatie Der Blickwinkel Österreichs Weltweit wurden die außenpolitischen Aktivitäten von Parlamenten lange Zeit nicht besonders wahrgenommen. Der Fokus von Parlamenten lag fast ausschließlich auf deren Kernaufgabe – der Gesetzgebung und Kontrolle der Regierenden. Seit Ende des Kalten Krieges und vor dem Hintergrund von Globalisierung und rasantem Fortschritt im Bereich der Kommunikations- und Verkehrstechnologie hat die Anzahl internationaler Kontakte von Parlamenten und Parlamentariern deutlich zugenommen. Einflussnahmemöglichkeiten der nationalen Parlamente auf die Außenpolitik haben sich erweitert. Das diplomatische und außenpolitische Engagement des österreichischen Parlaments bzw. seiner Abgeordneten soll dabei nicht als Konkurrenz zur Außenpolitik der Exekutive gesehen werden, sondern diese komplementär ergänzen, vervollständigen und bereichern.

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Die Republik Österreich bemüht sich mit einer aktiven, strategisch ausgerichteten Außenpolitik um die Pflege der Beziehungen zu allen Ländern der Welt und die Wahrung der Interessen Österreichs in internationalen und regionalen Organisationen. An dieser wichtigen und verantwortungsvollen Aufgabe wirkt nicht nur die Exekutive – namentlich die Bundesregierung und der Bundespräsident – mit, sondern auch das österreichische Parlament in seiner Gesamtheit und durch seine Abgeordneten. Außenpolitische Aktivitäten des Parlaments wurden weltweit lange Zeit nicht besonders wahrgenommen. Natürlich lag der Fokus der Parlamente fast ausschließlich auf deren Kernaufgabe – der Gesetzgebung und der Kontrolle der Regierenden. Auch im politikwissenschaftlichen Diskurs wurde der Rolle von Parlamenten in der Außenpolitik wenig Bedeutung geschenkt. Eine tiefer gehende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema entwickelte sich erst ab Mitte des ersten Jahrzehnts des 21.  Jahrhunderts. Zuvor dominierten im Wesentlichen zwei Theorien die Niedergangs- und Unvereinbarkeitstheorie, welche den Einfluss der Parlamente auf die Außenpolitik als gering bzw. sogar im Schwinden begriffen ansahen. Parlamente dürften demnach von der Exekutive getroffene Entscheidungen nur noch „absegnen“ bzw. würden Parlamenten die ohnehin rudimentären Kompetenzen sogar noch sukzessive weiter entzogen. Transformation der Außenpolitik Im Sinne eines Strukturwandels der internationalen Beziehungen hat insbesondere seit Ende des Kalten Krieges und vor dem Hintergrund von Globalisierung und rasantem Fortschritt im Bereich der Kommunikations- und Verkehrstechnologie die Anzahl internationaler Kontakte von Parlamenten und Parlamentariern zugenommen. Zudem ist die Zahl internationaler parlamentarischer Institutionen markant gestiegen. Einflussnahmemöglichkeiten der nationalen Parlamente auf die Außenpolitik haben sich damit erweitert. Durch das Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon Ende 2009 wurde das Europäische Parlament mit erweiterten legislativen Befugnissen ausgestattet. Es erhielt mehr Gewicht bei der Gestaltung der politischen Vorgaben für Europa. Bei Entscheidungen über die Tätigkeit der EU sowie über das

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Budget wurde es dem Ministerrat gleichgestellt. Auch die Mitgestaltungsmöglichkeiten der nationalen Parlamente wurden deutlich erhöht. Bereits aufgrund (verfassungs-)rechtlicher Vorgaben sind internationale Beziehungen nicht ausschließlich Aufgabe der Regierungen. Von der Exekutive abgeschlossene Verträge oder Vereinbarungen werden in den nationalen Parlamenten diskutiert und ratifiziert. Zudem entscheiden Parlamente über die Annahme von Staatsverträgen; Parlamente haben das letzte Wort, wenn es um Budget für Außenpolitik geht; Parlamente haben Mitsprache in europäischen Angelegenheiten. Für Österreich ist dabei bundesverfassungsrechtlich klargestellt, dass die österreichischen VertreterInnen im Rat der Europäischen Union bestimmte Akte nicht ohne vorheriges Einvernehmen mit dem Nationalrat setzen können sowie, dass Nationalund Bundesrat Verhandlungspositionen vorgeben können. Hinzu kommt, dass außenpolitisches Handeln der parlamentarischen Kontrolle unterliegt. Damit können beide Kammern jederzeit außenpolitische Fragen auf die Agenda setzen und in Anfragen, Entschließungen, Debatten oder auch Untersuchungsausschüssen thematisieren. Die National- und Bundesrat in außen- und europapolitischen Angelegenheiten zur Verfügung stehenden Mitwirkungs- und Kontrollrechte sind dabei im internationalen Vergleich relativ weitgehend. Neben den verfassungsrechtlichen Kompetenzen verfügt das Parlament noch über eine wichtige „soft power“, nämlich den Einfluss auf die politische Meinungsbildung. Häufig werden – auch in außenpolitischen Belangen – im Vorfeld einer Regierungsentscheidung im Parlament Diskussionen in Gang gesetzt und geführt, die die späteren Entscheidungen von Regierungen, Parlamenten und auch Par­teien beeinflussen. Akteure der parlamentarischen Diplomatie Internationales Handeln von Parlamenten hat damit im Wesentlichen zwei Ebenen: Die Mitgestaltung der Außen- und Europapolitik des eigenen Landes sowie das direkte Handeln auf bilateraler Ebene sowie in den interparlamentarischen Institutionen. Neben diesen gesetzlich oder verfassungsrechtlich normierten Kompetenzen lässt sich eine deutliche Zunahme anderer außenpolitischer Aktivitäten des Parlaments konstatieren. Während das Jahr

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1889, das Gründungsjahr der Interparlamentarischen Union, als „Geburtsjahr der parlamentarischen Diplomatie“ gilt, haben sich insbesondere seit den 2000er-Jahren die außenpolitischen Aktivitäten des Parlaments deutlich verstärkt. Es hat sich eine parlamentarische Diplomatie mit zunehmender Bedeutung in den internationalen Beziehungen entwickelt. Primäre Akteure dieser parlamentarischen Diplomatie sind die Abgeordneten. Parlamentarier sind zunehmend mit Angelegenheiten befasst, die die internationalen Beziehungen betreffen. Parlamentarische Diplomatie – unter anderem im Sinne der Reise- und Besuchstätigkeiten, der Mitarbeit in internationalen Parlamentsnetzwerken und anderer internationaler Aktivitäten – spielt sich dabei auf unterschiedlichen Arbeitsebenen ab: auf Ebene der Parlamentspräsidenten, von Ausschüssen, parlamentarischen Freundschaftsgruppen sowie individuell zwischen Abgeordneten. Dabei ergeben sich exzellente Gelegenheiten, Aufgaben, Rahmen und Ziele der interparlamentarischen Zusammenarbeit auf bilateraler, europäischer und internationaler Ebene zu reflektieren, neu zu definieren sowie Erfahrungen, Informationen und „best practices“ auszutauschen. Spezifika der parlamentarischen Diplomatie Das diplomatische und außenpolitische Engagement des österreichischen Parlaments bzw. seiner Abgeordneten ist nicht als Konkurrenz zur Außenpolitik der Exekutive zu sehen, sondern soll diese komplementär ergänzen, vervollständigen und bereichern. Diplomatische Parlamentsaktivitäten erhöhen das außenpolitische Profil eines Staates. Im Gegensatz zur Außenpolitik der Exekutive gilt parlamentarische Diplomatie als flexibler und informeller. Abgeordnete sind geringeren protokollarischen Einschränkungen unterworfen. Parlamentarier sehen Dinge dabei häufig aus anderen Blickwinkeln als Regierungsvertreter. Sie sind nicht notwendigerweise daran gebunden, die offizielle Position ihrer Regierung zu vertreten. Anders als bei Austausch und Kontakten auf Regierungsebene gehören den nationalen Parlamentarierdelegationen im Allgemeinen auch Vertreter der Opposition an. Sie beinhalten damit ein breiteres Spektrum an Meinungen. MandatarInnen des Parlaments repräsentieren unterschiedlichste Be­völ­ke­r ungs­g rup­pen und treffen bei Auslandsreisen oder internationalen Konferenzen auf Gegenüber,

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die die spezifischen Probleme ihrer Regionen und die besonderen Anliegen ihrer WählerInnen ebenfalls gut kennen. Somit ermöglicht die parlamentarische Diplomatie einen direkten Kontakt zwischen den Völkern und bereichert die Meinungsvielfalt im zwischenstaatlichen Austausch. Das ist umso wichtiger in Zeiten multipler Herausforderungen wie Klimaveränderung, Migration, Krieg, Ressourcenknappheit, Inflation. Internationale Kontakte ermöglichen Abgeordneten, Informationen auszutauschen und folglich politische Problemlagen besser beurteilen bzw. überhaupt erst erkennen zu können. Dabei gewonnene Erkenntnisse fließen wiederum in die parlamentarische Mitwirkungs- und Kontrolltätigkeit ein. Ebenso geben direkte Kontakte Abgeordneten die Möglichkeit, ihre Ansichten bzw. die politische Kultur ihres Herkunftslandes dazustellen oder zu erklären. Neben informellem Austausch kann dies auch der Problemlösung in Krisenzeiten dienen. So gelten gewachsene Beziehungen zwischen Parlamentariern auch in Zeiten politischer Verstimmungen auf Regierungsebene als vertrauensbildender Kanal. Im Idealfall können Konflikte und Konfliktpotenzial so bereits frühzeitig erkannt und entschärft werden. Individuelle Kontakte werden dabei durch die Etablierung parlamentarischer Freundschaftsgruppen ergänzt, in denen sich Abgeordnete aller Fraktionen zusammenfinden. Diese fungieren als wichtiges Bindeglied des Parlaments zu anderen Gesetzgebungsorganen im Ausland. Im österreichischen Parlament bestehen derzeit 44 Gruppen, die Kontakte zu Ländern bzw. Regionen auf allen Kontinenten haben. Auch stimmen politische Gruppierungen ihre Positionen zunehmend länderübergreifend ab. Als wichtiger Unterbau zur Gewährleistung der Effizienz parlamentarischer Außenbeziehungen hat sich auch die Ebene der Beziehungen zwischen den Administrationen der verschiedenen Parlamente etabliert. Vor dem Hintergrund zunehmender Komplexität und Diversifizierung der interparlamentarischen Beziehungen kommt der Verwaltungsebene eine zunehmend wichtige Rolle zu, insbesondere im Bereich Koordinierung und Informationsmanagement. Auch das aktive internationale Auftreten Österreichs auf parlamentarischer Ebene wäre nicht möglich ohne die professionelle und engagierte Arbeit des Parlamentsdienstes. Dass die diplomatischen Aktivitäten von Exekutive und Parlament miteinander verwoben sind, wird etwa bei internationalen Kontakten auf

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Ebene der Parlamentspräsidenten deutlich. Neben ihren innerstaatlichen Aufgaben verfügen diese auch über diplomatische Funktionen. Parlamentspräsidenten werden in der Regel auch in Besuchsprogramme höchster Verwaltungsorgane einbezogen und empfangen aufgrund ihres Amtes neben Präsidentenkollegen und Parlamentarierdelegationen auch Staats- und Regierungschefs sowie andere ausländische Würdenträger. Umgekehrt ist es auch bei Auslandsreisen des Parlamentspräsidenten üblich, mit Vertretern der Exekutive des Besuchslandes zusammenzutreffen. Ungeachtet der protokollarischen Bedeutung bieten diese Begegnungen die Möglichkeit zum Auf- und Ausbau bestehender Beziehungen, die jene auf Regierungsebene sinnvoll ergänzen. Gemeinsam Themen setzen Wir erleben aktuell Zeiten, in denen Parlamente großer Demokratien von wütenden Mobs gestürmt und verwüstet werden. So geschehen in Washington im Jänner 2021 sowie zuletzt in Brasilia zu Beginn des Jahres 2023. Solche Ereignisse führen auch vor Augen, dass es keine Garantie für Parlamentarismus, für Demokratie gibt. Latente Gefahren für die Demokratie sind oftmals nicht auf den ersten Blick wahrnehmbar. Dort wo subtile Zusammenhänge bestehen, erkennt man die Gefahren weit weniger. Wer nimmt schon wahr, dass Antisemitismus in all seinen Formen per se antidemokratisch ist. In vielen Ländern unseres Erdballs nehmen antisemitische Äußerungen, verbale Angriffe, physische Attacken, offen getragene antisemitische Codes zu. Antisemitismus kommt dabei immer aus der Mitte der Gesellschaft, aber an ihren Rändern zeigt er seine besonders hässliche und ausgeprägte Fratze. Unter dem Deckmantel der Freiheit der Kunst wurden im Jahr 2022 auf der Documenta in Kassel in Exponaten Juden so gezeichnet, als wäre es eine Kopie aus dem „Stürmer“. Das offene Auftreten der BDSKampagne („Boycott, Divestment and Sanctions“), die den Staat Israel wirtschaftlich, kulturell und politisch isolieren will, weist in dieselbe Richtung. Auch die digitalen Anwendungsfelder im Informations- und Kommunikationsraum bergen demokratiepolitische Risiken. Cyberkriminalität, Hass im Netz, Fake News, Negative Campaigning, Dirty Campaigning, Deepfakes seien nur exemplarisch angeführt. Ebenso begannen digitale

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Plattformen, schleichend unter dem Prätext der Meinungsfreiheit, andere Grundrechte massiv einzuschränken und somit den Rechtsstaat auszuhöhlen, der die Grundlage für unsere demokratische Verfasstheit bildet. Ständige Reflexion und ständige Austausch sind daher erforderlich, auch auf internationaler Ebene, um solche Gefahren zu erkennen, auf die Tagesordnung zu setzen und wirksam zu bekämpfen. Da braucht es eine Solidarität der internationalen Gemeinschaft. Bilaterale Beziehungen Das österreichische Parlament ist dabei auch intensiv bemüht, sich durch den Ausbau parlamentarischer Kooperationen international zu positionieren, Austausch zu fördern und Netzwerke aufzubauen. Dies erfolgt im Rahmen von langfristigen Programmen, punktuellen Study visits, Delegationsbesuchen sowie anderen Programmen. Inhaltlicher Fokus liegt dabei für das Parlament im Bereich der Demokratiebildung sowie der Stärkung von Rechtsstaatlichkeit und demokratischen Institutionen. Beschränkte Ressourcen machen dabei auch inhaltliche wie geographische Schwerpunktsetzungen erforderlich. Für Österreich als im Zentrum des europäischen Kontinents gelegenes Land stehen dabei naturgemäß die Beziehungen zu den acht unmittelbaren Nachbarstaaten sowie den Staaten der Europäischen Union und des Schengen-Raums im Vordergrund. Zudem kommt der parlamentarischen Kooperation auch bei der Stabilisierung der Länder des Westbalkans eine große Bedeutung zu. Heranführung dieser Länder an und spätere Integration in die Europäische Union sind ein wichtiges außenpolitisches Ziel Österreichs. Neben direkten Kontakten auf allen Ebenen (Parlamentspräsidenten, Abgeordnete, Freundschaftsgruppen) bietet das österreichische Parlament verschiedene Unterstützungsprogramme im Bereich Demokratiebildung an, die auf große Resonanz stoßen: • Als wichtiges Instrument einer praktischen Zusammenarbeit hat sich dabei die 2007 in Österreich implementierte Demokratiewerkstatt erwiesen: Die von der Abteilung Demokratiebildung konzipierten vierstündigen Workshops ermöglichen, dass sich Kinder und Jugendliche zwischen acht und 15 Jahren mit den Themen Demokratie/Parlament,

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Partizipation, Gesetzgebung, Wahlen, Geschichte der Republik, Europa und Medien auseinandersetzen, um Interesse für Parlamentarismus, demokratiepolitische Prozesse, sowie politische Mitwirkung zivilgesellschaftliches Engagement für Demokratie zu entwickeln. Seither absolvierten rund 120.000 Kinder und Jugendliche die Workshops. Nach dem Vorbild der Wiener Demokratiewerkstatt sind mit Unterstützung der Parlamentsdirektion ähnliche Einrichtungen in den nationalen Parlamenten Montenegros (2012) und des Kosovo (2019) entstanden. Mit Albanien und Nordmazedonien wurden konkrete vorbereitende Schritte gesetzt. Auch mit der Slowakei wurde eine ähnliche Kooperation gestartet; weitere Länder haben ebenfalls Interesse bekundet.

Zur Stärkung von Demokratie, Parlamentarismus und Rechtsstaatlichkeit in den Ländern des Westbalkans wurde 2019 zudem ein Stipendienprogramm für Mitarbeiter der nationalen Parlamente der sechs Westbalkanstaaten eingerichtet. Das Programm ermöglicht diesen eine mehrwöchige Mitarbeit in verschiedenen Bereichen des österreichischen Parlaments und wird sehr gut angenommen. Außerdem engagiert sich das österreichische Parlament in Montenegro, Nordmazedonien und Bosnien-Herzegowina im Rahmen von EU-Projekten gemeinsam mit anderen EU-Mitgliedsstaaten. So besteht seit 2021 im Rahmen des EU-finanzierten interparlamentarischen Projektes „Inter Pares“ eine Partnerschaft mit dem Parlament von Montenegro, das auf die Stärkung der Gesetzgebungs-, Kontroll-, Haushalts- und Verwaltungsfunktionen im Partnerland abzielt. Neben Österreich sind daran die Parlamente von Kroatien, der Tschechischen Republik, Frankreich, Griechenland, Ungarn und Italien beteiligt. Gemeinsam mit Frankreich absolvierte das österreichische Parlament im Dezember 2021 ein Projekt der Europäischen Kommission mit dem Parlament von Nordmazedonien, bei dem die Aufgaben der jeweiligen EU-Ausschüsse vorgestellt und Erfahrungen im Zuge des EU-Beitrittsprozesses ausgetauscht wurden. In Bosnien und Herzegowina arbeitete in den Jahren 2019–21 ein Konsortium aus dem ungarischen, österreichischen und kroatischen Parlament im Rahmen eines Twinning-Projekts der Europäischen Kommission zusammen, um die Heran­führung Bosnien-Herzegowinas an die Europäische Union zu unterstützen.

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Neuere Kooperationsformate Darüber hinaus ist das österreichische Parlament aber auch bemüht, die Beziehungen zu vielen außereuropäischen Staaten wie z. B. den Ländern Afrikas, Lateinamerikas und Asiens zu vertiefen. Meine persönliche Zielsetzung war dabei seit Antritt meines Amtes als Nationalratspräsident, neben den Kontakten zu den unmittelbaren Nachbarstaaten sowie den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union auch zu ausgewählten Staaten außerhalb Europas die parlamentarischen Beziehungen zu intensivieren und tragfähige parlamentarische Partnerschaften zu etablieren: etwa zu den USA, Kanada, Indien, Südkorea und Israel. Einen Sonderfall bildet die regionale Zusammenarbeit im Rahmen plurilateraler Formate. Etwa das Slavkov- oder Austerlitz-Format, bestehend aus Österreich, Tschechien und der Slowakei, oder die informellen Treffen der deutschsprachigen Parlamentspräsidenten. Daran nehmen üblicherweise einmal im Jahr die Parlamentspräsidenten Öster­ reichs, Deutschlands, der Schweiz, Liechtensteins, Luxemburgs sowie des deutschsprachigen Landesteils Belgiens teil. Diese Formate haben sich über die Zeit zu zentralen Plattformen entwickelt. Klare Positionierung des Parlaments im Ukraine-Konflikt sowie zu anderen Themen Wie auch bei Regierungen, Parlamenten und Einzelpersonen weltweit rief auch im österreichischen Parlament der am 24. Februar 2022 begonnene russische Angriffskrieg gegen die Ukraine Fassungslosigkeit und Bestürzung hervor. Vor diesem Hintergrund bekräftigte der Nationalrat bereits am Tag des Kriegsbeginns in einer Entschließung seine Unterstützung für die Ukraine. Als besonderes Zeichen der Solidarität bot der österreichische Nationalrat am 14. Juni 2022 dem Präsidenten der ukrainischen Werchowna Rada, Ruslan Stefantschuk die Möglichkeit, eine Rede im österreichischen Natio­ nalrat zu halten. Es handelte sich dabei um die erste Rede von Präsident Stefantschuk, vor einem ausländischen Parlament seit Kriegsbeginn.  Mehrfach haben Abgeordnete des Nationalrates seit Kriegsbeginn Kiew besucht. In Erinnerung des Holodomor in der Ukraine vor 90 Jahren, eines systematisch gegen die Zivilbevölkerung vor allem im Großraum der Ukraine von der Sowjetunion provozierten Hungermordes in den Jahren 1932 und 1933,

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sprach sich der Menschenrechtsauschuss im Dezember 2022 einstimmig für eine Verhinderung von Hunger und Mangel als Kriegswaffe aus. Ende Oktober 2022 fand auf gemeinsame Initiative des ukrainischen und des kroatischen Parlamentspräsidenten Ruslan Stefantschuk und Gordan Jandroković in Zagreb das erste Treffen der Krim-Plattform – einem Format, das bis dahin nur auf Regierungsebene bestand – auf Ebene der Parlamentspräsidenten statt. Daran nahmen über 40 VertreterInnen von nationalen Parlamenten, des Europäischen Parlaments, der IPU sowie der parlamentarischen Versammlungen der OSZE, des Europarats und der NATO teil. In der einstimmig angenommenen gemeinsamen Erklärung wurde das Engagement aller TeilnehmerInnen für die Souveränität, Unabhängigkeit und territoriale Integrität der Ukraine bekräftigt und der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine verurteilt. All dies reflektiert den klaren Willen, neben humanitärer Unterstützung und anderen Hilfsleistungen an die Ukraine auch auf Ebene der demokratisch gewählten Volksvertreter klare Zeichen zu setzen. Auch nahm das österreichische Parlament zu internationalen Vorgängen und Krisen Stellung. Im November 2022 verurteilte der Nationalrat einstimmig die gewaltsame Niederschlagung der aktuellen Proteste im Iran. Mitte Dezember 2022 hat der Nationalrat die Anwendung der Todesstrafe in Zusammenhang mit den Protesten im Iran einstimmig verurteilt. Grundlage dafür bildete ein von allen Fraktionen unterstützter Entschließungsantrag, in dem insbesondere der Außenminister ersucht wurde, sich bilateral und gemeinsam mit den EU-Partnern gegenüber dem Iran weiterhin für einen gewaltfreien Umgang sowie für einen Stopp der Hinrichtungen von Demonstrantinnen und Demonstranten einzutreten.  Multilaterale Beziehungen: IPU, OSZE, Europarat Parlamentarischer Austausch findet zunehmend auch auf multilateraler Ebene statt. Neben dem Engagement in der global ausgerichteten IPU sind österreichische Abgeordnete bei Konferenzen der ParlamentspräsidentInnen, in der Interparlamentarischen Union, der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, der Parlamentarischen Versammlung der OSZE, der Parlamentarischen Versammlung der NATO (als assoziierte Delegation) sowie in

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der Euromediterranen parlamentarischen Versammlungen vertreten. Diese Gremien spielen gerade in Krisenzeiten bedeutende Rollen. Historischer Vorreiter ist dabei die Interparlamentarische Union (IPU), die 1889 gegründete Dachorganisation der nationalen Parlamente. Das österreichische Parlament hat hier bemerkenswertes Engagement bewiesen und ein deutliches Zeichen gesetzt, indem es vom 6. bis 9. September 2021 in Wien als erstes nationales Parlament in der Rolle des CoGastgebers die Weltkonferenz der Parlamentspräsidenten ausrichtete. Diese Konferenz, die alle fünf Jahre von der IPU gemeinsam mit den Vereinten Nationen ausgerichtet wird, wurde erstmals mit einem nationalen Parlament als Co-Gastgeber veranstaltet. Insbesondere nach der langen Zeit der Pandemie mit vornehmlich virtuellen Begegnungen war diese Konferenz ein durchschlagender Erfolg hochrangiger parlamentarischer Diplomatie. Delegationen aus über 100 Ländern, 84 ParlamentspräsidentInnen, 39 VizepräsidentInnen und 290 Abgeordnete (insgesamt fast 800 TeilnehmerInnen) nahmen an der Konferenz in Wien teil. Demokratiebildung sowie Kampf gegen gewalttätigen Extremismus und Hassreden waren dabei bestimmende Themen. Neben inhaltlich starken Signalen, die dabei von den Parlamenten für die Demokratie und gemeinsame Lösungen ausgesandt wurden, konnte sich Österreich und insbesondere das österreichische Parlament durch die erfolgreiche Abwicklung dieses internationalen Großereignisses Respekt verschaffen und durch die dabei geknüpften Kontakte nachhaltig profitieren. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) verfügt seit 1991 mit der parlamentarischen Versammlung auch über eine parlamentarische Dimension. Auf den dreimal jährlich stattfindenden Jahrestagungen richtet die aus 323 ParlamentarierInnen der Mitgliedsstaaten bestehende Parlamentarische Versammlung umfangreiche politische Empfehlungen an die Ebene der Regierungsvertreter in der Organisation. Sie bietet ein Forum für parlamentarische Diplomatie und Debatte, führt Wahlbeobachtungsmissionen durch und stärkt die internationale Zusammenarbeit, um den Teilnehmerstaaten dabei zu helfen, ihren Verpflichtungen in politischen, sicherheitspolitischen, wirtschaftlichen, umweltpolitischen und menschenrechtlichen Fragen nachzukommen. Ihr internationales Sekretariat hat die Parlamentarische Versammlung der OSZE in Kopenhagen.

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Die jeweils im Februar abgehaltene Wintertagung findet jedoch in Wien statt und trägt damit dazu bei, Wien als Amtssitz internationaler Organisationen und als politisches Zentrum zu stärken. Gerade vor dem Hintergrund des Angriffs auf die Ukraine kommt der in Wien ansässigen OSZE eine besondere Bedeutung zu, als letzter regionaler Sicherheitsorganisation, in der der schwierige – aber für eine nachhaltige Konfliktlösung erforderliche – Dialog mit Russland stattfinden kann. Wie die OSZE verfügt auch der Europarat, Europas zentrale Organisation für Menschenrechte, mit seiner Parlamentarischen Versammlung über ein demokratisches Diskussionsforum. Die auch als „demokratisches Gewissen“ Europas titulierte Parlamentarische Versammlung beschäftigt sich mit aktuellen politischen Fragen sowie potenziell relevanten gesellschaftlichen Problemen. Ihre Beratungen sind richtungweisend für die Arbeit des Ministerkomitees. Die Versammlung nimmt auch insofern Einfluss, als ihre Mitglieder die Ideen der Versammlung an ihre nationalen Parlamente weitergeben. Dabei haben immer wieder auch Österreicher bedeutende Rollen in der Versammlung bzw. beim Europarat gespielt. Während seiner Zeit als Generalberichterstatter der politischen Kommission der Parlamentarischen Versammlung sowie als Generalsekretär des Europarates (1979-84) konnte auch der ÖVP-Politiker Dr. Franz Karasek bedeutende Akzente setzen. ÖVPAbgeordneter Reinhold Lopatka wurde am 23. Februar 2023 zu einem Vizepräsidenten der Parlamentarischen Versammlung des Europarates gewählt. SPÖ-Abgeordnete Petra Bayr ist seit Jänner 2022 Generalberichterstatterin gegen Rassismus und Intoleranz. Rückblickend betrachtet trugen etwa die parlamentarischen Versammlungen des Europarates, der OSZE und der NATO maßgeblich zum erfolgreichen Demokratisierungsprozess in Zentral- und Osteuropa bei, starteten zahlreiche Initiativen und unterstützten die Parlamente der Region. Auch in Asien, Afrika und Lateinamerika entstanden neue interparlamentarische Institutionen.

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Erweiterte Möglichkeiten für parlamentarische Diplomatie durch EU-Beitritt Durch den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union haben sich ab dem Jahr 1995 zudem die Möglichkeiten Österreichs durch parlamentarische Diplomatie zusätzlich erweitert. Den 19 Abgeordneten, die Österreich im Europäischen Parlament vertreten, eröffnen sich bedeutende Möglichkeiten zur Etablierung von Netzwerken, Informationsaustausch sowie der Vermittlung von Werten und Positionen – innerhalb der Europäischen Union, aber auch durch Nutzung des Außennetzwerkes des Europäischen Parlaments. In diesem Zusammenhang sei ebenfalls darauf hingewiesen, dass österreichische ParlamentarierInnen mehrfach in leitenden Funktionen zu Arbeit und Erfolg des Europäischen Parlaments beitragen: Der langjährige EVP-Abgeordnete Othmar Karas, der bereits von 2012 bis 2014 sowie von 2019 bis 2022 einer der Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments war, wurde im Jänner 2022 zum Ersten Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments gewählt. Ebenfalls im Jänner 2022 wurde zudem die ebenfalls äußerst erfahrene SPE-Abgeordnete Evelyn Regner zu einer weiteren Vizepräsidentin gewählt. Dass Österreich damit aktuell im Europäischen Parlament mit zwei Vize-Präsidenten vertreten ist, ist neben dem persönlichen Verdienst der beiden Persönlichkeiten auch eine Anerkennung für das internationale parlamentarische Engagement Österreichs.

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Die vierte Gewalt. Unter Druck oder Druckmittel?

Bauen mit Herz und Verstand. Jedes Projekt ist anders und muss individuell geplant und ausgeführt werden. Das Können und der Einsatz jedes Einzelnen entscheiden hier über den Erfolg. Seit über 150 Jahren steht die PORR für höchste Kompetenz in allen Bereichen des Bauwesens – denn Fachwissen, Engagement und Teamgeist machen sich immer bezahlt. porr-group.com

© Astrid Knie/PORR

Intelligentes Bauen verbindet Menschen.

Alois Vahrner

Kursrutsch der „Medien-Währung Glaubwürdigkeit“ stoppen Die Medien sind im massiven Umbruch. Steigende Kosten bei Papier, Energie und Personal bei gleichzeitig sinkenden Print-Auflagezahlen sorgen für Kostendruck, die Digitalisierung erfordert völlig neue Modelle. Die Online-Leserzahlen steigen weiter, aber sowohl bei den Abo- wie auch den Werbeeinnahmen ist es schwierig, wegfallende Print-Erlöse wettzumachen. Die Medien als früher oft titulierte vierte Macht im Staat haben nach den jüngsten Chat- und Inseratenaffären sowie aufgrund einer zu großen Nähe zur Politik aber vor allem auch ein Glaubwürdigkeitsproblem. Der Ausweg, verloren­ gegangenes Vertrauen wieder zurückzugewinnen, kann nur kritischer Qualitäts-Journalismus und völlige redaktionelle Unabhängigkeit bedeuten.

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Die Welt taumelt seit Jahren von einer Krise in die nächste: Nach der für Gesellschaft und Wirtschaft extrem belastenden Coronapandemie kam der russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Als eine Folge liefen einige sich bereits zuvor aufbauende Probleme aus dem Ruder – etwa jene der nicht mehr funktionierenden globalen Lieferketten oder der Sicherheit der Energieversorgung angesichts des überfälligen Umbaus von fossilen hin zu nachhaltigen Energieträgern. Und all dies löste eine Rekord-Teuerungswelle aus, die viele als noch belastender empfinden als vorher die massiven coronabedingten Eingriffe in verschiedene Freiheitsrechte. Die Jahre 2020 bis 2022 werden viele als äußerst problematisch in Erinnerung behalten, und auch die Aussichten auf 2023 sind äußerst gedämpft. In dieser Zeit der multiplen Krisen ist die Politik in ganz besonderem Maße gefordert. Und ebenso die oft als „vierte Macht im Staat“ titulierten Medien, und zwar mit einem ebenso konstruktiven wie auch kritischen Blick auf Maßnahmen und Aussagen der Politik. Die Medien sind aber auch als Mittler in einer Gesellschaft gefordert, in der auch sicher geglaubte Eckpfeiler wie Demokratie, Frieden, Wohlstand und eine solidarische Gesellschaft zunehmend Risse bekommen haben. So eminent wichtig diese Rolle der Medien für eine demokratische und pluralistische Gesellschaft in Österreich ist, so sehr sind diese aus verschiedenen Gründen selbst unter Zugzwang geraten. Die Branche ist in einem großen Umbruch. Stichwort Digitalisierung: Die Zahl der Print-LeserInnen ist seit Jahren auf einem Sinkflug, die Zahl der SeherInnen von klassischen TV-Programmen ebenso. Zwar gab und gibt es ebenso deutlich steigende Zahlen bei LeserInnen der MedienOnline-Plattformen sowie bei Streaming-Abrufen. Finanziell drohen die Geschäftsmodelle der klassischen Medien aber trotzdem weiter in Bedrängnis zu kommen, spätestens auf mittelfristige Sicht. Zwar haben mittlerweile fast alle Printmedien auch Bezahlmodelle für Online-Angebote eingeführt, die hier erzielbaren Abo-Erlöse liegen aber noch weit hinter klassischen Print-Abos zurück. Und ebensolches gilt auch für die derzeit online erzielbaren Anzeigen-Erlöse pro LeserIn. Letztlich vielfach nur stagnierende oder gar sinkende Einnahmen bei gleichzeitig kräftig gestiegenen Kosten beispielsweise für Papier, E ­nergie, Transport oder auch Personal: Der Medienbranche drohen, so sich die (Werbe-)­Konjunktur nicht bald wieder erholt und die Teuerung wieder spür-

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bar abschwächt, wohl noch einige schmerzhafte Einschnitte. Mit weniger Beschäftigten gleichzeitig mehr Plattformen qualitätsvoll und nach höchsten journalistischen Qualitätskriterien zu betreuen, droht ein noch schwieriger zu vollführender Spagat für die Redaktionen zu werden. Dass diesbezüglich die Politik trotz der unbestritten herausragend wichtigen Rolle der Medien für gesellschaftlichen Zusammenhalt und demokratische Hygiene bisher an einer Aufstockung der Medienförderung gescheitert ist, könnte noch massiv negative Folgen haben. Die „Wiener Zeitung“ als älteste Print-Zeitung der Welt einzustellen und dafür eine Art staatliche Medien-Ausbildung aufbauen zu wollen, kann nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Die Medien stehen unter Druck, auch in der öffentlichen Wahrnehmung. Im jährlich abgefragten Vertrauensindex der Institutionen sind Medien seit langem auf den hinteren Rängen zu finden. Auch in hochgeschaukelten Krisen wie einst der Flüchtlingswelle oder ab 2020 bei Corona haben die Medien umfassend, objektiv und differenziert zu berichten. Nicht zuletzt auch durch soziale Netzwerke und den zunehmenden Verlust von politischer Diskussionskultur wächst die Zahl jener Bürgerinnen und Bürger, die entweder nur Schwarz oder Weiß lesen oder sehen wollen, nicht aber die immer vorhandenen Schattierungen dazwischen erkennen. Bei Corona und besonders der Debatte um eine Impfpflicht wurden Risse in der Gesellschaft unübersehbar. Vor allem bei der nicht geringen Anzahl von strikten Maßnahmen-GegnerInnen wurden den Medien, auch wenn diese (was ja auch ihre Aufgabe ist) sehr differenziert berichteten, zu große Nähe und Abhängigkeit von der Politik attestiert und vorgeworfen. Dass die Medienbranche bedauerlicherweise auch als Ganzes zuletzt weiter an Vertrauen eingebüßt hat, lag an einigen in den letzten Jahren und Monaten publik gewordenen Affären im Dunstkreis von Polit-Skandalen. Zunächst das „Österreich-Umfrage-Tool“, bei dem frisierte Umfragen über die Mediengruppe Österreich (diese weist die Vorwürfe weiterhin vehement zurück) im Gegengeschäft für Inserate platziert worden sein sollen. Im Sinne des späteren ÖVP-Kanzlers Sebastian Kurz, gemanagt vom damaligen Generalsekretär im Finanzministerium, Thomas Schmid, und die Meinungsforscherin Sabine Beinschab. Im Jahr 2022 kosteten diverse Chats die beiden prominenten Chefredakteure Rainer Nowak (Die Presse) und Matthias Schrom (ORF) den Job. Nowak soll laut den veröffentlichten Chats

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mit Schmid in eigener Sache für sein Interesse am ORF-GeneraldirektorsPosten interveniert haben, Schrom mit dem damaligen FPÖ-Chef HeinzChristian Strache über ORF-Sendungen und FPÖ-Personalwünsche. Wenig später kam der niederösterreichische ORF-Landesdirektor Robert Ziegler unter Druck, weil er wiederholt für die TV-Präsenz von ÖVP-Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner interveniert habe. Eine Prüfung der Vorwürfe wurde in die Wege geleitet. Ein allzu enges Verhältnis von RedakteurInnen und Politik, ein „Ausmauscheln“ von Personalwünschen oder gar eigenen Karrieresprüngen, ein „Kauf“ von Inhalten über Inserate: All das geht gar nicht, hier wurden rote Linien klar überschritten. „Und eine rote Linie ist nicht erst bei strafrechtlich relevanten Handlungen überschritten“, schrieb jüngst der Chef der JournalistInnen-Gewerkschaft, Eike Kullmann, völlig richtig. Medien ­haben in diesen so herausfordernden Zeiten nur ein einziges Gut, das zugleich auch ihre Lebensberechtigung darstellt: Dieses lautet Glaubwürdigkeit durch Unabhängigkeit der Redaktionen. „Die einzige Gegenleistung, die es für ein Inserat in einem Qualitätsmedium geben kann, ist der Platz, den das Inserat im jeweiligen Medium einnimmt. Wo Propaganda gedeiht, stirbt die Pressefreiheit“, ergänzt Kullmann. Österreichs Medien müssen sich nach all den jüngsten Affären, für die etliche Medien und vor allem auch viele engagierte und kritische JournalistInnen zu Unrecht in einen Topf geworfen werden, Vertrauen wieder entschlossen zurückholen. Wie auch die Politik, die nicht nur unter Türkis-Blau (und dann abgeschwächt auch in der aktuellen türkisen Koalition mit den Grünen) einer intensiven Message Control unterworfen werden sollte. Versuchte Einflussnahme auf Medien hat es wohl immer schon gegeben (man denke an die Inserate staatlicher Unternehmen an Boulevardmedien unter SPÖ-Kanzler Fay­­mann). Die Aufgabe von Medien und Redaktionsleitungen ist es aber, diese Versuche entschieden abprallen zu lassen. Die Demokratie braucht starke und kritische Medien, dazu benötigt es auch entsprechendes Geld – und die einzige Gegenleistung ist journalistische Qualität in Ausbildung und der täglichen Arbeit. Das gilt auch für den ORF, den die Parteien (und nicht nur mit Freundeskreisen und dergleichen in Stiftungsräten) in Österreich seit jeher als ihr „Eigentum“ betrachten. Das ist er aber nicht, wenn schon, ist er wegen der nicht geringen Gebühren einzig dem Publikum verpflichtet.

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Demokratie in der Vertrauenskrise Wie konnte das passieren? Der jüngste „Demokratie Monitor“ des Sora-Instituts gibt nicht eben zu Optimismus Anlass. Demzufolge finden nur noch 34 Prozent der befragten Österreicherinnen und Österreicher, dass unser politisches System „gut“ funktioniere. Vor fünf Jahren – also vor Corona und Krieg, vor Energiekrise und Inflation – lag dieser Wert noch bei 64 Prozent. Mehr Menschen als je zuvor, ist dem „Demokratie Monitor“ weiters zu entnehmen, wünschen sich einen „starken Führer“. Wohingegen sich das Vertrauen in die Institutionen der Demokratie – Bundespräsident, Bundesregierung, Parlament – rasant nach unten bewegt.

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Der „Demokratie Monitor“ ist nur eine von vielen ähnlich gelagerten Untersuchungen, die im Jahr 2022 veröffentlich wurden und allesamt dasselbe aussagen: Unsere Demokratie, unser System ist in eine Vertrauens- und Legitimationskrise gerutscht. Wie konnte das passieren? Vor allem: Wie konnte das so schnell passieren? Die Pandemie als Absturzhilfe Einer der Gründe für den Absturz der Demokratie im Ansehen der Menschen liegt auf der Hand: die Coronakrise und alles, was damit zusammenhängt – also Lockdowns und Einschränkungen, Verbote und Grundrechtsbeschneidungen. Etliche dieser Restriktionen waren gut begründet und wichtig. Andere, etwa die Schulschließungen und diverse skurrile Oster-, Weihnachts- und Silvesterverordnungen, waren dies nicht, doch das stellt sich in der Regel erst im Nachhinein heraus – also zu einem Zeitpunkt, zu dem alle klüger sind. Je länger die Pandemie dauerte, desto müder wurden die Menschen der Restriktionen, die – das kommt erschwerend hinzu – von der Bundesregierung teilweise miserabel kommuniziert wurden. Wochenlang einen neuerlichen Lockdown auszuschließen und ihn dann doch zu verhängen; wochenlang eine Impfpflicht auszuschließen und sie dann doch einzuführen (und wenige Monate danach wieder abzuschaffen) – so etwas muss einer Bundesregierung erst einmal einfallen. Der österreichischen Bundesregierung ist es eingefallen, möglicherweise war sie damals, im Spätherbst 2021, aufgrund der Turbulenzen um einen zweifachen Kanzlerrücktritt nicht ganz handlungsfähig. Einerlei: Der Eindruck in der Öffentlichkeit war verheerend, der Schaden war angerichtet. Und zwar nicht nur der Reputationsschaden für die Regierung, sondern der Reputationsschaden für unser gesamtes demokratisches System. Das Schreckensbild der Politik Noch keine Bundesregierung hatte mit einer Herausforderung wie Corona zu kämpfen, weshalb bei der Beurteilung der diesbezüglichen politischen Performance der Bundesregierung ein gewisses Ausmaß an Milde angebracht ist. Wofür es hingegen keinerlei Entschuldigung gibt, das ist das Bild,

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das die Politik von sich selbst abgibt. Die Opposition betreibt über weite Strecken keine kritische Sachpolitik mehr, vielmehr übt sie sich in fundamentalem Dagegensein. Die SPÖ etwa lehnt das Bundesbudget (in einer Pressekonferenz) bereits zu einem Zeitpunkt ab, zu dem es der Finanzminister noch nicht einmal präsentiert hat. Die Oppositionsfraktionen sind sich – egal, mit welchen Maßnahmen die Regierung die aktuellen Teuerungen gerade abfedert – darin einig, dass die Maßnahmen erstens falsch, zweitens viel zu wenig, drittens viel zu teuer und viertens völlig wirkungslos sind. Die Regierung wiederum ist in kommunikativer Hinsicht nicht in der Lage, diesem ungerechten Urteil etwas entgegenzusetzen, sodass weite Teile der Öffentlichkeit der auch von AK und ÖGB betriebenen Polemik Glauben schenken, dass Millionen von Menschen in Österreich unmittelbar vor der Verarmung stehen. Was zwar aufgrund der Milliardenzahlungen, die die Bundesregierung über das Land ausgießt, nicht stimmt, aber die Stimmungslage im Lande erheblich eintrübt. Und überhaupt: Politische Kontrahenten, die einander mit öffentlicher Missachtung überschütten und sogar kriminalisieren, tragen nicht zum politischen Diskurs bei, sondern ausschließlich zur Politikverdrossenheit. Wenn Partei A die Partei B als unrettbar kriminell diskreditiert und Partei B die Partei A als total unfähig, wird der Wähler im Zweifelsfall weder Partei A wählen noch Partei B. Sondern Partei C, und heiße deren Anführer auch Herbert Kickl. Regierung der Besserwisser Was der Opposition ihr fundamentales Dagegensein ist, ist der Regierung ihre fundamentale Besserwisserei. Die Unsitte, wichtige G ­ esetzesvorhaben als parlamentarischen Initiativantrag in den Nationalrat einzubringen und solcherart das Begutachtungsverfahren zu umgehen, zeugt nicht eben von demokratischer Reife. Das Gleiche gilt für die Tendenz der Bundesregierung, Einwände gegen ihre Vorhaben nicht nur vom Tisch zu wischen, sondern oftmals nicht einmal zu diskutieren. Es sei konzediert, dass auch die früheren Bundesregierungen von diesen Unsitten nicht frei waren. Das ist aber kein Grund für die aktuelle Regierung, auf diesem Irrweg weiter voranzuschreiten. Es fällt keinem Kanzler, keiner Ministerin, keinem Minister, keinem Parlamentarier ein Zacken aus der Krone, wenn er oder sie

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die geballte Intelligenz der Zivilgesellschaft als Entscheidungshilfe heranzieht. Korruption als Paradoxon Und schließlich sind es die in unschöner Regelmäßigkeit aufpoppenden Korruptionsaffären, die nicht nur an der Reputation der ÖVP oder der Bundesregierung, sondern der Politik insgesamt kratzen. Wobei hier ein Para­ doxon zu beachten ist: Der Umstand, dass Korruptionsfälle bekannt werden, ist keineswegs ein Beleg dafür, dass die Korruption in diesem Lande immer schlimmer wird, sondern eher im Gegenteil: Jede geplatzte Affäre macht Österreich ein Stück sauberer. Postenschacher, wie er jahrzehntelang in unserem Land endemisch war, ist heute kein Kavaliersdelikt mehr. Wenn sich heute – was noch vor wenigen Jahren ein ganz normaler Vorgang war – ein Parlamentarier dafür stark macht, dass ein Parteifreund Leiter eines Finanzamts wird, kann es ihm passieren, dass sich die Staatsanwaltschaft für den Fall interessiert. Die Parteifinanzen sind heute transparent wie nie zuvor (wenngleich nicht ganz so transparent, wie es wünschenswert wäre). Die Fütterung parteinaher Vereine mit Steuergeld ist nicht mehr so einfach möglich, wie dies früher der Fall war. Das alles sind positive Entwicklungen, wobei man bereits darauf zu achten hat, dass das Pendel nicht allzu weit in die Gegenrichtung ausschlägt: Die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft schießt in ihrem Eifer oft weit über das Ziel hinaus und produziert mitunter Anklagen, die vor Gericht nicht halten, aber das Potenzial haben, die Betroffenen finanziell zu ruinieren. Auch die Art und Weise, wie hierzulande auch privateste Chatnachrichten an die Öffentlichkeit gelangen, ist hinterfragenswert. Und nicht zuletzt wäre es angebracht, die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse einer kritischen Analyse zu unterziehen. Geht es dort tatsächlich allen Beteiligten nur um Wahrheitsfindung – oder doch nur um parteipolitische Profilierung? Allein der Umstand, dass auf den dort in Betrieb befindlichen Aktenwägelchen oftmals halblustige Sprüche prangen wie etwa: „Schmid packt aus – die ÖVP kann einpacken“ deutet darauf hin, dass für manchen im U-Ausschuss sitzenden Mandatar das Ergebnis schon feststeht, ehe noch die Untersuchung stattgefunden hat. Dass der Ausschussvorsitzende diesen Unfug nicht abstellt, ist unbegreiflich.

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Andreas Koller    |   Demokratie in der Vertrauenskrise

Was kann getan werden? Soweit der Versuch einer Erklärung dafür, warum die Vertrauenswerte in die Regierung, die Politik, das System, die Demokratie so aussehen, wie sie aussehen. Was kann gegen den Vertrauensverlust getan werden? Sehr viel – und es ist gar nicht schwer. Es sind weder gesetzliche Änderungen notwendig noch großartige Reformen. Es reicht, wenn die Beteiligten sich auf die Regeln eines zivilisierten Umgangs miteinander einigen würden; wenn sie zur Kenntnis nehmen würden, dass auch Repräsentanten und Repräsentantinnen einer konkurrierenden politischen Partei keine Feinde sind, sondern dass auch sie guten Willens sein können und es ihnen um die Sache geht; wenn sie begreifen würden, dass sie auch sich selbst schaden, wenn sie permanent den politischen Gegner mit Schlamm bewerfen. Übrigens: Das Geschriebene gilt sinngemäß auch für die Medien. Sie täten gut daran, ihre gute alte Gate-Keeper-Funktion wieder ernst zu nehmen, sprich: nicht jede Social-Media-Dummheit zur Story zu adeln, nicht jede Banalität zur Staatsaffäre aufzublasen und alles in allem ein wenig mehr Gelassenheit zu zeigen. Die Aufreger von heute sind das Altpapier von morgen.

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Christian Ultsch

Die flüchtige Macht der vierten Gewalt Medien und Politik bilden ein symbiotisches System, das sich seit Jahrzehnten gegenseitig hinunterzieht. Die Beschleunigung des Nachrichtenzyklus, der Verfall klassischer Ideale der Berichterstattung und die Unkultur der Verächtlichmachung in Empörungsarenen befördern die Vertrauenskrise, die sowohl Journalisten als auch Politikern entgegenschlägt.

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Überbringer schlechter Nachrichten hatten schon in der Antike oft ein schweres Los. Gegenwärtig erwartet sie kein ganz so blutrünstiges Schicksal. Doch ihr Ansehen rangiert auf der untersten Stufe. Im Vertrauensindex, den das Meinungsforschungsinstitut OGM im Auftrag der Nachrichtenagentur APA durchführt, belegten im Juli 2022 die Medien den vorletzten und die Bundesregierung den letzten Platz. Weder Journalisten noch Politiker hatten viel Positives zu berichten in einem Jahr, dessen Schlagzeilen von Krieg und zweistelliger Inflation geprägt waren. Entsprechend eklatant brach das ohnehin lädierte Vertrauen in beide Berufsstände noch einmal ein. Im Jahr davor hatten immerhin noch Versicherungsunternehmen das Schlusslicht gebildet. Die Wurzeln für die Vertrauenskrise reichen unabhängig von der düsteren Themenkonjunktur tief. Und es ist kein Wunder, dass Medien und Politik in gleichem Ausmaß davon betroffen sind. Medien und Politik bilden ein symbiotisches System, das sich seit Jahrzehnten gegenseitig hinunterzieht. Im Gleichschritt hecheln sie immer kurzatmiger einem Nachrichtenzyklus hinterher, der ein irrwitziges Tempo angenommen hat. Für Reflexion und Tiefgang bleibt wenig Zeit. Das ist insofern erstaunlich, als Regierungen viel größere Wissensressourcen zur Verfügung stünden. Doch Kabinette agieren mittlerweile oft abgekapselt von Beamtenapparaten, vor allem wenn es hurtig gehen muss. Wer immer gleich reagieren, Stellung beziehen und kommentieren muss, dessen Aussagen verflachen inhaltlich fast zwangsläufig. Seichtheit ist der Preis, den eine atemlose Demokratie bezahlen muss. Hektiker aber verspielen Vertrauen. Denn es kann schnell sein, dass sie unter Zeitdruck falsch berichten oder entscheiden. Auf Dauer fällt das dem Publikum auf. Es lässt sich nicht für blöd verkaufen. Doch wehe, wenn Medien zu spät berichten oder Politiker zu spät entscheiden. Dann ist es auch nicht recht. In der radikal nivellierenden Zuschauer- und Spektakeldemokratie hat sich der Respekt verflüchtigt. Fast jegliche Form von Autorität ist geschrumpft. Journalisten und Politiker stehen schon lange auf keinem Podest mehr. Wer die öffentliche Bühne betritt, kann im Nu zur Zielscheibe gnadenloser Schmähungen unter der Gürtellinie werden. Soziale Selbstdarstellungs- und Empörungsmedien wie Twitter befördern die Unkultur der Verächtlichmachung. Ein Austausch von Argumenten ist in den Erregungs­

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Christian Ultsch    |   Die flüchtige Macht der vierten Gewalt

arenen nicht gefragt. Es geht nicht mehr darum, andere zu überzeugen, sondern Abweichler zu brandmarken und so die eigene Gruppenidentität zu stärken. In einer solchen Welt entstehen unversöhnliche Narrative, die von der Wirklichkeit zunehmend abgekoppelt sind. Für Demokratien kann eine solche hochemotionale und irrationale Polarisierung pures Gift sein, wie nicht nur in den USA zu sehen ist. Es war immer etwas hochgegriffen, Medien neben der Exekutive, Legislative und Judikative als vierte Gewalt zu bezeichnen. Doch unbestritten ist eine freie Presse essenziell für eine Demokratie, als Kontroll- und Kritikinstanz ebenso wie als Plattform zur Willens- und Meinungsbildung, als Sprachrohr für Bürger, um öffentliche Diskussionen in Gang zu bringen. Für Journalisten ergibt sich aus diesem idealtypischen Konzept ein berufsethisches Leitbild, das auch noch heute erstrebenswert ist. Als Säulen ragen dabei die Gebote zur Objektivität, Unabhängigkeit, Aufrichtigkeit, Sachlichkeit und Faktentreue heraus. Im Terminus der vierten Gewalt schwingt Verantwortung für das demokratische Gemeinwesen mit. Doch an politischen Aktivismus hat der österreichische Rechtsphilosoph und Publizist René Marcic sicher nicht gedacht, als er den Begriff 1955 in einem Essay in den Juristischen Blättern prägte. Es ist nicht die Aufgabe von Journalisten, Politik zu machen. Das wäre dann ein anderer Beruf. Es reicht, die Wirklichkeit einzufangen und Politikern auf die Finger zu schauen – und gegebenenfalls zu klopfen. In der anschwellenden Kritik an sogenannten „Mainstream-Medien“ klingt indes der Vorwurf an, Journalisten hätten die Absicht, die Politik in ungebührlicher Weise zu beeinflussen, unliebsame Phänomene systematisch auszublenden und das öffentliche Meinungsbild einseitig zu manipulieren. Journalistinnen und Journalisten täten gut daran, undifferenziertem Bashing entgegenzutreten – und gleichzeitig das eigene Verhalten selbstkritisch unter die Lupe zu nehmen.Von orchestrierten Versuchen, die öffentliche Meinung zu manipulieren, kann keine Rede sein. Bei Anschuldigungen dieser Art handelt es sich um Verschwörungstheorien. Es existieren keine journalistischen Geheimbünde, die die Weltherrschaft anstreben. Doch Tendenzen zu einem publizistischen Herdentrieb und Konformitätszwang sind nicht zu leugnen. Der Journalismus in Österreich ist einförmiger, eintöniger und einmütiger geworden. Die Lust an Debatten ist

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gesunken, die Angst vor Anfeindungen und Shitstorms gestiegen. Auseinandersetzungen werden sehr rasch personalisiert und auf eine Weise moralisiert, in der es nur noch gute und böse Meinungen gibt. Auf der Strecke bleiben das Ringen um Argumente und die Achtung vor der Meinung anderer. Die Diskurse sind intoleranter geworden – und feiger. Doch wem nichts anderes einfällt, als die Debattenkultur zu beklagen und sich sonst ins Schneckenhaus zurückzieht, wird sie nicht ändern. Es gilt, unaufgeregt Flagge zu zeigen. Manchmal stellen sich Politiker ganz bewusst gegen die veröffentlichte Meinung, weil sie ganz genau wissen, dass die Mehrheit der Bürger anders tickt. Wenn etwa ein paar Medien die Neutralität noch so fundiert zum Auslaufmodell erklären, bleiben Politiker davon völlig unbeeindruckt. Ihnen ist nämlich sonnenklar, wie wichtig einer überwältigenden Mehrheit der neutrale Status quo nach wie vor ist. Mit aussichtsloser Überzeugungsarbeit mögen sie ihre Energie nicht verschwenden. Ähnlich verhielt es sich 2022 beim Nein der Bundesregierung zum Schengen-Betritt Rumäniens und Bulgariens. ÖVP-Kanzler Karl Nehammer nahm zum Teil harsche Kritik von Medien, aus der Wirtschaftswelt und sogar aus seiner eigenen EUParlamentsfraktion achselzuckend in Kauf. Denn die Wählerschaft teilte mehrheitlich seine Position. Die Parteien sind über Umfragen zumeist recht gut im Bilde, wie das Volk gerade denkt. Massive Orientierungsschwierigkeiten haben Politiker jedoch bisweilen, wenn die Stimmung schwankt. Das ist der Nachteil, wenn man sich an Umfragen orientiert. In solchen Situationen gewinnen Medien an Einfluss. Sie werden dann nicht nur zum Gradmesser, sondern verstärken oder drehen dann kollektive Gemütslagen. Dieser Effekt war während der Coronapandemie zu erkennen. Medien riefen abwechselnd mit der gleichen Vehemenz nach Lockdowns und Öffnungen, nach einer Impfflicht und einem Ende der Impfpflicht. Die Bundesregierung folgte den Erregungskurven teilweise – und verpasste dann erst recht das richtige Timing. Für manche Beamte und Kabinettsmitarbeiter war es schockierend, in welchem Ausmaß sich Politiker an Medien orientierten. Es gibt Momente, in denen Politikern der öffentliche Druck unaus­ weichlich erscheint. Sie und ihre Einflüsterer sprechen dann von einer „Me­dienwalze“, der man ihrer Ansicht nicht mehr entkommen kann. Es kursieren im Kommunikationsberatermilieu zwei idealtypische Ansätze für

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Christian Ultsch    |   Die flüchtige Macht der vierten Gewalt

den Umgang mit solchen Phänomenen: die „Methode Schüssel“ und die „Methode Kurz“. Bundeskanzler Wolfgang Schüssel war es dem Vernehmen nach weitgehend egal, was in Zeitungen oder im Rundfunk über ihn und seine Vorhaben verbreitet wurde. Er zog sein Programm durch. Der „Methode Kurz“ entsprach es, den Medien irgendetwas zu geben, wenn sich Druck aufbaute, irgendeine Inszenierung, irgendeine symbolische Entscheidung, die man möglicherweise schon bald wieder bereute. Hauptsache, es geschah irgendetwas, um die Medienmaschine zu füttern. Klassische Medien haben ihre herausgehobene Funktion bereits zu großen Teilen eingebüßt. Facebook, Twitter, YouTube, TikTok und Co. laufen ihnen den Rang ab. Dort beziehen vor allem junge Menschen ihre Informationen, und zwar ungefiltert und ungeprüft. Manche Politiker haben das schneller kapiert als andere und versuchen, direkt mit ihrer potenziellen Anhängerschaft zu kommunizieren. Dennoch bleiben Journalisten von Leit­ medien für sie wichtige Multiplikatoren, die man besser bei Laune hält. Der ehemalige Bundeskanzler Sebastian Kurz beherrschte beide Spielfelder – und scheiterte trotzdem. Das lag auch daran, dass er einem ausgeprägten Freund-Feind-Schema folgte. Eine Zeit lang verlieh ihm die Polarisierungsstrategie Auftrieb. Doch am Ende holte sie auch ihn ein. Kurz war ein Medienkanzler, er spielte das Spiel mit und verstand es wie weiland Bruno Kreisky, einzelnen Journalisten ein Gefühl der Nähe zu vermitteln. Sie nahmen das Angebot an. Nicht nur um ihrer eigenen Bedeutsamkeit zu schmeicheln und weil Macht anzieht, sondern um Zugang zu Informationen zu erhalten. Das Verhältnis zwischen Journalisten und Politikern ist stets ein Balanceakt zwischen der nötigen Distanz und Nähe. Wer sich fernhält, wird die Geschichten immer nur in anderen Zeitungen lesen. Wer zu nah kommt, läuft Gefahr, sich vereinnahmen und instrumentalisieren zu lassen. In Österreich ist der Per-Du-Journalismus besonders ausgeprägt. Das Land ist klein, und oftmals kennt man sich schon lang, auch aus früheren Funktionen. Die Auflagen der Zeitungen sind seit Jahren ebenso wie die Inserateneinnahmen rückläufig. Den Kardinalfehler, Online-Inhalte zu Beginn des Internetzeitalters zu verschenken, machen zahlreiche Medienhäuser nun durch die Einführung von Bezahlschranken rückgängig. Langsam verflüchtigt sich die Gratiskultur. Kunden zahlen mittlerweile auch für Online-Artikel – und nicht nur für Netflix & Co. Die Geschäftsmodelle stehen nun auf einem so-

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lideren Fundament. Doch die Herausforderung, den Übergang ins digitale Zeitalter zu meistern, bleibt bestehen. Der Staat ist dabei in Österreich großzügiger als in vielen anderen Staaten. Doch es ist ein Irrtum zu glauben, dass sich Regierungen mit Presseförderungen gefällige Berichterstattung erkaufen können. Das Geld wird nach objektiven Kriterien verteilt, egal in welche Richtung Medien neigen. Das neue Mediengesetz hebt auch die Bagatellgrenze für öffentliche Inserate auf. Künftig herrscht volle Transparenz. Kurz und seinem Team gelang es auf ihre Art, die strukturellen Defizite vieler Medien zu nützen, die personell und finanziell geschwächt waren. Sie kauten ihre Beiträge vor, schickten Textbausteine und sogar Zitate in ihren Aussendungen mit. Zumeist kamen Kurz & Co. damit durch. Viele Journalisten übernahmen ihren „Spin“ ungeprüft. Von Message Control war die Rede. Doch das versuchte und versucht nicht nur eine Partei, das probieren alle. 2022 erschütterten sogenannte Chat-Affären, deren Protokolle über die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft und den Untersuchungsausschuss direkt ihren Weg an die Öffentlichkeit fanden, auch die Medienwelt. Zwei Chefredakteure mussten ihren Hut nehmen. Das Urteil über sie verfestigte sich im Nu, auch wenn ihr Verhalten strafrechtlich nicht relevant war. Ein Einspruch war nicht mehr möglich. Ihre Rechtfertigungsversuche gingen im Empörungs-Tsunami unter. Ohne auf Details einzugehen: Beide Fälle umwölkte eine bittere Ironie. Medienmacher wurden selbst Opfer moderner Medienmechanismen. Für die Branche bot sich die Gelegenheit zur Selbstreflexion, auch wenn sie bisweilen selbstgerechte Züge trug. „Verhaberung“ ist zweifelsohne nicht das geeignete Distanzformat für den Umgang von Journalisten mit Politikern. Das versteht sich von selbst. Kapiert haben es trotzdem nicht alle. Unabhängigkeit ist das höchste Gut des Journalismus. Es schließt aber auch mit ein, sich unabhängig von vorgefassten Meinungen und Haltungen zu machen, die oft feststehen, bevor die Fakten etabliert sind. Es kann auch nicht schaden, einander bei aller Bereitschaft zur Kritik grundlegende Achtung entgegen zu bringen – Politikern für ihren Dienst am Gemeinwesen und Journalisten für ihren gesellschaftlichen Beitrag zu Information, Aufklärung und Debatte. Auf dieser Basis lässt sich vielleicht auch wieder leichter Vertrauen zurückgewinnen – durch aufrichtige und seriöse Arbeit.

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Ernst Sittinger

Zahme Medien kann sich die ­Demokratie nicht leisten Die „vierte Gewalt“ ist unter Druck geraten. Wirtschaftliche Zwänge und durch Chats befeuerte Zweifel an der Unabhängigkeit setzen ihr zu. Jetzt kommt es darauf an, zu beweisen, weshalb Medien unverzichtbar sind.

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Journalisten müssen verlässlich unberechenbar und berechenbar unverlässlich sein. Ihre strukturelle Unverfügbarkeit, ja, Unbrauchbarkeit als Werkzeug der Macht ist ihre wichtigste Geschäftsgrundlage. So einfach und so kompliziert ist dieser Beruf. Einfach ist er deshalb, weil für das Erfüllen dieses Anspruchs keine gesonderte Ermahnung, Belehrung, Beschwörung und auch kein Verhaltensoder Ehrenkodex notwendig ist. Oder sein sollte. In der Theorie – wenn auch offenbar nicht in der Praxis – sollte es genügen, die eigene Rolle zu kennen – und im Übrigen ein halbwegs anständiger Mensch zu sein. Zum festen Rahmen des Berufs gehört freilich auch der Umstand, dass Machthaber aller Art von den Journalisten allerlei wollen, nur eines nahezu nie: dass sie ihren Pflichten im Sinne des Publikums nachkommen. Verführung, Verleitung, Vereinnahmung, versuchter Gebrauch und unbefugte Inbesitznahme von Journalisten zählen zum Grundwerkzeug der Machtausübung. Denn letztlich ist der Zugang zur Öffentlichkeit – und damit der Journalismus – selbst ein Machtfaktor. Der öffentliche Austausch prägt unsere Sicht auf Gesellschaft, Welt und Zeit. Mächtig ist, wer Deutungshoheit über wichtige Themen erlangt und dadurch erreicht, dass die von ihm verfügten Spielregeln und Handlungsgebote allgemein akzeptiert werden. Objektivität ist zwar eine dauernd beschworene Projektion, aber das Bewusstsein für saubere Konflikt- und Debattenkultur ist in weiten Landstrichen schwach ausgeprägt. In den Augen vieler Taktgeber des öffentlichen Lebens ist man vor allem dann objektiv, wenn man sich als zweckdienlich erweist. Nicht um sachgerechtes Vermitteln und kritisches Begleiten geht es, sondern um „wohlwollende Berichterstattung“. Darum wird häufig in Medienterminen gebeten. Manchmal wirkt es, als flehten Delinquenten um ein mildes Urteil, im Wissen um ihre Delinquenz. Im medialen Berufsalltag ist die versuchte Beeinflussung daher nicht Ausnahme, sondern Regel. Das heißt keineswegs, dass ständig plumpe Berichterstattungswünsche oder dummdreiste Chats in die Redaktionen prasseln. Aber es ist doch so, dass jede Presseaussendung, jede Stellungnahme, jedes mit Medien geführte Gespräch spezifischen Interessen dient. In nahezu allen Fällen unterscheiden sich diese Interessen vom zentralen journalistischen Versprechen, ehrlicher und vertrauenswürdiger Makler öffentlicher Debatten zu sein.

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Ernst Sittinger    |   Zahme Medien kann sich die ­Demokratie nicht leisten

Die daraus entspringenden Verwerfungen prägen den Beruf. Wer ihn ernsthaft ausüben will, muss dem Druck der Beeinflussung unter allen Umständen standhalten. So erklärt sich, warum die im Herbst 2022 aufgekommene Affäre um liebedienerische Chat-Nachrichten zweier Chefredakteure so verheerend wirkte: Führende Exponenten der Branche haben nicht zwischendurch irgendwelche Nebenpflichten vernachlässigt, sondern sie sind ziemlich spektakulär an der zentralen Hauptforderung gescheitert. Man muss und darf berechtigt hoffen, dass es sich um Ausnahmen handelt. Dennoch leuchtete dieser Anlass einige Unebenheiten aus, die uns alle betreffen, Journalisten und Publikum. Einerseits haben wir zugelassen, dass manche Medien in Österreich ein schändliches Geschäftsmodell pflegen, indem sie sich systematisch an die Politik verkaufen. Das hat zwar mehr mit Schutzgeld­ erpressung zu tun als mit Journalismus, macht aber den gesamten Sektor angreifbar – und beflügelt offenbar die Korruptionsfantasien der Politik. Andererseits steht auch und gerade für seriöse Journalisten die ewige Frage im Raum, woran wir uns eigentlich orientieren im politisch-medialen Dschungel aus Vertrauen, Vertrautheit und scheinbarer Vertraulichkeit, aus Gegensätzen und Schachtelsätzen, aus Zuspruch und Widerspruch. Denn es wäre ja ein Missverständnis, von Journalisten zu erwarten, dass sie sich aus Machtzirkeln fernhalten. Medien wollen hinter die Kulissen blicken und Informationssperren durchbrechen. Sie suchen eine spezielle Informiertheit, und das macht sie wieder in neuer Form abhängig. Lassen wir uns durch Indiskretion bestechen? Die Frage, wie viel Rücksicht man auf die Interessen von Informanten nimmt, ist täglich neu zu verhandeln. Klar ist, dass das brave Zuhören in Pressekonferenzen nie genügt. Im Gegenteil wäre der eingehegte Verlautbarungsjournalismus nur ein Steigbügelhalter, der nicht kontrolliert, sondern die Verhältnisse bloß bestätigt. Das kann sich die Demokratie nicht leisten, und auch der Journalismus nicht. Denn in dem Maß, in dem sich im Internet „alternative Fakten“ verbreiten, stehen die etablierten Medien im Verdacht, Handlanger der finsteren Obrigkeit zu sein – Stichwort „Lügenpresse“. Dem kann man nur begegnen, wenn man auf dem schmalen Grat aus Nähe und Distanz trittsicher und schwindelfrei ist. Ohne sich von Obskuranten treiben zu lassen. Das alles liegt auf der Hand, erfordert aber Interpretation mit Charakter. Manipulation beginnt meist subtil. Nicht selten sind Journalisten ver-

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meintlich gern gesehene Gäste in Villen und Palästen. Sie werden hofiert und umschmeichelt. Die gepolsterten Türen stehen offen – und werden schnell zum Einfallstor für Eitel- und Begehrlichkeit. Dagegen muss man Immunschutz aufbauen. Niemand darf ­ diesen Beruf wählen, um von Mächtigen geliebt oder bevorzugt zu werden. Die schiefe Ebene beginnt im Grunde schon dort, wo sich Journalisten auf ihre Bekanntheit oder ihre Nähe zu Zelebritäten etwas zugute halten. Foto­ galerien der Marke „Ich mit dem Kanzler, ich mit dem Präsidenten, ich mit dem Vorstand“ untermalen nicht die gebotene Distanz. Zwar muss jeder selbst wissen, wie er sich inszeniert. Wesentlich wäre aber, allzeit fest im Blick zu haben, worum es geht: Journalisten verwalten geborgte Lautstärke, sie sind Treuhänder des Gemeinwohls. Auch ohne verdeckte Agenda lauern im Tagesgeschäft genügend Fußangeln. Wir können scheitern, wenn wir Kleines groß machen oder Großes klein. Wir müssen uns täglich fragen, wie verlässlich unsere Maßstäbe sind, wie wir zu ausgewogenen Urteilen kommen. Überschießender Kreuzverhör-Eifer ist unangemessen, denn Journalisten sollen nicht als Drachentöter posieren. Aber erst recht nicht sind sie Animateure im Streichelzoo. Hartes, kritisches Nachfragen ist Handwerk, wird aber mitunter als „Unhöflichkeit“ missverstanden. Das ist auch eine Irritation. Nicht erpicht sein sollte man auf billigen Applaus. Im freien Land Österreich ist es für Journalisten die leichteste Übung, Politiker als Deppen hinzustellen. Umgekehrt braucht man schon fast Mut, um politische Vorgänge öffentlich zu loben. Denn Lob steht unter Generalverdacht: Man wolle was werden, trage eine Schuld ab, habe sich kaufen lassen. Die ChatAffäre hat Lob endgültig verleumdet. Dass man lobt, weil man eine Sache tatsächlich für gut hält, kommt niemandem in den Sinn. Aber wenn wir, andererseits, immer alles reflexartig herabwürdigen, dann entwerten wir unser Urteil. Journalismus, das ist ein schöner, schwieriger Beruf. Vor allem sind freie Medien eine unverzichtbare Säule der freien Gesellschaft. Vom Anspruch, ihr zu dienen, dürfen wir keinen Millimeter abrücken. Wie in vielen anderen Bereichen gilt auch hier: Jede Art von Selbstzufriedenheit wäre der sichere Anfang vom Ende.

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Petra Stuiber

Wo kein Wille ist, ist auch kein Weg aus dem Sumpf Ein paar neue Fördermaßnahmen für Qualitätsjournalismus sind noch kein Grund zum Jubeln. Nach den Krisen und Skandalen der vergangenen Jahre muss Medienpolitik endlich neu gedacht werden. Allein – es fehlen alle Anzeichen, dass der Politik unabhängige, überparteiliche Medien wichtig wären.

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Ein gewaltbereiter, Tausende Köpfe zählender Mob stürmt im Jänner 2021 das Kapitol in Washington. Die wütenden, brüllenden, zu allem bereiten Menschen können nicht verwinden, dass ihr Idol Donald Trump die Wahlen verloren hat. Die gleiche Randale erschüttert zwei Jahre später Brasilia, weil der dortige Held der extremen Rechten, Jair Bolsonaro, ebenfalls die Präsident­schaftswahlen verloren hat. Es stellt sich heraus, dass Teile des brasiliani­schen Sicherheitsapparats mit den marodierenden Horden sympa­ thisieren. Eine österreichische Ärztin, die sich in der Coronapandemie für die Schutz­­impfung stark gemacht hat, wird so lange bedroht und beschimpft, bis sie sich 2022 umbringt. Drei schockierende Ereignisse, in drei verschiedenen Ecken der Welt, die nichts miteinander zu tun haben? Mitnichten. Es hängt alles zusammen. Das ist das Problem. Die Lösung wäre: Unabhängigen, überparteilichen Journalismus zu stärken – online, Print und im ORF. Im Interesse der Demokratie und des Landes. Die Frage ist nur: Wer hat Interesse an dieser Lösung? Von denen, die wir verloren haben Es gibt mittlerweile einen harten Kern von Menschen, die Argumenten nicht mehr zugänglich sind. Die weder durch konstruktive Politik noch durch seriöse Medienberichterstattung von ihren, oft wirren Überzeugungen abgebracht werden können. Das Nicht-Anerkennen von Fakten selbst wenn sie mathematisch belegt, klar argumentiert, von unabhängigen Expertinnen und Experten präsentiert werden, das Anzweifeln und Absprechen von Qualifikation und Unabhängigkeit eben dieser Expertinnen und Experten, das aggressive Verleugnen von Tatsachen abseits der eigenen, erwünschten Realität: Dies alles entspringt einer Gemengelage von Misstrauen gegenüber Eliten, einer Sehnsucht nach einer einfachen, schwarz-weißen Welt, in der es auch einfache, klare Lösungen für immer komplizierter erscheinende Probleme gibt, persönlichen Enttäuschungen, einer diffusen, aber umso stärker wirkenden Angst vor Zukunft und Veränderung, gepaart mit einer latenten Immunschwäche gegenüber scheinbar „starken“ Führungspersönlichkeiten, die in Wahrheit Aufhetzer, Demagogen und Demokratiefeinde sind.

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Wer sich einmal in diese Welt des permanenten Misstrauens begibt, kann sich allzu leicht darin verlieren – und nicht mehr zurückfinden. Die Sozialen Medien, in repressiven Diktaturen oft die beste und wirksamste Form des Widerstands, wirken hier oft wie Brandbeschleuniger wider die Demokratie. Gewissenlose Propagandisten wie Steve Bannon finden hier ihre Spielwiese, sie verdrehen Tatsachen, verleumden Menschen und manipulieren andere. Die Verschwörungsspirale dreht sich immer schneller. Beim Sturm auf das Kapitol in Washington konnte man live sehen, was passiert, wenn die Demokratie plötzlich auf der Kippe steht. Für „klassische“ Medien sind diese Menschen längst verloren, die Chance, sie auf den Pfad der kritischen Vernunft zurückzubringen, sind gering. Gelten doch Journalistinnen und Journalisten als Teil des verhassten Systems. Ihre Integrität wird angezweifelt, zum Denunziantentum und zum „Hängt sie höher“-Gebrüll ist es nur noch ein kleiner Schritt. Von denen, um die wir kämpfen müssen Doch wie so oft sind die Schreier nicht die Mehrheit – sie tun nur so. Die Vielen, die weniger Lauten, informieren sich lieber über „klassische“ Medienseiten. Nie war das Interesse an ernsthafter, sachorientierter Berichterstattung größer als in der Coronapandemie. Der journalistische Zuspruch, den seriöse Medien erfuhren, war enorm. Der Ukraine-Krieg hat noch einmal alles auf den Kopf gestellt. Plötzlich war der Krieg in Europa Realität, die Furcht, es könnte ein kontinentaler Flächenbrand daraus werden, stieg. Und wieder steigerte sich das Informationsverlangen, jedes Detail im Kriegsverlauf war anfangs von Interesse. Jetzt, in der darauffolgenden Energie- und Wirtschaftskrise, inmitten einer beispiellosen Teuerungswelle bemerkt man die Krisenmüdigkeit der Medienkonsument:innen. Energie, Mieten, Kredite, Lebensmittel – alles wird teurer. Gleichzeitig fehlen Arbeitskräfte, die Wirtschaft stottert gehörig. Obwohl die derzeitige Regierung ein Hilfspaket ums andere schnürt, scheint das bei den Menschen nicht wirklich anzukommen. Die Stimmung im Lande ist schlecht, das Vertrauen in die Lösungskompetenz der Regierung ist gering.

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Von denen, die das Problem nicht verstehen Dazu kommt in Österreich, dass die Kanzlerpartei ÖVP - aus eigenem Verschulden – den Geruch von Korruption und Freunderlwirtschaft nicht abschütteln kann. Die Chats des Thomas Schmid zeigten eine Systematik von Freunderlwirtschaft, Machtmissbrauch, Intrigantentum und inkorrektem Verhalten auf jeder Ebene auf – und statt sich inhaltlich damit zu befassen, statt das Problem an der Wurzel zu packen, mit der Vergangenheit zu brechen und glaubwürdig einen Neustart zu versuchen, halten sich Spitzenvertreter der ÖVP damit auf, jene Medien und sogar Journalisten persönlich anzugreifen, die Aufdeckarbeit leisten. Klammheimlich reiben sich da manche die Hände, dass es im Zuge der Chat-Affären auch renommierte Journalisten getroffen hat. Die anderen Parteien freut es ohnedies, dass es nicht sie, sondern die politische Konkurrenz getroffen hat – am allermeisten wohl die FPÖ, die heute so tut, als hätte die gesamte Ibiza-Affäre nichts mit ihr zu tun gehabt. Denn was tun Medienkonsument:innen, die ja auch Wähler:innen sind, zunehmend? Sie vermeiden den Konsum von schlechten N ­ achrichten. Laut einer jüngst veröffentlichten Prognose des renommierten ­ Reuters ­Institute in Oxford ist Nachrichtenvermeidung eine der ­Hauptsorgen führender Mitarbeiter aus dem Medienbereich für das heurige Jahr. Medien­ konsu­ment:innen verlangen erklärende und relativierende Inhalte von Medien, sie wollen auch „andere“ Geschichten lesen, nicht immer nur die oft deprimierenden „Hard News“, sie wollen auf allen Kanälen – online, Print, Podcast, Video, datenjournalistisch und investigativ – versorgt werden. Gleichzeitig sind sie aber immer weniger bereit, Geld für Journalismus auszugeben. Dazu kommen steigende Papierpreise und schmaler werdende Anzeigen-Etats von Unternehmen, all das schnürt die Medienbranche immer mehr ein. Der ORF hat seine eigenen Probleme: Er kann sich dem Würgegriff der Politik kaum entwinden. Auf dem Küniglberg herrscht der Stiftungsrat, und damit haben die „Freundeskreise“ der Parteien das Sagen. In den neun Landesstudios ist man auf das Wohlwollen der Landeshauptleute angewiesen – entsprechend harmlos wirkt oft die Berichterstattung, und das ist noch die bessere Variante: Wenn Wahlkampf ist im Land, gehen die Uhren noch einmal anders. Wider- und eigenständige Journalistinnen und Journalisten sind weder erwünscht noch wohlgelitten.

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Was Österreichs Medienbranche gerade erlebt, ist in seiner Bedrohlichkeit durchaus vergleichbar mit der Finanzmarktkrise von 2008. Es droht nicht weniger als der Verlust der ohnehin schon spärlichen Medienvielfalt. Was die Krise von 2008 aber auch gezeigt hat: Wenn sich der Staat, wenn sich die Regierung zu einer Branche bekennt, dann ist auch das tiefste Tief überwindbar – sofern besagte Branche bereit ist, an sich selbst Veränderungen zum Besseren vorzunehmen. Zweifel sind hier, zumindest partiell, durchaus angebracht. Von denen, die nichts ernsthaft ändern wollen Allerdings mangelt es ja schon an Ersterem: Die derzeitige Koalition drückt sich, wie auch schon zahlreiche österreichische Regierungen vor ihr, um ein eindeutiges und unzweifelhaftes Bekenntnis, dass ihr unabhängiger, überparteilicher, seriöser, kritischer Journalismus – also tatsächlich die vierte Säule unserer Demokratie –, ein wesentlicher Pfeiler eines funktionierenden „Checks & balances“-Systems ist, wichtig ist. Man blinkt zwar immer wieder gerne in Richtung Qualitätsjournalismus, biegt dann am Ende aber lieber in Richtung Boulevard – oder, schlimmer noch, in Richtung dienstfertiger Propagandaplattformen – ab. Das beginnt dort, wo Information wie Herrschaftswissen g­ ehandelt wird: beim Amtsgeheimnis. Es ist – nicht nur im internationalen Vergleich – schön langsam ein Fall von Fremdschämen, dass sich Bundes-, Landes- und Gemeindepolitik hier nicht durchringen können, ein modernes, dem 21. Jahrhundert angemessenes Informationsfreiheitsgesetz zu schnüren. Journalistinnen und Journalisten wird die Arbeit dadurch erschwert – und es sieht so aus, als geschehe das mit voller Absicht. Zu viel Transparenz will man offenbar nicht erzeugen, man will sich nicht in die Karten sehen lassen. Dass das Überleben des Qualitätsjournalismus dieser Regierung kein Anliegen ist, sieht man auch am grausamen Sterben der Wiener Zeitung. Der Staat als Eigentümer hat jahrelang verabsäumt, die Transformation der ältesten Tageszeitung der Welt in ein digitales Medium fördernd zu begleiten – nun kommt man mit dem Kostenargument: „Rentiert sich nicht mehr.“ Als ob es nichts wäre, wird hier einer medialen Institution das Licht ausgeblasen. Gleichzeitig sollen die kläglichen verbleibenden Reste

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der Redaktion eine Ausbildungsstätte für Journalisten aufbauen, die dem Bundeskanzleramt unterstellt ist (wo bitte, bleibt die Unabhängigkeit der Ausbildung?), und die, so ist zumindest der Plan, nur wenigen, auserwählten Studierenden (welchen?) pro Jahr vorbehalten bleiben soll. Auch hier kann man nur raten, was am Ende rauskommt – mangelnde Transparenz dominiert auch die Demontage der Wiener Zeitung. Wie es mit dem ORF weitergeht, steht ohnedies in den Sternen. Hier gibt es nicht einmal politische Lippenbekenntnisse, die eine Wendung zum Besseren verheißen. Man hat den Eindruck: Niemand hat wirklich Interesse an einem unabhängigen ORF. Umso erstaunlicher und wackerer ist es, welch gute Sendungen die Radio- und TV-Journalist:innen dort immer noch produzieren. Von denen, die mehr versuchen sollten Immerhin, so können Skeptiker einwenden, hat die Regierung die bisherigen Schlupflöcher im Medientransparenzgesetz geschlossen. Und es gibt nun eine üppig dotierte Digitaltransformationsförderung sowie eine Qualitätsjournalismusförderung. All das sind tatsächlich erfreuliche Entwicklungen. Die Sache hat allerdings mehrere Haken: Am meisten von den neuen Förderungen werden die größten Marktteilnehmer profitieren. Kleinere Projekte und neue Online-Medien hingegen werden durch willkürliche quantitative Hürden (publizierte Zeichenanzahl, Unique User) ausgeschlossen. Die im Gesetzesentwurf enthaltenen Qualitätskriterien werden bei Erfüllung zwar belohnt, sind aber keine Grundvoraussetzung für die Förderung. Ein zentrales Qualitätskriterium fehlt dagegen gänzlich: die Mitgliedschaft beim Österreichischen Presserat beziehungsweise die Anerkennung von dessen Ethikkodex. Nicht ohne Grund erneuert der Presseclub Concordia in seiner Stellungnahme zum Gesetz die Forderung nach einer einzigen konvergenten, transparenten und qualitätsbasierten Journalismusförderung –  statt des bestehenden Medienförderungs-Fleckerlteppichs. Wie man es dreht und wendet: Man kann noch so gute Initiativen starten, um unabhängigen, qualitätsvollen Journalismus zu fördern. Wenn die Strukturen, in denen gearbeitet werden muss, nicht passen und das ge-

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Petra Stuiber    |   Wo kein Wille ist, ist auch kein Weg aus dem Sumpf

naue Gegenteil befördern, nämlich (gegenseitige) Abhängigkeit, entgegenkommende und harmlose Berichterstattung statt kritischer Distanz, wird sich an den Grundproblemen in Österreichs Medienlandschaft nichts ändern. Ähnlich wie in der Bildungspolitik bedürfte es in der Medienpolitik einer Total­umkehr. Oscar Bronner, der Gründer von STANDARD, profil und Trend, ein Mann, der mehr als die meisten in diesem Lande für unabhängigen Qualitätsjournalismus getan hat, sagte im Interview zu seinem 80. Geburtstag: „Wir haben derzeit eine Politik, die Verhaberung fördert. Wir haben eine Politik, die Korruption fördert. Wenn man merkt, dass Zeitungen, die Deals mit der Politik abschließen und sich vom Standpunkt der Politik aus wohl verhalten, mit besonders vielen Regierungsinseraten belohnt werden, dann darf man sich nicht wundern, dass manche korrupt werden. Als Erstes sollte man dort eingreifen und die Dinge ändern. Auf der anderen Seite gibt es eine Versuchung für Journalisten: Solange Führungspositionen im ORF von der Politik besetzt werden, finden sich Opportunisten, die sich danach richten.“ Besser kann man das Grundproblem in diesem Land nicht auf den Punkt bringen.

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Georg Wailand

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Die Rolle der Medien in unserer Gesellschaft hat sich rasant, ja, geradezu dramatisch verändert. Hatte seinerzeit einmal Krone-Herausgeber Hans Dichand prophezeit, in der Branche werde kein Stein auf dem anderen bleiben, so hat sich sein Diktum zur Gänze bewahrheitet. Nichts ist mehr so wie es war. Wie es war?: ein mächtiger ORF, als die Familien abends bei der „Zeit im Bild“ um das Nachrichten-Lagerfeuer saßen, eine starke „Krone“, die den ursprünglich führenden „Kurier“ abgelöst hatte, dann die Regional-„Kaiser“, sprich die lange Latte der Verlage, beginnend mit den in ihrer Heimat dominierenden „Vorarlberger Nachrichten“ bis hin zu den „Salzburger Nachrichten“. Alles hatte seine Ordnung. Damit ist es längst vorbei. Aus einer Fülle von Gründen: • Die technische Revolution. Spätestens das Internet hat alles neu aufgemischt. Schneller, einfacher, offensiver, teils auch anonymer – die traditionell arbeitende Horde der Medien wurde wild infrage gestellt. • Die sogenannten Sozialen Medien sollten Kontakte erleichtern, gebracht haben sie eine für unmöglich gehaltene Informationsverschmutzung unserer Gesellschaft. Von „Fake News“ bis zum hemmungslosen Mobbing, keine Methode war tief genug – und morgen werden sie noch primitiver. Was früher als Bassena-Klatsch belächelt wurde, war auf einmal als scheinbares Faktum existent. Wie wehrt man sich dagegen? Die Gesellschaft war darauf nicht vorbereitet (und ist es bis heute nicht zur Gänze). Je wilder die Behauptung, desto erfolgreicher die „Clicks“, was dann auch hochprofessionelle Verfälschungen dieser Reaktionen beförderte. Apropos Beschimpfungen via Sozialer Medien: Ich habe in den Anfangsjahren dieser Entwicklung einmal einen Blogger verklagt, der verlangt hat, man sollte den deutschen Finanzminister Schäuble samt seinem Rollstuhl von der Brücke werfen. nur weil ihm eine Aussage von ihm nicht gefallen hat. Bei dieser Klage habe ich bemerkt, wie unvorbereitet die Justiz auf Fälle dieser Art ist. Nur mit erheblichem Aufwand ist es gelungen, den Absender ausfindig zu machen. Er wurde zu einer kleinen Geldstrafe verurteilt und durfte ein Jahr nichts Ähnliches mehr senden, aber das war es dann auch schon. Nein, nicht nur die Medienbranche hat das Tempo der Innovationen unterschätzt, auch die Werbewirtschaft und erst recht die Justiz. Da wurden von US- Konzernen längst riesige Beträge im Internetbereich abgeschöpft, aber das hat niemanden irritiert. Statt beispielsweise eine

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kluge Allianz zwischen den Möglichkeiten eines ORF und den besten Verlag zu suchen, hat jeder so getan, als ginge ihn diese Veränderung nichts an. Die absehbare Krise des ORF. Ein Monopol braucht eine Rechtfertigung – welche war das beim ORF? Das Programm war es offenbar nicht, denn oft ist der Unterschied zu Privatsendern nicht zu erkennen. Dazu die Verlogenheit in der politischen Mediendiskussion. Jetzt auf einmal kommt man darauf, dass es da politische Einflüsse gibt? Da lachen ja die Hühner! Die Parteien, die an der Macht waren, haben den ORF stets als ihr Privateigentum betrachtet. Wieso hat man Landesstudios gebaut und betrieben? Natürlich um den Politikern einen Gefallen tun zu können (was diese auch weidlich ausgenützt haben), und wenn schon „Freundeskreise“ über wichtige Weichenstellungen und Personalentscheidungen im Vorfeld befinden – wo bleibt da der angeblich unabhängige ORF? Und einige Moderatoren haben flugs erkannt: Je frecher sie zum dritten Mal das Gleiche fragen, wird das von manchen als „unabhängig“ missverstanden. In Wahrheit wurden da Positionen behauptet statt gute Nachrichtenarbeit geleistet. Dafür soll man auch noch Beiträge zahlen? Mehrere hundert Millionen im Jahr? Kein Wunder, dass sich da Protest geregt hat: Rund drei Viertel der Befragten meinten, erst möge doch der ORF selbst sparen.Wo sind die Zeiten, wo ein Hugo Portisch ein ORF- Volksbegehren gestartet hat? Wo sind die Zeiten, als ein Mann wie Hans Dichand die Zeitungslandschaft dominiert hat? Wie gesagt: Alles ist anders, aber viele haben es bis heute nicht mitbekommen. Neue Herausforderungen sind zu bewältigen, wenn Medien auch weiterhin eine wichtige Rolle in der Demokratie spielen sollen. Wie ahnungslos die Politik dabei nach wie vor ist, wurde bei der Digital-Förderaktion der Koalition für Medien Ende 2022 deutlich: Hinter vorgehaltener Hand hat sich eine ganze Branche amüsiert, wie bei den Anträgen Scheinwirklichkeiten in der modernen Medienwelt gezeichnet wurden. Da wurde künstlich ein „Traffic“ erzeugt, also offensichtlich Nachrichtenflüsse, die man so dokumentierte, dass sie subventionsfähig waren. Das ist die Beurteilungsqualität der neuen Medien durch die Politik? Sorry, aber das kann nicht gut gehen. Währenddessen knickt die Medienbranche ein:Verlage reduzieren aufgrund extrem ho-

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her Papierpreise und Logistikkosten ihre Auflagen und stellen ganze Medien überhaupt ein. Nicht einmal die im Staatsbesitz befindliche (und durchaus ordentlich gemachte) „Wiener Zeitung“ blieb ungefährdet und wurde kühl von ihrer künftigen Einstellung informiert. Digital gegen Print: Dieses Match ist voll im Gange, „Digital“ hat den Zauber des Neuen und Schnellen, Print ist auf dem Rückzug, aber deswegen meiner Meinung nach noch lange nicht tot. Vor über 40 Jahren habe ich mit Georg Waldstein das Wirtschaftsmagazin „GEWINN“ gegründet: damals ein publizistischer Zwerg, heute das mit Abstand größte Wirtschaftsmagazin des Landes. Mit einer erstklassigen Redaktion und mit noch etwas: Der „GEWINN“ hat diesen Aufstieg ohne jede Pressesubvention geschafft. was beweist, wie wenig treffsicher die üblichen „Mediensubventionen“ sind. Apropos Subventionen: Wenig überlegt scheint mir das „Bellen“ vieler Verlage gegen „die Regierungsinserate“ zu sein. Ich würde die Kritik sofort verstehen, wenn das zu peinlicher Selbstbeweihräucherung von Politikern führt – aber warum sollen Gemeinden, Länder und Regierungen nicht über ihre Beschlüsse und Angebote an die Bürger informieren? Coca Cola und alle anderen Markenartikelkonzerne werben genauso wie der Handel, um Produkte bekannt zu machen, deren Image zu verbessern und höhere Umsätze zu erzielen? Warum soll das für Institutionen nicht gelten? Selbstverständlich unter Transparenzregeln und Informationsregeln. Aber es wäre eine faire Form der Zusammenarbeit, die manche Verlage mit guter Berichterstattung am Leben hielte, das hat nichts mit Verhaberung und politisch erfundenen Meinungsumfragen zu tun. Ja, es gibt in der Welt der Medien auch die ehrliche Information, die Trennung von Bericht und Kommentar, das mögen manche Hexenmeister à la Silberstein als Old School diffamieren, aber das ist die Essenz an einer Demokratie. Eine funktionierende Demokratie braucht funktionierende Medien. Daher gilt es jetzt Mechanismen und Strukturen zu finden, die das möglich machen. All die neuen Technologien ersetzen aber niemals die Anständigkeit, die zum Medienberuf wohl untrennbar dazu gehört. Wenn das zuletzt gelitten hat, dann wäre es jetzt genau die richtige Zeit, eine neue Offensive des Bürgerbewusstseins als ORF-Reform zu schaffen.

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Er brauche lediglich die „Kronen Zeitung“, den ORF und Fellners „Öster­ reich“ zum Regieren, soll der sozialdemokratische Ex-Kanzler Werner Fay­ mann einst gesagt haben. Das ist kürzer her, als man denkt. Innerhalb von nicht einmal zehn Jahren ist eine globale mediale Revolution über uns hereingebrochen. Sie wurde oft prophezeit, und dennoch hat kaum jemand in der Medienbranche wirklich damit gerechnet. Die klassischen Medien wie Zeitungen, Radio und Fernsehen haben keine alleinige Deutungshoheit mehr und einen (großen) Teil ihrer „vierten Gewalt“ an die Sozialen Medien abgeben müssen. Der Bürger unterhält und informiert sich (seit den Corona-Lockdowns noch mehr) im Netz, aber oft genug nur noch, um sich in seiner vorgefassten Meinung zu bestätigen. In den sozialen Medien sind nicht nur – mehr oder weniger versteckt – die „Parteizeitungen“ (samt WarRooms mit anonymen „Kriegern“) wieder auferstanden. Es hat sich auch, vor allem auf Twitter, eine Art Gegenöffentlichkeit gebildet, in der sich viele Journalisten (beiderlei Geschlechts) und Pressesprecher plus zahlreiche giftige „Trolle“ tummeln, völlig losgelöst von den realen (meist analogen) Wünschen und Meinungen der Bevölkerung, abgekoppelt von dem, was die  „wirklichen“ Menschen  „da draußen“ fühlen, fürchten, fordern. Politiker müssen sich vor einem Social-Media-„Shitstorm“ heutzutage fast mehr fürchten, als vor schlechter Presse. Daher verwenden sie alle Kraft darauf, in Interviews bloß keine Ecken und Kanten zu zeigen. Was sie wiederum oft wie farblose Sprechpuppen erscheinen lässt und Populisten viel Raum lässt. Parallel dazu machen sich auch die biedersten Volksvertreter via Instagramoder Tiktok-Videos samt Untertitel zum Affen: Man will schließlich die junge Zielgruppe erreichen und macht sich doch nur lächerlich. Ein großer Teil der Jüngeren zahlt nicht mehr für Journalismus und ist bestenfalls mittels Video auf dem winzigen Bildschirm des Smartphones erreichbar. Sehr oft sind Instagram-Häppchen professionell gemacht, doch klarerweise bleibt die Komplexität – nicht jedes Problem der Gesellschaft lässt sich tanzend in 30 Sekunden erklären oder gar lösen – auf der Strecke (ganz zu schweigen vom Geschäftsmodell für die Medienbranche). Es ist eine neue Unübersichtlichkeit – auch für die Werbewirtschaft – entstanden: Mit welchem Medium erreicht man wen? Wer oder was ist wirklich „mächtig“?   Keine Partei hat den als „message control“ geschmähten Professionalisierungsgrad mehr, den Sebastian Kurz mit seinen Mitarbeiterinnen und

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Mitarbeitern erreichte. Da war vieles handwerklich solide gemacht, später wurde es dämonisiert. Doch auch unter Kurz blieb wirkliche Medienpolitik, wie schon die vergangenen Jahrzehnte, ein nicht oder oft missverstandenes Stiefkind der Politik. Viele der Themen, die Medien(-Frauen- und Integrations)ministerin Susanne Raab nun „geerbt“ hat, harren seit ewig einer Lösung: die Zukunft der „Wiener Zeitung“ (die nun nur noch als zweifelhafte Fortbildungseinheit bestehen bleiben soll), das Transparenzgesetz, die Presseförderung, die Inseratenpolitik und eine grundlegende Debatte über die Finanzierung und die digitalen Möglichkeiten des öffentlich-rechtlichen ORF, der Ende 2022 wieder einmal einen Notruf, seine finanzielle Zukunft betreffend, absetzte. Für Druckerzeugnisse ging die Erosion des PrintAbonnements, das durch digitale Reichweite schwerer als erwartet zu kompensieren ist, auch 2022 weiter. Besonders die Magazine sind unter Druck geraten. Zwei wurden zu Jahresende vom Markt genommen. Andere, einst mächtige Titel kümmern mittlerweile als reine Content-Marketing-Blätter vor sich hin. Dazu kamen noch eine Explosion der Papierpreise durch die gestiegenen Energiekosten und Zustellungsschwierigkeiten wegen Arbeitskräftemangels. Der allergrößte Teil der Werbung fließt außerdem zu Facebook & Co. ab. Dabei sind die US-Giganten in diesem schwierigen Wirtschaftsjahr selbst unter Druck geraten: Sie haben gerade Zehntausende Mitarbeiter gekündigt. Und es wurde unter dem neuen Twitter-Boss Elon Musk noch klarer, wie sehr Soziale Medien die öffentliche Meinung manipulieren. Womöglich befindet sich also auch die Macht dieser Plattformen am Zenit. Für die heimische Journalistenbranche war es auch deshalb ein schwieriges Jahr, weil zwei Chefredakteure über ihre öffentlich gemachten Chats gestolpert sind und ein ORF-Landesintendant vor wichtigen Landtagswahlen mit geleakten Mails unter Druck gesetzt und de facto demobilisiert wurde. Das hat die ohnehin angeknackste mediale Glaubwürdigkeit weiter beschädigt. Wie schlimm ist die „Verhaberung“ also wirklich? Entgegen vieler Vorurteile war sie früher viel ärger, heute hat die Politik Einfluss auf Journalisten verloren, die Distanz ist größer geworden. Einfach, weil es (siehe oben) viel mehr Medien gibt, und auch, weil es Gott sei Dank nicht mehr opportun ist, dass sich Chefredakteure und Politiker Themen und Berichterstattung ausmachen, wie das vor Jahrzehnten durchaus üblich war. Ja,

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es gab und gibt Interventionen – vor allem von Seiten, die jetzt gar nicht im Fokus stehen (aber viel seltener als manche glauben). In gewisser Weise sitzen Medien und Politik dennoch in einem Boot: Beide sind von einer tiefen Glaubwürdigkeitskrise betroffen und suchen nach neuen Ausdrucksformen und Kanälen, um das Publikum wieder zu erreichen. Eine Symbiose der beiden Welten ist dafür nicht mehr notwendig – siehe den Aufstieg der FPÖ. Sie war nicht nur eine der ersten Parteien mit eigener Social-Media-Plattform und einem eigenen  „TV-Programm“, sondern stieg 2022 (wieder einmal) gegen die geballte Macht der klassischen Medien zur (Umfrage-)Nummer eins auf. Parteiobmann Herbert Kickl verweigert oft Interviews. Sie könnten ihm schließlich mehr schaden als nutzen. Jörg Haider hingegen hat mit den Medien noch „gespielt“, die ihn dämonisiert, aber gleichzeitig hofiert haben, weil Haider Quote und Verkaufszahlen garantierte. Er hat den (scheinbaren) medialen Gegenwind genützt, weil er die Segel richtig gesetzt hatte. Haider konnte das, Wolfgang Schüssel in den Anfangstagen der schwarz-blauen Regierung auch. Sebastian Kurz segelte lieber „mit dem Wind“, das ließ ihn zwar flott vorankommen, bei der notwendigen Wende nach dem inszenierten Ibiza-Video kam das Boot aber ins Schaukeln und kippte. Wie wird es weitergehen? Medienhäuser können künftig vielleicht nur noch mit einem Bauchladen digitaler Plattformen und anderer Geschäftsfelder (wie Veranstaltungen oder eigener PR-Unterabteilungen) bzw. mit Förderungen der öffentlichen Hand oder Mäzenen wie dem verstorbenen Dietrich Mateschitz überleben. Die Bereitschaft der Bürger, für Journalismus zu bezahlen, sinkt, weil die Konsumenten daran gewöhnt, ja geradezu dazu erzogen wurden, dass alles und jedes gratis zu sein hat. Davon kann auch die Musikindustrie ein Lied singen. Die Zahl der verkauften Tonträger sinkt seit Jahren noch stärker als die Auflage der Zeitschriften. Möglicherweise sinkt auch das Interesse einer multikulturellen Gesellschaft an umfassender Information, wie wir sie bisher kannten. So wie die Loyalität zu Parteien und Institutionen gesunken ist, sinkt auch die Loyalität zum eigenen Medium. Man bindet sich nicht mehr langfristig. Und manch (für Product-Placement bezahlter) Influencer erreicht mittlerweile deutlich mehr Menschen als die (früher) mächtigen Medien, doch mit welchen Inhalten? Die vierte Macht befindet sich in einem zähem Rückzugsgefecht.

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Alte Geschäftsmodelle funktionieren nicht mehr (so einfach), neue noch nicht (wirklich). Im Musikgeschäft ist das  „Analoge“ (auf niedrigem Niveau) zurückgekommen. In England wurden 2022 erstmals mehr alte VinylSchallplatten als CDs verkauft, auch echte Bücher auf Papier werden weiter gelesen. Die „gute alte gedruckte Zeitung“ wird wohl ebenfalls überleben. Eine kleinere gesellschaftliche Elite wird echte Information suchen und dafür  auch bezahlen wollen. Das ist eine Hoffnung. Ob das reicht, um noch als „vierte Macht“ ernst genommen zu werden? Ausgang ungewiss.

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W i ss e n s c h a f t

Heinz Fassmann1

Nach dem Nobelpreis Zufrieden in die Zukunft? Die Nobelpreisverleihung an Anton Zeilinger hat in Österreich zu Recht für Jubelmeldungen gesorgt. Sein Credo lautet: Die Wissenschaft braucht ihre Freiheit. Sie ist Voraussetzung für disruptive Spitzenforschung, die das Mittelmaß hinter sich lässt. Der Nobelpreis kann und soll eine Initialzündung für eine sachorientierte, strategische und langfristig konzipierte und finanzierte Forschungspolitik sein. In dem Bereich wurde in den vergangenen Jahren viel erreicht worden – Stichwort FTI-Strategie 2030, FTI-Pakt 2024–2026, Forschungsfinanzierungsgesetz –, eine Weiterentwicklung ist dennoch geboten. Der Beitrag setzt sich damit sowie mit dem Nobelpreisträger und seinen forschungspolitischen Ideen auseinander.

1 Unter Mitarbeit von Debora Knob, Pressesprecherin des Präsidiums der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.

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Vorbemerkung Die Verleihung des Nobelpreises für Physik am 10. Dezember 2020 an Anton Zeilinger hat in Österreich für Jubelmeldungen gesorgt. Zu Recht: es ist eine Auszeichnung für einen unbeugsamen Grundlagenforscher, der seinen Weg unbeirrt von Zeitgeist und institutionellen Zwängen ging, für einen begeisterungsfähigen akademischen Lehrer, der viele talentierte und inzwischen erfolgreiche Schüler geprägt hat, und für einen Wissenschaftsfunktionär, dem die parteipolitische Unabhängigkeit und das Streben nach Exzellenz über alles ging. Es ist sein Preis und dennoch können forschungspolitische Schlüsse für ein wissenschaftsfreundliches Österreich gezogen werden. Zur Persönlichkeit Anton Zeilinger Biographie und Werdegang Anton Zeilinger, geboren am 20. Mai 1945 in Ried im Innkreis, Umzug nach Wien (Vater war Universitätsprofessor und später Rektor an der Universität für Bodenkultur), Besuch des Gymnasiums in der Fichtnergasse in Wien, Studium der Mathematik und Physik an der Universität Wien, Promotion 1971 bei Helmut Rauch und danach Universitätsassistent am Atom­ institut in Wien bis 1981. In dieser Zeit konnte sich Zeilinger an der TU Wien habilitieren (1979) und als Fulbright Fellow am MIT erste längere Auslandsaufenthalte verbringen. Weitere Auslandsaufenthalte folgten unter anderem an der University of Melbourne, am Hampshire College in Amherst (USA), am Collège de France und an der TU München. 1990 wurde er zum Universitätsprofessor für Experimentalphysik an der Universität Innsbruck ernannt und 1999 wechselte er an die Universität Wien, an der er bis zu seiner Emeritierung (2013) blieb. 2003 gründete er gemeinsam mit Rainer Blatt, Peter Zoller, Rudolf Grimm und Hans Briegel das Institut für Quantenoptik und Quanteninformation (IQOQI) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) mit den beiden Standorten Wien und Innsbruck. 2010 wurde Zeilinger gemeinsam mit John Clauser und Alain Aspect mit dem Wolf-Preis für die Arbeiten zur quantenphysikalischen Verschränkung ausgezeichnet und 2022 schließlich und bekanntlich ebenfalls

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mit Clauser und Aspect mit dem Physik-Nobelpreis. 2013 bis Juni 2022 stand er der ÖAW zwei Perioden lang als Präsident vor. Anton Zeilinger ist verheiratet und hat drei erwachsene Kinder. Wissenschafts- und forschungspolitische Lehren „Ich möchte keine Dinge machen, die Mainstream sind“, lautet ein bekannt gewordenes Zitat von Anton Zeilinger, welches er im Rahmen der zahlreichen Interviews nach Bekanntgabe der Verleihung des Nobelpreises gegeben hat. Bei diesem und vielen anderen Zitaten spielt natürlich eine gewisse Koketterie eine Rolle. Zeilinger sieht sich selbst nicht als Mainstream, Krawatten trägt er selten, die Haar- und Barttracht signalisieren eine gewisse Struppigkeit und die leuchtenden Augen hinter seiner Brille Wachsamkeit und Widerspruchsgeist. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb sind viele seiner Aussagen zu rezipieren und Anlass, über Lehre und Forschung in Öster­reich nachzudenken. Viele, wenn nicht alle seine forschungspolitischen Aussagen fokussieren auf einen entscheidenden Punkt: Gebt der Wissenschaft ihre Freiheit. Wer glaubt, Wissenschaft so organisieren zu können wie einen normalen Produktionsbetrieb, der irrt. Wissenschaftliche Erkenntnisse sind nicht standardisierbar, entstehen nicht durch das Fließband und können auch nicht prognostiziert werden. Der Output eines Wissenschaftsbetriebs ist dem eines Ziegelwerkes nicht vergleichbar. Zielindikatoren setzen oft falsche Anreize und führen zur wissenschaftlichen Massenproduktion von mittelmäßiger Qualität, so seine dominante Sichtweise. Die Wissenschaft braucht ihre Freiheit. Im Mittelpunkt steht dabei eine Forscherin oder ein Forscher, die oder der etwas aus reiner Neugier erforscht. Die „Gier nach dem Neuen“ ist der Stimulus. Nicht dem Altbekannten nacheifern, nicht etwas tun, was andere schon getan haben oder nicht die technologische Machbarkeit in den Mittelpunkt rücken, sondern wirklich zu neuen Ufern aufbrechen, lautet das Gebot. „Ich kann Ihnen ganz stolz sagen: Das ist für nichts gut. Das mache ich aus Neugierde“, hat Zeilinger nach der Nobelpreis-Bekanntgabe gesagt und mit: „Man muss seiner Intuition und seinen Spinnereien ein bisschen vertrauen“ noch nachgelegt. Die systemisch relevante Frage, die sich daran anschließt, lautet: Wer darf seinen „Spinnereien“ nachgehen? Und sind alle „Spinnereien“ förderungswürdig? Die Antwort darauf kann nur lauten: nein, denn

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das Wissenschaftssystem wäre sonst chaotisch und nicht finanzierbar. Es bedarf an einigen wesentlichen biographischen Weichenstellungen an qualitativer Überprüfung der Fähigkeiten und Talente der Forschenden, die sich den „Spinnereien“ zuwenden wollen, denn die Freiheit der Forschenden ist nicht unbegrenzt und kann wohl auch nicht gleich verteilt sein. Bei Zeilinger hatte der Doktorvater, Helmut Rauch, eine wichtige Funktion als „Prüf­instanz“ für die Fähigkeiten und Talente des jungen Doktoranden, und er war für ihn ein „Riesenglück“, wie Zeilinger selbst einmal die Konstellation beschrieb. Rauch war ein „Pionier“ im Bereich der Quantenoptik und ein herzlicher und wohlmeinender Professor, so wie man sich einen Betreuer wünscht. „Mein Doktorvater Helmut Rauch (…) hat ein Klima geschaffen, wo man Dinge machen konnte. Das war ungewöhnlich und weltweit nicht oft der Fall, dass man nur seiner Neugierde nachgehen kann“, so Zeilinger 2022. Es folgten dann im Rahmen der Laufbahn von Zeilinger die traditio­nellen Prüfungen, die man über sich ergehen lassen muss, wenn man sich um eine Professur oder einen Grant bewirbt. Nur bei oberflächlicher Betrachtung war es daher im Rückblick ein „anything goes“, ein „man muss nur fest daran glauben“. Viele traditionelle Qualitätssicherungsinstrumente kamen zur Anwendung, um „Spinnereien“ von „Spinnereien“ zu trennen und jenen die Freiräume zu geben, die sie aufgrund der bisherigen und ex post evaluierten Leistungen auch verdienen. Wissenschaft braucht ihre Freiräume, lautet die eine Lehre der Analyse der Aussagen und des wissenschaftlichen Werdeganges von Anton Zeilinger. Sie ist die Voraussetzung für eine disruptive Spitzenforschung, die das Mittelmaß hinter sich lässt. Die andere Lehre, sehr viel seltener hervorgestrichen, lautet: Der Wissenschaft muss es gelingen, das Interesse der Bevölkerung an dem zu wecken, was sie antreibt. Die Finanzierung der Grundlagenforschung durch die öffentliche Hand – und nur durch diese kann sie finanziert werden  – zieht eine soziale Verpflichtung nach sich: nämlich sich mitzuteilen, sich zu öffnen, zu erklären und die Neugierde zu befriedigen, die man selbst erzeugt hat. Zwischen öffentlicher Finanzierung und sozialer Verpflichtung gibt es einen direkten Zusammenhang, denn eine budgetäre Verteilungsdiskussion ist immer auch eine öffentliche. Zeilinger war und ist ein talentierter Professor im Umgang mit Medien. Er füllt seine Rolle authentisch aus, spricht langsam und überlegt, bei

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„seinen“ Themen auch länger, als es die vorgegebene Redezeit vorsieht, und ist immer gut für einen überraschenden „Sager“. Coachen ließ er sich nie, er kann das einfach. Mit anschaulichen Beispielen und einer Portion Wiener Schmäh erklärt der Oberösterreicher hochkomplexe Sachverhalte wie die Quantenverschränkung. Er wehrte sich gegen seinen Spitznamen „Mr. Beam“ nicht mehr, als er merkte, dass dieser seiner Forschungsarbeit hilft. Zum ersten interkontinentalen Quantentelefonat 2017 brachte er ein Satellitenmodell mit, damit die Journalisten auch Fotos zur Geschichte haben – er wusste, dass sie sonst Schwierigkeiten hätten, das Thema Quantenkryptographie zu bebildern. Zeilinger schrieb allgemein verständliche Bücher, scheute nicht vor Interviews mit Boulevard-Zeitungen zurück und besuchte populäre TV-Sendungen (wie beispielsweise „Willkommen Österreich“), um seine Arbeit einem breiten, weniger wissenschaftsaffinen Publikum nahezubringen. Um die verschiedenen Teilchen der Quantenverschränkung verständlich darzustellen, verwendet er Zimtschnecken oder Würfel. Und seinen Nobelpreisvortrag gestaltete er so, dass sich auch ein Publikum abseits des Faches informiert fühlen konnte. Um die Aufmerksamkeit der Zuhörerinnen und Zuhörer nicht zu verlieren, drehte er zwischendurch zwei Pirouetten. Die budgetäre Alimentierung durch die öffentliche Hand und die soziale Zuwendung durch die Bevölkerung sind eben verschränkt – „en­tangled“ –, wie genau und wodurch hervorgerufen muss noch geklärt werden – wie in der Quantenphysik. Forschungspolitische Verpflichtungen Seit Bekanntgabe des Nobelpreises stellen Journalist:innen oft die Fragen: Ist so eine akademische Karriere heute auch noch möglich? Wird es wieder 50 Jahre dauern, bis es einen naturwissenschaftlichen Nobelpreis in Österreich gibt? Welche forschungspolitischen Weichen müssen gestellt werden, damit es diesmal schneller geht? Die Antworten darauf sind komplex und einfach zugleich. Der Autor dieses Beitrags gibt diese aufgrund seiner Erfahrungen als Wissenschaftler, als Funktionär von Wissenschaftseinrichtungen, als ehemaliger Wissenschaftsminister und als Gegenüber bei zahlreichen Gesprächen mit Anton Zeilinger.

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Forschungspolitik aus einem Guss weiterentwickeln In den vergangenen Jahren ist es mehr denn je gelungen, eine Forschungspolitik gleichsam aus einem Guss zu entwickeln. Eine längerfristige Forschungsstrategie (FTI-Strategie) nennt drei Ziele in grober G ­ ranularität: zum internationalen Spitzenfeld aufschließen und den FTI-Standort Öster­ reich stärken; auf Wirksamkeit und Exzellenz fokussieren; auf Wissen, Talente und Fertigkeiten aufbauen. Diese längerfristige Strategie wird im Rahmen von dreijährigen FTI-Paktes konkretisiert, die in weiterer Folge als inhaltliche Leitlinien für die Entwicklungspläne der Hochschulen sowie der im Forschungsfinanzierungsgesetz genannten zentralen Forschungsträger und Forschungsförderer dienen – so weit, so gut. Die Forschungspolitik möge sich in den kommenden Jahren auf diesen Leistungen nicht ausruhen. Der FTI-Pakt für die Jahre 2024–2026 weist eine Reihe von unscharfen Darstellungen von allgemeinen Maßnahmen aus. Kann ein Außenstehender etwas damit anfangen? „Förderung von FTI-Projekten zur Vermeidung von Zielkonflikten zwischen Klimaschutz und anderen umweltpolitischen Prioritäten“ (FTI-Pakt 2024–2026, S. 15)? Zielkonflikte – zum Beispiel Ausbau der Wasserkraft versus Schutz von Ökosystemen – können durch technische Maßnahmen begleitet, aber nur durch politische Entscheidungen gelöst werden. Zielkonflikte sind in manchen Bereichen unvermeidbar und benötigen Politik, aber keine FTI-Projekte. Forschungspolitik aus einem Guss erfordert eine konsequente Durchsetzung und manchmal auch ein Nein zu partikularen Interessen. Die Ministerialbürokratie der beteiligten Ministerien will sich wiederfinden und ihre Formulierung unterbringen, aber das ist weder strategisch noch wirkmächtig. Am Ende des Weges muss bei der Herstellung eines so wichtigen Dokuments wie dem FTI-Pakt jemand die Verantwortung übernehmen und manchmal auch Nein sagen, so schwierig das auch ist, wenn mehrere Ministerien gleichberechtigt beteiligt sind. Daher ist auch die stringente Bündelung der Grundlagenforschung in einem Forschungsministerium und einer angewandten und wirtschaftsnahen Forschung in einem Innovationsressort, um die übliche Terminologie zu verwenden, grundsätzlich sinnvoll, aber schwierig zu realisieren. Denn die derzeitige Kompetenzverteilung in Österreich auf drei Ministerien hat einen historischen Hintergrund, manchmal auch einen politischen, aber sicherlich keinen sachlichen. Wer die „For-

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schungspolitik aus einem Guss“ weiterentwickeln möchte, der möge dieses Faktum und eine mögliche Veränderung jedenfalls nicht aus dem Auge verlieren. Langfristige und steigende Finanzierung der Grundlagenforschung Der zweite wichtige Aspekt betrifft die Finanzierung. Forschung, insbe­ son­ dere die Grundlagenforschung, muss öffentlich alimentiert werden. Auch in den USA mit einem hohen Anteil an privater Forschungsfinanzierung wird die Grundlagenforschung von der öffentlichen Hand getragen, denn es ist offensichtlich, dass damit kein unmittelbarer Gewinn erzielt werden kann. Der Gesetzgeber hat sich daher aus gutem Grund im For­schungs­finanzierungsgesetz zur langfristigen und wachstumsorientierten Finanzierung bekannt. Es würde überhaupt keinen Sinn machen, in einer Leistungs­ vereinbarungsperiode teure Forschungsinfrastruktur aufzubauen (Baulichkeiten, Geräte, qualifiziertes Personal) und in der nächsten Periode Mitarbeiter:innen mit Spezialwissen freizusetzen und Geräte abzubauen. Ein budgetäres Zick-Zack ist mit einer auch ökonomisch sinnvollen Forschungspolitik nicht vereinbar. Der Gesetzgeber hat daher die Bundesregierung zu einem budgetären Wachstumspfad verpflichtet, der auch eingehalten wurde. Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung belaufen sich derzeit auf rund 3,3 % des BIPs, ein Drittel davon wird von der öffentlichen Hand bestritten, zwei Drittel von Unternehmen. Österreich liegt mit seiner F&E-Quote weltweit betrachtet im Spitzenfeld, gut so. Nun kommt das Aber: Lediglich ein Fünftel davon fließt laut der F&E-Erhebung von Statistik Austria (vgl. Statistik Austria 2022) in die Grundlagenforschung. Das ist weit entfernt von einem als sinnvoll erachteten Ein-Prozent-Ziel und im internationalen Vergleich auch nur mittelmäßig. „Um in der Grundlagenforschung international mithalten zu können, sind erhebliche zusätzliche Finanzierungsanstrengungen erforderlich“ (Wissenschaftsrat 2012, S. 9). Grundlagenforschung ist eine Vorleistung der öffentlichen Hand. Von einer prosperierenden Grundlagenforschung profitieren die angewandte und die experimentelle Forschung, auch wenn die Abgrenzungen unscharf sind. Grundlagenforschung ist so etwas wie der Humus, auf dem die Forschung mit einem erkenn- und erwartbaren Nutzen gedeihen kann. Die Forschungspolitik muss diese für jeden

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Forschenden letztlich banale Tatsache zur Kenntnis nehmen und beherzigen. Die zunehmende Forschungsbürokratie Ein Forschungsbetrieb ist kein Ziegelwerk, darauf wurde schon hingewiesen. Eine Steuerung über Zielindikatoren ist für die Forschung dysfunktio­ nal. Die Produktionsmenge an Ziegelsteinen ist steuerbar, die Gewinnung von Erkenntnissen aber nicht. Die Forschungsbürokratie will oder kann diese Sonderstellung nicht akzeptieren, weil sie selbst dazu von jenen angehalten wird, die die öffentlichen Gelder verwalten. Sie erstellt Wissensbilanzen, definiert Zielindikatoren und kontrolliert die Zeitpläne einer zugesagten Forschungsaktivität. Dieser eingeschlagene Weg führt zu einem Dilemma. Die Steuerung der Wissenschaft über messbare Indikatoren (wie Drittmittelaufkommen, Anzahl der Publikationen und Patente, Publikationen nach Impact-Faktoren, durchschnittlicher Hirschfaktor der Mitarbeitenden) führt dazu, dass sie auch erfüllt werden. Das Drittmittelaufkommen steigt, Patente werden angemeldet und Publikationen in größer werdender Anzahl veröffentlicht. Und wenn der Impact eine zunehmende Bedeutung erlangt, dann bilden Forschende Zitationskartelle, um den Hirschfaktor zu steigern. Forschende sind „schlaue Menschen“, aber auch anpassungsbereit. „Less would be more“ könnte man postulieren, und die Stärkung der reflexiven Kraft innerhalb der Wissenschaft und ihrer Selbstreinigungskräfte wäre wichtiger als die Postulierung von Normen, die von außen kommen. Auf der einen Seite muss die Forschung, insbesondere auch die Grundlagenforschung, zur Kenntnis nehmen, dass sie mit öffentlichen Geldern alimentiert wird und dass damit auch ein legitimes Interesse nach Kontrolle existiert. Die Forschungsbürokratie handelt dabei nicht aus freien Stücken und nicht aus innerem Antrieb, sondern in Erfüllung ihrer Aufgaben, die ihnen die steuerzahlende Bevölkerung übertragen hat. Die Aufgabe einer zukünftigen Forschungspolitik wird mehr denn je darin bestehen, die adäquate Balance zwischen der Verwendung und der Kontrolle der öffentlichen Gelder, zwischen Autonomie und Aufsicht zu finden. Dafür gibt es keine feste Betriebsanleitung und wohl auch kein „one size fits all“. Alle im FoFinaG verankerten Forschungsträger und Forschungsförderer haben unterschiedlichen Aufgaben, Schwerpunkte und

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Kontrollinstanzen. Ein Weg für alle würde zu einer Dysfunktionalität führen, die Akademie der Wissenschaften ist anders organisiert als beispielsweise die Silicon Austria Labs oder das Austria Wirtschaftsservice – aber das sollte hinlänglich bekannt sein. Neue Formen der Forschungsförderung Eine andere Entwicklung macht Sorge, die mit den vorher ausgeführten Aussagen zur Forschungsbürokratie zusammenhängt. Forschung muss finan­ ziert werden, in den naturwissenschaftlichen Fächern mit sehr viel höheren Beiträgen als in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen, aber auch diese kommen ohne Drittmittel nicht mehr aus. Um Drittelmittel zu bekommen, müssen Anträge geschrieben werden, und diese werden von den nationalen oder europäischen Förderagenturen kompetitiv bewertet. Letzteres ist nicht das Problem. Das Problem ist ein anderes. Forschungsanträge, die einer nationalen oder internationalen Begutachtung übergeben werden, müssen an den Mainstream der Forschung andocken, sonst werden sie nicht erfolgreich sein. Sie müssen zeigen, wie sie bisherige Forschungsfragen aufgreifen, in welche Richtung sich die eigene Forschung bewegt, sie müssen Ergebnisse antizipieren und die Methodik vorgeben. Für wirklich disruptive Forschung bleibt dabei kein Platz. Wer mit der Tradition bricht, wird von Evaluator:innen möglicherweise nicht verstanden, und wer nicht präzise beschreibt, wie der Forschungsweg aussieht, hat wenig Chancen auf ein positives Gesamturteil bei der Begutachtung. Die traditionelle Form der Forschungsförderung hat eine Schwäche: sie hat nur unzureichende Mechanismen entwickelt, eine wirklich riskante „Blue-Sky-Forschung“ zu fördern. Programme, die in diese Richtung gehen, müssen bei kritischer Reflexion als gescheitert betrachtet werden. Riskante „Blue-Sky-Forschung“ benötigt einen anderen Förderzugang. Sie erfordert Vertrauen in die Talente und in den wissenschaftlichen Spürsinn der Forschenden. Diese haben eine neue und vielleicht bahnbrechende Idee, aber sind noch nicht so weit, den Forschungsweg zu beschreiben. Sie benötigen nur geringe Beträge, um einen Schritt weiter zu kommen. Die großen Mittel werden erst später benötigt und können dann über die traditionellen Wege der Forschungsförderung lukriert werden. Bis es aber so weit ist, benötigen die Forschenden Ressourcen, um die ersten Schritte zu gehen, und

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diese können nur von jenen vergeben werden, die nahe genug an den meist jungen Forschenden sind, um deren idealerweise disruptive Ideen beurteilen zu können. Um eines klarzustellen: Wir brauchen den traditionellen Ansatz der Forschungsförderung, bei der bottom-up getrieben Anträge eingereicht, evaluiert und gegebenenfalls genehmigt werden. Das ist notwendig, sinnvoll und durch nichts zu ersetzen. Wofür die oben dargestellten Ausführung plädiert, betrifft einen Teil der Forschungsförderung, nämlich den Einstieg in eine noch nicht klar definierbare Forschung. Als „Spinnereien“ hat Anton Zeilinger diese bezeichnet. Wir brauchen eine Förderung von disruptiven Ideen, die wohl nur durch den Forschungsträger und nicht durch den externen Forschungsförderer erfolgen kann. Denn Vertrauen in die Forschenden und deren Institutionen ist dabei die wichtigste Komponente. Das Schließen der Interessens- und Vertrauenslücke „Der immer größer werdende Abstand zwischen dem Wissen der Wissenschaft und den Verständnismöglichkeiten der Allgemeinheit berührt ein demokratisch verfasstes Gemeinwesen in elementarer Weise“ (Biber et al. 2016, S.172). Diesem Zitat von Werner Welzig anlässlich der Feierlichen Sitzung der ÖAW des Jahres 1997 wohnt etwas Prophetisches inne. Er fordert damals bereits ein, dass sich wissenschaftliche Einrichtungen nicht mit der empirisch beobachtbaren Vertrauens- und Interessenslücke zufriedengeben dürfen. Sie müssen in vielfältiger Weise als Aufklärer, als Vermittler und als Übersetzer tätig werden. Sie müssen dabei das Unverständnis der Bevölkerung vor einem Wissen ernst nehmen, das auch als bedrohlich empfunden wird. Und sie dürfen auch die eigene Unsicherheit über die Qualität des neuen Wissens offenlegen, denn es gehört zum Wesen der Forschung, dass sie einem dauerhaften Erneuerungsprozess unterliegt. Das Schließen der Interessens- und Vertrauenslücke würde einfacher gelingen, wenn das Wissen über die Wissenschaft Teil der politischen und der alltäglichen Kultur wäre. In Österreich wird Homöopathie von vielen als die bessere Wissenschaft angesehen, die Angst mancher vor Impfungen ist größer als vor tödlichen Krankheiten, und „Berufe“ wie „Energetiker“ können als Gewerbe offiziell angemeldet werden. Die Wissenschaft muss hingegen um eine Offenheit der Politik für neue Technologien kämpfen. So will man über den Einsatz

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Heinz Fassmann    |   Nach dem Nobelpreis

Neuer Gentechnik nicht einmal eine Debatte führen. Und wenn das Thema doch behandelt wird, agieren politische Vertreter:innen, NGOs, Boulevardmedien und Handelsketten mit Angstszenarien, die dem wissenschaftlichen Konsens nicht standhalten. In diesem Klima ist es schwierig, das Vertrauen der Bevölkerung in die Wissenschaft zu stärken. Dennoch: In einer modernen Wissensgesellschaft ist die Herstellung von Öffentlichkeit ein unabdingbarer Bestandteil der wissenschaftlichen Tätigkeit selbst, und sie muss dabei darauf achten, die Forschungsergebnisse in die Lebenszusammenhänge der Menschen zu integrieren. Das ist ein politischer Auftrag und eine institutio­ nelle Verpflichtung an die Forschungsträger zugleich, denn die Verschränkung von sozialer Anerkennung und budgetärer Zuwendung stellt eine wichtige Tatsache dar. Ausblick Ist Österreich ein guter Forschungsstandort? Er ist ein verbesserungsfähiger Forschungsstandort, lautet die Antwort. Der Nobelpreis an Anton Zeilinger soll jedenfalls nicht zur Selbstzufriedenheit verführen. Ganz im Gegenteil: Der Nobelpreis soll eine Initialzündung für die österreichische Forschungspolitik sein, in der eine ideologiegeleitete Parteipolitik ebenso wenig Platz hat wie eine Interessenspolitik, die nur auf die Vorteile einzelner Gruppen achtet (vgl. ÖAW 2010). Es ist Zeit, den Weg in Richtung sachorientierter, strategischer und langfristig konzipierter Forschungspolitik weiter zu beschreiten – mit ausreichender Finanzierung, insbesondere der Grundlagenforschung, mit einem Abbau der Forschungsbürokratie, mit Förderinstrumenten für eine disruptive Forschung und mit einem aktiven Zurückholen von jenen, die sich von der Wissenschaft abgewendet haben. Anton Zeilinger hat vorgelegt, wir müssen nun die Voraussetzungen schaffen, damit es Nachfolger und Nachfolgerinnen geben kann. Literatur Biber Hanno, Boom Irma und Evelyn Breiteneder (Hg.): Werner Welzig Worte. 28 Reden und 30 Register, Wien 2016. Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW): Pressegespräch zum Thema „Wissenschaftsstandort Österreich“, Wien 2010.

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Bundesregierung der Republik Österreich: FTI-Strategie 2030. Strategie der Bundesregierung für Forschung, Technologie und Innovation. Wien 2020. Bundesregierung der Republik Österreich: FTI-Pakt 2024–2026. Wien 2022. Österreichischer Wissenschaftsrat: Grundlagenforschung in Österreich. Bedeutung, Status quo und Empfehlungen. Wien 2012. Statistik Austria (Hg.): Forschung und Entwicklung (F&E). Wien 2022.

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Christian Moser-Sollmann

Die kupierte Alternative Konservative Positionen haben in einer säkularisierten Gesellschaft einen schweren Stand. Als unzeitgemäßer Denkstil aus dem Feuilleton, dem öffentlichen Diskurs und der akademischen Forschung verbannt, fristet diese europäische Geistesschule nur mehr ein Nischendasein. Dabei böte gerade die ordnungspolitische und naturrechtliche Tradition dieses Denkens anregendes Potenzial zur Lösung rezenter Probleme. Dem Konservatismus als politischer Bewegung geht es programmatisch um die Orientierung und Bewahrung der wahren geistigen Grundlagen für das Zusammenleben der Menschen in der politischen Ordnung und nicht um die Beibehaltung des Status quo. Ein republikanischer Konservatismus adaptiert das Bleibende und Immerwährende der menschlichen Natur für die Herausforderungen der jeweiligen Zeit und ist daher nicht identisch mit Restauration.

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Durch den schlampigen und denunziatorischen Umgang mit Begriffen hat sich im Alltagsgebrauch die falsche Gleichsetzung von konservativen Posi­ tionen mit rechtem Gedankengut eingebürgert. Stellvertretend für diese Unsitte muss an dieser Stelle auf das Pamphlet (Abhandlung ist es keine) „Radikalisierter Konservatismus“ der Aktivistin Natascha Strobl v­ erwiesen werden, die in ihrer Polemik systematisch inkommensurable Sachverhalte und Positionen gleichsetzt, um ihre politische Agenda durchzusetzen. Begriffsgeschichte und Arbeit am Begriff fehlen in Strobls Traktat, und ihre eigenen ideologischen Vorurteile manifestieren sich in jedem Argumentationsfehler. Das Buch ist nicht wegen seiner Thesen erwähnenswert, sondern weil hier hegemoniale Diskurstrategien idealtypisch studiert werden können. Denn mit ihren rhetorischen Finten erreichte Strobl sämtliche ihrer Ziele: flächendeckende mediale Aufmerksamkeit, die nachhaltige Diskreditierung einer ehrenwerten politischen Gesinnung und die systematische Verschiebung der Grenzen des politisch Akzeptierten und Sagbaren. S­ trobls Sprache ist von einem Vernichtungswillen gegenüber Andersdenkenden angetrieben und verwendet eine implizite Asymmetrie, „nach der die Linke das Monopol der moralischen Tugend besitzt“.1 Diese Taktik bürdet die Beweislast dem Mitbewerber auf, stellt jede außer seiner eigenen Position unter Generalverdacht, gehört seit der Kulturrevolution der 1960er-Jahre zum etablierten Standardrepertoire der Linken und ist keineswegs neu. Sprache wird so zum Zweck der Machtausübung und nicht zur Beschreibung der Realität missbraucht. Schon der Soziologe Niklas Luhmann erkannte das Wort „konservativ“ als pejorative Fremdzuschreibung Linker für nicht-linke Positionen, um unliebsame inhaltliche Positionen politischer Mitbewerber zu markieren, aber konkret nichts zu benennen: „Der sogenannte Neokonservatismus ist ihre Erfindung, nicht die Selbstbezeichnung einer anderen Gruppe.“2 Der Konservatismus hat also, vorsichtig formuliert, einen schwierigen Stand, weshalb selbst Christdemokraten oft verschämt von bürgerlichen Perspektiven und Werten sprechen, wenn sie den ideengeschichtlichen

1 Vgl. dazu Scruton, Roger: „Narren, Schwindler, Unruhestifter, Linke Denker des 20. Jahrhunderts“, S. 126 2 Luhmann, Niklas: „Die Gesellschaft der Gesellschaft“, 1. Band, Frankfurt am Main 1997, S. 1078

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Schatz konservativer Topoi in politische Debatten einbringen. Um diese Entwicklung zu stoppen, hat der Politikwissenschaftler Peter Nitschke den Sammelband „Konservatismus heute“ herausgegeben, wo die ordnungsund begriffsgeschichtlichen Grundsätze dieser Denkschule vorgestellt werden und eine wissenschaftlich fundierte Alternative zum Kauderwelsch von Strobl erarbeitet wird. Vielfältiger Denkstil Der Konservatismus ist eine Geisteshaltung mit vielfältigen Ausprägungen und kein monolithischer Block. Der Philosoph Jürgen Habermas unterscheidet Altkonservative, Jungkonservative und Neokonservative. 3 Die Entstehung der Neokonservativen, die er als Anhänger der Moderne auswies, die den Abgesang auf die kulturelle Moderne mit einer kapitalistischen Modernisierung zusammen dachten, deutete Habermas als direkte Reaktion auf die 1968er. Altkonservative sah er als Gegner der Moderne; diese „verfolgen den Zerfall der substanziellen Vernunft, die Ausdifferenzierung von Wissenschaft, Moral und Kunst, das moderne Weltverständnis und deren nur noch prozedurale Rationalität mit Misstrauen …“4. Auch den Jungkonservativen, einer Bewegung in Deutschland der 1920er-Jahre attestiert Habermas einen unversöhnlichen Antimodernismus: „Die Jungkonservativen machen sich die Grunderfahrung der ästhetischen Moderne, die Enthüllung der dezentrierten, von allen Beschränkungen der Kognition und der Zwecktätigkeit, allen Imperativen der Arbeit und der Nützlichkeit befreiten Subjektivität zu eigen – und brechen mit ihr aus der modernen Welt aus.“5 Jungkonservative lehnten die Idee des zivilisatorischen Fortschritts ab, argumentierten antikapitalistisch, antimodern, antiamerikanisch und kultivierten einen Gestus des Elitären gegen das Massenhafte, der eine auf Sekundärtugenden basierende Ethik forderte, die mit Begriffen wie „Gehorsam“, „Pflicht“, „Dienst“, „Opferbereitschaft“ und „Glaube“ umschrieben wer-

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Habermas, Jürgen: „Kleine Politischen Schriften I–IV“, Frankfurt am Main 1981, S. 463 ff. Ebd. , S. 463 Ebd. , S. 463

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den kann. Schon aus dieser nur kursorischen Unterscheidung wird ersichtlich, wie reichhaltig die Traditionsstränge konservativen Denkens sind. Äquidistanz zur Dynamik gesellschaftlichen Wandels Mit seiner Äquidistanz zur Dynamik gesellschaftlichen Wandels und der gleichzeitigen Stabilität ihrer nachhaltigen Grundbedingungen in sozialer, ökonomischer wie politischer Perspektive bietet der Konservatismus praktikable Lösungen für die politischen Herausforderungen der Gegenwart. Der republikanische Konservatismus vermeidet im Unterschied zu rechten und linken Positionen identitätspolitische Verengungen und hält unbeirrt an Universalismus, Gemeinwohlorientierung und der Bewahrung der wahren geistigen Grundlagen für das politische Zusammenleben der Menschen fest. Als ideologischer Gegner zu Liberalismus und Sozialismus stammt der republikanische Konservatismus in seiner heutigen Bedeutung von der 1818 in Frankreich erschienenen Zeitung „Le Conservateur“. In dieser Zeitschrift wurde die Programmatik des modernen Konservatismus erarbeitet. Argumentierte der Konservatismus in vordemokratischen Zeiten aristokratische und monarchistische Standpunkte, versteht sich der republikanische Konservatismus als Bewahrer der antiken Weisheitslehren und der heiligen Schrift als Grundlage einer gemeinwohlorientierten politischen Ordnung. Als Hüter der Tradition kämpft er für das Weitergeben der Flamme und nicht für das Halten der Asche, wie Thomas Morus in seinem berühmten Zitat festlegte. Bürgerlicher Konservatismus kämpft für Überzeugungen, die er angesichts der Sinnkrisen der Moderne führen muss. Es geht um das Eintreten für die ewigen Wahrheiten und nicht um das selbstgefällige Geschäft der Kulturkritik. Es geht in der Moderne gerade nicht um das Bewahren an sich, wie der Schriftsteller Chesterton erkannt hat, der den demokratischen Parlamentarismus als nie endenden Streit zwischen Progressiven und Konservativen kritisierte: „Die Aufgabe der Progressiven ist es, weiterhin Fehler zu machen. Das Geschäft der Konservativen ist es, zu verhindern, dass Fehler korrigiert werden. Selbst wenn der Revolutionär seine Revolution bereuen könnte, verteidigt der Traditionalist sie bereits als Teil seiner Tradition. So haben wir zwei große Typen – den Fortgeschrittenen, der uns in den

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Ruin stürzt, und den Rückwärtsgewandten, der die Ruinen bewundert.“6 Ein solcher defensiver Konservatismus, der die Fehler der Mitbewerber ex post verteidigt, anstatt für eigene Überzeugungen einzustehen, wäre tatsächlich verkehrt. Dieses Vorurteil konnte entstehen, weil der Konservative als skeptischer und vorsichtiger Menschenschlag meist reagiert und vom Naturell her anti-revolutionär ist. Konservativ sein meint aber nicht die Bewahrung alles Alten, sondern die Fortschreibung und Neuerweckung des guten Vergangenen in der Gegenwart. Das Alte wird nicht verehrt, nur weil es alt ist. Und das Neue wird nicht abgelehnt, weil es neu ist, sondern nur, wenn es schlecht ist. Egal ob alt oder neu, immer geht es um die Überprüfung des Sachverhaltes an den naturrechtlichen Gesetzlichkeiten von Überlieferung, Recht und Billigkeit. Konservative Politiker entwerfen realistische Handlungsoptionen für die Bewältigung realer Probleme und gefallen sich nicht in der bequemen Rolle als einsame Rufer wider die Dekadenz oder als Ankläger gegen den sittlichen Verfall, der als unausweichliches Schicksal wahrgenommen wird. Eschatologische Erlösungsfantasien sind ihm fremd, nicht aber Vorsicht und gründliches Misstrauen gegenüber Menschenfischern, Ideologen und selbsternannten Weltenrettern. Diese skeptische Lebenseinstellung leitet sich nicht von einer Menschenfeindlichkeit ab. Denn der Traditionalist weiß, dass es keine substanzielle Änderung der Menschennatur gibt und alle Versuche, den neuen Menschen oder eine perfekte Gesellschaft zu schaffen, stets in Barbarei endeten. Der Mensch als gefährdetes Wesen trägt die Erbschuld unauslöschlich mit sich, und deshalb misstraut der Konservative Jahrmarktschreiern und Utopien, die fröhlich eine Welt ohne Schmerz und Leid, wo Manna vom Himmel fällt, verkünden. Solche Politiker sind für Konservative gefährliche Narren und Schwindler, aber keine Menschenfreunde und Kämpfer für Gerechtigkeit. Mit diesen Überzeugungen haben es Konservative schwer am Markt der Meinungen: anders als Progressive, Berufsrevolutionäre und Aktivisten verkünden sie keine Erlösung auf Erden, anstrengungslosen Wohlstand und immerwährenden Fortschritt. Der Kon-

6 G. K. Chesterton, Illustrated London News, 19. April 1924, in: https://chestertonstl.word press.com/2016/10/10/the-blunders-of-our-parties/

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servative ist zufrieden mit der Gattung Mensch, glaubt an die Vorsehung und verzichtet auf das Feilbieten einfacher Lösungen. Der Konservative akzeptiert den Tod als sinnvollen Bestandteil der Schöpfung und betrachtet diesen nicht wie der Transhumanismus als abzuschaffendes Skandalon und behebbaren Betriebsunfall der Evolution. Als einzige der drei modernen politischen Denkrichtungen fordert der Konservatismus die Sehnsucht nach dem Gleichgewichtszustand, die er der Schneller-Höher-Weiter-Mentalität des Liberalismus und der manischen Suche nach dem neuen Menschen der diversen Sozialismen entgegenhält. Dabei denken Konservative oft ambivalent: Einerseits argumentieren sie mit dem Hochhalten der Ideale des christlichen Mittelalters und der griechischen Antike rückwärtsgewandt, andererseits aber auch fortschrittlich ausgerichtet auf eine Zukunft, wo die christlichen und humanistischen Werte gegenüber dem Nützlichkeitsdenken der Aufklärung wieder Gehör finden. Das Verständnis modernen konservativen Denkens hat sich in den Vereinigten Staaten Amerika entwickelt. Als Republikanismus verfolgt der amerikanische Konservatismus Politik drei programmatische Ziele: einen sozialen Anspruch, ein ökonomische Orientierung und die Interessen der Nation. Die Sozialstaatlichkeit richtet sich dabei vorrangig an die eigene Nation und deren Bürger. Bevor man die Welt retten möchte, gestaltet man das eigene Gemeinwesen und hält es in Ordnung. Volkswirtschaftlich sind der Schutz des Eigentums, strenge Kartellgesetzgebung und die Ermöglichung eines fairen und freien Wettbewerbs zentral. Der Staat garantiert dabei die gesetzlichen Grundlagen zum Schutz des Privateigentums und kümmert sich nicht primär um Umverteilung. Abweichend von diesem angelsächsischen Modell betont die kontinentaleuropäische Christdemokratie stärker die soziale Verantwortung des Staates. Die innen- und außenpolitische Sicherheitspolitik richtet sich nach der Interessenlage der Nation. Der Staat sichert die Existenz der Nation nach außen hin ab, was neben militärischen Aufgaben auch einen aktiven Grenzschutz und eine vorausplanende Asyl- und Migrationspolitik umfasst.

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Sicherheit, Planbarkeit und Ordnung Als Typus handelt der Konservative stets antirevolutionär. Allen Verlockungen und Heilsversprechen, wie die Welt auszusehen hat, erteilt er als Hüter des Kanons eine Absage. Zentrale Schwerpunkte seines an Harmonie orientierten Politikverständnisses sind die Bewahrung der Ordnung, die Herstellung von Sicherheit und das Hochhalten humanistischer Bildungsideale. Sozial wie ökonomisch folgen Konservative den Lehren vom Gleichnis der anvertrauten Talente (Matthäus 24, 14–30 bzw. Lukas 19, 12–27), in dem die Verschiedenheit der Menschen erklärt wird Die Menschen sind zwar rechtlich formal gleich, jedoch in ihren Talenten und Begabungen ungleich. Diese natürliche Ungleichheit sollte der Staat nicht durch willkürliche Gesetze verleugnen. Denn der Staat ist nicht der Erzieher und Wohltäter der Menschheit. Ganz im Gegenteil sollte sich die Politik nicht in die Lebenswelt und Erziehung des einzelnen Bürgers einmischen. Als Leitlinie gilt: Jeder Mensch ist durch sich selbst und nicht durch den Staat befähigt. Eine Veredelung, Selbstoptimierung und Transformation der menschlichen Natur wird grundsätzlich abgelehnt. Die Begrenzung des menschlichen Geistes wird als menschliche Konstante und nicht als zu behebender Makel betrachtet. Jede gesellschaftliche Veränderung muss Stückwerk bleiben und bedingt keine grundsätzliche Verbesserung des Menschen als Gattungswesen. Es geht also um die Bewahrung der Menschheit vor Übermut, das Beschneiden von Ausleben menschlicher Triebüberschüsse und eine gesunde Skepsis gegenüber Planungskonzepten. Da es keine Finalität im Diesseits gibt, erarbeiten Konservative lieber pragmatische Lösungen als lustvoll den nahenden Weltuntergang aufgrund eines angeblich anstehenden und unausweichlichen Klima-Gaus zu beschwören. Ihre Leitlinien für das politische Handeln finden sie in der naturrechtlichen Ethik, im Verweis auf das Gewachsene, welches dem Erzeugten gegenüber bevorzugt wird, und im Rückgriff auf das ewige und göttliche Gesetz (Röm. 1). Den Menschen als Leidenden, Liebenden und Handelnden gilt es zu verteidigen. Die aktive Weiterentwicklung des historischen Gedächtnisses, die Pflege von Gemeinsinn, hermeneutisches Verstehen und phänomenologische Sachlichkeit bilden die Grundlagen einer Politik, die in Generationen und Jahrhunderten denkt. Konservatives Denken beinhaltet also eine Aufforderung und Selbstverpflichtung, das Gute und Richtige zu tun, ohne zu heucheln.

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Die zentrale Bedeutung der Menschenwürde Erklärt werden kann diese sittliche Handlungsorientierung mit dem Begriff der Menschenwürde. Die Gleichheit der Menschenwürde lässt sich ideengeschichtlich nur durch den Rückgriff auf die göttliche Offenbarung, nicht aber durch die Evolution begründen. Der Mensch bleibt auf seinen Schöpfer zurückverwiesen, der ihn mit gewissen unveräußerlichen Rechten wie dem Recht auf Leben ausstattet. Diese Gedankenfigur leistet mehr als der autonome Individualismus, wo die Unverfügbarkeit des Menschenlebens nur mit dem zirkulären Verhältnis von Demokratie und Menschenrechten begründet und damit relativiert wird. Die Verabschiedung der christlichgriechischen Philosophie-Tradition und die Ersetzung des ­antiken durch das moderne Naturrecht bleibt die Achillesferse der modernen Staatslehre seit Thomas Hobbes, da durch Vertragstheorie und Positivismus jede Barbarei gerechtfertigt werden kann. Menschenrechte als Bürgerrechte gab es schon vor der Demokratie, sie sind uns von Gott geschenkt. Das erste Prinzip des Liberalismus, dass alle Werte solche des Individuums sind, ist und bleibt daher in sich falsch. Mit der Autonomie der Subjekte regiert die Autonomie des Marktes und des Konsums. Dadurch werden sittlich-religiöse Grenzen aufgelöst. Nur das konservative Insistieren, dass der Mensch Gott mehr gehorchen muss als den Menschen, kann diesen modernen Irrweg auch demokratiepolitisch umkehren. Das bleibende Vermächtnis des Konservatismus für Staat und Demokratie liegt also im Erinnern und Festhalten an bleibenden Wahrheiten, wie der deutsche Publizist Albrecht Erich Günther geschrieben hat: „Konservativ sein, ist nicht ein Leben aus dem, was gestern war, sondern ein Leben aus dem, was ewig gilt.“ Nur das Bewusstsein für eine gemeinsame und verbindliche Normenquelle kann die politische Ordnung langfristig vor Willkür und autoritären Gefahren schützen. Aktuelle Konfliktlinien Die neuen gesellschaftlichen Konfliktlinien betreffen neben sozialer Ungleichheit vor allem Fragen der Inklusion, der Anerkennung und der Ökologie. Bei den Auseinandersetzungen zu den Themenfeldern Migration, inklusive Sprache, sexuelle Diversität, Identität, Klimawandel und Nachhaltigkeit werden wichtige Gerechtigkeits- und Anerkennungsfragen ge-

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stellt. All diese Themen sind umkämpft und polarisieren die Wählerschaft. Progressive Positionen bestimmen und dominieren die Debatten, und auf der neu-rechten Seite prägt dumpfer Populismus den Ton. Moderate, die menschliche Natur und die Werte von Kanon, Überlieferung und Tradition hochhaltende, vermittelnde und ausgleichende Positionen verhallen in dieser aufgeheizten Stimmung meist ungehört. Auf den Trümmern des historisch Gewachsenen wollen die selbsternannten und demokratisch nicht durch Wahlen legitimierten Kämpfer für soziale Gerechtigkeit eine Gesellschaft der totalen Emanzipation ohne Rücksichtnahme auf naturrechtliche und biologische Gesetzmäßigkeiten errichten. Dafür wollen sie die Menschen von sämtlichen Konventionen „befreien“ und bestehende Sitten dekonstruieren. Dieser zeitgenössische Utopismus sieht den Staat allein für die gerechte Verteilung aller Güter verantwortlich und macht Politik mit Quoten, positiver Diskriminierung und anderen „sozialemanzipatorischen“ Werkzeugen. Diese Ideologen inszenieren sich als Gegner der bestehenden Macht und als Vorhut einer neuen Ordnung. Die Vertreter von WokeKultur und Identitätspolitik haben die Tonalität politischer Diskussionen verändert. Konservative orientieren sich in ihrem Amtsverständnis und ihrem Leben nach der Goldenen Regel (Matthäus, 7): „Nach dem Maß, mit dem ihr messt und zuteilt, wird euch zugeteilt werden.“ Ein solches Menschenbild setzt die Ebenbürtigkeit und Gleichwertigkeit des Gegenübers voraus. Anders die Logik der Identitätspolitik: Hier werden alle Positionen, die nicht die eigenen sind, als unerlaubt und außerhalb des Verfassungsbogens gerahmt. Statt der Orientierung am Gegenüber gilt der eigene Standpunkt als alleiniger Gradmesser. Debatten werden mit Forderungen und der Leitfrage: „Bist du woke genug?“ geführt.7 Mangelnde Trennschärfe und radikale Subjektivität ersetzen den ergebnisoffenen inhaltlichen Dialog. Identitätspolitische Vertreter behaupten von sich, über eine Lizenz und Berechtigung zu verfügen, dem Andersdenkenden das Mitspracherecht zu verweigern. Andere Standpunkte werden als illegitim ausgeschlossen. Ziel ist die „Läuterung“ der nicht Erwachten, wobei nur Aktivisten verschiedenster

7 https://www.faz.net/aktuell/politik/identitaetspolitik-aktivisten-treten-oft-autoritaerauf-18349932.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2

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Provenienz festlegen, wer denn nun das richtige Bewusstsein hat. Es geht in dieser Logik immer um Ein- und Ausschlüsse. Es gibt in dieser Ideologie keine Gemeinwohlorientierung und kein Gemeinwesen, wo allen Bürgern verbrieft gleiche Rechte zugestanden werden. Durch diese Verengungen ist das Erbe des europäischen Universalismus akut gefährdet. Machen wir uns nichts vor. Der zentrale Trend in Europa arbeitet gegen konservative Überzeugungen. Die homogenen Staatsvölker werden zugunsten kosmopolitischer Einwanderungsstaaten umgebaut. Erziehung und Ausbildung wird von den Familien zusehends an staatliche Institutionen wie Horte und Ganztagsschulen ausgelagert. Die Ehe als Band zwischen Mann und Frau wurde zugunsten der Ehe für alle aufgeweicht und die christliche Leitkultur gegen Religionsfeindlichkeit eingetauscht. Geschlecht wird als soziale Wahl und Ware und nicht länger als biologisches Faktum betrachtet. Die rotgrüngelbe Regierung in Deutschland empfiehlt Trans-Jugendlichen die Einnahme sogenannter Pubertätsblocker8 9, die die Produktion der Geschlechtshormone hemmen und damit die Pubertät aufhalten. Außerdem soll jede Bürgerin und jeder Bürger jährlich sein Geschlecht am Standesamt ändern können. Auch die deutsche Sprache wird gegen jede grammatikalische Regel verändert. Dass die Gleichsetzung des biologischen Geschlechts mit dem grammatischen Genus falsch ist, kümmert die Sprachzerstörer nicht. Jährlich wechselnde Sprachregelungen haben die Verständlichkeit der Sprache und Lesbarkeit vieler Texte massiv verschlechtert. Gewachsene Strukturen werden durch künstliche Eingriffe bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Merkmale wie Geschlecht, Intersektionalität und (ethnische) Zugehörigkeit gelten Aktivisten mehr als Inhalte. Gleichberechtigung ist in dieser

8 Vergleiche dazu https://www.tagesschau.de/inland/regional/nordrheinwestfalen/wdrstory-51129.html. Die offizielle Seite regenbogenportal.de wurde aufgrund des öffentlichen Drucks mittlerweile gelöscht. 9 Wenn Minderjährige von identitätspolitischen Aktivisten mit einem unkritischen Zugang in Richtung Geschlechtsumwandlung gedrängt werden, werden dabei oft andere Ursachen für die Probleme der Jugendlichen ignoriert – mit dramatischen Folgen für ihr Leben. Viele Betroffene wünschen sich ex post, dass ihr fanatischer Wunsch nach einer Geschlechtsumwandlung von Ärzten und Therapeuten ernsthaft hinterfragt worden wäre. Zur Frage, wie viele Betroffene Geschlechtsumwandlungen bereuen, gibt es noch keine empirisch validen Langzeitstudien; vergleiche dazu https://www.nzz.ch/international/londoner-gender-klinik-tavistock-eine-reuigepatientin-erzaehlt-ld.1706410?fbclid=IwAR3gJjGRJQfxZG4Xg4qKgB-01u1C-LZucrKEAtPJ_JkmXr0BB7JhgKcXOBI

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Denkart nicht genug, der Staat muss mit Quoten die tatsächliche Gleichstellung von Mann und Frau, Einheimischen und Zuwanderern herstellen. Jugendquoten, Altersquoten, Frauenquoten, ethnische Quoten, Behindertenquoten, geographische Quoten – jeder Mensch scheint ein Opfer repressiver Strukturen zu sein. Die biblische Entfremdung durch den Sündenfall wird profanisiert. Wer sich als Opfer inszeniert, relativiert seine Grundrechte. Aktivisten erklären ethnische und geschlechtliche Merkmale zum entscheidenden Bewertungskriterium und beschneiden damit den freien Wettbewerb. Der Gesetzgeber bewertet formale Gleichstellung in d­ieser Lesart wichtiger als Chancengerechtigkeit. Geschlechter und Nationen werden von den Parteigängern des Identitätsparadigmas als willkürliche Erfindungen abgetan, während gleichzeitig Traditionen, Bindungen und Konventionen als eurozentristische und postkoloniale Verbrechen bekämpft werden. Gegen eine solche generalstabsmäßige Umerziehung der Gesellschaft muss der Konservative aufstehen. Für konservative Politiker ist der Mensch kein manipulierbares, beliebig veränderbares Modell für gesellschaftspolitische Experimente. Im gegenwärtigen „Alles-ist-möglich-Klima“ kann der Konservative eine Emanzipation von der Emanzipation und eine politische Alternative anbieten, die sich an der menschlichen Natur und an ökonomischen Notwendigkeiten orientiert. Als Vertreter eines reflektierten Modernitätsbewusstseins wahrt er den europäischen Überlieferungskanon und opfert die Errungenschaften von Universalismus, Rechtsstaatlichkeit und Anstrengungskultur nicht voreilig am Altar der Zeitgeistigkeiten. Wenn der Konservative gegen die Nivellierung der Bildungspolitik und die Verleugnung geschlechtlicher Differenzen argumentiert, kann sich der Konservatismus durchaus kapitalismus- und bürokratiekritisch äußern. Grundlegende Errungenschaften wie die europäische Einigung, das Denken in Generationen und ein politisches Amtsverständnis nach den Grundsätzen der Billigkeit und Sparsamkeit wird er jedoch entschieden verteidigen. Das Eintreten für das Gute, Schöne und Wahre sowie die die Bewahrung der Schöpfung sind ihm Selbstverpflichtung; für das private Leben bilden Glaube und der Kanon der philosophischen Klassiker eine erprobte Richtschnur. Bei seiner Arbeit kann sich der Konservative nicht auf den Applaus des Juste Milieu verlassen oder sich hinter den Vorurteilen der Mehrheitsmeinung verstecken. Sowohl der Glaube als auch die Philosophie lehren, dass die Schöp-

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fung, das Naturrecht und die Lebensgesetze keine beliebig veränderbaren Zufälle sind, sondern die Grundlage unseres Daseins. Weder weltliche Macht noch menschliche Einsicht sind letztgültig, und eben in diesem Wissen um die Endlichkeit und Beschränktheit allen menschlichen Strebens offenbart sich die Gültigkeit konservativer Denkarbeit. Als Haltung orientiert sich der Konservative immer am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, des Ausgleichs, des Maßes, der Mitte, des Common Sense und der Höflichkeit. Idealtypisch formuliert, folgt der Konservatismus somit sozial wie ökonomisch einem aristotelischen Leitbild, in dem der Ordnungsgedanke zentral für alle politischen Überlegungen ist. Literatur Habermas, Jürgen: „Kleine Politische Schriften I–IV“, Frankfurt am Main 1981 Luhmann, Niklas: „Die Gesellschaft der Gesellschaft“, 1. Band, Frankfurt am Main 1997 Moser-Sollmann, Christian (Hg.): Konservative Korrekturen, Wien 2011 Nitschke, Peter (Hg.): Konservatismus heute. Über die Bestimmung einer politischen Geisteshaltung, Paderborn 2022 Scruton, Roger: Narren, Schwindler, Unruhestifter. Linke Denker des 20. Jahrhunderts, München 2021 Strobl, Natascha: Radikalisierter Konservatismus. Eine Analyse, Frankfurt am Main 2021

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Andreas Kirschhofer-Bozenhardt

Der erblindete Spiegel Demoskopie auf Schleuderkurs Die mündliche Befragung statistisch repräsentativer Querschnitte mittels standardisierter Frageprogramme ist nach wie vor die tauglichste Form der Massendiagnose. Demoskopische Erhebungen bieten bei fachgerechter Anwendung der Politik die Chance, rasch und problemadäquat auf den wirtschaftlichen und sozialen Wandel zu reagieren. Diese Vorzüge kommen in der politischen Praxis jedoch immer weniger zum Tragen. Zu beobachten ist ein zunehmender Verlust an methodischer Sauberkeit und Wissen bei der Erstellung von Umfragen, aber auch ein erschreckender Umgang mit der Demoskopie durch Politik und Medien. Maßgeblich beeinflusst wird die Situation der heutigen Umfrageforschung überdies durch veränderte Rahmenbedingungen infolge der modernen Informationstechnologien. Der Autor versucht, ein Bild von der Vielzahl der Faktoren zu vermitteln, und zeigt auf, in welcher Weise ein politisches Zeitgeistdenken sich nachteilig auf die Meinungsforschung und damit auf die Gesellschaft auswirkt.

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Eigentlich wäre das Datum für die Demoskopie Anlass gewesen, ein wenig über sich selbst nachzudenken, denn im vergangenen Dezember war es genau 110 Jahre her, dass Sir Arthur Bowley in London mit der ersten statistisch repräsentativen Umfrage an die Öffentlichkeit trat. Das Prinzip der statistischen Repräsentanz wurde zum Fundament einer völlig neuen Form der Massendiagnose und zählt daher mit Fug und Recht zu den großen sozialen Geschehnissen des 20. Jahrhunderts. Dass das Jubiläum verschlafen wurde, wirkt symbolhaft, zumal sich im Vergessen des eigenen Geburtstags auch das Vergessen der ursprünglichen Ziele und methodischen Leitlinien ausdrückt. Die Begründer und frühen Verfechter der empirischen Sozialforschung – von Bowley über George Gallup und Lazarsfeld bis hin zur großen Elisabeth Noelle – würden sich vor Gram in ihren Gräbern wälzen, wenn sie wüssten, wie die Nachfahren ihrer Branche mit den Grundsätzen der Umfrageforschung bisweilen umgehen. •

Wer erinnert sich heute noch an die „Religionskriege“, die zwischen den Anhängern von Quota und Random um die Bildung der bestmöglichen Stichproben geführt wurden? Wen kümmern noch sachgerechte Fragestellungen, taugliche Stichprobengrößen, befriedigende Ausschöpfungsgrade oder die Qualität von Interviewernetzen? Wer grübelt noch über die Vor- und Nachteile semantischer Differenziale? Wen schert bei Listenfragen noch die Gefahr möglicher Rangreiheneffekte? Wer fragt überhaupt noch nach der methodischen Machart und Sauberkeit? Im Argen liegt freilich nicht nur die Demoskopie, sondern auch der Umgang mit ihren Informationen durch Politik und Medien. Dieses Problem kann, wenn vom gegenwärtigen Elend der Umfrageforschung die Rede ist, nicht ausgeklammert werden.

Ein Blick auf die Ursprünge Das Bedürfnis, Meinungen und Verhaltensweisen der Menschen kennenzulernen, ist uralt. Historische Vorstufen der Demoskopie sind Volkszählungen und Steuerlisten (etwa ab 3000 v. Chr.) Die erste römische Volkszählung fand 535 v. Chr. statt. Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit gab es dann schon Fragenkataloge, so etwa zum Zustand der Ortskirchen. Elisabeth Noelle wusste

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zu berichten, dass Karl der Große mehrere Umfragen durchführen ließ, deren Fragebögen und Antworten erhalten geblieben sind. Der Kaiser hatte den Bischöfen des Reiches standardisierte Fragebögen zugeschickt, um vergleichbare Antworten zu bestimmten kirchlichen Streitfragen zu erhalten, beispielsweise zur Taufe. Rund 750 Jahre später, zwischen 1558 und 1565, interviewte ein spanischer Franziskanermönch an verschiedenen Orten Mexikos Einheimische anhand eines Leitfadens. Aus den daraus gewonnenen Informationen entstand ein umfassender Bericht über die aztekische Sprache und Kultur. Bis zum Ende des 18. Jh. wurde in England auch eine Reihe anderer Umfragen durchgeführt. In einer davon wurde ein Interviewer ein ganzes Jahr lang mit einem Fragebogen herumgeschickt, um die Lage der Armen zu erkunden. Mit Beginn des 19. Jh. wurden Umfragen dann häufiger. Beispielsweise verschickte im Jahr 1835 ein pensionierter englischer Captain Fragebögen an alle noch lebenden Offiziere der Schlacht von Waterloo mit der Bitte um Schilderung ihrer Beobachtungen. Alle diese Untersuchungen vollzogen sich noch ohne Kenntnis und Anwendung der statistischen Repräsentanz. Diese wurde von dem eingangs erwähnten Sir Arthur Bowley zunächst (1906) der Royal Statistical Society vorgestellt und etwas später in die Praxis umgesetzt. George Gallups Beweisführung Berühmt gemacht wurde die Methode 1936 durch den Amerikaner George Gallup, indem er die sogenannten „Strohwahlen“ des Literary Digest ad absurdum führte. Der Literary Digest hatte nämlich zuvor durch den Versand von Postkarten-Stimmzetteln in einem gigantischen Ausmaß versucht, die politischen Einstellungen der Amerikaner zu erkunden. 1936 wurden rund 20 Millionen solcher Stimmzettel verschickt. Die Ergebnisse waren aber trotz dieser riesigen Zahl unbefriedigend, weil sie nicht die Meinungen der Gesamtbevölkerung, sondern die einer untypischen Teilgruppe der damals noch in der Minderheit befindlichen Autofahrer und Telefonbesitzer abbildete. Gallups Tat bestand darin, dass er auf der Basis von nur 6.000 repräsentativ ausgewählten Personen einerseits die Fehlprognose des Literary Digest und andererseits auch das richtige Ergebnis der Präsidentenwahl vorhersagte.

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Ein ganz besonderes Verdienst um die Verfeinerung und Weiterentwicklung der Methode gebührt der deutschen Empirikerin Elisabeth ­Noelle und ihrem Institut für Demoskopie Allensbach. Wegweiser in der Währungsreform Den ersten großen Auftritt im deutschsprachigen Raum hatte die Demo­ skopie 1948 im Zuge der Währungsreform, also des Umstiegs von der ehemaligen Reichsmark auf D-Mark und Schilling. In Deutschland wollte die Regierung damals wissen, wie die Menschen auf die neue Währung reagieren, was sie damit anfangen, ob es aufgrund der Umstellung zu irgendwelchen sozialen Notlagen kam etc. Die Ergebnisse hat der deutsche Wirtschaftsminister Ludwig Erhard zu konkreten Maßnahmen genutzt, um aufgetretene soziale Härten zu mindern. Den meisten Dingen sieht man das demoskopische Gütesiegel nicht an, das ihren Werdegang in Wirtschaft oder Gesellschaft prägt. Wer würde beispielsweise ahnen, dass die Wiedereinführung des Deutschlandliedes als Nationalhymne (in diesem Fall mit der 3. Strophe) im Nachkriegsdeutschland auf einer Allensbacher Umfrage beruhte? Lange Zeit war es nämlich fraglich, welche Hymne man nach 1945 verwenden sollte. Eine Umfrage hat dann gezeigt, dass die Bevölkerung unter allen Umständen die HaydnMelodie wieder haben wollte. Die Bonner Regierung hat diesem Wunsch Rechnung getragen. Der Bogen der demoskopischen Nutzbarkeit ist generell sehr groß. Er dehnt sich von der Konsum- und Investitionsgütermarktforschung über Kommunikations- und Mediaforschung, Werbewirkungsforschung, Geldmarktforschung, Rechtsgutachten (z. B. zur Überprüfung der Verkehrsgeltung eines Markennamens), Medizin- und Pharmaforschung bis hin zu den religionssoziologischen oder gesellschaftspolitischen Problemstellungen. In der Wirtschaft hat die Umfrageforschung den Status der Unverzichtbarkeit erlangt. Gerade die großen und erfolgreichen ­Unternehmen tun in Wirklichkeit keinen Schritt, ohne ihren Markt zuvor gründlich erkundet und das Planungsrisiko tief reduziert zu haben. Auch Dietrich M ­ ateschitz

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hat zunächst repräsentative Geschmackstests durchführen lassen, ehe sein Erfolgsgetränk Red Bull nach oben schnellte. Telefon zwischen Wählern und Regierenden Was die Politik betrifft, ist die Meinungsforschung als ein System der Informationsrückleitung von „unten“ nach „oben“, also von der gesellschaftlichen Basis in die Organe der politischen Repräsentation zu verstehen. Sie ist im Idealfall das Telefon, mit dem sich die Wählerschaft der politischen Führung verständlich machen kann. Eine sinnvoll angewandte Umfrageforschung kann demgemäß eine wichtige Aufgabe im gesellschaftlichen Getriebe erfüllen, indem sie den Regierenden eine bessere Kenntnis von den Regierten vermittelt und damit zu einer Harmonisierung beider Seiten beiträgt. Auf einem anderen Blatt steht, ob das Instrument von den politisch Handelnden auch in diesem Sinne genutzt wird. Zu prüfen ist, ob die Demoskopie durch empirische Informationsvermittlung eine Integration zwischen Führenden und Geführten bewirkt hat. Auf dem Prüfstand stehen in diesem Fall Politik und Politiker. Aus der Perspektive des Insiders sind Zweifel angebracht. Die Telefone der Demoskopen klingelten in den vergangenen Jahrzehnten zwar oft und lang, doch es wurde nur höchst selten abgehoben. In den Parteizen­ tralen ist eine merkwürdige Taubheit gegenüber den diagnostischen Möglichkeiten der Umfrageforschung spürbar geworden mit der Folge, dass man sich mit der Kenntnis der Popularitätswerte der Spitzenkandidaten, den momentanen Parteineigungen und anderen vordergründigen Informationen begnügt, während an den Motiven der Wählermeinung sowie an den Strömungen des öffentlichen Bewusstseins nur wenig Neugier besteht. Die Politiker wehren sich, so scheint es, geradezu leidenschaftlich dagegen, menschliches Verhalten empirisch anstelle ihres Bauchgefühls zu betrachten. Manche politischen Entscheider prahlen sogar mit dem Versprechen, sich nicht von Umfragen beeindrucken zu lassen. Dieses stumpfe, mit fehlendem Verständnis für die politischen Möglichkeiten gepaarte Verhalten hatte zur Folge, dass manche von der Demoskopie aufgezeigten Frühsignale von Fehlentwicklungen (Geburtenarmut,

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Pflegenotstand, Folgen der Überalterung, Folgen der unkontrollierten Zuwanderung, vermisste Öffentliche Sicherheit) von der Politik regelrecht ver­schlafen wurden. Die demoskopisch entdeckte Heilkraft des Dekalogs Den politischen Versäumnissen zuzurechnen ist auch das Versagen der Kirche bei der Verteidigung des christlichen Glaubens als einem abendländischen Merkmal. Die Säkularisierung hat nämlich auch eine gesellschaftspolitische Komponente, auf die die deutsche Forscherin Renate Köcher stieß. Gestützt auf Repräsentativerhebungen des IfD stellte die Professorin fest, dass sich Menschen mit starker und schwacher religiöser Orientierung bis in die Beziehung zum eigenen Land hinein unterscheiden. Der zentrale Befund lautet: „Wo Religion und Kirche stark sind, ist die Gesellschaft eine andere, mit rigideren Moralvorstellungen und einem generell weitaus umfassenderen Normengefüge, das Selbstbeschränkung und Altruismus fördert. Wo Religion und Kirche schwach sind, gedeihen hingegen Egozentrismus und Hedonismus, wird individuelle Autonomie zum überragenden Ziel.“ Renate Köcher widerlegte anhand demoskopischer Vergleiche von kirchennahen und kirchenfernen Personen die Annahme, dass das moralische Verhalten der Menschen vom Niedergang religiöser Werte nur wenig betroffen ist. Die unterschiedliche Einstellung zum 5. und 7. Gebot, den Verboten von Tötung und Diebstahl, illustrieren das besonders deutlich. Während gläubige Christen das 5. Gebot: „Du sollst nicht töten“ praktisch total als zwingendes Postulat halten, tun dies die Konfessionslosen nur zu 78 Prozent. Das 7. Gebot „Du sollst nicht stehlen“ erkennen die Kirchennahen ebenfalls fast uneingeschränkt an, von den kirchenfernen Religionsmitgliedern tun dies bereits deutlich weniger, von den Konfessionslosen sogar nur knapp zwei Drittel. Sichtbar wurde ansonsten eine tolerantere Haltung der Kirchenfernen gegenüber allen Versuchen, sich auf Kosten des Staates und von Solidargemeinschaften zu bereichern. Zu ganz ähnlichen Erkenntnissen wie die Allensbacher Professorin kam das Tübinger Institut für angewandte Wirtschaftsforschung. Demnach würden Menschen, die an Gott glauben, in der Regel weniger Steuern hin-

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terziehen als solche ohne Religiosität. Die vorangehenden Befunde hätten, so sollte man meinen, von den christlichen Kirchen sowie den Parteien, die sich mit dem „C“ schmücken, zur Abwehr der Säkularisierung herangezogen werden können. Doch nichts dergleichen geschah. Das demoskopische Telefon klingelte zwar auch in dieser Causa, aber die Antwort vom Tonband lautete allzu oft: „Kein Anschluss unter dieser Nummer.“ Adenauer verscheucht das Gespenst „Gefälligkeitsdemokratie“ Mit der Unbedarftheit für die sinnvolle Nutzung der Demoskopie war es nicht immer so, obwohl die Methode von früh an mit dem Verdacht leben musste, die Politiker dazu zu verführen, sich allzu sehr nach der Mehrheitsmeinung zu richten. Theodor Eschenburg hat dafür den Begriff „Gefälligkeitsdemokratie“ geprägt. Der große deutsche Nachkriegskanzler Konrad Adenauer hat jedoch anhand mehrerer Beispiele bewiesen, dass man dem Volk keineswegs immer nach dem Mund reden muss, um ein zwingend erscheinendes Konzept durchzusetzen. Adenauer hat (mit Ludwig Erhard) die Soziale Marktwirtschaft eingeführt, obwohl die Deutschen damals noch eine staatlich gelenkte Wirtschaft bevorzugten. Er hat (gemeinsam mit de Gaulle) die deutsch-französische Freundschaft eingeleitet, obwohl die Deutschen innerlich noch der jahrhundertelangen Feindschaft mit dem westlichen Nachbarn anhingen, und er hat auch die deutsche Wiederbewaffnung und den Eintritt in die NATO vollzogen, obwohl die Bevölkerung eigentlich nichts mehr von Militär und Krieg wissen wollte. Das Besondere am Verhältnis Adenauers zur Demoskopie war, dass er sie nicht als Denkautomaten, sondern als Kontrollinstrument für die Verständlichkeit seiner Überlegungen benutzte. Er suchte in den empirischen Befunden vor allem Aufschlüsse darüber, wo er sich besser erklären oder einen taktischen Umweg einschlagen musste. Fest steht, dass Konrad Adenauer ein Intensivnutzer der Umfrageforschung war und sich regelmäßig über den politisch-psychologischen Stand der Dinge unterrichten ließ. Auch für andere kraftvolle Politiker, darunter die späteren Kanzler Kohl und Schmidt, waren demoskopische Erkenntnisse ein wichtiger Orientierungsbehelf. Ich erinnere mich noch lebhaft an die abendlichen Gesprächsrunden mit Helmut Kohl, der mehrmals an den

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Bodensee kam, um von E. Noelle und ihrem Forschungsstab persönlich zu erfahren, wie die Bevölkerung denkt und fühlt. Besonders stark beschäftigte ihn die Frage, in welcher Weise sich Deutschland nach Ansicht seiner Bürger in ein neues Europa einordnen soll. Kohl konnte freilich nicht ahnen, dass sein eigener Traum von einem Europa ein böses Erwachen finden würde, weil ein selbstherrlicher Brüsseler Despotismus die Ideale der Menschen in den Mitgliedsländern missachtet und sich dabei über die von der Forschung aufgezeigte öffentliche Meinung hinwegsetzt. Im Österreich der Nachkriegsjahrzehnte waren es in der ÖVP staatstragende Persönlichkeiten wie Alois Mock, Josef Taus sowie die Landeshauptleute Wenzel, Krainer, Haslauer (sen.), Schausberger und Ratzenböck, die mithilfe der Demoskopie aufmerksam in die Bevölkerung hineinhorchten. In der FPÖ taten dies vor allem Friedrich Peter und Jörg Haider. Die Sozialdemokraten hatten in Karl Blecha einen Spitzenpolitiker, der sogar selbst ein namhaftes Institut (Ifes) gegründet hatte, ehe er zum Innenminister aufstieg. Der Mythos der leichten Manipulierbarkeit Niemand wird ernsthaft bezweifeln, dass die Umfrageforschung neben ihrer Nützlichkeit als Informationsquelle eine zutiefst demokratische Einrichtung ist. Sie ersetzt im übertragenen Sinne die für Abstimmungen zu klein gewordenen Marktplätze des alten Griechenlands und bringt insofern ein plebiszitäres Element in die Szene. Wie steht es aber mit ihren Gefahren? Kann die Veröffentlichung von Umfragebefunden das Meinungsklima verändern? Gibt es den ominösen Mitläufereffekt? Die meisten Skeptiker gehen stillschweigend von der Annahme aus, dass die Menschen mithilfe von Informationen beinahe mühelos gegängelt und gelenkt werden können. Zählebig verknüpft damit ist die Annahme, dass es sich bei den Empfängern einer Information um lediglich passiv reagierende Personen handelt, die einem unerbittlichen Mechanismus von Informationsreiz und Wirkung mehr oder weniger wehrlos ausgesetzt sind. Man denke an die Verbrauchertheorie des Marxismus, wonach eine raffinierte Werbung Menschen dazu verführt, Dinge zu kaufen, die sie eigentlich nicht haben wollten, wodurch sie zu Gefangenen unechter Wünsche

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werden. Oder an das Konzept der Massenpsychologie Le Bons und Ortegas, das von der angeblichen Primitivität, Urteilslosigkeit und Ungeschicklichkeit der sogenannten Masse ausgeht. Oder an die „Theory of the Leaders Class“, die hinter Kaufabsichten in erster Linie Prestigemotive und Imponiergehabe vermutet. Einen ersten kräftigen Stoß erhielt die heute etwas naiv anmutende Vorstellung von der mühelosen Manipulierbarkeit durch eine berühmt gewordene Studie, die der Exil-Österreicher Paul Lazarsfeld in den USA durchführte. Sein zentraler Befund lautete, dass das gesamte Angebot von Informationen selektiv wahrgenommen wird. Seither konnten in einer Vielzahl von Experimenten immer wieder Nachweise dafür gefunden werden, dass sich die Menschen aus jeder Form von Nachrichtenmaterial neue Bestätigungen für ihre bereits vorhandenen Orientierungen heraussuchen. Leon Festinger entwickelte daraus die „Theorie der kognitiven Dissonanz“, die den komplizierten Vorgang der Informationsverarbeitung zu erklären versucht. Die Theorie geht davon aus, dass es Bewusstseinsinhalte gibt, die als dissonant, also misstönend und widersprüchlich zu den eigenen Ansichten empfunden werden, und andere, die wohltönend und harmonisch klingen. Wenn eine Dissonanz auftritt, wird zunächst eine Art Abwehrstellung bezogen. Die Abwehr ist umso stärker, je massiver und schriller die Dissonanz wirkt. Die Stärke der Dissonanz hängt wiederum davon ab, wie hoch die Werte sind, die man den dissonanten Elementen zuschreibt. Das Ausweichen einer misstönenden Information vollzieht sich gewöhnlich in mehreren Phasen. Als Erstes erfolgt meist unbewusst eine selektive Auswahl des Mediums. Man greift vorzugsweise zu einer Zeitung, die die eigenen Ansichten unterstützt und geht anderen Zeitungen bzw. Kommentatoren, die das nicht tun, aus dem Weg. Ein zweiter Selektionsprozess erfolgt während der Kommunikation: Man liest und hört aus einer Nachricht mit Vorliebe das heraus, was den eigenen Standpunkt unterstreicht. Bei total unvereinbaren Inhalten tendiert die menschliche Natur dazu, die unverträglichen Informationen wieder zu vergessen, also gewissermaßen auszuscheiden.

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Gescheiterte Embargos Der Gesamtkomplex der selektiven Wahrnehmung von Nachrichtenstoffen hat einen engen Bezug zur Rezipienz demoskopischer Ergebnisse und der Vermutung, diese übten einen unerlaubten Einfluss auf die politische Willensbildung aus. Verfemt wurde die Umfrageforschung vorrangig im Kommunismus und Nationalsozialismus. Allerdings blieben Versuche, der politischen Forschung Zügel anzulegen, nicht auf totalitäre Regime beschränkt. Noch vor rund 25 Jahren hat es laut einer Nachschau des Dachverbandes der Meinungsforscher (Esomar) dreißig Länder gegeben, in denen irgendeine Form von Embargo gegenüber der Veröffentlichung von politischen Umfragen existierte. In den meisten Fällen bezog sich das Veröffentlichungsverbot auf Fristen von einer bis zwei Wochen vor einer Wahl. Die Kritiker solcher Veröffentlichungsverbote führen ins Treffen, dass die Beschränkungen im Widerspruch zu einer Reihe von Bürgerrechten stehen. Erstens hätten die Demoskopen Forschungsfreiheit und das Recht, jeden zu informieren, der an den Ergebnissen interessiert ist. Zweitens verletzen Veröffentlichungsembargos die Pressefreiheit und das Recht der Medien, verfügbare Informationen öffentlichen Interesses zu publizieren. Drittens würden Veröffentlichungsverbote dem Bürger das Recht entziehen, politisch relevante Informationen zu erhalten, die Parteien, Organisationen, Standesvertretungen etc. zugänglich sind. Dies führt zu zwei Klassen von Bürgern: solchen, die Zugang zu demoskopischen Befunden haben, und anderen, denen er verwehrt ist. Auslöser für die Embargodiskussion war in jedem Fall die Furcht, dass die Veröffentlichung demoskopischer Präferenzmessungen vor einer Wahl die politische Willensbildung beeinflusst und einen „Mitläufereffekt“ erzeugt. Eine systematische Überprüfung dieses Vorurteils durch das IMAS ergab folgende Sachverhalte: Insgesamt 57 Prozent der Österreicher lesen politische Umfrageergebnisse, nur 19 Prozent tun dies allerdings mit intensiver Aufmerksamkeit. Die meisten Menschen verfolgen die Daten nur mit beiläufigem Interesse, 43 Prozent lesen sie gar nicht. Nur 13 Prozent der Erwachsenen fühlten sich in der Lage, eine genaue Antwort darauf zu geben, welche Stimmenanteile den diversen Parteien von der Meinungsforschung zugeordnet wurden; 41 Prozent bekannten sich als total uninformiert. Die

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mit 88 Prozent bei weitem größte Anzahl derer, die eine zumindest ungefähre Erinnerung an Umfrageergebnisse besaßen, berichtete, die demoskopischen Befunde hätten auf ihre Wahlentscheidung keinen Einfluss gehabt. Warum nicht wissen dürfen, wie andere denken? Es ist unschwer zu erkennen, dass der viel diskutierte Mitläufereffekt, wenn überhaupt, so doch nur in schwachen Ausprägungen existiert. Dieser Sachverhalt deckt sich fugenlos mit den Erkenntnissen des deutschen Kommunikationsexperten Prof. Wolfgang Donsbach von der Universität Dresden. Donsbach stellte u. a. fest, dass beim Lesen von Umfragen auch der Mechanismus der selektiven Wahrnehmung wirksam wird. Sehr viele Personen, berichtete er, verdrehen anscheinend die Tatsachen in ihrer Erinnerung und machen sich vor, dass die Umfrageergebnisse zugunsten ihrer Lieblingspartei ausgefallen sind. Summa summarum ist die Wahrscheinlichkeit eines Mitläufereffekts äußerst gering. Aber selbst dann, wenn es ihn gäbe, bliebe die Frage zu stellen, warum sich die Menschen in einer Demokratie nicht ihre Meinung bilden dürfen, in voller Kenntnis dessen, wie die anderen Bürger politisch denken. Medienfrevel: Monumentalisierung des Zweitrangigen Noch nicht behandelt wurde der wichtige Umgang der Print, und AV-Medien mit Umfrageergebnissen. Dieses Problemfeld hat ebenfalls tiefe Furchen. Charakteristisch für das heutige Medienverhalten ist die Monumentalisierung des Zweitrangigen und die Minimierung des für Österreich und Europa Schicksalhaften. Die Medien sind unter den Aspekten des Wettbewerbs in erster Linie darauf bedacht, die Neugier der Leser, Seher und Hörer zu bedienen. Angestrebt wird dabei die Vermittlung eines Horse-RaceErlebnisses für das Publikum. Die Verbesserung von Zuständen steht im Hintergrund journalistischen Tuns. Ungeachtet dessen fühlt man sich in den Redaktionen dazu berufen, einen politischen Erziehungsauftrag zu erfüllen. Die Auswahl der Nachrichtenstoffe erfolgt also in jedem Fall unter extrem subjektiven Gesichtspunkten: entweder nach Unterhaltungsmotiven, oder nach politischer Opportunität.

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Was die Demoskopie betrifft, dient sie aus medialer Perspektive in erster Linie als willkommenes Beiwerk für politisches Entertainment, bei dem nicht der wissenschaftliche Aussagewert, sondern der Unterhaltungscharakter der Ergebnisse dominiert. Nützlich erscheinen den Medien außerdem „Quick-and-dirty“-Umfragen von Außenseiterinstituten auf kleiner statistischer Basis und nicht weiter hinterfragter Methodik. Illustriert wird die Situation durch das Geschehen im Vorfeld einer Nationalratswahl, als eine prominente Tageszeitung von einem der lautstarken kleinen Institute Woche für Woche die Parteipräferenzen auf der wackeligen Basis von 400 Interviews erheben ließ. Als die vom betreffenden Institut erstellte Prognose dann gründlich danebenging, erklärte die Zeitung mit einem Zynismus sondergleichen die Meinungsforscher zum Sieger, denn, so wörtlich: „Ob unwahrscheinlich, aber wahr, oder sehr wahrscheinlich, aber unwahr – wir sind bis zuletzt auf hohem Niveau gut unterhalten worden.“ Damit nochmals zurück in die Frühzeit der modernen, auf dem Prinzip statistischer Repräsentativität beruhenden Umfrageforschung. Der Pioniergeist der Gründergeneration war bis in die letzten beiden Jahrzehnte des vergangenen Säkulums zu spüren. Er war gekennzeichnet vom laufenden Bemühen um Verbesserung der Methode hinsichtlich Stichprobenqualität, Fragetechniken und Möglichkeiten, das Datenmaterial analytisch auszuschöpfen. Typisch für die Pionierzeit waren Symposien und Kongresse sowie eine Fülle von Fachliteratur, in der die Erkenntnisse zum Teil kontrovers diskutiert wurden. Neu: Die Paganinis Das Ende der ungemein produktiven und nutzbringenden Periode verläuft zeitlich auffallend parallel zum Siegeszug der neuen Kommunikationstechnologien. Der Ruf nach Beschleunigung hat auch für die Umfrageforschung konkrete Folgen. Geändert hat sich dabei die Art der Professionalität. Nicht mehr kompaktes Methodenwissen und Theoriekenntnis dominieren das berufliche Tugendregister, sondern die technische Virtuosität im Umgang mit dem Internet. Die Meinungsforscher mutieren damit immer mehr vom Typus des in der Studierstube über Fachproblemen brütenden Gelehrten zu

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„demoskopischen Paganinis“. Sie beherrschen nach den Idealvorstellungen ihrer modernistischen Deuter den Computer so, wie der italienische Teufelsgeiger einst sein Instrument beherrschte, und sind imstande, immer schnellere Töne zu produzieren. Der Stakeholder, so fabulierte der Vertreter eines Instituts auf einem Kongress, müsse in der Lage sein, in Bruchteilen von Sekunden die gewünschten Informationen zur Blitzauswertung auf seinem Bildschirm vorzufinden. Gute Marktforscher müssten folglich in Zukunft noch mehr technische Expertise mitbringen als bisher. Mitschuld an der unbefriedigenden Situation trägt ansonsten der Irrglaube, gute Meinungsforschung ließe sich mithilfe des gesunden Hausverstandes bewerkstelligen, sowie die Unlust der Paganinis, sich mit methodischen Grundlagen und den von den „Pionieren“ erarbeiteten Erkenntnissen zu beschäftigen. Auch viele vorgebliche Politexperten, die das Zeitgeschehen eloquent begleiten, scheuen die Mühe, sich ein Grundwissen der Methode zu verschaffen. Man könnte in diesem Zusammenhang übrigens Wetten darauf abschließen: Wenn die Aussagekraft eines Umfragebefunds zur Diskussion steht, richtet sich das Augenmerk zu allererst auf die Zahl der Interviews. Gewiss: Die Stichprobengröße ist sehr, sehr wichtig. Dennoch ist sie nicht das schlagende Kriterium für Qualität. Eine etwas verwackelte Stichprobe beeinflusst den Aussagewert, wie der namhafte Wahlforscher Friedrich Tennstädt experimentell nachwies, weniger stark als verpatzte Fragen. Stümperhafte, nicht methodenkonforme Fragen können die Realität in extremster Weise bis zum Gegenteil verzerren. Das liegt vor allem am häufig zu beobachtenden Fehlen des simplen Wörtchens „oder“. Es macht nämlich deutlich, dass es auf eine Frage mehrere denkbare Antworten geben kann, und sorgt für deren Ausgewogenheit. Der methodische Imperativ lautet, dass in einem demosko­pischen Interview das Bewusstsein des Befragten auf alle Alternativen gelenkt werden muss und die Antwortmöglichkeiten sich ausformuliert auf die ganze Breite eines Problems erstrecken sollen. Es ist erstaunlich, wie sehr von den Paganinis gegen dieses in Stein gemeißelte Prinzip verstoßen wird. Man kommt leider nicht um die Aussage herum, dass es in der Umfrageforschung zu einer Verwilderung der methodischen Sitten gekommen ist. Ausschlaggebend dafür ist weniger ein moralisches Gebrechen der Betreiber als der Rückfall in Amateurhaftigkeit und Dillettantismus.

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Veränderte Rahmenbedingungen Gesagt werden muss freilich auch, dass die technologischen Umbrüche und eine Reihe anderer Begleitumstände die Rahmenbedingungen für die demoskopische Arbeit fundamental verändert haben. Ins Gewicht fallen vor allem die Pandemie als Furchtauslöser vor Ansteckungen sowie die gestiegene Scheu der Menschen vor der Begegnung mit Unbekannten infolge der hohen Kriminalität. Diese Ängste erschweren sowohl den Kontakt mit den repräsentativ ausgewählten Zielpersonen, als auch deren Bereitschaft, in persönlichen Gesprächen Auskunft über die eigene Lebenslage und politische Problemsicht zu geben. Zu allem Überfluss ist das Rekrutieren von Interviewern zu einem kaum mehr lösbaren Problem geworden. Ergo dessen sind die Institute in einem ersten Schritt auf Telefonbefragungen umgestiegen. Aber auch hier türmen sich inzwischen aus einer Vielfalt von Gründen die Schwierigkeiten, eine halbwegs saubere Stichprobe zu erstellen. Stark im Aufwind als demoskopisches Heilsversprechen ist die OnlineBefragung. Dabei stützen sich die Institute in der Regel auf sog. „AccessPanels“ von Befragungswilligen, die sich die Institute im Laufe der Jahre aufgebaut haben. Die Teilnehmer an solchen Panels werden auf unterschiedliche Weise rekrutiert. Es handelt sich im Prinzip um Personen, die bereit sind, sich für ein kleines Entgelt in regelmäßigen Abständen zu diversen Themen befragen zu lassen. In ihrer Zusammensetzung entsprechen die angeworbenen Panel-Mitglieder zunächst keineswegs einem maßstabsgetreuen verkleinerten Modell der Bevölkerung. Um die statistische Repräsentanz herzustellen, bedarf es massiver Gewichtungsprozesse. Methodischer Zweifel entzündet sich in diesem Zusammenhang daran, dass es sich bei den Panelteilnehmern um untypische Personen handelt, nämlich um eine Art von Berufsbefragten, die nicht mehr mit der gewünschten Spontaneität auf die Fragen reagieren. Auch ohne hier in alle Winkel der neu entstandenen methodischen Probleme hineinzuleuchten, steht fest, dass die Erstellung funktionsgerechter Stichproben durch die veränderten Rahmenbedingungen außerordentlich schwierig geworden ist. Die neue Situation zwingt die Institute zu methodischen Purzelbäumen, bei denen die Anhänger der reinen Lehre eine Gänsehaut bekommen. Schwindlig wird den Vertretern der alten Schule beispielsweise bei der üblich gewordenen Kombination von face to face, telefonisch und online durchgeführten Interviews zu einer Gesamtstichprobe.

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Trotz der beschriebenen Schwierigkeiten und Einbußen an Stichprobenqualität besteht kein Grund zu einer Generalverdammnis oder gar zu einem Verzicht auf die Demoskopie. Sie ist weiterhin das tauglichste Instrument für die Massendiagnose. Die Umfrageforschung kann es hinsichtlich Genauigkeit im Übrigen nicht nur mit den Drei-Tage-Prognosen der Meteorologen sondern auch mit anderen Messsystemen aufnehmen, die im Alltag als genügend zuverlässig gelten wie z. B. Autotachometern, Badezimmerwaagen oder einfachen Fieberthermometern. Bei modernen Autos darf der angezeigte Tacho-Wert bis zu zehn (!) Prozent vom tatsächlichen abweichen. Trivialforschung mit Themen-Tabus Was die politische Praxis betrifft, ist es für Situationsbeschreibungen zumeist unerheblich, wenn ein Ergebnis um zwei oder drei Prozent die Realität verfehlt, sofern klar erkennbar ist, in welcher Größenordnung sich die Meinungen verteilen und in welche Richtung sie sich verändern. Allerdings – und das ist der springende Punkt: Die Meinungsforschung kann ihren Nutzen für die Gesellschaft nur dann erbringen, wenn sie mit ihren Ermittlungen nicht über die Oberfläche hinweg huscht, sondern frei von thematischen Tabus und ohne Rücksicht auf die Opportunität von Befunden in den Kern des Zeitgeschehens eindringt. Es ist trivial, sich forscherisch damit zu begnügen, dass die Österreicher politikverdrossen sind, Zukunftsängste haben und auf die Teuerung schimpfen. Worauf es ankommt, ist, das politische Denken und Fühlen der Bevölkerung in voller Tiefe auszuloten. Das ist in unserer politischen Wirklichkeit allerdings einfacher gesagt als getan, denn der Zeitgeist hat Stoppschilder aufgebaut. Viele Problemkomplexe werden in der Meinungsforschung katzenpfotig umschlichen, weil man die Antworten scheut, zumal sie so manches von dem widerlegen könnten, was der Mainstream predigt. Kaum oder gar nicht vernehmbar waren in der jüngsten Vergangenheit beispielsweise demoskopische Bestandsaufnahmen darüber: • ob man in der EU eine weitgehende Vereinheitlichung von Gesetzen und sozialen Spielregeln nach den Vorgaben Brüssels befürwortet, oder nur eine lockere Bindung an die Union mit möglichst vielen nationalen Freiheitsrechten wünscht;

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ob Europa seine Merkmale als christliches Abendland möglichst bewahren oder sich mit anderen Glaubensrichtungen vermengen soll; welche Haltung die Österreicher zum Gendern haben; ob man dafür oder dagegen ist, dass auch bei Blut- oder Sexualverbrechen der Name und das Herkunftsland des Straftäters anonym bleiben; ob man eher für eine Verschärfung oder Lockerung unseres Strafrechts eintritt; ob man Heimatliebe und Pflege österreichischer Traditionen noch für zeitgemäß hält, oder als Merkmal von Gestrigkeit und reaktionärer Gesinnung betrachtet; ob der Zustrom von Menschen aus Afrika und Asien dazu beitragen wird, Probleme wie Fachkräftemangel und Pflegenotstand zu lösen, oder ob das eine Illusion bleiben wird; ob man glaubt, dass die Zuwanderer aus fremden Kulturen bemüht sind, sich unseren Spielregeln anzupassen, oder ob man den gegenteiligen Eindruck hat; ob man die Umbenennung von Straßen und Plätzen befürwortet oder ablehnt, wenn sie an Personen erinnern, die in politischer Hinsicht heute bedenklich erscheinen, wie z. B. auch Herbert von Karajan oder Ferdinand Porsche; was für die Namensgebung einer Straße grundsätzlich wichtiger ist: die Lebensleistung des Namensgebers als Künstler, Wissenschaftler, Feldherr, Sportler etc. oder seine politisch korrekte Gesinnung; ob man den Satz: „Wir benötigen mehr Recht und Ordnung“ für richtig oder falsch hält; ob man zu unseren Richtern und der Rechtsprechung volles Vertrauen haben kann, oder viele Urteile als politisch gefärbt empfindet; ob man hierzulande unbefangen sagen kann, wie man politisch denkt, oder ob es besser ist, seine Meinung über bestimmte Probleme für sich zu behalten, um nicht in ein schiefes Licht zu geraten.

Der Fehlbestand an derartigen Informationen ist beklagenswert, denn er verschleiert, was die Österreicher wirklich bewegt, und verhindert, dass die Politik problemgerecht darauf reagiert.

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Den Parteien, Politikern und Medien mangelt es alles in allem an empirischem Bewusstsein. Dieser Makel ist überdies auch den ­Politologen anzulasten. Die professionellen Deuter der Gegenwart haben es verabsäumt, die unterbliebenen Ermittlungen von den Auftraggebern politischer ­Projekte einzufordern. In der Pflicht stehen freilich auch die Demoskopen selbst. An ihnen liegt es, ihren Klienten thematische Impulse zu geben für das, was zur politischen Zustandsbeschreibung vonnöten ist. Zu allerletzt dies: Es werden nicht zu viele demoskopische Untersuchungen durchgeführt, sondern zu wenig brauchbare Meinungsbilder ermittelt, die sich zum Wohle der Gesellschaft in ein sinnvolles politisches Handeln umsetzen lassen. Methodische Hintergründe der demoskopischen Politforschung Messen von Parteipräferenzen Das Grundproblem besteht darin, dass die Rohdaten grob verzerrt sind und nicht linear hochgewichtet werden können. Der Allensbacher Chefanalytiker Friedrich Tennstädt beobachtete in den vergangenen 50er-Jahren einen notorischen Überhang von SPD-Stimmen. Um das Problem in den Griff zu bekommen, ließ Tennstädt in das Interview eine Rückerinnerungsfrage („… Welcher Partei haben Sie bei der letzten Wahl Ihre Stimme gegeben?“) einbauen. Die Antworten auf die Rückerinnerungsfrage wurden am tatsächlichen Ergebnis der vorangegangenen Wahl geeicht. Der Quotient stellte den Gewichtungsfaktor dar, der dann mit den Ergebnissen auf die „Jetzt-Frage“ multipliziert wurde. Zu lösen war noch das Problem, was man mit Personen anfängt, die auf die Frage nach ihrer Parteineigung keine konkrete Antwort geben. Sie wurden mithilfe von Merkmalskoppelungen dem Gesamtpotential nach Wahrscheinlichkeiten zugeordnet, Eine ältere Bäuerin, die regelmäßig in die Kirche ging und eine Sympathie für Strauß oder Adenauer zu Protokoll gab, war mit hoher Wahrscheinlichkeit eine CDU/CSU-Wählerin, ein einfacher Arbeiter aus der Schornsteinindustrie, der überdies der Gewerkschaft angehörte und Willy Brandt bevorzugte, ließ erwarten, dass er sich für die SPD entscheiden würde usw. Die Tennstädt’sche Methode bescherte Allensbach Jahrzehnte hindurch eine

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Kette von geradezu phänomenal genauen Prognosen und setzte sich auch in Österreich erfolgreich durch. Wir im IMAS haben in den frühen 70erJahren damit begonnen, die Parteineigung gemeinsam mit dem Kandidatennamen abzufragen, also: „Welche Partei würden Sie jetzt wählen: SPO mit Bruno Kreisky, ÖVP mit Josef Taus, FPÖ mit Friedrich Peter usw. Unsere Prognosen hatten ebenfalls Spitzenqualität. Die Verkoppelung der Parteineigung mit dem Kandidatennamen ist vor allem bei LTW wichtig, weil die Masse der Wähler zwischen den Agenden von Landes- und Bundespolitik nicht unterscheiden kann und sich in diesem Fall besonders stark am Eindruck vom Spitzenkandidaten orientiert. Landtagswahlen sind ganz allgemein besonders schwer zu prognostizieren. Umso mehr hat mich ein Brief von Herrn Dr. Schausberger nach der Salzburger LTW 1984 gefreut, in dem es wörtlich hieß „… Ich möchte Ihnen gratulieren, dass Ihr Institut das Wahlergebnis in so hervorragender Weise vorhergesagt hat. Gerade die von Ihnen durchgeführten Meinungserhebungen waren für mich in der Wahlkampfkonzeption von besonderer Bedeutung“ Last-Minute-Swing Es ist richtig, dass sich demoskopische Außenseiter nach einer verpatzten Wahlprognose gern auf irgendwelche Ereignisse ausreden, die die Wähler kurz vor der Stimmabgabe zu einem Meinungswandel veranlasst hätten. Dennoch kann die Möglichkeit eines „last minute swing“ nicht ganz und gar ausgeschlossen werden. Im Jahr 1975 beobachteten wir in Österreich sogar ein zweimaliges Umschlagen der Wählerstimmung innerhalb weniger Wochen. Der erste Auslöser dafür war der Unfalltod des tüchtigen, aber total im Schatten des populären Kreisky stehenden ÖVP-Obmanns Karl Schleinzer im Juli jenen Jahres. Der zu seinem Nachfolger als Spitzenkandidat der ÖVP erkorene J. Taus trat als Manager der Girozentrale sein Amt mit dem Nimbus der erfolgreichen Manager an und wurde von der Öffentlichkeit als eine Art schwarzer Messias wahrgenommen. Die Sympathiewerte der ÖVP schnellten unvermittelt nach oben. Dann kam es Mitte September zum verhängnisvollen Fernsehduell mit B. Kreisky, in dem sich der politisch noch zu wenig erfahrene Taus von seinem ausgefuchsten Gegner übertölpeln ließ und eine bemitleidenswerte Figur abgab. Das IMAS stellte damals in einer begleitenden Messung fest, dass die Präferenz für die

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ÖVP unmittelbar nach dem TV-Duell signifikant niedriger war, als unmittelbar vor dem Gefecht. Zwei Wochen später gewann die SPÖ die Nationalratswahl mit absoluter Mehrheit. Josef Taus hat sich von seinem missglückten ersten Fernsehdisput übrigens politisch nicht mehr erholt, obwohl er in zwei weiteren Auseinandersetzungen mit Kreisky vor der Kamera einen blendenden Eindruck hinterließ. Dies bestätigt die Schwierigkeit, vorgefasste Meinungen der Bevölkerung zu revidieren. Die schwierige Veränderbarkeit von fest verankerten Meinungen hat indes auch einen aktuellen Bezug mit einer politisch bemerkenswerten Kehrseite. Ich stelle mit Interesse fest, dass sich bestimmte Grundhaltungen unserer Bevölkerung in den medialen Sturmböen der letzten Jahre nicht verändert, sondern eher noch stärker verwurzelt haben. Wäre es anders, müssten die von ORF und Printmedien gehätschelten Sozialdemokraten, Grünen und NEOs Höhenflüge in der Öffentlichen Meinung verzeichnen. Andererseits könnte die einem medialen Dauerfeuer ausgesetzte FPÖ in der Wählergunst nicht zulegen, wie es der Fall ist. Es ist tröstlich, zu wissen, dass der meinungsverändernden Kraft der Medien Grenzen gesetzt sind. Fragebogen In meinem Beitrag zum Jahrbuch ist im Zusammenhang mit dem Problem methodengerechter Fragen ein Aspekt zu kurz gekommen, auf den ich nachträglich eingehen möchte. Es handelt sich um die Gefahr, bei der Konstruktion von Fragen unbewusst dem eigenen Denkschema zu unterliegen und dadurch womöglich an wesentlichen Dingen entweder „vorbeizufragen“, oder eine Frage missverständlich bzw. suggestiv zu formulieren. Um diesen Gefahren entgegenzuwirken, haben wir es – (dem Allensbacher Beispiel folgend) – uns zur Pflicht gemacht, die Fragen niemals allein, sondern immer in Teamarbeit zu erstellen. In Allensbach war dafür ein spezieller Raum reserviert, in dem die Fragebogenkonferenz unter der Leitung der für diese Aufgabe spezialisierten Frau Dr. Ludwig samt den jeweiligen Projektbetreuern in Permanenz tagte. In den Abendstunden stieß häufig auch „die Professorin“ zur Dreierrunde und beteiligte sich an den Überlegungen. Das Licht wurde im Fragebogenzimmer meist spät gelöscht. Mit der Teamarbeit an den Fragen hatte es allerdings noch kein Bewenden. Die Fragebogenentwürfe wurden in einem nächsten Schritt vielmehr noch ei-

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österreichisches jahrbuch für politik 2022

ner Tauglichkeitsprobe in Form echter Interviews mit willkürlich angesprochenen Bewohnern der Bodenseeregion zwischen Konstanz und Radolf­ zell unterzogen. An der Testaktion beteiligt waren die Forscher selbst. Abschließend fand eine Korrekturkonferenz statt, in der die Erfahrung aus den Probeinterviews erörtert und ein Fragebogen nicht selten radikal umgekrempelt wurde, ehe er ins Feld ging, also an die Interviewer verschickt wurde. Ich selbst habe in meiner aktiven Berufszeit hunderte von Interviews mit mir fremden Personen aus den verschiedensten Schichten der Bevölkerung durchgeführt und bekenne offen, dass mir diese Arbeit immer eine gewisse Überwindung kostete. Sie bescherte jedoch unersetzliche Eindrücke in die Denkweisen der Menschen. Es waren Erfahrungen, die man am grünen Tisch nicht gewinnen konnte. Der Vergleich der Fragequalität zwischen früher und jetzt stößt auf die Schwierigkeit, dass der volle Fragewortlaut zu veröffentlichten Ergebnissen heutzutage kaum jemals mehr mitgeliefert wird. Dennoch lassen sich auch aus den in der Regel extrem verkürzten und verstümmelten Fragentrümmern die elementaren Konstruktionsfehler erkennen. Als typische Sünden zu brandmarken sind die zumeist viel zu abstrakten, mehrdeutigen in „Soziologenchinesisch“ verpackten Inhalte, sowie das Fehlen von Items für relevante, mit dem Befragungsgegenstand zusammenhängende Aspekte oder Suggestionen. Es ist unter diesen Umständen müßig, Nachschau zu halten, wie viele der heutigen Forscher Erfahrung in persönlich durchgeführten Interviews gesammelt haben. Man würde mir überdies entgegnen, dass Probeinterviews im Zeitalter von CATI- oder Online-Umfragen gar nicht mehr möglich sind. Ich würde diese Ausflucht allerdings nicht gelten lassen, denn auch für die erwähnten neuen Erhebungsarten ließen sich praktische Erprobungen simulieren. Man müsste nur ein wenig nachdenken. Nachdenken. Ja, das wär’s. Literatur „Alle, nicht jeder“. Einführung in die Methoden der Demoskopie“ v. Elisabeth Noelle-Neumann und Thomas Petersen. dtv/Springer „Marktforschung von A–Z“ v. Werner Wyss. Verlag DemoSCOPE, Adligenswil, Schweiz „Die Stichprobe“ (Gesetz der großen Zahl, Vertrauensintervalle, Stichprobenverzerrungen) v. Gabriele Kaplitza, in: DIE BEFRAGUNG I, UTB, Franke

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Andreas Kirschhofer-Bozenhardt    |   Der erblindete Spiegel

„Der Fragebogen“ (Grundregeln des Fragebogens, projektive Fragen, Halbgruppenexperimente u. a.) v. Andreas KirschhoferBozenhardt und. Gabriele Kaplitza, in: DIE BEFRAGUNG I, UTB, Franke) „Publizistik/Massenkommunikation“; Fischer-Lexikon, hg. v. Elisabeth Noelle-Neumann, Winfried Schulz, Jürgen Wilke; „Öffentliche Meinung“ – die Entdeckung der Schweigespirale v. Elisabeth Noelle-Neumann , Ullstein „Repräsentative Onlinebefragungen“ v. Holger Liljeberg und Sindy Krambeer, in: Planung & Analyse 1/2012. Anmerkung: Nach einer überaus intensiven Methodenentwicklung in den ersten Nachkriegsjahrzehnten, insbesondere in Westeuropa und den USA, darf die demoskopische Erhebungstechnik in ihren Grundzügen als ausgereift gelten. Dies mag ein Grund dafür sein, dass in der jüngeren Fachliteratur so gut wie keine Methodenbeschreibungen zu finden sind. Indes hat sich vor allem über die Praxis der Stichprobenbildung ein Nebel gelegt, der die Sicht behindert. Es wäre hoch an der Zeit, ihn durch handfeste Erkenntnisse auf der Basis kontrollierter Experimente aufzuhellen.

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Wirtschaft

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Jürgen Streitner

Merit-Order: Optionen für eine neue Strompreisfindung Durch die Liberalisierung des Strommarktes konnten die volkswirtschaftlichen Kosten der Stromversorgung auch zum Vorteil der Endkund:innen minimiert werden. In der Energiekrise stößt das aktuelle Strommarktsystem allerdings an seine Grenzen. Die Kombination aus unterdurchschnittlicher Produktion der Erneuerbaren und hoher Gaspreise führte zu extremen Strompreisen. Eine befristete Notfall-Intervention zur Entkoppelung von Strom- und Gaspreis ist eine Lösung, um der Situation entgegenzuwirken. Mittelfristig wird eine tiefgreifende Überarbeitung des Marktsystems notwendig sein. Vor einer Umsetzung müssten Vor- und Nachteile sowie langfristige Folgen sorgfältig analysiert werden, um keine negativen Konsequenzen auf Versorgungssicherheit, Leistbarkeit und Nachhaltigkeit zu riskieren.

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österreichisches jahrbuch für politik 2022

Das Jahr 2022 sollte nach zwei Jahren Pandemie von Optimismus und wirtschaftlichem Aufschwung geprägt sein. Eine rapide ökonomische Erholung führt aber zu einem steigenden Energiebedarf. Ungünstige Bedingungen hatten die Energiepreise schon 2021 ansteigen lassen. 2022 haben neben Wartungsarbeiten in Kraftwerken, Trockenheit und schlechten Windverhältnissen die geopolitischen Ereignisse – der Überfall Russlands auf die Ukraine – die Energiesituation weiter verschärft. Die EU und vor allem Österreich sind von russischem Gas abhängig. Zunehmende GaslieferEinschränkungen und Panikkäufe haben zu extrem hohen Preisen geführt. Auch wenn alle Hebel in Bewegung gesetzt wurden, um die Versorgungssicherheit im Winter zu gewährleisten, sind die kurzfristigen Alternativen zu russischem Gas doch sehr begrenzt und/oder bereits ausgelastet. Gaspreis zum 28.12.2022: € 121,23 pro MWh 2021

2022 300 250 200 150 100 50 0

Jan

Okt

Abbildung 1: Entwicklung des Day Ahead-Gaspreises (AuB/MG T&V). Verglichen werden die Werte der Jahre 2021 und 2022.1

Der explodierte Gaspreis hat maßgeblich zum starken Ansteigen des Strompreises beigetragen. Dies ist auf das komplexe, europäische Strommarktdesign zurückzuführen.

1 WKÖ Energie-Monitor: wko.at/energie-monitor; Quelle: AGGM – Austrian Gas Grid Management AG

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Jürgen Streitner    |   Merit-Order: Optionen für eine neue Strompreisfindung

Strompreis zum 30.12.2022: € 37,94 pro MWh € 727,23 Kriegsbeginn in der Ukraine

€ 750 Den vorläufigen Höhepunkt erreicht der Strompreis am 30. August 500

Strompreis 2022 in Euro pro MWh 250 ø Strompreis 2019 - 2021

Jan

Feb

März

Apr

Mai

Juni

Juli

Aug

Sept

Okt

Nov

Dez

Jan

Abbildung 2: Entwicklung des Day Ahead-Strompreises (EXAA Energy Exchange Austria). Verglichen werden die Werte aus 2022 und 2023 mit dem Mittelwert der Jahre 2017 bis 2021.2

Geringere Strompreise durch Liberalisierung des Strommarkts Für die Ermittlung des Strompreises am Markt wird das Modell der MeritOrder verwendet. Das Auktionsdesign orientiert sich an den Angeboten der Kraftwerksbetreiber und der Kund:innen. Jeder autorisierte Marktteilnehmende gibt an, wie viel Strom er zu welchem Preis kaufen bzw. verkaufen kann. Im Sinne des Einheitspreisverfahrens („Pay-As-Clear“) werden Angebote auf Basis der Grenzkosten abgegeben. Beginnend bei dem niedrigsten Angebot bekommen all jene Kraftwerke einen Zuschlag, bis die Nachfrage gedeckt werden kann. Der Großhandelspreis – also der Markträumungspreis – orientiert sich dann am letzten und somit teuersten Kraftwerk, dessen Angebot bei einer Auktion angenommen wird. Dieses letzte Kraftwerk legt somit die Preise für alle anderen Kraftwerke fest. Der Wert wird am Vortag der jeweiligen Lieferung auf autorisierten Börsen ermittelt.

2

WKÖ Energie-Monitor: wko.at/energie-monitor; Quelle: ENTSOE

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österreichisches jahrbuch für politik 2022

Abbildung 3: Merit-Order-Prinzip vor dem Jahr 2020 (schematische Darstellung)3

Die Merit-Order-Systematik soll Kraftwerksbetreiber dazu motivieren, in die günstigsten Erzeugungstechnologien zu investieren und Strom möglichst effizient und billig zur Verfügung zu stellen. Denn nur die niedrigsten Angebote kommen zum Zug. Kostengünstige erneuerbare Energie wie Photovoltaik, Wind- oder Wasserkraft ist im Vorteil, macht einen kurzfristigen Gewinn und wird attraktiver. Teure Kraftwerke werden verdrängt und erhalten keinen Zuschlag. Es entsteht eine „Reihenfolge der Vorteilhaftigkeit“. Durch die Liberalisierung des Strommarkts und die Einführung dieser Systematik vor 20 Jahren konnten die volkswirtschaftlichen Kosten der Stromversorgung minimiert werden. Bis zuletzt hat diese Vorgehensweise zu günstigeren Strompreisen für die Konsument:innen geführt. Nach Schätzungen von ACER (Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden) 3 Grüter, T. (2022), Merit-Order-Prinzip: Warum das teure Gas auch den Strompreis mit nach oben reißt, Spektrum der Wissenschaft, https://www.spektrum.de/news/merit-order-prinzipwarum-der-strompreis-nach-oben-schnellt/2051949

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Jürgen Streitner    |   Merit-Order: Optionen für eine neue Strompreisfindung

beläuft sich der durchschnittliche jährliche Nutzen des integrierten Strommarktes für die europäischen Verbraucher:innen auf etwa 34 Mrd. €4. Krise bringt Merit-Order-Systematik an ihre Grenzen Die vollständige Deckung der Nachfrage durch erneuerbare Energien ist – auch aufgrund ihrer Volatilität – derzeit nicht immer gegeben. Um die Lücke zwischen angebotener erneuerbarer Energie und Stromnachfrage zu schließen, muss auf flexible, jederzeit verfügbare thermische Kraftwerke und somit auf den Einsatz von Gas zurückgegriffen werden. 2022 war der Gaspreis auf Rekordhoch. Die Zuschaltung eines einzigen Gaskraftwerks lässt den Strompreis bei solchen Preisspitzen rapide in die Höhe schnellen.

Abbildung 4: Merit-Order-Prinzip seit dem Jahr 2022 (schematische Darstellung)5

4 ACER’s Final Assessment of the EU Wholesale electricity market design, April 2022 5 Grüter, T. (2022), Merit-Order-Prinzip: Warum das teure Gas auch den Strompreis mit nach oben reißt, Spektrum der Wissenschaft, https://www.spektrum.de/news/merit-order-prinzipwarum-der-strompreis-nach-oben-schnellt/2051949

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österreichisches jahrbuch für politik 2022

Die Merit-Order führt außerdem dazu, dass auch der Preis für erneuerbare Energie extrem ansteigt und Stromerzeugende mit geringen Grenzkosten (z. B. Wind und Photovoltaik) hohe Gewinne erhalten. Die Volatilität der Energieerzeugung und damit die fehlende Planbarkeit bzw. mangelnde Versorgungssicherheit werden in diesem Modell nicht berücksichtigt. Das Merit-Order-System stößt an seine Grenzen. Eine Entspannung scheint derzeit nur möglich, wenn in den Mechanismus eingegriffen wird. Hohe Stromkosten: Nachhaltige Lösung gesucht Die aktuelle Situation stellt eine massive Herausforderung für Haushalte und Unternehmen dar. Welche Ansätze zur Lösung sind möglich und notwendig? Diversifizierung und Ausweitung der Energieversorgung Die aktuellen hohen Preise sind in erster Linie ein Zeichen für einen Engpass. Es gibt nicht ausreichend günstige Energie, um den europäischen Bedarf zu decken. Eine langfristige, echte Behebung der Situation würde bedeuten, weitere Versorgungsmöglichkeiten zu erschließen. Durch den Ausbau von Stromproduktionsanlagen mit geringeren Grenzkosten würden Gaskraftwerke weniger oft für die Deckung des Energiebedarfs benötigt und innerhalb der Merit-Order nicht oder selten zur Bestimmung des Preises genutzt werden. So könnte eine Senkung der Preise erreicht werden. Außerdem ist der Erneuerbaren-Ausbau für die Erreichung der Klimaneu­ tralität notwendig. Auch wenn der Erneuerbaren-Ausbau zur grundsätzlichen Lösung der Situation beiträgt, stellt er keine kurzfristige Entlastung dar. Lange Genehmigungsverfahren und auch Engpässe bei Material und Fachkräften verzögern diesen Transformationsprozess. Diesbezüglich hat es 2022 auf europäischer Ebene vielversprechende Entwicklungen gegeben. Im Mai wurden im Rahmen der REPower-EU-Richtlinie Änderungen an der Erneuerbaren-Richtlinie vorgeschlagen. Wesentliche Punkte hierbei waren die verpflichtende Einführung sogenannter „Go-To-Areas“, in welchen besonders kurze Genehmigungsfristen eingehalten werden müssen. Darüber hinaus verleiht dieser Vorschlag Erneuerbaren-Anlagen das Prädikat „in einem übergeordneten

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Jürgen Streitner    |   Merit-Order: Optionen für eine neue Strompreisfindung

öffentlichen Interesse gelegen zu sein“ – ein starkes Asset bei der Interessenabwägung mit anderen öffentlichen Interessen. Die Trilog-Verhandlungen zu diesem Richtlinien-Vorschlag werden Anfang 2023 beginnen. Zusätzlich wurde im Dezember eine auf 18 Monate befristete Notfall-Verordnung beschlossen. In dieser sind Höchstfristen für die Erteilung von Genehmigungen für Solaranlagen, das Repowering bestehender erneuerbarer Anlagen und der Einsatz von Wärmepumpen festgelegt. Auch diese Verordnung verleiht dem Vorhaben das Prädikat „in einem übergeordneten öffentlichen Interesse gelegen zu sein“. Um die positiven Auswirkungen der beiden Rechtsakte rasch zu spüren, muss es eine praktische Anwendung auf nationaler Ebene geben. Zusätzlich wäre eine Ausweitung auf weitere Teilbereiche der Energieinfrastruktur notwendig. Denn eine Lösung der aktuellen Energiekrise und eine Transformation des Energiesystems ist nur möglich, wenn auch Netze und Speicher schnell ausgebaut werden. Günstige Importe durch gemeinsame Gasbeschaffung Es ist unwahrscheinlich, dass Europa (kurzfristig) in der Lage ist, seinen gesamten Energiebedarf aus eigenen Quellen zu decken. Zur Verbesserung der Versorgungssituation trägt neben mehr europäischer Eigenproduktion auch eine Ausweitung und Diversifizierung von Importen bei. Zahlreiche Mitgliedsstaaten und auch die EU selbst arbeiten aktiv daran, neue Partnerschaften einzugehen. Um Wettbewerb zwischen den Mitgliedsstaaten, der die Preise unnötig hochtreiben würde, zu vermeiden, erscheint ein gemeinsamer Einkauf sinnvoll. Vor- und Nachteile dieser Option wurden diskutiert. Die europäischen Mitgliedsstaaten könnten auf den Energiemärkten geeint mit größerer Marktmacht gegenüber Energierohstofflieferanten auftreten. Gas würde also zentral eingekauft werden, größere Beschaffungsmengen würden zu billigeren Preisen führen und damit die Preisobergrenze im Merit-Order-System senken. Ein solches Vorgehen widerspricht allerdings den Prinzipien eines wettbewerblich strukturierten Energiebinnenmarktes. Niedrigere erzielte Preise könnten den Anreiz vermindern, Gas zu sparen, oder sich sogar negativ auf die angestrebte Dekarbonisierung auswirken. Dieser starke Eingriff könnte zusätzlich zu einer Verringerung von Anreizen für Investitionen in die Energieeffizienz und Versorgungssicherheit

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österreichisches jahrbuch für politik 2022

führen. Unter Umständen würden auch nationale Bedürfnisse zu wenig berücksichtigt werden. Kollektive Gemeinschaftseinkäufe sind laut EU-Recht schon seit 2015 möglich. Aufgrund einer komplexen Umsetzung ist es bis jetzt aber nicht zur Anwendung gekommen. Im Rahmen einer weiteren Notfall-Verordnung, welche im Dezember 2022 beschlossen wurde, hat die EU einen befristeten Rahmen geschaffen. Die Beteiligung ist freiwillig, nur für die Bedarfseinmeldung müssen die Mitgliedsstaaten Unternehmen, deren aufsummierter Bedarf 15 % der nationalen Speicherverpflichtung entspricht, verpflichten. Europäisches Marktdesign auf dem Prüfstand Wann immer nicht ausreichend günstigere Energie vorhanden ist, bestimmen Gaskraftwerke gemäß der Merit-Order den Strompreis. Die gestiegenen Gaspreise haben daher die Diskussion um eine Reform des Strommarktdesigns neu entfacht. Eine Überarbeitung des Strommarktdesigns bzw. der generelle Umbau unseres Energiesystems muss ökologisch sinnvoll und bezahlbar sein, gleichzeitig aber auch die Versorgungssicherheit erhalten. In Krisenzeiten sind zwar „Notfallmaßnahmen“ notwendig, sie stellen aber keine dauerhafte Lösung dar. Wird über eine Überarbeitung des Marktdesigns gesprochen, muss bedacht werden, wie eng der EU-weite Markt vernetzt ist. Dieser gemeinsame Markt bringt wirtschaftliche Vorteile und ist EU-rechtlich abgesichert: Die geltende Strommarkt-Verordnung sieht vor, dass Übertragungsnetz­ be­ trei­ bende mindestens 70 % der Grenzkapazitäten für den zonenüber­ greifenden Handel zur Verfügung stellen müssen. Es braucht also eine eu­ro­ päische Lösung, um eine Entlastung für die Endkund:innen herbeizuführen. Gerade für ein Land wie Österreich, das zentral gelegen und mit seinen Nachbarländern über zahlreiche Leitungen eng verbunden ist, stellt ein nationaler Alleingang keine sinnvolle Option dar. Für eine echte Entlastung muss das Problem an der Wurzel gepackt werden, also die enge Verknüpfung von Strompreis mit dem Gaspreis gelöst und extreme Preisspitzen vermieden werden. Außerdem muss eine Umsetzung rasch erfolgen können. Dies scheint mit möglichst wenig Eingriffen in den Markt wahrscheinlicher.

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Jürgen Streitner    |   Merit-Order: Optionen für eine neue Strompreisfindung

„Pay-As-Bid“: Günstigste Gebote bekommen den Zuschlag Im Gegensatz zum „Pay-As-Clear“-Modell, bieten Erzeuger beim „Pay-asBid“-Modell ihren Strom zu einem Preis an, der ihre Grenzkosten und einen Risikoaufschlag umfasst. Bis die nachgefragte Menge erreicht ist, kommen die günstigsten Kraftwerksanbieter zum Zug und erhalten genau den gebotenen Preis vergütet. Der Marktpreis für die Endkund:innen ergibt sich durch die Mittelung aller bezuschlagten Gebote. Was würde bei einer praktischen Umsetzung geschehen? Es ist zu erwarten, dass das Modell zu einem anderen Bieterverhalten führt. Expert:in­ nen geben zu bedenken, dass es zu größeren Marktunsicherheiten aufgrund der höheren Risiken für alle Marktteilnehmer:innen kommen könnte. Außerdem könnten hohe Deckungsbeiträge für Erneuerbare-Kraftwerke wegfallen, wodurch der Ausbau regenerativer Energie gehemmt werden würde. Höhere Förderungen für erneuerbare Energie wären notwendig. Mittelfristig wäre mit diesem Modell außerdem wieder mit einem Anstieg der Endkund:innenpreise zu rechnen. Iberischer Ansatz: Senkung des Clearing-Preises in der MeritOrder durch Subventionen In der Merit-Order bestimmt das teuerste Kraftwerk, das noch einen Zuschlag erhält, den Preis für den gesamten zu dem Zeitpunkt gehandelten Strom. Ist der Preis besonders hoch, führt das zu sogenannten Zufallsgewinnen für günstige Erzeugungsformen. Der Gedanke liegt nahe, zu versuchen den Markträumungspreis abzusenken und so den gesamten Strompreis zu verringern. Auf der iberischen Halbinsel hat man diesen Weg gewählt. Gaskraftwerke werden finanziell gestützt, damit sie ihre Kosten decken und trotzdem günstige Angebote an der Börse einmelden können. Damit wird auch ein niedrigerer Preis für die Endkund:innen möglich. Solange der Stromverbrauch aus Gas nicht massiv ansteigt, ergibt sich netto eine Reduktion der gesamten Systemkosten. Für eine europaweite Umsetzung sind aber zahlreiche Fragen ungeklärt. Wie läuft ein Ausgleich zwischen Ländern mit unterschiedlich vielen Gaskraftwerken ab? Wie wirkt sich die Preisminderung in den verschiedenen, nationalen Strommixen aus? Werden alle Gaskraftwerke, oder nur ausgewählte gefördert? Außerdem stellt sich die Frage, wer für die Stützung der

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österreichisches jahrbuch für politik 2022

Gaskraftwerke aufkommt und ob dies europäisch oder individuell national geregelt werden soll. Entweder würde die Subvention direkt aus dem Staatshaushalt oder über eine Umlage bezahlt werden. Die notwendigen aufzubringenden Gesamtkosten für das System wären aber gleich hoch. Gegen eine Umsetzung des iberischen Modells auf europäischer Ebene wurden Bedenken vorgebracht. Expert:innen befürchten, dass sich durch die Absenkung des Strompreises Auswirkungen auf die Nachfrage ergeben würden. Anstatt Strom zu sparen, würde gleich viel oder sogar mehr verbraucht. Dadurch würde auch mehr Gas für die Stromerzeugung notwendig werden. Hohe Preise sind aber ein Zeichen für einen realen Engpass. Eine höhere Nachfrage nach Gas für die Stromproduktion könnte den Gaspreis, der nicht gedeckelt ist, ansteigen lassen. Hiervon wären dann die Industrie, die Gas für ihre Prozesse benötigt, und auch der Wärmebereich stark betroffen. Auf der iberischen Halbinsel wurde nach der Umsetzung dieser Entkoppelung von Strom- und Gasmarkt ein steigender Gasbedarf im Stromsektor bemerkt. Eine Analyse der österreichischen Energieagentur6 zeigt, dass die Ursachen dieses Zuwachses differenziert sind. Etwa ein Zehntel konnte auf höhere Stromnachfragen aufgrund extremer Hitze im Sommer 2022 zurückgeführt werden, etwa ein Drittel musste aufgewendet werden, um eine geringere, alternative Energieproduktion (z. B. Wind) zu kompensieren. Diese beiden Punkte hätten immer zu einem Mehrbedarf an Gas, unabhängig vom Strommarktdesign geführt. Etwa die Hälfte des zusätzlich erzeugten Stroms ist über Exporte nach Frankreich oder Marokko geflossen. Dieser Punkt zeigt keinen Nachteil des Ansatzes, sondern den Nachteil einer regionalen Umsetzung. Bei EU-weiter Umsetzung in Kombination mit Vereinbarungen mit Drittstaaten hätte ein Mitgliedsstaat keinen Anreiz, einem anderen den subventionierten Strom wegzukaufen. Voraussetzung ist hier natürlich, dass es aufgrund außergewöhnlicher Umstände nicht zu nationalen Engpässen in einem einzelnen Mitgliedsstaat kommt. Diese würden aber in einem gemeinsamen Markt immer zu Verzerrungen führen. Insgesamt ist zu bedenken, dass sich jeder Eingriff in den Strommarkt – seien 6 Austrian Energy Agency, Empirical Analysis of the Iberian Electricity Price Cap (Version II/II), Dezember 2022; https://www.akeuropa.eu/sites/default/files/2022-12/Empirical%20Analy sis%20Of%20The%20Iberian%20Electricity%20Price%20Cap%20Executive%20Summary_final.pdf

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Jürgen Streitner    |   Merit-Order: Optionen für eine neue Strompreisfindung

es Direktsubventionen, Steuererlässe, Besteuerungen oder Entkoppelungen von Märkten – in irgendeiner Form auswirkt. Wichtig wäre es, diese Auswirkungen durch eine sorgfältige Kalibrierung des Eingriffs zu minimieren und Anreize für ein effiziente und effektive Nutzung des Stroms zu erhalten. Eingriff in den Algorithmus „Euphemia“ Auch Eingriffe in den Marktkoppelungs-Algorithmus „Euphemia“ zur Trennung von Strom- und Gasmarkt werden diskutiert. Die Grundidee wäre es, einen Weg zu finden, den Preis zu senken, ohne einen höheren Verbrauch zu riskieren. In diesem Modell soll der gesamte Börsenpreis in zwei Stufen ermittelt werden, wobei die Preise für fossile Energieträger wie Gas, Steinkohle und Öl reguliert würden. Im ersten Schritt läuft der Gebotsprozess für den Spot-Markt standardisiert ab. Alle Kraftwerke – auch fossile – bieten wie gewohnt an. Die Angebote der fossilen Kraftwerke werden gekennzeichnet und im Anschluss auf null gesetzt. Damit rutschen sie in der Merit-Order nach links. Der teuerste nicht-fossile Strom definiert den Markträumungspreis. Die gehandelten Mengen, die im ersten Schritt festgelegt wurden, werden aber nicht mehr angepasst. Gas, Steinkohle und Öl-Kraftwerke erhalten eine Kompensation in Höhe des regulativ festgelegten Preises. Im Hinblick auf die Aufbringung der Subventionen für fossile Kraftwerke ergeben sich in diesem Modell die gleichen Überlegungen wie für den iberischen Ansatz. Entweder müssen die Kosten aus dem öffentlichen Budget kommen oder auf die Endkund:innen umgelegt werden. In der Umsetzung wäre dieses System vermutlich noch komplizierter, da in den Algorithmus direkt eingegriffen werden muss, statt nur in vorgelagerte Prozesse. Weiters müsste die Möglichkeit gegeben werden, bei Angeboten die Herkunft des Stroms anzugeben. Aktuell ist das noch nicht möglich. Auch stellt sich die Frage, ob dieser Ansatz tatsächlich einen Mehrwert gegenüber dem iberischen Modell hat. Die Funktionsweisen der Börsen sind den Teilnehmer:innen bekannt. Über kurz oder lang würde sich das Bietverhalten anpassen und die Nachfrage würde, wenn das System nicht sorgfältig austariert wäre, auch steigen.

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österreichisches jahrbuch für politik 2022

Der griechische Vorschlag: Mischsystem aus „Pay-as-Clear“ und „Contracts-for-Difference“ Auf europäischer Ebene hat Griechenland eine Anpassung des „Pay-AsClear“-Modells vorgeschlagen. Das überarbeitete Marktmodell würde unterschiedlich auf Erzeugungstechnologien, die sich nach Verfügbarkeit und Kostenstruktur unterscheiden, wirken. Die Vergütung würde auf Basis von Knappheit und Grenzkosten erfolgen. Auf der einen Seite geht es um Kraftwerke, die nur bei Verfügbarkeit und nicht auf Abruf arbeiten (z. B. Wind und PV). Diese Erzeugungsanlagen haben niedrige variable Kosten, dafür dominieren die Investitionsausgaben die Kostenstruktur. Auf der anderen Seite stehen Erzeugungstechnologien, die auf Abruf arbeiten können (z. B. fossile Energieträger). Maßgeblich sind hier die Betriebskosten, die vom Brennstoffpreis abhängen. Im vorgeschlagenen System soll die Verstromung aus Kohle, Öl und Gas weiterhin nach dem vorherrschenden Merit-Order-Prinzip bepreist werden. Die volatilen, günstigeren Energieträger hingegen würden feste Marktprämien (Contracts-for-Difference) erhalten, welche über ­deren Erzeugungskosten, aber unter den Börsenhandelspreisen liegen. Am Ende sollen die Verbraucher:innen den gewichteten Durchschnittspreis aus beiden Segmen­ten bezahlen. Die Etablierung der festen Marktprämien würde aber dazu führen, dass Investitionsentscheidungen für Erneuerbare nur noch in diesem Rahmen getroffen werden. Das würde bedeuten, dass der Anreiz, in Erneuerbare zu investieren bzw. zu reinvestieren, sinken könnte. Das Preissignal am Markt würde außerdem verfälscht werden, da dieses nicht die tatsächliche Angebotssituation darstellen würde. So würden in Zeiten hoher Überschüsse von Wind und Strom die Kosten kaum sinken und bei Engpässen nicht die höheren Kosten in vollem Maße weitergegeben werden, was zu einem Effizienzverlust führen würde. Außerdem wäre die Einführung dieses Modells ein Problem für Bestandsanlagen, da diese teilweise den Strom bereits über Terminmärkte verkauft haben. Mit Rechtsstreitigkeiten wegen entgangener Einnahmen wäre zu rechnen. Nicht zuletzt könnte es zu einer Ausweichbewegung im außerbörslichen oder „Over-the-counter“-Handel (OTC) kommen, sodass die Deckelung ins Leere liefe. Der OTC-Handel könnte für solche Anlagen auch verboten werden, was aber rechtlich problematisch werden könnte.

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Jürgen Streitner    |   Merit-Order: Optionen für eine neue Strompreisfindung

Aktuelle Krise: Rasche und unbürokratische Entlastung der Wirtschaft ist jetzt notwendig Die Strompreise sind jetzt hoch und belasten die Endkonsument:innen. Unternehmen brauchen daher – um zu überleben und wettbewerbsfähig zu bleiben – sofort Unterstützung. Auf nationaler Ebene kann derzeit auf den Großhandelspreis kein effektiver Einfluss genommen werden. Da die Europäische Kommission bisher noch keinen Vorschlag für ein angepasstes Marktdesign vorgestellt hat, müssen die Mitgliedsstaaten beim End­kund:in­ nen­preis ansetzen. In Österreich werden in Form eines Energiekostenzuschusses Beihilfen für Unternehmen gewährt. Ebenso werden die Netzkosten stabilisiert, nämlich durch Subventionen der Netzverlustkosten, die physikalisch bedingt beim Transport von Energie entstehen. Es ist davon auszugehen, dass die Mehrbelastung für die Stromverbraucher:innen aufgrund der Netzverlustkosten rund eine Milliarde Euro im Jahr 2023 betragen wird. Nun braucht es eine rasche und unbürokratische Implementierung der angekündigten Entlastungsmaßnahmen. Ausblick – Wettbewerbsfähigkeit und Klimaneutralität im europäischen Strommarkt In der Vergangenheit hat das Merit-Order-System zu geringeren Strompreisen für die europäischen Konsument:innen geführt als in anderen, weniger liberalisierten Märkten, wie z. B. der Schweiz, und sich somit positiv ausgewirkt. Die aktuelle Energiekrise zeigt aber die Limitierungen dieses Systems. Unterschiedliche Herausforderungen wie zu wenig erneuerbare Stromerzeugung oder geopolitische Krisen haben dazu geführt, dass der Strompreis auf Großhandelsebene stark dem derzeit hohen Gaspreis folgt. Es braucht daher schnell eine befristete Notfall-Intervention, um Strom- und Gaspreis voneinander zu entkoppeln. Diese Intervention muss aber auf europäischer Ebene erfolgen, um Marktverzerrungen zu verhindern und einen echten Effekt für die österreichischen Endkund:innen zu erzielen. Eine Ausweitung des iberischen Modells auf ganz Europa erscheint wie eine (verhältnismäßig) unkomplizierte Option, um schnell Resultate zu erzielen. Auch wenn bei einer Umsetzung Fingerspitzengefühl für wirtschaftliche Auswirkungen bewiesen werden müsste und Detailfragen noch zu klären

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österreichisches jahrbuch für politik 2022

wären. Langfristig muss das aktuelle Preisbildungssystem einer Evaluierung unterzogen werden und, wo nötig, angepasst werden. Es gilt sicherzustellen, dass die Preisfindung im Sinne von Versorgungssicherheit, Leistbarkeit und Nachhaltigkeit auch in Krisenzeiten und in Zukunft optimal funktioniert. Außerdem ist eine der wirksamsten Maßnahmen im Sinne der Nachhaltigkeit, der Versorgungssicherheit und der Wirtschaft, einen raschen Ausbau erneuerbarer Energie mit der notwendigen Infrastruktur gemeinsam mit steigender Nutzungseffizienz voranzutreiben. Es sind alle Hebel in Bewe­gung zu setzen und Hindernisse abzuschaffen, damit das Energiesystem rasch eine ökologische Transformation schafft.

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Margit Schratzenstaller

Bewältigung der Teuerung und der anderen Herausforderungen für die ökosoziale Marktwirtschaft Welt-, europa- und österreichweit Österreich hat wie viele andere Länder weltweit seit Beginn des Jahres 2022 umfangreiche Maßnahmen zur Abfederung der sozialen und ökonomischen Effekte der Teuerung allgemein und der massiven Energiepreisanstiege im Besonderen für Haushalte und Unternehmen gesetzt. Weitere Maßnahmen sollten jedoch auch aus budgetären Gründen zielgerichteter ausgestaltet werden. Auch sollten sie mit einer transformativen Komponente (etwa ökologischen Auflagen) versehen werden; ökologisch kontraproduktive Maßnahmen sind dagegen möglichst zu vermeiden. Nach den Krisenjahren seit 2020 sollte der Fokus der Wirtschaftspolitik sich nun wieder auf die Bewältigung der langfristigen Herausforderungen richten, die mit Klimakrise sowie digitalem und demographischem Wandel einhergehen. Insbesondere sollten durch die energische Einleitung der überfälligen Effizienzreformen im öffentlichen Sektor die für die erforderlichen Zukunftsinvestitionen wie auch die demographiebedingten Ausgabenzuwächse benötigten budgetären Spielräume geschaffen werden.

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österreichisches jahrbuch für politik 2022

Einleitung Bereits Ende 2021 kam es in Österreich aus verschiedenen Gründen (beginnende Erhöhung der Energiepreise, kräftige Erholung der Konjunktur und der Nachfrage nach dem pandemiebedingten Einbruch, Lieferkettenprobleme etc.) zu einem Anstieg des Preisniveaus, sodass sich 2021 gegenüber dem Vorjahr die jahresdurchschnittliche Inflationsrate (gemessen am Verbraucherpreisindex) auf 2,8 % verdoppelte. 2022 stieg die Inflation auf 8,5 %, für 2023 wird mit einem nur moderaten Rückgang auf ein nach wie vor hohes Niveau von 6,5 % gerechnet, das sich 2024 auf 3,2 % halbieren wird (vgl. Übersicht 1). Der bedeutsamste Treiber dieser im historischen Vergleich sehr hohen Inflationsrate1 sind die bereits seit Sommer 2021 wachsenden Energiepreise, die seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 in den Folgemonaten massiv zugenommen haben (Baumgartner, 2022). Übersicht 1: Entwicklung und kurzfristige Prognose der Inflation in Österreich Ø 2010/ 2019

2020

2021

2022

2023

2024

Veränderung ggü. Vorjahr in % Verbraucherpreisindex (VPI)

1,9

1,4

2,8

8,5

6,5

3,2

Nahrungs- und Genussmittel

2,4

2,1

1,2

8,8

6,5



Dienstleistungen

2,4

2,4

2,2

4,4

5,0



Energie

1,0

–5,6

12,3

40,5

18,5



Industriegüter

1,0

1,3

2,0

7,4

6,3



Q: Baumgartner (2022); eigene Darstellung.

Vor diesem Hintergrund wurden in Österreich wie in vielen anderen Ländern weltweit seit Beginn des Jahres 2022 Maßnahmen zur Abfederung der sozialen und ökonomischen Effekte der Teuerung allgemein und der massiven Energiepreisanstiege im Besonderen für Haushalte und Unternehmen gesetzt. Solche Unterstützungsmaßnahmen sollen mehreren Anforde-

1 1974 erreichte die Inflation mit 9,5 % ihr bislang höchstes Niveau seit Bestehen der Zweiten Republik.

300

Margit Schratzenstaller    |   Bewältigung der Teuerung und der anderen Herausforderungen

rungen genügen (Arregui et al., 2022). Sie sollen zunächst die Preissignale auf den Energiemärkten nicht beeinflussen, um die Reduktion der Energienachfrage, die zur Abmilderung des Preisdrucks, aber auch aus ökologischen Gründen erforderlich ist, nicht zu behindern. Soweit möglich, sollen sie auch die notwendige grüne Transformation fördern. Unterstützungsmaßnahmen sollen darüber hinaus nicht breit und undifferenziert ausgerollt werden, sondern gezielt entlasten. Im Bereich der Haushalte bedeutet dies, dass die Unterstützung auf jene Einkommensschichten (etwa die unteren 40 % der Haushalte) fokussieren soll, die angesichts der rapide steigenden Teuerung ihre Lebenshaltungskosten nicht mehr aus eigener Kraft finanzieren können. Im Bereich der Unternehmen sollen Unterstützungsmaßnahmen gezielt Unternehmen mit einem funktionierenden Geschäftsmodell adressieren, die von den Energiepreiserhöhungen besonders stark betroffen sind (Böheim et al., 2022). Zu großzügige Unterstützungsmaßnahmen sollten aus budgetären Gründen vermieden werden, aber auch, weil sie Druck auf die Nachfrage und damit die Preise ausüben können. Schließlich sollen die Maßnahmen möglichst rasch wirken, wobei es einen gewissen Zielkonflikt in Hinblick auf die Treffsicherheit gibt. Teuerungsmaßnahmen in Österreich In Österreich wurden seit Anfang 2022 drei Teuerungspakete sowie weitere Entlastungsmaßnahmen beschlossen. Übersicht 2 enthält die Teuerungsmaßnahmen in Österreich auf Ebene des Bundes und der Bundesländer und ihre budgetären Effekte im Zeitraum 2022 bis 2026 (Pitlik/ Schratzenstaller, 2022). Unter Berücksichtigung der Ende Dezember 2022 angekündigten Verlängerung des Energiekostenzuschusses 1 bis Ende 2022 sowie eines zusätzlichen Energiekostenzuschusses 2 für das Jahr 2023, der nach Medienberichten budgetäre Kosten zwischen 5 Mrd. € und 9 Mrd. € verursachen dürfte und daher hier mit 7 Mrd. € angesetzt wird, belaufen sich die gesamten Entlastungsmaßnahmen für Haushalte und Unternehmen im Zeitraum 2022 bis 2026 auf 48,3 Mrd. €. Der Löwenanteil entfällt mit 47,7 Mrd. € auf den Bund. Von den Maßnahmen des Bundes richten sich 35 Mrd.  € (knapp drei Viertel) an die Haushalte, der Rest an Unternehmen sowie Land- und Forstwirtschaft. Ein beträchtlicher Teil der Unterstützungsmaß-

301

österreichisches jahrbuch für politik 2022

nahmen für Unternehmen wird nicht einkommensabhängig gewährt, ist sozial also wenig treffsicher (Budgetdienst, 2022; Maidorn/Reiss, 2022). Eine Reihe der temporären (bis höchstens 2024 gewährten) Unter­ stützungsleistungen für Haushalte, Unternehmen und Landwirtschaft können mit (nichtintendierten) ökologisch kontraproduktiven ­ Wirkungen verbunden sein. Sie summieren sich im Zeitraum 2022 bis 2024 auf 15,8  Mrd.  € (Übersicht 3). Davon entfällt der Großteil auf Unternehmen (8,9  Mrd.  €), ein kleinerer Teil auf die Haushalte (4,9 Mrd. €) und ein geringer Teil auf Land- und Forstwirtschaft (0,15 Mrd. €)2. Hinzu kommen die Ausgaben für die strategische Gasreserve und die Gasdiversifizierung von insgesamt 1,795 Mrd. € 2022/23. Übersicht 2: Entlastungs- und Anti-Teuerungsmaßnahmen von Bund und Bundesländern in Österreich, 2022 bis 2026, in Mrd. € 2026

2022– 26

7 787

9 446

48 287

7 787

9 446

47 652

5 964

7 210

8 854

35 023

1 241

174

10

12 519









227









205



440







440



1 000







1 000

5

15

15

15

10

628



Entlastungs- sowie Anti-Teuerungsmaßnahmen nach Zielgruppen

2022

Insgesamt

8 222

9 423

6 409

Bund

7 629

9 381

6 409

Private Haushalte insgesamt

5 804

7 191

Kurzfristige Maßnahmen

5 804

5 290

Einmalzahlungen, Entlastungspaket I

227

Einmalzahlungen, Entlastungspaket III

205

Einmalzahlungen für Pensionist:innen, Ausgleichszulagenbezieher:innen Einmaliger negativsteuerfähiger Teuerungsabsetzbetrag Wohnschirm Energiekostenausgleich

2023

2024

2025

In Mio. €

60 628

2 Vgl. Böheim et al. (2022) für eine detaillierte Darstellung und Bewertung der Entlastungsmaßnahmen für Unternehmen, die allerdings die im Dezember 2022 beschlossene Verlängerung des Energiekostenzuschusses 1 sowie den Energiekostenzuschuss 2 (die nach ersten Schätzungen Ausgaben zwischen 5 und 9 Mrd. € verursachen könnten) noch nicht enthält.

302

Margit Schratzenstaller    |   Bewältigung der Teuerung und der anderen Herausforderungen

Entlastungs- sowie Anti-Teuerungsmaßnahmen nach Zielgruppen Aussetzung von Erneuerbaren-Förderpauschale und -Förderbeitrag1 2

2022

2023

2024

2025

2026

2022– 26

In Mio. € 400









400

15









15

Senkung der Elektrizitäts- und Erdgas­ abgabe2

274

229

–103





400

Preissenkungen und Angebotserweiterungen im öffentlichen Verkehr

150

153

156

159

Erhöhung von Pendlerpauschale, -euro, -absetzbetrag

120

220

80



Förderung von Energieeffizienzmaßnahmen

Erhöhung des Klimabonus, Anti-Teuerungsbonus

618 –

420

2 800









2 800

Einmalzahlung Familienbeihilfe

330









330

Vorziehen des Familienbonus Plus und des Kindermehrbetrags

100

200







300

Verschiebung Einführung CO2-Bepreisung von Juli auf Oktober 20226

250









250

Steuer- und abgabenfreie Teuerungsprämie für Arbeiternehmer:innen

300





Stromkostenzuschuss

300



2 733

1 093

600 3 826

Strukturelle, dauerhafte Maßnahmen



1 900

4 723

7 036

8 844

22 504

Abschaffung der kalten Progression3 6



1 480

3 850

5 900

7 500

18 730

Indexierung von Sozialleistungen



363

815

1 079

1 287

3 544

Familienleistungen4



253

574

769

931

2 528

Valorisierung Kinderabsetzbetrag



80

170

230

270

750

Kranken-, Reha-, Wiedereingliederungs- und Umschulungsgeld



22

36

26

18

101

Studienbeihilfe



7

35

54

68

165

Erhöhung Kindermehrbetrag



50

50

50

50

200

Steuerfreiheit E-Mobilität für Arbeitnehmer:innen



8

8

8

8

30

Unternehmen sowie Land- und Forstwirtschaft insgesamt

1 825

2 190

445

577

592

12 629

Unternehmen insgesamt

1 715

2 033

432

567

582

12 329

Kurzfristige Maßnahmen

1 715

1 550

–67

55

55

10 308

303

österreichisches jahrbuch für politik 2022

Entlastungs- sowie Anti-Teuerungsmaßnahmen nach Zielgruppen

2022

2023

2024

2025

2026

2022– 26

In Mio. €

Aussetzung von Erneuerbaren-Förderpauschale und -Förderbeitrag1 5

500









500

Senkung der Elektrizitäts- und Erdgasabgabe5

325

272

–122





475

Investitionsoffensive Energieunabhängigkeit

30

55

55

55

55

250

Förderung von dekarbonisierten Antriebsformen

60

60







120

Herabsetzung der Vorauszahlungen bei Einkommens- und Körperschaftsteuer

350

350

Strompreiskompensation



233







233

Energiekostenzuschuss 1

450

850







1 300

n–V–

n–V–







70007

Einmalige Krankenversicherungsbeitragsgutschrift



80







80

Strukturelle, dauerhafte Maßnahmen



483

499

512

527

2 021

Senkung des FLAF-Beitrags



353

369

382

397

1 501

Senkung des Unfallversicherungsbeitragssatzes



130

130

130

130

520

Land- und Forstwirte insgesamt

110

157

13

10

10

300

Kurzfristige Maßnahmen

110

147

3

0

0

260

27

3





30







110

Verlängerung Energiekostenzuschuss 1, Energiekostenzuschuss 2

Agrardiesel Kostenausgleich Versorgungssicherungsbeitrag für die Landwirtschaft

110



Stromkostenzuschuss für die Land- und Forstwirtschaft



120







120

Strukturelle, dauerhafte Maßnahmen



10

10

10

10

40



10

10

10

10

593

42

Anhebung Pauschalierungsgrenzen der Land- und Forstwirtschaft Bundesländer

40 634

Q: Bundesministerium für Finanzen, Budgetdienst, Bundeskanzleramt, Büro des Fiskalrats, WIFO-Recherche und -Zusammenstellung. – 1 Nicht im Bundesvoranschlag und Bundesfinanzrahmen abgebildet, da außerbudgetär. – 2 Anteil der Haushalte. – 3 Zahlungswirksamkeit des vollen Progressionsausgleichs.– 4 Familienbeihilfe, Mehrkindzuschlag, Kinderbetreuungsgeld,

304

Margit Schratzenstaller    |   Bewältigung der Teuerung und der anderen Herausforderungen

Familienzeitbonus. – 5 Anteil der Unternehmen sowie Land- und Forstwirtschaft. – 6 Ein kleinerer Teil des Entlastungsvolumens entfällt auf Unternehmen sowie Land- und Forstwirtschaft. – 7 Konkrete Details fehlen; laut Medienberichten liegt das Entlastungsvolumen zwischen 5 Mrd. € und 9 Mrd. €.

Übersicht 3: Ökologisch kontraproduktive Maßnahmen des Bundes zur Abfederung der Energiekrise, 2022 bis 2024 Ökologisch kontraproduktive Teuerungsmaßnahmen nach Zielgruppen

2022–2024 In Mio. €

Insgesamt

15 774

Haushalte

4 896

Stromkostenzuschuss

3 826

Senkung der Elektrizitäts- und Erdgasabgabe

400

Erhöhung von Pendlerpauschale, -euro, -absetzbetrag

420

Verschiebung Einführung CO2-Bepreisung von Juli auf Oktober 2022 Unternehmen

250 8 933

Senkung der Elektrizitäts- und Erdgasabgabe

400

Strompreiskompensation

233

Energiekostenzuschuss 1

1 300

Verlängerung Energiekostenzuschuss 1 Energiekostenzuschuss 2

7 000

Land- und Forstwirtschaft Agrardiesel Kostenausgleich Stromkostenzuschuss für die Land- und Forstwirtschaft

150 30 120

Sonstige

1 795

Strategische Gasreserve (incl. Speicherkosten)

1 695

Gasdiversifizierung

100

Q: Bundesministerium für Finanzen, Budgetdienst, Bundeskanzleramt, WIFO-Zusammenstellung

Teuerungsmaßnahmen im europäischen Vergleich Übersicht 4 enthält die Teuerungsmaßnahmen in Österreich und den übrigen EU-Mitgliedsländern, die sich an Haushalte richten, basierend auf einer Klassifizierung von Arregui et al. (2022). Diese unterscheidet die Teuerungsmaßnahmen einerseits danach, ob sie treffsicher sind, und andererseits danach, ob sie das Wirken der Energiepreise beeinträchtigen, also verzerrend bezüg-

305

österreichisches jahrbuch für politik 2022

lich der Preise wirken. Es zeigt sich, dass Österreich mit einem Umfang der Unterstützungsleistungen von 4,07 % des BIP eines der im EU-Vergleich umfangreichsten Entlastungspakete implementiert hat, das den EU27-Durchschnitt von 2,38 % des BIP deutlich überschreitet. Mit einem Anteil von 1,51 % des BIP sind gut ein Drittel der Maßnahmen treffsicher und verzerren nicht die Energiepreise. Umgekehrt ist etwa ein Fünftel der Maßnahmen (0,84 % des BIP) nicht treffsicher und beeinträchtigt das Wirken der Energiepreise. Nicht preisverzerrend, aber auch nicht treffsicher sind mit 1,73 % des BIP gut zwei Fünftel des Entlastungsvolumens. Dem gegenüber ist der Anteil der treffsicheren und nicht die Energiepreise verzerrenden Maßnahmen im EU27-Durchschnitt mit knapp einem Viertel geringer als in Österreich, während mit etwa drei Fünftel der Anteil des nicht treffsicheren und die Energiepreise beeinträchtigenden Entlastungsvolumens höher ist. Übersicht 4: Teuerungsmaßnahmen in der EU27 2022 und 2023, in % des BIP Land

treffsicher/ nicht verzerrend

nicht treff­ sicher/ nicht verzerrend

treffsicher/ verzerrend

nicht treff­ sicher/ verzerrend

gesamt

Malta







5,64

5,64

Frankreich

1,03

0,27



2,95

4,25

Slowakei

1,81

0,13



2,20

4,14

Österreich

1,51

1,73



0,84

4,07

Griechenland

0,56

0,14

0,14

3,21

4,05

Litauen

1,14

0,60



2,03

3,77

Polen

0,37

0,90



2,30

3,57

Rumänien

1,34





1,52

2,86

Italien

0,92

0,15



1,75

2,82

Kroatien

0,61

0,07



2,05

2,73

Niederlande

0,75

0,10

0,14

1,72

2,71

Lettland

0,90





1,81

2,71

Portugal

0,96

0,17

0,05

1,49

2,68

Deutschland

0,40

1,95



0,19

2,54

Luxemburg

0,67

0,61



0,98

2,26

Tschechien

0,10

0,30



1,80

2,20

306

Margit Schratzenstaller    |   Bewältigung der Teuerung und der anderen Herausforderungen

Land

treffsicher/ nicht verzerrend

nicht treff­ sicher/ nicht verzerrend

treffsicher/ verzerrend

nicht treff­ sicher/ verzerrend

gesamt

Estland

0,53



0,21

0,97

1,72

Belgien



0,17

0,80

0,66

1,62

Slowenien

0,23

0,79



0,53

1,55

Schweden

0,14

0,92



0,30

1,36

Spanien

0,15





1,06

1,22

Irland

0,18

0,73



0,20

1,11

Zypern

0,18

0,14

0,34

0,10

0,76

Ungarn







0,70

0,70

Finnland

0,21

0,02



0,25

0,47

Bulgarien



0,14



0,29

0,43

Dänemark

0,17

0,05



0,15

0,37

EU27 Durchschnitt

0,55

0,37

0,06

1,40

2,38

Q: Arregui et al. (2022); eigene Darstellung.

Zufallsgewinnbesteuerung Die massiven Energiepreisanstiege haben bei einem Teil der Energieunternehmen zu substanziellen Zufallsgewinnen geführt, die international eine intensive Diskussion über die Rechtfertigung bzw. Notwendigkeit von Zufallsgewinnsteuern sowie deren mögliche Ausgestaltung ausgelöst haben (Böheim/Peneder/Schratzenstaller, 2022). Beginnend mit Herbst 2021 wurden in mehreren europäischen Ländern recht unterschiedlich ausgestaltete Zufallsgewinnsteuern implementiert (vgl. Übersicht 5). Ende September beschlossen die EU-Energieministerinnen und -minister per Notfallverordnung die Einführung eines sogenannten Solidaritätsbeitrages für Erdöl- und Erdgasunternehmen und einer Erlösobergrenze für den Elektrizitätssektor. Der Solidaritätsbeitrag soll 2022 und/oder 2023 für die zu versteuernden Gewinne von Erdöl- und Erdgasunternehmen, die mehr als 20 % über dem durchschnittlichen Gewinn der vorhergehenden vier Jahre liegen, erhoben werden und mindestens 33 % betragen.

307

308

Ziel der Steuer und Einnahmenverwendung

Begrenzung der übermäßigen Erlöse für nicht Treibhausgase emittierende Stromproduzenten; Zahlungen fließen in Elektrizitäts-versorgungssysteme

Finanzierung von Maßnahmen zur Abfederung der Auswirkungen des Ukraine-Kriegs, der Energiekrise und der Inflation

k.A.

Land (Einführung)

Spanien (September 2021, Verlängerung März 2022)6

geplant)7

Rumänien (November 2021, Verlängerung März 2022)

Stromerzeuger Ausnahmen: Unternehmen, die Strom aus Biomasse und fossilen Brennstoffen herstellen, einschließlich KraftWärme-Kopplung

Energieunternehmen

Stromerzeuger, die kein Gas zur Erzeugung nutzen (v. a. Kern- oder Wasserkraftwerke)

Steuerpflichtige

Einnahmen aus Stromverkäufen zum durchschnittlichen monatlichen Verkaufspreis abzüglich Einnahmen aus Stromverkäufen zum Referenzpreis von 450 RON/MWh => positive Differenz = Steuerbemessungsgrundlage3

k.A.

Berechnungsformel (Menge des produzierten Stroms; aktueller durchschnittlicher Erdgaspreis (sofern höher als 20 €/MWh); Faktor für Internalisierung des Erdgaspreises in aktuellen Strommarktpreisen; Multiplikation mit Faktor 0,9 => abzuführender übermäßiger Teil der Gesamteinnahmen

Steuerbemessungs­ grundlage

80 %

1,2 %

n.a.

Steuertarif

Übersicht 5: Zufallsgewinnsteuern für Energieunternehmen in ausgewählten europäischen Ländern

November 2021 bis März 2023

2022 und 2023

September 2021 bis 30. Juni 2022; Monatliche Vorauszahlungen

Geltungszeitraum

n.v.

2 Mrd. € p.a. Energieunternehmen 3,5 Mrd. € insgesamt

n.v.

men2

Einnah-

österreichisches jahrbuch für politik 2022

Ziel der Steuer und Einnahmenverwendung

Finanzierung von Maßnahmen zur Abfederung der Auswirkungen des Ukraine-Kriegs für Haushalte und energieintensive Unternehmen

Finanzierung von Transfers an bedürftige Haushalte zur Abfederung der gestiegenen Energiekosten

Land (Einführung)

Italien (März 2022)

Vereinigtes Königreich (Mai 2022)

Erdöl- und Erdgasunternehmen

Unternehmen der Energie­ branche (Unternehmen, die in Italien zum Zweck des Weiterverkaufs Strom herstellen, Methangas herstellen oder Erdgas fördern; mit Strom, Methangas oder Erdgas handeln; Erdölerzeugnisse herstellen, verteilen oder damit handeln; Strom, Methangas, Erdgas oder Erdölerzeugnisse zum Zweck des Weiterverkaufs importieren; Strom, Methangas, Erdgas oder Erdölerzeugnisse aus anderen EU-Mitgliedsstaaten in den Handel bringen) Rechtsformunabhängig

Steuerpflichtige

Körperschaftssteuerpflichtige Gewinne - Verlustvor- und -rücktrag möglich - keine Abzugsfähigkeit von Stilllegungs- und Finanzierungskosten - 80 % Freibetrag für Investitionen in Öl- und Gasförderung (vortragsfähig)

Saldo aus Ausgangs- und Eingangsumsätzen1 (Bruttowertschöpfung) 1. Oktober 2021 bis 30. April 2022 (Besteuerungszeitraum) im Vergleich zum Vorjahreszeitraum => positive Differenz = Steuerbemessungsgrundlage Voraussetzung: Differenz höher als 5 Mio. € und mindestens 10 %

Steuerbemessungs­ grundlage

25 %5

25 %

Steuertarif

26. Mai 2022 bis zur Normalisierung der Öl- und Gaspreise, höchstens bis Ende 2025

einmalige Erhebung 2022 40 % als Vorauszahlung bis 30. Juni 2022 60 % bis 30. November 2022

Geltungszeitraum

5 Mrd. Pfund in den ersten 12 Monaten

10 Mrd. €

men2

EinnahMargit Schratzenstaller    |   Bewältigung der Teuerung und der anderen Herausforderungen

309

Ziel der Steuer und Einnahmenverwendung

Finanzierung von Entlastungen für Stromverbraucher*innen zur Abfederung der gestiegenen Energiekosten (Fonds zur Subventionierung der Stromkosten der Verbraucher*innen)

Subventionierung von Energiepreisen, Finanzierung zusätzlicher Verteidigungsausgaben

Land (Einführung)

Griechenland (Mai 2022)

310

Ungarn (Juni 2022)

- Nettoumsatz (an das Stromnetz gelieferter Strom durch Erzeuger im betreffenden Monat zum von der Behörde festgelegten Einspeisetarif) - im Stromkaufvertrag festgelegter Verkaufspreis, abzüglich des subventionierten Preises für das laufende Jahr, multipliziert mit der von dem Erzeuger im jeweiligen Monat in das Stromnetz eingespeisten Strommenge

Energieunternehmen4 - Energieerzeuger von Strom aus erneuerbaren Energiequellen oder Abfall - Energieerzeuger von Strom aus erneuerbaren Energiequellen, die für grüne Extraförderung berechtigt sind

Preisdifferenz zwischen Einkaufspreis von (billigerem) russischem Rohöl und Weltmarktpreis von russischem Erdöl laut Platts Crude Oil Marketwire Brent (Mid-Wert, in USD pro Barrel)

Gewinne 1. Oktober 2021 bis 30. Juni 2022 (Besteuerungszeitraum) im Vergleich zum Vorjahreszeitraum => positive Differenz = Steuerbemessungsgrundlage

Steuerbemessungs­ grundlage

Erdölunternehmen

Stromerzeuger, v. a. Betreiber von mit Erdgas betriebenen Kraftwerken; ausgenommen Erzeuger von Strom aus erneuerbaren Energien

Steuerpflichtige

65 %

90 %

Steuertarif

2022 und 2023

1.Oktober 2021 bis 30. Juni 2022 Monatliche Ermittlung

Geltungszeitraum

2 Mrd. € p.a. insgesamt

760 Mio. € p.a. Energieunternehmen

300 bis 400 Mio. €

men2

Einnah-

österreichisches jahrbuch für politik 2022

n.v.

Belgien (ge­plant)

Lieferanten, Produzenten, Händler von Strom und Gas

Steuerpflichtige 25 %

Bruttowertschöpfung 2022 abzüglich Bruttowertschöpfung1 2021 => positive Differenz = Bemessungsgrundlage 1

Steuertarif

Steuerbemessungs­ grundlage 2022

Geltungszeitraum n.v.

men2

Einnah-

preise“.

Erdgas“. – 7 Steuerpflichtig sollen Energieunternehmen und Banken sein. – 8 Umsetzung der EU-Verordnung über „Notfallmaßnahmen als Reaktion auf die hohen Energie-

als Steuer oder Abgabe bezeichnet, sondern als „Mechanismus zur Verringerung der übermäßigen Vergütung auf dem Strommarkt, hervorgerufen durch erhöhte Preise für

Unternehmen des Öl- und Gassektors von 30 % (Ring Fence Corporation Tax) zuzüglich 10 % Zuschlag (Supplementary Charge), Gesamtbelastung somit 65 %. – 6 Wird nicht

nehmen, Banken, Versicherungen, Handels-, Telekommunikations- und Pharma-Unternehmen, Fluggesellschaften. – 5 Zuzüglich zum geltenden Körperschaftssteuersatz für

üblichen Kosten für die Versorgungssicherheit können in Abzug gebracht werden. 4 Steuerpflichtig sind Unternehmen ausgewählter Branchen: Erdöl- und Energieunter-

Q: Böheim et al. (2022). Stand: Oktober 2022. – 1 Gemäß Umsatzsteueranmeldungen bzw. -erklärungen. – 2 Geschätzt. – 3 Die für die Nutzung erneuerbarer Energien

Ziel der Steuer und Einnahmenverwendung

Land (Einführung)

Margit Schratzenstaller    |   Bewältigung der Teuerung und der anderen Herausforderungen

311

österreichisches jahrbuch für politik 2022

Für Erzeuger von Strom aus inframarginalen Technologien, insbesondere Erneuerbare, Atomenergie und Braunkohle, soll eine zeitlich befristete Erlösobergrenze von 180 €/MWh gelten; die Differenz aus dieser Erlösobergrenze und einem darüber liegenden, von den Endkundinnen und -kunden zu entrichtenden Verkaufspreis soll zu mindestens 90 % von der öffentlichen Hand abgeschöpft werden. Österreich plant, diese von der EU verpflichtend vorgeschriebene Zufallsgewinnbesteuerung in Form eines Energiekrisenbeitrages Strom bzw. fossile Energieträger mit einer Ökologisierungskomponente umzusetzen. Grundsätzlich soll der Energiekrisenbeitrag für fossile Energieträger, der im Zeitraum 1. Juli 2022 bis Ende 2023 erhoben werden soll, bei 40 % liegen, er kann jedoch durch Investitionen in Erneuerbare auf 33 % reduziert werden. Die Erlösobergrenze für Stromerzeuger, die vom 1. Dezember 2022 bis zum 31. Dezember 2023 gelten soll, beträgt grundsätzlich 140 €, durch Investitionen in Erneuerbare kann sie auf 180 € erhöht werden. Ausblick Die umfangreichen Maßnahmen zur Entlastung von Haushalten und Unternehmen sind grundsätzlich gerechtfertigt, um unerwünschte soziale Verwerfungen durch die hohe Inflation und insbesondere die stark gestiegenen Energiepreise zu vermeiden und eine übermäßige Kostenbelastung der Unternehmen sowie Beeinträchtigung ihrer Wettbewerbsfähigkeit abzufedern. Weitere Maßnahmen, wie etwa der verlängerte und ausgebaute Energiekos­ tenzuschuss für Unternehmen, sollten jedoch auch aus budgetären Gründen zielgerichteter ausgestaltet werden. Auch sollten sie mit einer transformativen Komponente (etwa ökologischen Auflagen) versehen werden; ökologisch kontraproduktive Maßnahmen sind dagegen möglichst zu vermeiden. Nach den Krisenjahren seit 2020 sollte der Fokus der Wirtschaftspolitik sich nun wieder auf die Bewältigung der langfristigen Herausforderungen richten, die mit Klimakrise sowie digitalem und demographischem Wandel einhergehen. Insbesondere sollten durch die energische Einleitung der überfälligen Effizienzreformen im öffentlichen Sektor die für die erforderlichen Zukunftsinvestitionen wie auch die demographiebedingten Ausgabenzuwächse benötigten budgetären Spielräume geschaffen werden.

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Margit Schratzenstaller    |   Bewältigung der Teuerung und der anderen Herausforderungen

Literatur Arregui, N., Celasun, O., Iakova, D., Mineshima, A., Mylonas, V., Toscani, F., Ching Wong, Y., Zeng, L. & Zhou, Y. (2022). Targeted, Implementable, and Practical Energy Relief Measures for Households in Europe. IMF Working Paper (WP/22/262). Baumgartner, J. (2022). WIFO-Inflationsprognose 2022/2024 vom Dezember 2022. WIFO Research Briefs, (25). https://www. wifo.ac.at/wwa/pubid/70456. Baumgartner, J., Felbermayr, G., Kettner, C., Köppl, A., Kletzan-Slamanig, D., Loretz, S. & Schratzenstaller, M. (2022). Stark steigende Energiepreise – Optionen für eine Entlastung von Haushalten und Unternehmen. WIFO Research Briefs, (6). https://www. wifo.ac.at/wwa/pubid/69453. Böheim, M., Huemer, U., Kettner, C., Kletzan-Slamanig, D., & Schratzenstaller, M. (2022). Unterstützungsmaßnahmen für Unternehmen zur Abfederung hoher Energiekosten. WIFO Research Briefs, (24). https://www.wifo.ac.at/wwa/pubid/69820 Böheim., M., Peneder, M. & Schratzenstaller, M. (2022). Besteuerung von Zufallsgewinnen. Konzeptionelle Überlegungen und Herausforderungen, europäische Initiativen und Implikationen für Österreich. WIFO Research Briefs, (20). https://www.wifo. ac.at/wwa/pubid/69780. Budgetdienst (2022). Maßnahmen zum Teuerungsausgleich. Budgetdienst. Maidorn, S. & Reiss, L. (2022). How Effective Were Fiscal Support Measures in Absorbing the Inflation-induced Rise in Consumption Expenditures in 2022? Büro des Fiskalrates Working Paper, (8). Pitlik, H. & Schratzenstaller, M. (2022). Budgetvoranschlag zwischen COVID-19- und Anti-Teuerungsmaßnahmen. WIFO-Monatsberichte, 95(12), 796–807. https://monatsberichte.wifo.ac.at/70479.

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Monika Köppl-Turyna

Inflation und Energiekrise Hinweise zur ordnungspolitischen ­Bewältigung Die derzeitige Inflation wird vor allem mit den hohen Energiepreisen in Verbindung gebracht. Tatsächlich findet die aktuelle Inflation ihre Ursachen in einer sehr lockeren Geldpolitik und dem Boom, der durch die Aufhebung der Pandemiebeschränkungen in Europa und den USA ausgelöst wurde und auf ein ziemlich eingeschränktes Angebot geprallt ist. Auch strukturelle Veränderungen wirken inflationär. Um diesen Faktoren mittelfristig zu dämpfen, muss das gesamtwirtschaftliche Angebot ausgewei­ tet werden. Dies gelingt am besten, indem wir Unternehmen entlasten, anstatt sie zu belasten und indem wir die möglichst optimale Verteilung begrenzter Ressourcen durch den Markt zulassen und stärken. Dafür braucht es neben einer Deregulierung und Flexibilisierung auch Verbesserungen in Sachen Wettbewerb, solide Staats­ finanzen, um Zinsschritte zu ermöglichen, und Verbesserung der Produktivität.

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Die tiefere Wurzel der Inflation Die derzeitige Inflation wird vor allem mit den hohen Energiepreisen in Verbindung gebracht. Diese kommen allerdings nur erschwerend zu einer bereits länger bestehenden Situation hinzu. Tatsächlich findet die aktuelle Inflation ihre Ursachen in einer sehr lockeren Geldpolitik und dem Boom, der durch die Aufhebung der Pandemiebeschränkungen in Europa und den USA ausgelöst wurde und auf ein ziemlich eingeschränktes Angebot geprallt ist. Negative Zinsen untergraben die gesamtwirtschaftliche Lenkungswirkung des Zinses und verhindern eine rationale Verteilung der Ressourcen. Unser Geld verliert durch den Anstieg der Geldmenge eine wichtige Funktion: die Informationsfunktion. Wenn das Geld knapper wird, werden nur noch die „besten“ Projekte finanziert. Wenn es zu viel davon gibt, ist es einfacher, auch für wenig aussichtsreiche Projekte eine Finanzierung zu bekommen. Das kann unter Umständen sehr ineffizient sein, wenn Produktionsfaktoren – etwa Fachkräfte – in Unternehmen gebunden bleiben, die anderswo deutlich produktiver sein könnten. Die Wirkung sehr niedriger Zinsen beschränkt sich also nicht nur unmittelbar auf die Inflation, sondern erstreckt sich auch auf die Produktivität und die Effizienz der Wirtschaft. Daher ist die langjährige Negativzins-Politik der EZB, kombiniert mit der Ausweitung der Bilanzsumme vor allem durch den Ankauf von Anleihen, inzwischen ein echtes Problem und hat zu einem regelrechten Schock geführt. Die Geldpolitik der EZB ist außerdem eine wichtige Ursache für die „Sparflucht“ und damit die Vermögenspreisinflation. Niedrigzinsen oder gar negative Zinsen bedeuten für die Sparer den Verlust ihrer Realwerte, selbst in Zeiten einer nur moderaten Inflation. Deshalb suchen Investoren immer nach Alternativen. Wir haben inzwischen eine umfangreiche und schlüssige ökonomische Literatur, die besagt, dass die sogenannte „Vermögenspreisinflation“ – hier zählen wir etwa Börsenkurse, Bitcoin, Gold oder Immobilien dazu – eine direkte Folge der lockeren Geldpolitik sei. Im Durchschnitt sind in Österreich etwa die Immobilienpreise zwischen 2000 und 2021 um fast 150 Prozent gestiegen,1 während das allgemeine Preisniveau in diesem

1 https://www.oenb.at/isaweb/report.do?report=6.6

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Zeitraum um 50 Prozent gestiegen ist. Im gleichen Zeitraum sind auch die Börsenkurse und Firmenbewertungen stark gestiegen, was die Ungleichheit der Vermögen massiv erhöht hat und nun zu immer lauteren Rufen nach einer Vermögenssteuer führt. Und so haben ausgerechnet die Befürworter von niedrigen Zinsen ganz erheblich dazu beigetragen, dass die von ihnen kritisierte Ungleichheit sogar noch größer geworden ist. Der zweite Schock betrifft den wirtschaftlichen Boom, der nach der Aufhebung der Pandemie-Beschränkungen und aufgrund g­ roßzügiger Wirtschaftshilfen ausgelöst wurde. Bis Ende Oktober 2022 wurden 47 Milliarden Euro an Hilfen ausbezahlt – verglichen mit 290 Milliarden, die Öster­reicherInnen in der Regel jährlich verkonsumieren, ist das durchaus bedeutsam. Diese Tatsache, kombiniert mit dem Aufschwung sowie weltweiten Lieferproblemen, hat die Inflation bereits 2021 angefacht. China öffnete sich erst Ende 2022 wieder, das Angebot konnte und kann also noch nicht wieder mit der Nachfrage mithalten: Chinas Zero-COVID-Politik wirkte sich sowohl auf das eigene Wachstum aus als auch auf die globale wirtschaftliche Entwicklung insgesamt und trieb die Preise überall in die Höhe. Im Dezember 2021 lag die Produzentenpreisinflation in der Sachgüterproduktion bereits bei 16,7 Prozent, die Baukosten sind im selben Zeitraum um mehr als zehn Prozent gestiegen. All das ist schon lange vor dem erneuten Ausbruch des russischen Angriffskrieges in der Ukraine passiert. Der sprunghafte Anstieg der Energiepreise nach dem Einmarsch Russlands führte freilich zu einem weiteren Inflationsschub. Die Zentralbanken waren währenddessen noch mit der Bekämpfung der letzten Inflation beschäftigt – etwa in den USA, in Osteuropa und im Vereinigten Königreich –, weil die Zinsen in der Eurozone zu diesem Zeitpunkt immer noch bei null lagen. Die Regierungen der reichen Länder gaben obendrein noch weitere Milliarden aus, um Haushalte und Unternehmen vor den drastisch gestiegenen Preisen zu schützen, was die Staatsverschuldung weiter erhöhte und auch die Inflation abermals befeuern wird. Was häufig vergessen wird: Der Krieg in der Ukraine wirkt sich nicht nur in Europa aus. Russland und die Ukraine fallen als wichtige Lebensmittelproduzenten für viele Teile der Welt weg. Die höheren Zinssätze in der reichen Welt treiben die Zinsen in den ärmeren Ländern in die Höhe, wo die durch die steigenden Lebensmittelpreise verursachte Not ohnehin schon am größten ist. Das

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Zusammenspiel dieser Faktoren wird womöglich zu zahlreichen weiteren Krisen und Hungersnöten führen. Seit Ende Februar 2022 haben sich hierzulande die Preise für die elektrische Energie und Erdgas - und vorübergehend auch für Treibstoffe – vervielfacht. Der Preis für Strom erreichte tagesweise 1.000 € pro MWh verglichen mit unter 50 € im Zeitraum 2019 bis 2021. Auch für Erdgas wurden Preise über der 200-€/MWh-Schwelle beobachtet – verglichen mit 15 bis 20 € in der Vergangenheit. Die Gas- und Stromrechnungen der Haushalte haben sich vervielfacht – das ist unbestritten ein wesentlicher Inflationstreiber – und das gilt auch für die Produktionskosten der Unternehmen, die deshalb im internationalen Vergleich ihre Wettbewerbsfähigkeit einbüßen. Hinzu kam ein Anstieg der Preise für Treibstoffe – vor allem aber der Margen der Raffinerien in Österreich, die signifikant mehr zum Preisanstieg beigetragen haben als die Entwicklung der Weltpreise; die Frage nach dem Wettbewerb im Inland müsste daher ein weiteres Mal sehr ernsthaft gestellt werden. In der ersten Jahreshälfte 2022 dominierten bei der Inflation zunächst die Erstrundeneffekte, und zwar durch den direkten Anstieg der Strom-, Gas- und Treibstoffpreise im Konsumentenwarenkorb. Im Mai 2022 waren die Treibstoffe mit der höchsten Dynamik verbunden, abgelöst von der Haushaltsenergie im August 2022 und November 2022. Im November zeichnete sich aber bereits eine hohe Dynamik in den Zweitrundeneffekten ab – durch die höheren Produktionskosten (bedingt durch höhere Preise für Strom und Gas) sind auch die Preise weiterer Güter gestiegen, beispielsweise bei Lebensmitteln, Getränken oder Bekleidung. Ab jetzt werden, nicht zuletzt wegen diverser Maßnahmen der Regierung, die eine direkte Unterstützung der Haushalte bei den Elektrizitätskosten anbieten, die Zweit- und Drittrundeneffekte eintreten. Und das vermutlich noch für eine längere Zeit. Denn die Preise für Strom und Gas haben sich auf den Terminmärkten keinesfalls beruhigt: Ende November wurde Strom für das Jahr 2027 um 170 Euro gehandelt – was einer Verdreifachung gegenüber 2021 entspricht – und Gas für 50 Euro – ebenso eine Verdreifachung. Dazu kommt eine Reihe an strukturellen Problemen, die die Inflation auf Dauer höher halten werden.

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Fünf Trends Fünf weltweite langfristige Trends werden dazu führen, dass die Preise, insbesondere in Europa, auf Dauer steigen werden: Deglobalisierung, Dekarbonisierung, Regulierung, demographischer Wandel und Staatsverschuldung. In den letzten Jahrzehnten wuchs das Volumen des Welthandels etwa doppelt so schnell wie das globale reale Bruttoinlandsprodukt. Dieser Effekt hat die Preise für viele Güter niedrig gehalten, weil sie häufig in osteuropäischen oder asiatischen Ländern mit deutlich niedrigeren Lohnkosten als in Westeuropa produziert wurden. Die Öffnung des Handels mit China ist ein wesentlicher Grund dafür, dass die Verbraucherpreise in Europa trotz der lockeren Geldpolitik so niedrig geblieben sind und „nur“, wie oben erwähnt, die Vermögenspreise steigen. Durch billige Importe aus Asien ist der Effekt der Geldpolitik auf die Konsumentenpreise etwas verschleiert geblieben. Nun schwächt sich dieser Trend ab. Der Handel wächst nur mehr so schnell wie die Weltwirtschaft, was im Umkehrschluss bedeutet, dass keine weitere Öffnung erwartet werden kann. Gleichzeitig steigen aufgrund der wirtschaftlichen Konvergenz die Produktionskosten in den Schwellenländern, und die nach Europa exportierten Güter werden teurer. Auch die von Donald Trump initiierten Handelskriege bremsten den globalen Warenaustausch. Hinzu kommt der durch die Pandemie ausgelöste Trend zur Verkürzung der Lieferketten aus Angst um die Aufrechterhaltung der Versorgung. Firmen bestellen jetzt nicht mehr „just in time“, sondern „just in case“ – die Resilienz hat die Effizienz abgelöst und wird ihren Niederschlag in höheren Preisen finden. Die Dekarbonisierung ist freilich das Gebot der Stunde, um schädliche Emissionen in den Griff zu bekommen. Aber es muss klar sein, dass sie einen Effekt auf alle Preise innerhalb einer Volkswirtschaft haben wird. Auch wenn der CO2-Preis das effektivste Mittel gegen Emissionen ist, wird dieser in der Regel nahezu vollständig an die Kunden weitergegeben und somit zu einem wesentlichen Treiber des Preisniveaus. Auch andere Maßnahmen – etwa regulatorische Hürden bzgl. der Nutzung verschiedener Produktionstechnologien oder Energieeffizienzstandards – haben einen kostensteigernden Effekt. Und schließlich soll ja auch noch ein flächendeckender Grenzsteuerausgleich umgesetzt werden. Das ist zwar aus klimapo-

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litischer Perspektive vernünftig, wird aber auch die Preise der nach Europa importierten Güter und Rohstoffe spürbar verteuern. Die Zunahme an Regulierungen führt ebenfalls zu steigenden Kosten, insbesondere für die Industrie, das Handwerk und die Banken, wie Schnabl (2022) argumentiert. Zwar konnten diese Kostensteigerungen lange kompensiert werden, indem die EZB die Finanzierungskosten senkte und in Krisen Unternehmen mit umfangreichen Hilfskrediten und Hilfszahlungen unterstützte. Mit den von der EZB anvisierten Zinssteigerungen werden sich jedoch die Finanzierungskosten der Unternehmen wieder erhöhen und das Potenzial für Staatshilfen wird eingeschränkt. Das schafft einen neuen, auf Regulierungen zurückgehenden, Inflationsdruck, der in Zukunft durch weitere Umweltregulierungen, Lieferkettengesetze sowie eine Ausweitung der Arbeitnehmerrechte noch verstärkt werden dürfte.2 Der demographische Wandel mag auf den ersten Blick ein rein fiskalisches Phänomen auslösen, nämlich steigende Kosten für Pensionsansprüche, Gesundheit und Pflege, die aus dem Budget finanziert werden müssen. Aber auch die Preise sind maßgeblich von der Alterung abhängig. Der Ökonom Charles Goodhart argumentiert in seinem Buch „The great demographic reversal“ (Die große demographische Umwandlung), dass die Alterung innerhalb einer Volkswirtschaft zu einem stärkeren Inflationsdruck führen wird. Die geringere Verfügbarkeit von Arbeitskräften im In- und Ausland werde, so Goodhart, dabei auch die zuvor geschwächte Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer wiederherstellen. Dadurch wird auch das natürliche Niveau der Arbeitslosigkeit steigen. Zudem wirkt sich die Alterung auf die Produktivität einer Volkswirtschaft aus. Dieses Problem betrifft die ganze Welt – auch China wird aufgrund der verfehlten Ein-Kind-Politik rasant älter –, aber besonders stark Europa und damit auch Österreich, wo schon jetzt an allen Ecken Fachkräfte fehlen. Offen bleibt, ob die älteren Generationen weiterhin ihr Geld zusammenhalten werden oder ob sie es künftig schneller ausgeben wollen – die so genannte „Entsparungs“-Hypothese, nach der die Inflation weiter angeheizt werden könnte. Bisher fanden Wissenschaftler zwar wenig Belege

2 http://wirtschaftlichefreiheit.de/wordpress/?p=31747#more-31747

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dafür, aber die Einführung einer Erbschaftssteuer etwa könnte bereits bestehende Tendenzen zum Verkonsumieren verstärken. Und dann ist da ja noch die Staatsverschuldung: Die jahrelange Nullzinspolitik hat die Illusion genährt, dass eine hohe Staatsverschuldung kein Risiko darstelle. Der ständige Kampf gegen die Europäischen Krisen hat dazu geführt, dass der Schuldenstand der meisten Industrieländer ihre Wirtschaftsleistung bei weitem übersteigt. Das ist tatsächlich kein Problem, solange die Finanzmärkte an die Tragfähigkeit dieser Schulden glauben. Dass dieser Glaube aber recht schnell verpuffen kann, zeigte etwa der drastische Anstieg der Zins-Spreads von Griechenland und Italien zu Beginn der Coronapandemie, bevor die EZB versprach, die Schulden zu kaufen. Auch die Renditen der österreichischen Staatsanleihen sollen bis 2025 auf mehr als vier Prozent ansteigen – was fast zu einer Verdopplung der Zinslast in Öster­reich führen wird. Inzwischen scheint dieses System recht fragil und nur durch die bloße Hoffnung getragen zu sein, dass die EZB – vorwiegend aus politischen Gründen – nicht so leichtfertig aus dieser Geldpolitik aussteigen wird. Irgendwann eventuell notwendigen geopolitischen Anpassungen wird so aber der Spielraum genommen. Das ist wohl mit ein Grund, warum die EZB bis Mitte 2022 sehr zögerlich auf die zu diesem Zeitpunkt bereits rasante Inflation reagiert hat. Lösungen Die Wirtschafts- und Finanzpolitik muss in einer Phase niedriger Wachstums- und hoher Inflationsraten mit geeigneten Maßnahmen reagieren. Vor allem muss es darum gehen, das Wachstum zu erhöhen, ohne einen zusätzlichen Preisdruck zu erzeugen. Das aktuelle Umfeld sollte als Signal für eine Stärkung der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik verstanden werden, zumal durchaus das Risiko besteht, bei einem starken Wirtschaftseinbruch und einer unvermindert hohen Inflation in eine längere Phase der sogenannten Stagflation, also einer Kombination aus Stagnation und Inflation, zu geraten. Ein nachhaltiges Wachstum entsteht aber nicht aus niedrigen Zinsen und staatlichen Nachfrageimpulsen – vielmehr haben diese die Inflation in den letzten Monaten und Jahren nur zusätzlich befeuert –, sondern aus einer Stärkung der Investitionsdynamik und Wettbewerbsfähigkeit, die gleichzei-

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tig dazu führt, dass die Preise nicht ansteigen. Die Lösungen der Krise sind also unbedingt auf der Angebotsseite zu suchen und brauchen darüber hinaus einen verlässlichen ordnungspolitischen Rahmen. Produktivität Mittelfristig steigen die Preise aufgrund demographischer und regulatorischer Veränderungen. Um die Preise stabil zu halten, braucht es also Produktivitätssteigerungen, um die Stückkosten trotz höherer Produktionskosten konstant zu halten. Um das Produktivitätswachstum in der Gesamtwirtschaft zu steigern, ist eine kontinuierliche Überarbeitung und Anpassung von Produktionsfaktoren wie etwa Arbeit oder Kapital notwendig – weg von jenen mit einer geringen Produktivität hin zu denen, die eine höhere Produktivität ermöglichen. Dieser produktivitätssteigernde Reallokationsprozess wird unter anderem durch Neugründungen und das Wachstum junger Unternehmen vorangetrieben. Deshalb müssen die Rahmenbedingungen für die Gründung und Skalierung von nachhaltigen Unternehmen verbessert werden. In Österreich liegen die großen Herausforderungen insbesondere in der Skalierungsphase, durch bürokratische Hürden einerseits und durch unzureichende Finanzierungsmöglichkeiten andererseits. Eine Skalierung von neuen Unternehmen könnte erleichtert werden, indem etwa große institutionelle Investoren Eigenkapital zur Verfügung stellen. Best-Praxis-Beispiel diesbezüglich sind Länder wie Dänemark oder die Niederlande mit einer stark ausgebauten zweiten Säule des Pensionssystems. Andererseits sind auch Marktaustritte zur Freisetzung von Produk­ tionsfaktoren, die an anderer Stelle besser eingesetzt werden können, eine Voraussetzung für den Prozess der schöpferischen Zerstörung und Ausdruck eines funktionierenden Wettbewerbs. Dies ist entscheidend für die Effizienz der Marktallokation und die Dynamik der Entwicklung. Dieser Prozess wurde in den letzten Jahren durch niedrige Zinsen – die den Unternehmen ermöglichen, sich trotz maroder Auftragslage länger am Markt zu halten – und viele sehr großzügige Hilfen in der Pandemie ausgebremst: In den letzten zwei Jahren gab es signifikant weniger Insolvenzen als zuvor. Auch das Instrument der Kurzarbeit verhinderte die Reallokation der immer knapp

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werdenden Arbeitskräfte hin zu neuen Unternehmen. Eine Korrektur dieser Dynamik ist zwar kurzfristig schmerzhaft, wirkt sich aber auf Dauer positiv auf die Produktivität aus. Weiters gilt es, die Wettbewerbsordnung weiter zu stärken und bestehende Verkrustungen aufzulösen. Darüber hinaus kann die gesamtwirtschaftliche Produktivität durch den Abbau von bürokratischen Hürden und Hemmnissen in der Produkt- und Arbeitsmarktregulierung gesteigert werden. Hier ist Österreich international eher auf den hinteren Plätzen zu finden – mit einem erheblichem Ausmaß an Goldplating, also einer schädlichen Übererfüllung der EU-Mindeststandards. Neben der Dynamik der Ein- und Austritte auf dem Markt spielt der technologische Fortschritt eine besondere Rolle für die langfristige Entwicklung der Produktivität. Der wirtschaftliche Innovationsprozess nimmt dabei eine Schlüsselrolle ein. Bildung und Ausbildung gehören ebenso dazu wie die Entwicklung neuer, forschungsintensiver Produkte und Technologien und deren Verbreitung als marktfähige Innovationen. Die verstärkte Umsetzung von neuem Wissen in wirtschaftliche Impulse ist entscheidend. Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht wird tendenziell zu wenig in den Innovationsprozess investiert. In Österreich spielt traditionell die Industrie eine besondere Rolle. So belief sich etwa der Anteil an den F&E-Ausgaben österreichischer Unternehmen im Jahr 2019 auf 66 Prozent, die auf die Industrie entfallen sind. Auch die Anzahl der Patente zeigt ein ähnliches Bild. Von den im Jahr 2021 bei der EPO eingereichten 2.317 Patente entfallen 210, also fast jedes zehnte, auf dasselbe Unternehmen: die Borealis AG. In den Top 10 sind nur Unternehmen des Verarbeitenden Gewerbes zu finden, was einerseits mit starken komparativen Vorteilen der Industrie zu tun hat und andererseits aber auch damit, dass der Markteintritt durch Start-ups in Österreich nicht besonders ausgeprägt ist. Dabei braucht es für erfolgreiche Innovationen beides: kontinuierliche Innovationsprozesse in den etablierten Unternehmen und radikale Innovationen durch neue Unternehmen. Gerade der im internationalen Vergleich erschwerte Zugang zu Wagniskapital dürfte die Gründung und Skalierung innovativer Unternehmen bremsen. Ausgründungen aus den Universitäten sollten dabei in Zukunft eine deutlich wichtigere Rolle spielen.

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Arbeitskräfte Der Arbeitsmarkt ist die zweite große Herausforderung: Im Oktober 2022 gab es laut dem Stellenmonitor vom Wirtschaftsbund österreichweit 240.000 offene Stellen – 20.000 davon im Maschinenbau, weitere 26.000 im Baugewerbe. Der Arbeitskräftemangel schadet uns allen, wenn Aufträge nicht mehr bearbeitet werden können und dadurch Umsätze verloren gehen – und dies trifft inzwischen auf mehr als sieben von zehn aller Unternehmen zu, die in einer Umfrage vom April 2022 die Belastung als stark oder sehr stark eingestuft haben. Die demographische Entwicklung wird diesen Trend noch verstärken – eine Prognose der Statistik Austria zeigt einen Rückgang der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter von derzeit 5,5 Millionen auf 5,2 Millionen im Jahr 2040, während die Gruppe der Menschen 65+ von 1,7 auf 2,5 Millionen wächst. Der Druck auf die öffentlichen Finanzen – damit auch auf die SteuerzahlerInnen – und auf die Preise wird immer stärker. Die notwendigen Reformen auf dem Arbeitsmarkt durchzuführen und das Arbeitsangebot deutlich zu erweitern, wäre deshalb unbedingt sinnvoll – und machbar! 48,2 Prozent der Österreicherinnen arbeiten in Teilzeit, davon sind 25,2 Prozent dieser Frauen ohne Kinder und 72,8 Prozent der Frauen mit Kindern unter 15 Jahren. Um dieses enorme Arbeitskräftepotenzial zu heben, muss massiv in den Ausbau der Kinderbetreuung investiert werden. In Salzburg etwa werden aktuell nur drei von zehn Kindern in einer Betreuung unterrichtet, die mit einer Vollzeitbeschäftigung vereinbar wäre. Österreichweit trifft das immerhin auf die Hälfte aller Kinder zu – stark positiv getrieben von Wien. Hinzu kommt, dass das faktische Pensionseintrittsalter in Österreich bei den Männern mit 60,2 Jahren deutlich unter dem OECD-Schnitt von 63,8 Jahren liegt. In Schweden und in der Schweiz wird über das 65., in Neuseeland sogar über das 68. Lebensjahr hinaus gearbeitet. Hierzulande liegt die Beschäftigungsquote in der Gruppe der 55- bis 64-Jährigen mit 53 Prozent satte zwanzig Prozentpunkte unter Schweden – das wären umgerechnet etwa 250.000 Personen. Wer die Menschen länger am Arbeitsmarkt halten will, muss deshalb auch die Gesundheitsförderung verbessern – gerade in den körperlich anstrengenden Industrieberufen. Und schließlich müssen auch Arbeitslose in Österreich wieder besser integriert werden. Trotz eines Rekords an offenen Stellen waren im Oktober 2022 immerhin

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250.000 Menschen arbeitslos gemeldet – kein Wunder angesichts mancher Nettolöhne, die kaum über den staatlichen Leistungen liegen. Eine Reform des Arbeitslosengeldes – mit sinkenden Ersatzraten über die Zeit und einer Abschaffung der Zuverdienstmöglichkeiten – sowie eine steuerliche Entlastung der Einkommen würden sich positiv auswirken – nicht nur auf die Wettbewerbsfähigkeit Österreichs, sondern auch auf die gesellschaftliche Lage vieler Gruppen am Arbeitsmarkt wie etwa die der Mütter oder der älteren ArbeitnehmerInnen. All das würde den Druck auf die Preise, der sich aufgrund der schrumpfenden arbeitenden Bevölkerung ergibt, zumindest dämpfen. Tragfähige öffentliche Finanzen Die dritte und ebenso wichtige Säule der dauerhaften Inflationsbekämpfung sind tragfähige und nachhaltige öffentliche Finanzen. Ohne solide Staatsfinanzen besteht immer die Gefahr, dass die Wertpapiere ihre Rolle als sicherer Hafen in Krisenzeiten verlieren und der damit verbundene Finanzierungskostenverteil für die öffentlichen Finanzen entfällt. Österreich muss den Modus der fiskalischen Expansion verlassen und nach der Rückkehr zur Normalität größere Risikopuffer aufbauen. Das sichert die Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen und das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger sowie der Unternehmen in die Handlungsfähigkeit des Staates und wirkt so Inflationsrisiken entgegen. In einem Umfeld steigender Inflationserwartungen muss die Finanzpolitik zusätzliche Inflationsimpulse durch eine zu expansive Ausrichtung vermeiden. Darüber hinaus müssen jene Bereiche der öffentlichen Finanzen in den Griff gebracht werden, die eine besondere Dynamik aufweisen, etwa die Pensionsausgaben oder die öffentliche Gesundheitsversorgung. Durch eine verbesserte Effizienz der öffentlichen Ausgaben könnten die Kosten gesenkt, die Dynamik der Staatsverschuldung gedämpft und die Kosten der Produktion reduziert werden, was zusätzlich deflationär wirken würde.

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Fazit Die Energiekrise sowie die Herausforderungen der Coronapandemie haben der Wirtschaft einen kräftigen Inflationsschub gegeben. Um diesen mittelfristig zu dämpfen, müssen viele Schritte getan werden, um das gesamtwirtschaftliche Angebot auszuweiten. Dies gelingt am besten, indem wir Unternehmen entlasten anstatt sie zu belasten und indem wir die möglichst optimale Verteilung begrenzter Ressourcen durch den Markt zulassen und stärken. Dafür braucht es neben einer Deregulierung und Flexibilisierung auch Verbesserungen in Sachen Wettbewerb. Und: Diese Politik muss durch solide Staatsfinanzen begleitet werden. Österreich sollte auf den Weg der Konsolidierung zurückkehren und sich gleichzeitig gegen die Aufweichung europäischer Fiskalregeln starkmachen. Nur solide Finanzen aller Mitglieder in der Eurozone sind ein Garant dafür, dass die Instrumente der Geldpolitik, die in Zeiten hoher Inflation eingesetzt werden können, auch tatsächlich genutzt werden.

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Wie standortverträglich ist die ­Ökologisierung unseres Steuersystems? Der Beitrag setzt sich, beginnend mit der Entwicklung der Nachhaltigkeit im Steuer­recht und  der Darstellung der Treibhausgasemissionen im Vergleich zu anderen Ländern,  mit den  Ökologisierungsschritten im Steuerrecht in den letzten Jahren auseinander.  Aufgrund der internationalen Verpflichtungen zur Reduktion der Treibhausgasemissionen hat sich Österreich  im Rahmen der Ökosozialen Steuerreform für die Einführung eines nationalen Emissionshandelssystems entschieden, wobei dieses System in der Anfangsphase (im Jahr 2022) mit einem Fixpreis von 30 Euro pro CO2-Tonne gestartet wurde. Der Beitrag versucht kritisch darauf hinzuweisen, dass ein einheitlicher Preis ohne Berücksichtigung der bisherigen Abgaben verwaltungsökonomisch und auch steuerlich problematisch erscheint. Schließlich wird im Sinne des Beitragstitels die Bedeutung der steuerlichen Maßnahmen insgesamt und insbesondere der Ökologisierungsschritte für die Wettbewerbsfähigkeit und den Standort erläutert und deren Standortverträglichkeit diskutiert.

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Der Begriff Nachhaltigkeit Nachhaltigkeit ist wissenschaftlich betrachtet kein neuer Begriff. Bereits im Jahr 1732 hat Carl von Carlowitz und darauf aufbauend Hermann Friedrich von Göchhausen zum ersten Mal über die Nachhaltigkeit geschrieben, genauer gesagt über die nachhaltige Nutzung von Wäldern: Danach sollte bereits damals nur so viel Holz entnommen werden, wie nachwachsen kann, sodass der Wald nie zur Gänze abgeholzt wird. Den Begriff der Nachhaltigkeit verdanken wir somit der Land- und Forstwirtschaft. Bis heute hat sich der Begriff „Nachhaltigkeit“ jedoch in zahlreiche Richtungen weiterentwickelt. Auch wenn im Steuerrecht fast ausschließlich die Reduktion der Treibhausgasemissionen im Fokus steht, wird der Begriff Nachhaltigkeit von der Bioökonomie bis zum nachhaltigen Banking, von der nachhaltigen Bauwirtschaft bis zur Kreislaufwirtschaft, von der Bodenversiegelung bis zu den SDGs (Sustainable Development Goals), die den Rahmen für nachhaltige Entwicklung festhalten sollen, mit unterschiedlicher Bedeutung verwendet. Der Beginn der Nachhaltigkeit/Ökologisierung im Steuerrecht Zum ersten Mal hat der englische Ökonom Arthur Cecil Pigou die Nachhaltigkeit bzw. die Ökologisierung mit Steuern und dem staatlichen Eingriff verbunden. Er lebte zum Zeitpunkt der Industrialisierung in England. Daher beruhen seine Thesen auf den Erfahrungen in dieser Zeit. So konnte in den Wintern von 1881 bis 1885 in London beispielsweise nur etwa ein Sechstel des üblichen Lichts durch die (insbesondere durch Kohleverbrennung) verschmutzte Luft dringen. Aufgrund dieser Erfahrungen beschrieb Pigou in seinem Werk im Jahr 1912 als Erster eine Steuer für Umweltverschmutzung, um die Emissionsmenge zu reduzieren. Dabei bleibt in der Wissenschaft vielfach unerwähnt, dass Pigou mit seiner Steuer die Erhöhung des Volkseinkommens im Fokus hatte und lediglich die negativen Effekte auf die Bevölkerung (soziale Kosten) reduzieren wollte, damit der Wohlstand bzw. die gesamtwirtschaftliche Effizienz insgesamt erhöht wird. Die Ökologisierung der Steuern war somit für Pigou kein Selbstzweck. Bereits damals stand die Abwägung im Vordergrund, welchen volkswirtschaftlichen Schaden die Umweltver-

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schmutzung verursacht und wie man Steuern mit Augenmaß einsetzen könnte, um den Wohlstand insgesamt zu erhöhen. Die Treibhausgasemissionen von Österreich im Vergleich Österreich hat im Jahr 2020 etwa 73,6 Millionen Tonnen CO2 emittiert bzw. CO2-Äquivalent verursacht. Das entspricht etwa 0,2 % des weltweiten CO2-Ausstoßes. Der österreichische CO2-Ausstoß ist aber deutlich weniger als im Jahr 2005, als Österreich noch bei 92 Millionen Tonnen lag. In diesen 15 Jahren ist somit eine Reduktion von 20 % erreicht worden. Demgegenüber ist der weltweite CO2-Ausstoß von 2005 bis 2020 um fast 18 % gestiegen. Daher kann eindeutig festgehalten werden, dass Österreich grundsätzlich auf einem guten Weg ist, insbesondere wenn man berücksichtigt, dass von 2005 bis 2020 im Gebäude-Sektor eine Reduktion um 36,7 % und im Bereich Energie und Industrie eine Reduktion von 22,1 % erreicht werden konnte. Diese absoluten Zahlen sind aber täuschend, weil dabei viele Elemente unberücksichtigt bleiben. Unter anderem das Bevölkerungswachstum und auch die industrielle Produktion. Die österreichische Bevölkerung ist von 1990 bis 2020 von 7,678 Mio. Einwohnern auf 8,917 Einwohner angestiegen. Im Gegensatz dazu wächst die Bevölkerung z. B. in Deutschland im Verhältnis kaum. (1990: 79,42 Mio.; 2020: 83,16 Mio.). Da jeder Mensch wegen des notwendigen Energiebedarfs CO2-Emissionen verursacht, könnte auch der CO2-Ausstoß pro Kopf im Jahr 2020 für einen Vergleich herangezogen werden. Hier liegt Österreich mit etwa 8,3 Tonnen pro Person deutlich unter Deutschland mit 8,8 Tonnen pro Person. Es gibt aber auch einen weiteren Aspekt, wenn die wirtschaftliche Situation verglichen wird. Österreich ist heute ein Industrieland. Da indus­ trielle Produktion – im Normalfall – mit einem gewissen Energieaufwand verbunden ist, der aktuell weltweit auch aus fossilen Energieträgern erzeugt wird, kann zum Vergleich auch die Frage gestellt werden, welchen CO2Ausstoß Österreich pro 1 Mio. Euro Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Jahr verursacht hat. Auch bei diesem Punkt schneidet Österreich bzw. die österreichische Industrie nicht schlecht ab: Österreich verursachte pro 1 Mio. Euro BIP etwa 211 Tonnen CO2; im Vergleich dazu Deutschland etwa 235

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Tonnen CO2, Lettland 393 Tonnen, Polen 748 Tonnen und Spanien 258 Tonnen. Nur sechs Länder sind besser als Österreich: Frankreich, Malta, Irland, Luxemburg, Dänemark und Schweden. Vielfach werden aber solche Vergleiche mit einem bestimmten Hintergedanken dargestellt. Denn der CO2-Ausstoß hängt natürlich von sehr vielen Faktoren ab. In Ländern mit weniger Industrie oder auch in wärmeren Ländern, wo weniger Energie für die Heizung verwendet werden muss, ist der Ausstoß selbstverständlich niedriger. Ebenso ist der weltweite Vergleich täuschend, denn fast die Hälfte aller Länder der Welt erreicht leider nicht einmal ein Zehntel des österreichischen Bruttoinlandsproduktes pro Kopf. Naturgemäß führt Einkommen zu Konsum und dieser wiederum zum CO2-Ausstoß, sodass es selbstverständlich ist, dass ein höheres Einkommen zu mehr CO2-Ausstoß führen muss: mit einem höheren Einkommen reist man mehr, kauft mehr Kleidung, ist grundsätzlich mobiler, heizt möglicherweise stärker, hat mehr elektronische Produkte, die mehr Strom verbrauchen, etc. Daher ist es nicht verwunderlich, dass in zahlreichen Ländern mit einem niedrigeren Pro-Kopf-Einkommen der Umweltschutz nicht so im Fokus steht wie die Erhöhung des Pro-Kopf-Einkommens. Spannend wäre jedenfalls ein Vergleich, ob eine Person mit dem durchschnittlichen Einkommen einer Österreicherin oder eines Österreichers z. B. in Pakistan, Indonesien oder in Moldau etwa so viel CO2-Ausstoß verursacht wie eine Person in Österreich mit einem durchschnittlichen Einkommen. Die europäischen Vorgaben und möglichen Sanktionen Von den Gesamtemissionen von 73,6 Mio. Tonnen CO2 in Österreich entfallen etwa 46,6 Mio. Tonnen auf Sektoren, die aktuell nicht vom Europäischen Emissionshandelssystem (ETS) umfasst sind. Da eine zusätzliche Belastung von ETS-Sektoren mit weiteren nationalen Steuern jedenfalls und in erheblichem Ausmaß wettbewerbs- und standortfeindlich wirken würde, hat sich der österreichische Gesetzgeber entschlossen, eine zusätzliche Belastung nur für Nicht-ETS-Sektoren einzuführen. Insbesondere, weil Österreich in diesem Bereich einer unionsrechtlichen Verpflichtung unterliegt, den CO2-Ausstoß um 36 % gegenüber dem Jahr 2005 zu reduzieren (zu-

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künftig 48 %). Auch wenn grundsätzlich ein Pfad einzuhalten wäre, überprüft die Europäische Kommission lediglich kumulativ die Fünfjahreszeiträume 2021–2025 (im Jahr 2027) und 2026–2030 (im Jahr 2032). Daher wird die nächste Überprüfung erst im Jahr 2027 erfolgen. Auch wenn medial zahlreiche Strafhöhen bereits diskutiert wurden, würde es sich bei Nichterfüllung der oben genannten Reduktionsziele um ein schlichtes Vertragsverletzungsverfahren handeln. Dieses bedeutet natürlich ein Reputationsrisiko für das jeweilige Land, verbunden mit möglichen Sanktionszahlungen. Für das richtige Gesamtbild kann aber – aufgrund der Ausführungen des Fiskalrates – darauf hingewiesen werden, dass beispielsweise in den Jahren 2002 bis 2018 bei rund 19.000 Vertragsverletzungsverfahren nur bei etwa 11 % überhaupt der Europäische Gerichtshof angerufen wurde, wobei nur in 0,02 % aller Fälle Staaten tatsächlich zu Geldbußen verurteilt wurden und diese Strafe nur in 0,001 % aller Fälle tatsächlich bezahlt wurde. Steuerrechtliche Maßnahmen vor der Ökosozialen Steuerreform Bereits vor Einführung der Ökosozialen Steuerreform hat der Gesetzgeber zahlreiche Ökologisierungsschritte gesetzt: Die Flugabgabe wurde per 1.9.2020 umgestaltet, die Normverbrauchsabgabe (für neu zugelassene Fahrzeuge) per 1.7.2021 erhöht und ausgedehnt; gegen den Tanktourismus wurde per 15.1.2021 die Vorsteuerrückerstattung für Lkws aus Drittländern abgeschafft, sodass diese faktisch mehr für Diesel zahlen müssen, und die Elektrizitätsabgabe für Bahnstrom wurde gesenkt. Aber auch die Abschaffung der Eigenstromsteuer für Photovoltaikanlagen war eine wichtige Maßnahme für diejenigen, die Strom selber produzieren und verbrauchen wollen. Die Ökosoziale Steuerreform Der österreichische Gesetzgeber hat sich entschieden, die umweltpolitischen Ziele mit der Einführung eines Nationalen Emissionszertifikatehandelsgesetzes (NEHG 2022) zu unterstützen (umgangssprachlich auch als CO2-Steuer genannt). Dieses Steuergesetz ist das Herzstück des Ökosozialen Steuerreformgesetzes und soll zu einer Einsparung von 1,5 Mio. CO2-

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Tonnen/Jahr führen, wobei die österreichische Zielvorgabe etwa 2,6 Mio. CO2-Tonnen pro Jahr sind, sodass diese Maßnahme zur Zielerreichung geeignet ist. Mit diesem Gesetz wurde im Jahr 2022 für die Tonne an CO2-Ausstoß für alle Energieträger (Benzin, Gasöl, Heizöl, Erdgas, Flüssiggas, Kohle und Kerosin) ein Preis von 30 Euro eingeführt. Dieser Preis erhöht sich jährlich. Bis 2025 sogar auf 55 Euro pro CO2-Tonne. Die Belastung ist von den Inverkehrbringern der Energieträger zu entrichten, sodass der Konsument nur indirekt von der Abgabe betroffen ist. Nicht erfasst sind jedoch die Bereiche, die bereits dem Europäischen Emissionshandel unterliegen, um eine Doppelbelastung zu vermeiden. Darüber hinaus gibt es weitere Befreiungen, unter anderem für Bagatellfälle. Da die Einführung eines nationalen Emissionshandels komplex ist, hat sich der Gesetzgeber für drei Phasen entschieden. In der ersten Phase ist ein Fixpreis (beginnend mit 30 Euro) zu entrichten. Danach folgt ab dem 1. 1. 2024 eine Übergangsphase, um danach die Marktphase mit 1. 1. 2026 starten zu können. In der Marktphase soll es einen freien Handel mit nationalen Emissionszertifikaten geben. Rücksichtnahme auf die Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit Der Gesetzgeber hat versucht, die Wettbewerbsfähigkeit und die Energieintensivität der Unternehmen zu berücksichtigen. In diesem Sinne soll die „Carbon-Leakage-Regelung“ Unternehmen entlasten, bei denen das Risiko besteht, dass sie aufgrund der hohen Energiepreise ins Ausland abwandern könnten. Hierfür werden in einer Anlage zum Gesetz die Wirtschaftszweige verbunden mit dem Ausmaß der Entlastung, aufgezählt: die Herstellung von Zucker beispielsweise mit 95 % und die Herstellung von Salz mit 70 %. Daneben soll die Härtefallregelung Unternehmen, bei denen die Energiekosten mehr als 15 % der betriebswirtschaftlichen Gesamtkosten ausmachen (= energieintensive Unternehmen), entlasten. Somit versucht das Steuerrecht sowohl auf energieintensive als auch auf standortrelevante Argumente einzugehen und diese zu berücksichtigen. Das Steuerrecht kann aber nur pauschale Regelungen treffen, sodass diese Entlastung in manchen Fällen trotzdem nicht treffsicher sein und damit die

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Wettbewerbsfähigkeit mancher Unternehmen beeinträchtigt wird. Dennoch muss im Zusammenhang mit den Befreiungsbestimmungen nochmals der Einsatz der Wirtschaftskammer Österreich gewürdigt werden, die sich hier im Sinne des Standortes nicht nur eingebracht, sondern auch mit zahlreichen Berechnungen und Überlegungen für eine möglichst sinnvolle Kompromisslösung eingesetzt hat. Die Grundproblematik der Ökosozialen Steuerreform Für Parteien, die für Umweltschutz gewählt worden sind, ist es ein wichtiges Anliegen, im Rahmen der Ökologisierung des Steuerrechtes sichtbare und leicht kommunizierbare Maßnahmen zu setzen. Dabei spielt die bisherige Logik des Steuerrechtes oder bereits existierende Regelungen weniger eine Rolle. Genau diese Herangehensweise verursacht aber große Verwerfungen und teilweise unlogische Ergebnisse: Denn die Einführung einer Abgabe in Höhe von 30 Euro pro CO2-Tonne berücksichtigt die bis zur Einführung bestehende Belastung nicht; obwohl zahlreiche Abgaben bereits bis dahin die Treibhausgasemissionen berücksichtigt haben. Österreich (Bund, Land, Gemeinden und bestimmte Organisationen, z. B. ASFINAG) hatte bereits vor der Ökosozialen Steuerreform etwa 14 Mrd. Euro aus aus CO2- bzw. ökologierelevanten Abgaben eingenommen. Die Mineralölsteuer machte fast 4,5 Mrd. Euro aus, die Energieabgaben (Kohle-, Erdgas- und Elektrizitätsabgabe) etwa 1 Mrd. Euro, die motorbezogene Versicherungssteuer (die sich teilweise nach der CO2-Belastung bemisst) etwa 2,5 Mrd. Daneben existieren noch zahlreiche weitere Abgaben, wie die Normverbrauchsabgabe (mehr als 500 Mio. Euro), die Flugabgabe, die Zulassungsgebühr, die Kraftfahrzeugsteuer, aber auch Naturschutzabgaben oder die LKW-Maut. Wenn man nur die Mineralölsteuer und die darauf entfallende Umsatzsteuer (weil die Mineralölsteuer auch die Umsatzsteuer hebt) zusammenrechnet, kommt für Benzin ein CO2-Preis von etwa 244 Euro pro CO2Tonne, für Diesel 180 Euro pro CO2-Tonne und für Heizöl 36 Euro pro CO2-Tonne heraus. Das pauschale Draufschlagen von 30 Euro pro CO2Tonne berücksichtigt somit die bisherige Belastung unter der Wasseroberfläche nicht. So führt die Belastung von 30 Euro pro CO2-Tonne bei Heizöl

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zu einer Erhöhung von 82 % im Vergleich zur bisherigen Abgabe, die gleiche Erhöhung von 30 Euro machte bei Diesel etwa 18 %, bei Benzin etwa 13 % und bei Erdgas etwa 92 % aus. Somit ist die Belastung in Relation vollkommen unterschiedlich und berücksichtigt die bisherigen Abgaben nicht. Sachlich richtiger – und vor allem verwaltungsökonomischer – wäre es wohl gewesen, die bereits bestehenden Abgaben zusammenzufassen und danach zu überlegen, wie die Anhebung erfolgen soll. Nach dem aktuellen Modell zahlt ein Autofahrer unter anderem: 1. die sich nach dem CO2Ausstoß richtende Normverbrauchsabgabe beim Kauf, 2. die sich zur Hälfte nach dem CO2-Ausstoß und zur Hälfte nach der Leistung richtende motorbezogene Versicherungssteuer im Rahmen der laufenden Versicherung, 3.  die sich nach dem Verbrauch richtende Mineralölsteuer und darauf die Umsatzsteuer beim Tanken und 4. an der Zapfsäule nunmehr zusätzlich einen indirekten, den wegen dem CO2-Ausstoß erhobenen Fixpreis im Rahmen der Ökosozialen Steuerreform. Auswirkung auf die Bevölkerung Für den Standort ist aber nicht nur die Situation der Unternehmen, sondern auch die Mobilität und die Lebenserhaltungskosten der Bevölkerung relevant, weil sich diese auf die Lohnhöhe auswirken. Nach einer ausgezeichneten Studie der Wirtschaftsuniversität Wien sind zusammenfassend die Auswirkungen einer CO2-Bepreisung am stärksten in den größeren Bundesländern und in den kleinen Gemeinden unter 10.000 Einwohner. Darüber hinaus gibt es in Österreich etwa 500.000 Haushalte mit Ölheizungen und etwa 900.000 Haushalte mit Gasheizungen. Von der CO2-Bepreisung sind insbesondere Haushalte mit Ölheizungen betroffen, aber auch Menschen mit Gasheizungen müssten deutlich mehr für Energie ausgeben. Schließlich würden vom Beschäftigungsverhältnis her die Angestellten und die Selbstständigen (dicht gefolgt von den Pensionisten) am stärksten betroffen sein. Dies erkennend hat der Gesetzgeber versucht auf die Auswirkungen in den Bundesländern und in kleinen Gemeinden mit dem regionalen Klimabonus, bei Öl- und Gasheizungen mit der Förderung und den steuerlichen Anreizen für den Heizkesseltausch, bei Selbständigen und Angestellten mit der Einkommensteuersenkung und der Senkung der Sozialversiche-

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rungsbeiträge und bei Familien mit der Erhöhung des Familienbonus, des Kindermehrbetrages und den Zuschlägen beim regionalen Klimabonus für Kinder zu begegnen. Dabei fällt vor allem im Vergleich mit Deutschland auf, dass Alternativen in Österreich nicht billiger geworden sind. Denn wenn die einzige Alternative – zumindest aus der Sicht vieler – aktuell strombetriebene Heizungsanlagen und Fahrzeuge sind, dann hätte man auch einfach nur die Steuerbelastung auf Strom senken können wie in Deutschland. Es stimmt zwar, dass dabei sparsame Haushalte mit geringem Stromverbrauch unterproportional profitieren würden und auch, dass Marktpreisschwankungen die steuerliche Entlastung konterkarieren könnten (wie uns die letzten Monate gelehrt haben), aber dennoch wäre es überlegenswert, Strom so billig wie möglich zu machen, damit der Umstieg nicht aufgrund des Vergleichs „hohe Ausgaben“ versus „sehr hohe Ausgaben“ verknüpft mit einem Förderdschungel erfolgt, sondern einfach aufgrund der (einfachen) finanziellen Überlegungen sinnvoll erscheint. Wettbewerbsfähigkeit und Standort Wissenschaftlich betrachtet ist die Messung der Wettbewerbsfähigkeit schwierig, weil dabei auf unterschiedliche Faktoren abgestellt werden kann. Es könnte dabei zum Beispiel das Pro-Kopf-Wachstum des Bruttoinlandsproduktes, der Leistungsbilanzsaldo oder auch die Größe der ausländischen Investitionen herangezogen werden. So erfasst z. B. das WIFO-Radar der Wettbewerbsfähigkeit wirtschaftliche, soziale und ökologische Zielgrößen. Demgegenüber werden im IMD World Competitiveness Center Ranking die ökonomische Performance, die Effizienz der Verwaltung, die Wirtschaftseffizienz und die Infrastruktur beleuchtet. In allen (relevanten) Rankings fällt Österreich zurück und ist z. B. beim IMD-Ranking vom 16. Platz (2020) auf Platz 20 (2022) zurückgefallen. Besonders schlecht schneidet Öster­reich bei der Effizienz der Verwaltung (34. Platz im Jahr 2022) und bei der ökonomischen Performance (24. Platz im Jahr 2022) ab. Innerhalb der Rubrik „Effizienz der Verwaltung“ sticht wiederum der Punkt „Tax Policy“ im negativen Sinne am stärksten heraus, weil Österreich in dieser Rubrik (von allen Punkten) am schlechtesten abschneidet und auf Platz 58. landet.

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Die gleichen Probleme werden im Ranking des World Economic Forum bestätigt, wonach die Anreize des Steuersystems, um zu investieren, und Anreize des Steuersystems, um zu arbeiten, als besonders schlecht eingestuft wurden. Hervorgehoben wurden vor allem: die zu restriktiven Arbeitsgesetze, die überbordende Bürokratie und die zu hohen Steuern. In all diesen Bereichen gab es zwar positive Entwicklungen in den letzten Jahren, aber nur der Vergleich in den nächsten Jahren wird zeigen, welche Erfolge damit erzielt werden konnten. Unabhängig von den Kriterien zeigt sich jedenfalls in mehreren Studien, dass Steuersysteme einen „deutlichen“ Einfluss auf die Wettbewerbsfähigkeit von Volkswirtschaften haben. Dies zeigen auch z. B. deutsche Studien für Familienunternehmen aus 2018, wonach etwa 60 % der Familienunternehmerinnen und -unternehmer die Bedeutung des internationalen Steuerwettbewerbs, um attraktive Standortbedingungen für die Ansiedlung von Investitionen zu erreichen, als stark oder eher stark einstufen. Eine deutliche Mehrheit erwartet von der deutschen Regierung Maßnahmen, um im Steuerwettbewerb besser bestehen zu können. Hervorzuheben ist allerdings auch, dass sich die wichtigsten zwei Wünsche der Betroffenen nicht auf die Reduktion von Steuern beziehen. Denn die meisten wünschen sich eine Reduktion von Bürokratie, weil nur ein einfaches und klares System attraktiv sein kann. An zweiter Stelle folgt der Wunsch nach einem (unbürokratischen) verbesserten Vorgehen gegen internationale Steuervermeidung, weil sich viele mittelständische Unternehmen hier im Gegensatz zu großen Unternehmen im Nachteil sehen. Erst an dritter Stelle kommt der Wunsch nach Reduktion der Steuerlast. Wie standortverträglich ist die Ökologisierung des Steuersystems? Zusammenfassend kann die Bedeutung des Steuerrechts für die internationale Wettbewerbsfähigkeit hervorgehoben werden. Dies zeigen sowohl die objektiven Kriterien von nationalen und internationalen Rankings im Rahmen der Bewertung der Wettbewerbsfähigkeit als auch subjektive Aussagen der betroffenen Unternehmerinnen und Unternehmer. Der österreichische Gesetzgeber neigt in den letzten Jahren immer stärker dazu, mit dem Steuerrecht Lenkungsziele zu verfolgen so auch ökologische Ziele. Im Vergleich dazu stand in der Vergangenheit eher die Finanzierungsfunktion im Vordergrund.

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Die Ökologisierung des Steuerrechtes erfolgte nicht erst mit der Ökosozialen Steuerreform, sondern schon bedeutend früher. Dennoch stellt die Einführung des Nationalen Emissionszertifikatehandelsgesetzes mit einem Fixpreis von 30 Euro pro CO2-Tonne eine wichtige Maßnahme der Bundesregierung zur Erreichung der europäischen Klimavorgaben dar. Bisher hat insbesondere das Bundesministerium für Finanzen versucht auf die Wettbewerbsfähigkeit und die mit der Ökologisierung verbundenen Auswirkungen hinzuweisen und diese im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen. In diesem Sinne werden aktuell die Bereiche, die den europäischen Emissionshandel betreffen, nicht erfasst, um Doppelbelastungen (und somit Wettbewerbsnachteile) zu vermeiden. Auch die Befreiungen für energieintensive Unternehmen und jene, bei denen das Risiko besteht, dass sie aufgrund der hohen Energiepreise ins Ausland abwandern könnten, sind auf die Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit gerichtet. Somit erscheint die Ökologisierung des Steuerrechtes im aktuellen Ausmaß (noch) nicht standortfeindlich. Die wichtigsten Gründe dafür sind: auch andere – im Wettbewerb – stehende Länder ziehen aktuell oft nach; es gibt in den österreichischen Regelungen Befreiungsbestimmungen, die sensible wirtschaftliche Bereiche schützen, und darüber hinaus erscheint das Ausmaß (aktuell noch) nachvollziehbar und nicht überbordend. Wobei auch die Aussetzung oder Verschiebung der Erhöhung der CO2-Steuer selbstverständlich diskussionswürdig erscheint, wenn bereits der Grundpreis so stark steigt, wie das im Jahr 2022 der Fall gewesen ist. Denn auf dem Weg der Ökologisierung kann weder die Bevölkerung, noch die Wirtschaft noch unser Wohlstand auf der Strecke bleiben. Andernfalls wird die Transformation nicht gelingen. Vom Ansatz her sollte auch überlegt werden, ob nur Strafen und höhere Steuern zum Ergebnis führen können oder nicht auch eine Entlastung zugunsten von nachhaltigen Lösungen eine Lenkungswirkung entfalten kann. Denn nicht nur teure Energie ist gute Energie, sondern genau umgekehrt: Billige nachhaltige Energie ist die beste Energie! Das gilt sowohl für die Bevölkerung als auch für die Wirtschaft; insbesondere dann, wenn die nachhaltigen Varianten zu mehr Unabhängigkeit, zu einer höheren Wertschöpfung in Österreich und somit auch zur Reduktion der milliardenschweren Ausgaben für fossile Energieträger im Ausland führen.

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Europa

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Paul Luif

Österreich ohne enge Zusammen­ arbeitspartner in der EU Neutralität als Hindernis? Der Autor stellt in diesem Beitrag die Entwicklung der österreichischen Neutralität und der EU-Mitgliedschaft anhand seiner wissenschaftlichen Analysen seit Ende der 1970er-Jahre dar. Nach dem Ende des Kalten Krieges behinderte die Neutra­lität die Zusammenarbeit mit den mitteleuropäischen Staaten, die alle Mitglieder der NATO wurden. Vom österreichischen Außenministerium wurde die Bedeutung der kontinuierlichen Zusammenarbeit kleinerer EU-Staaten zu wenig beachtet. Die (knappen) Ressourcen des Ministeriums wurden für andere Bereiche, etwa Abrüstungsfragen, in Anspruch genommen.

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Der Abzug der sowjetischen Truppen 1955 war für die Bevölkerung Ost­ österreichs ein geopolitisches „Wunder“. Die Bedingung für den Abzug war der Status der „immerwährenden Neutralität“ für Österreich. Als ich als gebürtiger Burgenländer in den 1970er-Jahren mit der wissenschaftlichen Analyse der internationalen Politik begann, war für mich die „immerwährende Neutralität“ daher ein Forschungsschwerpunkt. Hier werde ich wichtige Stationen meiner Forschung aufzeigen. Der Weg der Neutralität So fand ich heraus, dass die Pflichten der immerwährenden Neutralität anfänglich nicht sehr strikt interpretiert wurden. Im Oktober 1956 sprachen sich etwa Politiker der ÖVP für einen Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) aus, denn dieser erste Schritt zur Inte­ gration Westeuropas umfasste die beiden wichtigsten Handelspartner Österreichs, die Bundesrepublik Deutschland und Italien. Die Niederschlagung des ungarischen Aufstandes im November 1956 durch sowjetische Truppen machte die österreichischen Politiker vorsichtiger in der Interpretation der Neutralität, ein Beitritt zur EGKS wurde nicht mehr angestrebt. Als Mitte 1958 amerikanische Kampfflugzeuge aus ihren Basen in Süddeutschland über österreichisches Gebiet in den Libanon flogen, protestierte die österreichische Regierung gegen diese Verletzung der österreichischen Neutralität. Damit mussten auch die USA die Auswirkungen der Neutralität Österreichs auf die europäische Geopolitik akzeptieren. Die striktere Interpretation des außenpolitischen Spielraumes eines Neutralen wurde durch zwei „Fleißaufgaben“ österreichischer Völkerrechtler bekräftigt. Österreich informierte alle Staaten, mit denen es damals di­ plo­matische Beziehungen hatte, über die Verabschiedung des Bundesverfassungsgesetzes über die immerwährende Neutralität; diese Mitteilung wurde explizit oder stillschweigend akzeptiert. Daraus konstruierten nun Völkerrechtler ein „Quasi-Vertragsverhältnis“ zwischen Österreich und der Staatenwelt. Österreich könnte sich daher nicht einseitig von der Neutralität lossagen. Einige Juristen (etwa Felix Ermacora), aber auch der damals dem rechten Flügel der SPÖ zuzählende Journalist Günter Nenning meinten jedoch: „Österreich sieht sich keinerlei völkerrechtlichen Bindungen gegen-

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über“. Zusätzlich wurde für einen dauernd Neutralen der Beitritt zu einer Wirtschaftsgemeinschaft, auch mit einer Neutralitätsklausel, für nicht zulässig erachtet, denn eine starke wirtschaftliche Verflechtung würde die Aufrechterhaltung der Neutralität unmöglich machen.1 Aber auch in der Innenpolitik gebrauchten die Parteien (zumindest indirekt) die Neutralität. Ende der 1950er-Jahre bezeichnete der SPÖParteivorsitzende Bruno Pittermann die EWG als „Bürgerblock“. Teile der ÖVP fürchteten, dass bei einer Annäherung an die EWG keine Ausnahmegenehmigungen zum Schutz nicht konkurrenzfähiger Betriebe gewährleistet würden. Meist wurden hier Neutralitätsargumente gegen eine Annäherung an die EWG vorgeschoben.2 Mit einer engen Interpretation der Neutralität versuchten Mitte der 1960er-Jahre „Reformer“ in der ÖVP eine Annäherung an die EWG („Assoziierung“), um die österreichischen Wirtschaft zu „liberalisieren“ und gleichzeitig damit eine Schwächung der SPÖ-Domänen Verstaatlichte Industrie und Gewerkschaften zu erreichen. Nach dem Scheitern dieses Versuches kam es unter dem neuen ÖVPAußenminister Kurt Waldheim ab 1968 zu einer Abwendung von der (West‑)­ Europa-Orientierung der ÖVP-Alleinregierung. Waldheim sprach vom „aktive[n] Mitwirken an einer weltweiten Entspannungspolitik“ durch Österreich. SPÖ-Bundeskanzler Bruno Kreisky forcierte diese Politik weiter; im zitierten Artikel aus 1982 schrieb ich von einer „Globalisierung“ der außenpolitischen Aktivitäten Österreichs unter Bruno Kreisky. Neben der „Dritte-Welt-Politik“ war vor allem während der Entspannungsphase des Kalten Krieges die Zusammenarbeit mit den anderen neutralen Staaten in Europa eine wichtiges Element der österreichischen Außenpolitik. Insbesondere bei den Verhandlungen zur Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) spielte die N+N-Gruppe

1 Siehe dazu mit Quellenangaben: Paul Luif, Österreich zwischen den Blöcken. Bemerkungen zur Außenpolitik des neutralen Österreich, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, 11. Jg., 2/1982, S. 209–220. Dieser und ähnliche Artikel von mir aus dieser Zeit werden noch immer bei politikwissenschaftlichen Seminaren an der Universität Wien verwendet. 2 Dazu mit vielen Beispielen: Paul Luif, Der Wandel der österreichischen Neutralität. Ist Österreich ein sicherheitspolitischer „Trittbrettfahrer“?, 2., ergänzte Version, Österreichisches Institut für Internationale Politik, Laxenburg, April 1998 ( AP 18).

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(Neutrale plus Jugoslawien) eine Rolle beim Abbau der Spannungen zwischen Ost und West in Europa. Die Stationierung von SS-20-Mittelstreckenraketen durch die Sowjetunion zu Ende der 1970er-Jahre, die Antwort der NATO darauf mit der Aufstellung von Pershing-II-Raketen und die Aufrüstung der Reagan-Administration führten zu erneuten Spannungen zwischen Ost und West. Am Beginn der 1980er-Jahre kam es zu massiven Demonstrationen im Westen, auch im neutralen Österreich. Hier waren formell die Demons­tratio­nen gegen beide Raketensysteme gedacht, unter Vorspiegelung von „Neutralität“. Tatsächlich waren dies Anti-USA-Proteste, dominiert von kommunistischen Gruppen und linken NGOs, wie ich mich bei einer Beteiligung an einer Demonstration selbst überzeugen konnte.3 Der neue Kalte Krieg reduzierten den Handlungsspielraum der Neutralen drastisch. Österreich, das regen Handel mit dem Ostblock trieb, kam vor allem auf dem Gebiet der Hochtechnologie unter starken Druck des Westens, insbesondere der USA. Diese schränkten den Export von Hochtechnologie in den Osten drastisch ein. Bruno Kreisky, der die Politik von Ronald Reagan scharf kritisiert hatte, musste nun „freundlicher“ zu den USA sein. Aber rein verbales Entgegenkommen genügte nicht, denn die USA drohten, den Export von Hochtechnologie an die Verstaatlichte Industrie einzustellen, falls Österreich nicht die Regeln des COCOM (Coordinating Committee for Multilateral Strategic Export Controls) einhalten würde. Nur zögerlich, auch wegen des Widerstandes aus Wirtschaftskreisen, übernahm Österreich die Verbotslisten des COCOM ab Mitte der 1980er-Jahre.4 Diese Schwierigkeiten mit der neutralen Außenpolitik führten bei mir zu einem Überdenken des außenpolitischen Status Österreichs. Die erwähnten formell „neutralen“, in Wirklichkeit einseitigen Demonstrationen in Wien gegen die Aufrüstung der USA regten Zweifel an der Aufrichtigkeit des Neutralitäts-Diskurses. Dazu kam die Lektüre eines Buchs des

3 Siehe dazu jetzt Christa Zöchling, Friedensbewegung: Der Feind stand im Westen, profil, 15.03.22, Internet: https://www.profil.at/oesterreich/friedensbewegung-der-feind-stand-imwesten/401937793, zuletzt 3.1.2023: „Die Kommunisten setzten sich meist durch“. Viele später prominente Sozialisten waren auch dabei. 4 Paul Luif, Computer für Moskau?, in: Zukunft, November 1985, S. 28–31, und Paul Luif, USAÖsterreich: Der Konflikt um den Technologietransfer, in: Zukunft, Dezember, S. 17–20.

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griechischen Diplomaten Nicolas Politis, der schon 1935 die europäischen Regierungen kritisierte, die sich „verzweifelt an die Neutralität festklammern, um dem Krieg zu entkommen“.5 Heute wissen wir, dass außer der Schweiz und Schweden alle Staaten Europas, die in den 1930er-Jahren eine „Neutralitätspolitik“ führten, dem Inferno des Zweiten Weltkrieges nicht entrinnen konnten. „Neutralität und Frieden“ (so der Titel des Buches von Politis) sind nicht immer kompatibel, wie Neutralitäts-Euphoriker den Öster­reichern weismachen wollten (und wollen). Zu Ende der 1980er-Jahre fand sich Österreich vor zwei Herausforderungen. Der faktische Bankrott der Verstaatlichten Industrie führte auch in der SPÖ zu einem Umdenken in Bezug auf die EG. Die SPÖ gab dem Drängen des Koalitionspartners ÖVP nach und stimmte einem Beitrittsgesuch bei den Europäischen Gemeinschaften zu. Auch die Völkerrechtler hatten nun eingesehen, dass eine autarke Wirtschaftspolitik am Ende des 20.  Jahrhunderts nicht mehr möglich ist. Ebenso rückten sie vom „quasiVertragsverhältnis“ ab, da die Schweiz (als Vorbild) immer von der Möglichkeit einer einseitigen Aufkündigung ihrer Neutralität ausging. Kurz nach dem Beitrittsantrag bei der EG/EU im Juli 1989 fiel die Berliner Mauer (November 1989), und die Nachbarstaaten Österreichs in Mitteleuropa konnten sich wieder ungehindert dem demokratischen Westen zuwenden. Noch während des Kalten Krieges hatte die ÖVP (etwa Erhard Busek), im Gegensatz zur SPÖ, Kontakte zu den Dissidenten im Osten geknüpft. Außenminister Alois Mock (ÖVP), der die treibende Kraft zum EU-Beitritt war, wollte nun sowohl den EU-Beitritt als auch die Mitteleuropa-Politik Österreichs forcieren. Doch die knappen Ressourcen der österreichischen Außenpolitik erforderten eine Konzentration auf den EUBeitrittsprozess. Die Kontakte zu den „neuen“ Nachbarn in Mitteleuropa wurden vernachlässigt; dort bildete sich im Februar 1991 die „VisegrádGruppe“ (Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei).6

5 Nicolas Politis, La neutralité et la paix, Librairie Hachette, Paris 1935, S. 181. 6 Siehe dazu im Detail: Paul Luif, Mitteleuropa und Österreich in der Europäischen Union, in: Michael Gehler/Paul Luif/Elisabeth Vyslonzil (Hg.), Die Dimension Mitteleuropa in der Europäischen Union. Geschichte und Gegenwart, Georg Olms Verlag, Hildesheim–Zürich–New York 2015, S. 279–315.

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1995 wurde Österreich, gemeinsam mit Schweden und Finnland, Mitglied der EU. Meine vergleichende Analyse des Weges nach Brüssel zeigte auf, dass auch in Schweden und Finnland Wirtschaftskrisen den Beitrittsantrag beförderten.7 Außerdem wurde mir bewusst, dass die Nordische Kooperation dieser Staaten nicht nur Minister und Parlamente umfasste, sondern dass vor allem zwischen den Beamten der nordischen Ministerien enge Kontakte bestanden und regelmäßiger Informationsaustausch stattfand. Da die Entscheidungen in der EU oft als „package deals“ beschlossen werden, ist eine enge, auf Dauer angelegte Zusammenarbeit von großem Vorteil. Ein Staat kann leichter Kompromisse eingehen, wenn er weiß, dass seine engen Partner ihn beim nächsten wichtigen „Deal“ unterstützen werden. Ad-hoc-Koalitionen bieten diesen Vorteil nicht. Als bei dem Wahlkampf zur Volksabstimmung über den EU-­Beitritt (12. Juni 1994) eine Anzahl von Universitätsprofessoren eigenartige Argu­ mente gegen den Beitritt vorbrachte (etwa „in Moskau regierten Kom­mis­ sare und auch in Brüssel regieren Kommissare“), entschloss ich mich, für den Beitritt eine Unterschriftenaktion unter Universitätsprofessoren zu organisieren, obwohl ich damals als Lektor an der Universität Wien (Politikwissenschaft) nicht einmal habilitiert war. Es gelang mir, an die sechzig Unterschriften für einen EU-Beitritt von prominenten Universitätsprofessoren zu erreichen, vor allem aus den Fächern Völkerrecht, Ökonomie und, mit Ausnahme der Universität Wien, Politikwissenschaft.8 Auch die NATO war nun bereit, neue Mitglieder aufzunehmen. Die ÖVP sprach sich im Juli 1997 für den Beitritt Österreichs zur NATO aus, Meinungsumfragen zeigten eine etwas positivere Sicht der NATO. Als im April 1998 der US-Senat über den Beitritt Polens, Tschechiens und Ungarns zur NATO abstimmte, war die große Mehrheit der Senatoren dafür. Ein Teil wollte aber ein Moratorium von drei Jahren für weitere NATO-

7 Siehe: Paul Luif, On the Road to Brussels: The Political Dimension of Austria’s, Finland’s and Sweden’s Accession to the European Union, Vienna–West Lafayette, in: Braumüller–Purdue University Press, 1995. 8 Siehe dazu den Leitartikel in „Die Presse“ vom 10.6.1994: Universitäts-Prominenz kämpft für Europa. 55 Professoren rufen zu Ja auf.

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Beitritte. Dagegen sprach sich Senator Joe Biden erfolgreich aus, indem er sich auf Österreich bezog: In fact, Austrian public opinion is already changing. Earlier this month when the Austrian public was informed of NATO’s Article 5 guarantees, for the first time in a national poll a majority of Austrians said that Austria should abandon its neutrality and join NATO. So if the Austrian government decides to follow public opinion, would we then want to tell the Austrians, “Sorry, no applications accepted until the year 2002?”9 Aber es kam zu keiner Änderung der österreichischen Position, die SPÖ lehnte sogar den Vorstoß der ÖVP für eine NATO-Option (ohne unmittelbaren Beitritt) im sogenannten „Optionenbericht“ ab (März 1998). Bei dieser Ablehnung spielte wahrscheinlich der auch in der SPÖ weitverbreitete Anti-Amerikanismus eine Rolle.10 Die österreichische Neutralität hatte aber praktisch alle ihre außenpolitischen Funktionen verloren. In einem Artikel in englischer Sprache schrieb ich daher vom „demise“ (Ableben) der österreichischen Neutralität; im letzten Absatz dieses Artikels fügte ich aber auf Deutsch hinzu: „Totgesagte leben länger.“11 Und so war es auch. Die ÖVP-FPÖ-Regierung unter Wolfgang Schüssel wollte zu Beginn der 2000er-Jahre, ähnlich wie in Schweden und Finnland, den Begriff Neutralität durch „Bündnisfreiheit“ ersetzen. Außenministerin Benita FerreroWaldner sprach sich in einem Buch 2002 für den Beitritt Österreichs zur NATO aus. Die Irak-Krise im Frühjahr 2003 führte aber zu einer „Wie-

9 Congressional Record. April 30, 1998 (Senate), page S3841. Siehe dazu Details im in Fußnote 6 zitierten Artikel, S. 300–301. 10 Die niederländische Journalistin Caroline de Gruyter meint gar „Kein Land in Europa ist so anti-amerikanisch wie Österreich“; in Das Habsburgerreich – Inspiration für Europa?, Böhlau, Wien-Köln 2022, S. 113. 11 Austria’s Permanent Neutrality – It’s Origins, Development, and Demise, in: Günter Bischof/ Anton Pelinka/Ruth Wodak (eds.), Neutrality in Austria, New Brunswick, NJ–London: Transaction, 2001 (= Contemporary Austrian Studies, Volume 9), S. 129–159. Dieser Artikel wird noch heute am Air War College in Montgomery, Al, regelmäßig in einem Kurs „assigned“; E-Mail Prof. Günter Bischof, New Orleans, 14.12.2022.

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derentdeckung“ der Neutralität. Österreich verbot die Verlegung von USTruppen per Eisenbahn aus Deutschland nach Italien. Beim Bundespräsidenten-Wahlkampf im April 2004 betonte der Kandidat der SPÖ, Heinz Fischer, die Neutralität besonders. Wegen der Popularität der Neutralität sprach sich seine Konkurrentin, Ferrero-Waldner, nun auch gegen einen NATO-Beitritt aus. Eine Journalistin des (später eingestellten) englischsprachigen Dienst des ORF zitierte mich folgendermaßen: The Austrian government’s defence of neutrality might win the voters at home, but experts such as Paul Luif predict it, will not win them many allies within the EU.12 Die Neutralität hat also auch „opportunity costs“, also Kosten, die bei einer Entscheidung für eine Alternative durch die Ablehnung anderer Alternativen anfallen. Wer sind Österreichs Partner in der EU? Die von den EU-14 Anfang 2000 gegen die demokratisch gewählte österreichische Bundesregierung ergriffenen „Maßnahmen“ zeigten deutlich auf, dass Österreich ohne enge Zusammenarbeitspartner in der EU war. Außenministerin Ferrero-Waldner schlug daraufhin eine „Regionale Partnerschaft“ vor, welche neben den vier Visegrád-Staaten auch Österreich und Slowenien umfassen sollte. Wie schon erwähnt, entdeckte ich bei der Analyse von Schweden und Finnland die Bedeutung der Zusammenarbeit kleinerer EU-Staaten bei den EU-Entscheidungsprozessen. So wollte ich auf wissenschaftliche Weise den österreichischen Entscheidungsträgern diesbezüglich Anregungen geben. Eine erste Aktivität in diese Richtung war die Tagung über „Regionale Sicherheitspolitik. Polnische und österreichische Erfahrungen im zentraleuropäischen Raum“, die ich mit meinem Institut, dem Österreichischen 12 Sarah Johnson, Has Neutrality become a dirty word within the EU? Insight Central Europe, 12.12.2003 [http://www.incentraleurope.com/ice/issue/48491, abgerufen 5.8.2011 [diese Website existiert nicht mehr].

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Institut für Internationale Politik (oiip), und dem Polnischen Institut Wien sowie mit Unterstützung der Stadt Wien und der Diplomatischen Akademie im Oktober 2000 organisierte. Dann gab ich Anfang 2003 (auf Basis einer Tagung im November 2001) ein Heft der Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft heraus, in dem aus verschiedenen Blickwinkeln die Bedeutung der „subregionalen“ Zusammenarbeit (also der Kooperation von Untergruppen der EUMitgliedsstaaten) beleuchtet wurde. Darin publizierte ich einen Artikel zur Regionalen Partnerschaft gemeinsam mit einer tschechischen Kollegin und einem ungarischen Kollegen. Damals war aber schon klar, dass sie jedenfalls nicht an die Stelle der Visegrád-Zusammenarbeit treten wird.13 Im Oktober 2004 gratulierte ich in einem Brief Ursula Plassnik zur Bestellung zur österreichischen Außenministerin. Da sie offensichtlich die „Regionale Partnerschaft“ als einen ihrer Schwerpunkte in der Außenpolitik vorsah, schickte ich ihr eine Kopie des eben erwähnten Artikels zur „Regionalen Partnerschaft“ und bot ihr an, sie in Fragen der österreichischen Außenpolitik mit wissenschaftlicher Expertise zu unterstützen. Auf dieses Anbot kam Ministerin Plassnik jedoch nie zurück. Schließlich organisierte ich im Dezember 2006 am oiip in Wien eine Konferenz zu „Central Europe in the European Union. The Experiences of Austria and the New Member States“. In dieser Konferenz sollten die österreichischen Beamten ihr in den EU-Entscheidungsprozessen erworbenes Know-how den mitteleuropäischen Partnern vermitteln. Tatsächlich kamen aus allen Staaten der Regionalen Partnerschaft hohe und höchste Beamte. Einzig das österreichische Außenministerium war schwach vertreten. Ein Gesandter erklärte anhand einer Publikation der Bundeswirtschaftskammer die wirtschaftlichen Vorteile der EU-Mitgliedschaft, ohne aber auf den Entscheidungsprozess in der EU einzugehen. Aus der Integrations-Sektion des österreichischen Außenministeriums sprach dann eine Botschafterin über ihre Erfahrungen in den EU-Prozessen; leider musste sie nach einigen Fragen wieder in das Amt zurückgehen. Der von mir gedachte Austausch der 13 László J. Kiss/Lucie Königova/Paul Luif, Die „Regionale Partnerschaft“: Subregionale Zusammenarbeit in der Mitte Europas, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, 32. Jg., 1/2003, S. 57–75.

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Österreicher mit den Beamten der mitteleuropäischen Staaten kam nicht zustande. Die Beamten des Außenministeriums hatten für ein Treffen vor Ort keine Zeit, im Gegensatz zu ihren Partnern in Mitteleuropa, die anreisen mussten. Das Lebensministerium beauftragte mich dann, eine Studie über „Die Zusammenarbeit in Mitteleuropa als Element der österreichischen EU-Politik“ zu erstellen. Das Ministerium war interessiert, ob und wie die Zusammenarbeit in Mitteleuropa für die Umweltpolitik genützt werden könnte. In Interviews zeigten Beamte der Nachbarstaaten deutliches Interesse an einer Zusammenarbeit mit Österreich. Bei der Analyse von empirischen Untersuchungen musste ich jedoch feststellen, dass Österreich neben Irland und Slowenien 2006 keine engen Zusammenarbeitspartner in der EU ­hatte.14 Unter dem Titel „Österreich in der EU – Mittendrin oder nur dabei?“ sollte ich am 30. November 2007 die Ergebnisse meiner Analyse im Gobelinsaal des Lebensministeriums vorstellen. Die Einladungen dazu waren schon gedruckt worden, als einen Tag vor der Präsentation diese Veranstaltung auf Intervention des Außenministeriums abgesagt werden musste. Das Außenministerium hatte offensichtlich kein Interesse an den Ergebnissen dieser wissenschaftlichen Analyse. Es war daher auch nicht verwunderlich, dass die „Regionale Partnerschaft“ schließlich nie wirklich effektiv werden konnte. Sie war kein Ersatz, ja nicht einmal eine Ergänzung der Visegrád-Zusammenarbeit. Wegen Erfolglosigkeit beendete Außenminister Michael Spindelegger (ÖVP) 2011 diesen missglückten Kooperationsversuch. Die österreichische Diplomatie hat der engen Zusammenarbeit mit den Nachbarn offenbar geringe Bedeutung zugewiesen. In einem Buch mit Interviews von erfahrenen Beamten des Außenministeriums spricht sich nur ein Gesprächspartner explizit für Österreichs Beitritt zur Visegrád-Gruppe aus, nämlich der Leiter der Diplomatischen Akademie, Emil Brix.15 Nach Botschafter Johann Sattler wird durch eine aktive Nachbarschaftspolitik in

14 Vgl. Daniel Naurin, Network Capital and Cooperation Patterns in the Working Groups of the Council of the EU, European University Institute, Florence 2007, S. 16. 15 Franz Cede/Christian Prosl (Hg.), Diplomaten im Dialog. Zeitzeugnis einer Generation, Jan Sramek Verlag, Wien 2021, S. 11.

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Mitteleuropa die Position Österreichs in der EU gestärkt. Er erwähnt dabei aber nicht die Visegrád-Gruppe.16 Im Gegensatz dazu hat das Außenministerium etwa für den ­Bereich der Abrüstung erhebliche Ressourcen bereitgestellt. Besonders aktiv – in Zusammenarbeit mit „progressiven“ Staaten – agierte Österreich beim Atomwaffenverbotsvertrag (Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons). Öster­reich war dafür prädestiniert, verbietet doch das Bundesverfassungsgesetz für ein atomfreies Österreich aus 1999 sowohl Atomwaffen (daher kein NATO-Beitritt) als auch Kernspaltung in Österreich. Dieses Gesetz wurde vor allem auf Betreiben von schon in den 1980er-Jahren aktiven NGOs durchgesetzt. Zur Vorbereitung der Verhandlungen über den Atomwaffenverbotsvertrag wurde vom Außenministerium (unter Außenminister Sebastian Kurz, ÖVP) im Dezember 2014 ein „Strategiegespräch“ zur Frage „Wem nützen Nuklearwaffen heute?“ veranstaltet. Ich wollte in der Diskussion als Warnung auf die ideologische Vereinnahmung der nuklearen Abrüstung von Anfang der 1980er-Jahre hinweisen. Ein Podiumsteilnehmer, Prof. Heinz Gärtner, wies diese Bedenken zurück, denn die Proteste wären damals nicht von den Kommunisten dominiert worden. Intensive Bemühungen österreichischer Diplomaten führten schließlich gemeinsam mit Irland, Mexiko, Südafrika, dann auch mit Neuseeland, Thailand, Indonesien, Brasilien und Costa Rica zur Ausarbeitung des Atomwaffenverbotsvertrags.17 Er trat im Januar 2021 in Kraft, nachdem ihn 50 Staaten ratifiziert hatten. In Europa ratifizierten diesen Vertrag (Stand 1. 1. 2023, https://treaties.unoda.org/t/tpnw) neben Österreich und dem Heiligen Stuhl jedoch nur Irland und Malta! Österreich hatte in dieser außenpolitischen Frage praktisch ohne Bündnispartner in der EU agiert – eigentlich vollkommen außerhalb der EU, außerhalb der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Abstrakt kann man von einem „Erfolg“ Öster­reichs sprechen, doch was bedeutet das bezüglich der Stellung Öster-

16 Ebenda, S. 265. 17 Siehe Details dazu bei Alexander Kmentt, The Treaty Prohibiting Nuclear Weapons. How it was Achieved and Why it Matters. Routledge, London-New York 2021.

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reichs in der EU? Sind nur Irland und Malta die Staaten, mit denen Österreich in der EU eng zusammenarbeiten kann? Der Beitrittsantrag von Finnland und Schweden bei der NATO hat die Problematik der Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU deutlich aufgezeigt und die Stellung Österreichs als neutralen Staat in der EU weiter geschwächt. Gerade dieser Status hat die Kontakte mit seinen mitteleuropäischen Nachbarstaaten, die alle NATO-Mitglieder sind, erschwert. Denn der Sicherheitsbereich im weiteren Sinn ist ein wichtiger Aspekt der mitteleuropäischen Zusammenarbeit. Österreich wird nicht umhinkommen, sich weiter den Visegrád-Staaten anzunähern. Die Kooperation etwa im Slavkov/Austerlitz-Format ist sinnvoll, wird aber von Tschechien und der Slowakei nur als Ergänzung der Visegrád-Gruppe angesehen.18 Will Österreich ein voll funktionsfähiger EU-Staat sein, wird sich, so paradox dies erscheint, eine NATO-Mitgliedschaft kaum vermeiden lassen. Die Ablehnung der Visegrád-Zusammenarbeit durch österreichische Kommentatoren bezieht sich meist auf „Orbán“. Wäre „Orbán“ das Pro­ blem, hätten etwa Tschechien und die Slowakei die Visegrád-Zusammenarbeit schon längst aufgekündigt. Bei Visegrád geht es nicht um die Übernahme der „Orbán“-Ideologie durch die Partner, sondern die wirkliche Bedeutung von Visegrád liegt im kontinuierlichen, vertrauten Austausch von Informationen zwischen den Beamten aller Ministerien in diesen Staaten. Damit können die Staaten der Visegrád-Gruppe trotz beschränkten Ressourcen die Entscheidungsprozesse in Brüssel besser einschätzen. Manchmal wird das zu einem gemeinsamen Vorgehen der Staaten führen, oft aber auch nicht, was der Visegrád-Zusammenarbeit keinen Abbruch tut. Als mitteleuropäischer Staat sollte sich Österreich nicht von den Vorteilen enger Kooperation mit den Nachbarstaaten ausschließen. Da „Brüssel“ wenig Verständnis für Mitteleuropa zeigt, wäre hier auch eine Brückenfunktion Österreichs dringend erforderlich

18 „Austerlitz soll Visegrád nicht ersetzen, sondern ergänzen“, so der tschechische Vizeaußenminister Petr Drulák im Gespräch mit dem „Standard“, 11. Mai 2015.

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Stefan Karner

Russlands Krieg in der Ukraine und seine Folgen* In der Ukraine tobt nun schon ein Jahr lang ein Krieg, der am 24. Februar 2022 von Russland mit einer militärischen „Spezialoperation“ völkerrechtswidrig begonnen wurde – unter dem Prätext: Sicherheit (Stichwort NATO-Osterweiterung) und Ausmerzung eines postulierten ukrainischen Faschismus. Die Kriegsziele blieben unklar. Die „Spezialoperation“ wurde bald zu einem Krieg gegen die westlichen Werte, gegen die EU, weil sie als eine Vorstufe zur NATO gesehen wird, ein Krieg auch gegen die Westöffnung Russlands und in letzter Konsequenz gegen die russische Kultur selbst. Seine Folgen sind dramatisch: Millionen Flüchtlinge, Tausende Tote Soldaten und Zivilisten auf beiden Seiten, Millionen traumatisierter Frauen und Kinder, viele Milliarden Kriegsschäden, Sanktionen, Embargos; Öl, Erdgas und Getreide als Waffen, unterbrochene Lieferketten, Misstrauen und Hass zwischen den beiden, eng verzahnten Brudervölkern, schließlich ein Kollaps der weltpolitischen Ordnung im Parallelogramm USA – Russland – China – EU. Und der Krieg wird fortgesetzt – niemand kann heute vorhersagen, wann und in welcher Eskalation.

* Der Beitrag entspricht dem Text der Rede bei der „Vienna Airport Business Night“ am 9. Juni 2022. Vgl. auch: Stefan Karner, Der ganzen Welt stehen extreme Veränderungen bevor, in: Wiener Zeitung v. 30.6.2022.

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In der Ukraine tobt nun schon ein Jahr lang ein Krieg, der am 24. Fe­bruar 2022 von Russland mit einer militärischen „Spezialoperation“ völkerrechtswidrig begonnen wurde – unter dem Prätext: Sicherheit (Stichwort NATO-Osterweiterung) und Ausmerzung eines postulierten ukrainischen Faschismus. Die Kriegsziele blieben unklar. Die „Spezialoperation“ wurde bald zu einem Krieg gegen die westlichen Werte, gegen die EU, weil sie als eine Vorstufe zur NATO gesehen wird, einem Krieg auch gegen die Westöffnung Russlands und in letzter Konsequenz gegen die russische Kultur selbst. Seine Folgen sind dramatisch: Millionen Flüchtlinge, Tausende Tote Soldaten und Zivilisten auf beiden Seiten, Millionen traumatisierter Frauen und Kinder, viele Milliarden Kriegsschäden, Sanktionen, Embargos; Öl, Erdgas und Getreide als Waffen, unterbrochene Lieferketten, Misstrauen und Hass zwischen den beiden, eng verzahnten Brudervölkern, schließlich ein Kollaps der weltpolitischen Ordnung im Parallelogramm USA – Russland – China – EU. Und der Krieg wird fortgesetzt – niemand kann heute vorhersagen, wie lange und in welcher Eskalation. Die Vorgeschichte des Krieges wird immer wieder als Erklärungsansatz bemüht: Die gemeinsamen Wurzeln beider Völker in der Kiewer Rus vor 1.000 Jahren. Ihre Christianisierung durch Fürst Wladimir 988. Die fast 300-jährige Besetzung nahezu des gesamten Raumes durch die Mongolen, die behauptete Stellung Moskaus als „Drittes Rom“, die Übernahme des Patriarchats von Vladimir und das Sammeln ostrussischer Fürstentümer in seinem autokratischen Fürstentum unter den Rjuriken. Die Unterstellung großer Teile des ukrainischen Gebietes unter das Königreich PolenLitauen, später (im Hetmanat) die Unterstellung der Ostukraine unter den Romanow-­Zar in Moskau. Die Öffnung Russlands über St. Petersburg und Zar Peter d. Gr., die Eroberungen der südrussischen Gebiete, inklusive der Krim, im 18. Jahrhundert durch Peter d. Gr. und Katharina II. Schließlich ebenfalls Ende des 18. Jahrhunderts die Teilung des verbliebenen ukrainischen Raumes von Polen-Litauen auf Russland, Österreich und Preußen. Das Ende des Ersten Weltkriegs im russisch-ukrainischen Raum 1917 und die kurzzeitigen unabhängigen ukrainischen Republiken, schließlich die Räterepublik Ukraine, die sich 1922 mit drei anderen Räterepubliken (Russland, Weißrussland und Transkaukasien) zur Sowjet-(Räte-) Union vereinigte. Der Holodomor, von Stalin bewusst gegen die bäuerli-

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che Klasse, v. a. in der Ukraine eingesetzt, mit fünf Millionen verhungerten Menschen, die Bandera-Bewegung für eine unabhängige Ukraine, die Ukrainische Befreiungsarmee und die westukrainische SS-Division „Galizien“, die im Zweiten Weltkrieg – gemeinsam mit anderen – gegen die Rote Armee kämpfte, ein örtlich bis Anfang der 1950er-Jahre währender westukrainischer Freiheitskampf gegen die Oberhoheit Moskaus, und schließlich 1954 Chrusch­tschows „Krim-Schenkung“ an die Ukraine; die starke politische und wirtschaftliche Bindung und Integration der Ukraine in die Sowjetunion. Die Ukrainer Breschnjew und Schelest waren herausragende sowjetische Politiker, die ukrainische Industrie und Landwirtschaft galt als Rückgrat der sowjetischen Volkswirtschaft, besonders auf dem Energie- und Agrarsektor. Die familiären, kulturellen und kirchlichen Bande zwischen Russland und der Ukraine sind ungemein eng. Millionen Ukrainer und Russen leben im jeweils anderen Staat. Mit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 wurde die so stark in das Imperium integrierte Ukraine ein selbstständiger Staat, was sie in diesen Grenzen zuvor nie gewesen war. Auch die 1954 der ukrainischen Sowjetrepublik zugeschlagene Halbinsel Krim wurde nun staatsrechtlich ein Teil der neuen ukrainischen Republik. „Sie wollen nicht mit Russland in einer Union leben? Dann gehen Sie, aber geben Sie uns die Krim und das Donbass zurück!“ so der Pressesprecher von Boris Jelzin 1991, als die Sowjetunion zerfiel. Ähnlich dachten Alexander Solschenizyn oder die Oberbürgermeister von Moskau (Gawrill Popow) und St. Petersburg (Anatolij Sobtschak), letzterer ein Förderer Putins. Beide verlangten, falls sich die Ukraine von Russland trenne, müsse über Grenzen neu verhandelt werden. Eine Erklärung der russischen Duma für eine Wiedervereinigung der Krim mit Russland hatte mehr deklaratorischen Charakter, wurde jedenfalls von Jelzin nicht weiterverfolgt Im Budapester Vertrag trat die Ukraine 1994 ihre Atomwaffen an Russland ab und erhielt dafür, garantiert von den USA, Russland und Großbritannien, sichere Grenzen, einen Gewaltverzicht und das Recht „Ver­tragspartei eines Bündnisses zu sein […] und das Recht auf Neutralität“. Sanktionen bei Vertragsverletzung fehlten allerdings ebenso, wie es klar war, dass die Ukraine den Schlüssel zum Atomarsenal nicht hatte. Dieser lag in Moskau.

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Mithilfe der EU und der USA schwenkte die Ukraine daraufhin auf einen prowestlichen Kurs ein; deutlich zeigte sich dies in der „Orangenen Revolution“ zehn Jahre später. Parallel dazu wurde die NATO „step by step“ nach Osten erweitert, entgegen allen Warnungen von „roten Linien“, die regelmäßig aus Moskau kamen, etwa schon 1997 durch Außenminister Ewgenij Primakow. Jelzin, der in der Frage neuer Grenzen, besonders der Krim, für ein behutsames Vorgehen eingetreten war, übergab am 1. Jänner 2000 die Präsidentschaft an Ministerpräsident Wladimir Putin, einen ehemaligen KGBOffizier. Dieser war im Westen, trotz erster nationalistischer Gesten und Attitüden im Inneren (alte Sowjethymne), des brutal geführten zweiten Tschetschenienkriegs mit der Zerstörung von Grozny, seines Kampfes gegen unbotmäßige Oligarchen und einer konsequent verfolgten Medienpolitik zu seinen Gunsten, ein gern gesehener Gast und weltweit willkommen. So trat Putin bereits 2001 im Deutschen Bundestag auf und erhielt Standing Ovations von den Fraktionen, als er „in der Sprache von G ­ oethe, Schiller und Kant“ vorschlug, Europa könne seine eigenen Möglichkeiten mit den russischen menschlichen, territorialen und Naturressourcen, mit den Wirtschafts-, Kultur- und Verteidigungspotenzialen Russlands vereinigen, um zu einer Weltmacht aufzusteigen. Was Jelzin in den zehn Jahren seiner Präsidentschaft nicht gelungen war, schaffte Putin: Russland war zurück auf der Weltbühne. Allerdings gelangen ihm keine bedeutenden Verträge mit der EU, selbst ein Beitritt zur WTO zog sich hin, ganz zu schweigen von seinem Projekt eines Handelskorridors zwischen dem Pazifik und dem Atlantik, quer durch Sibirien und Europa. Dem Schulterschluss mit dem deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder unter dem Prätext der Bekämpfung des Terrorismus sollte auch einer mit der EU und mit den USA folgen. Mitnichten. Auch dies gelang ihm nicht. Daraufhin drehte Putin seine außenpolitische Strategie und verlegte sich auf bilaterale Einzelverträge, was ihm die lahme EU auch erleichterte. Akzeptiert wurde nicht selten, salopp gesagt: „Demokratie“ und Menschenrechte im Eintausch gegen Energie. Nur ein Jahr nach dem „1. Majdan“ erwog Russland erstmals, Erdgas als Waffe gegen die Ukraine und gegen die EU einzusetzen. Ich erinnere mich gut an das viersstündige Arbeitsgespräch zu „EU-Russland“ zwischen

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Bundeskanzler Wolfgang Schüssel und Putin am 5. Dezember 2005, als im Vorfeld der österreichischen EU-Präsidentschaft eine sehr breite Palette von Themen zwischen der EU und Russland besprochen wurde und dabei gerade die Fragen um das russische Gas und Öl, die Pipelines South- und Northstream einen breiten Raum einnahmen. Tatsächlich wurde Bundeskanzler Schüssel am 1. Jänner 2006, während des Neujahrskonzertes, mit der plötzlichen Halbierung der russischen Gaslieferungen nach Baumgarten konfrontiert. Das Problem konnte schnell gelöst werden, das Gas floss weiter – in den nachfolgenden Jahren durch das Engagement der OMV und deutscher Konzerne immer stärker – und führte zu einer hohen Abhängigkeit vieler Staaten vom russischen Gas, darunter besonders auch von Österreich,. Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 in München schockte zwar, zeitigte aber keine grundlegende Kurskorrektur des Westens. Bezugnehmend auf den antibolschewistischen Philosophen Iwan Iljin hatte Putin darin die „monopolare“ USA kritisiert und klargestellt, unter seiner Führung werde sich Russland mit der verlorenen Rolle als Weltmacht nicht mehr abfinden. Die Äußerung Putins im selben Jahr, der Zerfall der Sowjetunion wäre das größte Unglück des 20. Jahrhunderts gewesen, passte in diese Richtung. Dazu kamen zwischen 2002 und 2010 die verschiedenen Vorstöße einzelner NATO-Mitgliedsstaaten zu einem Membership Action Plan für die Ukraine. Sie wurden vor allem wegen der strikten Weigerung Deutschlands, der Frage Georgien sowie der inneren Spannungen in der Ukraine zwischen den einzelnen Parteien und den drei ukrainischen Präsidenten dieser Jahre nicht auf Schiene gebracht. 2013 sollte das Assoziierungsabkommen Ukraine-EU in Vilnius unterzeichnet werden. Noch in der Nacht zuvor machte Ministerpräsident Viktor Janukowitsch, offenbar auf Druck Moskaus, eine 180-Grad-Wendung und unterzeichnete das fertige Papier nicht. Es folgte der 2. Majdan – zunächst eine Demonstration für Europa, bald schon gegen Russland, mitgetragen auch von ultranationalistischen, offen faschistischen Trupps. Auch die Überlegungen einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine stießen in Moskau auf starken Gegenwind (Membership-Action Plan, MAP), vor allem 2008. Wäre dieser MAP damals verwirklicht worden, in einer Phase, als die Ukraine militärisch und innenpolitisch viel, viel schlechter aufgestellt

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gewesen war, als sie es Anfang 2022 war, so hätte Putin vermutlich noch viel früher militärisch reagiert. Am 28. Februar 2014 wurde die Krim von Russland besetzt, bald darauf stimmten über 90 Prozent der Krim-Bewohner für den vollzogenen Anschluss, riefen Separatisten die Volksrepubliken Lugansk und Doneck aus. Es folgten Sanktionen gegen Russland, die bald von vielen EU-Mitgliedern gemildert werden wollten; Putin wurde vom G8-Gipfel ausgeschlossen usw. Hätte man mehr machen können/sollen? Gleichzeitig gab es ab 2014 im Donbass erbitterte Kämpfe zwischen den Separatisten, unterstützt von Russland, und der ukrainischen Armee. Der Waffenstillstand vom September 2014 (Minsk I) hielt ebenso wenig wie das Minsker Abkommen II (2015), das die Ukraine nicht umsetzen konnte oder wollte, hätte sie auf diese Weise doch auf die russisch-besetzten Gebiete ihres Territoriums verzichten müssen. Auch im Normandie-Format lief nichts mehr. Die Nordstream-II-Erklärung Bidens und der NATO, vor allem von Deutschland, sollte im Sommer 2021 klar machen, dass auch weiterhin Gas durch die Ukraine gepumpt wird und dass, im Falle Erdgas als Waffe eingesetzt wird, Nordstream II disponabel ist. Im Hintergrund halfen die NATO und die USA der Ukra­ine logistisch und auch militärisch. Russland restaurierte nach 2014 die Krim, verbesserte die Infrastruktur und die touristischen Einrichtungen und errichtete eine riesige Brücke, um zu Land direkt zur Halbinsel zu gelangen. Weit über 10.000 Tote auf beiden Seiten und über eine Million Flüchtlinge forderten die Kämpfe in der Ostukraine zwischen 2014 und dem 24. Februar 2022. Noch 2021 versuchte etwa Angela Merkel, teils gemeinsam mit Emmanuel Macron, in einen Dialog EU-Russland zu kommen. Das gelang vor allem wegen Uneinigkeit in der EU nicht. Die versuchte Appeasement-Policy war letztlich gescheitert. Putin begann den Krieg. Die weitere Entwicklung der vergangenen Monate ist allgemein bekannt. Was heißt dies alles geopolitisch und für Österreich? Die Haupt-Verlierer des Krieges, wann immer er endet, stehen schon jetzt fest: Russland, die Ukraine, vor allem aber Europa. Es sieht danach aus, dass es eine diplomatische Lösung erst nach einer Entscheidung auf dem Schlachtfeld geben wird. Ein Kompromiss ist derzeit nicht in Sicht, weil ihn noch keine Seite wirklich will, noch keine Seite ermattet ist, die Kriegsziele nicht erreicht scheinen, kein Systemwechsel absehbar und keine Seite eine

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deutliche konventionelle Übermacht hat. Dabei wäre ein vorzeitiger Ausstieg aus einem Krieg nicht immer eine Kapitulation, wie der finno-russische Krieg 1940 zeigt. Karelien ging für Finnland zwar verloren, doch Stalin hatte sein Ziel, die Besetzung von ganz Finnland, letztlich nicht erreicht. Eine Hauptfrage ist derzeit, ob man der Ukraine weiterhin Waffen, Ausrüstung und Geld liefern soll, um sie kriegsfähig, jam, um sie am Leben zu erhalten. Demgegenüber steht das ethisch-moralische Postulat, solange die Ukraine gewissermaßen einen „gerechten“ Abwehrkampf führt, ihr auch die Hilfsmittel dafür zu geben. Zu fragen ist allerdings, wann aus dem moralisch gerechtfertigten Abwehrkampf ein regulärer Krieg wird. Diesen gilt es zu verhindern. Ich erinnere an John F. Kennedy, der 1961 auf dem Höhepunkt der Berlin-Krise klar aussprach: „A Wall is better than a War“ oder das besonnene Zurückweichen Chruschtschows und Kennedys in der Kuba-Krise 1962. Wenn immer wieder erklärt wird, Putin habe sich durch seinen Angriffskrieg drei Probleme eingehandelt, nämlich eine relativ starke Geschlossenheit der EU, die NATO-Erweiterung im Norden und eine Abkehr vom Pazifismus in Deutschland, so greift dies zu kurz. Extreme Veränderungen für die ganze Welt stehen bevor. Das globale BIP wird deutlich schwächer werden. Die Möglichkeiten, das globale Hauptproblem, die sich abzeichnende Klimakatastrophe, zu mildern, wird schon deshalb sinken, weil die Primärbedürfnisse der Menschen zuerst gedeckt werden müssen. Die geschrumpfte Weltwirtschaft, die Klimaund Energiekrisen könnten zu weltweiten sozialen Krisen, Massenarbeitslosigkeit und zu Hunger in den Entwicklungsländern führen. Die Stellung Europas in der Welt wird stark abnehmen, militärisch und ökonomisch. Europas Anteil am ohnehin schwachen globalen BIP wird sich jenem vor der Industriellen Revolution nähern. Das heißt, wir Europäer werden ärmer und im Weltmaßstab bedeutungsloser werden. Ein „9/11“ für Europa? Spätestens mit diesem Krieg und der Schwächung Russlands und des Westens wird das kommunistische China zur wirtschaftlichen Nummer eins in der Welt aufsteigen. Bereits heute hat das Reich der Mitte mit 18,6 Prozent den höchsten Anteil am globalen BIP. Ein Bündnis von Russland und China kann für Westeuropa und die USA zu einem Mega-Problem werden: wirtschaftlich, strategisch und geopolitisch, auch im Hinblick auf Taiwan.

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Die Abhängigkeit der USA, aber vor allem Westeuropas von China hat ein Ausmaß angenommen, das jenes von Russland um ein Vielfaches übersteigt. Wer wird China bremsen, wenn es sich im benachbarten Kirgistan, in der Mongolei, in Afrika oder in Europa weiterhin und verstärkt festsetzt? Kriegsfolgen wie die Nahrungsmittelkrise, vor allem auf dem afrikanischen Kontinent, und die enormen Migrantenströme (derzeit vor allem aus der Ukraine) sind täglich sichtbare Auswirkungen des Krieges. Der Krieg verheert die Wirtschaft der Ukraine. Umfangreiche Hilfen des Westens, monatlich rund 4–5 Milliarden Dollar, verhindern derzeit ihren völligen Zusammenbruch. Noch sind die westlichen Gesellschaften und Staaten bereit, diese Beträge zu schultern. Das monatliche Budgetdefizit der Ukraine beträgt rund fünf Milliarden Dollar, d. h. etwa ein Viertel der gesamten Wirtschaftsleistung des Landes. Ein Drittel der Straßen und Bahnlinien, unzählige Brücken sind zerstört, große Städte im Osten des Landes sind Ruinen. Ein Wiederaufbau wird riesige Beträge verschlingen. Oleg Ustenko, Wirtschaftsberater Selenskyis, nannte 1 Billion Dollar. Eine Hausnummer, ja, doch die Richtung dürfte stimmen. Auch Russland, die zweitgrößte Atommacht der Welt, das größte Land der Erde, wird schwer durch den Krieg betroffen, auch wenn die Einnahmen dank des Öl- und Gasmarktes noch sprudeln, Verkäufe, vor allem in den asiatischen Raum teilweise den Ausfall Westeuropas kompensieren, das Budget für 2022 – dank der großen Geldreserven – gesichert scheint, der Rubel trotz des Krieges keinen extremen Einbruch erlitten hat und die russische Nationalbank dem Finanzembargo sehr geschickt ausweichen konnte. Dennoch schon mittelfristig wird der Krieg wegen der westlichen Sanktionen und Embargos die langfristigen Probleme der russischen Wirtschaft weiter potenzieren: ihre Grundstofflastigkeit, den Abfluss von Man Power und von Know-how in den Westen, den Rückgang der Bevölkerungszahlen, die Ausdünnung und Verödung Sibiriens, das geringe Vertrauen der Menschen in die eigene Produktion, etwa auch von Autos: An die 99 Prozent der Pkws in Russland sind heute ausländischer Herkunft. Die Forschung wird von der internationalen Entwicklung abgekoppelt sein. Ein Hauptopfer des Krieges wird auch die russische Welt („russkij mir“) sein – diese große Kultur, Wissenschaft, Literatur und Musik. Und es

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wird vielleicht zwei Generationen dauern, bis der Hass des Krieges zwischen den beiden Brudervölkern abgebaut werden kann. Der russische Historiker Michail Kowaljow schrieb vier Tage nach Kriegsbeginn an die weltweite Historiker-Community: „Der Krieg wird die Schimäre der Russophobie wieder aufleben lassen. Er wird die Russen und Ukrainer auf zwei verschiedene Seiten teilen.“ Das russische Gas und Öl wird in den nächsten Jahren andere Wege finden, v. a. nach China und Indien, während sich Europa viel teurere Energie aus den USA, Norwegen und aus dem arabischen Raum – dort mit allen Sicherheitsrisiken und mitunter ökologisch ebenso bedenklich – besorgen muss. Von Österreich, das der Ukraine bislang eine beachtliche humanitäre Hilfestellung gegeben hat, verlangt die Krise, unabhängig davon, wie lange der Krieg noch dauern wird, radikale Einschnitte, vor allem in der Wirtschafts- und Sicherheitspolitik. Die Politik und die Medien werden deutlich erklären müssen, dass Sicherheit ihren Preis hat und von jedem Österreicher Einschränkungen erfordern wird. Ja, dass auch der gewohnte Lebensstandard darunter leiden wird, dass besonders der Mittelstand davon betroffen sein wird. Dazu gehört auch eine ergebnisoffene Debatte über unsere Neutralität ebenso wie eine sichtbare und effiziente Stärkung unseres Bundesheeres. Gerade die letzten Monate haben die Schwachstellen der österreichischen Wirtschaft noch deutlicher gemacht: Auslandsabhängigkeit, enorme Produktionsdefizite, Facharbeitermangel. Die zuletzt wieder aufgenommene aktive außenpolitische Mittlerrolle muss weiterentwickelt werden. Denn die multiplen Krisen bedeuten schwere Zeiten für die heimische Wirtschaft. Schon COVID hat sie etwas aus dem Takt gebracht, die Auslandsabhängigkeit ist gravierend und muss in vielen Bereichen verringert werden, der Ukraine-Krieg beschleunigt die Spirale weiter. Im Hintergrund steht als Menetekel an der Wand die sich abzeichnende Klimakatastrophe, der Österreich im globalen Maßstab zwar wenig entgegensetzen kann, doch kann es durch die notwendigen Maßnahmen für andere, große Staaten beispielhaft wirken und in wesentlichen Bereichen (wie Wald, Böden, Mikroklima oder Abwässer) für das eigene Land umweltschützend sein. Im März 2022 lagen die Konjunkturprognosen von WIFO und IHS noch moderat bei 3,9 Prozent. Doch seither werden sie Monat für Monat

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schlechter, liegen derzeit bei 1,4 Prozent. Selbst im Vergleich zum Durchschnitt der EU könnte unser BIP jährlich etwas schwächer wachsen: Wegen der enorm hohen Abhängigkeit von Importen aus China (verbunden mit Lieferengpässen), von russischem Gas und der wachsenden Migrantenströme. Gleichzeitig könnte die heimische Investitionsfreudigkeit, etwa am Bau, deutlich zurückgehen und die Inflation stark steigen. Sechs Prozent im Jahresschnitt sind aus heutiger Sicht zu erwarten – mit den entsprechenden Auswirkungen für Kredite, Löhne und Preise oder auch für Immobilien. Jede Krise hat auch Chancen, mit neuen Ansätzen gegenzusteuern. Österreich wird wieder verstärkt auf eigene Produktionen in der Grundstoff- und Finalproduktion, weitgehende Autarkie bei Energie setzen. Der Wald als entscheidende Ressource Österreichs und die eigene, landwirtschaftliche Produktion sind dringend zu forcieren. Die dadurch verursachte Verteuerung von Produkten, bis hin zur Kleidung und zu Haushaltswaren, muss für eine Unabhängigkeit in Kauf genommen werden. Dies wird in vielen Bereichen ein Umdenken, von der Wegwerf- zu einer bewussteren Konsumgesellschaft bedeuten. Die Erreichung der Klimaziele, eine dringliche Energiewende durch einen Mix aus erneuerbarer Energie und Unabhängigkeit, muss die klimapolitische Perspektive für Österreich sein. Dazu bedarf es auch des dringenden Ausbaus von Bahn- und Buslinien. In diesem Zusammenhang wird auch die Atomenergie, temporär auch der Betrieb der großen Heizanlagen mit Kohle ein Thema. Es wird an der Politik und Wirtschaft, letztlich an uns allen liegen, entsprechend zu reagieren. Die Kriegsparteien in der Ukraine, Russland, die USA und die NATO, haben sich freilich ernsthaft mit der Frage von Bertrand Russell aus dem Jahre 1955 zu befassen: „Wollen wir die Menschheit oder den Krieg abschaffen?

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Paul Ertl

Karl Nehammer in heikler Mission Der Besuch des österreichischen Bundeskanzlers bei Selenskyi und Putin im April 2022 als Ausfluss der pragmatischen Auslegung der immerwährenden Neutralität Österreichs

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Ausgegangen wird von Jacqes Rancières erster These zur Politik als eine, durch ein mit eigener Rationalität versehenes, eigenständiges Subjekt ausgeführte Handlungsweise. Danach wird die ideengeschichtliche und politische Genese zur Begrifflichkeit der österreichischen immerwährenden Neutralität in einem kurzen Aufriss dargestellt; zuerst, wie sie in ihrem Kernbestand gefasst und in der österreichischen Geschichte pragmatisch interpretiert wurde. Ausgehend von diesem Ansatzpunkt wird gezeigt, wie die Neutralität von der höchsten Staatsführung Österreichs (Bundeskanzler Karl Nehammer) im Jahr 2022 ausgelegt wird. Aufbauend auf diesen (relativ) objektiven Tatsachen wird folgend die individuelle Sichtweise des österreichischen Bundeskanzlers zu den Besuchen bei Selenskyi und Putin und den damit zusammenhängenden Vermittlungsversuchen erörtert, die eine direkte Wirkung der pragmatischen Sicht auf die Neutralität und der subjektiven Handlungsweise der Politik darstellen. Es wird damit demonstriert, wie sich die Ausgangsthese Rancières in diesem Vermittlungsversuch zwischen Selenskyi und Putin (wie auch schon zuvor, bei der Etablierung der Neutralität Österreichs) in praxi erfüllt. I Hinführung In der kürzlich erschienenen deutschen Ausgabe der „Le Monde diplo­ matique international“ betitelte der finnische Politikwissenschaftler Heikko Pato­ mäki die neuen sicherheitspolitischen Entwicklungen nach dem Überfall der Russischen Föderation auf die Ukraine als das „Ende des nordischen Modells“. Er meinte damit die Drift des sicherheitspolitischen Selbstverständnisses der beiden neutralen bzw. bündnisfreien Staaten im europäischen Norden – Schweden und Finnland – hin zu einem Beitritt zur NATO.1 Schweden wie Finnland bezogen sich jahrzehntelang

1 Vgl. Patomäki, Heikko: Das Ende des nordischen Modells, Le Monde diplomatique, Deutsche Ausgabe, Juni 2022, S. 1 & S. 4. Finnland hat sich bereits 1995 im Zuge des EU-Beitritts als bündnisfrei definiert. Das als neutrales „role model“ geltende Schweden hat mit einem Fast-Allparteienbeschluss im Parlament 2002 die Neutralität abgeschafft und war de facto ab diesem Zeitpunkt nur mehr bündnisfrei. Beide Staaten schlossen jedoch nicht aus, im Fall einer EU-Verteidigung auch dort vollinhaltlich mitzuwirken. Zudem haben beide Staaten seit 2014 vertiefte Beziehungen zu den USA, das auch verstärkte verteidigungspolitische Kooperationen

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nicht nur auf die Sozialstaatlichkeit, sondern auch und vor allem auf die Neutralität. Ihre Werte des Ausgleichs, die für die Innenpolitik galten, wurden auf die von ihnen internationalistisch geführte Außenpolitik übertragen. Dieses Prinzip ist, laut Patomäki, mit dem NATO-Beitrittsgesuch abhandengekommen. Die Aufgabe der Neutralität wurde in beiden Ländern nach den Ereignissen im Anschluss an den 24. Feber 2022 und dem mit dem Beitritt erwarteten Abschreckungspotenzial der NATO augenscheinlich als nötig erachtet. Ein jahrzehntelang mehr oder weniger unhinterfragtes Staatsprinzip wurde aufgrund der russischen Invasion über Bord geworfen und eine Zäsur in der nordischen Sicherheitspolitik etabliert. Aus diesen Gründen erlebte die Diskussion um die Neutralität auch in Österreich ein Wiederaufflammen. Bundeskanzler Nehammer erklärte diese jedoch bereits Anfang März für beendet.2 Neben Österreichs Staatsführung bezogen auch viele prominente Personen im Rahmen der Neutralitätsdebatte Stellung3

vorsieht. Dazu vgl. Hauser, Gunther, Neutral and Nonaligned States in the European Union, in: Reginbogin, Herbert/Lottaz, Pascal (Hg.), Permanent Neutrality. A Model for Peace, Security, and Justice, Lexington Books, Lanham/Boulder/New York/London 2020. 2 In einer Konferenz in Doha/Katar am 07.03.2022 hatte sich Nehammer dezidiert dagegen ausgesprochen, die österreichische Neutralität infrage zu stellen. Seine Aussage: „Österreich war neutral, Österreich ist neutral, Österreich wird auch neutral bleiben. (…) Die österreichische Neutralität hat gute Dienste geleistet und leistet gute Dienste. (…) Für meinen Teil ist damit die Diskussion beendet.“ Abrufbar unter: https://orf.at/stories/3251761/ (22.09.2022). 3 So hat zum Beispiel Außenminister Alexander Schallenberg in einem Interview mit dem „Corriere della Sera“ die Neutralität Österreichs betont. Das Originalzitat: „La nostra neutralità però è militare, non politica. Siamo solidali con ogni misura presa a livello europeo. (…) L’Austria è stata sempre un Paese che ha potuto parlare con tutti.” Soave, Irene: Schallenberg: „L’Austria resta neutrale e non entrerà nella NATO. Ma sosteniamo l’Ue“, in: Corriere della sera vom 22.05.2022, abrufbar unter: https://www.corriere.it/politica/22_maggio_21/schallenberg-l-austria-restaneutrale-non-entrera-nato-ma-sosteniamo-l-ue-c3a391ac-d866-11ec-927f-5d06a100b198.shtml (08.10.2022). Ex-Bundespräsident Heinz Fischer legte wiederum in Einklang mit der Regierung in der ORF-Sendung „Im Zentrum“ vom 22. Mai 2022 dar, dass eine vernünftig gehandhabte Neutralität und eine aktive Außenpolitik Österreich entsprechen und kein Bruch zur Neutralität sein würde. In derselben Sendung war die Ex-Präsidentin des Obersten Gerichtshofes, Irmgard Griss, der Meinung, dass die Neutralität allein Österreich nicht schützen könne. Und der Präsident der Österreichischen Offiziersgesellschaft, Brigadier Erich Cibulka, meinte ebendort, dass die Neutralität allein, ohne adäquate Aufrüstung des Bundesheeres, Österreich nicht schützen würde. Vgl. dazu ORF: Immerwährende Neutralität – heilig oder scheinheilig? IM ZENTRUM vom 22.05.2022 (23.05.2022) bzw. als gute Zusammenfassung: Hager, Johanna: Neutralitätsdebatte: Zwischen Frieden, „Tarnkappe“ und „Insel der Seligen“. In: Kurier vom 22.05.2022, abrufbar unter: https://kurier.at/politik/inland/neutralitaetsdebatte-zwischen-frieden-tarnkappe-und-insel-derseligen/402016914 (22.10.2022).

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und wurden teilweise scharf in die Kritik gezogen.4 Es gab außerdem Tendenzen, die den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine nicht nur als ein „Verbrechen“ bezeichneten, sondern auch als „den letzten Warnruf an die freie Welt“ (und damit eben auch an Österreich). Wenn das Lebensmodell einer unabhängigen, demokratischen und dem Rechtsstaat verpflichteten Gesellschaft beibehalten werden soll, sei eine Debatte zur Verteidigungspolitik unumgänglich. Vor allem auch deshalb, weil sich Österreich in der Vergangenheit bereits vertraglich zur Solidarität verpflichtet habe und dies aufgrund der aktuellen Entwicklungen unabdingbar geworden sei. Das Festhalten am Status quo der Sicherheitspolitik (im Sinne der Neutralität) sei daher nicht nur unhaltbar, sondern sogar gefährlich.5 In Umkehrung dieser Argumentation wurde im Juli ein offener Brief an die Bundesregierung verfasst, in dem gefordert wurde „SOFORT zur strikten Neutralität gegenüber ALLEN Konfliktparteien im Ukrainekrieg zurück[zukehren]“ und „SOFORT aus der Unterstützung der einseitig verhängten Sanktionen durch die westliche Verteidigungsallianz NATO aus[zu]steigen“6. Die Grundlagen dieser sogenannten Spaltung scheinen allerdings tiefer zu liegen, als die bisherigen wissenschaftlichen, politischen und populistischen Diskurse vermitteln. Die Besuchsdiplomatie des Bundeskanzlers bei seinen Treffen mit Selenskyi und Putin diente dahingehend dem Aufwerfen der Neutralitätsproblematik wie auch dem Mittragen der Sanktionspolitik durch die Europäische Union. So konstatierte der SPÖ-Vizeklubchef Jörg Leichtfried, dass die Moskaureise Nehammers „ein Alleingang und schluss-

4 So zum Beispiel der General i. R. Günther Greindl: Österreich soll neutral bleiben! In: Die Presse, Gastkommentar vom 14.06.2022, abrufbar unter: https://www.diepresse. com/6152759/oesterreich-soll-neutral-bleiben (09.10.2022) oder Gerald Makel: Krieg in der Ukraine: „Österreich muss neutral bleiben!, abrufbar unter: https://www.idealismprevails.at/kriegin-der-ukraine-oesterreich-muss-neutral-bleiben/ (09.10.2022). 5 Vgl. Altmann, Andreas et al.: OFFENER BRIEF an den Bundespräsidenten, die Bundesregierung, den Nationalrat und die Bevölkerung Österreichs vom 08.05.2022, abrufbar unter: https:// unseresicherheit.org/ (20.10.2022). Diese, wie auch die in der nächsten Fußnote betitelten folgenden Argumentationen stellen sich in den Dienst einer objektiven Neufeststellung der sicherheitspolitischen Bedürfnisse Österreichs im Rahmen offener Briefe. 6 Mayer, Peter F.: Neutralität: Offener Brief an die Bundesregierung der Republik Österreich vom 05.07.2022, abrufbar unter: https://tkp.at/2022/07/05/neutralitaet-offener-brief-an-dieoesterreichische-bundesregierung/ (20.10.2022), an dieser Stelle wird, in Opposition zur vorangehenden Argumentation, neben der Rüstungs- auch die Neutralitätsdebatte (wieder) aufgebrochen.

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endlich auch völlig ergebnislos“7 gewesen sei. Der Innsbrucker Politologe Gerhard Mangott ist der Meinung, dass der österreichische Kanzler nicht genug Gewicht in Europa habe, um etwas zu bewegen, was auch in Moskau bekannt sei.8 Oder die NEOS-Chefin Beate Meinl-Reisinger: „Putin ist ganz klar der Aggres­sor in diesem Krieg. In dieser Frage kann es keine Neutralität geben.“9 Öster­reich, so der Tenor dieser Seite, ist dementsprechend verpflichtet, dem europäischen Gesamtverlangen zu entsprechen und hätte sich nicht für unerreichbare Ziele in Einzelaktionen zu verantworten. Seitens der FPÖ gab es auch den Verdacht, dass die Reise bloß der „machohaften Selbstinszenierung samt Ablenkung von den notorischen innenpolitischen Kalamitäten der ÖVP“10 diente. Zu den diversen Angriffspunkten lässt sich historisch, politisch und ideengeschichtlich Folgendes festhalten: Durch seine lokale Begrenzung und den damit einhergehenden Beschränkungen materieller wie personeller Natur ist Österreich kein global mächtiger Player per se. Dennoch zeitigen die Taten einzelner Politiker wie auch diverser Organisationen im internationalen Bereich durchaus Wirkung.11 Dies, ohne primär wirksame Druckmittel zur Verfügung zu haben oder als Unterdrückungsmacht gesehen zu werden. Ist Österreich, hier eben in der Person des Regierungschefs, damit überhaupt in der Lage, etwas zu bewirken, sei es direkt oder mittel- bis langfristig? Kann eine Einzelaktion, egal wie abgesprochen diese im europäischen Rahmen war, Erfolg haben, bzw. zumindest einen Beitrag zur Deeskalation liefern oder ist eine solche Maßnahme bloß ein Tropfen auf den heißen Stein? Ist diese gar kontraproduktiv und damit eigentlich abzu-

7 SPÖ Parlamentsklub: APA OTS vom 12. April 2022. Abrufbar unter: https://www.ots.at/ presseaussendung/OTS_20220412_OTS0088/nehammer-bei-putin-leichtfried-moskau-trip-nichtabgestimmt-schlecht-vorbereitet-und-daher-ergebnislos (20.08.2022). 8 Vgl. Magott, Gerhard: Interview in der ZIB 2 am Sonntag, dem 10.04.2022, (14.04.2022). 9 Meinl-Reisinger, Beate: NEOS zu Kanzler-Besuch bei Putin: Österreich darf nicht gemeinsamen europäischen Weg verlassen, APA OTS vom 10.04.2022, abrufbar unter: https://www.ots.at/ presseaussendung/OTS_20220410_OTS0023/neos-zu-kanzler-besuch-bei-putin-oesterreichdarf-nicht-gemeinsamen-europaeischen-weg-verlassen (18.10.2022). 10 FPÖ – Kickl: Nehammers Putin-Besuch von Selenskyis Gnaden ist Bankrotterklärung des neutralen Österreich, APA OTS vom 12. April 2022, abrufbar unter: FPÖ – Kickl: Nehammers PutinBesuch von Selenskyis Gnaden ist Bankrotterklärung des neutralen Österreich | Freiheitlicher Parlamentsklub – FPÖ, 12.04.2022 (ots.at) (20.08.2022). 11 Wir gehen in der Folge auf einige dieser Personen bzw. Organisationen ein.

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lehnen? Soll bei einem ungerechten Vorgehen einer (Kriegs-)Partei also das einzelstaatlich-diplomatische Handtuch geworfen und nur die europäischgemeinschaftliche Druckkarte gezogen werden? Wenn ja, ab wann gilt dies? Und wenn nein, wie kann man ein solches Vorgehen effizient gestalten? In dieser Arbeit wird als Grundlage zur Beantwortung dieser Fragen vorerst auf J. Rancières erster von zehn Thesen zur Politik abgestellt. Für ihn ist Politik nämlich „nicht die Ausübung von Macht. Politik muss durch sich selbst definiert werden, als eine spezifische Handlungsweise, ausgeführt von einem eigenen Subjekt und beruhend auf einer eigenen Rationalität“.12 Die Arbeit soll dementsprechend nicht die Verteidigung, Verabsolutierung oder Negation der österreichischen Neutralitätspolitik darstellen oder diese kritisieren. Entgegen der (be-)wertenden Argumentation soll an dieser Stelle die (real-)politische Einbettung der Neutralität und die damit verbundene Herangehensweise der Staatsführung mit ihren persönlichen Zugängen zu den Bereichen des Politischen und des Menschlichen dargelegt werden. Um dies erreichen zu können, wurden aufbauend auf der literarisch-theoretischen Beschäftigung mit dem Thema zwei Interviews mit dem Bundeskanzler der Republik Österreich, Karl Nehammer, geführt.13 Das erste, als Experteninterview14 durchgeführte, sollte die juridischen und politischen Bereiche behandeln und Informationen zur Deutung und Umsetzung der öster­ reichischen Neutralität liefern. Das zweite, als narratives Interview15 geführte, sollte die persönlichen Zugänge und Eindrücke des Bundeskanz-

12 Rancière, Jacques, Zehn Thesen zur Politik, diaphanes, Zürich-Berlin 2008, S. 7. Rancière meint damit die politisch-philosophische Verfasstheit von (allgemeiner) Politik, sozusagen eine Struktur zweiter, übergeordneter Ordnung. Wir verweisen hier auf die Praktikabilität und Applizierbarkeit dieser These und legen sie auf die gelebte, praktische Politik um. Was Rancière nämlich für den Bereich der Politischen Theorie ausspricht, hat jedenfalls seine Entsprechung in der realpolitischen Wirklichkeit, der politischen Praxis. 13 In der Folge wird bei Bedarf auf diese beiden Interviews in den Fußnoten rekurriert. Da die Interviews in vorliegender Publikation aufgrund des Umfanges nicht beigefügt werden können, werden diese mit einem Kommentar versehen und in Kontext gestellt, an anderer Stelle ehestmöglich publiziert. Es wurde daher für diese Arbeit nur die Unterteilung in Experteninterview und narratives Interview vorgenommen und die Stellen nach Frage (Experteninterview und Nachfragephase des narrativen Interviews) und Absatz (Erzählphase des narrativen Interviews) ausgeworfen. 14 Vgl. Experteninterview mit HBK Nehammer vom 10.08.2022. Das Interview wurde aus Termingründen schriftlich geführt. 15 Vgl. Narratives Interview mit HBK Nehammer vom 24.08.2022. Das Interview wurde vom Autor geführt, aufgezeichnet, transkribiert und, für die bessere Lesbarkeit, geglättet.

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lers darlegen und dessen Handlungsweise auch auf der persönlichen Ebene verständlich machen. Insgesamt wird in der individuellen Herangehensweise und persönlichen Involviertheit des Bundeskanzlers in Kombination mit der Entwicklung der sich aus der pragmatischen Sichtweise österreichischer Neutralität entwickelnden Handlungsmöglichkeiten das im weitesten und praktisch gedeuteten Sinne eigenrationale Subjekt Rancières sichtbar. II Die österreichische Neutralität Die österreichische Neutralität „nach dem Vorbild der Schweiz“16 hatte, nimmt man die Genese beider, nicht die analog lange Tradition wie die schweizerische. Dennoch entstanden sie unter ähnlich schwierigen politischen Umständen.17 Die Schweiz wurde formal erst nach der Niederlage Napoleons bei Waterloo im zweiten Pariser Frieden vom 20. November 1815 aufgrund der nötig erachteten Konfliktvermeidung durch die Großmächte neutral. Dies, obgleich eine gewisse Tradition der Neutralität sich schon viel früher in diesem Gebiet gezeigt hatte.18 Österreich war bis 1955 von den Alliierten besetzt und sollte wieder ein unabhängiger Staat werden.

16 Realiter lautet der Passus, dass die „österreichische Bundesregierung eine Deklaration in einer Form abgeben soll, die Österreich international dazu verpflichtet, immerwährend eine Neutralität der Art zu üben, wie sie von der Schweiz gehandhabt wird.“ Moskauer Memorandum vom 15. Mai 1955. Im Rahmen des Prozesses zur Freiheit Österreichs nach dem Zweiten Weltkrieg wurde diese Diktion von den Verfassern des Moskauer Memorandums gewählt, um klarzustellen, dass Österreich militärisch auch andere Konflikte abhalten könne, mithin auch wirtschaftlich unabhängig bleiben und nicht eine Art „Gesinnungsneutralität“ ausbilden oder einen eigenen Weg zwischen den Blöcken gehen würde. Dies gipfelte danach im Neutralitätsgesetz, Art. 1 (1), vom 5. November 1955, als Österreich aus freien Stücken seine immerwährende Neutralität erklärte. Dass bereits damals diese Neutralität militärisch gefasst wurde, wird weiter unten noch zu erörtern sein. Weiters erscheint in diesem Zusammenhang interessant zu erwähnen, dass das Schweizer Modell der österreichischen Neutralität nur bis 14. Dezember 1955 (also bis zur Aufnahme Österreichs in die UNO gemeinsam u. a. mit Irland und Finnland) existent war. Die Schweiz hat sich vehement bis 2002 dagegen gesträubt, UN-Mitglied zu werden, da dies aus Sicht von Bern ein kollektives Sicherheitsbündnis und so mit der Neutralität als unvereinbar sei. Vgl. Hauser, Gunther (Hg.), Neutralität und Bündnisfreiheit in Europa. Sicherheitspolitische Herausforderungen für neutrale und bündnisfreie Staaten in Europa zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Verlag Barbara Budrich, 2015. 17 Vgl. Glaser, Andreas/Zubler, Clio, Die Verfassungen Österreichs und der Schweiz: Wechselseitige Beeinflussung oder stummes Nebeneinander?, in: Balthasar, Alexander/Vincze, Attila (Hg.), Hundert Jahre österreichisches Bundes-Verfassungsgesetz, Sramek, Wien 2021, S. 12. 18 Vgl. Jorio, Marco, Wiener Kongress, Historisches Lexikon der Schweiz HLS, abrufbar unter: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/008922/2015-02-03/ (20.09.2022). Auch: Glaser/Zubler, 2021, S. 11. Die Schweiz war zwar vor der formellen Deklaration bereits neutral, dieser Status

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Die Voraussetzung der österreichischen Neutralität war allerdings unter ähnlichen Umständen geboren worden. Aus Angst vor einem neuerlichen „Anschluss“ an Deutschland, so notierte beispielsweise 1947 der Generalsekretär des österreichischen Außenamtes, Heinrich Wildner, sollte dieser eineindeutig verboten werden. Die vier Mächte hätten großes Inter­ esse daran gehabt, eine Garantie dafür zu verlangen. Erst als der damalige Bundeskanzler Leopold Figl den Gedanken äußerte, dass nicht eine einzelne, sondern eine generelle Lösung gefunden werden müsse, ein grundsätzliches Anschlussverbot, bei dem es sich um jedweden Anschluss dreht, wurde die Idee einer eventuellen Neutralität erwogen. Dabei schwebte Figl vor, dass es zur Zusicherung einer Neutralität, wie sie tatsächlich in der Schweiz bestand, kommen würde.19 Die Geschichte sollte ihm Recht geben. In weiterer Folge beschworen viele führende Politiker die Neutralität nach Schweizer Vorbild.20 1954 war die Zeit dann reif, dass Figl, zu diesem Zeitpunkt Außenminister, bei der Außenministerkonferenz in Berlin, vor allem der UDSSR gegenüber, darlegen konnte, dass Österreich keinen Militärbündnissen beitreten und damit auch keine militärischen Stützpunkte auf seinem Staatsgebiet zulassen würde. Ausfluss dieser Haltung und des österreichischen Impetus diesbezüglich war unter anderem das Moskauer Me-

wurde allerdings aufgrund der internationale Lage nicht respektiert und das Staatsgebiet überfallen. Vor allem während der Franzosenkriege ab 1789 war die Schweiz solchen Überfällen ausgesetzt. Vgl. dazu vor allem: Illi, Martin, Franzoseneinfall, Historisches Lexikon der Schweiz HLS, abrufbar unter: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/008915/2021-09-14/ (20.09.2022). Dass dies nicht bloß im Sinne der kriegführenden Parteien, sondern vor allem auch in Sinne des eigenen Gemeinwesens lag, scheint evident. Das zeigen beispielsweise auch Christoph, Schaltegger und Thomas Studer: „1798 bereitete Napoleon der alten Eidgenossenschaft ein Ende. Der ‚Franzoseneinfall‘ war nicht nur politisch, sondern auch finanziell bedeutsam. So raubten die Besatzer den Berner Staatsschatz. Der Schatz hätte heute einen geradezu gigantischen Wert.“ In: Schaltegger, Christoph A./Studer, Thomas M., Napoleons reiche Beute: der Raub des Berner Staatsschatzes – und was dieser heute wert wäre, NZZ 14. Juli 2020. 19 Gmoser, Elisabeth et al. (Hg.), Man ist noch immer nervös. Wir sind sehr scharf bewacht. Das Tagebuch von Heinrich Wildner 1937, BMEIA, Wien 2015, S. 28. Im gesamthistorischen und politischen Zusammenhang siehe auch: Stourzh, Gerald/Müller, Wolfgang, Der Kampf um den Staatsvertrag 1945–1955: Ost-West-Besetzung, Staatsvertrag und Neutralität Österreichs (hier v. a. Kap. V: Bündnislosigkeit als Bedingung der Freiheit), Studien zu Politik und Verwaltung, Band 62, Böhlau, Wien 2020, S. 280. Ebenso: Enderle-Burcel, Gertrude (Hg.), Heinrich Wildner Tagebücher 1938–1944, Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für politisch-historische Studien der Dr.Wilfried-Haslauer-Bibliothek Band 83, Wien 2022. 20 So beispielsweise auch Theodor Körner in seiner Grußbotschaft im „Journal de Genève“ am 23. Februar 1952, u. v. a.

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morandum, mit dem beide Nationen im darauffolgenden Jahr den Grundstein für die Freiheit Österreichs legen konnten.21 Von Anfang an war den Vätern der Neutralität klar, dass diese zwar auf grundlegende Weise verfasst wurde, jedoch weder ideologisch noch wirtschaftlich zu fassen war. Im Gegenteil wurde diese, auch bereits im Neutra­ litätsgesetz22 angesprochene und dementsprechend gelebte Praxis, im Lauf der Zeit immer stärker militärisch gedeutet. Ein Ergebnis dessen war auch der Beitritt zur UNO im Jahr 1955, wobei die österreichische Doktrin dies mit der übergeordneten Stellung des UN-Sicherheitsrates begründete, der in jedem einzelnen Fall entscheidet, ob ein Anlassfall zur Handlung besteht, wobei einzelne Neutrale (eben auch Österreich) nicht zu den gemeinschaftlichen Zwangsmaßnahmen verpflichtet werden können.23 Diese militärische Interpretation wurde in der Folge auch weiterentwickelt, beispielsweise 1995, als Österreich Teilnehmerland der NATO-Partnerschaft für den Frieden (PFP) wurde. Dies war seitens der österreichischen Interpretation kein völkerrechtlich bindender (Staats-)Vertrag, sondern vielmehr hat das „Dokument den Charakter einer politisch verbindlichen Absichtserklärung“.24 Ähnlich wurden auch andere militärische Einsätze und die damit zusammenhängenden Legitimationen gesehen, beispielsweise die Teilnahme an EU-Battlegroups seit 201125, die EU-Trainingsmission in Mali (EUTM), wo österreichische Soldaten auch in führenden Positionen tätig waren,26 und viele andere.

21 Vgl. Glaser, Andreas/Zubler, Clio: S. 11f. 22 Vgl. Bundesverfassungsgesetz vom 26. Oktober 1955 über die Neutralität Österreichs. StF: BGBl. Nr. 211/1955. Hier wird in Art. I, Abs. 1 die Verteidigung des Staatsgebietes, und vor allem in Art. I, Abs. 2 eindeutig die militärischen Bündnisse und Stützpunkte angesprochen. Abrufbar unter: https://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/BgblPdf/1955_211_0/1955_211_0.pdf (10.10.2022). 23 Vgl. Hauser, Gunther, Die Neutralität Österreichs. Kernbestand und pragmatische Interpretation, in: Jürs, Jaqueline/Schuh, Roman/Wirtitsch, Manfred (Hg.), Verteidigung der Demokratie – Bildungspolitische Auseinandersetzungen mit dem Konzept der Geistigen Landesverteidigung, Böhlau, Wien 2022, S. 135. 24 Fender, Peter, Militärisches Einsatzrecht – Inland, in: Bundesministerium für Landesverteidigung und Sport – Redaktion Truppendienst (Hg.), Truppendienst-Handbuch, Wien 2012, S. 220. Ebenso: Hauser, 2021, S. 136. 25 Vgl. Hauser, Gunther, Neutral and Nonaligned States in the European Union, S. 115. In: Reginbogin, Herbert/Lottaz, Pascal (Hg.), Permanent Neutrality. A Model for Peace, Security, and Justice, Lexington Books, Lanham/Boulder/New York/London 2020. 26 Vgl. Rentenberger, Albin, Der Mali-Einsatz des Österreichischen Bundesheeres, in: Offiziersgesellschaft Wien (Hg.), Unser Auftrag, Zeitschrift der Offiziersgesellschaft Wien, Nr. 288, Ausg.

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Die Neutralität hat sich somit seit Beginn schon auf das Staatsgebiet Österreichs, dessen Verteidigung und den Nichtbeitritt zu militärischen Bündnissen beschränkt und nur wenig gewandelt. Die Interpretation wurde jedoch im Lauf der Geschichte in Teilen adaptiert, wie überhaupt die verschiedenen Zugänge zur Neutralität an der einen und Bündnisfreiheit an anderer Stelle. Beide sind als historische sicherheitspolitische Konzepte wahrzunehmen, die im Einzelfall interpretiert und verhandelt werden. Die österreichische Variante der immerwährenden Neutralität stellt sich in diesem Zusammenhang als eine zwar ahistorische, jedoch nicht als eine absolute Variante dar. Die militärische Frage erscheint durchwegs als unhinterfragt, die wirtschaftliche, politische, diplomatische und im Großen gesehen auch sozial-wertorientierte Frage ist in einer interpretativen, verhandelbaren Form vorhanden. III Der aktuelle Zugang des Bundeskanzlers zur immerwährenden Neutralität Österreichs Wie oben dargestellt sind Neutralität und Bündnisfreiheit sicherheitspolitische Konzepte, die die Möglichkeit von Kriegen einschließen.27 Beide Konzepte wurden in der Geschichte in vielerlei Hinsicht interpretiert und kritisiert. Bundeskanzler Nehammer orientiert sich dabei an der herrschenden Sichtweise, wonach die Neutralität (wie oben angesprochen) an sich nicht originär eine österreichische Idee gewesen sei, sondern eine Bedingung der Alliierten, um Österreich als unabhängiges Gemeinwesen überhaupt etablieren zu können.28 Ebenso ist in der Auslegung des Bundeskanzlers die militärische Belegung der Neutralität inhärent. Dies zeigt sich durchwegs im Experteninterview, aber auch in Teilen des narrativen Interviews, das die persönlichen Gedanken des Kanzlers darstellt.29 Zur Neutralität gehören neben den Rechten auch Pflichten, die der jeweils Neutrale erfüllen soll bzw. muss. Obgleich Neutralität im Normal-

01/2020, März 2020, S. 17 ff. 27 Vgl. dazu auch Hauser, 2021, S. 123. 28 Vgl. Experteninterview, Frage 1a. 29 Vgl. dazu Experteninterview sowie auch narratives Interview.

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fall erst bei Eintritt eines Kriegsfalles vom jeweiligen Staat gewählt wird, wurde in Österreich, den historisch-politischen Gegebenheiten folgend, die immerwährende Neutralität gewählt. Der österreichische Kanzler folgt hier eindeutig der oben angesprochenen historischen Interpretation und sieht diese wie folgt: „Österreich ist ein militärisch neutrales Land. Wir haben uns aber auch seit unserem Bekenntnis zur Neutralität immer klar auf die Seite der Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit und des Völkerrechts gestellt.“30 Diese Haltung zeigt zweierlei. Zum Ersten das Primat der militärischen Neutralität Österreichs als Einzelner inklusive den daraus abgeleiteten Folgen und Verpflichtungen wie Wehrfähigkeit und anderes. Zum Zweiten zeigt diese Sichtweise aber auch die Einbindung in ein größeres Ganzes: Die historisch begründete und praktisch durchlaufene moralische, demokratische und völkerrechtliche Verpflichtung, im Rahmen demokratischer Werthaltungen und der Humanität verpflichteter Aktionen und solidarischer Beiträge abseits des potenziellen Kriegsgeschehens. Nehammer geht hier sogar noch einen Schritt weiter, wenn er sagt: „Diese Werte sind für uns unverhandelbar.“31 Damit ist einerseits eine Herausforderung in militärischer Form gegeben, da Österreich nicht Teil eines Bündnisses sein darf, andererseits bringt diese Sonderstellung aber auch Möglichkeiten der Vermittlung bei Konflikten. Angesprochen auf die immer wieder aufflammenden Diskussionen, ob sich Österreich zu sehr oder zu wenig an die Neutralität gehalten32 hätte, meint er, dass es beispielsweise im Zuge des Kosovo-Kriegs zu mehrfachen Luftraumverletzungen durch NATO-Flugzeuge gekommen sei und es ursprünglich ein Überflugsverbot aufgrund des Neutralitätsstatus Österreichs gegeben hatte. Nachdem aber exakt dieser Fall eingetreten war, hat die Bundesregierung sich, aufgrund der Deeskalation der sehr angespannten Lage, richtigerweise und trotz Protestes auf diplomatischer Ebene gegen den Einsatz von Abfangjägern entschieden. Dies zeige die Herausforderungen eines neutralen Staates in der (tages-)politischen Praxis. Die militärische Verhinderung der Überflüge hätte,

30 Experteninterview, Frage 1a. 31 Ebenda. 32 Beispielsweise während des Jugoslawien-Krieges 1990/91 oder bei der Behandlung von Flüchtlingen 2014/15.

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laut Bundeskanzler, immense negative Auswirkungen auf Anerkennung und Diplomatie in der Causa speziell sowie auf das Ansehen Österreichs generell gehabt. Wobei es selbstverständlich aufgrund der Neutralität das Recht Österreichs gewesen wäre, diese Überflüge im Zuge der militärischen Landesverteidigung zu verhindern. Die Überlegungen in diesem speziellen Beispiel zeigen die situative, tagespolitische Brisanz und diplomatische Notwendigkeit von Abwägungen des Einzelfalls.33 Zur aktuellen Debatte um die Neutralität, vor allem befeuert durch die Besuche bei Selenskyi und Putin meint Nehammer, dass sich die Öster­ reicherinnen und Österreicher mit überwältigender Mehrheit zu unserer Neutralität bekennen.34 Sie leistet Österreich auch gute Dienste und stehe für ihn nicht zur Debatte. Zudem ist seitens seiner Wahrnehmung nur einzeln die Abkehr von der Neutralität vertreten. Er sieht daher sowohl die Bundes­ regierung als auch die ÖVP klar der Neutralität verpflichtet, und diese wird dementsprechend auch beibehalten. Einen Paradigmenwechsel in der außenund verteidigungspolitischen Ausrichtung erblickt er in Europa vor allem in Schweden und Finnland mit ihren NATO-Beitrittsgesuchen, mit denen Russland augenscheinlich das Gegenteil dessen erreicht hat, was intendiert war, nämlich eine Ausweitung des NATO-Gebietes.35 Trotz der Notwendigkeit und politischen Sinnhaftigkeit der Neutralität stünde laut Bundeskanzler aus völkerrechtlicher Sicht einer Beistandsverpflichtung nichts im Wege, und damit sei ein Abgehen von der Neutralität kaum ein Problem36 – wohl aber nach dem österreichischen Verfassungsrecht.37 Und schon 1955 hat Österreich eine Beistandsgarantie der UdSSR

33 Experteninterview, Frage 2. 34 Hier geben auch die statistischen Daten Nehammer durchaus recht. So hat auch eine Umfrage der Statista im Jahr 2022 ergeben, dass 91 % der Bevölkerung die Neutralität als „sehr wichtig“ (zu dieser Antwortmöglichkeit betrug die Zustimmung sogar 70 %) oder „eher wichtig“ (hier 21 %) erachten und nur 6 % als „eher nicht wichtig“ (4 %) oder „gar nicht wichtig“ (2 %). Interessant erscheint in diesem Zusammenhang auch die Tatsache, dass nur 3 % der Befragten zur Neutralität keine Angabe machten, mithin unter „weiß nicht/keine Angabe“ bewerteten. Das zeigt klar, dass die Neutralität, egal ob positiv oder negativ besetzt, immer noch politisches Mobilisierungspotenzial besitzt. Vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/992825/umfrage/ wichtigkeit-der-neutralitaet-in-oesterreich/ (30.10.2022). 35 Vgl. Experteninterview, Frage 1b. 36 Vgl. Experteninterview, Frage 3. 37 Vgl. ebenda. Diese Sichtweise ist allerdings nicht neu und wurde auch schon andernorts

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als „Garantie“ für die Neutralität nicht zurückgewiesen, obgleich auch dieser bloß potenzielle Beistand neutralitätsrechtlich problematisch erschien.38 Das Thema der Beistandsklauseln kam auch in letzter Zeit immer wieder in Bezug auf die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) im Rahmen der EU zur Sprache. Sei es in Einigungs- bzw. Sezessionsbewegungen, in der Frage einer militärischen oder Gesinnungsneutralität oder auch in der Bezweiflung einer real existierenden Neutralität innerhalb eines Wirtschafts-, Sicherheits- und Verteidigungsbündnisses.39 In diesem Zusammenhang stellt Nehammer klar, dass das Unionsrecht aus seiner Sicht keine Verpflichtungen enthält, die im Widerspruch zum Kern der österreichischen Neutralitätsverpflichtungen stehen. Er verweist dabei vor allem auf die Irische Klausel.40 Die Irische Klausel besagt, dass die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik „den besonderen Charakter (…) bestimmter Mitgliedsstaaten“41 nicht berühren darf. In der Auslegung

geäußert. Vgl. z. B. Seidl, Conrad, Die wichtigsten Fragen zur Neutralität. Warum Neutralität und Beistandspflicht einander ausschließen, in: Der Standard, 10. Dezember 2003, Artikel abrufbar unter: https://www.derstandard.at/story/1506940/die-wichtigsten-fragen-zur-neutralitaet (101.08.2022). 38 Vgl. Schilcher, Alfons: Österreich und die Großmächte: Dokumente zur österreichischen Außenpolitik 1945.1955. Geyer-Edition, Wien/Salzburg 1980. 39 Vgl. zu den innereuropäischen Sezessions- bzw. Einigungsbewegungen: Ertl, Paul, Der Nationalstaat in der Krise? Der Nationalstaat braucht die Krise! ,in: Ertl, Paul/Hensellek, Benedikt (Hg.), Nationalstaat in der Krise, Schriftenreihe der Landesverteidigungsakademie, Band 17/2018, Wien 2018, S. 17f. Abrufbar unter: https://www.bundesheer.at/pdf_pool/publikationen/17_2018_s_ fomngt_lvak_symposion_2017.pdf (06.10.2022). Ebenso zur militärischen Neutralität und nicht Gesinnungsneutralität: Walter, Jan, Österreich: Neutral sein oder nicht? Artikel vom 19.05.2022, in dem er den Wiener Politikwissenschaftsprofessor Heinz Gärtner zum Brief von 50 Prominenten an Bundespräsident Van der Bellen zu Wort kommen lässt, abrufbar unter: https://www.dw.com/ de/isst-oesterreichs-neutralitaet-noch-zeitgemaess/a-61868856 (03.11.2022). Sowie zur Anzweiflung der Neutralität im Gesamten: Neuwirth, Dietmar, Neue Sicherheitsdoktrin verursacht Kulturschock. Von ministeriellen Eitelkeiten und Eifersüchteleien, Die Presse, 17. Februar 2001. Hier argumentiert er, dass sich seit Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrags eigentlich nicht mehr die Frage der österreichischen Neutralität, sondern vielmehr die der Sinnhaftigkeit einer Beistandsverpflichtung stellt. 40 Vgl. Anhang 1, Experteninterview, Frage 3. Zur Irischen Klausel siehe auch: Vertrag über die Europäische Union (EUV), Art. 42, Abs.(7), und zur Implementierung wie auch zu den Problemstellungen, die diese Klausel mit sich bringt: Isak, Hubert, GSVP und Irische Klausel: Neutrale Mitgliedstaaten – Lösung oder Problem?, S+F, 36. Jhrg, 4/2018, Nomos, S. 186–190. Artikel abrufbar unter: https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0175-274X-2018-4-186.pdf?download_full_ pdf=1 (13.07.2022), sowie die zugehörige Fachinformation des österreichischen Parlaments, abrufbar unter: https://fachinfos.parlament.gv.at/politikfelder/parlament-und-demokratie/wasmacht-die-oesterreichische-neutralitaet-aus/ (12.10.2022). 41 Europäische Union, Konsolidierte Fassung des Vertrags über die Europäische Union (EUV), Art

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der Europäischen Union, genauer: In der Auslegung des Europäischen Parlaments, bedeutet dies, dass im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaats die anderen Mitgliedsstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung schulden. Dies gilt vor allem im Einklang mit Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen und lässt dennoch den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten (hier der Neutralen) unberührt. Weiters interessant ist seitens des Europäischen Parlaments auch, dass im Rahmen der Beistandsersuchens Frankreichs nach den Anschlägen von Paris 2015 beispielsweise die Verpflichtungen und die Zusammenarbeit in diesem Bereich im Einklang mit den im Rahmen der Nordatlantikvertrags-Organisation eingegangenen Verpflichtungen bleiben, die für die ihr angehörenden Staaten weiterhin als Basis der kollektiven Verteidigung und Instrument für ihre Umsetzung gesehen werden.42 Durch die eben genannte Klausel wurden auch die Vorbehalte Österreichs in Bezug auf die Einhaltung der Neutralität durch den Beitritt zur EU aus dem Weg geräumt, weil sichergestellt wurde, dass sich die Neutralität Österreichs und die Verpflichtung zur GASP nicht gegenseitig einschränken. Für den Bundeskanzler ist außerdem wichtig, dass „das Einstimmigkeitserfordernis für GASP-Beschlüsse im Allgemeinen sowie für die Beteiligung an den sog. Petersberg-Aufgaben im Besonderen“43 gilt. Damit wird speziellen Umständen Rechnung getragen. Österreich ist im Falle einer konstruktiven Enthaltung unter diesen Umständen nicht verpflichtet, einen Beschluss durchzuführen. Der Staat akzeptiert jedoch, dass ein solcher Beschluss für die Union bindend ist. So ist laut Nehammer auch der finanzielle Beitrag unseres Landes zur Hilfeleistung an die Ukraine zu sehen.

42, Abs. 7, Dokument 12016M042, abrufbar unter: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/ TXT/?uri=CELEX %3A12016M042 (12.10.2022). 42 Vgl. Europäisches Parlament, EU-Bündnisfall: Rechtliche Grundlagen und praktische Auswirkungen, Sicherheit, vom 20.01.2016, Ref: 20160119STO10518, abrufbar unter: https:// www.europarl.europa.eu/news/de/headlines/security/20160119STO10518/eu-bundnisfallrechtliche-grundlagen-und-praktische-auswirkungen sowie die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 21. Januar 2016 zur Anwendung der Beistandsklausel (Artikel 42, Absatz 7 EUV) (2015/3034(RSP)) abrufbar unter: https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-82016-0019_DE.html (12.10.2022). 43 Experteninterview, Frage 3.

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Dieser wird nicht für die Bereitstellung letaler Waffen verwendet, sondern für Schutzausrüstung, wie z. B. Helme, Schutzwesten und Ähnliches.44 Insgesamt ist es daher entscheidend, dass seitens der Expertise des Bundeskanzlers „Österreich trotz EU-Mitgliedschaft selbst entscheiden kann, in welchem Umfang und auf welche Weise Beistand geleistet wird“.45 Die Beistandsleistung und individuelle, pragmatische Auslegung der österreichischen Neutralität waren auch Teil der aktiven österreichischen Neutralitätspolitik, als der Überfall der Russischen Föderation auf die Ukra­ ine. Es war aus Sicht des Bundeskanzlers neben der angesprochenen Hilfestellung für die Ukraine wichtig, das diplomatische Gespräch sowohl mit der ukrainischen Seite als auch mit der russischen Seite zu suchen. Ein für Nehammer wichtiges persönliches Ziel war es auch, „den russischen Präsidenten im direkten Gespräch damit zu konfrontieren, was in der Ukraine passiert, und ihn insbesondere auf die Verbrechen an der Zivilbevölkerung anzusprechen, die unter anderem in Butscha verübt worden sind“.46 Er meint dazu weiter: „Gerade diese beiden Besuche haben auch gezeigt, dass Österreich gerade als neutrales Land eine besondere Rolle hat, die sowohl von der Ukraine als auch von Russland hoch eingeschätzt wird. Und sie haben mir persönlich gezeigt, wie wertvoll diese Neutralität für uns als Land ist.“47 Dies leitet auch gleich über zur je-eigentlichen, subjektiven Sichtweise des Bundeskanzlers auf seine besuchsdiplomatischen Versuche im Russland-Ukraine-Konflikt. IV Die Besuche bei Selenskyi und Putin als Erfahrung der individuellen, pragmatischen Neutralitätsauslegung des österreichischen Bundeskanzlers Als am 24. Feber 2022 der völkerrechtswidrige Überfall auf die Ukraine durch die Russische Föderation erfolgte, wurde Karl Nehammer seitens des

44 Vgl. ebenda. 45 Ebenda. 46 Experteninterview, Frage 6 (a & b). 47 Ebenda, Frage 9.

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Chefs des Heeresnachrichtenamtes über die erfolgte Invasion informiert. Nachdem sich die Ereignisse überschlugen, wurde von ihm ein Krisenkabi­ nett installiert, um Österreich auf die unterschiedlichen Herausforderungen vorzubereiten. Diese Herausforderungen wurden von ihm bereits am selben Tag als die hohe Abhängigkeit von der Russischen Föderation, vor allem im Bereich Erdgas, und die grundlegende Friedensordnung innerhalb Europas erkannt. Es war ihm „ganz klar, dass wir (…) auf keinen Fall zulassen dürfen, dass die Friedensordnung am europäischen Kontinent seit dem Zweiten Weltkrieg einfach so durchbrochen werden kann und wieder Willkür herrscht“.48 Als Ausfluss dieser – gesamteuropäisch analog beurteilten – Causa erfolgten mehrere außerordentliche Europäische Räte. So hat beispielsweise der Europäischen Rat vom 24./25. März 2022 den Angriffskrieg (sic!) Russlands gegen die Ukraine unter anderem als eine grobe Verletzung des Völkerrechts dargestellt, Russland dazu aufgefordert Zivilisten und Geiseln freizulassen sowie humanitäre Korridore in den besetzten Gebieten zu installieren, weiters die militärische Aggression unverzüglich einzustellen, unverzüglich und bedingungslos alle Streitkräfte und Militärausrüstung aus dem gesamten Hoheitsgebiet der Ukraine abzuziehen, und der Rat hat weiters eindeutig festgestellt, dass die Europäische Union an der Seite der Ukraine und ihrer Bevölkerung steht 49 Bundeskanzler Nehammer spricht im Interview von „einer völlig neuen Dimension der Beschlussfassungsereignisse innerhalb der europäischen Union“ und von „historischen Räten“.50 Er spricht speziell vom Versailler Consilium, das am 10./11. März auf so historischem Boden stattgefunden hatte und in dem „Russlands Angriffskrieg“ als „tektonische Verschiebung in der Geschichte Europas“51 bezeichnet wurde. Und auch in der Folge haben die EU-Führungsspitzen weitere Er-

48 Narratives Interview, Erzählphase, Abs. (1). 49 Vgl. Europäischer Rat, Tagung des Europäischen Rates (24. und 25. März 2022) – Schlussfolgerungen, EUCO 1/22, S. 1f. abrufbar unter: https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ ST-1-2022-INIT/de/pdf (13.10.2022). 50 Narratives Interview, Erzählphase, Abs (2). 51 Europäischer Rat, Informelle Tagung der Staats- und Regierungschefs – Erklärung von Versailles (10. und 11. März 2022), S. 3. Abrufbar unter: https://www.consilium.europa.eu/ media/54802/20220311-versailles-declaration-de.pdf (13.10.2022).

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klärungen zur Aggression Russlands gegen die Ukraine sowie zur Stärkung der Verteidigungsfähigkeiten, zur Verringerung der Energieabhängigkeit und zum Aufbau einer robusteren wirtschaftlichen Basis angenommen.52 Dass diese Einschätzung generell richtig war, zeigt auch die Präsenz von US-Präsident Joe Biden, der am ersten Tag des darauffolgenden Gipfels Ende März auch persönlich an den Gipfelberatungen über die Unterstützung der Ukraine und die Stärkung der transatlantischen Zusammenarbeit teilnahm, und des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyi, der per Videokonferenz zugeschaltet war.53 Der Kanzler sieht darin also „tatsächlich historische Momente und auch ein Stück des Sichtbarwerdens der Zeitenwende“.54 Eine Zeitenwende, die von allen westlichen Staaten ebenso als solche wahrgenommen wurde. So sind auch die Aussagen des französischen Präsidenten gegenüber Olaf Scholz zu verstehen, als er, in Anwesenheit des österreichischen Bundeskanzlers, eröffnet hat, dass der Ort der Verhandlungen (Versailles) derjenige ist, wo einst über Frieden verhandelt, aber in Wirklichkeit der Weg für den nächsten Krieg bereitet worden sei, und der deutsche Bundeskanzler wenig später die Verteidigung jedes Quadratzentimeters EU- und somit auch NATO-Territoriums ansprach.55 Zwei massive Aussagen, eine zu einem Ereignis in der Vergangenheit, die andere in die Zukunft gerichtet, beide verdeutlichen den historischen Anspruch des Consiliums. Die Situation befand sich politisch wie auch militärisch auf des Messers Schneide. Daher wurde zum ehestmöglichen Zeitpunkt, auf die Vermittlerrolle Österreichs berufend, von Nehammer die Ukrainereise sowie die darauffolgende Russlandreise in Absprache mit den europäischen Partnern geplant.

52 Vgl. Anhang 2, Narratives Interview, Erzählphase, Abs. (2). Zudem, die Entschlüsse betreffend: Vgl. Europäischer Rat, Informelle Tagung der Staats- und Regierungschefs – Erklärung von Versailles, abrufbar unter: https://www.consilium.europa.eu/media/54802/20220311-versailles-declaration-de.pdf (13.10.2022). Dies.: Erklärung von Versailles, 10. und 11. März 2022, Pressemitteilung, abrufbar unter: https://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2022/03/11/theversailles-declaration-10-11-03-2022/ (13.10.2022). 53 Vgl. Europäischer Rat, Sonstige Tagungen, Sitzung vom 24. und 25., März 2022, abrufbar unter https://www.consilium.europa.eu/de/meetings/european-council/2022/03/24-25/ (13.10.2023). 54 Narratives Interview, Erzählphase, Abs (3). 55 Vgl. ebenda, Abs (2).

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Ein wichtiges Signal der Territorialität der Ukraine, und damit der Möglichkeit dorthin zu reisen, war der Moment, als Kiew relativ stabilisiert war. „Da war dann der Entschluss schnell gefasst, dass wir in die Ukra­ ine fahren, beziehungsweise ich in die Ukraine fahre, und damit auch weiter nach Moskau. Zuerst zum Opfer, dann zum Täter, das war auch in der Choreographie von der Zeitplanung her ganz klar von uns festgelegt, um die Eindrücke des Opfers auch mitzunehmen bei dem Gespräch mit dem Täter“.56 Das bedeutet, die Argumentation des Kanzlers – zuerst zum Opfer, danach zum Täter – war bereits ein in der Grundlegung einzementiertes Rollenverhältnis. Die in erster Instanz von der Ukraine her aufgenommenen Eindrücke waren ihm deshalb so wichtig, damit der Besuch in zweiter Instanz, in Russland, seinerseits authentisch und fundiert ablaufen konnte. Alle Partner, die für die Durchführung der Reise notwendig waren, wurden von Nehammer als sehr hilfsbereit und die Organisation als sehr professionell beschrieben.57 Vor dem Antritt der Reise wurden alle bestimmenden Entscheidungsträger informiert. Das waren namentlich die Präsidentin der Kommission, Ursula von der Leyen, der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, der deutsche Bundeskanzler, Olaf Scholz, und der französische Präsident Emmanuel Macron. Die beiden letzteren wurden zudem über ihre Eindrücke befragt, die sie im Umfeld von Putin gewonnen hatten, mit dem sie vorab telefonisch Kontakt hatten. Alle begrüßten die österreichische Initiative und bewahrten Stillschweigen, auch der polnische Premierminister, der von allen Beteiligten am ehesten Bedenken hätte äußern können. Ihn hat Nehammer, wie auch alle anderen Beteiligten, persönlich informiert, damit dieser auch aus erster Hand Informationen bekommt und das Verständnis aufgebaut wird. Nehammer zu diesen Gesprächen: „Es waren sehr ernste Gespräche. Risiken wurden abgewogen, Einschätzungen geteilt, aber es hat jeder respektiert, dass Österreich diesen Weg geht, auch in unserem Sonderstatus als neutrales Land innerhalb der Europäischen Union. Das hat mich schon sehr beeindruckt, weil du siehst, dass wir auch vertrau-

56 Ebenda, Abs (3). 57 Nehammer lobt in diesem Zusammenhang vor allem auch die professionelle Vorbereitung durch sein eigenes Team, allen voran Botschafterin Barbara Kaudel-Jensen, die den gesamten Prozess gestartet, vorbereitet und durchgeführt hat.

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ensvoll miteinander umgehen können innerhalb der Europäischen Union.“58 Danach wurden alle wichtigen und später medial aufkommenden Themen mit den möglichen Partnern abgesprochen. Beispielsweise mit Guterres und Erdoğan, dessen Beitrag Nehammer aufgrund von Sicherheitsgarantien durch die türkische Kriegsmarine als sehr wertvoll in der Sache einschätzt, auch die Frage der Green Corridors, die Öffnung von Odessa und Ähnliches. Schlussendlich, so Nehammer, sei nun alles so gekommen, wie es damals skizziert wurde.59 Auch in dieser proaktiven Herangehensweise zeigt sich der Zugang des Bundeskanzlers zur aktiven Neutralitätspolitik und damit einhergehend zu Österreich als Vermittler im Konflikt. Nehammer war auch einer der ersten, die nach Beginn des Angriffs mit Selenskyi telefoniert hatten. Bei diesem Telefonat am 24. Feber sagte Selenskyi, dass Nehammer „jetzt mit einem Präsidenten eines Landes, das im Krieg steht“ spricht. Selenskyi konnte zu diesem Zeitpunkt für sich selbst „nicht sagen, wie lange er noch leben wird“. Daraufhin beurteilt Nehammer die Beziehung zwischen sich und dem ukrainischen Präsidenten folgendermaßen: „Seitdem haben wir eine sehr gute Kommunikation miteinander, also mit Selenskyi und seinem Premierminister Schmyhal.“60 Bei der Beschreibung der Reise in die Ukraine fällt, neben der generell diplomatischen Bewertung, vor allem der militärisch-taktische, gefechtstechnische Blick des Kanzlers auf. Die Situation einschätzend sagte er, dass sie „unmittelbar unter den Ersten, die in das Kriegsgebiet gefahren sind [waren]. Eben aber auch im Sinne der Ukraine – um zu zeigen, dass die Ukraine funktionsfähig ist, dass die Territorialität gewahrt ist, dass die Hauptstadt funktioniert und dass die Kampfbereitschaft gegeben ist.“ Und weiter: „Zu dem Zeitpunkt, als wir dort waren, war alles in der Hauptstadt auf Verteidigung eingerichtet. Es waren, (…) die Regierungssitze verbarrikadiert, Häuserkampf-Vorbereitungen getroffen, Löschmittel vorbereitet, Maßnahmen gegen Handgranatenwurf, also eindeutig militärisch so konzipiert, dass du jederzeit das Gebäude auch massiv verteidigen konntest.“61

58 59 60 61

Narratives Interview, Erzählphase, Abs (5). Vgl. ebenda, Abs (7). Ebenda, Abs (4). Ebenda, Abs (7).

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Danach geht er auf die Situation in Butscha und die Opfer auf beiden Seiten ein. Auch er hat das für einen Soldaten typische Wissen, das die im Krieg passierenden menschlichen Opfer dokumentiert, „bei jedem Panzerwrack, an dem man vorbeifährt: Kampfpanzer, drei verbrannte Soldaten; Schützenpanzer, acht bis zehn.“62 In der Beschreibung der Moskaureise war mit dem Kreml vereinbart, dass es nur eine gemeinsame, akkordierte Berichterstattung geben darf. Hier hat sich der Kreml ebenso als professioneller Partner gezeigt und sich – trotz besorgter Stimmen aus Österreich, die meinten, dass Putin dies für sich ausschlachten werde – daran gehalten. Nehammer dazu: „Es gab keinerlei Form der Desavouierung. Ich finde, man muss immer beide Seiten erwähnen.„63 Diese beide Seiten berücksichtigende Darstellung unterstreicht wiederum die von Nehammer intendierte diplomatische Note seiner selbstgewählten Mission. Durch die von Putin zugelassene Gesprächseröffnung konnte der österreichische Kanzler seine Agenda gut einbringen. Themen waren vor allem die Beendigung des Krieges selbst, die humanitären Korridore für die beschossenen Städte, Kriegsgefangene und Aufklärung von Kriegsverbrechen.64 Nehammers Impetus in der Sache passierte im Übrigen parallel zu den Bemühungen von Guterres, der zu diesem Zeitpunkt bereits informell damit begonnen hatte, eine Gruppe zu den Green Corridors zusammenzustellen. Dazu gab es, vor allem aber zur OdessaFrage, ein Telefonat mit Erdoğan.65 Interessant ist hier auch zu erwähnen, dass es von allen Seiten großes Interesse bezüglich der Einschätzungen Nehammers, die Person Putin betreffend, gab. Dabei wurde von Nehammer eine Zweiteilung in europäische und angloamerikanische Partner beobachtet. Während die einen (Europa) ein sehr moralisch-wertendes Interesse bekundeten, waren die letzteren eher an der Person Putin interessiert. Der „angloamerikanische Raum [ist] deutlich interessierter und vorurteilsfreier an den Besuch herangegangen (…) als der europäische. Der europäische hat das sofort mit Wertungen ver-

62 Ebenda. 63 Ebenda, Abs. (9). 64 Vgl. ebenda, Abs (11). 65 Narratives Interview, Nachfragephase, Frage (3).

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sehen. In der angloamerikanischen Berichterstattung war das Interesse sehr stark: Wie war Putin? Macht er einen gesunden oder kranken Eindruck? Was waren die Themen des Gesprächs? In der europäischen Berichterstattung waren folgende Fragen wichtig: Gibt man Putin damit zu viel Raum? Wertet man ihn auf? Gibt man der Sache eine Einseitigkeit?66 Wider Erwarten konnte Nehammer weder in der Ukraine noch in Russland echten Kontakt mit der Bevölkerung herstellen. Das Krisen-/ Kriegsgebiet Ukraine verlangte absolute Sicherheitskontrolle und bei Putin wurde aufgrund der dortigen Sicherheitslage ebenso nach exakter Dramaturgie vorgegangen. Das, und die eventuelle mediale Ausschlachtung der Treffen durch Putin wurden vom politischen Mitbewerber und vielen Medienstellen ebenso kritisiert. Auch die Möglichkeiten als österreichischer Politiker überhaupt ein Ergebnis mit diesem Aktionismus zu erreichen, wurde in Kritik gezogen.67 V Rancières These in der Praxis – Erfüllung der Ausgangsannahme Nach der persönlichen Einschätzung im Gegensatz zur veröffentlichten bzw. öffentlichen Meinung gefragt, die den Besuch oftmals durchaus mit harscher Kritik bedachte, sagt Nehammer: „Das war im vorhinein eine interessante Frage, weil viele gesagt haben: Wozu fährt der Bundeskanzler überhaupt hin? Warum drängt sich Österreich in den Mittelpunkt? Öster­ reich kann nichts erreichen. Österreich ist viel zu klein. Der Bundeskanzler macht sich wichtig. – All das waren die die von ihm kritisierten Vor­ver­ urteilungen.“68

66 Narratives Interview, Nachfragephase, Frage (2). 67 Vgl. dazu nationale Medienberichte wie: https://orf.at/stories/3259137, auch international: https://www.t-online.de/nachrichten/ausland/id_91997654/nehammer-bei-putinoesterreichs-fragwuerdiges-verhaeltnis-zu-russland.html. Politische Statements wie beispielsweise https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20220412_OTS0027/fpoe-kickl-nehammersputin-besuch-von-selenskyjs-gnaden-ist-bankrotterklaerung-des-neutralen-oesterreich, NEOS: Nehammer soll nicht ablenken, sondern aufklären und arbeiten, Leichtfried: „Moskau-Trip nicht abgestimmt, schlecht vorbereitet und daher ergebnislos“. (10.10.2022). Hier, wie auch in der am Beginn des Artikels dargestellten Neutralitätsdebatte, überschneiden sich die Argumentationslinien der Gegner mit der Linie des österreichischen Bundeskanzlers. 68 Narratives Interview, Nachfragephase, Frage (2).

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Und die internationalen Partner gaben Nehammer dabei recht. Auch Guterres, bei einem Besuch in Österreich, bejahte es, als er danach gefragt wurde, ob Nehammers Reise zu Putin sinnvoll gewesen sei. Für Nehammer steht jedenfalls fest: „Umso mehr du vernetzt, umso mehr du beginnst, diesen Gesprächsreigen zu führen, umso mehr kommt Bewegung hinein. Das hast du in dieser Frage der grünen Korridore bemerkt.“ Ein weiteres Ergebnis des von vielen als zu klein, unwichtig oder unnötig dargestellten Ansatzes, den Nehammer verfolgte war die Vorbereitung der Öffnung des Hafens von Odessa. „Und heute erleben wir gerade, dass die Getreide-Schiffe Odessa verlassen, was ein wichtiger und positiver Prozess ist.“ 69 Als wesentlich bezeichnet er auch die Gespräche über Gefangenenaustausch. „Ich bin selbst Soldat. Mir ist das Thema extrem wichtig, weil es für die Angehörigen so wichtig ist. Das habe ich bei jedem Telefonat oder Gespräch mit Putin auch immer angesprochen.“ Auch dabei zeigt sich wieder eine der Motivationen und der Vorrang des Militärischen in der Position des Kanzlers. Wenn die Besuche auch nicht den sofortigen Ergebnischarakter haben, sollten diese doch als das beurteilt werden, was sie mit auf den Weg gebracht haben. In den Worten des Bundeskanzlers: „Der Krieg ist furchtbar, und es gibt einen, der ihn begonnen hat, das ist die Russische Föderation. Das muss man klar benennen. Gleichzeitig muss man aus meiner Sicht auch alles dazu tun, dass der Krieg wieder aufhört.“ Denn in diesem Krieg liege das Potenzial, einen Weltkrieg zu entfachen. „Das müssen wir mit allen Mitteln, die zu Gebote stehen, verhindern, und da gehört auch Besuchsdiplomatie dazu.“ Und angesprochen auf die, vor allem österreichische, Kritik: Das, woran ich glaube, ist, dass es zu 100 % richtig war, es getan zu haben. (…) ich glaube (…) es ist wichtig, nicht aufzugeben diese Termine zu versuchen.“70 Laut Jacques Rancière ist nun Politik, wie bereits oben ausgeführt71: • nicht die Ausübung von Macht • wird durch sich selbst definiert • wird von einem eigenen Subjekt durchgeführt 69 Narratives Interview, Erzählphase, Abs (8). 70 Narratives Interview, Nachfragephase, Frage (4). 71 Vgl. Fn. 12.

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dies beruht auf einer eigenen Rationalität.

Nimmt man nun die Ausgangsthese und legt sie auf die hier erörterte Situation um, zeigt sich in der Herangehensweise des österreichischen Bundeskanzlers idealtypisch die praktische Entwicklung derselben: Es wird von Nehammer nicht Macht ausgeübt, aber Vernetzung betrieben und durch besuchsdiplomatisches Bemühen versucht, eine Situationsveränderung herbeizuführen. Er definiert seine Politik durch die selbst gewählten, eigenen Ziele. Er führt sie mittels seiner spezifischen Handlungsweise trotz politischem Gegenwind, die in seiner Vita und individuellem Wertehorizont begründet liegt. Und schlussendlich legitimiert er sein Handeln durch die eigenständige Weiterentwicklung der historisch prädeterminierten österreichischen immerwährenden Neutralität. Damit zeitigt der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer sich selbst als das in der Praxis verortete, eigene Subjekt72 Rancières, das die Politik durchführt, egal wie stark oder angegriffen die Situation erscheinen mag.

72 Analog könnte man, wie teilweise auch weiter oben in Kap. II beschrieben, die Politik eines Figl oder Klaus, aber auch eines Kreisky und anderer beobachten und bewerten. Dies würde in diesem Rahmen allerdings zu weit führen und erforderte eine eigene Untersuchung.

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Russlands Krieg gegen die Ukraine Sicherheit, Militär, Geopolitik Der Krieg Russlands gegen die Ukraine ist durch ein komplexes Konfliktgefüge mit mannigfaltigen geopolitischen, militärischen und sicherheitspolitischen Dimensionen gekennzeichnet. Nach fast einem Jahr hat sich die geopolitische Lage um die Ukraine angesichts der bevorstehenden nächsten großen Eskalationsphase stark verschärft. Waffenstillstands- bzw. Friedensgespräche bleiben aufgrund der diametral entgegengesetzten Ziele beider Staaten weiterhin ausgeschlossen. Es bleibt unklar, wie der Krieg endet und welches Zukunftsszenario eintreten wird. Was am dringendsten benötigt wird, ist ein strategischer Konsens innerhalb der EU und ihrer Mitgliedsstaaten darüber, nicht nur das Überleben der Ukraine zu sichern, sondern einen tatsächlichen Sieg der Ukraine über Russland zu ermöglichen.

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1. Einführung Die Ukraine erlebte viele politische Umwälzungen in ihrer jüngsten Geschichte und ging durch viele Höhen und Tiefen während der Transformation ihres politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systems. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde das Land in einem zunehmend polarisierten Umfeld zwischen pro-westlichen und pro-russischen geopolitischen Orientierungen gespalten. Der entscheidende Sieg prowestlicher politischer Kräfte im Jahr 2014 mit den Euromaidan-Protesten und die anschließenden Versuche der Ukraine, sich zunächst wirtschaftlich und handelspolitisch der EU anzunähern und dann die NATO-Mitgliedschaft anzustreben, dienten in Kreml-Kreisen als erstes Signal für russischen Revisionismus und Aggression, waren aber nicht die Ursache dafür.1 Die geopolitische Lage wurde im Jahr 2014 entscheidend erschwert. Moskau ist militärisch in ukrainisches Territorium eingedrungen und hat die Krim völkerrechtswidrig annektiert. In der Folge ist es separatistischen Kräften in der Ostukraine, die von Russland finanziell, politisch und militärisch unterstützt werden, gelungen, die De-facto-Kontrolle über einen Teil der Schlüsselregion Donbas zu erlangen und die abtrünnigen Volksrepubliken Donezk und Luhansk zu gründen.2 Trotz einer Reihe von Friedensgesprächen und diplomatischer Vermittlung durch den Westen hat sich Moskau in den letzten acht Jahren konsequent auf einen totalen Krieg gegen Kiew vorbereitet, mit dem Endziel der vollständigen Unterwerfung. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine ist also durch ein komplexes Konfliktgefüge mit mehreren geopolitischen, militärischen und sicherheitspolitischen Dimensionen gekennzeichnet.

1 Kotoulas, I. E., & Pusztai, W. (2022). Geopolitics of the War in Ukraine. Foreign Affairs Institute. Abgerufen von https://www.aies.at/download/2022/Geopolitics-of-the-War-in-UkraineFINAL.pdf 2 https://www.nzz.ch/international/ukraine-chronologie-der-maidan-revolutionld.1290571?reduced=true

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Velina Tchakarova    |   Russlands Krieg gegen die Ukraine

2. Geopolitischer Hintergrund 2.1 Die Ziele Russlands im Krieg gegen die Ukraine aus geopolitischer Sicht Durch die Annexion der Krim und den militärischen Konflikt in der Ost­ ukraine, der Tausende von Todesopfern und Verletzten gefordert und Hunderttausende von Menschen vertrieben hat, hat Russland eine Reihe von geopolitischen Zielen erreicht. Eine erhebliche Ausweitung des russischen Staatsgebiets und der Machtprojektion wurde durch die Aufnahme der strategisch wichtigen Halbinsel und die dauerhafte Kontrolle über das nördliche Schwarze Meer sowie den zentralen Militärstützpunkt Sewastopol ermöglicht. Die potenzielle Kandidatur der Ukraine für die Mitgliedschaft in der EU oder der NATO wurde durch die Verletzung der territorialen Unversehrtheit, Souveränität und Integrität des Landes verhindert. Russland konnte zudem seine militärischen Fähigkeiten demonstrieren und den ersten großflächigen Einsatz von Cyber-Operationen durchführen, begleitet von einer starken Intensivierung der Informationskriegsführung.3 Es war ab diesem Zeitpunkt unvermeidbar, dass Russland das Ziel verfolgen wird, die Ukraine politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich zu unterwerfen. Ein weiterer maßgeblicher Faktor in Bezug auf den Krieg war Russlands Bestreben, seinen Einfluss in der gesamten unmittelbaren Umgebung aufrechtzuerhalten und gegebenenfalls zu erweitern. Das geopolitische Kalkül Russlands wird außerdem von der Absicht bestimmt, die eigenen nationalen Interessen in einem von anderen relevanten regionalen Akteuren anerkannten strategischen Einflussgebiet durchzusetzen und die „Einflusssphäre“ auf Kosten der Ukraine und anderer Nachbarländer im sogenannten „nahen Ausland“4 auszudehnen oder zu etablieren. Laut einem der führenden Geopolitiker der Moderne, Zbigniew Brzeziński, kann Russland ohne die Ukraine nicht mehr als Großmacht gelten, aber mit der Unterwerfung der Ukraine wird es automatisch zu einem Imperium.5 Um dies zu

3 Kotoulas, I. E., & Pusztai, W. Geopolitics of the War in Ukraine. 4 Sommerbauer, J. (2014, März 7). Die Russen im „nahen Ausland“. Die Presse. Abgerufen von https://www.diepresse.com/1572080/die-russen-im-bdquonahen-auslandldquo 5 Lehming, M. (2022, Februar 22). Ohne die Ukraine ist Russland keine Großmacht. Tages-

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erreichen, strebt Moskau danach, seine „Einflusssphäre“ durch die Konsolidierung einer geopolitischen Union zwischen Russland, der Ukraine und Belarus aufzubauen. Dies würde Moskau zu einem bedeutenden Akteur mit erheblicher Machtprojektion in Osteuropa, dem Südkaukasus und Zentral­ asien machen und zugleich die Europäische Sicherheitsarchitektur neugestalten. Wenn Präsident Putin es schaffen würde, die Ukraine zu unterwerfen, würde dies seine geopolitischen Ambitionen erfüllen, einen Staat ehemals imperialer Natur als Großmacht wiederauferstehen zu lassen, was seine Position in der globalen Politik deutlich stärken würde. In diesem Zusammenhang verfolgt Russland einen geostrategischen Ansatz, welcher eine Ausdehnung seiner geopolitischen und geoökonomischen Interessen in eine vertikale (Nord-Süd)-Richtung umfasst, die sowohl den Arktischen Ozean und den Barentssee einschließen, auch das „nahe Ausland“ in Osteuropa und den Südkaukasus umfassen und sich sich bis nach Eurasien, dem Nahen Osten und Nordafrika erstrecken würde.6 Man kann daher schlussfolgern, dass Wladimir Putin seine primäre geopolitische Herausforderung darin sieht, Gebiete und Bevölkerung, die als Teil der „russischen Welt“7 betrachtet werden und die somit „Russland gehören“, zurückzugewinnen8 und das russische imperiale Projekt wiederzubeleben, anstatt eine neue Sowjetunion zu schaffen. 2.2 Die geopolitischen Ziele der Ukraine Insgesamt werden die geopolitischen Kalküle der Ukraine von dem Ziel getrieben, ihre Existenz als Staat, Volk und Territorium zu sichern und ihre Unabhängigkeit und Souveränität zu verteidigen. Im Angesicht der russischen Aggression und der fortgesetzten Einmischung ist das wichtigste geo-

spiegel. Abgerufen von https://www.tagesspiegel.de/politik/ohne-die-ukraine-ist-russland-keinegrossmacht-5419849.html 6 Tchakarova, V. (2022). Enter-the-DragonBear. ORF Abgerufen von https://www.aies.at/ download/2022/ORF_IB-538_Enter-the-DragonBear.pdf 7 Inosemzew, W. (2014). Wer gehört zur russischen Welt? Internationale Politik, 6, 94–101. Abgerufen von https://internationalepolitik.de/de/wer-gehoert-zur-russischen-welt 8 DW News. (2022, Juni 9). „Land zurückholen“: Macht‘s Putin wie Peter der Große? DW News. Abgerufen von https://de.euronews.com/2022/06/09/land-zuruckholen-macht-s-putin-wiepeter-der-gro-e

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politische Ziel der Ukraine, die territoriale Integrität als Staat wiederherzustellen. In diesem Zusammenhang strebt die Ukraine die Rückeroberung der von Russland militärisch kontrollierten Gebiete in den vier Regionen Cherson, Saporishshja, Donezk und Luhansk an und die Wiedereingliederung der illegal annektierten Krim in das ukrainische Staatsgebiet. Darüber hinaus will die Ukraine sich möglichst schnell den pro-westlichen politischen und wirtschaftlichen Netzwerken annähern und befindet sich bereits auf dem Weg zur Integration in die EU, nachdem sie im Juni 2022 den Kandidatenstatus erlangt hat. Als assoziiertes Land seit 2017 hat die Ukraine bereits zahlreiche Reformen umgesetzt und wird im Erweiterungsprozess von den EU-Mitgliedsstaaten umfassend unterstützt. Es bleibt noch umstritten, ob die Ukraine langfristig eine NATO-Mitgliedschaft anstreben wird, um ihre Sicherheit und Unabhängigkeit zu gewährleisten, da sie gegenwärtig über keine Sicherheitsgarantien verfügt und ihren Neutralitätsstatus mit der ersten russischen Invasion aufgegeben hat. Gegenwärtig bemüht sich die Ukraine, stabile Beziehungen zu einer Vielzahl von Ländern, vor allem den USA und anderen westlichen Nationen aufrechtzuerhalten, um Unterstützung für ihre Bemühungen zur Verteidigung ihrer Souveränität und territorialen Integrität zu erhalten. Die Mitglieder der G-7 haben der Ukraine umfassende finanzielle, diplomatische, humanitäre und militärische Hilfe zugesagt. Um ihre innere Stabilität und Widerstandsfähigkeit im Angesicht der vielfältigen externen Herausforderungen zu verbessern, muss die Ukraine auch ihre Wirtschaft und Institu­ tionen durch Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen und Institutionen stärken. Der Schutz der kritischen Infrastruktur, insbesondere des Atomkraftwerks in Saporishshja, bleibt ebenfalls von höchster Priorität. 3. Sicherheitspolitische Kalküle Der Krieg in der Ukraine hat Auswirkungen auf viele ehemalige sowjetische Staaten und auch auf Länder, die geographisch nahe an Russland liegen, da sie Gefahr laufen, zwischen die Fronten zu geraten oder selbst Angriffsziel zu werden. Die Schuldfrage bzw. der Auslöser für diesen Angriffskrieg wird sowohl vonseiten Russlands als auch von manchen westlichen Experten auf die Osterweiterung der NATO zurückgeführt, wodurch

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Russland den Narrativ der Verhinderung einer weiteren „NATO-Expansion“ ableitet, um den Angriffskrieg gegen die Ukraine zu rechtfertigen. Es ist jedoch ein gut durchdachtes Kalkül des Kreml, dies nur als plausibles Argument für die Bevölkerung im Westen und für die eigene Bevölkerung zu benutzen. Ob Russland sich tatsächlich durch die NATO bedroht fühlt, ist eine schwer zu beantwortende Frage. Ein Blick auf die taktischen Atomwaffen beider Seiten auf dem europäischen Kontinent zeigt jedoch, dass die Anzahl der russischen taktischen Nuklearwaffen im Vergleich zu denen des Westens um einen Faktor von etwa 1:10 überlegen ist.9 Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat es in den e­ hemaligen Gebieten der Sowjetunion immer wieder militärische Auseinandersetzungen und eingefrorene Konflikte mit einer überragenden Rolle Russlands gegeben, aber trotzdem hat der Westen die wirtschaftlichen und handelspolitischen Beziehungen zu Moskau sukzessive ausgebaut. Russland hat in der Vergangenheit oft durch die Verlegung von Truppen entlang der ukrainischen Grenzen unter dem Deckmantel von Militärübungen auf Eskalation gesetzt und keine adäquate Reaktion des Westens erfahren. Es kann festgehalten werden, dass der Kreml keine direkte militärische Einmischung des Westens in den Krieg gegen die Ukraine befürchtet. Der einzige Fall, bei dem es zu einer Ausnahme kommen könnte, wäre die Überschreitung einer roten Linie durch den Einsatz von Kernwaffen in diesem Krieg. Sowohl die USA als auch China haben unmissverständlich klargemacht, dass ein solcher Einsatz ihre rote Linie überschreiten würde. Im Augenblick scheint allerdings die nukleare Erpressung die bevorzugte Option zu sein, aber es laufen keine Vorbereitungen auf einen tatsächlichen Einsatz von Nuklearwaffen in Russland. Ein weiterer Grund hinter der russischen Aggression könnte unter anderem die Verhinderung der Erweiterung der EU gewesen sein, jedoch nicht aus militärischer und sicherheitspolitischer Sicht, sondern aus einer geoökonomischen Perspektive. Aus der Sicht Moskaus handelt es sich dabei um eine massive Einschränkung seines wirtschaftlichen Einflussbereichs. Die

9 Congressional Research Service. (2022, March 7). Nonstrategic Nuclear Weapons. Abgerufen von https://sgp.fas.org/crs/nuke/RL32572.pdf

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EU hat ihre Außenpolitik gegenüber Russland in den Jahren nach seinem Angriff auf Georgien und der ersten Invasion der Ukraine drastisch verändert und sich nicht mehr hauptsächlich auf Russland konzentriert, sondern auf die Östliche Partnerschaft, zu der Belarus, Aserbaidschan, die Ukraine, Georgien, Armenien und Moldawien gehören. Auch wenn die Ukraine noch nicht alle Anforderungen erfüllt, um Mitglied in der Europäischen Union zu werden, ist die aktuelle Tendenz, sich Europa anzunähern und Teil des Binnenmarktes und der Familie der 27 Mitglieder zu werden, deutlich erkennbar. Moskaus Ziel, die europäische Assoziierung der Ukraine zu behindern, war durch die Invasion der Ukraine 2014 nur vorübergehend erreicht. Jedoch hat der Beginn des umfassenden Krieges 2022 das Gegenteil bewirkt – nämlich die eindeutige Unterstützung der EU und aller EU-Mitgliedsstaaten zugunsten der ukrainischen Integration durch die Erteilung des Kandidatenstatus. 4. Militärlage Die Ukraine gab ihren neutralen Status auf, als sie im Jahr 2014 militärisch angegriffen wurde. Sie sah sich mit unmöglichen Forderungen seitens Russlands konfrontiert, als Russland beim zweiten Angriff im Jahr 2022 die „Entnazifizierung und Demilitarisierung“ sowie die Wiedereinführung eines neutralen Status verlangte.10 Russland hatte das Ziel, einen schnellen Sieg in einem kurzen Krieg aus mehreren Richtungen zu erzielen, bei dem es die Regierung durch einen Blitzangriff auf Kiew stürzen und schnell Fakten vor Ort schaffen wollte. Dabei hat sich der russische Präsident geirrt, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi mit seinem Kabinett ins Ausland fliehen, die ukrainische Bevölkerung die Präsenz der russischen Truppen auf eigenem Territorium willkommen heißen und die ukrainische Armee keinen Widerstand leisten würde. Angesichts der desaströsen Leistung des russischen Militärs entpuppte sich diese Strategie von Wladimir Putin als militärisches Fiasko. 10 Gensing, P., Reisin, A., & Reveland, C. (2022, February 25). „Entnazifizierung“ als Vorwand. Tagesschau. Abgerufen von https://www.tagesschau.de/faktenfinder/russland-propagandaukraine-101.html

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Während der ersten kritischen Phase des Krieges gelang es den ukrainischen Streitkräften, die Angriffe der russischen Truppen in Kiew, Tschernihiw und Sumy, also im Norden und Nordosten der Ukraine, erfolgreich abzuwehren. Nach dem Rückzug der russischen Truppen wurde der Fokus auf den Donbas sowie Charkiw und Cherson verlegt.11 Die USA, die ständig vor einem unmittelbar bevorstehenden militärischen Angriff Russlands gewarnt hatten, begannen mit den Lieferungen von kritischen Waffensystemen an die Ukraine. Dies war entscheidend dafür, dass die anfänglich zögerliche Unterstützung Europas beschleunigt wurde, da diese zusammen mit den bereits gegen Russland verhängten neun Sanktionspaketen die beiden Hauptsäulen des westlichen Ansatzes darstellen. Der Westen zielt darauf ab, den ukrainischen Streitkräften solche umfassende militärische Unterstützung zu bieten, dass sie die russischen Attacken abwehren und die russischen Truppen mithilfe von Gegenoffensiven dauerhaft von ukrainischem Territorium vertreiben können. Dies war beispielsweise in den Gebieten Charkiw und Cherson möglich und führte in der nächsten Kriegsphase zu militärischen Erfolgen für die Ukraine im Sommer.12 Ab Herbst konnte Russland seine Strategie anpassen und die Frontlinien in den vier Regionen Cherson, Saporishshja, Donezk und Luhansk, die gegen das Völkerrecht annektiert wurden, durch die erste verkündete Teilmobilisierung von etwa 300.000 Reservisten stabilisieren.13 Gleichzeitig begann Russland im Oktober massive Raketen- und Drohnenangriffe auf kritische Infrastruktur in ukrainischen Städten und Dörfern, um den Zusammenbruch von Strom-, Wasser- und Heizversorgungen sowie die Terrorisierung der Zivilbevölkerung herbeizuführen.14 Der Krieg befindet sich in einer neuen Eskalationsphase, auf die sich Russland durch die Mobilisierung weiterer Hunderttausend Reservisten vorbereitet, da Moskau den ers-

11 Reisner, M. (2022). Der Krieg um die Ukraine – Die Schlacht im Donbass: Eine Kurzzusammenfassung nach 70 Tagen. In: AIES Fokus, 4. Abgerufen von https://www.aies.at/download/2022/AIES-Fokus-2022-04.pdf 12 Reisner, M. (2022). „Ukrainisches Fegefeuer“ – Der Krieg um die Ukraine: Eine Zusammenfassung nach 250 Tagen. AIES Fokus, 7. Abgerufen von https://www.aies.at/download/2022/ AIES-Fokus-2022-07.pdf 13 https://www.npr.org/2022/10/28/1132229763/russia-ukraine-putin-russian-troopsmilitary-draft-mobilization 14 Siehe Fußnote 12

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ten Jahrestag des Kriegsbeginns mit einem militärischen Sieg begehen will, wahrscheinlich im Donbas. Die Ukraine würde ebenso weitere Gegenoffensiven im Süden und Osten des Landes in Erwägung ziehen. Die beiden Kriegsparteien stecken in einem Ermattungskrieg, bei dem die Ziele so diametral entgegengesetzt sind, dass kaum Aussicht auf einen Waffenstillstand oder Friedensgespräche besteht. Zwar konnten die Türkei und die Vereinten Nationen eine Einigung mit der Ukraine und Russland über die Schwarzmeerinitiative für Getreide und andere Nahrungsmittelrohstoffe erzielen. Abgesehen davon hat es jedoch keine weiteren diplomatischen Fortschritte gegeben. Russland bleibt darin bestrebt, die Ukraine durch einen militärischen Sieg zu unterwerfen und dadurch die vollständige Kontrolle über das Land, seine Ressourcen und die Bevölkerung zu erlangen. Die Ukraine hingegen zielt darauf ab, die russischen Truppen von ihrem gesamten Territorium zu vertreiben und ihre Präsenz dauerhaft zu beenden. In dieser Patt-Situation wird die Ukraine auf die dauerhafte militärische, finanzielle, humanitäre und diplomatische Unterstützung des Westens angewiesen sein. Russland wird sich darauf verlassen, mithilfe von Partnern wie China, Indien, der Türkei usw. die umfangreichen westlichen Sanktionen zu umgehen und keine internationale Isolation zuzulassen. Gleichzeitig wird Moskau weiterhin militärische Unterstützung von Partnern wie Iran, Belarus usw. erhalten. Seit Beginn des Krieges hatte Russland die Möglichkeit, zwischen einem kurzen und einem langen Krieg zu wählen, während die Ukraine gezwungen war, zwischen Krieg und völliger Unterwerfung zu wählen. Europa glaubt jedoch immer noch, dass es zwischen Krieg und Frieden wählen kann, ohne zu realisieren, dass die europäische Sicherheitsordnung am 24. Februar durch einen nicht-kinetischen Krieg, durchgeführt von Russland, ebenso angegriffen wurde. Somit wurden geoökonomische Abhängigkeiten von Energie- und Nahrungsmittel- sowie Düngemittelrohstoffen als geopolitische Waffen eingesetzt.15 Darüber hinaus wurde eine nukleare Erpressung durch die Androhung des Einsatzes von Atomwaffen seitens Russ15 Martens, P. (2022, September 21). Der Westen hatte 20 Jahre lang eine ‚Russia-first-Politik‘. Energate messenger, abgerufen von https://www.energate-messenger.at/news/226613/derwesten-hatte-20-jahre-lang-eine-russia-first-politik

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lands betrieben. Nicht zuletzt löste der Krieg große Migrationswellen aus und führte zu massiven Cyberangriffen sowie einer Intensivierung des Informationskrieges. Der Krieg ist daher nicht nur für die Zukunft der Ukraine und von Russland, sondern auch für die Zukunft der europäischen Sicherheitsordnung von entscheidender Bedeutung.

  Abbildung 1: Frontverlauf in Russlands Krieg gegen die Ukraine, Quelle: Wiener Zeitung

5. Das Globale System Die Entfaltung regionaler Machtzentren erweckt den trügerischen Eindruck von Multipolarität, während sich in Wirklichkeit eine neue Bifurkation des Globalen Systems aufgrund des Systemkonflikts zwischen den USA und China entfaltet, der Russland zu einer Neupositionierung zwingt. Mit Russlands Krieg gegen die Ukraine manifestiert sich ein neuer Kalter Krieg

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2.0, wobei alle signifikanten regionalen Akteure einen Balanceakt zwischen den USA und China vollführen, um nicht in einer binären Welt verfangen zu bleiben.16 Russland verschiebt langsam, aber sicher seinen Schwerpunkt von einer geoökonomischen Interdependenz mit Europa zum Indopazifik, weil dort das größte Wirtschaftswachstum erwartet wird und die russischen Rohstoffe nachgefragt sind. Aus diesem Grund ist der russische Präsident darauf bedacht, das Kapitel „Einflussbereich“ in Osteuropa durch die Unterwerfung der Ukraine zu schließen und dadurch die Machtverschiebungen innerhalb der europäischen Sicherheitsarchitektur endgültig zu seinen Gunsten zu entscheiden. Der russische Präsident Putin versucht, aus dem systemischen Wettbewerb zwischen China und den USA Nutzen zu ziehen. Sein Ansatz in Bezug auf den Krieg gegen die Ukraine hatte drei Dimensionen. Dabei ging es nicht nur um die Unterwerfung der Ukraine und die Zerstörung der europäischen Sicherheitsarchitektur, sondern auch um die Neupositionierung im Wettbewerb zwischen den USA und China. Russland hat seit seiner Isolation durch den Westen im Jahr 2014 sukzessive einen neuen Modus Vivendi der Zweckgemeinschaft mit China aufgebaut.17 Moskau benötigte aufgrund der westlichen Sanktionen einen mächtigen Verbündeten, während China einen verlässlichen Juniorpartner mit regionaler Machtprojektion benötigte, um seinen internationalen Einfluss zu stärken. Darüber hinaus könnte Russland den Zeitpunkt für den Wiedereinmarsch Moskaus in die Ukraine mit dem Ende der Olympischen Spiele koordiniert haben, da diese in China stattfanden. Xi Jinping und Wladimir Putin trafen sich am 4. Februar im Rahmen eines lang erwarteten Gipfeltreffens, bei dem beide Präsidenten ihre „Freundschaft ohne Grenzen“ erklärten. Die gemeinsame Erklärung markierte einen Wendepunkt in ihren bilateralen Beziehungen, den der russische Präsident als notwendige Bedingung für die Entscheidung in Bezug auf den Krieg gegen die Ukraine sah. Wladimir Putin hätte nie-

16 Tchakarova, V. (2022). Die Bifurkation des Globalen Systems und die Geburtsstunde des Drachenbären. CSA Kompakt, 2. Abgerufen von https://static1.squarespace.com/ static/57444cbd4c2f85e970724864/t/61eabe076e25231954a0e56c/1642774024327/ CSA+kompakt+02_22+-+Tchakarova+-+Drachenba%CC%88r.pdf 17 Ebenda.

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mals einen solch groß angelegten Krieg gegen die Ukraine gestartet, wenn er nicht auf Chinas finanzielle, wirtschaftliche und diplomatische Unterstützung vertraut hätte. Viele Experten für Russland und China betrachten die beiden Länder immer noch als getrennte Bedrohungen, dennoch stellt der Modus Vivendi der systemischen Koordination zwischen Peking und Moskau zunehmend einen komplexen „Bedrohungsmultiplikator“ dar.18 6. Zukunftsszenarien Derzeit gibt es drei Hauptszenarien für den Krieg. Im ersten Szenario erhält die Ukraine ausreichend schwere Waffensysteme und Munition und ist in der Lage, die russischen Truppen aus dem gesamten oder zumindest einem Großteil des ukrainischen Territoriums zurückzudrängen.19 Zugleich könnten die westlichen Sanktionen zu einem Zusammenbruch der russischen Wirtschaft oder sogar zur Auflösung der Russischen Föderation im Kontext einer zunehmenden internationalen Isolation Russlands führen. Im zweiten Szenario stellt man sich eine Zukunft vor, in der aufgrund von unzureichenden und langsamen Lieferungen von schweren Waffen an die Ukraine ein russischer Sieg in der Region Donbas möglich wird. Dies ermöglicht Russland, den Schwerpunkt auf den Süden in Richtung Odessa zu verlegen und mithilfe von weiteren Teilmobilisierungswellen den Ermattungskrieg fortzusetzen. Schließlich sieht das dritte Szenario vor, dass die Ukraine bei der Beschaffung von schweren Waffensystemen zu langsam ist, während Russland trotz umfassender westlicher Sanktionen nicht international isoliert bleibt, vor allem dank Partnern wie China, Indien, der Türkei, dem Iran usw. Auf dieses Szenario hin droht ein neuer eingefrorener Konflikt in den kommenden Jahren.

18 Stern (2021, September 8). Langfassung Dragon & Bear: Wie Moskau und Peking gemeinsam gegen den Westen operieren. Stern. Abgerufen von https://www.stern.de/politik/ausland/ langfassung-dragon-bear--wie-moskau-und-peking-gemeinsam-gegen-den-westen-operieren-­ 31638180.html 19 Schönhuber, R. (2023, January 2). Wie der Krieg in der Ukraine wahrscheinlich zu Ende geht. Wiener Zeitung. Abgerufen von https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/politik/ europa/2173242-Wie-der-Krieg-wahrscheinlich-zu-Ende-geht.html

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Die Ukraine hat bislang keine Sicherheitsgarantien und muss um ihr Überleben kämpfen, während 17 % ihres Territoriums weiterhin unter russischer Kontrolle bleiben. Das Land befindet sich in einer geopolitischen Grauzone zwischen der euro-atlantischen Gemeinschaft und dem russischen Imperialismus und Revisionismus. Nach fast einem Jahr hat sich die Lage im Krieg um die Ukraine angesichts der bevorstehenden nächsten großen Eskalationsphase stark verschärft. Waffenstillstands- bzw. Friedensgespräche bleiben aufgrund der diametral entgegengesetzten Ziele beider Staaten weiterhin ausgeschlossen. Es bleibt unklar, wie der Krieg endet und welches Szenario eintreten wird. Um das erste Szenario zu ermöglichen, muss Europa seine militärische Unterstützung für die Ukraine nicht nur fortsetzen, sondern auch intensivieren, während es gleichzeitig seine Beziehungen zu Drittländern in Asien, Afrika und Lateinamerika diversifiziert, um Russlands Isolation zu verstärken. Was am dringendsten benötigt wird, ist ein strategischer Konsens innerhalb der EU und ihrer Mitgliedsstaaten darüber, nicht nur das Überleben der Ukraine zu sichern, sondern einen tatsächlichen Sieg der Ukraine über Russland zu ermöglichen.20 Wladimir Putin ist bekannt für sein Zitat, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts war. Der russische Präsident ist wahrscheinlich der größte Anhänger der „Realismus“-Schule und hat die Geopolitik des 21. Jahrhunderts gut verstanden, hat es aber gleichzeitig versäumt, seinen eigenen Staat, seine Gesellschaft und sein Militär darauf vorzubereiten. Er könnte das russische Land von der „größten geopolitischen Katastrophe“ des 20. Jahrhunderts in eine wahrscheinliche endgültige Auflösung der Russischen Föderation im 21. Jahrhundert führen. Osteuropa-Historiker Karl Schlögl ist überzeugt: „Der Untergang des Imperiums ist die Bedingung für die Selbstfindung, die Regeneration und das Überleben Russlands.“21

20 Huld, S. (2023, Jänner 6). Gressel: Neue Panzerlieferungen „sind Quantensprünge“. n-tv.de. Abgerufen von https://www.n-tv.de/politik/Gressel-Neue-Panzerlieferungen-sind-Quantenspruenge-article23827588.html 21 Götz, T. (2022, Dezember 18). „Putinismus? Das ist völkische, antiwestliche Rhetorik, Stalinkult und nackter Oberkörper“. Kleine Zeitung. Abgerufen von https://www.kleinezeitung.at/ politik/aussenpolitik/ukraine/6228725/Interview_Putinismus-Das-ist-voelkische-antiwestlicheRhetorik

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Eine Zeitenwende für die ­Landesverteidigung? Der Krieg in der Ukraine und die ­Auswirkungen auf das Österreichische Bundesheer Im Kontext des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine ist oftmals von einer Zäsur bzw. Zeitenwende die Rede. „The return of history and the end of dreams“, wie bereits 2008 von Robert Kagan im gleichnamigen Buch vorausgedacht, scheint sich zu verwirklichen. Die nach dem Ende des Kalten Krieges erhoffte neue Phase einer friedvollen Weltordnung wurde spätestens mit dem 24. Februar 2022 zur Makulatur. Vielmehr zeichnet sich das Bild einer multipolaren Unordnung, das Auseinanderdriften der Interessen der zentralen internationalen Akteure wie Europa, den USA, China und der Russischen Föderation sowie eine Zunahme regionaler Konflikte und Instabilität, vor allem in der östlichen und südlichen Nachbarschaft der EU.

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Gerade die EU und die Bemühungen, eine glaubwürdige Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik aufzubauen, wurden durch die Rückkehr des Kriegs auf den europäischen Kontinent vor neue Herausforderungen gestellt. Dies zeigt sich auch beim Blick auf die zentralen strategischen Dokumente der EU, die Europäische Sicherheitsstrategie von 2003 und den 2022 beschlossenen Strategischen Kompass der EU. Während die Europäische Sicherheitsstrategie ein positives Bild der Entwicklung Europas zeichnet – „Europa war noch nie so wohlhabend, so sicher oder so frei“1 –, liest sich die (als Konsequenz des Krieges) veränderte Einleitung des am 21. März 2022 beschlossenen Strategischen Kompasses völlig anders: „Die Rückkehr des Krieges nach Europa durch die grundlose und ungerechtfertigte Aggression Russlands gegen die Ukraine sowie große geopolitische Veränderungen stellen eine Herausforderung für unsere Fähigkeit dar, unsere Vision zu verbreiten und unsere Interessen zu verteidigen. Wir leben in einer Zeit des strategischen Wettbewerbs und komplexer Sicherheitsbedrohungen.“2 Diese Entwicklungen führten bei einer Vielzahl von EU-Mitgliedsstaaten zu politischen Bekenntnissen und (teilweise) Beschlüssen, die respektiven Verteidigungsbudgets signifikant zu erhöhen. Auch in Österreich wurde sofort nach Ausbruch des Kriegs der Ruf nach einer entsprechenden finanziellen Aufstockung des Budgets für das Österreichische Bundesheer (ÖBH) laut. In der Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates vom 25. Februar 2022 wurde von allen Parlamentsparteien einstimmig der Beschluss gefasst: „Diese aktuelle Krise zeigt dem Nationalen Sicherheitsrat die Notwendigkeit einer glaubwürdigen militärischen Landesverteidigung im Sinne eines gut ausgestatteten und ausgebildeten Bundesheeres mit einem dementsprechend hoch dotierten Budget im Sinne der verfassungsmäßigen Vorgaben.“ Der nachstehende Artikel beschreibt das sich verändernde sicherheitspolitische Umfeld Österreichs, unterstreicht die Notwendigkeit ver-

1 Rat der Europäischen Union: „Ein sicheres Europa in einer besseren Welt“, Europäische Sicherheitsstrategie, Brüssel 12.12.2003, S. 1. 2 Rat der Europäischen Union: „Ein Strategischer Kompass für Sicherheit und Verteidigung – Für eine Europäische Union, die ihre Bürgerinnen und Bürger, Werte und Interessen schützt und zu Weltfrieden und internationaler Sicherheit beiträgt“, Dok. 7371/22, S. 2.

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teidigungspolitischer Kooperation und analysiert das LandesverteidigungsFinanzierungsgesetz und den Aufbauplan als wesentliche Grundlage für die Weiterentwicklung des Österreichischen Bundesheeres. Das veränderte Sicherheitsumfeld – Konsequenzen für Österreich Als Konsequenz des Kriegs in der Ukraine wurde seitens des Bundesministeriums für Landesverteidigung das Risikobild 2030 aktualisiert und die sich aus dem Krieg ergebenden Interdependenzen zu anderen sicherheitspolitischen Herausforderungen herausgearbeitet. In diesem Risikobild 2032 wurde festgehalten, dass sich die Sicherheitslage für Österreich in den kommenden zehn Jahren weiter verschlechtern wird und sich insbesondere durch die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs und von COVID-19 die geopolitische (System-)Konfrontation zwischen den USA und China weiter verschärfen wird. Die wesentlichen Risiken für Österreich sind hybride Bedrohungen, sich verschärfende Konflikte im südlichen und östlichen Krisenbogen, die signifikante Verschärfung militärischer Risiken sowie eine stark gestiegene sicherheitspolitische Bedeutung ökonomischer Risiken. Bezeichnend ist für das Risikobild 2032, dass dieses durch umfangreiche selbstverstärkende Effekte multipler Krisen beeinflusst ist. Wie bereits auch die Coronapandemie, so hat auch Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine sicherheitspolitische Trends beschleunigt und verstärkt. Um diesen Herausforderungen entsprechend begegnen zu können, wurde seitens der Bundesministerin für Landesverteidigung ein neues Streitkräfteprofil verfügt. Die Aufgabenerfüllung des ÖBH wird geographisch von Österreich ausgehend über unsere Nachbarn und die Europäische Union mit ihren Außengrenzen bis zu Räumen außerhalb Europas, deren Sicherheitslage Auswirkungen auf Österreich hat, gedacht. Beim Streitkräfteprofil „Unser Heer“ liegt das Schwergewicht auf der militärischen Landesverteidigung zur Abwehr überwiegend nichtkonventionell vorgehender Gegner in Österreich und zusätzlich auf einer eher reaktiven Umfeldstabilisierung Österreichs und der EU zur Stabilisierung von konflikthaften Entwicklungen mit Auswirkungen auf Österreich. Die zunehmenden Herausforderungen und die Verschlechterung des Sicherheitsumfeldes erfordern zunehmend österreichische Handlungs- und Stra-

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tegiefähigkeit und insbesondere Kooperation mit europäischen und internationalen Partnern, die mehr und mehr zu einem Wesensmerkmal der Verteidigungspolitik wird. Die Notwendigkeit verteidigungspolitischer Kooperationen Die verteidigungspolitischen Kooperationsmöglichkeiten Österreichs sind durch den vorgegebenen Rechtsrahmen klar definiert, wobei hier neben den Bestimmungen des Neutralitäts-BVGs insbesondere auch die sich aus Art. 23j B-VG im Zusammenhang mit Art. 42 EUV ergebenden Möglichkeiten zu erwähnen sind. Gerade der Krieg in der Ukraine hat zu einer Veränderung der europäischen Sicherheitsarchitektur geführt, da neben der Integration Dänemarks in die Strukturen der GSVP insbesondere der bevorstehende NATO-Beitritt Finnlands und – trotz der türkischen Vetodrohung – wohl auch Schwedens dazu führt, dass nunmehr 97 Prozent der EU-Gesamtbevölkerung in NATO-Staaten lebt und für diese das Bündnis zentral für den Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist. Mit Österreich werden die drei „Inseln“ Irland, Zypern und Malta „nur“ der EU angehören, wobei sich insbesondere die geographische Lage fundamental von jener Österreichs unterscheidet. Dies bedingt, dass nunmehr auch in Europa ein klarer Schwenk im Bereich der Verteidigungspolitik in Richtung NATO erfolgen wird und Österreich eher früher als später gefordert sein wird, seine verteidigungspolitische Position für alle Partner verständlich erklären. Gleichzeitig wird die Kooperation unter den vier neutralen/allianzfreien EU-Mitgliedsstaaten zunehmen müssen, um hier den eigenen Interessen entsprechend Gehör zu verschaffen. Gerade im Bereich der Beschaffungen wird es für Österreich essenziell sein, mit bewährten Partnern noch enger zusammenzuarbeiten. Darüber hinaus gewinnen auch regionale Kooperationsformate, wie beispielsweise die Westbalkan-Initiative des ÖBH, die Central European Defence Cooperation (CEDC), deren Vorsitz Österreich 2022 innehatte, sowie multilaterale Vereinbarungen (Eurocorps, Framework Nations Concept) für Österreich an Bedeutung. Durch die steigenden Verteidigungsbudgets in allen EUMitgliedsstaaten und den damit verbundenen Nachfragedruck wird es für

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Österreich wohl nur im europäischen Verbund möglich sein, in größere Beschaffungsvorhaben miteinzusteigen. Dabei gilt, nach Prüfung der rechtlichen Möglichkeiten, dass hier rasch auch Bereitschaft zu Regierungskooperationen signalisiert und auf typische österreichische Versionen verzichtet wird. Darüber hinaus werden die sich aus dem EU-Recht ergebenden neuen Möglichkeiten gemeinsamer Beschaffung rasch mitzudenken sein, und neue Initiativen sollten zumindest einer seriösen Prüfung einer möglichen Beteiligung unterzogen werden, wobei der spezielle Charakter der österreichischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik berücksichtigt werden muss. Wichtig ist dabei rasches Handeln, da eine spätere Aufnahme in derartige Projekte wohl mit einem erheblich höheren Kostenanteil verbunden wäre. Österreich hat sich bereits in der Vergangenheit als verlässlicher Partner im EU-Rahmen positioniert und auch die Ausarbeitung des Strategischen Kompasses als wesentlichen Grundlagendokuments mitvorangetrieben. Es gilt hier nun, die im Kompass vorgesehenen konkreten Aktivitäten und Aufgaben mit Leben zu erfüllen und hier auch den österreichischen Beitrag entsprechend zu leisten und die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU im Lichte der Verträge weiterzuentwickeln und zu vertiefen. Durch die in allen EU-Mitgliedsstaaten und auch in Österreich erfolgte Aufstockung der Verteidigungsbudgets besteht nunmehr die Möglichkeit, die – insbesondere vom französischen Präsidenten Macron regelmäßig stipulierte – „strategische Autonomie der EU“ mit Leben zu erfüllen. Das Landesverteidigungs-Finanzierungsgesetz und der Aufbauplan 2032 Nach langen politischen Verhandlungen wurde am 15. November 2022 im österreichischen Parlament das sogenannte Landesverteidigungs-Finanzierungsgesetz (LV-FinG) als Budgetbegleitgesetz beschlossen. Dieses bietet – erstmals in der Geschichte der Zweiten Republik – eine zeitlich über den Bundesfinanzrahmen hinausgehende Grundlage für eine längerfristige Finanzierungsperspektive des ÖBH. Dies ist insofern erforderlich, als die (Weiter-)Entwicklung von militärischen Fähigkeiten komplex ist und deren Aufbau Zeit benötigt. Hinzu kommt die Tatsache, dass militärische Be-

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schaffungsvorgänge meist einer mehrjährigen Umsetzung unterliegen. Dies erfordert daher eine langfristige Planungssicherheit, um den angekündigten Fähigkeitenaufbau auch entsprechend zu erzielen. Zur besseren und transparenten Darstellung der Fähigkeitenentwick­ lung sieht das LV-FinG die Erstellung eines Landesverteidigungsberichts (LV-­Bericht) vor. Dieser erläutert das LV-FinG und dessen Zielsetzungen. Das BMLV legt diesen Bericht dem Nationalrat jährlich rollierend vor. Ähnlich der sogenannten „Armeebotschaft“3 der Schweiz erläutert der LV-­ Bericht gemäß den Vorgaben des § 1 Abs 3 LV-FinG die sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen und beschreibt die darauf erforderliche Reaktion und Strategie. Dargestellt werden besonders die Beschaffungs-, Per­sonal- und Investitionsplanungen im Überblick sowie konkrete Beschaffungsvorhaben mit geplanter Laufzeit und erwartetem budgetären Umfang. Der Budgetlogik folgend umfassen die verbindlichen Aufstockungen den Bundesfinanzrahmen 2023–2026. Insgesamt sieht das LV-FinG ein Gesamtbudget für die UG 14 von € 16 Mrd. für die Periode 2023–2026 vor. Von 2022 auf 2023 wurde das Budget von € 2,7 Mrd. um € 680 Mio. auf € 3,38 Mrd. erhöht. Bis 2027 wird das jährliche Budget schrittweise auf 5,25 Milliarden € erhöht. Für die Jahre 2027 bis 2032 besteht aufgrund der aktuellen Bedrohungslage die Notwendigkeit, das Budget der UG 14 auf einem erhöhten Niveau fortzuführen. Angestrebt wird ein jährliches Budget in der Höhe von 1,5 % des jeweils zuletzt festgestellten BIP4, inkludierend die Pensionen des Verteidigungsbereichs, so wie dies auch internationalen Standards entspricht. Zur Übersetzung des LV-FinG in konkrete Planungsvorhaben wurde seitens des Generalstabs der sogenannte „Aufbauplan 2032“5 erstellt, der einen Planungshorizont von zehn Jahren aufweist und der rollierenden Erstellung der Landesverteidigungsberichte zugrunde gelegt wird. Somit wird

3 Siehe hierzu die Website des Eidgenössischen Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport: https://www.vbs.admin.ch/de/sicherheit/armee/armeebotschaften.html [22.01.2023]. 4 Siehe hierzu Erläuternde Bemerkungen zu § 2 Abs 2 LV-FinG. 5 Siehe hierzu: Hofbauer, Bruno G: Aufbauplan 2032, in: Truppendienst 16.12.2022, abrufbar unter: https://www.truppendienst.com/themen/beitraege/artikel/aufbauplan-bundesheer-2032 [22.01.2023].

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der erste Landesverteidigungsbericht die Dekade von 2023 bis 2033 umfassend beschreiben, während sich die Folgeberichte auf die Darstellung der Umsetzung und eventuelle Veränderungen konzentrieren. Der Aufbauplan 2032 definiert drei Hauptschwerpunkte6: 1.Verbesserung der Mobilität der Einsatzkräfte Das Schwergewicht bildet der Bereich der geschützten Mobilität, insbesondere der Ergänzung der geschützten Fahrzeugflotte sowie dringend benötigter Transportfahrzeuge. Auch in der Luft müssen die Transportfähigkeiten ausgebaut und verbessert sowie die Hubschrauberflotte weiter modernisiert werden. Die aktive Luftraumüberwachung muss auf einen zeitgemäßen Stand gebracht werden und durch die Erweiterung und Modernisierung der Flotten auch weiterhin sichergestellt werden. 2. Erhöhung des Schutzes und der Wirkung für unsere Soldatinnen und Soldaten Alle Soldatinnen und Soldaten werden mit moderner persönlicher Ausrüstung, dem benötigten Individualschutz sowie Mitteln für Nachtkampf und Kommunikation ausgestattet, damit sie ihre Aufträge bei Tag und Nacht präzise erfüllen können. Es wird in den Kernbereich der militärischen Landesverteidigung, in den Schutz vor Bedrohungen aus der Luft und in fortschrittliche Sensoren für unsere Aufklärungskräfte investiert. Die mechanisierte Truppe mit Kampfpanzern, Schützenpanzern, Pionierpanzern und der Artillerie wird modernisiert, wodurch Panzerschutz, Feuerkraft und hohe Beweglichkeit sichergestellt werden. 3. Autarkie zur Stärkung der Verteidigungsbereitschaft Autarke Kasernen mit hohem Schutzgrad, ausreichend Versorgungsgütern und hochwertiger Sanitätsversorgung bilden die Basis für die Aufrechterhaltung der Einsatzfähigkeit. Energie für die Infrastruktur wird zu einem hohen Anteil selbst erzeugt. Der Kampf im Cyber-Raum und die elektro-

6 Information abgerufen von: https://www.bundesheer.at/cms/artikel.php?ID=11569 [22.01.2023].

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nische Kampfführung sind heute auf dem Gefechtsfeld nicht mehr wegzudenken. Digitale Führungs- und Kommunikationsmittel bilden die Voraussetzung für den wirkungsvollen Einsatz des modernen Bundesheeres. Daher wird auch in diese Bereiche massiv investiert. Für die Investitionen in diesen Bereichen sind bis 2032 etwa 16 Milliarden Euro geplant – etwa fünf Milliarden für die Mobilität, etwa sieben Milliarden für Schutz und Wirkung und etwa drei Milliarden für Autarkie und Nachhaltigkeit.7 Ausblick Österreich steht – wie die Europäische Union und der Westen insgesamt – sicherheits- und verteidigungspolitisch vor enormen Herausforderungen. Die Sicherheitsordnung Europas ist mit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine weiter erodiert. Russland führt Krieg nicht nur zur territorialen Eroberung, sondern auch und gegen die politischen Kulturen und Werte Europas bzw. des Westens. Generell ist eine realistische Rückwendung in der internationalen Politik feststellbar, offen ausgetragene Machtkonkurrenz bestimmt das Weltgeschehen, und der Multilateralismus sowie das Völkerrecht stehen wie selten zuvor infrage. Der idealistischen Vorstellung vom Frieden durch Zusammenarbeit und präventive Reduktion von Gewalt wird ein realistischer Ansatz konfliktbereiter und interessengesteuerter Mächte und revolutionärer Bewegungen gegenübergestellt. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat deutlich zum Ausdruck gebracht, dass Österreich und die EU mit einer signifikanten Erhöhung der militärischen Risiken konfrontiert sind und robuste nationale militärische Fähigkeiten somit alternativlos sind. Um diesen Herausforderungen entsprechend zu begegnen und auch die notwendigen Fähigkeiten bereitstellen zu können, ist die Kooperation mit internationalen Partnern als Grundprinzip der Verteidigungspolitik unabdingbar. Darüber hinaus bedingt die enorme Interdependenz der Risiken über die Systemebenen hinweg einen gelebten gesamtstaatlichen Ansatz. Mit dem Landesverteidigungsfinan-

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S. Hofbauer, FN 5.

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zierungsgesetz und dem Aufbauplan wurden die wesentlichen Grundlagen für eine fortlaufende Weiterentwicklung des Österreichischen Bundesheeres gelegt. Durch die derzeit vorherrschende Dynamik im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, der Hinterfragung bzw. auch Überwindung bestehender nationaler Dogmen und dem generell feststellbaren Mentalitätswechsel der Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist auch Österreich gefordert, hier seinen Beitrag im europäischen Verbund zu leisten. Im Interesse der Sicherstellung einer glaubhaften militärischen Landesverteidigung im europäischen Verbund muss dieser Pfad allerdings nachhaltig verfolgt werden.

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Die geopolitische Zeitenwende Der Aufsatz beschäftigt sich mit der Zeitenwende in den internationalen Beziehungen, die von der russischen Invasion in der Ukraine 2022 ausgelöst wurde. Die Dynamik einer instabilen Weltordnung wird anhand der zu erwartenden Rolle der Großmächte USA, China, Europäische Union und eines geschwächten Russlands analysiert. Die Kernaussagen lauten, dass die Ära, in der Frieden mit immer weniger Waffen und hauptsächlich durch wirtschaftliche Macht geschaffen wurde, vorbei ist und dass für Europa damit zum zweiten Mal die Nachkriegszeit endet, die nach Jahrzehnten des „Kalten Krieges“ 1990 mit der „Charta von Paris“ eine gemeinsame stabile und dauerhafte europäische Sicherheitsarchitektur versprochen hatte.

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Der 24. Februar 2022 hat mit dem Beginn des Angriffskrieges der Russischen Föderation auf den Nachbarstaat Ukraine eine geopolitische Zeitenwende eingeläutet, deren Dimension nur mit dem Untergang der kommunistischen Regime Europas von 1989 bis 1992 vergleichbar ist. Der große und anspruchsvolle Begriff „Zeitenwende“ wurde bereits vier Tage nach dem Beginn der militärischen Invasion vom deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz in einer Grundsatzrede im Deutschen Bundestag in die Diskussion gebracht und prägte 2022 die internationalen Beziehungen und die Analysen einer fragmentierten Weltordnung: „Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor“.1 Und es war bereits am Ende dieses Jahres wiederum der deutsche Bundeskanzler, der in einem Artikel in „Foreign Affairs“ zu erklären versuchte, „wie ein neuer Kalter Krieg in einer multipolaren Ära vermieden werden kann“2. Weder die amerikanische politischmilitärische Dominanz der letzten dreißig Jahre noch die Strategie „Wandel durch Handel“ seitens der demokratisch-marktwirtschaftlich organisierten Staaten hatte eine widerstandsfähige Weltordnung sicherstellen können. Der wirtschaftliche Aufstieg Chinas und der revisionistische Imperialismus Russlands waren lange vor 2022 als Zeichen für eine neue instabile und fragmentierte Weltordnung erkennbar. Olaf Scholz schreibt in „­ Foreign Affairs“: „Auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 hielt Putin eine aggressive Rede, in der er die regelbasierte internationale Ordnung als bloßes Werkzeug amerikanischer Vorherrschaft brandmarkte. Im Jahr darauf führte Russland Krieg gegen Georgien. Im Jahr 2014 besetzte und annektierte Russland die Krim und entsandte Truppen in Teile der im Osten der Ukraine gelegenen Region Donbas – unter eklatanter Verletzung des Völkerrechts und Moskaus eigener vertraglicher Verpflichtungen. In den Folgejahren untergrub der Kreml Rüstungskontrollverträge und baute seine militärischen Fähigkeiten aus, vergiftete und ermordete russische Dissidentinnen und Dissidenten, ging hart gegen die Zivilgesellschaft vor und inter-

1 https://www.bundesregierung.de/resource/blob/992814/2131062/78d39dda6647d7 f835bbe76713d30c31/bundeskanzler-olaf-scholz-reden-zur-zeitenwende-download-bpa-data. pdf?download=1 S. 8 [28.12.2022]. 2 Olaf Scholz, Die globale Zeitenwende. Wie ein neuer Kalter Krieg in einer multipolaren Ära vermieden werden kann (=Foreign Affairs, volume 102, number 1, January/February 2023): https://www.foreignaffairs.com/germany/die-globale-zeitenwende [27.12.2022].

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venierte in einem brutalen militärischen Einsatz zugunsten des Assad-Regimes in Syrien. Schritt für Schritt schlug Putins Russland einen Weg ein, der das Land von Europa und von einer auf Zusammenarbeit beruhenden Friedensordnung immer weiter entfernte.“3 Das Ende der Nachkriegszeit Es lässt sich bereits jetzt sagen, dass „die Ära, in der Frieden mit immer weniger Waffen und hauptsächlich durch wirtschaftliche Macht geschaffen wurde“4, vorbei ist. Für Europa endet damit zum zweiten Mal die Nachkriegszeit, die nach Jahrzehnten des „Kalten Krieges“ 1990 mit der „Charta von Paris“ eine gemeinsame stabile und dauerhafte europäische Sicherheitsarchitektur versprochen hatte. Nicht das Ausmaß an Rohstoffreserven, sondern ihre Verfügbarkeit werden zur geopolitischen Waffe. International verbundene Energiemärkte und ihre physische Infrastruktur schaffen politische Abhängigkeiten. In dieser Logik ist es gut vorstellbar (aber nicht bewiesen), dass der Sabotageangriff auf die Nord-Stream-Pipelines im September 2022 von russischer Seite erfolgte. Die Stärkung der ukrainischen staatlichen Identität durch den russischen Angriffskrieg und die ukrainische militärische Widerstandsfähigkeit mithilfe westlicher Unterstützung beruhen auf grundlegenden Fehleinschätzungen der russischen Führung. Dieser Krieg stellt nicht nur den vorläufigen Höhepunkt geschichtspolitisch legitimierter imperialer Ambitionen Russlands dar, sondern kann als direkte Konsequenz der im Sommer 2021 beschlossenen neuen russischen „Nationalen Sicherheitsstrategie“5 interpretiert werden. Darin wird die Gefahr einer „Verwestlichung“ der russischen Welt zur existenziellen Bedrohung erklärt und die Verteidigung der „historischen Wahrheit“ und der Kampf gegen jegliche Geschichtsfälschung werden als Grundlagen der Sicherheitsstrategie genannt: „Die informationelle und psychologische Diversion und die ‚Verwestlichung‘ (westernisazija) der

3 Ebd. 4 Herfried Münkler, Interview in: Kurier (27.12.2022) 4. 5 http://publication.pravo.gov.ru/Document/View/0001202107030001 [26.12.2022].

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Kultur verstärkt die Gefahr, dass die Russländische Föderation ihre kulturelle Identität verliert“6. Der Krieg gegen die Ukraine, der in Russland unter Strafandrohung nur als „militärische Operation“ zur „Entnazifizierung“ und „Entmilitarisierung“ der Ukraine und zur Verhinderung eines „Genozids“ an der russischsprachigen Mehrheitsbevölkerung des ostukrainischen „Donbass“ bezeichnet werden darf, wurde von Wladimir Putin im russischen Staatsfernsehen bereits am 21. Februar 2022 mit einer ausführlichen geschichtspolitischen Leugnung eigenständiger ukrainischer Geschichte und Identität vorbereitet. Nach fast einem Jahrtausend gemeinsamer Geschichte innerhalb der russischen Welt habe erst die Sowjetunion eine „Sowjetukraine“ geschaffen, die das gemeinsame Volk der Russen und Ukrainer getrennt hat: „Die Ukraine ist für uns nicht einfach ein Nachbarland. Sie ist integraler Bestandteil unserer eigenen Geschichte“7. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Aufsatzes ist der Krieg in der Ukraine weder militärisch noch politisch entschieden. Aber in jedem Fall kann bereits jetzt analysiert werden, dass der russische Präsident imperiale Erinnerungspolitik als Begründung für einen Krieg gegen die Ukraine verwenden konnte, ohne dass dieses „Geschichtsnarrativ“ von einer Mehrheit der russischen Bevölkerung infrage gestellt wurde. Gleiches gilt für die Tatsache, dass Präsident Putin geopolitisch das Ende der Zeit nach dem „Kalten Krieg“ erklärt hat, weil er den Krieg gegen die Ukraine ausdrücklich als Kampf gegen den „Westen“ und seine liberale Weltordnung bezeichnet. Der 24. Februar bedeutet einen tiefen Einschnitt in den Beziehungen zwischen Europa und Russland. Es wurde damit voraussichtlich für lange Zeit die Hoffnung zerstört, durch engere Kooperation – der Universitäten, der Zivilgesellschaft, aber auch der Wirtschaftspartner – zu einem vertrauenswürdigen Verhältnis zu finden. Trotz erster westlicher Sanktionen als Reaktion auf die russische Annexion der Krim 2014 wurden danach

6 Zitiert in: HANS-HENNING SCHRÖDER, Feinde ringsum. „Der Westen“ als Gefahr für Russlands innere Sicherheit, in: Länder-Analysen – Russland Nr. 411, 16.12.2021, 21–23, https:// www.laender-analysen.de/russland-analysen/411/RusslandAnalysen411.pdf 7 Siehe VLADIMIR PUTIN, Rede an die Nation vom 21.2.2022, in: Zeitschrift Osteuropa 3/2022, https://zeitschrift-osteuropa.de/blog/putin-rede-21.2.2022/ [26.12.2022]

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in EU-Staaten noch Verträge zur Errichtung der Pipeline Nord Stream 2 unterzeichnet. Auf den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine haben die EU-Mitgliedsstaaten rasch und gemeinsam mit wirtschaftspolitischen Maßnahmen reagiert: Sie haben 2022 neun Sanktionspakete gegen Russland verabschiedet. Die Sanktionen zielen insbesondere darauf ab, die russische Wirtschaft und die regimenahe politische Elite massiv zu schwächen. Nahezu jeden Monat wurden von der EU (und von allen westlichen Verbündeten) neue zusätzliche Wirtschaftssanktionen gegen Russland verhängt. Zu keiner Zeit seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gab es vergleichbare Sanktionsregime von westlicher Seite. Man muss davon ausgehen, dass derzeit zwischen Russland und dem Rest Europas eine ziemlich undurchdringliche neue Mauer entsteht. Der Krieg ist auch für die russische Seite ein tiefer Einschnitt. Es ist zu erwarten, dass das Ergebnis dieses Krieges ein schwaches, isoliertes Russland sein wird. Dies betrifft Wirtschaft und Politik, aber auch die Kontakte im kulturellen und im wissenschaftlichen Bereich, ja selbst die Zusammenarbeit zwischen Sportverbänden. Zwar versuchen viele Organisationen die Kontakte so weit wie möglich aufrechtzuerhalten (zu Recht, soweit sie nicht politisch gelenkt sind), aber das wird nur zum Teil gelingen und es ist zu erwarten, dass wir mit einem noch stärkeren Nationalismus auf russischer Seite rechnen müssen. Die Führung im Moskauer Kreml hat sich entschieden, auf Isolation, militärische Stärke und starke Kontrolle der eigenen Bevölkerung zu setzen. Sie nimmt offensichtlich in Kauf, dass dies insgesamt für die russische Bevölkerung Nachteile bringen wird. Mitteleuropa. Peripherie oder Frontstaaten einer Zeitenwende? Mit dem Beginn des russischen Angriffskrieges auf den mitteleuropäischen Nachbarstaat Ukraine am 24. Februar 2022 ist die erhoffte Etablierung einer demokratisch organisierten, stabilen europäischen politischen Architektur für den gesamten Kontinent für lange Zeit gescheitert. Seit dem Ende der ideologischen Ost-West-Teilung Europas wurden die meisten mitteleuropäischen Staaten in den letzten drei Jahrzehnten Teil der Europäischen Union, und auch für die sechs Staaten des Westbalkans besteht die realistische Perspektive einer EU-Mitgliedschaft. Auch Staaten wie die Ukra-

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ine, die Republik Moldau und Georgien, ja selbst das diktatorisch regierte Belarus fühlten sich in einer neuen mitteleuropäischen Situation. In vielerlei Hinsicht blieben sie Peripherie zwischen der EU und Russland, aber sie konnten zumindest ihre nationale Identität entwickeln. Mitteleuropa war auf der Landkarte nach Osten gerückt, und das Band mitteleuropäischer Staaten vom baltischen Raum über die „Visegradstaaten“ bis zu Rumänien und Bulgarien wurde in der EU zur östlichen Peripherie des „Westens“. Für diese Staaten ging es um die Anpassung an das Normen- und Regelwerk einer weiterhin westeuropäisch geprägten Europäischen Union. Sie erhielten innerhalb dieser Union wenig Aufmerksamkeit und kaum Führungs- und Gestaltungsmacht angeboten. Wenn konservative Regierungen in Polen und Ungarn für Verletzungen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit kritisiert wurden, war die Antwort oft, dass man nicht das Joch der kommunistischen Sowjetunion abgeschüttelt habe, um nun von der EUKommission in Brüssel regiert zu werden. Tatsächlich wird die Zukunft des europäischen Integrationsprozesses vom Gelingen der auch mentalen Integration dieser Region abhängen. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine hat die Voraussetzungen und auch die Chancen für diese Staaten geändert, weil die Staaten Mitteleuropas durch die Aktionen Russlands von einer Peripherie zu Frontstaaten einer Zeitenwende werden. Diese neuen EU-Staaten hatten seit langem vor der imperialistischen Politik der russischen Führung gewarnt und sicherheitspolitische Naivität und energiepolitische Abhängigkeit in der EU kritisiert. Das Wort der „Zeitenwende“ gilt auch für die neue Bedeutung der Mitte Europas für die Eindämmung eines russischen Imperialismus, von dem die Europäer nur hoffen können, dass er nicht dauerhaft zu einer neuen, auch ideologischen Frontlinie quer durch Europa führen wird. Es ist nicht überraschend, dass Polen bisher die größte Zahl an ukrainischen Vertriebenen aufgenommen hat, in Europa die größte humanitäre und militärische Hilfe leistet und am deutlichsten die transatlantische Partnerschaft weiter verstärken möchte. Ein Beispiel für die von Russland ungewollt ausgelöste Dynamik ist die Tatsache, dass der Ukraine im Juni 2022 mit einem einstimmigen Beschluss aller EU-Mitglieder der Status als Beitrittskandidat zuerkannt wurde.

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Zeitenwende und der lange Schatten der Geschichte Am Beginn des 20. Jahrhunderts kritisierte der europäisch orientierte Geschichtsphilosoph Pjotr Tschaadajew das Russlandbild der Europäer: „Die Menschen in Europa vergreifen sich in sonderbarer Weise in Bezug auf uns; sie versteifen sich darauf, uns dem Osten auszuliefern; durch eine Art des europäischen Instinkts stoßen sie uns in den Orient ab, um uns nicht mehr im Westen zu sehen.“ Was hat diese Einschätzung mit dem russischen Krieg in der Ukraine zu tun? Dieser Krieg ist aus der Sicht der russischen Führung und einer Mehrheit der Bevölkerung eine Auseinandersetzung um die russische Identität, eine Auseinandersetzung um Geschichte und um Geographie. Es ist nicht nur Putins Krieg. Es ist der Krieg für ein imperiales russisches Selbstverständnis, für einen geopolitischen Anspruch. Die leitenden Ideen lauten dabei: Die Welt ist nach dem Ende der „pax americana“ multipolar geworden, in ihr kämpfen die Großmächte um Einflusszonen. Russland und seine Orthodoxe Kirche sind eine eigene Zivilisation, die weder als europäisch noch asiatisch zu beschreiben ist. Der langjährige „philosophische“ Berater Putins (und ehemalige Ukraine-Beauftragte) Vladislav Surkov schrieb bereits 2018 über Russlands geopolitische Mission unter dem Titel „100 Jahre geopolitische Einsamkeit“: „Das Jahr 14 unseres Jahrhunderts ist der Beginn einer neuen Ära von unbestimmter Dauer – die Epoche 14+, in der uns hundert (zweihundert? dreihundert?) Jahre geopolitischer Einsamkeit bevorstehen. Die Verwestlichung ist vom falschen Dimitri leichtsinnig begonnen und von Peter dem Großen entschlossen fortgesetzt worden – über 400 Jahre wurde alles auf jegliche Art probiert. […] Die russische Armee kämpfte siegreich und aufopferungsvoll in allen großen Kriegen des Kontinents, der, wie die Erfahrung gezeigt hat, wohl mehr als alle anderen zu Massengewalt und Blutrünstigkeit neigt. Die großen Siege und die großen Opfer haben Russland viele westliche Gebiete eingebracht, aber keine Freunde.“8

8 Zitiert in: https://www.dekoder.org/de/article/geopolitik-surkow-russland-europa [30.12.2022].

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Der Krieg in der Ukraine als Auseinandersetzung um Werte Als vor mehr als 300 Jahren Zar Peter der Große St. Petersburg gründete und später Katharina die Große russische und westliche Geographen dafür anstellte, um den Ural als „natürliche“ geographische Grenze Europas zu beschreiben, war der politische Wille, als Teil Europas und der Zone der „Aufklärung“ zu gelten, evident. In dieser kulturellen Tradition stand auch das kommunistische Experiment von der Oktoberrevolution bis zur Auflösung der Sowjetunion. Aber der Kommunismus machte als eine in Europa entstandene Weltanschauung, die in Russland reüssierte, auch deutlich, dass die Liebesziehung zwischen Europa und Russland ambivalent ist. Der Historiker Orlando Figes beginnt seine Darstellung der Kulturgeschichte Russlands mit der berühmten Szene von Tolstois Roman „Krieg und Frieden“, in der die junge Fürstin Natascha ein ihr unbekanntes Volkslied hört und instinktiv zu der Melodie zu tanzen beginnt. Diese Szene verdeutlicht, dass es keine eindeutige Antwort auf die Frage nach dem europäischen Charakter der russischen Kultur gibt und dass – zumindest bei Tolstoi – eine parallele Existenz zwischen dem modernen europäischen Leben und russischen Traditionen wesentlich bleibt. Diese Russlandbilder zeigen, dass seit dem Ende des Ost-West-­­Kon­ flikts in Europa kulturelle Vorstellungen über Gemeinschaften und ihre Grenzen wieder geographischer und historischer geworden sind. Dabei ist es nicht überraschend, dass gegenüber und in Russland geopolitische Überlegungen wieder eine Rolle spielen. Geopolitik spricht in der Regel von den realpolitischen nationalen Interessen. Aber in der aktuellen Diskussion erzeugen die gegenseitigen propagandistischen Vorwürfe das weltanschauliche Bild, dass ein liberal-dekadenter Westen einem konservativ-autoritären Russland gegenübersteht. Die kulturellen Fremdheiten werden betont, die dann jeweils mit realpolitisch durchaus nachvollziehbaren Fakten „unterfüttert“ werden (NATO-Erweiterungen, „legitime“ Sicherheitsinteressen, Menschenrechtsdiskussionen, Kriegsverbrechen). Kultur wird wieder zum Argumentationsmaterial für politische Interessen. Schon Milan Kundera hat in seinem berühmt gewordenen Aufsatz aus dem Jahr 1983 über die „Tragödie Mitteleuropas“ das Vorbild für diese Entwicklung gegeben. Er beschreibt darin anhand des Beispiels russischer Soldaten, die bei der Einnahme von Warschau das Klavier von Frédéric Chopin aus dem Fenster

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warfen, Russland als asiatische Macht, die nach 1945 die „Veröstlichung“ Mitteleuropas erzwungen hat. Der Chefredakteur des 2022 von den russischen Behörden verbotenen Radiosenders „Echo Moskwy“ Alexei Wenediktow stellte kürzlich lakonisch fest: „Im Geschichtsbuch zu leben ist eine Katastrophe“. Der Krieg wird von Russland mit kulturellen Argumenten begründet, aber die Wahrheit sind die Kriegsverbrechen. Das große Welttheater oder der lange Weg zu einer neuen Weltordnung Die Welt ist in Bewegung geraten. Auf der Bühne der Welt steht wieder „Geopolitik“ auf dem Spielplan. Dabei war alles nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges so stabil geordnet. Es gab die Erste, die Zweite und die Dritte Welt. Dann hat sich die Zweite der Ersten ergeben und der Dritten wurde versprochen, dass sie mit etwas mehr Demokratie und Marktwirtschaft der Ersten ähnlich werden könnte. Heute scheint hingegen vielen, dass die Welt aus den Fugen geraten ist und wieder in eine möglichst stabile Ordnung gebracht werden muss. Ohne es explizit so zu nennen, wussten bereits die Historiker der Antike, dass „Geopolitik“ mehr umfasst als nur das Erkennen der Rolle von Geschichte und Geographie in den internationalen Beziehungen.9 Mit den Entwicklungen des Jahres 2022 wird die gesamte Weltordnung neu verhandelt. Wer garantiert in Zukunft die Sicherheit in Europa? Ist Deutschland mit seiner radikalen sicherheitspolitischen Wende auf dem Weg zu einer politischen Großmacht? Gibt es eine Zukunft für die OSZE oder wird die noch vor wenigen Monaten vom französischen Staatspräsidenten als „hirntot“ bezeichnete NATO auf absehbare Zeit die einzige glaubhafte und wirksame Verteidigungsallianz der demokratischen freien Welt darstellen? Wird ein nach dem Ukraine-Krieg militärisch und politisch geschwächtes Russland Teil einer neuen europäischen Sicherheitsarchitek-

9 Zur Theorie von Geopolitik siehe: Geoffrey Sloan, Geopolitics, Geography and Strategic History (Abingdon 2017).

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tur sein oder wird es Teil einer asiatischen Welt sein, in der China und in bestimmten Fragen auch Indien und die Türkei die bestimmenden Mächte sind? Wird es in einer neuen Form des Kolonialismus wieder zu einem Wettlauf um politische Einflusszonen und Rohstoffe sowie Lieferketten in Afrika oder auch in der Arktis kommen? Wird die Drohung des Einsatzes von Atomwaffen wieder zu einer realistischen militärischen und politischen Option? Die multilaterale Weltordnung, wie sie nach 1945 entworfen wurde, scheint den Putins, Xi Jinpings und Trumps dieser Welt nicht mehr zu entsprechen. Was sie in ihrer Kritik verbindet, ist der Vorwurf, dass die Weltordnung zu „liberal“ sei, zu liberal für den kapitalistischen Trump, zu liberal für den kommunistischen Xi Jinping und zu liberal für den autokratischen Putin. In dieses Bild fügen sich auch die vielen Nebendarsteller, die ihre Spielarten nationaler Identitätspolitik ebenfalls gerne mit den Schwächen liberaler Gesellschaftsentwürfe begründen. Für die Orbáns, Salvinis, Erdoğans, Modis und Bolsonaros ist die Welt zu „politisch korrekt“ geworden. Und die wenigen, die an ihren sozialistischen Ordnungsvorstellungen festhalten wollen, die Kim Jong-uns, Maduros und Díaz-Canels dieser Welt, fürchten sich zu Recht vor einer schicksalhaften Transformation ihrer nationalen Welt. Um die weltpolitische Lage verstehen zu können, lohnt sich ein Blick auf die großen Spieler und darauf, ob sie überhaupt das Gleiche meinen, wenn sie ihre Rolle in der Weltpolitik beschreiben. Die politische, militärische und wirtschaftliche Dominanz der Vereinigten Staaten hat seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes real eher zugenommen. Dennoch war die Position Amerikas in den internationalen Beziehungen nach dem demütigenden Abzug der westlichen alliierten Truppen aus Afghanistan im September 2021, den immer stärkeren europäischen Anstrengungen für eine eigenständige weltpolitische Rolle und der zunehmenden Rivalität mit China in den Monaten vor der russischen Invasion in der Ukraine deutlich geschwächt. Sogar die jährlich abgehaltene Münchner Sicherheitskonferenz hatte sich 2020 das Motto „Westlessness“ gegeben und damit einen Westen beschrieben, der im Inneren gespalten und von illiberalen Kräften getrieben sei. So wurde die geopolitische Lage zumindest von Russland eingeschätzt. Hinzu kam eine neu gewählte demokratische US-Administration, an deren Spitze Präsident Joe Biden damit be-

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schäftigt sein musste, die innenpolitische Polarisierung zu überwinden, die Präsident Trump hinterlassen hatte. Umso erstaunlicher ist daher, dass der russische Krieg in der Ukraine nicht nur ziemlich präzise von amerikanischen Geheimdiensten terminlich vorhergesagt wurde, sondern vor allem, dass innerhalb weniger Tage eine westliche Allianz unter amerikanischer Führung zur Unterstützung der Ukraine zustande kam, die Wirtschaftssanktionen in die Wege leitet, der Ukraine enorme wirtschaftliche und humanitäre Hilfe gibt und der ukrainischen Armee zunehmend mehr militärische Unterstützung zusagt. Entgegen den russischen und wohl auch chinesischen Erwartungen besteht heute aufgrund der russischen Aggression wieder eine unbestrittene transatlantische Partnerschaft, wie sie seit dem Ende der OstWest-Teilung Europas nicht mehr erwartbar war. Und all dies geschieht unter dem Schirm einer im Wesentlichen von den USA geführten NATO, die derzeit sogar mit Schweden und Finnland neue Mitglieder aufnimmt, die sich bisher keiner militärischen Allianz anschließen wollten. Darüber hi­naus erhöhen alle europäischen NATO-Mitglieder ihre Militärausgaben, wie dies zumindest seit Präsident Obama eine amerikanische Forderung an die europäischen Verbündeten darstellte. Selbst in Österreich, wo bisher keine ernsthafte politische Diskussion über die neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen feststellbar ist, werden die Verteidigungsausgaben ab 2023 deutlich erhöht, und die Zusammenarbeit mit der NATO wird so eng gestaltet, wie es neutralitätspolitisch noch möglich ist. Aber noch ein zweiter Aspekt deutet darauf hin, dass die USA von der „Zeitenwende“ zentral betroffen sein werden. Henry Kissinger schreibt in seinem Buch „Weltordnung“, dass das regelbasierte System vor großen Herausforderungen steht. Die Konstante in der amerikanischen Außenpolitik scheint darin zu bestehen, dass sie die unilaterale Dominanz der Vereinigten Staaten durch eine multilaterale Außenpolitik sichern möchte, die auf dem geopolitischen System von 1945 beruht. Der nach dem Zweiten Weltkrieg errichtete amerikanische Konsens einer sich stetig ausbreitenden, kooperativen Ordnung von Staaten, die gemeinsamen Regeln und Normen folgen, liberale Wirtschaftssysteme haben und sich demokratische Regelsysteme geben, beruhte darauf, dass die USA im nichtkommunistischen Teil der Welt so eindeutig dominierten, dass sie von diesem System profitieren konnten, obwohl oder gar weil sie

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mehr „als ihren angemessenen Teil“ in dieses System investierten. Das klingt heute anders. Von ihren westlichen Verbündeten verlangen sie eine stärkere Beteiligung an den Verteidigungsausgaben, und bei der heute zunehmend fragmentierten internationalen Handels- und Finanzordnung verlangen sie mehr Mitsprache und bessere Bedingungen. Aber sind die USA überhaupt noch die Hauptdarsteller auf der Weltbühne oder stimmen die mit immer mehr Zahlenmaterial unterlegten Aussagen, dass China längst den ersten Platz einnimmt? Tatsächlich ist die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung Chinas der letzten Jahrzehnte mehr als beeindruckend, aber China ist auch mittelfristig in erster Linie mit seiner eigenen „Entwicklung“ und „Stabilität“ beschäftigt. Für eine Wachablösung in Richtung einer von China bestimmten Weltordnung fehlte dem Land mit der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt bisher der Anspruch, die politisch bestimmende Weltmacht zu sein. Die negativen wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-Epidemie und der Versuch, eine neutrale Position im Ukraine-Krieg einzunehmen, haben China 2022 keine geopolitischen Vorteile gebracht. Auch nach dem XX. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas bleibt die Selbstbeschreibung unverändert, das weltweit größte Entwicklungsland zu sein. Dennoch beginnt sich die Rhetorik zu ändern. Ende des Jahres hat der chinesische Außenminister Wang Yi in einer Grundsatzrede die Beziehungen zu den anderen Großmächten Russland, USA und Europäische Union als Kern chinesischer Geopolitik bezeichnet. Das Ziel sei eine „Großmachtdiplomatie mit chinesischen Merkmalen“10. Als wesentlichen Einfluss- und Erfolgsfaktor sieht China die Anfang 2022 formalisierte „umfassende strategische Partnerschaft“ mit Russland, die infolge des Krieges in der Ukraine noch mehr einer Partnerschaft mit Russland als Juniorpartner gleicht. Aber Russland, das 2022 die Zeitenwende ausgelöst hat, fordert als flächenmäßig größter Staat der Welt seinen gleichberechtigten Platz am Tisch der Großen. Als zweitstärkste Militärmacht der Welt mit dem weitgehend intakten Atomwaffenarsenal der ehemaligen Sowjetunion und als

10 Siehe Text der Rede von Außenminister Wang Yi vom 25.12.2022: https://www.fmprc.gov. cn/eng/zxxx_662805/202212/t20221225_10994828.html [30.12.2022].

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Rohstoff-Lieferant von Erdgas bis zu Diamanten hatte Russland bis vor der Entscheidung zum Krieg gegen die Ukraine gute Karten, um für sich tatsächlich Respekt in einer multipolaren Weltordnung einzufordern. Die Russische Föderation ist seit dem Machtantritt von Präsident Putin im Jahr 2000 eine revisionistische Großmacht, in der Fragen der Demokratie, Wirtschaftsordnung und Rechtsstaatlichkeit systematisch dem Großmachtanspruch untergeordnet werden. Seit dem Ende der kommunistischen Herrschaft und dem Untergang der Sowjetunion ist die Frage der russischen nationalen Identität ungeklärt. Der Großmachtanspruch und die Frage der nationalen Identität stellen die entscheidenden Faktoren für die derzeitige russische Politik dar, in einer multipolaren Welt um fast jeden Preis einen Platz am Tisch der Großen zu behalten. Die innenpolitischen Machtverhältnisse sind stabil. Es ist daher wahrscheinlich, dass Russland seinen derzeitigen Kurs zumindest bis zu den Präsidentschaftswahlen 2024 beibehält: Konzentration auf innere Sicherheit und damit auch Kontrolle und weitere Einengung der Freiräume der Zivil­ gesellschaft, moderate Modernisierung der Wirtschaft ohne große Strukturreformen, Fortsetzung einer Politik der außenpolitischen Einflusssphären und eine entsprechende geopolitische Neuordnung. Der russische Präsident benötigt staatsnahe Oligarchen mit möglichst persönlicher Abhängigkeit von ihm und die direkte Einflussnahme auf alle Wirtschaftssektoren, um seine Machtbasis zu erhalten. Nachdem aber dieses System aufgrund der westlichen Wirtschaftssanktionen frühestens 2024 wieder Wachstumsraten der russischen Wirtschaft erwarten lässt11, steigt die Wahrscheinlichkeit weiterer außenpolitischer Abenteuer und patriotischer Meinungsmobilisierungen, um von der nicht erreichbaren deutlichen Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Bevölkerung abzulenken. Die russische Führung ist heute unter allen Großmächten jene, die am genauesten weiß, welch große Bedeutung „hard power“ in der künftigen Weltordnung besitzen könnte. Was in der russischen strategischen Analyse zählt, sind Rohstoffe, Transportwege und militärische Stärke. Daher wird

11 Siehe Vorhersagen der Forschungseinrichtung der Finnischen Nationalbank: https://publica tions.bof.fi/bitstream/handle/10024/52270/brf0222.pdf [30.12.2022].

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sich die Welt auf das wenig erfreuliche Szenario einstellen müssen, dass nukleare Abschreckung wieder als machtpolitisches Drohpotenzial eingesetzt wird. Dies ist der letzte verbliebene Bereich, in dem Russland seinen Weltmachtanspruch weiterhin glaubwürdig anmelden kann. Und welche Rolle bleibt auf dieser Weltbühne für Europa? Es gibt jedenfalls weiterhin keine Telefonnummer, die ein Nachfolger Kissingers anrufen könnte, um den politischen Standpunkt der Europäischen Union oder gar ganz Europas in Erfahrung zu bringen. Eine echte „föderale“ Union mit gemeinsamer Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik könnte wohl helfen, um diesem Kontinent mit der weltweit größten Marktmacht und Sozialsystemen, die dem überwiegenden Teil der Welt als Vorbild dienen, eine Rolle bei der Gestaltung der Weltordnung im 21. Jahrhundert zu geben. Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte ist einer von jenen, die einfordern, dass „Europa weniger naiv und stattdessen realistischer“ sein sollte. Zur Macht der Europäischen Union zählen die kulturelle Vielfalt und die Attraktivität sozialer Marktwirtschaft: Es werden auch in Zukunft Menschen nach Europa kommen, und Europa braucht Zuwanderung. Die EU muss folglich eine Einwanderungsstrategie zustande bringen, die pragmatisch ist und im Einklang mit europäischen Werten steht. Das bedeutet, irreguläre Migration einzudämmen und gleichzeitig legale Wege nach Europa zu stärken, insbesondere für die Fachkräfte, die auf den Arbeitsmärkten gebraucht werden. 2022 war scheinbar kein gutes Jahr für liberale Demokratien, wenn selbst überzeugte Idealisten realpolitisch handeln müssen. Wenn wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit und nationale Sicherheit in Demokratien zur obersten Priorität politischen Handelns werden, öffnen sich neue Handlungsspielräume für Autokraten. Das ist die geopolitische Wahrheit unserer Tage. Sollten auch immer mehr kleine Staaten dieser Logik folgen, dann ist ihre Konsequenz, dass die auf liberalen universalen Werten beruhende multilaterale Weltordnung zwar als Bühne voraussichtlich weiterbestehen wird, aber die Musik immer lauter von einem Konzert der wenigen Großen gespielt wird. Auf dem Programmzettel des großen Welttheaters steht: Die USA bleiben noch lange die Nummer eins. Die Welt wird – von hybrid bis atomar – militärisch und machtpolitisch wieder gefährlicher. Völkerrechtliche

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„Werktreue“ wird vom „deal-making“ eines „Regietheaters“ herausgefordert. Es ist nicht klar, ob Europa auf diesem Programmzettel als Akteur oder als Bühnenbild stehen wird. Russlands Angriffskrieg mag die Zeitenwende ausgelöst haben – die tektonischen Verschiebungen sind jedoch viel weitreichender. Das Ende des Kalten Krieges bedeutete nicht, wie von einigen vorausgesagt, das „Ende der Geschichte“. Aber genauso wenig wiederholt sich Geschichte. Viele sind der Auffassung, dass wir am Beginn einer neuen Ära der Bipolarität innerhalb der internationalen Ordnung stehen. Sie sehen einen neuen Kalten Krieg heraufziehen, der die Vereinigten Staaten und China als Gegner in Stellung bringt. Wir erleben derzeit das Ende einer außergewöhnlichen Phase der Globalisierung und werden Zeuge eines historischen Wandels, der durch externe Schocks wie die COVID-19-Pandemie und Russlands Krieg in der Ukraine zwar beschleunigt, aber nicht allein dadurch ausgelöst wurde. Russland ist nur das Serbien dieser neuen Zeitenwende. Gefragt ist jetzt die Stunde der Diplomatie. Dies gilt nicht nur für Verhandlungen über ein Ende des Krieges in der Ukraine, sondern auch für stabile geopolitische Lösungen einer europäischen Sicherheitsarchitektur, des Welthandelssystems, der Weltgesundheitsordnung und insbesondere der globalen Klimakrise und des universellen Systems der Vereinten Nationen.

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Valentin Inzko

Westbalkan – aktuelle ­Entwicklungen   Die Europäische Perspektive, die den Balkanländern gegeben wurde, ist schon so alt, dass sich eine jüngere, selbst politisch interessierte Öffentlichkeit daran kaum erinnern kann. Ich spreche vom Gipfeltreffen EU – Westliche Balkanstaaten, das am 21. Juni 2003 in Thessaloniki in Griechenland stattfand, also vor beinahe 20 Jahren. Dort erhielten die Länder des Balkans eine Beitrittsperspektive („Die Zukunft der Balkanstaaten liegt in der Europäischen Union“). Die Balkanländer verpflichteten sich aber auch, konkrete Ziele anzustreben, wie in den Bereichen regionaler Freihandel, visafreier Verkehr innerhalb der Region, Ausbau der Verkehrsinfrastruktur und parlamentarische Kooperation, um nur einige zu nennen. In der Zwischenzeit sind von den früheren jugoslawischen Teilrepubliken  Slowenien (2004) und Kroatien (2013) in die EU aufgenommen worden. Beide Staaten befinden sich auch im Euro- und Schengenraum, Kroatien seit Jänner 2023. 

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Die restlichen Balkanstaaten befinden sich in verschiedenen Stadien des Fortschritts, wobei Montenegro als EU-Kandidatenland die meisten Kapitel geöffnet und vorläufig geschlossen hat. Lange Zeit war Mazedonien, das sogar die Verfassung und den Staatsnamen auf Nordmazedonien geändert hat, Musterschüler. Kosovo ist Schlusslicht, bekommt aber spätestens am 1. Jänner 2024 visumfreien Verkehr mit der EU. Dies hat man im Kosovo mit großer Freude zur Kenntnis genommen. Für den Durchschnittsbürger ist dies eine enorm praktische Entscheidung, die im realen Leben als bedeutender angesehen wird, als allfällige internationale Verträge. Die Bewohner des Kosovo bekommen vor allem das Gefühl, dass sie in Europa willkommen sind. Ich kann mich noch gut an die Euphorie erinnern, als ich in Bosnien-Herzegowina nicht nur Hoher Repräsentant der Internationalen Gemeinschaft mit UN-Sicherheitsratsmandat war, sondern auch Sonderbeauftragter der EU.  Am 15. Dezember 2010 hat die EU nämlich den visafreien Verkehr für Bosnien Herzegowina eingeführt. Die mühsame Periode der tausendfachen Ausstellung von Besuchervisas ging zu Ende.  Ich habe den visafreien Verkehr vollinhaltlich unterstützt. Jedenfalls gab es euphorische Reaktionen im Sinne von: „Wir sind Europa!“ Symbolisch flogen 100 Jugendliche am 15. 12. 2010 mit einem EU-finanzierten Sonderflug ohne Visum nach Brüssel. Die Sarajevoer Philharmonie organisierte ein Festkonzert für tausende Bürger. Zwölf Jahre sind seither ins Land gezogen und die Freude über den nunmehr verliehenen Kandidatenstatus der EU ist ebenfalls groß, denn die Staatsbürger des leidgeprüften Landes sind grundsätzlich europäisch orientiert.  Schon einmal war Bosnien-Herzegowina, zumindest 40 Jahre lang, Teil Europas, im Rahmen der österreichisch-ungarischen Monarchie. Auch heute noch gilt in Bosnien-Herzegowina das österreichische Grundbuch. In diesen vierzig Jahren gab es einen gewaltigen Modernisierungsschub. Und seit damals hat Österreich in diesem Balkanland einen ausgezeichneten Ruf, der ab 1992 mit der Aufnahme von 100.000 Flüchtlingen, mit der Balkan-Politik von Alois Mock, mit beträchtlichen Investitionen nach dem Friedensvertrag von Dayton 1995 und mit den Friedenstruppen des Österreichischen Bundesheeres weiter gestärkt wurde. Was den an Bosnien-Herzegowina verliehenen Kandidatenstatus betrifft, so habe ich diesen immer gefordert. Nicht alle Politiker haben diesen Status verdient, denn einige von

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ihnen wollen den Staat zerstören (Präsident der Republika Srpska, Dodik, in Anspielung auf den BREXIT: „Good bye Bosnia, welcome RS exit“. Er anerkennt auch den staatlichen Verfassungsgerichtshof nicht). Die schwer geprüfte Bevölkerung hat den Kandidatenstatus jedoch sehr wohl verdient. Den Menschen geht es aber zu langsam. Sollte nämlich Bosnien Herzegowina in zehn Jahren in die EU kommen, was nicht leicht zu bewältigen sein wird, ich denke da insbesondere an die Rechtsstaatlichkeit –, dann hätte Bosnien-Herzegowina seit Thessaloniki genaue 30 Jahre gewartet. Auch ein Millionenerbe das man in 30 Jahren antreten kann, verliert an Attraktivität.  Es gab auch aufrichtige US-amerikanische Initiativen. So reiste der Stellvertreter von Hillary Clinton, James Steinberg, 2009 wiederholt nach Sarajewo, wo er versuchte, eine Verfassungsreform einzuleiten („Butmir process“ genannt, nach dem Militärflughafen, wo die Verhandlungen stattfanden). Er scheiterte aber an der Kompromisslosigkeit einzelner lokaler Politiker und der mangelnden Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft. Schon einige Jahre vorher, nämlich 2006, scheiterte das umfassende „Aprilpaket“ institutioneller Reformen, das ebenfalls von den Vereinigten Staaten initiiert wurde. Damals fehlten zwei Abgeordnetenstimmen für einen Erfolg. Einen Reformversuch hat auch der Erweiterungskommissar der EU, Štefan Füle, unternommen, der der bosnischen Seite im Juni 2012 eine „Road Map“, einen EU-Vorgehensplan, überreichte. Neben Rechtsstaatlichkeit ging es ab 2016 auch um die Errichtung eines „Koordinationsmechanismus“, der alle Institutionen des Landes umfassen und die Beantwortung eines umfangreichen EU-Fragebogens erleichtern sollte.  Wegen schleppender Fortschritte in Bosnien-Herzegowina kam es im November 2014 zur britisch-deutschen Bosnien-Initiative. Diese Initiative betraf insbesondere die Reformen im sozio-ökonomischen Bereich. Schwierige Bereiche wurden ausgeklammert oder auf später verschoben, wie die Verfassungsreform. Berliner Prozess  Wegen weitgehender Stagnation startete  Kanzlerin Angela Merkel 2014 in der deutschen Hauptstadt den Berliner Prozess, der den ganzen Balkan umfassen sollte und der 2015 mit einem Gipfeltreffen in Wien, später in Pa-

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ris (2016), in Triest (2017), in London (2018) und 2019 in Poznan in Polen, 2021 wieder in Berlin und 2022 in Sofia seine Fortsetzung fand. Beim Berlin-Prozess ging es um eine verstärkte Nutzung vorhandener Potenziale im Rahmen einer regionalen Zusammenarbeit aller Balkanstaaten in Bereichen wie Infrastruktur, Jugendarbeitslosigkeit, erhöhter Wettbewerbsfähigkeit, Versöhnung, dem Umweltbereich, die Lösung bilateraler Angelegenheiten, etc. Ein gemeinsamer regionaler Markt wurde angestrebt und eine verstärkte Jugendzusammenarbeit im Rahmen des RYCO (Regional Youth Cooperation Office) wurde institutionalisiert – eine der erfolgreichsten Ini­ tiativen. Rückblick auf Westbalkan-Strategien der EU  Auf dem  EU-Gipfeltreffen in Thessaloniki im Jahr 2003  hat die EU den Staaten des westlichen Balkans eine EU-Perspektive eröffnet. Zehn Jahre später zeigte sich Kommissionschef Jean-Claude Juncker zurückhaltender: „Die EU muss bei der Erweiterung eine Pause einlegen, damit wir konsolidieren können, was die 28 Mitgliedsstaaten erreicht haben.“ Trotzdem hat Johannes Hahn, einer der besten EU-Kommissare, die Politik der Erweiterung fortgesetzt. Mit der Westbalkan-Strategie 2018 signalisierte die Europäische Kommission jedoch, den westlichen Balkan schneller in die EU führen zu wollen („Strategie für ein verstärktes Engagement der EU gegenüber dem westlichen Balkan“). Zwei Jahre später, 2020, ging es in einer Mitteilung der Europäischen Kommission um die Stärkung des Beitrittsprozesses. Dieser müsse berechenbarer, glaubwürdiger und dynamischer gestaltet und einer stärkeren politischen Steuerung unterworfen werden. In dieser Zeit gab es auch die COVID-Pandemie, und die EU half den Balkanstaaten mit einem  signifikanten Finanzpaket.  Ein wichtiger symbolischer Akt, der von der Bevölkerung äußerst positiv aufgenommen wurde.  Entschlossenheit hat das Europäische Parlament im September 2021 mit neuen Mitteln und Instrumenten der Heranführungshilfe für den Zeitraum 2021–2027 demonstriert. Beim EU-Westbalkan-Gipfel am 6. Oktober 2021 in Slowenien wurde der Erweiterungsprozess intensiviert sowie das Bekenntnis zu diesem Prozess nochmals gestärkt, auch mit weiteren finanziellen  Zusagen. Gegen Jahresende 2022 kam es zu wiederholten Aussagen prominenter europäi-

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scher Politiker, mit Olaf Scholz an der Spitze, der sowohl im Deutschen Bundestag, als auch im Rahmen der EU den Kandidatenstatus BosnienHerzegowinas, der diesem Lande im Europäischen Rat am 15. Dezember 2022 gewährt wurde, begrüßte und davon sprach, dass die EU-Mitgliedschaft der restlichen Balkanländer im Interesse Deutschlands und Europas sei. Serbien – Kosovo  Eine Darstellung der Situation zwischen Belgrad und Pristina würde den Rahmen dieser Betrachtungen sprengen und müsste mit der mythischen Schlacht am Amselfeld im Jahre 1389 beginnen. Die autonome Provinz Kosovo erklärte nach kriegerischen Auseinandersetzungen mit dem damaligen Jugoslawien und einer NATO-Intervention 1999 mit einem gewissen Zeitabstand im Februar 2008 ihre Unabhängigkeit und wurde von knapp 100 Staaten anerkannt, nicht aber von Serbien. Auch fünf Mitgliedsländer der EU haben den Kosovo nicht anerkannt: Zypern, Griechenland und Rumänien sowie die Slowakei und Spanien.  Der Finne Martti Ahtisaari erarbeitete einen Friedensplan mit „beaufsichtigter Unabhängigkeit“. In seinem Team befand sich auch der angesehene Generalsekretär des österreichischen Außenministeriums, Botschafter Albert Rohan. Ein weiterer österreichischer Spitzendiplomat, Botschafter Stefan Lehne, arbeitete am KumanovoAbkommen betreffend Beendigung der Feindseligkeiten und den Rückzug der jugoslawischen Armee sowie der serbischen Polizei vom Kosovo. Zusammenfassende Bemerkungen  In aller Ehrlichkeit muss man nüchtern feststellen, dass es in der Welt einen permanenten Wettbewerb der Konflikte gibt. So ist der Kaschmir-Konflikt älter, die venezolanische Krise jünger und sind die Auseinandersetzungen im Nahen Osten größer als jene am Balkan. Dessen ungeachtet habe ich in 25 Interventionen vor dem UN-Sicherheitsrat über die Lage in Bosnien und am Balkan berichtet und beharrlich versucht, das Interesse an diesem Land aufrechtzuerhalten. Eine meiner Thesen war, dass eingefrorene Konflikte nicht ewig eingefroren bleiben, und eine zweite, dass man potenziel-

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len Konflikten nicht permanent aus dem Weg gehen kann. Was Serbien, den größten Nachfolgestaat Jugoslawiens betrifft, so hat dieses Land auch die größte Verantwortung, sowohl im Positiven als auch im Negativen. Serbien wird sich aber einmal auch entscheiden müssen, ob es weiterhin auf  drei Stühlen sitzen bleiben will (Brüssel, Moskau, Washington) oder gar auf vier (Peking). Auf die Dauer wird das wohl nicht gehen. Sehr wohl sollte aber die Internationale Gemeinschaft längere Zeit am Balkan bleiben. In Deutschland blieben die Alliierten Kräfte 45 Jahre, auf Zypern gibt es Friedenstruppen beinahe seit 60 Jahren. Wie Karl Schwarzenberg einmal treffend meinte, müssen wir in Bosnien-Herzegowina von einer langfristigen Präsenz ausgehen, solange es keine nachhaltigen lokalen Lösungen gibt. Es geht noch um zwei Aspekte: Österreichs Sicherheit beginnt am Balkan. Der Waffen- und Drogenhandel, die Flüchtlingsströme laufen über den Balkan. Auch der Attentäter von Wien, obwohl in Österreich aufgewachsen, stammt aus einem Balkanland. Ist der Balkan befriedet, geht es auch uns besser. Nicht nur wirtschaftlich, sondern vor allem sicherheitspolitisch. Der zweite Aspekt ist der größere, geopolitische. Wie bereits bei der Ukraine und bei Moldawien, wollte die EU, wie ein  Platzhirsch,  ihren Bereich am Balkan abstecken und sagen: „Das ist unser Revier“. Dazu gehört auch das Kandidatenland Bosnien-Herzegowina.  Von der Gruppe der Attentäter auf Franz Ferdinand habe ich noch den letzten gekannt, Vaso Čubrilović. Er war 1914, zur Zeit des Attentats, 17  Jahre alt und starb 1990. Die Schüsse von Sarajewo verursachten mit dem Ersten Weltkrieg schwerwiegende Konsequenzen für unser Land. So mancher Österreicher nahm an Hitlers Balkanfeldzügen teil. Und die Jugoslawienkriege mit Kampfhandlungen in Radkersburg und Grablach bei Bleiburg 1991 streiften unser Land. Das Beste für Österreichs Sicherheit ist eine friedliche, stabile und prosperierende Nachbarschaft, eine Nachbarschaft von Freunden, Partnern und begabten Menschen. Deshalb ist der westliche Balkan so wichtig für uns.

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„Das neue ‚Normal‘“ Die Ampel und Türkis-Grün: ­Erfolgs­bedingungen und Heraus­ forderungen der Realpolitik und der Krisenbewältigung für neue Koalitio­ nen auf der nationalen Ebene Mehrparteienkoalitionen und lagerübergreifende Bündnisse sind auch in Zeiten nachlassender Parteibindung noch immer ein Risiko für die beteiligten Parteien. Sie sind aber – nicht zuletzt auch durch das Wachsen der politischen Ränder – unabwendbar. Sie so zu gestalten, dass das jeweilige Profil der Parteien nicht verloren geht, dass sie aber auch über die reine Krisenbewältigung hinaus Akzente für die überfällige Modernisierung, für tiefgreifende Reformen in Österreich und in Deutschland setzen können, dass sie über „schale Kompromisse“ hinausweisen und dabei ordnungspolitische Grundlagen nicht verletzen, das bleibt eine große Herausforderung auf beiden Seiten der Alpen. Dass die türkis-grüne Koalition entgegen Unkenrufen auch angesichts zwischenzeitlicher schwerer Zeiten auf dem Weg ist, eine Legislaturperiode zu beenden, ist ein Zeichen, dass solche Konstellationen gelingen können.

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„Nicht alles was hinkt, ist ein Vergleich“, so ein deutsches Sprichwort. In diesem Fall scheint der „Sponti-Spruch“ mit Blick auf Österreich und Deutschland besonders zutreffend zu sein, denn schon die alte Weisheit „Drei sind einer zu viel“ trifft auf das „richtige Leben“ ebenso zu wie auf Parteikoalitionen. Die Dynamik innerhalb einer Dreierkoalition ist, ganz gleich welche Farben sie charakterisieren, schon grundsätzlich anders als die eines Zweierbündnisses, selbst dann, wenn diese Paarung wie im Fall von Türkis-Grün noch immer zu den eher ungewöhnlichen Verbindungen gehört. Zugleich sind solche „lagerübergreifenden“ Paarungen freilich auch von ähnlichen Bedingungen geprägt. Eine Beurteilung der politischen Erfolgschancen und der Konsequenzen der politischen Entscheidungen der Ampelkoalition, die über eine reine journalistische Betrachtung der Aktualitäten hinausgeht, muss sich auch die historische Entwicklung von Koa­ litionsoptionen in den beiden Ländern vornehmen, zumal sich an Beispielen und „Vorläufern“ Bedingungen ablesen lassen, die entweder zum Gelingen oder eben zum Scheitern einer solchen Kombination beitragen können. Das politikwissenschaftliche und historische Wissen über DreiParteien-Konstellationen ist jedoch vergleichsweise schwach ausgeprägt. Es gibt kaum fundierte Arbeiten zu diesem Komplex. Das liegt nicht zuletzt schlicht am bisherigen Mangel an „Gelegenheiten“, an „Untersuchungsobjekten“ für dieses Phänomen. Im Grunde hat sich in Deutschland erst sehr allmählich eine Euro­ päisierung dieser politischen Erscheinungsform und damit das vollzogen, was in anderen Ländern längst zur Regel geworden ist. In den Niederlanden waren beispielsweise Mehrparteienkoalitionen schon zu Beginn der 1990er-Jahre zu beobachten. Zwar gab es auch in Deutschland solche Konstellationen, allerdings freilich auf der Landesebene, die sich von der nationalen Ebene in vielen Punkten grundlegend unterscheidet. Dennoch sind die Beispiele durchaus paradigmatisch, und es ist lohnenswert, sie etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Zwischen 1990 und 2009 gab es drei solcher Koalitionen. Da ist zunächst Brandenburg 1990, wo es erstmals ein Ampelbündnis in einem deutschen Land gab, und das Bündnis, das 2009 im Saarland geschlossen worden ist. Beide Bündnisse scheiterten aus spezifischen Gründen: in Brandenburg an der Stasi-Belastung des damaligen Ministerpräsidenten Stolpe und im Saarland an Kompetenzmängeln bei

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den FDP-Ministern. Ganz besonders spannend und für die Betrachtung der gegenwärtigen Ampelkoalition relevant ist die erste derartige Koalition im kleinsten Bundesland Bremen, die 1991 geschlossen worden ist. Der Auslöser war damals der Einzug der rechtsextremen DVU in die Bürgerschaft. Die Hauptmotivation der drei Partner war die Verhinderung einer großen Koalition. In einem mühsamen Prozess näherten sich die drei Partner schließlich trotz aller „Bauchschmerzen“ an. Dass diese Koalition als „Worst-practice-example“ dient, lag daran, dass in ihr Ansätze angelegt waren, die fast unweigerlich zum Scheitern führen mussten. Die Beziehung zwischen den Akteuren war von Anfang an spannungsgeladen. Eine persönliche Beziehungsebene und Vertrauen ist hier nicht entstanden. Konflikte waren im Koalitionsvertrag ausgeklammert. Einen „moderierenden“ Faktor gab es nicht. Und besonders gravierend war, dass die Koalition – wie es der Politikwissenschaftler Probst sagt – eine „Schnittmengenkoalition“ war und keine „Ergänzungskoalition“. Letztere erlaubt es den Partnern, sich in jeweiligen Themenfeldern zu profilieren, „ohne dies auf dem Rücken der anderen Partner“ auszureizen. Ein „Bauplan“, der in gewisser Weise auch der grün-türkisen Koalition in Österreich zugrunde gelegen ist. Das Stichwort „Ergänzungskoalition“ darf freilich nicht missverstanden werden. Bei politischen „Ehen“ über „Lagergrenzen“ hinweg ist zwar weniger „Liebe“, also nicht die Überzeugung im Spiel, genügend Gemeinsamkeiten für erfolgreiches Regieren vorweisen zu können, sondern am Ende sind immer rationale politische Gründe, letztlich die Entscheidung für das „geringere Übel“ ausschlaggebend. Das heißt aber eben nicht, dass es nicht doch einer gemeinsamen Idee, eines „Narrativs“ bedarf. Ein Musterbeispiel für eine gut funktionierende Dreierkoalition hat hingegen bis zur Landtagswahl 2022 die Jamaika-Koalition in SchleswigHolstein abgeliefert. Auch hier sind die Faktoren für den Erfolg – diesmal aus positiver Perspektive – sichtbar gewesen, die letztlich bestimmend sind: Die moderierende, gleichwohl aber immer auch führende Rolle des Ministerpräsidenten Daniel Günther war ebenso wichtig wie die Tatsache, dass insgesamt auch die persönliche „Chemie“ zwischen den Akteuren gestimmt hat. Außerdem war der Koalitionsvertrag von Anfang an so angelegt, dass jede der drei Parteien – auf Augenhöhe – ihre Profilierungsmöglichkeiten erhalten hat.

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Vor dieser Schablone ist nun die erste Dreierkonstellation auf der deutschen Bundesebene zu betrachten. Nächtliche Twitter-Bilder der Parteispitzen, die in höchstem Maße Harmonie insinuierten, vor allem aber auch Koalitionsverhandlungen, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit und ohne lästige „Durchstechereien“ der beteiligten Partner geführt worden sind und damit einen durchaus wohltuenden Kontrast zu den vier Jahre zuvor gescheiterten Jamaika-Verhandlungen gebildet haben, ein Koalitions­ vertrag, der Konfliktthemen durchaus ins Auge gefasst hat, weckten den Eindruck eines gelungenen Starts und von – wie man „neudeutsch“ sagen würde – „lessons learned“. Das Ampel-Bündnis trat mit dem Anspruch an, so hatte es Olaf Scholz damals formuliert, dass sich „alle Koalitionspartner in der Regierung mit ihren Vorstellungen wiederfinden“. In die Hand hat man sich versprochen, erst intern alles zu klären und dann an die Öffentlichkeit zu gehen, um den Eindruck, man sei sich nicht einig, von vorneherein zu vermeiden. Nur so könne es gelingen, bei der kommenden Bundestagswahl 2025 wiedergewählt zu werden. Zugleich versprach der neue Kanzler, einen neuen Aufbruch zu schaffen. FDP-Chef Lindner schwärmte gar von einer „Zäsur in der politischen Kultur Deutschlands“. Mit dieser Dreierkonstellation habe sich der „Möglichkeitsraum erweitert“. Und auch der Dritte im Bunde, Robert Habeck, äußerte die Hoffnung, dass Großes geleistet werden könne. Beschworen wird auch die gute Chemie zwischen den Handelnden, nicht zuletzt der besondere „Draht“, der zwischen Christian Lindner und Olaf Scholz bestehe. Auch das Verhältnis zwischen Habeck und Lindner ist zunächst so ausgeprägt, dass nicht nur Kabarettisten den Eindruck nähren, es seien nicht die Volksparteien, die sich die Koalitionspartner auswählen, mit denen sie Mehrheiten bilden können, sondern, dass das Zusammengehen von FDP und Grünen letztlich dazu führe, dass man sich den Koalitionspartner – SPD oder CDU/CSU – aussuchen könne. Und doch waren erste „schräge Töne“ schon bald – und lange vor dem Angriffskrieg auf die Ukraine – zu vernehmen, die vor allem den Eindruck bestätigten, dass die wesentlichen Konfliktlinien entlang der Lager innerhalb der Koalition verlaufen und damit von der SPD und den Grünen auf der einen Seite und der FDP auf der anderen Seite zu sehen sind. Ein wenig entlarvend war die Frage schon, die der Bundesvorsitzende der FDP, Christian Lindner, vor einem knappen Jahr beim traditionellen Dreikönigs-

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treffen – noch inmitten der Coronapandemie – im Staatstheater in Stuttgart vor zugeschaltetem „virtuellen Publikum“ gestellt hat: „Wie überlebt die FDP die Ampel-Koalition?“. Das mag der allgemeinen Weisheit geschuldet gewesen sein, dass derjenige, der das politische Lager wechselt, in ganz besonderem Maße die Chance haben muss, sich zu profilieren, weil er bei den Wählerinnen und Wählern in der Gefahr steht, den höchsten Preis bezahlen zu müssen. Schon deutlicher als „Drohpotenzial“, wenngleich ohne rechnerische Grundlage, war der Hinweis darauf, dass man sich nicht von CDU und CSU entfremden lassen und in ein „echtes Zukunftsgespräch“ mit der Union eintreten wolle. Dahinter stand freilich auch die Angst, bei damals anstehenden Landtagswahlen Koalitionsoptionen mit der CDU zu verlieren. Unüberhörbar war in diesem Zusammenhang das Signal an die Grünen in Sachen Einwanderungspolitik, auf Rückführungs- und Migrationsabkommen zu bestehen, so wie Lindner bereits zu diesem Zeitpunkt angekündigt hat, in Sachen Mobilität andere Wege gehen zu wollen. Auch ordnungspolitisch waren die Ankündigungen im Januar 2022 vollmundig: Es sei nicht zu verhindern gewesen, einen Nachtragshaushalt vorzulegen, aber es sei überaus wichtig, wieder zur finanzpolitischen Stabilität zurückzukehren. Staatskonsum und Umverteilung seien nicht mehr finanzierbar: „Es bleibt dabei (…) Wohlstand muss erst einmal erwirtschaftet werden, dann wird er versteuert, dann kommt das Verteilen.“ Konflikte, nicht zuletzt über das Lieblingsprojekt der SPD, das Bürgergeld, schienen damit vorprogrammiert. Bereits nach kurzer Zeit im Amt hatte die Ampel-Regierung massiv Vertrauen verspielt. Da mag die Tatsache, dass auch andere Koalitionsstarts in der Vergangenheit in den ersten Monaten ihrer Regierungszeit schlechte Bewertungen in Umfragen und Medien erhalten haben, ein schwacher Trost sein. Dieser Vertrauensverlust – das zu konzedieren gebietet schon die Fairness – liegt freilich nicht nur im Handeln der Akteure begründet, sondern ist auch der Tatsache geschuldet, dass der Koalitionsvertrag, der bei solchen Konstellationen, wie erwähnt, eine fundamentale Rolle spielt, im Grunde durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine Makulatur geworden ist. „Wir sind angetreten, um dieses Land zu modernisieren, und jetzt nach 100 Tagen, befinden wir uns in einer völlig anderen Welt, als wir es uns damals vorgestellt haben“, so beschreibt es die Grünen-Chefin, Ricarda Lang. „Vie-

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les wirkt vielleicht jetzt auch schal, was wir da vorgebracht haben.“ Mit diesem frühen Verfallsdatum des Koalitionsvertrags ist eine wesentliche Geschäftsgrundlage, die Konflikte verhindern kann, verloren gegangen. Das ist deshalb für die Koalition auch weiterhin bedrohlich, weil alle drei Koalitionspartner schon in diesem frühen Stadium ihrer Zusammenarbeit weit und bisweilen fast identitätsgefährdend über ihren Schatten hinaus springen müssen. Lindner muss hohe Schulden aufnehmen und damit die finanzpolitische Integrität seiner Partei infrage stellen; die Grünen müssen Kompromisse finden, die ihre Authentizität als Klima, Öko- und Friedenspartei infrage stellen, seien es Vereinbarungen zum weiteren Abbau von Kohle, seien es die Debatten über Laufzeitverlängerungen der Atomkraftwerke oder Gas­ einkäufe in Staaten mit fragwürdiger Menschenrechtspolitik. Nicht zuletzt die außen- und sicherheitspolitischen Fragen waren auch für die SPD eine Gratwanderung. Hatte sich die Partei, personifiziert durch ihren heutigen Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich, einen „pazifistischen“ Kurs geleistet und auch die „nukleare Teilhabe“ Deutschlands infrage gestellt, so war es die SPD, die den Ankauf von neuen Flugzeugen vorantreiben musste, um eben diese nukleare Teilhabe aufrechterhalten zu können. Vor dem Hintergrund einer derartigen „Krisenbewältigungsmaschinerie“ wird die Frage immer lauter gestellt, ob die Ampel mehr bewerkstelligen könne als Akuthilfe und dabei vor allem auch im Angesicht einer drohenden Rezession einen zentralen Inhalt ihres Koalitionsvertrages realisieren könne: „Unsere Wirtschaft“, steht dort, „legt mit ihren Unternehmen, den Beschäftigten sowie Verbraucherinnen und Verbrauchern die Grundlage für unseren Wohlstand.“ Ökonomen wie Michael Hüther verweisen auf den enormen Stress, den der Standort Deutschland erleide. Deutschland habe einen enormen Modernisierungsbedarf, aber wenn sich das Dreierbündnis dafür nicht gemeinsam und auch mit aller verfügbaren Kraft einsetze, dann habe der Standort ein Problem. Tatsächlich hat die OECD Deutschland mangelnde Innovationsfähigkeit bescheinigt. Es seien eben gerade die Pandemie und der Krieg, die die Schwachstellen im ex­ port­orientierten Wirtschaftsmodell in Deutschland aufzeigen würden. Christian Lindner beschwört deshalb des Kanzlers L ­ieblingsbegriff „Zeitenwende“ – der bislang noch immer im sicherheitspolitischen Feld nicht zu der Führungsrolle geführt hat, die Deutschland auf sicherheits-

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politischem Feld eigentlich einnehmen müsste – auch für die Standort­ politik. Deutschland dürfe nicht wieder, wie in den Nullerjahren, als „kran­ker Mann“ Europas gelten. Wenig optimistisch stimmt in diesem Zusammenhang, dass das Verhandlungsklima – so viel zur Bedeutung des Themas „Chemie“ zwischen den Akteuren – zwischen der FDP und den Grünen schwieriger geworden ist. Während der Koalitionsverhandlungen habe man auf einen etablierten Kontakt mit den grünen „Anführern“ Baerbock und Habeck setzen können. Mit neuen Parteivorsitzenden und neuen Fraktionsvorsitzenden, die in den entsprechenden Koalitionsrunden auch ihren Einfluss geltend machen wollen, hätten sich die Gewichte an dieser Stelle sehr deutlich verändert. Aber auch zwischen den Kabinettsmitgliedern Lindner und Habeck, die in ihren Ressorts bereits qua Amt die tragenden Säulen für einen tragfähigen Modernisierungskurs sein müssten, wird der Ton, der zunehmend auf eine „schneidende Rivalität“ der beiden Minister schließen lässt, rauer. Die Hoffnung, dass der Bundeskanzler die für Dreierkoalitionen – wie beschrieben – so wichtige Moderationsrolle ausfüllt, mag trügerisch sein. In der Person von Scholz selbst liegt ein interessantes Dilemma. Um seine „Aufbruchsrhetorik“ zu unterstreichen, besann sich der Hamburger Politiker auf einen Satz, der schon in seiner Zeit als Hamburger Bürgermeister gefallen war: „Wer bei mir Führung bestellt, der bekommt sie auch.“ Tatsächlich hat er seinen Erfolg bei der Bundestagswahl aber weniger solchen markigen Sprüchen zu verdanken, die ein wenig aus der Zeit gefallen wirken. Olaf Scholz hat seinen Wahlsieg vielmehr einer durchaus klugen Wahlkampfstrategie zu verdanken: Noch vor dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine stand die vorherige Bundeskanzlerin Angela Merkel bei vielen Wählerinnen und Wählern nach wie vor vergleichsweise hoch im Kurs. In dieser Situation hat Scholz sich darauf eingestellt, Wählerinnen und Wähler mit dem „Versprechen“ anzulocken, dass er sich als Bewahrer des zuvor von Angela Merkel eingeschlagenen Kurses profilieren wolle. Während die von Scholz – mehr oder minder – geführte Mehrparteienregierung, die erstmals in Deutschland auf der nationalen Ebene etabliert wurde, keinerlei europäischen Neuigkeitswert hat, so ist die türkis-grüne Koalition in Österreich tatsächlich eine Pioniertat. Sie entstand – wie das bei vielen ungewöhnlichen Koalitionsoptionen der Fall ist – eher der Not

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gehorchend als aufgrund eines lange gehegten politisch-strategischen Plans. Mit der Ibiza-Affäre und dem Zusammenbruch der ÖVP-FPÖ-Koalition war ein Neuanfang so unabdingbar und die „Staatsräson“ so vordringlich geworden, dass Österreichs Grünen-Chef Werner Kogler im Januar 2020 von „seinen“ stimmberechtigten Delegierten mit 93,1 Prozent fast so etwas wie ein „nordkoreanisches Ergebnis“ erhalten hat. Dabei hatten die Delegierten mit Kritik nicht gespart. Insbesondere die Vertreter der Jungen Generation sahen darin eine Abkehr von der linken Grundmelodie der Partei. Man habe es hier mit einem „neoliberalen Regierungsprogramm“ zu tun, so die Salzburger Jungen Grünen. Es reiche nicht aus, so eine Delegierte, dass wir die FPÖ verhindert haben. Wenn das größte Argument ist, dass keine rechtsextreme Partei regiert, dann sieht man, wie weit wir gekommen sind. Wir brauchen linke Mehrheiten. Eben jene linken Mehrheiten waren zu diesem Zeitpunkt nicht in Sicht. Und die Führung der Grünen wies den Vorwurf der „Beliebigkeit“ weit von sich. Man habe, so der spätere Sozialminister Anschober, „30 Grauslichkeiten aus diesem Programm herausverhandelt“. Das Unbehagen mit Sebastian Kurz und seinem Kurs, der dem eigenen Verständnis von Politik eher fern schien, erforderte Mut. Man könne das gesamte Projekt nur gemeinsam stemmen. Diesen Mut hat es in der Tat gebraucht. Freilich nicht nur auf der Seite der Grünen. Der große deutsche Parteistratege Peter Radunski hat in der eher im Stile eines „Negative Campaignings“ geführten Auseinandersetzung mit den Grünen nach deren Entstehung in den späten 1970er-Jahren „einen Teil des politischen Lebenselixiers der Union“ gesehen, und das trifft ebenso auf das Verhältnis der ÖVP zur den österreichischen Grünen zu. Vor diesem Hintergrund hat Radunski, der immer ein Befürworter von klug erwogenen Koalitionen mit den Grünen war, gleichwohl vor mehr als einem Dutzend Jahren eine zeitlose Warnung an die Volkspartei CDU ausgerufen, die ebenso auf die erste ÖVP-Grünen-Koalition in Österreich anwendbar war. Die Risiken, die er sah, waren unter anderem die drohende Abwanderung von Wählern, die eher aus der rechten Mitte der Partei stammen, und er sah darin auch eine potenzielle Gefährdung des Status der Volkspartei. Das zweite Risiko, das er sah – und diese Warnung war auch an die damalige Kanzlerin und Parteichefin Angela Merkel gerichtet –, war der Verlust eines wichtigen Teils des programmatischen Profils der Volkspar-

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tei CDU. Während Kanzler Kurz sehr darauf geachtet hat, die Kernbereiche der beiden Parteien auseinanderzuhalten, was in dem Slogan „Das Beste aus zwei Welten“ zum Ausdruck kam, ist Angela Merkel parteiintern und auch parteiextern immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert worden, sie hätte bereits „prophylaktisch“ christlich-demokratische Positionen geräumt, um damit gleichsam den Weg für Koalitionen mit den Grünen frei zu machen. Und bei den Jamaika-Verhandlungen, bei deren Scheitern bekanntlich nicht die Grünen die entscheidende Rolle gespielt haben, schien sich das ja auch zunächst auszuzahlen. Das Risiko speist sich aus einem bedeutenden, zugleich simplen, aber gerne vergessenen Unterschied zwischen den großen Volkparteien CDU und ÖVP und SPD und SPÖ auf der einen Seite und den Grünen, der FDP, der FPÖ und weiteren Parteien auf der anderen Seite. Diese Differenz liegt darin, dass die ersteren noch immer auch in ihren Entscheidungs- und Handlungsstrukturen Mitgliederparteien sind. Und dabei sind die Volksparteien alle mehr oder minder stark mit dem Dilemma konfrontiert, dass ihre Wählerinnen und Wähler auf der Skala der politischen Polarisierung in allen Gesellschaften aus der Mitte kommen, während aber die Mitglieder ideologisch eher deutlicher auf der linken oder rechten Seite stehen. Das zwingt die politischen Führungen dieser Volksparteien zu einem Spagat zwischen den Erwartungen der Parteibasis, die für Wahlkämpfe noch immer instrumentell wichtig ist, und den Erwartungen ihrer Wählerschaft. So sehr die Grünen – in Deutschland wie in Österreich – die Vorstellung „nähren“ wollen, sie seien ebenfalls Volksparteien mit diversen Wählerschaften, die von ihrem Führungspersonal differierten, so sehr widersprechen die Fakten dieser Behauptung. Geht man immer noch auch von der Definition Kirchners, der „catch all party“ aus, so muss man doch feststellen, dass sich zwar einerseits die Zusammensetzung der Wählerinnen und Wähler verbreitert hat, die Grünen andererseits aber noch immer über eine vergleichsweise homogene Wählerschaft verfügen. Diejenigen, die dieser Partei ihre Stimme gegeben haben, sind überdurchschnittlich gut ausgebildet. Bei keiner anderen Partei ist der Anteil der Akademiker unter den Wählerinnen und Wählern so ausgeprägt wie hier, und auch der relative Wohlstand und die Einkommensstruktur sind hier viel deutlicher ausgeprägt. Diese sozialstrukturellen Kennzeichen teilen sie im Übrigen mit der FDP.

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Das allerdings führt keinesfalls zum Gleichklang zwischen Liberalen und Grünen. Nicht zu verkennen ist auch in der Wählerschaft die grundlegende Bedeutung der politischen Sozialisierung, die eine tiefe Prägung hinterlässt. Haben sich die Grünen tatsächlich von einer vormals linken Partei hin zu einer bürgerlichen Partei gewandelt, die gleichermaßen anschlussfähig ist an die ÖVP oder an die CDU und auch an die FDP ist? Ist bürgerlich am Ende wirklich gleich bürgerlich? Die Tatsache, dass Menschen in den „gut bürgerlichen Gegenden“ Tür an Tür in der gediegenen Altbauwohnung residieren, den gleichen Italiener besuchen und dort der gleichen Vorliebe für gegrillte Dorade frönen, mit dem gleichen Modell eines hochpreisigen geländegängigen Wagens ihre Kinder in die zweisprachige Grundschule bringen, bedeutet noch lange nicht, dass es sich hier um die gleichen Menschen handelt. Beide haben noch immer – auch bei den österreichischen Grünen, die konservativer erscheinen als die deutschen Grünen – bei vielen Kernthemen sehr unterschiedliche Ansichten zu Themen wie Innenpolitik, nicht zuletzt auch immer wieder zur Bildungs- und Schulpolitik. Gehören die einen, die den Grünen ihre Stimme schenken, ganz gleich ob das in Berlin oder in Wien ist, dem Milieu der „kritischen Engagierten“ an, so gehören die anderen, die der CDU, der ÖVP oder auch der FDP vertrauen, eher dem Milieu der „Leistungsindividualisten“ an. Das kann in der aktiven Politik, auch und nicht zuletzt in der Regierungsverantwortung, einen bedeutenden Unterschied machen. Die Grünen brächten das Kunststück zustande, so schreibt der ÖVP-Politiker Drexler bereits 2014, „in ihrem Staatsvertrauen die Sozialdemokratie zu überflügeln und eine beinahe unerträgliche Tugendhaftigkeits- und Allwissenheitsattitüde zu kultivieren.“ Diese Haltungen mögen sich in den letzten Jahren durch die mannigfachen Regierungsbeteiligungen auf der Länderebene in beiden Ländern inzwischen abgeschwächt haben, vollkommen von der Bildfläche verschwunden sind sie weder bei den österreichischen Grünen noch bei den deutschen Grünen, wie nicht zuletzt die Wahlkampf-Äußerung von Annalena Baerbock „Jedes Verbot ist ein Innovationstreiber“ – unter Beweis gestellt hat. Nun „spielt“ auch die Koalition in Österreich – nicht geringer als die Ampel in Deutschland – mit Krieg und Inflation auf einem völlig anderen Spielfeld, das auch die Grenzen dieses unterschiedlichen Staatsverständnisses verwischt. Der Vorwurf der „Wiener Zeitung“,

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Michael Borchard    |   „Das neue ‚Normal‘“

aus dem „Besten aus zwei Welten“ sei das „Teuerste aus zwei Welten“ geworden, mag angesichts der Schuldenquote in Österreich, die stärker als im EU-Durchschnitt wuchs, nicht gegenstandslos sein. Dass eine hohe Staatsverschuldung ordnungspolitisch immer kritikwürdig ist und den Handlungsspielraum langfristig eher verengt, ist die eine Seite der Medaille, die andere Seite ist der in Österreich zu beachtende Versuch, wenigstens beim Einsatz der Mittel an ordnungspolitischen Grundsätzen festzuhalten. Dass sich die Regierung in Wien eher auf die Abmilderung der Inflationsfolgen konzentriert und nicht in die Preisbildung mit Deckelungen eingreift, ist jedenfalls auch im Vergleich mit Deutschland beachtlich. Auch mit der Abschaffung der kalten Progression hat die – vielfach übertrieben geschmähte – Regierung durchaus etwas geschafft, was in Deutschland noch nicht bewältigt worden ist. Noch im Oktober 2021 titelte die WELT in Deutschland nur Tage nach der deutschen Bundestagswahl mit neidvollem, zugleich aber auch prophetischem Blick auf den Nachbarn: „Österreich liefert die Blaupause für Gelb-Grün“. Mit einer ökosozialen Steuerreform zeige die Alpenrepublik den deutschen Grünen und der FDP eine Möglichkeit zum Kompromiss auf. Fraglich ist, ob die deutsche Bundesregierung die grundlegenden Reformen, die von den Wirtschaftsexperten vehement eingefordert werden, neben dem Krisenmanagement in Deutschland verwirklichen kann. Gleichwohl hat die deutsche Regierung den größeren Teil der Legislaturperiode noch vor sich, während in der Alpenrepublik das letzte volle Jahr vor der Wahl angebrochen ist. Ob die Regierung in Österreich neben der Krisenbewältigung auch Strukturmaßnahmen anpacken kann, wird sich weisen, und das Scheitern der Arbeitsmarktreform ist dabei jedenfalls keine Ermutigung. Ein Vermächtnis und damit ein Ausweis der Funktionsfähigkeit auch lagerübergreifender Koalitionen würde sie jedenfalls liefern, wenn es ihr gelingen würde, dem Drängen der Länder nachzugeben und das teure Gesundheitssystem, das sich in der Krise als weniger widerstandsfähig erwiesen hat, zu reformieren. Das ist zugleich Fluch und Segen der veränderten Erwartungen, die die Wählerinnen und Wähler in Österreich und Deutschland haben: Mit dem Rückgang der traditionellen Parteibindungen, mit dem Verlust der klassischen Konfliktlinien werden Parteien nicht mehr als Weltanschauungs­ lieferant gesehen, sondern als „Problemlösungsagenturen“. Damit eröffnen

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österreichisches jahrbuch für politik 2022

sich neue Koalitionsoptionen, zugleich aber ist die Gefahr fundamentaler Enttäuschungen gewachsen. Dass sich in beiden Ländern immer mehr Wählerinnen und Wähler nicht nur den politischen Rändern zuwenden, sondern sich selbst „außerhalb“ des politischen Systems sehen, ist eine Verantwortung und Herausforderung, die nicht zuletzt für die noch immer „staatstragenden“ Volksparteien in beiden Ländern weit über die Krisenbewältigung hinausgehen. Am Ende geht es nicht um Ampel oder TürkisGrün, um Opposition oder Regierung, am Ende geht es um die Zukunft der Demokratie. Literatur Volker Kronenberg, Christoph Weckenbrock (Hg.), Schwarz-Grün. Die Debatte. Wiesbaden 2011.

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Zeitgeschichte

Seit 1929 sind wir in und für Österreich aktiv und sichern rund 12.000 heimische Arbeitsplätze. Coca-Cola wandelt sich von einem Limonadenhersteller zu einem Portfolioanbieter mit einer Vielzahl an unterschiedlichen Getränken im alkoholfreien Bereich. Dabei liegt ein Fokus auf der Reduktion von Zucker. Neben sozialem Engagement ist uns ein verantwortungsbewusster und innovativer Umgang mit Verpackungsmaterialien ein großes Anliegen. Lasst uns die Welt von morgen schon heute miteinand gestalten! Lesen Sie mehr auf coca-cola-österreich.at

© 2020 The Coca-Cola Company. Coca-Cola, Coke und die Konturflasche sind Schutzmarken der The Coca-Cola Company.

Wolfgang Sander

Politische Bildung und ­gesellschaftlicher Zusammenhalt

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österreichisches jahrbuch für politik 2022

Es war der damalige Rektor der Universität Wien, Adolf Exner, der 1891 in seiner Inaugurationsrede zum Thema „Über politische Bildung“ diesen Begriff in die akademische Diskussion einführte. Schon Exner sah recht klar, dass angesichts der Komplexität moderner Gesellschaften deren Zusammenhalt gefährdet sein würde, falls die Wählerschaft in ihrer Breite nicht über ein Mindestmaß an Politikverstehen verfügen sollte. Aber es sollte lange dauern, bis aus dieser Einsicht in größerem Maße in Österreich praktische Konsequenzen für das Bildungswesen, insbesondere die Schulen, gezogen wurden. Nach dem Zweiten Weltkrieg stand in der Zweiten Republik zunächst die politische Absicht im Vordergrund, mittels des Schulunterrichts nationale Identität zu stiften. So galten 1949 in einem Erlass „Weckung und Pflege des Österreichischen Heimat- und Kulturbewusstseins“ sowie die „Erziehung zum bewussten Österreichertum“ als wesentliche Ziele der nunmehr so bezeichneten „staatsbürgerlichen Erziehung“. Erst ab den 1970er-Jahren begann eine neue Diskussion über politische Bildung, die in der schulischen wie außerschulischen Bildung nach und nach auch konkrete Folgen zeigte – in der Schule zunächst mit einem Erlass zur politischen Bildung als Unterrichtsprinzip aller Fächer und nach 2000 mit einem sukzessiven Ausbau politikbezogener Themen in einem gemeinsamen Unterrichtsfach mit Geschichte in der außerschulischen Bildung unter anderem mit der Gründung politischer Stiftungen, deren 50-jähriges Jubiläum in diesem Jahr begangen wird und die inzwischen durch zahlreiche weitere Anbieter politischer Bildung ergänzt wurden. Wie kann politische Bildung heute Beiträge zum gesellschaftlichen Zusammenhalt leisten? Gewiss nicht, indem die Gesellschaft politische Probleme oder Krisen zur Bewältigung an die politische Bildung delegiert. Politische Bildung ist keine Feuerwehr zur Löschung gesellschaftlicher Brandherde. Aber sie dient durchaus dem vorbeugenden Brandschutz. Denn sie befähigt Menschen, Politik besser verstehen und sachkundig beurteilen zu können sowie selbst politisch zu handeln, wenn sie dies möchten. In der Fachdiskussion der politischen Bildung gelten in diesem Sinn heute die Vermittlung von politischer Urteilsfähigkeit und politischer Handlungsfähigkeit als zentrale Ziele. Als allgemeines Leitbild gilt dabei die politische Mündigkeit der Bürgerinnen und Bürger. Politische Bildung will nicht für vorgegebene politi-

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Wolfgang Sander    |   Politische Bildung und gesellschaftlicher Zusammenhalt

sche Meinungen werben oder Menschen in bestimmte Richtungen drängen, sondern sie befähigen, ihre eigene, gut begründete Sicht auf politische Probleme und Konflikte zu finden – und sich darüber mit anderen sachlich auseinandersetzen zu können. Angebote politischer Bildung sind daher auch Orte, an denen man die zwar kontroverse, aber friedliche Auseinandersetzung mit anderen Positionen als der eigenen lernen und üben kann. Allein schon dadurch fördert politische Bildung den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Darüber hinaus ist die Frage, was moderne demokratische Gesellschaften trotz ihrer inneren Vielfalt zusammenhalten kann, ein wichtiges inhaltliches Thema politischer Bildung. Dieser Zusammenhalt ist jedoch in westlichen Gesellschaften schon seit geraumer Zeit durch gesellschaftliche Polarisierungen bedroht, die von zwei Seiten her politisch betrieben werden. Bei rechtspopulistischen Parteien und Bewegungen geschieht dies vielfach mit gezielter Mobilisierung von Ressentiments gegen Eliten, der Verstärkung von Unsicherheiten und Statusängsten in Teilen der Bevölkerung sowie radikalen Vereinfachungen von komplexen Problemen bis hin zu Verschwörungstheorien. Dieses Vorgehen setzt gerade nicht auf Dialog, konstruktive Problemlösungen und Kompromisse, sondern eben auf Mobilisierung durch Polarisierung. Im eher linken politischen Spektrum sind es identitätspolitische Bewegungen, die für bestimmte Minderheiten als unverhandelbar definierte Vorstellungen reklamieren und deren Anerkennung oder gar Übernahme durch die Mehrheitsgesellschaft verlangen. Dies betrifft vor allem das Themenfeld Rassismus sowie sexuelle Minderheiten. Das polarisierende, gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährdende Potenzial dieser Denkweise wird, um Beispiele zu nennen, besonders deutlich, wenn „rassismuskritische“ Aktivisten allen Weißen strukturellen Rassismus unterstellen oder wenn um der „Sichtbarkeit“ sexueller Minderheiten willen von der ganzen Gesellschaft weitreichende Änderungen sprachlicher Regeln und Gepflogenheiten verlangt werden. Politische Bildung muss sich diesen Herausforderungen stellen, indem sie sie nicht nur thematisiert, sondern auch problematisiert. Vor allem aber muss sie in diesem Zusammenhang in ihren eigenen Angeboten allen Versuchen, Diskursverbote zu etablieren, entschlossen widerstehen. Nur so kann sie politische Mündigkeit fördern.

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Christian Tesch

50 Jahre staatsbürgerliche Bildung Im Interesse unserer Demokratie Politische Bildung dient dem besseren Verständnis von Politik und der Fähigkeit, selbst daran teilzuhaben oder sie sogar mitzugestalten. Die pluralistische Ausgestaltung politischer Bildung durch Angebote unterschiedlicher Parteiakademien und auch innerhalb der Akademien fördert die Gelegenheit und Fähigkeit zum Diskurs und somit die Demokratie. Diskursverbote, wie sie von (kleinen, aber lauten) Teilen der Gesellschaft, die sich selbst moralische Überlegenheit attestieren, propagiert und exekutiert werden, stellen die Demokratie selbst infrage.

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österreichisches jahrbuch für politik 2022

Der Entwicklung Raum geben – das ist Auftrag und Anspruch der Politischen Akademie der Volkspartei. Diese Entwicklung bezieht sich auf Menschen genauso wie auf Themen und auch auf die interdependente Entwicklung von Gesellschaft, Demokratie und Politik. Die Angebote richten sich an allgemein politisch Interessierte genauso wie an politische Profis und stehen in hohem Ausmaß der gesamten Öffentlichkeit offen. Seit 1973 fördert die Republik Österreich die „staatsbürgerliche Bildungsarbeit der politischen Parteien“1. Jede im Nationalrat mit Klubstärke vertretene Partei kann eine Institution als Träger dieser Bildungsarbeit nominieren. Der gegenständliche Bildungsbegriff wird vom Fördergeber wie auch von den Fördernehmern breit interpretiert. So haben etwa Christian Moser-Sollmann von der Politischen Akademie der Volkspartei und Michael Rosecker vom Renner-Institut der SPÖ in einem gemeinsamen Beitrag über die Ausbildungsziele politischer Akademien festgehalten, dass an den Akademien neben der Schulungsarbeit auch „abseits des schnelllebigen politischen Tagesgeschäftes mittel- und langfristige Denk- und Forschungsarbeit stattfinden kann“. Die Parteiakademien verstünden sich daher „als der Allgemeinheit dienende Institutionen der Erwachsenenbildung und des gesellschaftspolitischen Diskurses“.2 Ein breites Verständnis von politischer Bildung vertritt auch Wolfgang Sander, Professor für Didaktik der politischen Bildung und Herausgeber des Standardwerkes „Handbuch politische Bildung“3. Auf Einladung der Politischen Akademie war er bei der Festveranstaltung anlässlich „50 Jahre staatsbürgerliche Bildung“4 im Parlament zu Gast. Im Podcast „Grundsatz“5 nennt er als Ziele: „Politische Bildung soll politische Urteilsfähigkeit und politische Handlungsfähigkeit entwickeln und fördern. Dabei sollen … methodische Fähigkeiten und letztendlich auch politisches Wissen vermittelt werden.“

1 Publizistikförderungsgesetz 1984 (Stammfassung: Publizistikförderungsgesetz 1972) 2 Moser-Sollmann, Christian/Rosecker, Michael: Funktion und Auftrag politischer Bildung, in: Jankowitsch, Regina/Zimmer, Annette (Hg.): Political Leadership. Annäherungen aus Wissenschaft und Praxis, polisphere, Berlin/München/Brüssel 2008, S.325–346 3 Sander, Wolfgang (Hg.): Handbuch politische Bildung, Schwalbach 2007 4 https://www.parlament.gv.at/aktuelles/pk/jahr_2022/pk0813 5 https://politische-akademie.at/podcast/grundsatz-26/

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Christian Tesch    |   50 Jahre staatsbürgerliche Bildung

Die hier beschriebene Vielfalt – Zielgruppen von Einsteigern bis Profis, Inhalte von Methodenkompetenz bis Sachwissen, Formate von Ausbildung bis Diskussion – prägt auch die Angebotspalette der Politischen Akademie der Volkspartei. Werte, Wurzeln, Wissenschaft Parteiakademien arbeiten, wie es Politische-Akademie-Präsidentin Bettina Rausch formuliert, „auf dem Fundament der Programmatik der jeweiligen Parteien – im Falle der Politischen Akademie also auf der Grundlage eines bürgerlichen Weltbildes mit christlich-sozialen, konservativen und liberalen Wurzeln“6. Die Auseinandersetzung mit den Werten und Wurzeln der Volkspartei ist konsequenterweise ein durchgehender Schwerpunkt in den Angeboten der Politischen Akademie – von klassischer Schulung über Diskussion bis zur wissenschaftlichen Aufarbeitung. Das christlich-humanistische Menschenbild und das Weltbild einer bürgerlichen Gesellschaft – wie sie Grundlage der Programmatik der Volkspartei sind – wurzeln in der Ideengeschichte des europäischen Kontinents. Die kritische Auseinandersetzung mit den ersten Staatsphilosophien der griechischen und römischen Antike, der christlich-jüdischen Traditionen und Prägungen und der Philosophie der Aufklärung bildet ein hilfreiches Fundament, um Entwicklungen der Gegenwart und der Zukunft zu analysieren, einzuordnen und letztlich politisch mitzugestalten. Beispielhaft kann dies anhand der Ökosozialen Marktwirtschaft, des ordnungspolitischen Modells der Volkspartei (und anderer bürgerlicher Parteien), illustriert werden: Die theoretische Beschreibung von Wirtschaft als Grundlage für gesellschaftlichen Wohlstand begann in der Zeit der Aufklärung. Dass die Marktwirtschaft gut geeignet ist, Wohlstand und Fortschritt zu befördern, gilt bis heute. Da sie aber in ungeregelter Form nicht alle gesellschaftlichen Ziele erreichen kann, braucht sie Rahmenbedingungen. Sozialer Ausgleich und ökologische Verantwortung finden ihre ideengeschichtlichen 6 Rausch, Bettina: Politische Bildungsarbeit am Puls der Zeit. In: Köhler, Thomas Walter/ Mertens, Christian (Hg.): Demokratie braucht Meinungen. Andreas Khol zum 80. Geburtstag, Wien 2021

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österreichisches jahrbuch für politik 2022

Grundlagen zum Beispiel in der christlich-jüdischen Tradition (Bewahrung der Schöpfung, Katholische Soziallehre). Es ist offensichtlich, dass derartige grundsätzliche Überlegungen wissenschaftlicher Fundierung bedürfen. Diesen Aspekt politischer Bildungsarbeit hat die Politische Akademie in den letzten Jahren gestärkt und ausgebaut. Neben dem „Jahrbuch für Politik“, in dem dieser Beitrag erscheint, wurde die grundsatzpolitische und wissenschaftliche Publikationstätigkeit intensiviert. In diesen Publikationen werden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zur Auseinandersetzung mit Themen eingeladen, und die Akademie leistet damit einen Beitrag zum wissenschaftlichen Diskurs. Die Arbeit der Akademie wird inzwischen von einem multidisziplinären Wissenschaftlichen Beirat begleitet, der wissenschaftliche Nachwuchs wird mit einem Stipendienprogramm eingeladen, zu Forschungsfragen der Akademie beizutragen. Corona: Herausforderung und Chance Vor einer besonderen Herausforderung stand die politische Bildungsarbeit – der Parteiakademien wie auch vieler anderer Institutionen – in der Coronapandemie. Der erste Lockdown im März 2020 bedeutete: Laptops ausfassen, Skype, Zoom und ähnliches installieren, Türen zusperren und ab nach Hause. Und dann stellte sich die Frage: Und was jetzt? Schnell war an der Politischen Akademie klar: Je länger der Lockdown dauert, desto größer wird das Bedürfnis nach Information und Austausch sein (vor allem auch abseits von Corona). Damals hatten wir einen kleinen Startvorteil: Die Digitalisierung von Lehrinhalten und Lernangeboten stand schon länger auf der Agenda, ein E-Learning-Tool – der Bildungsraum online – war bereits eingerichtet, wenn auch nur spärlich bespielt. Die Pandemie beschleunigte den Digitalisierungsschub, auch an der Politischen Akademie. Alle Energie floss nun in eine Entwicklung, die davor nur nebenbei betrieben wurde. Überraschend schnell war überraschend viel möglich – von Seminaren (z. B. Online-Meetings gestalten oder Bürgerinformation via Facebook-Video) über E-Learning-Kurse bis hin zu Online-Diskussionsveranstaltungen. In nur wenigen Wochen wurde die politische Bildung digitalisiert – die Anzahl von Teilnehmerinnen und Teilnehmern ist in den Lockdowns nicht gesunken, sondern gestiegen. Die Menschen haben die

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Christian Tesch    |   50 Jahre staatsbürgerliche Bildung

Akademie gerne in den Online-Bildungsraum begleitet und die Angebote intensiv genutzt. Inzwischen lässt sich sagen: Viele Neuerungen und Innovationen aus Lockdown-Zeiten werden bleiben. So groß die Freude an persönlichen Zusammentreffen, die spezielle Dynamik in Präsenz-Seminaren und -Lehrgängen auch ist – für manche Angebote ist Online eine gute Alternative, die Gelegenheit zur zeitlich und räumlich unabhängigen Teilnahme bietet neue Möglichkeiten. Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit Mit inhaltlichem Blick in die Zukunft ist ein großes Thema anzusprechen, das wohl die politische Bildungsarbeit insgesamt – die Politische Akademie jedenfalls – in nächster Zeit beschäftigen wird: Der Zustand von politischer Kultur, demokratischem Verständnis und gesellschaftlichem Zusammenhalt. Es ist eine Entwicklung festzustellen, die dazu führt, dass sich immer mehr Menschen im öffentlichen politischen Diskurs nicht mehr wiederfinden.7 Bestimmte – oft nicht mehrheitsfähige – Vorstellungen von Gesellschaft werden absolut gesetzt und von allen anderen eingefordert. Verhältnismäßig kleine Gruppen bestimmen die Themen der öffentlichen politischen Agenda und negieren andere, bis zum (wenn auch nicht staatlich, so doch gesellschaftlich) sanktionierten Verbot. Es entsteht eine Stimmung, wonach man manches in der Öffentlichkeit besser nicht mehr sage – dass es trotzdem gedacht wird, sollte zu denken geben. Diskursverbote, wie sie von (kleinen, aber lauten) Teilen der Gesellschaft, die sich selbst moralische Überlegenheit attestieren, propagiert und exekutiert werden, stellen die Demokratie selbst infrage. Denn Demokratie nach heutigem Verständnis bedeutet das regelbasierte Aushandeln des Zusammenlebens in unserer Gesellschaft. Gruppen oder Meinungen und Einstellungen aus diesem Aushandlungsprozess auszuschließen, ist schlichtweg undemokratisch. Rede- und Meinungsfreiheit sind zentrale Grundrechte, 7 Vgl. dazu beispielsweise: Goodhart, David (London 2017): The Road to Somewhere; Pfister, René (München 2022): Ein falsches Wort; Krastev, Ivan (Berlin 2017): Europadämmerung; Ackermann, Ulrike (Darmstadt 2022): Die neue Schweigespirale

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die in den bürgerlichen Revolutionen im 18. und 19. Jahrhundert erkämpft wurden. Heute werden sie leichtfertig und kurzsichtig aufs Spiel gesetzt. Der bürgerliche Zugang war immer – und ist es auch heute –, das Verbindende zu sehen, das Gemeinsame zu suchen. Gelingendes Zusammenleben in einer Gemeinschaft braucht eine gemeinsame Basis und gleichzeitig ein Einverständnis darüber, dass unterschiedliche Meinungen und Einstellungen zulässig sind. Wer das nicht anerkennt, treibt Teile der Bevölkerung in die Hände von rechten und linken Populisten, die als Lautsprecher des Unsagbaren agieren. Demokratie zu erhalten, Verbindendes in der Gesellschaft aufzuzeigen und Populismus im Zaum zu halten wird eine große Herausforderung der nächsten Zeit sein. Und politische Bildung kann dazu wertvolle Beiträge leisten. Links Online-Bildungsraum der Politischen Akademie https://politische-akademie.at/bildungsraum/ Podcast der Politischen Akademie https://politische-akademie.at/podcast-grundsatz/ Online-Seminarreihe Werte und Grundsätze der Volkspartei https://bildungsraum.politische-akademie.at/course/index.php?categoryid=29b Online-Veranstaltung zu 75 Jahre Volkspartei https://www.facebook.com/politischeakademie/videos/228406658571955/

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Maria Maltschnig

50 Jahre Karl-Renner-Institut Geschichte verstehen, Zukunft gestalten 1972, in jenem Jahr, in dem die gesetzliche Grundlage für die Parteiakademien geschaffen wurde, gründete die Sozialdemokratische Partei Österreichs das Dr.Karl-Renner-Institut, welches somit 2022 seinen 50. Geburtstag feiern konnte. Die Art und Weise, in der politische Bildung vermittelt wird, ist heute eine fundamental andere als damals. Die Ziele und das Grundverständnis aus der Gründungszeit leiten die Arbeit aber nach wie vor.

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österreichisches jahrbuch für politik 2022

Als das „Bundesgesetz über die Förderung staatsbürgerlicher Bildungsarbeit im Bereich der politischen Parteien sowie der Publizistik“ am 9. Juli 1972 im Nationalrat beschlossen wurde, meinte der erste Redner in der Debatte, der sozialdemokratische Abgeordnete Karl Czernetz: „Die staatsbürgerliche Bildung ist eine Lebensfrage für die Demokratie.“ Tatsächlich waren die Gründung der Parteiakademien und die Schaffung einer finanziellen Grundlage dafür ein wesentlicher Teil des Vorhabens des damaligen Bundeskanzlers Bruno Kreisky, die „Gesellschaft mit Demokratie zu durchfluten“. Anfang der 1970er-Jahre gab es in der österreichischen Gesellschaft ein erhebliches autoritäres Restpotenzial. Austrofaschismus, Nazidiktatur, Zweiter Weltkrieg und Besatzungszeit waren noch nicht lange her. Viele Bürgerinnen und Bürger wurden nicht in eine Demokratie hineingeboren, für sie waren freie Wahlen und staatsbürgerliche Rechte nicht selbstverständlich. Der deutsche Sozialphilosoph Oskar Negt sollte später einmal feststellen, dass die Demokratie die einzige staatliche Gesellschaftsordnung sei, die gelernt werden müsse. Das gilt gleichermaßen für alle F ­ ormen, in denen Staatsbürger:innen am demokratischen Leben teilnehmen – ob als Wähler:innen, Aktivist:innen, Journalist:innen, Kandidat:innen, Funk­tions­ träger:innen oder in einer anderen Art und Weise. Jede dieser Rollen setzt ein gewisses Verständnis von gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Zusammenhängen und von der eigenen Verortung in diesem Gefüge voraus. Bundeskanzler Bruno Kreisky sah die Parteien als Verbindungsglieder „zwischen der Regierung und den Regierten“ als zentrale Säulen der parlamentarischen Demokratie. Und hier brauche es, wie es Kreisky in einer bemerkenswerten Rede1 im Karl-Renner-Institut im Dezember 1972 formulierte, professionelle Bildungseinrichtungen, die „den Staatsbürgern, die sich mit politischen Fragen zu befassen wünschen, eine politische Schulung auf breitester Basis ermöglichen“. Damit könne die Qualität des politischen Personals verbessert und die Parteien, die sich tendenziell gerne nach außen hin abschließen würden, geöffnet werden. 1 „Die politische Bildungsaufgabe“ – Rede des Bundeskanzlers Dr. Bruno Kreisky zur Konstituierung des wissenschaftlichen Beirates des Dr.-Karl-Renner-Institutes im Dezember 1972. In: 50 Jahre Renner-Institut (Wien 2022) 38ff.

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Maria Maltschnig    |   50 Jahre Karl-Renner-Institut

Die Benennung der SPÖ-Parteiakademie nach dem zweifachen Republikgründer, (austro)marxistischen Theoretiker und Arbeiterbildner Karl Renner war zu Beginn nicht unumstritten. Während sich Bruno Kreisky als „Schüler und Jünger des großen Staatsmannes Dr. Karl Renner“ bezeichnete und ein Karl-Renner-Institut wollte, hätte es die SPÖ Wien in den 1970er-Jahren lieber gesehen, die Parteiakademie wäre nach Otto Bauer benannt worden.2 Heute unterhält das Karl-Renner-Institut eine enge Kooperation mit dem Karl-Renner-Museum in Renners Villa in Gloggnitz und sieht sich auch in der Verantwortung, die Rolle der Sozialdemokratie in der Geschichte der Republik als wesentlichen Teil des sozialdemokratischen Bildungskanons zeitgemäß aufzubereiten. Die Aufarbeitung und Bewertung Karl Renners als zentrale politische Persönlichkeit im Österreich der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat die geschichtspolitische Arbeit des Karl-Renner-Instituts in den vergangenen Jahren stark geprägt – stets mit dem Anspruch, jenseits einer Heilsoder Verdammungserzählung eine differenzierte Betrachtung von Licht und Schatten im Kontext der Umwälzungen der Zeit zustande zu bringen. Während die bekannten Vorwürfe, Renner sei ein Antisemit gewesen, keiner seriösen historischen Betrachtung standhalten, standen dem herausragenden politischen und intellektuellen Wirken Renners dennoch auch historische Fehleinschätzungen gegenüber. Zur Geschichte der Republik, die im Endeffekt dann doch noch eine Erfolgsgeschichte wurde, hat Karl Renner zweifelsohne Außerordentliches beigetragen. Heute ist er als Namensgeber der Parteiakademie unumstritten.3 Über die Jahrzehnte war das Karl-Renner-Institut ein Ort des (internationalen) politischen Diskurses. Unzählige bedeutende politische Persönlichkeiten waren zu Gast: Olof Palme, Willy Brandt, Benazir Bhutto, Desmond Tutu, Eduard Schewardnadse, um nur einige davon zu nennen. Einen besonderen Stellenwert im Programm nahm und nimmt auch der Austausch zwischen Wissenschaft und Politik ein. Nicht weniger als zehn

2 Vgl. Michael Rosecker, Karl Renner – Republikanisches Fundament zwischen Glanz, Patina & Schatten. In: 50 Jahre Renner-Institut (Wien 2022) 11. 3 Vgl. Michael Rosecker, Karl Renner – Ein Republikanisches Fundament (1870–1950). (Wien 2020)

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österreichisches jahrbuch für politik 2022

Nobelpreisträger:innen und viele andere profilierte Intellektuelle aus dem In- und Ausland hielten öffentliche Vorträge, darunter Jürgen Habermas, Joseph Stiglitz, Heinrich Böll, Ágnes Heller, James Tobin und Mariana Mazzucato. Auf diesen Dialog zwischen Wissenschaft und Politik legt das Karl-Renner-Institut aktuell einen besonderen Schwerpunkt. In neu entwickelten Formaten werden die unterschiedlichen Wissens- und Erfahrungswelten beider Seiten an einen Tisch gebracht. So können Politiker:innen Zugang zu neuen Erkenntnissen aus der Wissenschaft erhalten und Wissenschaftler:innen ihre Forschung mit der Umsetzungserfahrung der Politik rückkoppeln. Das Karl-Renner-Institut erfüllt seinen Auftrag heute mit Ausbildungsangeboten, die das politische Handwerk vermitteln, und mit diversen Formaten, um sozialdemokratische Positionen im weitesten Sinne zu diskutieren und Einsichten in gesellschaftliche und politische Vorgänge zu bieten. Es ist aber auch ein Ort, an dem Menschen aus unterschiedlichsten Bereichen, die über Menschen- und Gesellschaftsbilder, über wirtschaftliche, rechtliche und kulturelle Zusammenhänge nachdenken, miteinander in Austausch treten und damit auch Impulse für die programmatische Weiterentwicklung der Sozialdemokratie setzen. Es wird sich als zeitgemäße politische Bildungseinrichtung auch in Zukunft ständig weiterentwickeln, neugierig und innovativ bleiben.

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A x e l K a s s e gg e r

50 Jahre Parteiakademien in ­Österreich Vor mehr als 50 Jahren, am 9. Juli 1972, wurde im österreichischen Parlament einstimmig das „Bundesgesetz zur Förderung staatsbürgerlicher Bildungsarbeit im Bereich der politischen Parteien sowie der Publizistik“ beschlossen.

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österreichisches jahrbuch für politik 2022

Die Freiheitliche Partei hatte sich schon Jahre zuvor für die Schaffung von Parteiakademien als Mittel der politischen Aus-, Fort- und Weiterbildung ausgesprochen. Durch die Parteiakademien sollte zudem die politische Kultur in Österreich insgesamt gestärkt und der politische Diskurs im Land gefördert werden. Der damalige Bundesparteiobmann Friedrich Peter brachte die – bis zum heutigen Tag gültige – Haltung der Freiheitlichen in seiner Wortmeldung im Rahmen der Nationalratssitzung am 9. Juli 1972 zum Ausdruck: „Meine Damen und Herren! Angesichts der fortgeschrittenen Zeit möchte ich die Nerven der Kolleginnen nicht mehr weiter strapazieren und mich mit der Feststellung begnügen, daß die freiheitlichen Abgeordneten das bedeutungsvolle Gesetz über die Förderung staatsbürgerlicher Bildungsarbeit der politischen Parteien zustimmend annehmen werden. Dieses Gesetz versetzt die politischen Parteien in die Lage, ihre Mitarbeiter besser zu informieren und besser auszubilden. Der besser ausgebildete politische Funktionär ist weniger manipulierbar. Er ist aber nicht nur weniger manipulierbar, sondern er wird darüber hinaus in der Lage sein, zur Erhaltung, Sicherung und Festigung der geistigen und der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit Österreichs und seiner Wirtschaft entscheidend beizutragen. Daher werden wir aus diesem Grunde der Gesetzesvorlage die Zustimmung erteilen.“ In den mehr als 50 Jahren seit ihrer Gründung haben sich die Parteiakademien zu wichtigen Trägern der politischen Bildung in Österreich entwickelt. Sie bieten eine Plattform für den Austausch von Ideen und Erfahrungen und tragen insgesamt dazu bei, das politische Bewusstsein in der Bevölkerung zu stärken. Der gesellschaftliche und technologische Wandel hat aber auch dazu geführt, dass sich die Parteiakademien an neue Erfordernisse und Bedürfnisse anpassen mussten. Selbstverständnis des Freiheitlichen Bildungsinstitutes Das Freiheitliche Bildungsinstitut versteht sich als offenes Kommunikationsforum für den Austausch von Ideen und Meinungen. Im evidenzbasierten

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Axel Kassegger    |   50 Jahre Parteiakademien in ­Ö sterreich

Diskurs wird die Meinungsbildung gefördert und ein erkenntnisorientierter wissenschaftlicher Dialog angestrebt. Dabei sollen alle Bevölkerungsschichten und Altersgruppen angesprochen und eingebunden werden. Die politische Bildungskommunikation erfolgt vorrangig in Seminaren, Publikationen und Studien. Vor allem Studien sind es, die zu einer Versachlichung von Politik beitragen. Dank der Durchdringung weltanschaulicher Positionen mit entsprechender Expertise, aber auch der Antizipation gesellschaftlicher Trends sowie der Entwicklung von Szenarien und zukunftsweisender Strategien können unterschiedliche Politikfelder umfassend diskutiert, reflektiert und proaktiv in Angriff genommen werden. Unabhängig davon, ob es sich um eine historische Analyse oder eine Inventarisierung der politischen Gegenwart handelt, eingebettet in das angestrebte Bildungsziel ist der Vektor der Grundlagenarbeit doch stets zukunftsorientiert. In einem immer dynamischeren politischen Umfeld, geprägt durch neue Medien und Interdependenzen, wird der Stellenwert der internationalen Bildungsarbeit zunehmend wichtiger. Das Freiheitliche Bildungsinstitut nimmt auch hier seine Verantwortung wahr und kommuniziert mit verschiedenen Parteien und Bewegungen in Europa, die bei aller Unterschiedlichkeit in der Programmatik ein ähnliches politisches und gesellschaftliches Umfeld vorfinden und in vergleichbarer Art und Weise politische Handlungsangebote machen. Ein weiterer Schwerpunkt der internationalen Bildungsarbeit liegt in der Formulierung von Standpunkten, die Anschauungsalternativen zu gewissen konformistischen Lesarten von EU oder religiösem Fundamentalismus und dessen Verbreitung in Europa bieten. Die vornehmste Aufgabe der politischen Bildung ist es hier, einen Beitrag zur Mobilisierung der Abwehrkräfte der werteorientierten, liberalen Demokratie zu leisten. Das Institut informiert darüber hinaus auch über die politischen Positionen und Aktivitäten der FPÖ, und zwar im In- wie im Ausland. Ausblick für die zukünftige Arbeit von Parteiakademien In Zeiten einer zunehmenden Polarisierung des politischen Diskurses zeigt sich der Wert der österreichischen Parteiakademien besonders deutlich. In­ stitutionen, die sich abseits des tagespolitischen Konflikts mit grundlegen-

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österreichisches jahrbuch für politik 2022

den sachpolitischen Fragen beschäftigen, fällt es zu, die wesentlichen politischen Sachmaterien der Zukunft umfassender anzudenken und ihre politischen Entscheidungsträger dahingehend zu bilden und zu sensibilisieren. Die „großen“ Fragen der Politik, sei die der Demographie oder der Migrationskrise, um nur zwei Beispiele zu nennen, werden nicht innerhalb einer Legislaturperiode gelöst werden können. In der „reaktiven“ Tagespolitik bleiben vielschichtige und komplexe Problemlösungsstrategien oft auf der Strecke. Die Parteiakademien als Orte der Kontinuität sind hier besonders gefragt Problemlösungen anzubieten und über die Jahre hinweg in den politischen Diskurs einzubringen. Sie sind dafür geeignet, die sprichwörtlichen politisch „dicken Bretter“ zu bohren. Parteiakademien haben sich bewährt und können durchaus als demokratiepolitische Erfolgsgeschichte bezeichnet werden. Ihre Existenz war und ist, selbst in Zeiten zunehmender politischer Polarisierung, als bildungspolitischer Grundkonsens niemals infrage gestellt worden. Diese Tatsache sagt schon sehr viel über die Bedeutung dieser Institutionen aus. Selbstverständlich gestaltet jede politische Akademie ihre Schwerpunkte und ihre Arbeitsweise selbst. Aber über alle politischen Ideologien und Couleurs hinweg besteht Einigkeit darüber, dass diese einen bedeutenden Mehrwert zum politischen System und Diskurs in Österreich beitragen. Ausgangspunkt und Grundlage der freiheitlichen Bildungsagenda ist das Bild des mündigen Menschen. Diese Mündigkeit behauptet in einer Wissensgesellschaft aber nur derjenige, der sie mit der Macht des Wissens durchzusetzen vermag. Gerade der politische Funktionär ist besonders gefordert in seiner Entscheidungsfindung „mündig“ zu sein.

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L u k a s S c h r e t z m a y e r - S u s t a l a 

50 Jahre politische Bildungsarbeit Was tun in der Vertrauenskrise? Warum die Rückbesinnung auf den staatsbürgerlichen Bildungsauftrag der Parteiakademien in Österreich mehr als 50 Jahre nach ihrer gesetzlichen Schaffung unbedingt notwendig ist.

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Politik ist der Ort, an dem wir uns ausmachen, wie wir miteinander leben. Dieser Satz ist gut sichtbar im Veranstaltungs- und Seminarraum des NEOS Lab verewigt. Ob nun eine Bürgerin diesen Satz liest, wenn sie eine Podiumsdiskussion besucht, oder eine angehende Mandatsträgerin im Rahmen eines Trainings, er soll an den Auftrag erinnern, den die Parteiakademien in Österreich haben. „Staatsbürgerliche Bildungsarbeit“, wie es im Publizistikförderungsgesetz genannt wird, ist nicht nur der Versuch, möglichst vielen Menschen diesen Ort Politik näherzubringen. Die Vermittlung von Fakten und Wissen dazu, wie das politische System aufgebaut ist und funktioniert, ist eine wichtige Säule von politischer Bildungsarbeit. Sie liefert die Wegkarten für das politische Engagement, über die Zusammenarbeit von Gemeinde-, Landes- und Bundesebene. Doch um erfolgreich zu sein, müssen die Parteiakademien als Trä­ ger:innen der staatsbürgerlichen Bildungsarbeit möglichst viele Menschen zu Architekten, Baumeister:innen oder Gestalter:innen dieses Ortes machen, nicht bloß zu den passiven Bewohner:innen. Die schiere Vermittlung von Faktenwissen reicht dafür nicht aus. Es braucht Wissen darüber, welche Wege zum politischen Engagement besonders gut funktionieren, welche Überholspuren es gibt. Politische Veränderungen eines halben Jahrhunderts Seit 50 Jahren geschieht nun schon politische Bildungsarbeit in Parteiakademien: Die politische Akademie und das Renner-Institut sind dabei die am längsten etablierten Institutionen, das NEOS Lab ist die jüngste der aktuell vertretenen Parteiakademien. Seit 1972 haben sich das politische System und die Orte, an denen Menschen mit Politik in Berührung kommen, zum Teil deutlich gewandelt. Das sieht man nicht nur daran, dass sich die Verhältnisse stark verändert haben. Bei der Nationalratswahl 1971 haben nur drei Parteien den Einzug in den Nationalrat geschafft, und die beiden Parteien SPÖ und ÖVP haben 93 % der Stimmen auf sich vereint. Seit der Nationalratswahl 2019 sind fünf Parteien vertreten, und die beiden größten Parteien ÖVP und SPÖ haben 58,6 % der Stimmen erhalten. Bei der Nationalratswahl 1971 waren 4.984.448 Menschen wahlberechtigt und 4.556.990 gültige Stimmen wurden abgegeben. 2019 waren

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es 6.396.812 Wahlberechtigte, das sind immerhin um 28 Prozent mehr. Allerdings wurden 2019 nur 4.777.246 gültige Stimmen abgegeben. Das sind um nur 5 Prozent mehr als vor 50 Jahren. Mit den politischen Änderungen haben sich die Anforderungen an politische Bildungsarbeit teils dramatisch verändert. Denn immer mehr Menschen fühlen sich nach den verschiedenen Krisen, von der Pandemie bis zur Rekord-Inflation, durchaus ohnmächtig gegenüber der Politik oder haben sich nach Skandalen abgewandt. Sie finden sich auf den Karten nicht mehr zurecht oder wollen den Ort Politik so gut wie möglich meiden. Das ist alarmierend und weist einen akuten Handlungsbedarf auf. Denn so wenige Menschen wie lange nicht fühlen sich als Teil der Demokratie selbstermächtigt; das zeigen Erhebungen wie der Demokratiemonitor und der Freiheitsindex des Meinungsforschungsinstituts SORA. „Die Vertrauenskrise ist eine Krise der Repräsentation“, warnt die Studienautorin Martina Zandonella, denn die Daten zeigen nicht nur ein schwindendes Vertrauen in die Bundesregierung, sondern auch in das Parlament. Auf die Frage: „Funktioniert das politische System in Österreich sehr gut/ziemlich gut/weniger gut oder gar nicht gut?“ antworteten 2018 noch 64 Prozent (sehr) gut, 2022 waren es nur noch 34 Prozent. Die Parteiakademien können und sollten einen Beitrag dazu leisten, den Menschen das politische System nicht nur näherzubringen, sondern auch die Selbstermächtigung von Bürgern und Bürger:innen in den Fokus zu stellen. Denn gerade die Parteiakademien können dem Eindruck entgegentreten, dass Politik der Ort sei, „an dem sich die da oben ausmachen, wie wir miteinander leben“. Diesen Eindruck teilt mittlerweile die Hälfte der Menschen laut SORA-Demokratiemonitor. Diesem Eindruck kann man vieles entgegensetzen: • Initiativen, die die Partizipation stärken und die Bürgerbeteiligung ins Zentrum rücken. Statt „Was passiert da?“ sollte die wichtigste politische Frage lauten: „Was kann ich tun?“ • Diskussionsformate, die parteiübergreifende Widersprüche darstellen und Raum für Debatten geben, um zu sehen, wie politische Mehrheiten und Entscheidungen zustande kommen. • Problemlösung statt Problematisierung ins Zentrum rücken. Die Multikrise mag die Aufmerksamkeit des politischen Systems auf die Probleme unserer Zeit richten, doch Lösungsansätze und Ideen gibt es in

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unseren europäischen Nachbarländern oder in anderen Bundesländern in mannigfaltiger Weise. Nur ganz selten ist man selbst als Erster oder Erste mit einem Problem konfrontiert. Bürgerbeteiligung, parteiübergreifende Diskussion und lösungsorientierte politische Bildungsarbeit bedeuten aber auch, dass es staatsbürgerlicher Bildungsarbeit vor allem dann gelingen wird, den Vertrauensverlust zu bekämpfen, wenn man sich von der traditionellen Vorstellung der Parteiakademien als „Kaderschmieden“ für die eigene politische Richtung etwas löst. Denn es geht angesichts der Vertrauenskrise auch darum, Menschen für Politik anzusprechen, die davor noch kein Interesse hatten oder gar ihr Vertrauen in die repräsentative Demokratie verloren haben. Hier sind die Herausforderungen besonders groß, weil sich die Zielgruppen politischer Bildungsangebote heute auch gänzlich anders informieren als früher. Um erfolgreich neue Zielgruppen anzusprechen, müssen heute viel mehr Menschen mit unterschiedlichen Medienformaten erreicht werden, weil nicht nur das politische System, sondern auch der Medienkonsum heute viel diverser ist. Politische Bildung muss daher wie jede Form von Erwachsenenbildung heute digitaler und vielfältiger sein, als sie es jemals war.  Podcasts, Instagram-Storys oder Hackathons mögen auf den ersten Blick nicht nach dem Auftrag für Parteiakademien klingen, doch ohne sie würden die Bildungsangebote junge Erwachsene kaum mehr erreichen. Was Parteiakademien liefern können Orte sind in der Demokratie immer wichtig. Es ist kein Zufall, dass die Neugestaltung und Neueröffnung des Parlaments im Jahr 2023 als wichtiger Meilenstein gefeiert wird. Das Parlament ist in der repräsentativen Demokratie der zentrale Ort, das Forum für Diskurs, für weitreichende politische Entscheidungen, für die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Vorschlägen und Lösungsansätzen. Dass die politische Bildungsarbeit so stark mit den Parteien verbunden ist, ist daher einerseits eine richtige Verortung – schließlich sind Parteien zentrale Akteure der politischen Landschaft in Österreich. Doch andererseits darf sich die Arbeit der Parteiakademien in Sachen politischer „Skills“ und Kompetenzen nicht darin erschöpfen, als

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Kaderschmieden für bereits hochrangige Funktionäre wahrgenommen zu werden. Denn Politische Bildung ist und bleibt gerade auch wirkungsvoll, um Bürger:innen anzusprechen und davon zu überzeugen, dass sie nicht Objekte, sondern Subjekte von Politik sind. Die Macht geht von den Menschen aus. Und dafür darf der Ort, an dem wir uns ausmachen, wie wir miteinander leben, nicht weit weg sein. Dafür müssen wir zu viel Diskurs zu aktuellen relevanten Themen einladen, mit neuen Medien und Formaten ins Gespräch kommen und auch über die Parteigrenzen hinaus debattieren. Die Parteiakademien sind damit natürlich auch viel eher als die im Wahlkampf stehenden Parteien in der Lage, das berühmt-berüchtigte „Lager“-Denken zu durchbrechen und das Gemeinsame am politischen Ort hervorzustreichen. Es ist nicht nur für neue Parteien, sondern auch für die Demokratie insgesamt enorm wichtig, möglichst viele Menschen mit dem Aufbau unserer Demokratie, den wichtigen tragenden Säulen und der Bedeutung von checks and balances bekannt zu machen. Österreich sollte dabei von anderen Ländern lernen, die eine größere Tradition von direkt-demokratischen Elementen, Transparenz oder Partizipation haben als wir. Staatsbürgerliche Bildungsarbeit muss Wege aufzeigen, selbst den Ort Politik zu gestalten, die Demokratie zum eigenen Anliegen zu machen und die Gestaltung zu übernehmen. Die Parteiakademien haben eben nicht nur die Aufgaben, für ihre Parteien Menschen auszubilden, sondern müssen auch aufpassen, dass sie jene offenen Räume sind und bleiben, in denen Bürger:innen den Ort Politik erleben können, erste Wegbeschreibungen erhalten und Souveränität statt Ohnmacht erfahren. Parteiakademien können damit die offenen Labore sein, um Neues auszuprobieren, Lösungen zu entwickeln und Aktuelles zu diskutieren. In einer Technokratie bräuchte es die Parteiakademien vielleicht nicht, weil die Expert:innen und die Interessenvertreter:innen kennen die Politik und ihre Orte und Räume wie ihre Westentasche. Sie wissen um alle Wege, ob es nun der Weg der Gesetzwerdung oder der Förderungen ist. Doch in einer Demokratie sollten vor allem die Menschen selbst ein klares Bild davon haben, wie der Ort Politik für sie funktioniert und wo sie sich einbringen können.

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Der aktuell stark ausgeprägte Vertrauensverlust in das politische System sollte anlässlich des 50-jährigen Jubiläums zur Schaffung der Parteiakademien auch Anlass sein, um dies als deren Aufgabe stärker wahrzunehmen. Weil politische Bildung auch einen Beitrag zur Vertrauensbildung liefern kann.

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Dagmar Tutschek

Warum Bildung der Schlüssel zum Wandel ist Wenn eine nachhaltigere und gerechtere Gesellschaft aufgebaut werden soll, spielt die Vermittlung von Zukunftskompetenzen eine zentrale Rolle. Bildung sollte die befreiende Kraft dafür sein, aber sie kann auch Hierarchien, Spaltungen und Ungleichheit verschärfen,– sind doch viele Bildungssysteme noch immer von den industriellen, nationalstaatlichen Gesellschaften geprägt, aus denen sie hervorgegangen sind. In der Erkenntnis, dass Bildung immer politisch ist, wird der Frage nachgegangen, wie ein Bildungssystem aussehen könnte, das die Menschen befähigt, sich einen gerechten Wandel erst vorzustellen und dann einzuleiten – und was wir als politische Akademien dazu beitragen können.

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Bildung ist im besten Fall die utopischste aller Unternehmungen, das Geschenk, das eine Gesellschaft an die nächste Generation weitergibt. Simone Weil (1909–1943), französische Philosophin. Sie stand für eine engagierte Verbindung zwischen dem Persönlichen und dem Politischen, die sie in ihrem eigenen Leben verkörperte. Die Bildungssysteme gehören zu den Institutionen, die das Leben des Einzelnen und die Gesellschaft im weiteren Sinne am stärksten prägen, und doch werden sie als Gegenstand politischer Debatten und Überlegungen vernachlässigt. Bildung gehört zu den mächtigsten Instrumenten, über die moderne Gesellschaften verfügen, um ihre Gegenwart und Zukunft zu gestalten und ihrer Vergangenheit einen Sinn zu geben. Die großen Herausforderungen unserer Zeit – Ungleichheit, das Schicksal der Demokratie, Kriege und Pandemien, der Klimawandel – greifen massiv in das individuelle und kollektive Wohlbefinden ein. Bei der Entwicklung einer nachhaltigeren, gerechteren und freieren Gesellschaft nimmt lebensbegleitende Bildung eine Schlüsselrolle ein. In den 1990er- und frühen 2000er-Jahren setzte sich Europa das Ziel, eine Wissensgesellschaft zu werden. Daran war mehr Rhetorik als Substanz. Prekarität und Austerität festigten sich geradezu dogmatisch. Aber das Streben nach einer gut ausgebildeten Gesellschaft, in der alle die Möglichkeit haben, zu lernen, das Leben zu meistern und ihre Leidenschaften zu entwickeln, ist ein wertvolles Ziel. Schließlich kann eine Gesellschaft von Individuen, die durch Wissen und Lernen gestärkt werden und gemeinsame Referenzen, Werte und Verständnisse teilen, nur durch Bildung erreicht werden. Eine besondere Rolle kommt dabei der staatsbürgerlichen Bildung zu. Sie fördert „Ermächtigung“ im Sinne eines profunden Wissens um politische Systeme und Strukturen, sie schafft „Teilhabe“ – am politischen wie auch gesellschaftlichen Leben. Wenn man so will, als eine permanente Weiterentwicklung im Gedanken der Aufklärung. Die Aufklärung hat uns befähigt, selbst zu denken, damit wir unser Schicksal selbst in die Hand nehmen können. Was als Kehrseite der Medaille einen Individualismus befeuerte, der uns fern von jeglicher Demut in den

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irrigen Glauben versetzt hat, alles, auch die Natur, nach unseren Wünschen umgestalten zu können. Gehen wir in der Geschichte zurück. Griechenland als frühe Entwicklungsstufe der Demokratie – demokratische Rechte standen nur einheimischen Männern zu – musste sich mit wechselndem Erfolg gegen wiederholte Putschversuche einer Gruppe von Oligarchen zur Wehr setzen. Geschichte und Lernprozesse haben viele Wiederholungsschleifen. Die Terrorherrschaft der Dreißig rund 400 Jahre v. Ch. währte nur wenige Monate, hinterließ aber eine blutige Bilanz: Über tausend Menschen wurden ermordet, eine noch größere Zahl wurde vertrieben und enteignet. In dieser Zeit machte ein 70-jähriger Mann auf sich aufmerksam: Sokrates. Er wird als Begründer der Philosophie in die Geschichte eingehen. Seinen Einfluss übte er abseits der bestehenden Institutionen auf den Straßen und Plätzen Athens aus. Gute Politik konnte seiner Überzeugung nach nur betrieben werden, wenn der einzelne Mensch verbessert werde. Sokrates’ Handeln stellte gewissermaßen eine frühe Form politischer Bildung dar und fand unter der Jugend der Athener Elite großen Anklang. Was Sokrates eine Anklage wegen Verderbens der Jugend und den sprichwörtlichen Schierlingsbecher einbrachte. Die kritische Auseinandersetzung mit politischen Systemen in Vergangenheit und Gegenwart haben unzählige Menschen mit dem Leben bezahlt. Politisch engagierte Menschen, Journalist:innen, die für freie Medien kämpften, Aktivist:innen, die sich für soziale Anliegen einsetzten. Und doch ist der Mensch ein Zoon politikon im aristotelischen Sinn: „Wie im Samen der ganze Baum veranlagt ist, so ist im Menschen der Staat veranlagt.“ Ziel sei die Erreichung des „guten Lebens“, das nur in der Polis, in und mit der staatlichen Gemeinschaft verwirklicht werden kann. Das bringt uns zurück in die Gegenwart. Das Ziel eines „Guten Lebens für alle“ hat im letzten Jahrzehnt progressive Politik, Gewerkschaft, NGOs und Zivilgesellschaft geeint. Nicht zuletzt nach drei Jahren Pandemie, dem aktuellen Krieg in Europa und multiplen Krisen ist dieses Ideal noch (oder wieder) in weite Ferne gerückt. Bildung wurde mit zu einer Triebkraft der Ungleichheit und nicht zu einem Instrument, um sie zu bekämpfen. Für viele, insbesondere für Vertriebene, ist allein der Zugang zu Bildung ein Kampf.

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Politische Bildung ist niemals neutral. Und doch sollte uns das Ziel einen, Bürgerinnen und Bürger in die Lage zu versetzen, die Veränderungen in einer sich wandelnden Welt zu begreifen, zu gestalten – und den Weg zu einer gesellschaftlichen Transformation zu öffnen. Politische Bildung ist eng mit Wissenschaft und Wissen verbunden. Jenseits technischer Lösungen geht es um eine radikale und weitreichende Vision davon, warum und wie wir lernen sollen: für eine Bewältigung der ökologischen Krise, für den Abbau von Strukturen der Ungerechtigkeit und Unterdrückung und für den Aufbau der Grundlagen für Demokratie und Frieden. Der Kampf gegen Diskriminierung ist definitiv eine demokratische Agenda. Wie kann Bildung – und auch staatsbürgerliche Bildung den Wandel anstoßen? Mit Konzepten für die Bildung in den Bereichen nachhaltige Entwicklung, Weltbürgertum und Zukunftskompetenz. Organisationen wie die UNESCO drängen darauf. Sich für wünschenswerte zukünftige Zustände zu öffnen und unsere Phantasie miteinzubeziehen, kann sehr motivierend sein. Bewegungen, die Wissenschaft, Kunst und Politik diskursiv verbinden, tun genau das. Gesellschaften entwickeln sich als Ergebnis von Auseinandersetzung, nicht von Konsens. Gegenwärtig implodieren die wichtigsten Erzählungen der letzten 40 Jahre. Politisch bedeutet dies, dass wir strukturelle Krisen erleben, für die die üblichen Erklärungen nicht mehr oder schon lange nicht mehr greifen. Infolgedessen ist das Fenster für einen Wandel jetzt offen. Idealerweise können die politischen Akademien dazu beitragen, so viele Menschen wie möglich auszubilden – und zu ermutigen, sich an der Gestaltung dieser neuen Visionen, Erzählungen und Aktivitäten zu beteiligen. Dies wäre die ideale Situation für liberale Gesellschaften und für die demokratische Erneuerung. In gleicher Weise sollte jedes einzelne Unternehmen in der Lage sein, die sozialen und ökologischen Auswirkungen seiner Tätigkeit darzustellen. Mit gemeinsamen Werten als Bezugsrahmen, die uns helfen akzeptables oder inakzeptables Verhalten zu definieren.

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Dagmar Tutschek    |   Warum Bildung der Schlüssel zum Wandel ist

Insgesamt erfordert dieser Weg Mut, Empathie und Haltung. Dazu können wir als Parteiakademien viel beitragen. Statement Dagmar Tutschek im Rahmen der Veranstaltung „50 Jahre staatsbürgerliche politische Bildung im Parlament“, 1. Juli 2022, unter Verweis auf ein Interview mit Maja Göpel, Politökonomin, Expertin für Nachhaltigkeitspolitik und Transformationsforschung, „Making Sense of the World: Why Education Is Key to Change“, erschienen im Green European Journal, Ausgabe 23, Sommer 2022.

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Elisabeth Mayerhofer

Politische Bildung Ein Blick in die Zukunft 1972 trat das bis heute gültige Publizistikfördergesetz in Kraft. Dort wird unter anderem die Bildungsarbeit politischer Parteien geregelt. Schließlich gilt bis heute, dass Demokratie nicht voraussetzungslos ist: Es braucht Bürgerinnen und Bürger, die informierte (Wahl-)Entscheidungen treffen können. Demokratie kann sich aber nicht nachhaltig entwickeln, wenn sie nur aus Konsumentinnen und Konsumenten von Politik besteht. Es werden auch (aus)gebildete Gestalterinnen und Gestalter von Politik benötigt. Diesen beiden großen Aufgaben kommen die Bildungseinrichtungen der Parteien nun seit 50 Jahren nach. Grund genug, einen Blick in die Zukunft zu werfen und zu überlegen, was auf die staatsbürgerliche Politische Bildung“ in den nächsten 50 Jahren zukommen kann.

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Die Zukunft ist auch nicht mehr das, was sie einmal war oder das Ende der Gewissheit Es fühlt sich ein wenig so an, als wären die Nachkriegsgesellschaften liberaler Demokratien westlicher Prägung in der Pubertät: Viele vermeintliche Gewissheiten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelten nicht mehr. Bisher bewährte demokratische Prozesse werden angezweifelt, geschlechtliche Identitäten werden hinterfragt, das Vertrauen in bestehende Strukturen sinkt, Krisen aller Art und die damit verbundene Unsicherheit werden zur Regel. In der Management-Sprache kursiert schon länger die Beschreibung unserer Welt als „VUCA-Welt“. Das aus dem Englischen stammende Akronym steht dabei für V-olatility (Volatilität) U-ncertainty (Unsicherheit) C-omplexity (Komplexität) A-mbiguity (Mehrdeutigkeit) Dieses „Ende der Gewissheit“ setzt die Politik, von der wir als Branche erwarten, dass ihre Protagonistinnen und Protagonisten immer wissen, was der eine, immer gültige und richtige Plan ist, zwangsläufig unter Druck. Demokratien werden nur dann weiterhin funktionieren, wenn wir Politik als lernendes System begreifen Die Corona-Jahre haben deutlich gezeigt, was es in der Praxis bedeutet, unter VUCA-Umständen Entscheidungen zu treffen. Und wie schwierig es ist, diese zu kommunizieren. Mit der Erwartungshaltung an Politik, dass Entscheidungen nur dann gut sind, wenn man sie nie wieder weiterentwickeln muss, kann unter sich dauernd ändernden Umständen nur Unsicherheit und Unzufriedenheit entstehen und damit ein hervorragender Nährboden für die Destabilisierung unserer Gesellschaft. Um das einzudämmen, müssen wir Politik als lernendes System begreifen. Als ein System, das auf Basis neuer Erkenntnisse Entscheidungen revidieren darf (vielleicht auch muss), eingeschlagene Pfade verlassen kann und neue Wege baut.

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Elisabeth Mayerhofer    |   Politische Bildung

Erleben kommt vor verstehen Demokratie und Politik sind am Anfang des 21. Jahrhunderts hochkomplexe Systeme geworden, die zu nicht minder komplexen Themen mehrheitsfähige Entscheidungen herbeiführen müssen. Der „politische Betrieb“ beschäftigt sich und unzählige Menschen mit einer unglaublichen Vielfalt von zu lösenden Problemen. Da „alle Macht vom Volke ausgeht“ sind Bürgerinnen und Bürger selbstverständlich über das Geschehen zu informieren und auch in den politischen Prozess einzubinden. Gab es früher zu vielen Informationen keinen Zugang, sind wir heute mit einer kaum beherrschbaren Informationsflut konfrontiert – und das nicht nur aus der Politik. Gleichzeitig sind wir immer weniger bereit unsere Aufmerksamkeit länger zu fokussieren: 180 Zeichen auf Twitter oder 60 Sekunden auf TikTok zeigen diesen Trend deutlich. Unter anderem diese Kombination aus hoher inhaltlicher Komplexität und verkürzter Kommunikation trägt wohl dazu bei, dass weltweit immer mehr Menschen große Distanz zu ihrem politischen System empfinden, sich ausgeschlossen fühlen und meinen, sie könnten nicht mitgestalten. Wie kann also Politik in Demokratien und Vertrauen in Abläufe, Prozesse und Personen überhaupt noch vermittelt werden? In einer digitalen Welt, in der theoretisches Wissen und Unmengen an Information über das Smartphone quasi aus der Hosen- oder Handtasche jeder Zeit abrufbar sind, gewinnt Erfahrungswissen an Bedeutung. Dieses Wissen sammelt man mit­hilfe eigener Handlungen und Erlebnisse. Politik bleibt für die meisten Menschen eine sehr theoretische Angelegenheit, die ihnen häufig nur über mediale Vermittlung zugänglich wird. Wenn wir Verständnis und Vertrauen zurückgewinnen wollen, braucht es niederschwellig zugängliche und breit verfügbare Erfahrungs- und Erlebnisräume, in denen jeder und jede in unterschiedlichste Rollen des politischen Systems schlüpfen kann. Zukunftskompetenzen als Schlüssel für gelingende und resiliente Demokratien Am Ende des Jahres 2022 machte ein neuer Algorithmus von sich reden: Chat GPT, ein von der amerikanischen Firma Open AI entwickelter Chatbot, der auf künstlicher Intelligenz beruht und auf Dialog ausgerichtet ist.

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Man stellt Chat GPT (schriftlich) eine Frage und erhält als Antwort Texte, die kaum von menschlichen Ergebnissen zu unterscheiden sind. Gefällt der Stil nicht, kann der User über den „Regenerate“-Button schnell eine neue, anders formulierte Version erzeugen. Als Grundlage dient Chat GPT quasi das Wissen des Internets. Die Anwendung kann Reden schreiben, Aufsätze gestalten, Kurscurricula erstellen oder Businesspläne entwerfen – um nur ein paar Anwendungsfälle zu nennen.1 Und das in der Beta-Version. Die Tragweite dieser nächsten digitalen Innovationswelle fasst Andreas Schleicher, Direktor des Direktorats für Bildung und Kompetenzen der OECD, klar zusammen: „Die Welt belohnt uns nicht mehr allein für das, was wir wissen – Google weiß ja schon alles –, sondern für das, was wir mit dem, was wir wissen, tun können. … unsere Fähigkeit, Unwägbarkeiten und Mehrdeutigkeiten zu überwinden, wird zum Schlüssel. … Die Quintessenz ist, dass wir, wenn wir der technologischen Entwicklung voraus sein wollen, die Qualitäten finden und verfeinern müssen, die einzigartig für uns Menschen sind. Dieses Vermögen gilt es zu entwickeln, damit sich unsere Fähigkeiten und die unserer Computer ergänzen können und nicht miteinander konkurrieren.“1 Diese Kompetenzen zu definieren und für den Bereich der Politik zu übersetzen wird eine zentrale Aufgabe staatsbürgerlicher politischer Bildung sein und wesentlich zum Gelingen von Demokratien beitragen.

1 Andreas Schleicher (Direktor des Direktorats für Bildung und Kompetenzen der OECD) in seinem Vorwort zum „OECD Lernkompass 2030“; https://www.oecd.org/education/2030project/contact/OECD_Lernkompass_2030.pdf

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Stefan Karner

Der Kärntner Konsensweg – (k)eine Selbstverständlichkeit Der Streit um die zweisprachigen topographische Aufschriften („Ortstafeln“) währte in Kärnten über 50 Jahre. Erst 2011 konnte man sich auf Basis eines weitgehend flächendeckenden Lösungsklimas, vorbereitet von der „Kärntner Konsensgruppe“,1 einigen und einen tragfähigen Kompromiss erzielen. Kärnten konnte mit dem politischen Kompromiss 2011 ein beherrschendes politisches Problem seiner Entwicklung seit 1955 zufriedenstellend lösen. Inzwischen wurden in einzelnen Orten weitere zweisprachige topographische Aufschriften angebracht. Ein Widerstand der örtlichen Bevölkerung ist kaum noch zu bemerken.

1 Die 2005 gegründete „Kärntner Konsensgruppe“ bestand v. a. aus Josef Feldner (Kärntner Heimatdient), Bernard Sadovnik (Gemeinschaft der Kärntner Slowenen und Sloweninnen), CR i. R. Heinz Stritzl (†), Marjan Sturm (Zentralverband slowenischer Organisationen) und Stefan Karner als Moderator.

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Wie kaum anderswo standen in Kärnten nationale Fragen im Mittelpunkt der Politik. In Fragen des Minderheitenschutzes und des Artikels 7 des öster­reichischen Staatsvertrages hatten und haben diese auch gesamtstaatliche Auswirkungen. Mit den ethnischen Fragen um die deutsch- und slowenischsprachige Bevölkerung des Landes wurden Wähler querbeet mobi­ lisiert, Wahlen entschieden, wurde Wirtschaftspolitik gemacht, wurden Volkstumsfragen zu eminent tagespolitischen Themen der Schul-, Kulturund Wirtschaftspolitik. Kärnten wurde mitunter nur noch über die Volkstumsfragen definiert bzw. definierte sich auch selbst vorwiegend über deren Nicht-Bewältigung oder Lösung. Allein die Diskussion um die Lösung des Teilproblems der zweisprachigen topographischen Aufschriften („Ortstafeln“) währte über 50 Jahre. Erst 2011 konnte man sich auf Basis eines in Kärnten erreichten, weitgehend flächendeckenden Lösungsklimas, vorbereitet von der „Kärntner Konsensgruppe“, einigen und einen tragfähigen Kompromiss erzielen. Die vor 50 Jahren, im Herbst 1972 über Nacht und ohne Information der Bevölkerung und auch der Landtags-Parteien (durch die SPÖ-Spitze Bruno Kreisky und Hans Sima) aufgestellten 205 zweisprachigen Ortstafeln wurden binnen kurzer Zeit im sogenannten „Ortstafelsturm“ demontiert, später nur noch 91 verordnet. Ein Keulenschlag für die Konsensbemühungen und Dialogforen, wie es sie etwa im Bereich der Katholischen Kirche 1972 gegeben hatte (siehe den Beitrag von Valentin Inzko in diesem Band) und die einerseits zwar zu einer teilweisen Beruhigung im Bereich der katholischen Kirche führten, andererseits aber mitunter auch von einem Rückgang der Kirchenbesuche, vor allem von deutschsprachigen Jugendlichen, in zweisprachigen Pfarren begleitet waren. Die folgende Eiszeit zwischen den Volksgruppen währte mit kleinen Annäherungen eigentlich über 20 Jahre. Sie wurde erst 1995 wieder sichtbar aufgebrochen und die Spannungen etwas gelockert, als bei der 75-Jahresfeier der Kärntner Volksabstimmung erstmals ein Kärntner Slowene im Kärntner Wappensaal auftreten und eine Rede in Slowenisch halten konnte. Landeshauptmann Christoph Zernatto hatte dieses symbolhafte Zeichen für einen neuen Kurs durchgesetzt.

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Stefan Karner    |   Der Kärntner Konsensweg

Der „Runde Tisch“ 1997/98 wies die Richtung In diese Phase der Entspannung und erster, auf einen Dialog zielender Diskussionsforen, platzte im Spätsommer 1997 ein Anschlag auf das seit Jahren in einer heftigen Kontroverse und Diskussion stehende Ulrichsbergdenkmal, was sehr bald zu einer historisch-politischen Auseinandersetzung über die jüngere Geschichte Kärntens und den Umgang mit ihr führte. Ein von LH Christoph Zernatto eingerichteter und von Stefan Karner moderierter „Runder Tisch“ mit allen relevanten, mit der Volksgruppenproblematik befassten Kräften sollte in mehreren Sitzungen wiederum einen DialogProzess in Gang bringen. Das Ergebnis war einigermaßen überraschend und richtungweisend für die folgende Entwicklung: die Neudefinition der Funktion des „Ulrichsberges“, ein Modell für private, zweisprachige Kindergärten, eine breite wissenschaftliche Aufbereitung der nationalen Frage in Kärnten sowie eine „Prinzipienerklärung“ mit dem an sich banalen Kernsatz: „Zweisprachigkeit ist förderungswürdig“. Wie viel Sprengkraft diese Feststellung in Kärnten in sich barg, hatte sich in den vergangenen 50 Jahren gezeigt. Erst im buchstäblichen Aufeinander-Zugehen von Kärntner Heimatdienst, Slowenen-Organisationen, Partisanenverband und Abwehrkämpferbund im Spiegelsaal der Kärntner Landesregierung gelang diese erste, wichtige Feststellung und die Bereitschaft dem Wort auch Taten folgen zu lassen. Eine Selbstanzeige wegen zu schnellen Fahrens im Ortsgebiet von St. Kanzian (angeregt durch eine Nebenbemerkung von Andreas Khol bei einer Veranstaltung in Tainach) kippte 2001 Teile des Volksgruppengesetzes und die Topographie-Verordnung 1977. So stand man in der „Ortstafelfrage“ wieder am Anfang. Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP) suchte zu Jahresbeginn 2002, trotz geringer Hoffnungen, nach einem politischen Konsens in breit angelegten Konferenzen. Sie blieben ohne Erfolg. 50 Jahre nach dem Staatsvertrag beauftragten Schüssel und in der Folge auch LH Jörg Haider im Februar 2005 Stefan Karner, einen für alle Seiten akzepta­ blen Kompromiss auszuloten. Der binnen eines Monats erzielte politische Kompromiss innerhalb der Verbände überraschte: Der Kärntner Heimatdienst, die Plattform Kärnten, der Zentralverband slowenischer Organisationen und die Gemeinschaft Kärntner Slowenen und Sloweninnen hatten sich zu einem Ergebnis gefun-

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den, dem sich auch der „Rat der Kärntner Slowenen“, die Kärntner Landtagsparteien (ohne BZÖ), die Kirchen, zahlreiche Vertretungskörperschaften und Vereine anschlossen. Lediglich der „Kärntner Abwehrkämpferbund“ blieb abseits. Der als „Karner-Paket“ bezeichnete Vorschlag der Konsensgruppe von März/April 2005 sah zweisprachige „Ortstafeln“ in 158 Orten, ein umfassendes Maßnahmenpaket für Südkärnten, sachliche Informationen der Bevölkerung sowie eine Öffnungsklausel für örtliche Lösungen über ein direkt-demokratisches Antragsrecht der Ortsbevölkerung vor. Durch das Nein des BZÖ konnte der Kompromiss nicht umgesetzt werden. Auch ein neuer Anlauf 2006 scheiterte, weil ihm die SPÖ-Parlamentsfraktion nicht zustimmte. Am 9. Oktober 2006 setzte die Konsensgruppe im Landhaushof mit der „Feierlichen Erklärung zum 10. Oktober, dem Tag der gemeinsamen Heimat Kärnten“ einen neuen Akzent. Die Deklaration wurde von allen relevanten Kräften Kärntens mitunterzeichnet, ausgenommen dem BZÖ. Darauf konnte in der Folge aufgebaut werden. Die neue Symbolik sollte bleiben. Zunächst scheiterten 2007 allerdings noch Bemühungen der SPÖ/ ÖVP-Regierung unter Alfred Gusenbauer und Wilhelm Molterer und der Kärntner Politik. Nach dem Tod Haiders 2008 sprach sich auch die neue BZÖ-Führung (LH Gerhard Dörfler) weiterhin gegen zusätzliche zweisprachige Ortstafeln und für die Beibehaltung der 25-Prozent-Bevökerungshürde für ihre Aufstellung aus. In dieser Phase setzte die „Kärntner Konsensgruppe“ eine Fülle vertrauensbildender Maßnahmen: von Diskussionen bis zum gemeinsamen Gedenken um die von Partisanen ermordeten, verschleppten Kärntner in Slowenien und einem „Treffen der Kulturen“. Erst 2010, im 90. Jubiläumsjahr der Volksabstimmung von 1920, kam neuer Schwung in die Lösung der Frage. Auf Basis des geschaffenen konsensualen Klimas führte Staatssekretär Josef Ostermayer im Auftrag von Bundeskanzler Werner Faymann Sondierungs-Gespräche, LH Dörfler stellte symbolhaft drei zweisprachige Ortstafeln auf. Dörfler war um eine pragmatische Lösung im Interesse des Landes bemüht, die Bundesregierung unter Faymann und Spindelegger brauchte einen zählbaren Erfolg und die Menschen in Kärnten verlangten überwiegend nach einer Lösung des ihnen längst leid gewordenen Themas.

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Stefan Karner    |   Der Kärntner Konsensweg

Im Frühjahr 2011 bog man in die Zielgerade ein, auch wenn der Obmann einer Slowenen-Organisation, des katholischen „Rates“, Valentin Inzko, etwas realitätsfern im letzten Moment noch insgesamt 273 zweisprachige „Ortstafeln“ gefordert hatte. Am 1. April 2011 war die Einigung perfekt. Sie war dem Kompromiss von 2005/06 ähnlich: 164 Orte statt 158, 17,5 Prozent-Anteil slowenischer Bevölkerung auf Basis der Volkszählung von 2001 (ausgenommen VfGH-Erkenntnisse) statt der 15 Prozent auf Gemeinde und 10-Prozent-Schranke auf Ortsebene, mehr Förderungen für Südkärnten, ein Petitionsrecht statt der Öffnungsklausel, ein „Dialogforum“, am 6. Juli 2011 beschloss der Nationalrat mit Zustimmung aller Parlamentsfraktionen, das neue Volksgruppengesetz im Verfassungsrang. Die Aufstellung der entsprechenden topographischen Aufschriften folgte sukzessive. Das 2005 von der „Konsensgruppe Kärnten“ ausgearbeitete „Karner-Paket“ brachte den entscheidenden Durchbruch, auch wenn die finale Beschlussfassung durch das österreichische Parlament noch weitere sechs Jahre dauerte. Kärnten konnte mit dem politischen Kompromiss 2011 ein beherrschendes politisches Problem seiner Entwicklung seit 1955 zufriedenstellend lösen. Inzwischen wurden in einzelnen Orten weitere zweisprachige topographische Aufschriften angebracht. Ein Widerstand der örtlichen Be­völkerung ist kaum noch zu bemerken. Kärnten steht zu seiner Zweisprachigkeit und lebt sie in seinen südlichen Gebieten. Fast die Hälfte der Grundschüler sind zum zweisprachigen Unterricht angemeldet, Kärntner Chöre singen auch slowenische Lieder, nahezu bei jeder offiziellen Feier finden sich Bezüge zur slowenischen Volksgruppe. Der Konsens ist natürlich fragil, wie sich jüngst in einer – hoffentlich nur temporären Abwendung v. a. des slowenischen Zentralverbandes (unter dem neuen Obmann Jug) und vom gemeinsam mit dem Kärntner Heimatdienst beschrittenen Weges – zeigte. Denn nur eine Minderheit der Kärntner Bevölkerung würde heute den Konsensweg durch weitere Forderungen, etwa in den Bereichen der Gerichts- und Amtssprache, verlassen wollen. Der erkämpfte Konsensweg ist heute, gut zehn Jahre später, noch keine einzementierte Kärntner Selbstverständlichkeit geworden, sein Erfolg werden weiterhin Kompromisse und das „Auf-den-anderen-Zugehen“ sein.

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Der 2005 gegründeten „Kärntner Konsensgruppe“ gehörten v.a. Josef Feldner (Kärntner Heimatdienst), Bernard Sadovnik (Gemeinschaft der Kärntner Slowenen und Sloweninnen), CR i. R. Heinz Stritzl (†), Marjan Sturm (Zentralverband slowenischer Organisationen) und Stefan Karner als Moderator an. Bald kamen auch Gen. i. R. Arno Manner und Ing. Sepp Prugger (†) hinzu. Die Konsensgruppe bestand in dieser Form und Zusammensetzung bis 2020. Sie erhielt in Kärnten breiteste Unterstützung und wurde u. a. mit dem Preis „Civis europaeus“ der EU-Kommission und mit dem Österreichischen Verfassungspreis ausgezeichnet. Ihre Mitglieder erhielten zudem hohe österreiche Orden.

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Valentin Inzko

Kärntner Jubiläen und Gedenktage  Mittlerweile ist die Zweisprachigkeit in der katholischen Kirche in Kärnten zur Selbstverständlichkeit geworden. Die Kirche spielte somit eine Vorreiterrolle, die von einigen staatlichen und nichtstaatlichen Einrichtungen mit einer gewissen Verzögerung nachgeahmt wurde.

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Obwohl bereits zwei Jahre vergangen sind, empfindet jeder Kärntner ein angenehmes Nachhallen, wenn er an den von der Abteilung Kunst und Kultur groß angelegten Veranstaltungszyklus „CARINTHIja 2020, ein Land sagt Ja“ zurückdenkt, veranstaltet zum 100. Jahrestag der Kärntner Volksabstimmung. Die Veranstaltungen wurden so organisiert, dass die Zweispra­chigkeit gut sichtbar war. Außerdem waren zahlreiche slowenische Kultur­vereine aktive Träger diverser qualitativer Veranstaltungen. Auch im abgelaufenen Jahr gab es ein für Kärnten bedeutendes Jubiläum, nämlich den 50. Jahrestag der Kärntner Diözesansynode. Diese fand 1972 statt und endete mit bahnbrechenden, historischen Resultaten, was das Zusammenleben der Deutschen und Slowenen in Kärnten betrifft. Als Student hatte ich damals das Glück, ab 1967 im katholischen Studentenheim in Graz zu wohnen, das vom Studentenseelsorger DDr. Egon Kapellari geleitet wurde. Es war auch ein Glücksfall, dass die steirische Diözese zu dieser Zeit einen neuen Bischof hatte, Johann Weber, einen charismatischen und bescheidenen Seelsorger, der die Nöte der Zeit kannte, auch die Arbeiterfamilien und ihre häufige Ausweglosigkeit. Seine Predigt, in der er versprach, nicht nur Bischof, sondern ein guter Hirte und Pfarrer zu sein, ist bei vielen noch in lebendiger Erinnerung.  Bereits 1969 hatte Weber in seiner Diözese Pfarrgemeinderäte und 1970 einen steirischen Diözesanrat eingerichtet, in den wir Studenten zwei Delegierte entsenden durften, was bei uns eine wahre Euphorie auslöste. Bei den Vorwahlen ging es nicht nur darum, wer von uns in den neu gegründeten Diözesanrat gewählt werden würde, sondern vor allem darum, welche Ideen und Vorschläge unser Studentenvertreter in den neuen Diözesanrat einbringen wird. Es wurden Sitzungen abgehalten, Vorschlagsentwürfe geschrieben, die Begeisterung war groß. Ungefähr zu dieser Zeit kontaktierte mich Prof.Vinko Zwitter, ein enger Vertrauter meines Vaters, und bat mich, mit meinem Vater über die künftige Kärntner Diözesansynode zu reden, mit deren Vorbereitung man gerade begonnen hatte. Tatsächlich habe ich mich an meinen Vater gewandt, obwohl ich nicht genau wusste, was die Kärntner Synode bringen würde. Der Vater fragte mich dann, was ich von der ganzen Sache halte. Ich habe dann angefangen, ihm von der Aufbruchsstimmung in der Steiermark zu erzählen, von der Begeisterung für den Diözesanrat unter den Studenten und den Christen allgemein. Andere sprachen ebenfalls mit meinem Vater, der

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über viel Erfahrung auf politischem und kirchlichem Gebiet verfügte (er hatte aber auch ab und zu Probleme mit kirchlichen Strukturen, weshalb er die Broschüre „Für den Religionsunterricht in der Muttersprache“ schrieb). Zu diesem Zeitpunkt war er auch nicht mehr Vorsitzender des Rates der christlich orientierten Kärntner Slowenen, dem er fast neun Jahre lang vorgestanden hatte. Wir sahen diese Tatsache auch als göttlichen Wink, denn beide Funktionen wären eher unvereinbar gewesen.  Die Ereignisse und Ergebnisse der Synode der katholischen Kirche in Kärnten sind weitgehend bekannt und wurden von Dr. Josef Till, einem herausragenden Religions- und Schulpädagogen, erforscht und eingehend beschrieben.  Dr. Till schildert ausführlich die Umstände und die Atmosphäre, die während der Synode herrschten, und geht auch auf den Moment ein, als sich Professor Inzko, ein Mitglied der Synode, im Namen der slowenischen Volksgruppe aufrichtig und in christlichem Geist für das Leid entschuldigte, das die Slowenen den Deutschen zugefügt hatten. Er bezog sich dabei insbesondere auf jene deutschsprachigen Landsleute aus Kärnten, die nach dem Krieg 1945 deportiert und außergerichtlich ermordet wurden. Laut Till herrschte nach dieser Bitte um Vergebung Totenstille, da weder die deutsche Seite noch die slowenischen Delegierten der Synode mit so etwas gerechnet hatten. Dekan Leopold Zunder erzählt, wie sich Dr. Waldstein, Prof. Inzko und Pfarrer Kogler immer wieder trafen und „versuchten, Probleme zu lösen“. Ich bin mir jedoch ziemlich sicher, dass viele der Synodalen im Vorfeld von dieser Entschuldigung nichts wussten, wahrscheinlich niemand. Dies war auch einer der Kritikpunkte, die damals geäußert wurden. Ich selbst habe zusammen mit Janez Merkač als Übersetzer an der Synode teilgenommen, und ich kann mich nicht daran erinnern, dass mein Vater mir diesbezüglich etwas Genaueres gesagt hätte. Ich glaube, auch meine Mutter wusste von dieser Entschuldigung „in Demut“ nichts. Der Villacher Rechtsanwalt und Synodale Dr. Helmut Ebner hat die Situation jedoch richtig und als Erster erkannt, hat blitzschnell positiv reagiert und sich für das Unrecht und das Leid, das von deutscher Seite den Slowenen zugefügt wurde, entschuldigt. Das Eis war gebrochen. Wenn ich in späteren Jahren den Vater wiederholt darüber befragt habe, versicherte mir dieser immer wieder, dass seine Entschuldigung

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keine Taktik oder Strategie war, weil sie dann sicher gescheitert wäre, sondern dass dies aus einer zutiefst christlichen Neigung heraus geschehen ist. Seine Entschuldigung war eine Manifestation seines Glaubens, aber auch des Glaubens seiner Vorfahren, denn aus unserem Bauernhaus – großmütterlicherseits, meine Großmutter hieß Maria Einspieler – entstammen sechs „Einspieler“-Priester. Der Vater sprach auch von der Gegenwart des Heiligen Geistes. Laut Dr. Josef Till war diese Entschuldigung „ein entscheidender Durchbruch für den Erfolg der Synode“. Das Synodaldokument wurde mit großer Mehrheit angenommen. Es gab aber auch Überlegungen, das Dokument über das Zusammenleben von Slowenen und Deutschen in der Diözese Gurk wegen der schwierigen Materie und der angespannten Atmosphäre im Land (Stichwort „Ortstafelsturm“) von der Tagesordnung abzusetzen. Ich bin fest davon überzeugt, dass es zu einem solchen oder ähnlichen Dokument innerhalb der katholischen Kirche in Kärnten nie wieder gekommen wäre, hätte man damals diesen Punkt von der Tagesordnung abgesetzt. Wegen der Bedeutung und der Leistungen der Kärntner Synode wurde später, 1973/74, auch bei der Österreich-Synode positiv über Kärnten gesprochen und geschrieben. Erst viele Jahre später erfuhren mein Vater und ich, dass sich auch die polnischen Bischöfe für das von Polen an den Deutschen begangene Unrecht entschuldigt hatten, ungeachtet des Holocausts von Auschwitz und den von den Nazis begangenen Gräueltaten. Am 18. November 1965 sandten sie einen brüderlichen Hirtenbrief an ihre deutschen Bischofskollegen. Der Slogan der polnischen Bischöfe lautete: „Wir vergeben und bitten um Vergebung“. Der damalige Bischof von Krakau, Karol Wojtyla, unterzeichnete den Brief der polnischen Bischöfe ebenfalls. Es gab wütende Reaktionen der damals regierenden Kommunistischen Partei, denn die Deutschen waren immer der Feind Nr. 1 und an allem schuld. So durfte Papst Paul VI. an der 1.000-Jahr-Feier der Christianisierung Polens 1966 nicht teilnehmen und Kardinal Stefan Wyszyński wurde der Reisepass abgenommen, damit er nicht nach Rom reisen konnte. Aber dessen ungeachtet wurde ein bahnbrechender Schritt zwischen Deutschen und Polen getan. Das ist wohl das Wichtigste!  Der bahnbrechende – und ich würde sagen historische – Schritt wurde in Kärnten nur wenige Tage nach dem „Ortstafelsturm“ und nach der großen Demonstration in Klagenfurt am 15. Oktober 1972 gegen 205

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zweisprachige Ortstafeln gesetzt. Der katholischen Kirche gelang es, ein neues Kapitel in den Beziehungen zwischen Deutschen und Slowenen in Kärnten aufzuschlagen. Der Vorschlag für das Synodaldokument „Zusammenleben der beiden Volksgruppen“ wurde mit großer Mehrheit angenommen. Till nennt dieses Synodaldokument die „Magna Charta“ – das Grundgesetz der Zweisprachigkeit in der Kärntner Kirche. Dieses Dokument ist auch untrennbar mit dem Namen von Dkfm. Dr. Ernst Waldstein verbunden, denn auch ihm, vor allem ihm und seinem Geschick ist es zu verdanken, dass die überwältigende Mehrheit der deutschen und slowenischen Mitglieder der Synode das Synodaldokument unterstützt haben. Dies ist wichtig zu wissen, denn der Gedanke der Versöhnung musste gemeinsam in die Gemeinden und in die neu eingerichteten Pfarrgemeinderäte getragen werden. Die Mitarbeit von Dr. Waldstein, der aus der wohl ältesten böhmischen Familie stammt und von den dortigen Slawen, den Tschechen, vertrieben wurde, ist umso bemerkenswerter: dort Vertriebener, in Kärnten Förderer der Volksgruppe. In einer Anzahl von Pfarren standen Dr. Waldstein und Prof. Inzko oft in eisiger Atmosphäre und bei ebenso eisigen Temperaturen vor dem Altar, um die anwesenden Gläubigen für die Zusammenarbeit der beiden Volksgruppen zu gewinnen. Die „Versöhnungszwillinge“ haben mit geduldiger Arbeit, beinahe zwei Jahrzehnte lang, auch mit kleinen Schritten, versucht, voranzukommen, sind aber dabei konfliktgeladenen Themen und schwierigen Fragen nicht ausgewichen. Dr. Waldstein bezeichnete die Synode und die Pfarrgemeinderäte deshalb einmal als Pioniere der Versöhnung in Kärnten.  Begleitet wurden die Aktivitäten des Slowenisch-Deutschen Koor­ dinationsausschusses von der Publikation „Gemeinsames Kärnten“, die viele Jahre lang von Dr. Waldstein und Dr. Inzko zusammen herausgegeben wurde und in der unter anderem die Geschichte Kärntens auf mehr als 11.000 Seiten behandelt wurde. Wie angespannt die Atmosphäre damals war, zeigt auch die Tatsache, dass das erste Historikerseminar in Salzburg und nicht in Kärnten abgehalten werden konnte. Ich glaube, dass das zweite Historikerseminar in Millstatt, aber noch immer nicht in Klagenfurt, stattgefunden hat.  Mittlerweile ist die Zweisprachigkeit in der katholischen Kirche in Kärnten zur Selbstverständlichkeit geworden. Die Kirche spielte somit eine

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Vorreiterrolle, die von einigen staatlichen und nichtstaatlichen Einrichtungen mit einer gewissen Verzögerung nachgeahmt wurde. So war diese ­Kirche auch die erste, die sich für die Ungerechtigkeiten und Verzögerungen entschuldigte, die die Slowenen im kirchlichen Bereich erlitten haben. Ich denke dabei an Bischof Schwarz und seine Entschuldigung. Auf den Weg, den die katholische Kirche in Kärnten vor 50 Jahren eingeschlagen hat, kann sie zu Recht stolz sein. Angesichts der Stellung der Kirche in der Welt wird die Kirche in Kärnten nicht umhinkommen, auf den besten Erfahrungen und Praktiken der Vergangenheit aufzubauen und gleichzeitig die Zukunft der Kirche in Kärnten wieder neu zu gestalten, wie sie dies vor genau 50 Jahren getan hat. Wie bereits erwähnt, ist heute Slowenisch in der Kirche Kärntens eine Selbstverständlichkeit. Der Kirchenbereich ist der größte geographische Bereich, in dem die slowenische Sprache noch öffentlich und sichtbar ist. Bekanntmachungen, Plakate, Liederbücher, Broschüren, das Jahrbuch der Diö­ zese Gurk sowie kirchliche Publikationen im Internet sind zweisprachig. Das Jahrbuch der Diözese und einige ausgewählte Publikationen erreichen auch Heiligenblut und andere entfernte Orte im deutschsprachigen Kärnten. Auch der Bischof, Angehöriger der Volksgruppe, passt in das neue Bild der Kirche Kärntens. Halten wir also diese Pfingstwunder in Ehren und seien wir stolz darauf, von unserem Bischof Josef – Jože – bis hin zum „einfachen Gläubigen“.  Zugleich dürfen wir nicht vergessen, dass die Kirche in der Vergangenheit manchmal die Zeichen der Zeit nicht erkannt hat. Erkennt sie diese heute noch an, wie zur Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils vor sechzig Jahren und der Synode von Kärnten vor fünfzig Jahren? Der Heilige Vater hat einmal gesagt, dass die Kirche nicht an einem Ort bleiben kann, wenn sie lebendig sein will. Sie muss von wendigen Hirten geleitet werden, die ihren Schafen folgen können. Er sucht nach Inspiration, nach Ideen von unten, auch von uns. So wird die Kirche lebendig bleiben, in Kärnten und weltweit.  Die Volksgruppe erinnerte sich 2022, auch im Rahmen der Kirche, aber nicht nur dort, des 80. Jahrestages der Vertreibung und Aussiedlung von annähernd 1.000 Kärntner Slowenen, darunter mehrerer Priester, die in Konzentrationslagern umgekommen sind. Es gab zahlreiche Gedenkver-

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anstaltungen, wie z. B. im Klagenfurter Musilhaus, im Burghof Klagenfurt (im Museum Moderner Kunst Kärnten), im Konzerthaus in Klagenfurt, wo die pietätvoll zentrale Gedenkveranstaltung stattfand, an der Pädagogischen Hochschule in Klagenfurt und am Gelände der ÖBB, von wo aus die Deportierten ihre Reise in die Arbeitslager Frauenaurach, Bergen-Belsen oder Hagenbüchach angetreten haben. Gedenkveranstaltungen gab es aber auch bei örtlichen Kulturvereinen, teils mit überlebenden Zeitzeugen, wie in St. Johann im Rosental. Eine Anzahl von Deportierten wurde vom Land Kärnten geehrt.  Ein rundes Dutzend an Jahren wird auch der ­Ortstafelkompromiss1 vollenden, der im April 2011 unterzeichnet wurde. Die Volksgruppe hat diesem zwar zugestimmt, obwohl als Grundlage für den Kompromiss nicht 10 % des Verfassungsgerichtshofs herangezogen wurden, sondern 17,5 %. Dadurch verlor die Volksgruppe ca. 200 Ortsschilder. Ein weiterer Schönheitsfehler war die nachträgliche Aussage von Staatssekretär Ostermayer, dass er bereits am 12. Dezember 2010, also zwei Monate vor Beginn der Ortstafelverhandlungen, Landeshauptmann Dörfler die fertige Liste der 163 zweisprachigen Orte überreicht hat. Jedenfalls haben im Gegenzug die Verhandlungspartner der Minderheit für die Zustimmung zum schmerzlichen Ortstafelkompromiss schriftlich ein „Volksgruppengesetz neu zügig“ versprochen. Das war 2011. Die Minderheit wartet auf dieses „Volksgruppengesetz neu“ jedoch noch immer. Vielleicht bringt das Jahr 2023 diesbezüglich gute Nachrichten. Die damals tätige „Konsensgruppe“ befand sich zur Zeit der Drucklegung dieser Publikation in Auflösung.

1 Vergleiche dazu den Beitrag Der Kärntner Konsensweg – (k)eine Selbstverständlichkeit von Stefan Karner in diesem Band.

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Mit Sicherheit bestens beraten.

#einesorgeweniger Ihre Sorgen möchten wir haben.

Alfred Riedl

75 Jahre Österreichischer ­Gemeindebund „Die Zukunft des Landes liegt in den Gemeinden“ Der Österreichische Gemeindebund feierte im Jahr 2022 seinen 75. Geburtstag. Anlass genug, um einerseits auf eine bewegte Geschichte zurückzublicken und andererseits den Fokus auf die kommunale Zukunft zu richten. Denn, eine Geschichte des Gemeindebundes ist immer auch eine Geschichte unseres Zusammenlebens. Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte zeigen dabei klar und deutlich: Die Bedeutung der Gemeinde, der Gemeinschaft der Bürgerinnen und Bürger wird immer wichtiger. In Zeiten, in denen sich die Welt immer schneller dreht, immer wieder neue Krisen und Herausforderungen wie Pandemie, Kriege, Migration, Klimawandel und Teuerung unsere Gesellschaft belasten, ist die Gemeinde ein Garant der Stabilität, des Zusammenhalts und des Miteinanders. Dort finden die Landsleute Halt, Geborgenheit und vor allem Heimat.

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Der amerikanische Journalist Thomas L. Friedman bringt das Dilemma der Beschleunigung unseres Lebens klar auf den Punkt. Die technischen Grundlagen der Gesellschaft (Stichwort Smartphones, Apps, Künstliche Intelligenz, Internet der Dinge usw.) erneuern sich alle fünf bis sieben Jahre. Der Mensch braucht aber viel länger, nämlich zehn bis 15 Jahre, um sich an die Veränderungen zu gewöhnen und sich anzupassen. In dieser Phase spüren die Menschen eine gewisse Art eines Kontrollverlusts, weil sie mit dem Wandel nicht so schnell mitkommen.1 Im Jänner 2007, also vor 15 Jahren, hat Apple-Chef Steve Jobs das erste IPhone vorgestellt und damit eine Revolution in der Kommunikation ausgelöst. Heute hat fast jeder über sein Smartphone rund um die Uhr Zugang zum geballten Wissen der Menschheit. Gleichzeitig laufen über unsere Bildschirme alle Ereignisse der Welt, ob Kriege, Hungersnöte oder Klimakatastrophen in Echtzeit. In den letzten 15 Jahren haben zahlreiche Krisen unser Zusammenleben erschüttert. Ob Finanzkrise, Migrationskrise, COVID-Pandemie, Krieg in der Ukraine und eine Inflationsrate, die unser Land seit 75 Jahren nicht mehr gesehen hat. Damit einhergehend sehen wir auch eine Vertrauenskrise in demokratische Institutionen und Strukturen. Der Österreichische Demokratie Monitor von SORA lässt dabei die Alarmglocken läuten. Die Zufriedenheit mit dem politischen System ist im Sinkflug: Derzeit denken nur mehr 34 Prozent der Menschen, dass das politische System in Österreich gut funktioniert. Das ist der tiefste Wert seit Erhebungsbeginn 2018 – vor fünf Jahren lag die Zufriedenheit um 30 Prozentpunkte höher (64 Prozent).“2 Als kleinen Lichtblick könnte man an dieser Stelle die Vertrauenswerte gegenüber den Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern anführen, die bei den regelmäßigen Erhebungen von Demox Research im Auftrag des Österreichischen Gemeindebundes stabil hoch sind und zeigen, dass die Gemeindevertreter wichtige Anker des politischen Vertrauens sind. Bei der letzten Erhebung im Juni 2022 vertrauten 56 Prozent der Bevölkerung ihren Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern.3 Um es mit den Worten von

1 Vgl. Thomas L. Friedman, Thank You for Being late, S. 44f. 2 Presseaussendung des SORA-Demokratie-Monitors vom 28. November 2022 auf www.demokratiemonitor.at (abgerufen am 13. Jänner 2023). 3 Bericht zur Pressekonferenz des Österreichischen Gemeindebundes am 24. Juni 2022 des

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Thomas L. Friedman zusammenzufassen: „Seit 2007 haben die Menschen in den Industrienationen das Gefühl, immer schneller in Richtung Zukunft katapultiert zu werden: Die Arbeitswelt bebt unter ihren Füßen, gesellschaftliche Gepflogenheiten fliegen ihnen um die Ohren, und die Globalisierung schleudert ihnen neue Menschen und Ideen ins Gesicht.“4 Bei den vielen großen politischen Fragen muss die Demokratie ihre Stärke und Möglichkeiten ausspielen. Der kanadische Historiker und Politiker Michael Ignatieff bringt es folgendermaßen auf den Punkt: „Gespaltene Gesellschaften – und die meisten demokratischen Gesellschaften sind gespalten und umstritten – können die Spaltung eindämmen, wenn diese von starken, gut organisierten, breit angelegten politischen Gruppen im gesamten Spektrum sowohl vertreten als auch eingedämmt wird. Es ist nicht die Spaltung selbst – sei es nach Klasse, Rasse, Region oder Religion –, die die Demokratie tötet, sondern das Versagen der politischen Gruppierungen, die Spaltung zu repräsentieren und einzudämmen.“5 Mit dem Blick auf populistische Strömungen in Europa und dem Wissen über die Entwicklungen, die zur Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland geführt haben, warnt Ignatieff: „Die Totengräber der Demokratie sprechen oft die Sprache der Demokratie.“6 Nun aber wieder zurück zu den Gemeinden und zum Österreichischen Gemeindebund. Am 16. November 1947 wurde in einer Zeit großer Not nach dem Zweiten Weltkrieg der „Österreichische Landgemeindebund“ gegründet. Nach dem Krieg war das ganze Land geteilt und zerrissen. Die Not an allen Ecken und Enden war groß und die Besatzung eine große Belastung. Hunderttausende Menschen hatten keine Unterkunft und lebten in Lagern und provisorischen Quartieren. Mehr als 2.000 österreichische Gemeinden von damals 4.362 waren als sogenannte „Kriegsschäden-Gemeinden“ schwer vom Krieg gezeichnet. Viele Familien hatten Väter, Mütter, Brüder und Schwestern verloren oder warteten sehnsüchtig

Magazins KOMMUNAL auf www.kommunal.at/grosses-vertrauen-buergermeister (abgerufen am 13. Jänner 2023). 4 Ebd. S. 327. 5 Michael Ignatieff, Die Lehren aus Weimar. In: Thomas Weber (Hg.), Als die Demokratie starb. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten – Geschichte und Gegenwart, Seite 191f. 6 Ebd. S. 193.

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auf die Heimkehr der Kriegsgefangenen. Der Weg zurück zur Normalität war ein mühsamer und beschwerlicher. Mitten drinnen und immer an der Seite der Menschen standen die Gemeindevertreter. Der Wiederaufbau der staatlichen Strukturen nach 1945 hat viel Zeit und persönliches Engagement vieler mutiger Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker in allen Ecken unseres Landes gefordert. Die immensen Kosten für den Wiederaufbau von kommunalen Infrastrukturen, verbunden mit vielen sozialen Herausforderungen stellten die einzelnen Gemeinden vor scheinbar unlösbare Aufgaben. In der überregionalen Zusammenarbeit suchten die Landgemeinden ihre Kraft und konnten schließlich ab Gründung des Gemeindebundes mit einer starken Stimme für die Rechte der Kommunen kämpfen. Die Geschichte dieser Organisation ist so bewegt und abwechslungsreich wie jene unserer Republik. Blickt man zurück, so zeigt sich, dass die Gemeinde immer Bestand hatte und auch haben wird. Ob Monarchie, erste Republik, Nazidiktatur oder zweite Republik: Die Herrschaftssysteme kamen und gingen, doch die Gemeinde als politische Einheit blieb bestehen. Gemeinden als Rückgrat und Basis der Demokratie Die Gemeinden sind das Rückgrat, die Basis der Demokratie. So lautet auch der erste Satz im Artikel I des provisorischen Gemeindegesetzes aus dem Jahr 1849: „Die Grundfeste des freien Staates ist die freie Gemeinde.“ Bis zum Gemeindegesetz hatten Städte und Landgemeinden eine getrennte Entwicklung. Die ländlichen Dörfer unterstanden bis zur Zeit Josephs II. der grundherrlichen Verwaltung, und für innere Angelegenheiten war ein Dorfrichter zuständig. Im Jahr 1851 fiel die kommunale Selbstverwaltung wieder dem Neoabsolutismus zum Opfer und die Gemeinden wurden unter staatliche Kontrolle gestellt. Erst 1862, mit dem „Reichsgemeindegesetz“, wurde die Selbstverwaltung wieder eingeführt. Weitere wichtige Meilensteine des kommunalen Weges sind die historischen Erfolge in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. So hat die Gemeindeverfassungsnovelle 1962 das Prinzip der kommunalen Selbstverwaltung klar und deutlich verankert und damit den Grundstein für die heutige Stärke der Kommunen gelegt. Im Jahr 1988 wurde der Gemeindebund schließlich gemeinsam mit

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dem Städtebund als Interessensvertreter der Gemeinden und Städte in der Bundesverfassung verankert. Dieser Schritt war wichtig, um fortan mit dem Bund auf Augenhöhe verhandeln zu können. 1996 bekamen die Gemeinden ein wichtiges Instrument, das sie bis heute vor zusätzlichen Belastungen schützen soll: den Konsultationsmechanismus. Um diese Möglichkeit wird der Gemeindebund von seinen europäischen Schwesterverbänden immer wieder beneidet, da dies die Mitsprache der Kommunen bei Gesetzen garantiert. Die Gemeinden mussten in den letzten Jahren viele Krisen meistern. Nach der Finanzkrise und den großen Flüchtlingsströmen war die Coronapandemie wohl eine der herausforderndsten und prägendsten Zeiten. Wer hätte im Frühjahr 2020 je daran gedacht, dass uns ein Virus in wochenlange Lockdowns zwingt und das global vernetzte Wirtschaftssystem ins Wanken bringt? Von Beginn an waren die Gemeinden gefordert, die Vorgaben des Bundes direkt an die Bürger zu kommunizieren, Nachbarschaftshilfen zu mobilisieren und eine lokale Testinfrastruktur zu organisieren. Wer hätte außerdem jemals gedacht, dass es in unserer unmittelbaren Nachbarschaft wieder Krieg geben würde? Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende. Nach jahrzehntelangem Frieden in Europa begann mit dem russischen Überfall auf die Ukraine ein schrecklicher Krieg direkt in unserer Nachbarschaft. Die österreichischen Gemeinden haben von Beginn an gemeinsam mit der Zivilgesellschaft geholfen, wo es möglich war: mit Hilfslieferungen, Spenden und der Unterbringung von Zehntausenden Vertriebenen in unseren Kommunen. Dieser Krieg zeigt uns klar und deutlich, wie wichtig ein friedliches und starkes Europa für die Zukunft ist. Unser Lebensmodell am Prüfstein Unser Lebensmodell, die Demokratie, steht auf dem Prüfstein. Autokratische Systeme und Staaten, die Mitsprache nur Oligarchen und ausgewählten Parteifunktionären ermöglichen, sind global gesehen im Vormarsch, und bei Wahlen gewinnen immer öfter diejenigen, die einfache Antworten auf komplexe Fragen geben. Michael Ignatieff bringt das Dilemma auf den Punkt: „In Zeiten von Druck und Krisen sind unsere Gesellschaften möglicherweise weniger offen für Fakten, weniger tolerant, weniger glücklich mit

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dem Markt oder neigen stärker dazu, Streitigkeiten mit den Fäusten und Waffen beizulegen, als es jedem von uns lieb ist. Demokratie ist ein instabiles Gleichgewicht, das leicht außer Kontrolle geraten kann.“7 Die Menschen verlangen immer mehr nach Solidarität, sind aber auf der anderen Seite immer weniger bereit, sich für andere zu engagieren. Die Bürger verlieren auch immer mehr die Geduld mit der Politik: Sie rufen zwar nach tiefgreifenden Reformen, geben aber denen, die sie regieren, keine Zeit für die Umsetzung. Aber gerade in den kleineren Gemeinden, im ländlichen Raum finden die Menschen noch die Gemeinschaft, die sie in den Städten immer stärker vermissen. Dort, wo Brauchtumsvereine, Feuerwehren und Sportvereine zu regelmäßigen Festen laden und Heurigen als auch Wirtshäuser die Menschen zusammenbringen, findet man heute noch die Heimat, die so viele suchen. Aber auch diese Heimatorte sind gefordert, auf die neuen Entwicklungen zu reagieren, die zum Beispiel die Digitalisierung mit sich bringt. Auch Thomas Hofer stellte fest, dass sich ein Teil der Bevölkerung enttäuscht von der Politik abwendet, wobei es sich für ihn nicht nur um ein „Verhaltensmuster sozialer Randschichten oder sogenannter Modernisierungsverlierer“8 handelt. Vielmehr sprang auch die Mittelschicht auf die Empörungswelle auf: „Sie ist betroffen, fühlt sich im Stich gelassen und wird von Abstiegsängsten gebeutelt. Und für all das wird die Politik verantwortlich gemacht.“9 Nun wäre es aber falsch, allein den Politikerinnen und Politikern die Verantwortung für diese Entwicklung in die Schuhe zu schieben. Gerade die Beschleunigung der Politik und die unzähligen Interessen verschiedener Interessengruppen verlangen von Politikerinnen und Politikern maßgeschneiderte Antworten auf unzählige Fragen, die wiederum von Bürgerinnen und Bürgern kritisch durchleuchtet werden. Dies erzeuge, so Hofer, eine Spirale der Angst: „Angst vor der Abwahl; Angst vor der Überforderung; […] Angst vor dem Shitstorm; Angst vor der falschen Entscheidung.“10

7 Michael Ignatieff, Die Lehren aus Weimar. In: Thomas Weber (Hg.), Als die Demokratie starb. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten – Geschichte und Gegenwart, Seite 192. 8 Thomas Hofer, Von Wutbürgern und Angstpolitikern. In: Thomas Hofer (Hg.), Dagegen sein ist nicht genug, S. 11. 9 Ebd. S. 11. 10 Ebd. S. 16.

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Karl Lengheimer warnte schon vor zehn Jahren – deutlich zugespitzt – vor überbordenden staatlichen Leistungen. Man müsse viel genauer hinschauen, was der Staat für die Bürger macht, und inwiefern die vielen Leistungen notwendig sind. Wesentliche Aufgabe des Staates in früheren Zeiten war es, für Ordnung und Sicherheit zu sorgen – der sogenannte „Nachtwächterstaat“. Das System entwickelte sich zum Leistungs- und Versorgungsstaat weiter, der sich um die vielen Probleme der Menschen kümmert. Wesentliche Herausforderung ist aber, dass sich die Bürger an die staatlichen Versorgungsleistungen gewöhnen und diese auch immer einfordern. Dem nicht genug dreht der Staat – oder eher Länder und Gemeinden – immer mehr an den Bedürfnisschrauben der Menschen und kümmert sich als sogenannter Animationsstaat auch um das Wohlbefinden der Bürger in der Freizeit. Getoppt wird die staatliche Fürsorge nur noch vom Sachwalterstaat, der die Menschen mit sanftem Druck zu einem bestimmten Verhalten bewegen will.11 Dieser Befund soll allen Verantwortlichen in Bund, Ländern und Gemeinden zu denken geben. Das Image der ländlichen Regionen wandelt sich Viele der bereits angesprochenen Veränderungen werden sich nicht aufhalten lassen. In den letzten Jahren hat es jedenfalls gegenüber dem „Land“, den ländlichen Regionen einen Einstellungswandel gegeben. War man vor zwanzig, dreißig Jahren noch ein „Provinzler“, wenn man eine Stunde von der nächsten mittleren und größeren Stadt entfernt gewohnt hat, so ist das Landleben heute zum Sehnsuchtsort vieler Städter geworden. Das Zweithaus am Land zählt heute quasi zur Grundausstattung der bürgerlichen Mittelschicht in den größeren Städten unseres Landes. Gleichzeitig kommen die Vorzüge des Landlebens immer öfter direkt in die Stadt: von begrünten Hausfassaden und Dächern bis hin zu „Urban Gardening“. Gleichzeitig verlieren immer mehr Menschen in der Stadt den Kontakt zu den Mitmenschen, zur Nachbarschaft. Viele vereinsamen und schotten sich von anderen

11 Vgl. Karl Lengheimer, Politgebiete. Einblicke in die politische Wirklichkeit, Seite 227.

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ab. Es wundert daher nicht, dass für viele Menschen das Leben am Land der soziale Zusammenhalt, der Sehnsuchtsort ist. 90 Prozent der Weltbevölkerung konzentrieren sich auf Metropolregionen und „Megastädte“ mit zig Millionen Einwohnern. Mit dem Blick auf diese Metropolen wirken die österreichischen Herausforderungen, unsere Diskussionen zwischen den Ballungsräumen und den Regionen, vergleichsweise unbedeutend. Die Entstehung der Metropolen und Städte ist eng verknüpft mit Handel, Handwerk und Industrialisierung. Die Arbeit hat lange das Leben der Menschen von Grund auf bestimmt. In der Vergangenheit hat man dort gelebt, wo es Arbeit gab und wo man geboren wurde. Im Mittelalter etwa wanderte nur etwa ein Prozent der Bevölkerung vom angestammten Territorium aus und blieb das ganze Leben lang dort, wo es die Arbeit verlangte. Die Konzentration von Wirtschaft, Industrie, Absatzmarkt und Dienstleistungsangeboten hat aus Dörfern und Siedlungen im Lauf der Jahrhunderte Städte und Großstädte geformt. Aber vieles, was diese urbane Konzentration bisher gerechtfertigt hat, ist heute auf jedem Smartphone vereint. Die alte Ökonomie die Produktion vor Ort in Verbindung mit einem nahen Absatzmarkt ist heute schon längst überholt. Die digitale Ökonomie bricht alte Strukturen auf. Handelszentren und der stationäre Handel werden immer mehr durch den Online-Handel abgelöst und Industriebetriebe können durch künstliche Intelligenz Autoteile aus der ganzen Welt zum richtigen Zeitpunkt zur Fertigungsstraße liefern und mit Robotern das neueste Auto vom Band schicken. Man kann diese Entwicklung jetzt gut oder schlecht finden. Klar ist aber: Sie hat bereits begonnen und wird sich immer schneller weiterentwickeln, ob wir wollen oder nicht. Die COVIDPandemie hat diese Entwicklungen noch einmal beschleunigt. Im Zuge der Lockdowns und der Ausgangsbeschränkungen hat sich Homeoffice schließlich in vielen Branchen durchgesetzt. Heute ist es nicht mehr wegzudenken und bietet damit wiederum wichtige Chancen für die Gemeinden im ländlichen Raum. Wenn Arbeiten von zu Hause aus täglich oder an mehreren Tagen in der Woche möglich ist, nehmen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch längere Arbeitswege in Kauf. Wesentliche Grundbedingung ist dabei eine zukunftsweisende digitale Infrastruktur. Im Zuge der Coronapandemie ist auch in unserem Land der Glasfaserturbo gezündet worden.

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Gemeinden stärken Im Blick nach vorne ist aus meiner Sicht klar, dass wir gemeinsam an vielen Schrauben drehen müssen. Um mit den vielen Veränderungen auf der Welt durch Globalisierung, Krisen, Beschleunigung etc. zurechtzukommen, braucht es vor allem ein zukunftsweisendes Bildungssystem, das viel agiler auf die vielen Herausforderungen eingehen kann. Thomas L. Friedman will neben dem lebenslangen Lernen den Kindern vor allem folgende Fähigkeiten mitgeben: „Neben einer soliden Grundlage in den Hauptfächern müssen Kinder und Jugendliche den Umgang mit Computern lernen; dazu Kreativität, kritisches Denken, Kommunikation und Kooperation; Standhaftigkeit, Selbstmotivation und lebenslange Lerngewohnheiten; sowie Unternehmertum und Fähigkeit zur Improvisation auf allen Ebenen.“12 Für die Zukunft wird es auch wichtig sein, die Gemeinden in ihren Rechten zu stärken. An dieser Stelle will ich nochmals Thomas L. Friedman zitieren, der eine deutliche Lanze für die Dezentralisierung bricht: „Im Zeitalter der Beschleunigung stehen wir jedoch vor ganz anderen Problemen und Chancen als im Industriezeitalter, weshalb ein neues Gleichgewicht zwischen dem Zentralstaat und den regionalen Ebenen nötig ist. Heute gilt es, die Zentralisierung der Macht, wie wir sie im vorigen Jahrhundert gesehen haben, wieder zurückzunehmen und sie stärker zu dezentralisieren. Die Zentralregierung mit ihrer aufgeblähten Bürokratie ist zu träge, um mit dem Wandel Schritt zu halten. Gleichzeitig sind die Bundesstaaten und Gemeinden flexibler und kompetenter geworden – sie leben am Rand des Eisbergs und spüren als Erste jede Veränderung der Temperatur und Windrichtung; sie müssen schneller reagieren und heute können sie das auch.“13 Dabei setzt Friedman vor allem auf die „Dynamik der Städte und Gemeinden“14, die auf kommunaler und regionaler Ebene kreative Lösungen im Sinne ihrer Bürgerinnen und Bürger finden. Für ihn sind Städte und Gemeinden „der Grundbaustein des 21. Jahrhunderts“.15

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Friedmann, S. 227. Ebd., S. 359. Ebd. S. 394. Ebd. S. 394.

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Zum Abschluss meiner Ausführungen will ich noch einmal den Blick auf die Bedeutung der Kommunen für unser Land lenken. Wie wir gesehen haben, war die politische Einheit „Gemeinde“ durch alle Krisen hindurch stabil. Nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs waren es vor allem die Gemeinden, die begonnen haben, das neue Zusammenleben wieder zu organisieren, die Zerstörungen zu beseitigen und die Menschen wieder zusammenzuführen. Der Österreichische Gemeindebund hat in den letzten 75 Jahren wichtige Arbeit geleistet und für die Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung gekämpft. Nun zeigt der Blick nach vorne: Die Gemeinden müssen als Rückgrat der Demokratie noch viel stärker in den Fokus der politikwissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Forschung rücken. Man muss die integrative Funktion der 2.093 Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, der rund 40.000 Gemeinderätinnen und Gemeinderäte und Hunderttausender politischer Funktionärinnen und Funktionäre ernst nehmen. Wie in meinen Ausführungen angemerkt, suchen die Menschen Halt, Orientierung und Heimat. Die Heimat finden sie nicht im Parlamentsgebäude in Wien, sondern in den Gemeindestuben, im Dorfwirtshaus und in den Vereinen. Die politische Meinungsbildung, das gemeinsame Gestalten des gemeinsamen Lebensraumes führen auch dazu, dass sich die Menschen mit ihrer Region identifizieren und sich engagieren. Außerdem führt der persönliche Austausch vor Ort auch dazu, dass sich extreme politische Positionen schon im kleinräumigen Bereich abarbeiten. Wer nicht fähig ist zur Zusammenarbeit, wird auf Gemeindeebene nicht ernst genommen. Daraus ergibt sich für mich eine klare Botschaft: Wer die Demokratie retten will, muss die Kommunalpolitik stärken!

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Thomas Walter Köhler/Christian Mertens

Abschied vom Palais Todesco Zur Erinnerung an einen politischen ­Intellektuellen

Mit Erhard Busek starb im März 2022 ein politischer Intellektueller, der Wien weltoffener, Österreich internationaler, (Mittel-)Europa bewusster und die g­lobalen Probleme verständlicher machte. Unter seiner Obmannschaft vollzog sich der Abschied vom Parteisitz im Palais Todesco, der auch symbolisch für den Wandel der ÖVP gesehen werden kann.

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Lange Zeit war das Palais Todesco vis-à-vis der Staatsoper der Sitz der Öster­ reichischen Volkspartei. Von hier aus amtierten die Vorsitzenden der Bewegung von Leopold Figl über Josef Klaus bis Josef Riegler und Generalsekretäre wie Felix Hurdes, Hermann Withalm oder Michael Graff rund fünf Jahrzehnte. Als es unter dem Vorsitz von Erhard Busek, einem weiteren ehemaligen Generalsekretär, verkauft wurde, ging symbolisch eine Ära zu Ende. Die neue Zentrale in der Lichtenfelsgasse war zwar ebenso stattlich, aber eben nur ein Haus. Erhard Busek vollzog damit den Übergang von der Groß- zur Mittelpartei, die unter Alois Mock begonnen hatte. Gegen seinen Willen war dieser von den Bünden der Partei in eine Große Koalition mit der SPÖ gezwungen worden, während er eigentlich jene Variante bevorzugt hatte, die fünfzehn Jahre später Wolfgang Schüssel, Buseks Nachfolger im Bund, schließlich realisierte: eine Koalition mit der FPÖ. Busek hingegen hatte bereits als Vorsitzender der Wiener ÖVP mit „grünen“ Ideen „geflirtet“ und gilt damit als Wegbereiter der heutigen Koalition. All das ist mit ihm als Person und dem von ihm initiierten Wechsel von „Palais“ zu „Haus“ – der ebenso einer des Anspruchs der ÖVP als „Volkspartei“ war und ist – zu assoziieren. Ein plötzlicher Tod Als Erhard Busek am 13. März 2022 völlig unerwartet in Wien starb, wurde er als „Politiker mit Haltung, Visionär und Vordenker“ (Wolfgang Sobotka), „große[r] Europäer“ (Werner Kogler), „streitbarer Intellektueller“ (Pamela Rendi-Wagner) oder „Europäer, Christ, Demokrat, Österreicher“ (Wolfgang Schüssel) gewürdigt.1 Das Bild des Intellektuellen, der „zu gescheit für dieses Land“2 gewesen sei, wurde ebenso bemüht wie jenes des letzten österreichischen Politikers, „der noch eine Vision gehabt hat“.3

1 Sämtliche Zuschreibungen in: Erhard Busek ist tot. In: ORF, 14.03.2022 [https://orf.at/sto ries/3253246/; abgerufen am 02.08.2022]. 2 Alexandra FÖDERL-SCHMID, Zu gescheit für dieses Land. In: Süddeutsche Zeitung online, 19.03.2022 [https://www.sueddeutsche.de/politik/oesterreich-erhard-busek-nachruf-oevpukraine-1.5550226; abgerufen am 02.08.2022]. 3 Karel Schwarzenberg in: Erhard Busek ist tot (ORF).

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Prägungen Der familiäre Background Buseks („Meine Eltern haben relativ früh mit meiner politischen Erziehung begonnen“4) lässt sich am ehesten mit den Worten „christlich“ und „österreichisch“ umreißen. Die Eltern wurden im März 1938 kurzfristig verhaftet, weil sie den ‚deutschen Gruß‘ verweigert hatten. Seit seiner Kindheit engagierte er sich in der katholischen Kirche als Ministrant und gehörte der Katholischen Jungschar an, von der es nur ein kleiner Schritt weiter zur Katholischen Mittelschuljugend (KMJ) – Teil der Katholischen Jugend (KJ) – war. Busek betonte immer wieder, wie sehr ihn „die Erfahrung des Glaubens in Gemeinschaft des Fühlens mit der Kirche und den Men­schen“5 geprägt und Halt vermittelt hat. Seine Liebe zu Österreich wie auch das Feuer für die europäische Idee wurde in jenen Jahren grundgelegt. Das Zweite Vatikanische Konzil gab ihm wiederum „ein Verständnis vom ‚Weltauftrag des Christen‘“.6 Das in der KJ verankerte Gemeinschaftsdenken beeinflusste wohl auch jene Ansätze, die während Buseks kommunalpolitischer Zeit stark zum Tragen kamen, etwa die Förderung von Selbsthilfegruppen oder von Bürgerinitiativen bis hin zur Propagierung von Formen der direkten Demokratie. Folge des Engagements in katholischen Organisationen war jenes im Österreichischen Bundesjugendring (ÖBJR), in dem er ab 1957 mitarbeitete – eine Art „Schule“ für spätere Aufgaben. Heimat Wien: Der „bunte Vogel“ belebt die Stadt Auch wenn Busek mehr oder weniger gegen seinen Willen 1976 von Bundesparteiobmann Josef Taus zur Übernahme der Obmannschaft der Wiener ÖVP gedrängt werden musste, ging er in der Rolle des Oppositionsführers auf, und es gelang ihm, aus dieser Rolle heraus maßgebliche Impulse für

4 Erhard BUSEK, Ein Porträt aus der Nähe – Im Gespräch mit Jelka Kušar (Klagenfurt et al. 2006), S. 12. 5 Busek in: Fritz CSOKLICH (Hg.), Katholische Jugend – Sauerteig für Österreich (Graz 1997), S. 32. 6 Erhard BUSEK/Muamer BEĆIROVIĆ, Heimat (Wien 2020), S. 30.

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mehr Urbanität seiner Heimatstadt zu setzen. Die Neupositionierung der Wiener ÖVP erfolgte auf mehreren Ebenen: inhaltlich durch neue thematische Akzente, vor allem in scharfer Opposition zur SPÖ, organisatorisch durch alternative Mittel in der politischen Kommunikation und neue Veranstaltungsformate sowie personell durch Rekrutierung von Persönlichkeiten, die bislang parteipolitisch nicht tätig gewesen waren. Die neuen inhaltlichen Akzente der ÖVP-Stadtpolitik (die im Übri­ gen alle christdemokratischer Programmatik entsprachen7) wurden ­ unter dem Begriff ‚grüne Politik‘ zusammengefasst. Unter dem Eindruck des 1972 durch Dennis Meadows für den Club of Rome zusammengestellten Berichts „Die Grenzen des Wachstums“ über Erdölkrisen und einen allgemeinen Konjunkturrückgang rückte das Bewusstsein um die Begrenztheit der Ressourcen in das Zentrum der politischen Diskussion. Der Begriff „grün“ wurde zur Metapher für eine Haltung, die von Verantwortung für Mensch und Natur geprägt ist und sich nicht vorrangig am Profit orientiert. Im ‚Grünen Manifest‘ (1980) propagierte Erhard Busek „ein geschwisterliches Verhältnis zur Natur“, das durch einen einfacheren Lebensstil, von „echter Partnerschaft“ bestimmte menschliche Beziehungen, Selbst- und Mitbestimmung, „sanfte“ Technologien sowie ein neues Arbeitsethos, das auf Leistung und Sinnhaftigkeit beruhe, geprägt sei.8 Daneben trat „Pro Wien“ als Träger einer Vielzahl von Enqueten und Diskussionsveranstaltungen auf. Auch zahlreiche Broschüren und Texte erschienen unter dem Dach der Initiative, etwa Buseks Bücher „Wien – ein bürgerliches Credo“ und „Mut zum aufrechten Gang“.9 Schon als Stadt­ politiker versuchte Busek – rekurrierend auf das fruchtbare Kultur- und Wissenschaftsbiotop der Wiener Moderne um 1900 –, Wien wieder als „Welthauptstadt des Geistes“ zu reaktivieren. Im „Club Pro Wien“ trafen sich international reputierte Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft, Kunst, Politik, Religion und Wirtschaft zum Gedankenaustausch auf hohem Niveau.

7 Kritiker warfen Busek später „Linksabweichlertum“ vor, was nicht den programmatischen Tatsachen entspricht. 8 Abgedruckt in: Grün pro Wien 1976–1984 (Wien 1985), S. 31–34. 9 Vgl. Erhard BUSEK, Wien – Ein bürgerliches Credo (Wien et al. 1978) sowie ds., Mut zum aufrechten Gang – Beiträge zu einer anderen Art von Politik (Wien/München 1983). Ein näheres Eingehen auf diese Werke ist im Rahmen dieses Beitrags leider nicht möglich.

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Zu den Gästen an den rund 200 Abenden gehörten Persönlichkeiten wie Carl Amery, Ernst Wolfgang Böckenförde, Barbara Frischmuth, John Naisbitt, Neil Postman, Karl Rahner, Paul Watzlawick oder Richard von Weizsäcker, aber auch Dissidenten aus Mittel- und Osteuropa wie Manès Sperber.10 Heimat Österreich: „In der Liebe zu Österreich soll uns niemand übertreffen!“11 Schon in seiner Zeit im Bundesjugendring setzte sich Busek für ein k­ lares Bekenntnis zur „Nation Österreich“ ein und wies zeit seines Lebens – gerade aus Leidenschaft für dieses Land – auf Schwachstellen im politischen System und Wege zu deren Beseitigung hin. In einem Grundsatztext spannte er bereits 1968 einen weiten thematischen Bogen zur Reform­ agenda Österreichs.12 Der damalige Klubsekretär im ÖVP-Parlamentsklub ging mit dem Zustand der österreichischen Parteien und des österreichischen Parlamentarismus hart ins Gericht und brachte die Stärkung der Persönlichkeitswahl, ein Mehrheitswahlrecht, einen Ausbau der Kontrollfunktion der Legislative sowie eine Kompetenzbereinigung zwischen den staatlichen Organen in die Diskussion ein. Sehr deutlich verurteilt der spätere Befürworter einer „Großen Koalition ohne Wenn und Aber“ diese Regierungsform als „Faulbett“, die es nur in Extremsituationen geben dürfe. Eine stärkere Unterstützung der Abgeordneten durch Fachleute – siehe Josefs Klaus’ Anspruch – sowie Beraterinnen und Berater sollte diese unabhängiger von starken Interessenbindungen (Kammern, Verbände etc.) machen. Dazu gehöre auch eine stärkere innerparteiliche Demokratie: „Wer heute aus Interessenpolitik Strukturen konserviert, gefährdet nicht nur die Wirtschaft, sondern verhindert eine Lösung […]. Wer den Interessenvertretern alleine die Politik überlässt, kann damit rechnen, dass der Weg des

10 Vgl. Christian MERTENS, Eine andere Art von Politik – Erhard Busek als Wiener Vizebürgermeister und Landesparteiobmann. In: Thomas [Walter] KÖHLER/Christian MERTENS (Hg.), Reform als Auftrag – Josef Klaus und Erhard Busek, Wegbereiter einer modernen Christdemokratie (Wien 2016), S. 46–56, hier S. 53. 11 Dieses von Busek oft gebrauchte Credo ist einem KJ-Jahresthema entnommen, 12 Erhard BUSEK, Die „unvollendete“ Republik. In: Erhard BUSEK/Meinrad PETERLIK (Hg.), Die unvollendete Republik (Wien 1968), S. 61–91. Die folgenden Zitate stammen aus diesem Beitrag.

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geringsten Widerstandes beschritten wird.“ Weitere Kritikpunkte galten „verschlossenen“ Parteistrukturen, der Vernachlässigung politischer Bildung oder der parteipolitischen Einflussnahme auf das vorpolitische Feld. Um der derart skizzierten Erstarrung der Parteien zu begegnen, wären „Ebenen des Gesprächs aufzubauen, Stätten der Begegnung zu schaffen […]. Vielleicht muss ein neuer Typ ‚politischer Klubs‘ erfunden werden, die die Bewusstseinsfindung der Akteure in der Demokratie erleuchten.“ Seine „Liebe zu Österreich“ konnte Erhard Busek insbesondere als Bundesminister für Wissenschaft und Forschung (1989–1994) bzw. als Bundesminister für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten (1994–1995) unter Beweis stellen. Durch das Universitäts-Organisationsgesetz 1993 sollten erstmals in der Geschichte der Universitäten die Eigenverantwortung und Autonomie in personellen und finanziellen Angelegenheiten gestärkt werden – bei gleichzeitiger Straffung der Entscheidungsstrukturen durch Trennung strategischer und operativer Organe in der Leitungsstruktur der Universitäten. Auch die Verbreiterung der tertiären Ausbildung durch Einrichtung der Fachhochschulen mit dem Fachhochschul-Studiengesetz 1993, neue Gesetze für die technischen Studienrichtungen und die Veterinärmedizin, die Neuordnung der Studienbeihilfe durch das Studienförderungsgesetz 1992 oder die Gründung der Donau-Universität Krems als Zentrum für postgraduale Aus- und Weiterbildung 1994 gehen ebenso auf ihn zurück wie die bessere finanzielle Ausstattung der Bundesmuseen.13 Als Busek nach seinem Rücktritt als ÖVP-Bundesparteiobmann, der er von 1991 bis 1995 gewesen war, aus der Regierung ausschied, fühlte er sich als „einfacher“ Parlamentarier, für den die neue ÖVP-Führung anscheinend keine Verwendung fand (oder finden wollte), nicht ausgelastet und schied aus der Tagespolitik aus. Einmal noch, zu Beginn des neuen Jahrtausends, engagierte er sich als Regierungsbeauftragter für die EU-Erweiterung um die Staaten Ostmittel- und Südosteuropas offiziell für die Republik. Bildungspolitisch (im weitesten Sinn) engagierte er sich unter

13 Für einen Überblick vgl. Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung (Hg.), 40 Jahre Wissenschaftsministerium – 1970–2010 (Wien 2010), S. 36ff.

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anderem 2000 bis 2012 als Präsident des Trägervereins des Europäischen Forum Alpbach, 2004 bis 2011 als Rektor der Fachhochschule Salzburg sowie von 2008 bis 2018 als Vorsitzender des Universitätsrates der Medizinischen Universität Wien.14 Heimat (Mittel-)Europa: der Brückenbauer Seit seiner Sozialisierung in Familie und Katholischer Jugend war Busek begeisterter Mitteleuropäer. Schon 1968 urgierte er die Notwendigkeit, die Beziehungen zu Österreichs kommunistischen Nachbarländern auf politischer, kultureller und wissenschaftlicher Ebene auszubauen. K ­ onkret skizzierte er Jugend- und Studentenaustausch über ein „Jugendwerk des Donauraums“ als sinnvollen Schritt. Ebenso wären Kulturinstitute als Kommunikationsdrehscheiben in diesen Ländern auszubauen wie auch das Poten­zial der ehemaligen europäischen Metropole Wien durch aktive Stadt­ außenpolitik viel besser genützt werden müsse.15 Seit 1979 unternahm er als „privat“ deklarierte Reisen in die Länder Ostmittel- und Südosteuropas und traf sich dort mit Dissidentinnen und Dissidenten, Schriftstellerinnen und Schriftstellern, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie Vertretern der Kirchen.16 Ein weiterer Meilenstein im politischen Leben Erhard Buseks war der 1995 erfolgte Beitritt Österreichs zur Europäischen Union, der vor allem für große Teile der SPÖ noch Mitte der 1980er-Jahre außerhalb des politisch Vorstellbaren gelegen war, insbesondere wegen der Neutralität und der Rücksichtnahme auf die Sowjetunion. Nach dem erfolgreichen Verhandlungsmarathon in Brüssel 1994 gelang es der Bundesregierung, nicht zuletzt unter tatkräftiger Beteiligung Buseks, den Beitritt als die Zukunftschance Österreichs zu vermitteln.

14 Vgl. Christian MERTENS, „Es wäre schrecklich, wenn es fad würde.“ – Erhard Buseks politisches Leben nach der Politik. In: KÖHLER/MERTENS (Hg.), Reform als Auftrag, S. 113–121, hier S. 118. 15 Vgl. Erhard BUSEK, Die „unvollendete“ Republik. 16 Eine Dokumentration der Reisen Buseks in seiner Zeit als Wiener Landesparteiobmann ist abgedruckt in: Elisabeth WELZIG (Hg.), Erhard Busek – Ein Porträt (Wien/Köln/Weimar 1992), S. [258]ff.

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Für manche überraschend stimmten bei der Volksabstimmung am 12. Juni 1994 fast zwei Drittel für den EU-Beitritt – eine Sternstunde auch für Erhard Busek, der Österreich „in einem weitaus stärkeren Ausmaß in Europa beheimatet“ sah, „als wir uns das selbst zugestehen“.17 Nach seinem Ausscheiden aus der Politik verlagerte der profilierte Mitteleuropäer seine Aktivität in den außerparlamentarischen Bereich. Von 1995 bis zu seinem Tod fungierte er als Vorstandsvorsitzender des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa (IDM). Busek baute das Institut zur Schnittstelle für die Zusammenarbeit für die Belange des Donauraums sowie Mittel- und Südosteuropas in den Bereichen Wissenschaft, Kultur, Politik, Wirtschaft und Verwaltung aus. Auch in seiner Alpbacher Funktion versuchte er, das Forum für junge Stipendiaten insbesondere aus mittelost- und südosteuropäischen Ländern zu attraktivieren.18 Darüber hinaus avancierte Busek im Dezember 1996 zum Koordinator der in jenem Jahr auf US-amerikanische Initiative hin gegründeten Southeast European Cooperative Initiative (SECI), mit der die Stabilisie­ rung der Region nach dem Dayton-Friedensabkommen (1995) vorangetrieben werden sollte. Thematisch und organisatorisch eng mit der USamerikanischen Initiative verknüpft war eine ähnliche EU-Initiative im OSZE-Rahmen, der Stabilitätspakt für Südosteuropa, dem der ehemalige Vizekanzler von Jänner 2002 bis Juni 2008 als Sonderkoordinator vorstand. Der Pakt wurde im Juni 1999 beschlossen und im Februar 2008 durch den Regionalen Kooperationsrat für Südosteuropa (SEECP) abgelöst.19 Immer wieder kritisierte Busek das mangelnde Wissen um diese Länder, insbesondere in Österreich: „Die Österreicher haben ein sehr schizophrenes Verhältnis zu den Balkan-Staaten: Wir sind ganz begeistert darüber, dass wir dort sehr gut verdienen und dass das bei uns die Arbeits-

17 BUSEK/BEČIROVIĆ, Heimat, S. 38. Busek sang am Abend der EU-Volksabstimmung im SPÖ-Festzelt im Überschwang der Gefühle die „Internationale“ mit, was selbstverständlich seiner spielerischen Natur statt seiner politischen Einstellung geschuldet war, ihm aber trotzdem von manchen Personen in der ÖVP übelgenommen wurde. 18 Vgl. MERTENS, „Es wäre schrecklich, wenn es fad würde.“, S. 113ff. 19 Vgl. BUSEK, Ein Porträt aus der Nähe, S. 235ff.

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losigkeit gesenkt hat. […] Aber zugleich leisten wir uns die Emotion der Ablehnung.“20 Auch publizistisch war ihm Europa ohne Zweifel ein wichtiges Anliegen. Mit seinem Werk „Eine Seele für Europa“, das er als „Stückwerk“21 auf Basis seiner Erfahrungen bezeichnete, wollte er der verbreiteten Europamüdigkeit die Faszination entgegensetzen, die ein Mehr an Europa ausübe. Die Palette der darin aufgeworfenen Gedanken reicht dabei vom Spiel von Einheit und Vielfalt über die Aufgabe des Christentums in Europa bis hin zur Rolle von Kunst und Medien. Heimat Welt: Rücksicht auf die nächsten Generationen Die Sorge um „unsere Beheimatung auf dieser Welt“ samt vielfältiger ökologischer Herausforderungen könne laut Busek dazu beitragen, „ein ganz neues oder vielleicht auch altes Heimatgefühl“ zu bekommen, bedrohten die Entwicklungen doch nicht nur unsere nähere Umgebung, einen einzelnen Staat oder einen Kontinent, sondern „in aller Vielfalt die uns anvertraute Erde“.22 Bereits 1975 – als Generalsekretär des Österreichischen Wirtschaftsbundes – versuchte der Vordenker in „Auf dem Weg zur Qualitativen Marktwirtschaft“23 das Modell der Sozialen Marktwirtschaft vor dem Hintergrund von Ressourcenkrisen (Erdölschock), eines internationalen Konjunkturrückgangs, eines gestiegenen Umweltbewusstseins und eines wachsenden Staatseinflusses auf die Ökonomie weiterzuentwickeln. Im Zentrum des skizzierten Modells stand dabei die Steigerung der Lebensqualität, was die Einbeziehung immaterieller, gesellschaftlicher und geistiger Werte erfordere. Um die Qualität sicherzustellen, müssten die überwiegend quantitativen Parameter (z. B. Sozialprodukt, Wachstumsraten, Zahlungsbilanz) um zusätzliche Indikatoren ergänzt werden, etwa um externe Folgekosten für

20 Der Standard, 15.12.2006. 21 Erhard BUSEK, Eine Seele für Europa – Aufgaben für einen Kontinent (Wien 2008), S. 8. 22 BUSEK/BEČIROVIĆ, Heimat, S. 74f. 23 Erhard BUSEK/Christian FESTA/Inge GÖRNER, Auf dem Weg zur qualitativen Marktwirtschaft – Versuch einer Neuorientierung (Wien 1975). Die folgenden Zitate stammen aus diesem Beitrag.

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Umweltschutz oder Müllentsorgung – Befunde, die im Zeichen der Klimakrise erstaunlich aktuell klingen. Statt der Vornahme von Korrekturen und Reparaturen im Nachhi­ nein, die zu staatlichen Dirigismen und Bürokratismen führten, sollen in der „Qualitativen Marktwirtschaft“ Fehlentwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft schon vorweg verhindert werden. Zum Aspekt der Prävention tritt jener der verantworteten Freiheit: „Freiheit soll größere Entfaltungsmöglichkeiten des Einzelnen und weniger Bevormundung durch den Staat bedeuten, aber auch mehr Rücksicht auf die Bedürfnisse der Gesellschaft und der folgenden Generation.“ Diese Verantwortung umfasse den Einzelnen in seiner Eigenschaft als Konsumierenden wie als Produzierenden. Volle Entfaltungsfreiheit im Sinn von Chancengleichheit und Leistung als Basis für die Entlohnung auf dem Markt, aber auch für nicht marktbewertete Dienste an der Gesellschaft runden das Wertegerüst der Qualitativen Marktwirtschaft ab, die sich damit klar in die Tradition christdemokratischer Programmatik einfügt. Die Orientierung der Politik und des menschlichen Verhaltens an diesen Werten könne nicht dekretiert werden; jeder Einzelne müsse selbst dazu beitragen, indem er „im eigenen Bereich wieder stärker zur Entscheidung und Verantwortung bereit ist und damit einen Dezentralisierungsprozess ermöglicht“. Versatzstücke dieser „Denkanstöße und Ansätze“ finden sich auch in späteren programmatischen Schriften der ÖVP bis hin zu wesentlichen Beiträgen zu Josef Rieglers Konzept der Ökosozialen Marktwirtschaft. In Summe Mit Erhard Busek starb ein „intellektuelle[r] Feuergeist“,24 der Wien weltoffener, Österreich internationaler, (Mittel-)Europa bewusster und die globalen Probleme verständlicher machte – immer vor dem Hintergrund

24 Wiener Zeitung, 04.12.2004.

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seines im christlichen Glauben und demokratischen Wirken verankerten Menschen- und Weltbildes.25 Busek war eben nicht nur studierter Jurist, sondern auch gebildeter Historiker: Mit dem Abschied vom „Todesco“ vollzog er einen Schnitt, der ihm rebus sic stantibus angemessen erschien. Ob ihm zugleich bewusst war, dass er damit einen Wandel in der Tradition der ÖVP einleitete, worin die Politik seiner kleiner gewordenen Partei ihrer großen Geschichte immer weniger gewahr ist, ist fraglich. Vielleicht wäre es ganz im Sinn des Verstorbenen an der Zeit, wieder einmal einen Hauch des „Todesco“ in die Stuben der heutigen Zentrale einziehen zu lassen. Oder, um es mit Worten frei nach Johannes XXIII. zu sagen, dessen Geist Busek so sehr bestimmte: die Fenster zu öffnen, um frische Luft einzuatmen und die verschiedenen Wurzeln der österreichischen Christdemokratie als Einheit in Vielfalt in deren enormer Breite neu zu beleben – eine Rückkehr gleichsam. Quellen und Literatur (Auswahl) Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung (Hg.), 40 Jahre Wissenschaftsministerium – 1970–2010 (Wien 2010) Erhard BUSEK, Eine Seele für Europa – Aufgaben für einen Kontinent (Wien 2008) Ds., Ein Porträt aus der Nähe – Im Gespräch mit Jelka Kušar (Klagenfurt et al. 2006) Ds., Mut zum aufrechten Gang – Beiträge zu einer anderen Art von Politik (Wien/München 1983) Ds., Wien – Ein bürgerliches Credo (Wien et al. 1978) Ds./Muamer BEĆIROVIĆ, Heimat (Wien 2020) Ds./Christian FESTA/Inge GÖRNER, Auf dem Weg zur Qualitativen Marktwirtschaft – Versuch einer Neuorientierung (Wien 1975) Ds./Meinrad PETERLIK (Hg.), Die unvollendete Republik (Wien 1968) Fritz CSOKLICH (Hg.), Katholische Jugend – Sauerteig für Österreich (Graz 1997) Thomas Walter KÖHLER, Christ und Demokrat – Erhard Busek als Einheit in Vielfalt. In: Thomas Walter KÖHLER/Christian MERTENS/Lojze WIESER (Hg.), Einheit in Vielfalt – Erhard Buseks Welten (in Druck) Ds./Christian MERTENS (Hg.), Reform als Auftrag – Josef Klaus und Erhard Busek, Wegbereiter einer modernen Christdemokratie (Wien 2016) Christian MERTENS, Die Heimaten des Erhard Busek. In: Thomas Walter KÖHLER/Christian MERTENS (Hg.), Jahrbuch für politische Beratung 2021/2022 (Wien 2022), S. 316–325 Elisabeth WELZIG (Hg.), Erhard Busek – Ein Porträt (Wien/Köln/Weimar 1992)

25 Was Busek nicht an teilweise vehementer Kritik an der Institution Kirche hinderte.

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Alexander Purger

Satirischer Jahresrückblick: Von Aufrüstung bis Zaun Das ABC eines Jahres, das es ganz schön in sich hatte und so manchen ganz schön außer sich brachte

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A wie Aufrüstung Das erstaunlichste Ereignis des Jahres war die Wiederentdeckung des Bundesheeres. Nach langen Jahren, in denen die Armee und die Militärmusik nicht klein genug sein konnten, weil die Sicherheitsexperten versicherten, dass Konflikte in Europa nie mehr, und wenn dann erst nach einer zehnjährigen Vorwarnzeit eintreten, war nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine alles anders. Da wurde die zehnjährige Vorwarnzeit nämlich empörenderweise nicht eingehalten, weshalb Europa und Österreich jetzt wohl oder übel doch aufrüsten müssen. Sagen jetzt die gleichen Sicherheitsexperten. B wie Bundespräsidentenwahl Das unerstaunlichste Ereignis des Jahres war die Wiederwahl des Bundespräsidenten. Jedes Mal, wenn ein amtierender Bundespräsident für eine zweite Amtszeit kandidiert, sieht er sich einer Reihe von Witzkandidaten gegenüber, gegen die er – will er das Amt nicht beschädigen – nicht wahlkämpfen kann und auch nicht muss, weil er sowieso wiedergewählt wird. In jedem solchen patscherten Wahlkampf wird daher gefordert, die Amtszeit des Bundespräsidenten zu verlängern und ihm die Notwendigkeit einer Wiederkandidatur zu ersparen. Und jedes Mal schläft diese Diskussion verlässlich am Tag nach der Wahl wieder ein. So auch diesmal. C wie Cobra Im Frühjahr erschütterte ein beispielloser Skandal das Land. Zwei CobraBeamte, die als Personenschützer für den Bundeskanzler und seine Familie tätig waren, verursachten nach Dienstschluss alkoholisiert einen Blechschaden! Man weiß gar nicht, wie viele Rufzeichen man hinter diesen Satz setzen soll. Die Öffentlichkeit war derart sprachlos über diesen Skandal, dass sie tagelang über nichts anderes sprechen konnte. Dass gleichzeitig der Krieg in der Ukraine zu toben begann, tat der Aufregung über den CobraSkandal keinen Abbruch. Schließlich wissen wir Österreicher klug zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem zu unterscheiden.

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Alexander Purger    |   Satirischer Jahresrückblick

D wie Deckel Das wichtigste politische Utensil des Jahres war der Deckel. Alles wurde gedeckelt: der Energiepreis, der Gaspreis, der Spritpreis, die Lebensmittelpreise, die Mieten, einfach alles. Ein Deckel – und die Preise sanken. Es war wie ein Wunder. Und so kostengünstig! Dass man da nicht schon früher draufgekommen ist … Und warum hat man auf den Bierpreisdeckel vergessen? Auf den Gelsendeckel? Den Schlechtwetterdeckel? E wie Energiekosten Erst waren die Energiekosten zu niedrig. Da beschloss die Regierung eine neue Steuer, damit die Energiekosten höher werden und die Menschen weniger Energie verbrauchen. Dann waren die Energiekosten zu hoch. Da beschloss die Regierung einen Energiekostenausgleich, damit die Energiekosten niedriger werden und die Menschen mehr Energie verbrauchen können. Jetzt gibt es beides gleichzeitig: eine staatliche Energiekostenerhöhung zum Zwecke eines niedrigeren Energieverbrauchs und eine staatliche Energiekostensenkung zum Zwecke eines höheren Energieverbrauchs. Wie das zusammenpasst? Denken Sie nicht drüber nach, das ist zu hoch für Sie! F wie Finanzen Bitte, über die Finanzen braucht man sich in diesem Land überhaupt keine Sorgen zu machen. Sparen ist etwas für den Sparefroh, nicht für den Staat. Der muss aus der Krise herausinvestieren, koste es, was es wolle. Der Schuldenstand stieg in diesem Jahr um schlappe 20 Milliarden Euro, und das war – wie alle Kritiker sich einig waren – immer noch viel, viel zu wenig. Dass Schulden irgendwann einmal zurückgezahlt werden müssen, sagt nur die schwäbische Hausfrau. Und die ist eh schon in Pension. G wie Gender Einen wertvollen Beitrag zur Verschönerung der deutschen Sprache lieferte das Land Kärnten. Da das Wort Bauern unmöglich geworden ist, weil es die Bäuerinnen unterschlägt, und da weiters auch der Ausdruck Bäuerinnen

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und Bauern politisch unkorrekt ist, weil er die zahlreichen in der Kärntner Landwirtschaft tätigen Transgender unerwähnt lässt, hat das Land Kärnten nun den Ausdruck „Landwirtschaftlich Beschäftigte“ dekretiert. Geselchtes, Schweinsbraten, Kraut und Knödel heißen fortan also Landwirtschaftlichbeschäftigtenschmaus. Bitte das beim nächsten Besuch im Gasthaus zu beachten. Halt! Gast heißt laut Kärntner Genderleitfaden jetzt nicht mehr Gast, sondern Besuchsperson. Bitte das beim nächsten gastlichen Aufenthalt im Besuchspersonenhaus zu beachten. – Warum das Land Kärnten diesen fortschrittlichen Leitfaden nach nur wenigen Tagen wieder zurückgenommen hat? Das weiß keine Menschenperson. H wie Hohes Haus Nach fünf Jahren Bauzeit wurde die Renovierung des Hohen Hauses abgeschlossen. Mit dem Jahreswechsel zogen die Abgeordneten von ihren Ausweichquartieren zurück an die Wiener Ringstraße. Die Bedeutung dieses Umzugs für die Qualität der Politik kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Dazu muss man wissen, dass die Türschnallen im historischen Parlamentsgebäude als Schlangen gestaltet sind – dem antiken Symbol der Weisheit. Sobald ein Abgeordneter im Hohen Haus am Ring also eine Türe öffnet, infiziert er sich sozusagen mit Klugheit. In den fünf Jahren in den Ausweichquartieren war das leider nicht möglich, wie man der Politik auch deutlich anmerkte. Aber jetzt wieder! I wie Impfpflicht Im Juli wurde die erst im Februar beschlossene, aber nie wirklich eingeführte Impfpflicht gegen das Coronavirus wieder aufgehoben. Es gab dann im Herbst sogar wieder Nachrichtensendungen ohne Virologen und Simulationsforscher. Auch nicht schlecht. Im Rückblick wirken die Pandemiejahre und die Debatten von I wie Inzidenz bis I wie Ivermectin (Sie wissen: Das Pferdeentwurmungsmittel, das gegen alles half) fast ein wenig skurril. Möge es so bleiben.

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J wie Justiz Ja, die Mühlen der Justiz mahlen langsam. Zu langsam, wenn man auf die Schnelle einen politischen Gegner loswerden will. Herrschaften, so lange kann doch niemand warten, bis die Justiz ein Urteil gefällt und über Schuld oder Unschuld entschieden hat! Das kann ja ewig dauern! Gut, dass es Alternativen gibt, nämlich zwei Klingen, über die man den politischen Gegner jederzeit auch ohne die schleppende Justiz springen lassen kann: erstens die politische Verantwortung und zweitens die Unschuldsvermutung. Man muss sie nur oft genug erwähnen. Also hopp! K wie Klimaschutz Große Fortschritte hat in diesem Jahr die Rettung des Planeten gemacht. Der Flugverkehr zu den einschlägigen internationalen Konferenzen hat sich nach krisenbedingten Einbrüchen gut erholt und auch hierzulande waren schöne Erfolge zu vermelden: Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten – sprich: Klimaaktivseiende – klebten sich an belebten Straßenkreuzungen fest, um damit ausgedehnte Staus auszulösen. Die dadurch erzeugten zusätzlichen Autoabgase wirken sich nach Einschätzung von Expertenseienden überaus positiv auf die Klimaerwärmung aus. Nicht so klar sind die Effekte des Sich-fest-Klebens an berühmten Gemälden. Aber auch sie sind sicher sehr positiv. L wie Landeshauptmann Einst war es das Schreckenswort eines jeden ÖVP-Obmannes: Landeshauptmann! Brrr, da hörte man schon die Säge am Sesselbein knirschen. Jetzt ist der Schrecken ganz aufseiten der SPÖ-Vorsitzenden: Brrr, der Landeshauptmann des Burgenlandes! Im Monatsabstand (und auf Nachfrage gerne auch öfter) teilte er mit, dass er der bessere Parteivorsitzende und Spitzenkandidat wäre. Einmal untermauerte er das sogar mit einer Umfrage. Der Partei blieb dann nie etwas anderes übrig als zu betonen, dass sie ohnehin eine Parteivorsitzende und Spitzenkandidatin habe. So ging das Monat für Monat und immer weiter. Vorschlag zur Güte: Die SPÖ muss den Streit endlich durch

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einen Kompromiss beilegen. Spitzenkandidat wird Hans Pamela DoskoWagner! M wie Ministerwechsel Nein, mitgezählt haben wir nicht. Eine bestimmte Zahl x von Regierungsmitgliedern ist im gegenständlichen Jahr 2022 zurückgetreten und durch eine bestimmte Zahl y von neuen Regierungsmitgliedern ersetzt worden. Wie das Leben so spielt, war die Zahl x genauso hoch wie die Zahl y. Im Endeffekt ist sich also eh alles gleichgeblieben. N wie Neutralität Eine bemerkenswerte Wiedergeburt erlebte die österreichische Neutralität. Hatte man sich in den vergangenen Jahren zu der Erkenntnis durchgerungen, dass dieses gehobene Schlaucherltum zwar als politische Ausrede ganz praktisch, ansonsten aber nicht weiter ernst zu nehmen ist, änderte sich das mit dem Ukrainekrieg schlagartig. Seither wird die Neutralität wieder in hohen Ehren gehalten. Devise: Wir helfen der angegriffenen Ukraine nicht, weil wir ja neutral sind und uns daher im Falle eines Angriffs alle anderen helfen werden.Vollkommen logisch, nicht wahr? O wie Ostrakismus Die athenische Demokratie, die an der Wiege der unsrigen stand, kannte die Einrichtung des Ostrakismus oder Scherbengerichts. Ein demokratischer Politiker, der seinen Gegnern über den Kopf wuchs, weil er zu erfolgreich war und zu großen Einfluss auf das Volk besaß, konnte zur Gefahr für die Demokratie erklärt und einfach per Mehrheitsbeschluss aus Politik und Stadt verbannt werden. Und zwar ohne dass ihm dafür irgendein Fehlverhalten nachgewiesen werden musste. Es genügte die Anklage seiner Gegner. Heute gibt es dieses archaische politische Kampfmittel selbstverständlich längst nicht mehr…

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Alexander Purger    |   Satirischer Jahresrückblick

P wie Projekt Ballhausplatz Einer der schlimmsten Vorwürfe, die dem verflossenen Kanzler Sebastian Kurz seitens seiner Gegner gemacht wurde, lautete, dass er vor seiner Kanzlerschaft einen Plan hatte, um das Kanzleramt zu erobern. Dieser Plan (der noch dazu aufging) war das berühmt-berüchtigte „Projekt Ballhausplatz“. Nun ist es wirklich das Ärgste, wenn jemand einen Plan hat, um ein Ziel zu erreichen. Um nur ja nicht in den gleichen schlimmen Verdacht zu geraten wie Sebastian Kurz, tun die Parteien nun alles, um ihre vollkommene Planlosigkeit unter Beweis zu stellen. Mit Erfolg: Niemand käme auf die Idee, Partei A oder Partei B zu unterstellen, dass sie einen Plan zur Eroberung des Kanzleramtes hätte. Wirklich niemand. Q wie Qual Man muss zugeben: Vergnügen war es keines, der Politik in diesem Jahr zuzusehen, sondern eine echte Qual. Aber nicht nur das Politikanschauen, auch das Politikmachen war eine Qual, wie man den gequälten Gesichtern der Protagonisten ansah. Ein Jahr in der Spitzenpolitik – und schon wachsen ihnen graue Haare. Man muss dankbar sein, dass sich das überhaupt noch jemand antut. R wie Regierung Totgesagte leben länger. Das gilt auch für die schwarz-grüne Regierung. Wobei man in diesem Fall exakt sagen müsste: Totgesagte leben länger, aber anders. Denn angetreten war die Koalition unter dem Motto „Das Beste aus zwei Welten“: Jeder sollte in seinen Ressorts seine Pläne verwirklichen, und die andere Seite sollte ihm dabei nicht dreinreden. Das hat sich durch die Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen den Koalitionsparteien verändert: Jetzt reden die Grünen der ÖVP bei allem drein. Und umgekehrt. Somit ist die Regierung jetzt so wie jede Koalitionsregierung: der Kompromiss zwischen zwei Welten.

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S wie Schimpfwörterbuch Das wichtigste Instrument der Oppositionsparteien war das Österreichische Schimpfwörterbuch. Denn keinesfalls genügt es, Regierungsvorhaben einfach für ungenügend oder falsch zu erklären. Denn wie klingt denn das? Kraftlos, farblos, blässlich. Nein, nein, da braucht es schon andere Wortkaliber: Bodenlose Sauerei! Verhöhnung der Menschen! Gipfel der Niedertracht! Das klingt doch gleich viel kräftiger. Und wenn die Regierung Milliarden auszahlte, dann war es in den Augen der Opposition nicht einfach zu wenig. Das klingt ja auch viel zu blass. Nein, es war ein Tropfen auf den heißen Stein! Die nackte Verarsche! Und so weiter. Das Österreichische Schimpfwörterbuch bietet eine reiche, geradezu unerschöpfliche Auswahl. Das ist beruhigend auch für die Zukunft. T wie Tarnuniform Wenig hat die Republik in diesem Jahr so beschäftigt wie der Umstand, dass ein General eine Uniform trägt. Eine Tarnuniform noch dazu! So geschehen in der Kommission zur Bewältigung der Coronapandemie, an der der zuständige General des Bundesheeres in Tarnkleidung teilnahm. Ja, derf er denn das? Muss es gleich so kriegerisch sein? Wo wir doch neutral sind? Vorschlag zur Güte: Wenn schon unbedingt Militär, dann doch bitte in rosa Ponykostümen! U wie U-Ausschuss In der Musik gibt es die umstrittene Unterscheidung von U- und E-Musik. Sie gilt als unsinnig, da ja auch ernste Musik unterhaltend sein kann und da auch Unterhaltungsmusik ernsthaft betrieben werden muss, wenn sie unterhaltend sein soll. Die Politik kennt die Unterscheidung in U und E nicht: Es gibt nur U-Ausschüsse, keine E-Ausschüsse. Was leider auch unsinnig ist, denn der U-Ausschuss des Jahres 2022 war keineswegs unterhaltend, sondern von gähnender Langeweile. War er also ein E-Ausschuss? Auch nicht, denn ernsthaft betrieben wurde die Aufklärungsarbeit ja auch nicht. Was war der Ausschuss also? Lang.

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Alexander Purger    |   Satirischer Jahresrückblick

V wie Vorgezogene Neuwahlen Sie waren eindeutig das Thema des Jahres: vorgezogene Neuwahlen. Ununterbrochen wurden sie gefordert, herbeiorakelt, beantragt und für ebenso notwendig wie wahrscheinlich erklärt. Und am Ende? Gab es sie nicht. Aber über irgendetwas muss der Mensch schließlich reden, nicht wahr? W wie Wien ist anders Transparenz ist das Gebot der Stunde. Alles in der Politik muss transparent, offen, nachprüfbar, demokratisch und wohl kontrolliert sein. Außer in Wien. Da kann der Bürgermeister, wenn die Wien Energie ein paar Milliarderln braucht, freihändig hunderte Millionen Euro über den Tisch des Rathauses schieben, ohne irgendwem etwas davon zu sagen – dem Gemeinderat nicht, dem Landtag nicht, der Stadtregierung nicht, der Bundesregierung nicht und dem eigenen Koalitionspartner (Geh bitte, die NEOS?!) schon gar nicht. Wien ist eben anders. Aber wird wenigstens im Nachhinein aufgeklärt? Schauma. X wie Nix Nix war in diesem Jahr wieder einmal mit Sachpolitik zu gewinnen. Sie interessierte niemanden. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Y wie Ybbs Viel Wasser ist seit der Gemeinderatswahl in Waidhofen die Ybbs hinuntergeflossen. Damals, im Jänner 2022, erzielte die Impfgegnerpartei dort mit 17 Prozent einen Sensationserfolg und versetzte der niederösterreichischen ÖVP, die in Waidhofen bis dahin mit satter absoluter Mehrheit regiert hatte, einen veritablen Schock. Aber auf das Ybbswasser ist Verlass. Mittlerweile hat es die MFG nahezu überall zerbröselt, auch in Waidhofen. Sic transit gloria mfgi …

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Z wie Zaun Ein Dauergast in den politischen Debatten war das ganze Jahr hindurch die illegale Migration. Versuche, das Thema als Erfindung abzutun, gingen nicht wirklich auf. Dazu waren die Zahlen einfach zu hoch. Gegen Ende des Jahres ließ der Kanzler mit der Bemerkung aufhorchen, man müsse beim Schutz der EU-Außengrenze das „Tabu Zäune“ brechen. Tatsächlich gilt Grenzzaun als Unwort. „Türl mit Seitenteilen“, sagte stattdessen ein früherer Kanzler, der als politischer Zaunkönig in die Geschichte einging, nachdem er über das Thema Migration gestolpert war.

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biografien der herausgeber und autoren personenregister sachregister

biografien

Caroline Abbrederis, Mag. Dr., studierte in Innsbruck und Wien Volkswirtschaftslehre und Rechtswissenschaften und promovierte im öffentlichen Recht zum Untersuchungsrecht des Nationalrates. Sie leitete mehr als zehn Jahre lang den Bereich Untersuchungsausschüsse für den Parlamentsklub der Volkspartei und forscht am Institut für Parlamentarismus und Demokratiefragen zu Themen rund um das Parlamentsrecht. Michael Borchard, Dr., Leiter der Hauptabteilung Wissenschaftliche Dienste/Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung, zugleich stellv. Vorstandsvorsitzender der Bundeskanzler-HelmutKohl-Stiftung. Früheres Mitglied des Redenschreiberteams des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl, langjähriger Chefredenschreiber des Thüringer Ministerpräsidenten Prof. Dr. Bernhard Vogel. André Buchegger, Mag. rer. nat., ist Referent für Energie, Klima und Bergbau im Kabinett des Bundesministers für Finanzen Magnus Brunner. Zuvor war er als Experte der Wirtschaftskammer Österreich tätig und war in der Interessensvertretung für die Klimapolitik und energiepolitische Querschnittsthemen verantwortlich. Zu seinen Spezialgebieten zählt vor allem der EU-Emissionshandel. Darüber hinaus war er vor seiner Tätigkeit im Kabinett auch Mitglied der „Commission expert group on climate change policy (CCEG)“ der Europäischen Kommission. Emil Brix, Diplomat und Historiker, 1986–1989 Leiter des Büros des Bundesministers für Wissenschaft und Forschung; 1990–1995 Generalkonsul am Österreichischen Generalkonsulat Krakau; 1995–1999 Direktor des Österreichischen Kulturinstitutes London; danach Leiter der Kulturpolitischen Sektion des BMEiA; 2010–2015 Botschafter Österreichs im Vereinigten Königreich; 2015–2017 Botschafter in der Russischen Föderation; seit August 2017 Direktor der Diplomatischen Akademie Wien. Zahlreiche Publikationen zu Themen der mitteleuropäischen Geschichte und Politik im 19. und 20. Jahrhundert. Paul G. Ertl, Hofrat, Dr. phil., Leiter des Fachbereiches Innere Ordnung im Zentrum für menschenorientierte Führung und Wehrpolitik an der Landesverteidigungsakademie (LVAk).  Gutachter für Forschungsprojekte im Rahmen des European Defence Fund der Europäischen Kommission. Mitglied der Wissenschaftskommission beim Bundesministerium für Landesverteidigung und stv. Leiter von deren Forschungsgruppe Kognitionswissenschaft. Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Kulturgüterschutz. Forschungs- & Publikationstätigkeit in den Bereichen Anthropologie, Kulturgüterschutz sowie Berufs-, Krisen- & Militärethik. Lehre an der LVAk, Medizinischen Universität Wien und Santa Clara University Kalifornien. Heinz Faßmann, geboren 1955 in Düsseldorf, studierte Geographie und Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien. Nach einer C4-Professur an der TU München war er ab 2000 Professor für Angewandte Geographie, Raumforschung und Raumordnung an der Universität Wien sowie zwischen 2011 und 2017 Vizerektor der Universität. Von 2017 bis 2019 und von 2020 bis 2021 übte er das Amt des Bundesministers für Bildung, Wissenschaft und Forschung aus. Faßmann ist seit dem Jahr 2000 Mitglied und seit Juli 2022 Präsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Florian Groder, Mag. iur., geboren 1980 in Salzburg. Jurist und Absolvent der Diplomatischen Akademie Wien. Seit 2007 im diplomatischen Dienst Österreichs. Langjährige Auslandsverwendungen an den Öster-

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reichischen Botschaften in Amman, Zagreb, Moskau, Riyadh und Bern. Nach Rückkehr nach Wien im Herbst 2021 Referent für Internationales im Kabinett der Bundesminister für Inneres. Seit Juli 2022 außenpolitischer Berater von Nationalratspräsident Mag. Wolfgang Sobotka. Walter Hämmerle, Dr. phil, geboren 1971, ist langjähriger Journalist, bis Ende 2022 Chefredakteur der „Wiener Zeitung“. Zahlreiche Veröffentlichungen, darunter anlässlich 100 Jahre Republik „Der neue Kampf um Österreich“, Wien 2018. Herwig Hösele, geboren 1953, war enger Mitarbeiter der steirischen Landeshauptleute Josef Krainer und Waltraud Klasnic, sowie Mitglied bzw. Präsident des Bundesrates (2000–2005) und mit Andreas Khol Initiator des Österreich-Konvents. Heute ist er ehrenamtlich Kuratoriumsvorsitzender des Zukunftsfonds der Republik Österreich, Vorsitzender des Universitätsrates der Kunstuniversität Graz und des Club Alpbach Steiermark sowie Koordinator der Dialogreihe Geist & Gegenwart, Generalsekretär der Initiative Mehrheitswahlrecht und Demokratiereform und ORF Stiftungsrat. Seit 1970 ist er publizistisch und journalistisch vor allem in den Bereichen Demokratie und Zeitgeschichte tätig.  Valentin Inzko, geboren 1949 in Klagenfurt, Besuch der zweisprachigen Volksschule in Suetschach/Sveče im Kärntner Rosental, BG für Slowenen in Klagenfurt, Jusstudium, Russisch und Serbokroatisch in Graz, Diplomatische Akademie Wien, ab 1974 Verwendung in der Mongolei und Sri Lanka mit Suboffice auf den Malediven (UNDP), ab 1981 im Dienste des BMEiA in Belgrad, Madrid (KSZE) und New York. Gründung des Österr. Kulturinstituts sowie Vizeobmann des Österr. Gymnasiums Prag. Leiter der OSZE-Mission in Novi Pazar, Sandschak, Serbien. Erster Nachkriegsbotschafter in Sarajewo, Botschafter in Laibach, dazwischen Inlandsverwendungen. Hoher Repräsentant mit UN Sicherheitsmandat in Bosnien-Herzegowina (2009/2021). 25 Auftritte im UNSicherheitsrat, Vorträge in zahlreichen Universitäten von Wien bis Harvard. Vorsitzender des Rates der Kärntner Slowenen. Verheiratet mit Kammersängerin Bernarda Fink. Zwei Kinder.  Arnold H. Kammel, Dr. jur., geboren 1981, ist seit 2020 verteidigungspolitischer Direktor und seit 2022 Generalsekretär des Bundesministeriums für Landesverteidigung in Wien. Von 2018 bis 2019 war er Berater im Kabinett des Bundesministers für EU, Kunst, Kultur und Medien im Bundeskanzleramt. Davor war er von 2004 bis 2018 Research Fellow, Generalsekretär und Direktor des Austria Institut für Europa- und Sicherheitspolitik (AIES). Stefan Karner, Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c., Historiker, Gründer und langjähriger Leiter des L. Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung, Graz-Wien-Raabs; langjähriger Vorstand des Instituts für Wirtschafts-, Sozial- und Unternehmensgeschichte; Karner leitete und moderierte 2005 bis 2011 die Kärntner Konsensgruppe. Zahlreiche Veröffentlichungen. www.bik.ac.at Axel Kassegger, MMMag. Dr., ist seit mehr als 20 Jahren an der Schnittfläche zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik tätig. Er studierte Rechtswissenschaften (Dr. iur. 1997), Betriebswirtschaftslehre (Mag. rer. soc. oec. 1994) und Sportwissenschaften (Mag. phil. 1996) an der Karl-Franzens-Universität Graz. Der Unternehmer war und ist Vortragender an Fachhochschulen bzw. Universitäten im In- und Ausland. Seine politi-

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biografien

sche Karriere startete er 1987 beim Ring Freiheitlicher Studenten und hat seit langem verschiedene politische Funktionen innerhalb der freiheitlichen Gesinnungsgemeinschaft inne. Seit 2013 ist Axel Kassegger FPÖNatio­nalratsabgeordneter und seit September 2021 Präsident des Freiheitlichen Bildungsinstitutes. Andreas Khol, Univ.-Prof. Dr. iur., geboren 1941, Universität Wien für Verfassungsrecht 1969; 1966 bis 1969 Sekretär im Verfassungsgerichtshof; 1969–1974 Internationaler Beamter im Generalsekretariat des Europarates; 1972 Tit. ao. Univ.-Prof. Wien; 1974–1992 Politische Akademie der ÖVP; 1971 bis 1973 Betriebsratsobmann im Europarat; 1983–2006 Tiroler Mandatar zum Nationalrat; 1994–2002 Obmann des ÖVP-Parlamentsklubs; 2002–2006 Präsident des Nationalrates; 2005–2016 Obmann des Österreichischen Seniorenbundes; 2016 Präsidentschaftskandidat der ÖVP; 2016 Ehrenpräsident des Seniorenbundes. Diana Kinnert, geboren 1991, ist eine Politikerin der CDU und selbstständige Unternehmerin, Beraterin und Publizistin. Kinnert ist Gründerin und Geschäftsführerin einer Medienplattform für grüne Innovationen und nachhaltige Technologien und Fakultätsmitglied eines europäischen Instituts für exponentielle Technologien und wünschenswerte Zukunft. Seit 2020 unterhält Kinnert eigene Medienformate, unter anderem den Podcast „Der achte Tag“. Andreas Kirschhofer-Bozenhardt, war nach dem 2. WK zunächst als Journalist (Stellv. Chefredakteur) der OÖ-Nachrichten tätig. 1964 wandte er sich der empirischen Sozialforschung am Institut für Demoskopie Allensbach zu. Von dort aus war er u.a. Informationsberater der Deutschen Atlantischen Gesellschaft bei der NATO-Konferenz in Den Haag (1970) und mitbeteiligt am Erstkontakt des Westens mit der sowjetischen Empirie. 1972 erfolgte die Rückkehr nach Linz und der Aufbau des IMAS-Instituts sowie in weiterer Folge die Gründung von Tochterunternehmen im liberalisierten Osteuropa. Kirschhofer ist Verfasser zahlreicher gesellschaftspolitischer Kommentare und gemeinsam mit Professoren der Univ. Linz Co-Autor des Fachbuchs „Die Befragung“. Thomas Walter Köhler, Prof. Dr. phil. MSc, Studien der Geschichte und Publizistik, Kommunikations- und Rechtswissenschaften an der Universität Wien; Sprachdiplome der Universitäten Perugia sowie Santiago de Compostela und Salamanca; arbeitet wissenschaftlich und kunstschaffend sowie als Psycho- und Logothera­ peut (www.lebenmitsinn.at); vielfältige Publikationen zu Geschichte und Politik, Pädagogik und Psychologie; mit Christian Mertens Herausgeber der „edition mezzogiorno“. Andreas Koller, Prof. Dr., ist stellvertretender Chefredakteur und Wien-Chef der „Salzburger Nachrichten“. Seit 2014 führt Koller den Presseclub Concordia als Präsident. Er wurde von einer unabhängigen Jury oftmals zum „innenpolitischen Journalisten des Jahres“ gewählt und wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Kurt-Vorhofer-Preis und dem René-Marcic-Preis. Monika Köppl-Tynika, Priv.-Doz. Dr., ist Direktorin von EcoAustria. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Öffentliche Finanzen, Verteilungsfragen, Arbeitsmarkt und Fragen der politischen Ökonomie. Im aktuellen Ökonomen-Ranking 2021 von Presse/FAZ/NZZ belegt sie Rang fünf der einflussreichsten ÖkonomInnen in Österreich.

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Paul Luif, Dr. iur., geboren 1948, Studium der Rechtswissenschaften, Universität Wien, Post-Graduate-Studium Politikwissenschaft am Institut für Höhere Studien, Wien, Habilitation für Politikwissenschaft 1997. Universitätsassistent an der Universität Salzburg, 1974–1980, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Österreichischen Institut für Internationale Politik (oiip), Wien, 1980–2013. Lektor an der Universität Wien. Maria Maltschnig, Mag. a, geboren 1985, studierte Sozioökonomie an der Wirtschaftsuniversität Wien. Nach Tätigkeiten in der Arbeiterkammer, im Bundesministerium für Finanzen und bei den Österreichischen Bundesbahnen wurde sie Kabinettschefin des österreichischen Bundeskanzlers. Seit Herbst 2016 ist sie Direktorin des Karl-Renner-Instituts, der politischen Akademie der Sozialdemokratischen Partei Österreichs. Elisabeth Mayerhofer, Mag. a phil., studierte Politikwissenschaften in Wien. 2009 bis 2019 Geschäftsführerin der Julius Raab Stiftung. 2012 gründete Mayerhofer das Beratungsnetzwerk „Purpose Lab“, das Unternehmen und Organisationen aus dem öffentlichen Bereich in ihren Wachstums- und Innovationsaktivitäten unterstützt. 2021 und 2022 war Mayerhofer Direktorin der Politischen Akademie der Volkspartei. Seit 2023 Unternehmerin mit dem Unternehmen „What‘s Next“. Christian Mertens, Prof. Mag. phil., Studium der Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität Wien, freiberufliche wissenschaftliche und journalistische Tätigkeit, 1991–1999 Politischer Referent, seit 1999 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Wienbibliothek im Rathaus; Mit- und Alleinkurator mehrerer Ausstellungen sowie Autor zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen; mit Thomas Walter Köhler Herausgeber der ‚edition mezzogiorno‘. Christian Moser-Sollmann, Dr. phil., geboren 1972, ist Referent für Wissenschaft und Publikationen an der Politischen Akademie. Aktuelle Publikation: Der unsichtbare Text, der erschöpfte Leser. Eine Methodenkritik der Inhaltsanalyse und eine Einführung in die Kunst des Schreibens und Lesens, Wien 2023. Rainer Nick, Dr. phil., arbeitete als Politikwissenschaftler in Forschung und Lehre an Universitäten in Österreich, Deutschland und den USA. In den 1980er- und 1990er-Jahren zahlreiche Publikationen. Seit mehr als drei Jahrzehnten in der politischen Beratung tätig, Strategieberater bei zahlreichen Wahlen im deutschsprachigen Raum. Tristan Pöchacker, Dr. iur., geboren 1995 in St.Pölten; Diplomstudium der Rechtswissenschaften an der Universität Wien; Dissertation am Institut für Österreichisches und Europäisches Öffentliches Recht an der Wirtschaftsuniversität Wien; EMBA General Management TU Wien; 2019–2021 Referent für Recht und Internationales im Österreichischen Gemeindebund; seit 2021 Referent für juristische Angelegenheiten im Büro des ersten Nationalratspräsidenten Mag. Wolfgang Sobotka. Alexander Purger, geboren 1965, ab 1988 freier Mitarbeiter und später innenpolitischer Redakteur in der Wiener Redaktion der „Tiroler Tageszeitung“; seit 1993 innenpolitischer Redakteur der „Salzburger Nachrichten“; seit 2008 stellvertretender Leiter der Wiener Redaktion; Autor der satirischen Kolumne „Purgatorium“; Autor der Kanzlerbiographie „Offengelegt“ über Wolfgang Schüssel.

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biografien

Bettina Rausch, Mag. phil., geboren 1979, MBA (Health Care Management), ist Präsidentin der Politischen Akademie der Volkspartei und Abgeordnete zum Nationalrat. Sie war fünf Jahre lang Mitglied des Bundesrates und weitere fünf Jahre lang Abgeordnete zum Niederösterreichischen Landtag. Sie ist Herausgeberin zahlreicher Publikationen, zuletzt des Sammelbandes „Christlich-soziale Signaturen. Grundlagen einer politischen Debatte“, gemeinsam mit Simon Varga, und des Sammelbandes „Bürgergesellschaft heute. Grundlagen und politische Potenziale“ gemeinsam mit Wolfgang Mazal. Seit 2018 ist Rausch Mitherausgeberin des „Jahrbuchs für Politik“. Bettina Rausch ist externe Lehrbeauftragte u. a. an der IMC FH Krems und an der FH Campus Wien. Alfred Riedl ist seit 2017 Präsident des Österreichischen Gemeindebundes. In dieser Funktion vertritt er die Interessen von aktuell 2.082 österreichischen Städten und Gemeinden. Sein Praxisbezug und Verständnis für die Probleme der Gemeinden resultiert aus seiner langjährigen politischen Erfahrung in diesem Bereich. Unter anderem ist er seit 1990 Bürgermeister seiner Heimatgemeinde Grafenwörth, war von 2001 bis 2021 Präsident des NÖ Gemeindebundes und übte 20 Jahre lang sein Mandat als Abgeordneter zum NÖ Landtag aus. Martina Salomon ist seit 2018 KURIER-Chefredakteurin. Berufliche Stationen davor: ORF-Landesstudio Oberösterreich, OÖN (Kultur-, Chronikredaktion), „Tiroler Tageszeitung“ (Wiener Redaktion, Politikressort), 15 Jahre Innenpolitik-Redakteurin bei „Der Standard“, 7 Jahre Politik-Ressortleiterin bei „Die Presse“, ab 2010 bis 2018 stellvertretende Chefredakteurin und Wirtschaftsressortleiterin im KURIER. Wolfgang Sander, geboren 1953, Professor für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften am Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften der Justus-Liebig-Universität Gießen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Theorie und Didaktik der politischen Bildung, Bildungstheorie, fächerübergreifendes Lernen in der politischen Bildung. Aktuelle Publikation: Handbuch politische Bildung (Hg.), Frankfurt a. M. 2022. Christoph Schmidt ist Geschäftsführer des General Aviation Centers/VIP Terminal und Head of Business Development & Innovation am Flughafen Wien. Er studierte Betriebswirtschaft und Rechtswissenschaften in Wien, St. Gallen und an der Harvard Business University. Margit Schratzenstaller ist Ökonomin (Senior Economist) und arbeitet seit 2003 im Forschungsbereich „Makroökonomie und Europäische Wirtschaftspolitik“ des WIFO. Sie war dort stellvertretende Leiterin 2006/2008 sowie 2015/2019. Schratzenstaller ist Mitglied im Österreichischen Fiskalrat. Sie arbeitet zu Fragen der (europäischen) Steuer- und Budgetpolitik, zu EU-Budget, Steuerwettbewerb und Steuerharmonisierung, Fiskalföderalismus sowie Familienpolitik und Gender Budgeting. Lukas Schretzmayer-Sustala ist Direktor der Parteiakademie von NEOS, dem NEOS Lab. Der studierte Ökonom und Journalist war zuvor stellvertretender Direktor des Thinktanks Agenda Austria und arbeitete als Redakteur bei der Tageszeitung „Der Standard“ sowie (Chef-)Redakteur von NZZ.at. Ernst Sittinger, Mag. Dr. iur., geboren 1966, studierte in Graz Rechtswissenschaften und Betriebswirtschaft. Seit 1984 Journalist in Wien und Graz (u.a. Politik-Redakteur beim „Standard“ und Ressortleiter Innenpolitik

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bei der „Presse“). Seit 2006 Mitglied der Chefredaktion der „Kleinen Zeitung“. Zahlreiche Lehraufträge, Seminare, Moderationen, Vorträge. Kabarettist und Buchautor. Vielfache Auszeichnungen (u. a. Leopold-KunschakPreis, Kurt-Vorhofer-Preis, Lokaljournalist des Jahres 2019). Wolfgang Sobotka, Mag., geboren 1956, ist Präsident des österreichischen Nationalrates. Von 2016 bis 2017 war er Bundesminister für Inneres der Republik Österreich. Von 1998 bis 2016 war er Landesrat in der niederösterreichischen Landesregierung und hatte von 2009 bis 2016 die Funktion des LandeshauptmannStellvertreters inne. Franz Sommer, Dr. phil., geboren 1960, Mitbegründer der „ARGE WAHLEN“ (1990) und des Instituts für Marktfor­ schung und Regionalumfragen (2008); seit 1983 selbstständiger Politikforscher; Arbeitsschwerpunkte: Wahl­forschung – Wahlverhalten/Wahlmotive/Wählerwanderungen/Wahlrecht; Projekte: Wahltagsbefragungen, Track Polling, Wahlhochrechnungen, wahlstatistische Analysen, Wählerstromanalysen. Jürgen Streitner, Master, geboren 1984, studierte Betriebswirtschaft in Graz mit Auslandsaufenthalten in Polen, Thailand und den USA und leitet die Abteilung für Umwelt- und Energiepolitik der Wirtschaftskammer Österreich. Petra Stuiber ist stellvertretende Chefredakteurin des STANDARD und Vizepräsidentin des Presseclub Concordia. Velina Tchakarova, M.A., ist Direktorin des Austria Instituts für Europa- und Sicherheitspolitik (AIES) mit Sitz in Wien und Mitglied des Peer Board des Defence Horizon Journal in Österreich. Ihr Fachgebiet ist die globale Systemtransformation und Geostrategie globaler und regionaler Akteure. Christian Tesch ist seit Jänner 2023 Direktor der Politischen Akademie der Volkspartei. Er hat Politik aus unterschiedlichen Blickwinkeln erlebt und gestaltet, unter anderem als Bundesobmann der Schülerunion, als Gemeinderat in Krems, als Landesgeschäftsführer der Jungen Volkspartei Niederösterreich, als politischer Trainer und als Berater für politische Strategie. Dagmar Tutschek, Mag.a, Wirtschaftswissenschaftlerin, bis 09/2022 Vorstandsvorsitzende von FREDA – Die Grüne Zukunftsakademie zur Förderung politischer Bildung und Kultur; langjährige Obfrau und politische Geschäftsführerin der Vorgängerorganisation GBW – Die Grüne Bildungswerkstatt; Co-Präsidentin der Green European Foundation (GEF). Christian Ultsch, Mag., geboren am 25. April 1969, begann seine journalistische Karriere nach einem Studium der Politikwissenschaften, der Volkswirtschaft und des Völkerrechts 1996 bei der „Presse“. Von 2003 bis 2004 war er Korrespondent in Berlin, danach Chef des Außenpolitik-Ressorts. Seit 2009 leitet er zudem die „Presse am Sonntag“.

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biografien

Andreas Unterberger, Dr., ist österreichischer Jurist, Politikwissenschaftler und Journalist. Er betreibt seit 2009 unter www.andreas-unterberger.at einen Politikblog. Er war 14 Jahre lang Chefredakteur der Tageszeitungen „Die Presse“ und „Wiener Zeitung“. Davor war er Außenpolitik-Ressortleiter der „Presse“, deren Redaktion er 31 Jahre lang angehört hat. Er hat mehrere Bücher verfasst, zuletzt „Das war 2020 – Lockdown, Freiheit, Migration“. Paul Unterhuber, Dipl.-Ing., studierter Agrarökonom, ist seit 2018 Geschäftsführer von Demox Research GmbH, zuvor war er unter anderem in Deutschland und Südtirol tätig und sieben Jahre bei GfK Österreich für den Bereich Politikforschung verantwortlich. Alois Vahrner ist am 5. Dezember 1966 in Zams bei Landeck geboren. Seit 1988 ist er Redakteur der Tiroler Tageszeitung, zunächst in der Wirtschaftsredaktion, deren Leitung er später übernahm. 2005 wurde Vahrner stellvertretender Chefredakteur, seit Ende 2008 leitet er zusammen mit Mario Zenhäusern als ChefredaktionsDoppelspitze die führende Tageszeitung Tirols. Ab April 2023 ist er als Mitglied der Chefredaktion für nationale und internationale Politik sowie Wirtschaft zuständig. Vahrner ist verheiratet und hat zwei erwachsene Töchter. Daniel Varro, Univ.-Prof. MMag. LL.M., hat Jus an der Universität Wien, Wirtschaftswissenschaften an der Wirtschaftsuniversität Wien und ein postgraduales Studium an der Universität Liechtenstein absolviert; er war  Assistent und Habilitand an der Universität Wien, Rechtsanwalt für Steuerrecht in Wien sowie stellvertretender Kabinettschef im Bundesministerium für Finanzen (Bereiche: Steuerrecht und Steuerpolitik, Legistik, Internationales, Banken und Versicherungen) und ist aktuell Universitätsprofessor für Steuerrecht und nachhaltige Steuerpolitik an der Universität für Weiterbildung Krems. Georg Wailand, Prof. Dr., geboren 1946, hat in Wien an der WU Wirtschaft studiert und war dort dann auch über 30 Jahre als Lehrbeauftragter für Wirtschaftspublizistik tätig. Seine Karriere bei der Kronenzeitung begann 1971 im Wirtschaftsressort, dessen Leitung er 1974 übernahm. Seit 1991 ist er Mitglied der KroneChefredaktion, einige Jahre davon als geschäftsführender Chefredakteur. Im Jahr 1982 gründete er mit Georg Waldstein das Wirtschaftsmagazin GEWINN. Georg Wailand ist dort Eigentümer und Herausgeber.

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Personenregister Abwerzger, Markus 22 Adenauer, Konrad 267 Ahtisaari, Martii 431 Bannon, Steve 219 Bauer, Otto 459 Beck, Ulrich 115 Biden, Joe 347, 379, 420 Bierlein, Brigitte 70 Böckenförde, Wolfgang 509 Bogner-Strauß, Juliane 129 Bolsonaro, Jair 218, 420 Bonelli, Bernhard 68 Brandt, Willy 277, 459 Bronner, Oscar 223 Brzezinski, Zbigniew 389 Burke, Edmund 49 Busek, Erhard 505 ff. Chesterton 252 Clinton, Hillary 429 Dichand, Hans 226 Dinkhauser, Fritz 23 Dörfler, Gerhard 484 Dornauer, Georg 22 Draghi, Mario 32 Drexler, Christopher 121 ff. Erdoğan, Recep Tayyip 69, 381 f., 420 Faymann, Werner 200, 484 Felipe, Ingrid 19 Figl, Leopold 370 Frischmuth,Barbara 509 Goodhart, Charles 320 Günther, Albrecht Erich 256 Gusenbauer, Alfred 484 Habeck, Robert 44, 439 Habermas, Jürgen 460 Haider, Jörg 124, 483 Hansen, Theophil 141 ff. Haselwanter-Schneider, Andrea 23 Heraklit 112 Hobbes, Thomas 256 Inzko, Valentin 485

Jinping, Xi 397 Jobs, Steve 496 Johannes XXIII. 515 Juncker, Jean-Claude 430 Karas, Othmar 193 Karner, Gerhard 74 Kennedy, John F. 359 Kern, Christian 86 Khol, Andreas 99 ff., 151 ff., 483 Kickl, Herbert 68, 203, 232, Kissinger, Henry 421 Klasnic, Waltraud 124 Kogler, Werner 73, 440, 506 Köstinger, Elisabeth 68 Kowaljow, Michail 361 Krainer jun., Josef 122 Kreisky, Bruno 124, 211, 278, 343 Kundera, Milan 418 Kurz, Sebastian 13 ff., 54, 68, 73, 81, 85, 130, 449 Kushner, Jared 73 Lang, Ricarda 437 Lazarsfeld, Paul 262 Leichtfried, Jörg 366 Lindner, Christian 436 ff. Locke, John 35 Macron, Emmanuel 358, 380, 405 Mair, Astrid 23 Marcic, René 209 Mattle, Anton 15 ff. Meinl-Reisinger, Beate 367 Merkel, Angela 38, 429, 439 f. Michel, Charles 380 Mikl-Leitner, Johanna 74, 81 Mitterlehner, Reinhold 60 Mock, Alois 79, 268, 345, 506 Molterer, Wilhelm 484 Moser-Sollmann, Christian 452 Negt, Oskar 458 Nehammer, Karl 57, 67 ff., 77 ff., 363 ff. Nenning, Günter 342 Neubauer, Luisa 44 Oppitz-Plörer, Christine 23 Ostermayer, Josef 484 Palme, Olof 459

Patomäki, Heikko 364 Pigou, Arthur Cecil 328 Pilz, Peter 62 Pittermann, Bruno 343 Platter, Günther 16 ff. Pröll, Erwin 65 Putin, Wladimir 69 ff., 353 ff., 363 ff., 387 ff. Rancière, Jacques 364 ff. Reagan, Ronald 344 Rendi-Wagner, Pamela 68, 506 Riegler, Josef 506 Rosecker, Michael 452, 459 Rousseau, Jean-Jacques 34 Rutte, Mark 424 Sander, Wolfgang 452 Schallenberg, Alexander 57, 68, 77 Schäuble, Wolfgang Schmid, Thomas 86, 199, 204, 267 Scholz, Olaf 32, 379, 412, 431 Schrom, Matthias 199 Schüssel, Wolfgang 211, 232, 347, 483 Schützenhöfer, Hermann 121 ff. Schwarzenberg, Karl 432 Selenskyi, Wolodymyr 69, 363, 379, 381 Sobotka, Wolfgang 149, 506 Söder, Markus 32 Sperber, Manès 509 Stelzer, Thomas 81 Strache, Heinz-Christian 68, 200 Surkov, Vladislav 417 Tanner, Claudia 74 Thiel, Peter 73 Thunberg, Greta 44 Trump, Donald 73, 218, 420 Tschaadajew, Pjotr 417 von Carlowitz, Carl 328 von der Leyen, Ursula 380 Voves, Franz 124 ff. Waldheim, Kurt 343 Weil, Simone 472 Wenediktow, Alexei 419 Zadić, Alma 62, 100, 106 Zeilinger, Anton 237 ff. Zernatto, Christoph 482

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Sachregister Abstrakte Relevanz 167, 173, 174 Afghanistan 84, 420 AK 203 Aktenvorlagepflicht 155, 156 Ampel-Koalition 437 Arbeitslosengeld 325 Armenien 79, 393 Asyl 80, 82, 254 Atommacht 360 Atomwaffenverbotsvertrag 351 Aufrüstung 344 Außengrenzschutz 75 Bandera-Bewegung 355 Begründungspflicht 171, 177 Belarus 390, 393 Besucherzentrum 146, 149 Blue-Sky-Forschung 245 Bosnien Herzegowina 428 Boycott, Divestment and Sanctions (BDS) 186 BREXIT 429 Bundesstaatsanwalt 99 ff. Bündnisfreiheit 347, 372 Bunter Vogel 507 CARINTHIja 2020 488 Chat GPT 479 checks and balances 164, 469 Club of Rome 508 CO2-Bepreisung 41, 334 Common Sense 260 Corona-Pandemie 321, 403, 454, 499 Dayton 428, 512 Deglobalisierung 319 Dekarbonisierung 95, 291, 319 Demographischer Wandel 319 Demokratie Monitor 201, 496 Demokratiewerkstatt 144, 187 Demoskopie 15, 261 ff. Dialogforum 485 Digitalisierung 111 ff., 197, 454 Diversität 146, 256 Donbas 388, 394, 412 Drittmittelaufkommen 244 Effizienzreformen 299, 312 Ein-Kind-Politik 320

Einkommensteuersenkung 334 Energieeffizienzgesetz 90, 95 Energiekostenzuschuss 297 ff. Energiepolitik 89 ff. Energiewende 89 ff. Erdölschock 513 Erlebnis Demokratikum 144 Erneuerbaren Ausbau Gesetz (EAG) 95 Erwartungsmanagement 16 EU- Emissionshandel 90 Euphemia 295 Europäisches Emissionshandelssystem (ETS) 90 F&E-Quote 129, 243 Fake News 116, 186 Filmförderung 116 Flüchtlingswelle 199 Forschungsbürokratie 244 Forschungspolitik 237 ff. Forschungsstandort 247 Freiheitsindex 467 Fridays for Future 46 G-7 391 Gate-Keeper-Funktion 205 Gemeindebund 495 ff. Generalstaatsanwalt 99 ff. Geopolitik 342, 387, 418 Gesinnungsethik 37 Gewaltentrennung 164 Glaubwürdigkeit 44, 197, 231 Grundlagenforschung 240 Grundrechtsschutz 155, 169 Hard News 220 Herdentrieb 209 Identitätspolitik 257 Impfpflicht 57, 75, 199 Informationskriegsführung 389 Interparlamentarische Union 191 Investitionsdynamik 321 Irische Klausel 375 Journalismus-Report 115 Kalte Progression 83 Kalter Krieg 396, 412 Karner-Paket 484 Kärntner Abwehrkämpferbund 484 Kärntner Konsensgruppe 484 Klimabonus 83, 334

Klimakrise 299,312, 425, 514 Klimaneutralität 47, 290 Klimapolitik 40, 43 ff. Konservatismus 51, 249 ff. Konzern Burgenland 137 ff. Korruptionsstaatsanwaltschaft 17, 60, 101, 152 Kulturrevolution 250 Landesverteidigungs-Finanzierungsgesetz (LV-FinG) 405 Last-Minute-Swing 278 Letzte Generation 46 Lex specialis 166, 171 Liberalismus 35, 252 Manipulierbarkeit 268 Medienfond 116 Medienpolitik 112 ff., 217 ff., 356 Medienstandort 112 ff. Mehrparteienkoalition 434 Menschenwürde 256 Merit-Order 285 ff. Message Control 200, 230 Methodenwissen 272 Minsker Abkommen 358 Münchner Sicherheitskonferenz 412 Naturrecht 49, 253 Neutralitätspolitik 345 NGOs 247, 344, 351, 473 Normenquelle 256 Normverbrauchsabgabe 331 ff. Nullzinspolitik 321 Odessa 384 ÖGB 203 Ökosoziale Marktwirtschaft 38, 83, 299 Ökosoziale Steuerreform 83, 331, Ökostrompauschale 93 Olympische Spiele 397 Online-Plattform 117 ORF-Reform 228 Ortstafelsturm 482 Österreichische Bundesheer 401 ff. Österreichischer Presserat 222 Österreichsynode 490 OSZE 190, 419, 512 Palais Todesco 505

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österreichisches jahrbuch für politik 2022

Pariser Klimaschutzabkommen 91 Parteiakademie 447 ff. Pax Americana 417 Pay-As-Bid 293 Pay-As-Clear 293 Photovoltaik 93, 138, 288, 331 Pipeline Nord-Stream 413 Politische Bildung 447 ff. Preisniveau 300, 316, 319 Presseclub Concordia 222

Soziale Medien 231 Sozialismus 252 Sparflucht 316 Spektakeldemokratie 208 Staatsverschuldung 317, 321, 443 Stichprobenqualität 272 Streaming-Plattform 116 Strohwahlen 263 Strommix 92, 293

Qualitätsjournalismus 118, 222

Technologieoffenheit 89 Teuerungsmaßnahmen 301 ff. Themen-Tabus 275 Treibhausgasemissionen 327 ff. Türkis-grüne Koalition 433 f. Twitter 208, 230, 436, 479

Reichsgemeindegesetz 498 Restauration 249 Rezession 59, 438 Richterstaat 99 ff. Road Map 429 Rückführungsabkommen 84 f. Runder Tisch 483 Schwarze Meer 389 Selbstgerechtigkeit 43 Selektive Wahrnehmung 270 Sewastopol 389 Sicherheitsumfeld 403

U-Ausschuss 72, 154, 188, 204 Ukraine-Krieg 39, 58, 219, 361, 403, 419 UNESCO 474 Unschuldsvermutung 103, 153 f. Urban Gardening 501 Verantwortungsethik 37

Vermögenssteuer 317 Veröffentlichungsverbot 270 Versorgungssicherheit 285 ff. Verstaatlichung 133 ff. Vertrag von Lissabon 182 Vertrauensindex 159, 199, 208 Vertrauenskrise 201 ff. Visegrád-Gruppe 345 ff. VUCA 478 Wasserstoff 95 ff. Wettbewerbsfähigkeit 297, 318, 327 Windkraft 92, 138 WKStA 60 ff. Wohlstandsverwahrlosung 43 ff. World Competitveness Center Ranking 335 Zero-Covid-Politik 317 Zivilgesellschaft 188, 412, 473, 499 Zufallsgewinnbesteuerung 307, 312 Zweisprachigkeit 483 ff. Zweites Vatikanische Konzil 507

Ein umfangreiches Archiv mit allen Beiträgen des Jahrbuches finden Sie unter https://politische-akademie.at/ de/jahrbuch

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